Res nullius: Zur Genealogie und Aktualität einer Rechtsformel [1 ed.] 9783428545360, 9783428145362

Der Aufsatzband betrachtet die Geschichte der Transformationen von Nicht-Besitz in Besitz aus kulturwissenschaftlicher S

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Res nullius: Zur Genealogie und Aktualität einer Rechtsformel [1 ed.]
 9783428545360, 9783428145362

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Schriften zur Rechtsgeschichte Band 170

Res nullius Zur Genealogie und Aktualität einer Rechtsformel

Herausgegeben von

Michael Kempe und Robert Suter

Duncker & Humblot · Berlin

MICHEAL KEMPE / ROBERT SUTER (Hrsg.)

Res nullius Zur Genealogie und Aktualität einer Rechtsformel

Schriften zur Rechtsgeschichte

Band 170

Res nullius Zur Genealogie und Aktualität einer Rechtsformel

Herausgegeben von

Michael Kempe und Robert Suter

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 978-3-428-14536-2 (Print) ISBN 978-3-428-54536-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84536-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

In Memoriam Robert Suter * 05. 07. 1976 – † 11. 09. 2014

Vorwort Die meisten der hier versammelten Aufsätze gehen zurück auf Vorträge einer wissenschaftlichen Tagung des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ vom 22. 2. – 24. 2. 2012 an der Universität Konstanz. Als Robert Suter im Sommer 2013 von seiner schweren Krankheit erfuhr, hatte die Bearbeitung der Aufsätze bereits begonnen. Dank der hervorragenden Mithilfe von Simone Warta konnte ich Robert Suter von den redaktionellen Arbeiten und Herausgeberpflichten zu weiten Teilen entlasten. Ich war großer Hoffnung, dass Robert Suter und ich das Erscheinen des Sammelbandes, dessen Entstehung und Gestaltung uns beide so sehr Freude bereitet hat, gemeinsam erleben und feiern werden. Es schmerzt daher sehr, dass Robert Suter nur wenige Tage vor der Auslieferung des kompletten Korrekturabzuges verstorben ist. Ein wenig tröstet zu wissen, dass Robert Suter den Aufsatzband, an dem viele seiner Kollegen und Freunde mit großem Engagement und leidenschaftlicher Begeisterung mitgewirkt haben, in fast druckreifem Zustand noch erlebt hat. Ich möchte daher den Sammelband – auch im Namen aller Autorinnen und Autoren – dem Andenken an Robert Suter, meinem Freund und lieben Kollegen, widmen. Mein Dank für mannigfache Unterstützung, die Finanzierung der Tagung und die Übernahme der Druckkosten gilt dem Konstanzer Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, insbesondere Herrn Rudolf Schlögl. Herzlich danken möchte ich Simone Warta für die sorgfältige redaktionelle Lektüre sowie Regine Schädlich und Andreas Beck vom Duncker & Humblot Verlag für die gute und gründliche Verlagsbetreuung. Hannover, im Oktober 2014

Michael Kempe

Inhaltsverzeichnis Michael Kempe und Robert Suter Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Aneignung, Verteidigung, Aufgabe Daniel Damler Der amerikanische Traum. Eigentum durch Arbeit im Wilden Westen . . . . . . . .

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Hans W. Blom Grotius’ res nullius. Ein kosmopolitischer Streit über Eigentum und Allgemeingut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Doris Schweitzer Dereliktion. Über die zunehmenden Schwierigkeiten, eine Sache herrenlos zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Übertragung, Überschreitung Burkhardt Wolf Für Alle und Keinen. Kulturerbe unter Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Monika Dommann Keine Aneignung Übermorgen. Eine historische Lektüre von Weltraumnormen 115

III. Konfliktsituationen, Streitsachen Cornelia Ortlieb An der Kistenwand. Zur Legitimation des Tierfangs um 1900 . . . . . . . . . . . . . . 135 Ralf Banken und Ramona Bräu „Herrenloses Gut“. Raub und Verwertung mobilen polnischen Eigentums im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

6

Inhaltsverzeichnis

Thomas G. Kirsch Die Demontage der Nation. Infrastruktur als Niemandseigentum im neoliberalen Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Einleitung Von Michael Kempe und Robert Suter

I. Transformationen einer Rechtsformel Res nullius bezeichnet einen gefährlichen Moment: die Transformation von Nicht-Besitz in Besitz.1 Erst die ursprüngliche Besitznahme macht es notwendig, zwischen Niemandsgütern und Besitztümern zu unterscheiden. Der Sammelband widmet sich dieser Metamorphose aus kulturwissenschaftlicher Sicht, er untersucht die historischen Prozesse, in denen der Zugriff auf das, was niemandem gehört, gerechtfertigt wurde, um es entweder allen oder jemandem zu übereignen. Die Konflikte um Beutegüter, Tierfangrechte oder den Status neueroberter Gebiete zeigen dabei, dass es keine einfache Abfolge von res nullius zu res mea und zu res communes omnium gibt. Vielmehr existieren Transformationen in alle Richtungen, die immer wieder dafür sorgen, dass als Niemandsgüter ausgewiesene Dinge von persönlichem oder staatlichem Eigentum in Allgemeingut oder umgekehrt umdeklariert werden können. Ebenso geht es im vorliegenden Band aber auch um aktuelle Konfliktfelder, etwa die Müllentsorgung oder die massenhafte Entwendung von public properties im Südafrika nach dem Ende der Apartheid; Beispiele, die zeigen, dass es zu kurz greift, mit res nullius nur eine Geschichte zumindest latent gewalttätiger ursprünglicher Aneignungen, Enteignungen und Besitzüberschreibungen zu verknüpfen. Zugleich machen die Beiträge im Band deutlich, dass Nicht-Besitz nicht wirklich etwas Ursprüngliches darstellt, im Gegenteil: die Rede davon setzt Besitz bzw. Besitzbarkeit ihrerseits bereits voraus. Insofern verweist die Beschäftigung mit res nullius grundsätzlich auf die Frage der heute vorherrschenden und mit Universalanspruch versehenen Eigentumsordnung als Einheit der Differenz von Besitz und Nicht-Besitz. Und da Niemandsgüter die Eigentumsordnung insgesamt betreffen, eröffnen sie auch die Möglichkeit, diese neu zu ordnen oder wenigstens anzuzweifeln. So lässt sich die Geschichte von Niemandsgütern bis in die jüngste Gegenwart als Konfliktgeschichte

1 Für wertvolle Hinweise danken wir dem Arbeitskreis „Recht und Kultur“ des Konstanzer Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“; ferner gilt unser Dank für eine gründliche und sorgfältige redaktionelle Lektüre Simone Warta sowie einem anonymen Gutachter für hilfreiche Anregungen Besonders bedanken möchten wir uns beim Konstanzer Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ für die Übernahme der Druckkosten sowie bei Dr. Andreas Beck und Regine Schädlich vom Duncker & Humblot Verlag für die unkomplizierte Lektoratsbetreuung.

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Michael Kempe und Robert Suter

schreiben, in der das, was niemandem gehört, immer wieder erlaubt hat, die Frage aufzuwerfen, wem es gehören soll, wenn überhaupt jemandem. Wie kaum eine andere Formel des Rechts hat es res nullius erlaubt, Inklusionen zu bewerkstelligen oder Exklusionen zu rechtfertigen; das konnte heißen, Dinge als res nullius zu vereinnahmen oder Länder als terra nullius bestimmten Rechtsansprüchen auszusetzen. Nach gängiger Rechtsvorstellung, vor allem geprägt durch die römische Rechtstradition, sind res nullius Sachen, die in niemandes Eigentum stehen oder keiner (sachenrechtlichen) Herrschaft unterliegen. Sie sind entweder ursprünglich bzw. von Natur aus herrenlos (z. B. wilde Tiere), oder sie sind herrenlos geworden, etwa durch Preisgabe (Dereliktion) oder kriegsrechtliche Verwirkung, oder sie sind Sachen, welche überhaupt in niemandes Eigentum stehen können. Zu letzteren gehören die res omnium communes wie Luft, fließendes Wasser und das Meer. Insofern gibt es herrenlose Sachen, bei welchen ein Eigentum zulässig ist, die aber gerade in niemandes Eigentum stehen, und solche, die prinzipiell nicht in Privateigentum übergehen können, weil sie Allgemeinbesitz darstellen.2 Niemandsbesitz, Privatbesitz, Allgemeinbesitz, das zeigt die verschlungene Geschichte der res nullius-Anwendungen, bilden jedoch keineswegs stabile Unterscheidungen. Historisch fruchtbar ist vielmehr die ständige Verschiebung dieser Differenz geworden, ihre Neuansetzung und wiederholte Aufhebung. So war es, wenn es unter anderem um Landnahmen, Großwildjagden oder Bodenschätze ging, immer möglich, Allgemeingut zu Niemandsgut zu deklarieren, dessen man sich im Anschluss bemächtigen konnte. Und auch umgekehrt ließ sich etwas, das niemandem zu gehören schien, beispielsweise die hohe See, als Gemeingut umdefinieren, um so die Durchsetzung eigener Interessen auf Kosten anderer als Wahrnehmung der Interessen aller zu tarnen. Eine Genealogie von res nullius zu erstellen, heißt daher, die Geschichten und Umstände solcher Uminterpretationen und Übertragungen zusammenzutragen. Sie zu erstellen heißt auch, von der Generalisierung des Besitzes zu erzählen (nichts darf niemandem gehören), aber ebenso von der Widerständigkeit jener disparaten Objekte, die unter diesen Zugriff geraten und ihm immer wieder zu entgleiten drohen. Und dies müssen nicht immer neue Kontinente, weite Meeresflächen oder irgendwelche Großtiere sein, denn dann und wann können, so bei Daniel Defoe nachzulesen, gleichfalls so schlichte Dinge wie Hüte zum Problem werden. So überrascht der Berichterstatter im Journal über die Pest in London einige Frauen, die sich im Warenlager seines Bruders gerade mit Hüten versorgen. Die Diebinnen, alle mit mehreren „Hüten sowohl auf dem Kopfe als auch unter den Armen“3, verteidigen sich mit dem Argument: „es seien niemands Waren“, da das Tor offen gestanden hätte und der Besitzer wahrscheinlich verstorben sei.4 2

Werner Ogris, Herrenloses Sachen, herrenloses Gut, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 973 – 975. 3 Daniel Defoe, Ein Tagebuch aus dem Pestjahr, in: ders., Romane, Bd. 1, hg. v. Norbert Miller, München 1968, S. 800. 4 Ebd., S. 801.

Einleitung

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Im Gegensatz zu einem Großteil der jüngeren kulturwissenschaftlichen und historischen Forschung beschränkt sich der Sammelband nicht auf das Problemfeld der terra nullius,5 obwohl dieses – seiner Bedeutung entsprechend – auch einen Schwerpunkt bildet, um dafür das weiter angelegte Konfliktfeld zu thematisieren, innerhalb dessen sich auch die Auseinandersetzungen um den Status von Niemandsland situieren. Was als res nullius erscheint, hängt dabei vom jeweiligen Zusammenspiel von Akteuren, Dingen, Praktiken und ihrer rechtlichen Kodierung ab, die sich in einem dynamischen Geschehen gegenseitig definieren und in Frage stellen können. So erfordert die Erschließung neuer Räume wie des Luftraums oder gar eines potentiell unendlichen Raums wie des Weltalls auch Anpassungen des Rechts. Nicht anders bestimmen und verändern Kulturtechniken wie der Tierfang den Status von Wildtieren als Niemandsgütern. Aber auch Konzeptionen von res mea und res communes omnium wirken auf das zurück, was ihnen gegenüber als res nullius gelten soll. Dieses Geschehen lässt sich dabei nicht ausschließlich in der Rechtsgeschichte verorten, vielmehr hat es darüber hinaus soziale, politische und kulturelle Dimensionen, die in kolonialen Kontexten besonders deutlich werden, aber auch sonst eine entscheidende Rolle spielen. Unter der Bedingung einer solchen Untersuchungsanordnung lässt sich keine komplette Geschichte von res nullius entwerfen, vielmehr kann es nur darum gehen, an historischen und aktuellen Beispielen differenziert nachzuzeichnen, welche Funktion der Einsatz von res nullius jeweils erfüllt, ohne die grundlegende Fragestellung aus den Augen zu verlieren, auf welche Weise dabei immer wieder die Kosten der ursprünglichen Aneignung von Besitz, sei es durch einen Einzelnen, eine Gesellschaft oder ein Staatswesen, verhandelt werden – und dies nicht nur in rechtlicher, sondern auch in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht.

II. Forschungsdiskussion Gerade in jüngerer Zeit hat sich das geschichts- und kulturwissenschaftliche Interesse an der Rechtsformel res nullius intensiviert. Das zeigen unter anderem ein neu erschienener Aufsatz über terra nullius-Konzepte als Begründungsfigur von Herrschaftsverhältnissen während der frühmodernen europäischen Expansion,6 eine Sektion zum „Topos des leeren Raums als narratives Konstrukt mittelalterlicher und neuzeitlicher Einwanderergesellschaften“ am Historikertag 20107 oder auch die Über5 Cornelia Vismann, Terra nullius. Zum Feindbegriff im Völkerrecht, in: Armin Adam/ Martin Stingelin (Hg.), Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen, Berlin 1995, S. 159 – 174. 6 Lauren Benton/Benjamin Straumann, Acquiring Empire by Law: From Roman Doctrine to Early Modern European Practice, in: Law and History Review, Heft 28/1, 2010, S. 1 – 38. 7 Kerstin Weiland, Tagungsbericht HAT 2010: Der Topos des leeren Raums als narratives Konstrukt mittelalterlicher und neuzeitlicher Einwanderergesellschaften, 28. 09. 2010 – 01. 10. 2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 13. 11. 2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsbe richte/id=3364> (letzter Zugriff 20. 9. 2013). Nach Angaben der Homepage von Ulrich Nig-

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Michael Kempe und Robert Suter

setzung eines Aufsatzes des amerikanischen Germanisten Peter Fenves, der mit res nullius in mehr ideengeschichtlicher Perspektive die Vorgeschichte einer Kritik der Gewalt verknüpft.8 Im Sammelband wird der Versuch unternommen, die drei Perspektiven, in welche die Forschung bisher zerfällt, zu bündeln und aufeinander zu beziehen: (1) die in der Rechtsgeschichte zu findenden Auseinandersetzungen um strittige Rechtsfragen,9 (2) die Kulturtechniken und Medien des Rechts wie Kartographie, Navigation, Ackerbau oder Tierfangtechniken, die das Recht erst auf konkrete Felder übertragbar machen und gleichzeitig auf es zurückwirken,10 (3) die diesen Komplex reflektierenden und teils auch radikalisierenden Philosophien und Theorien etwa bei John Locke, Immanuel Kant oder auch Carl Schmitt.11 Zweifellos bildet die Diskussion um terra nullius bis heute das dominante Anwendungsfeld der res nullius-Forschung. So ging es auf der erwähnten Sektion des Historikertages 2010 vor allem darum, nach den unterschiedlichen Bedeutungen des in Migrationsgesellschaften wiederkehrenden Narrativs vom leeren Raum zu fragen. Untersucht wurde dies in historisch-komparativer Perspektive an Gründungsmythen im mittelalterlichen Europa, der Inbesitznahme Nordamerikas im 17. und 19. Jahrhundert, der frühneuzeitlichen Kolonisation Südafrikas, den australischen Nationalnarrativen und der Ansiedlung von Protestanten aus Salzburg in Preußen sowie deutscher Kolonialisten im Wolgagebiet vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Was jeweils mit ,leer‘ gemeint war, konnte mithin unterschiedlich ausfallen, es konnte ein unbewohntes oder entvölkertes Land bezeichnen oder auch ein von Menschen zwar bewohntes, aber als unkultiviert eingestuftes Land. Insgesamt betonen die Beiträge, dass in den Erzählungen nicht nur bestimmte inhaltliche Aspekte immer wieder auftauchten, wie beispielsweise die göttliche Sendung, das Konzept von der WildnisÜberwindung oder die Behauptung der Superiorität der eigenen Zivilisation gegenüber der als minderwertig angesehenen autochthonen Bevölkerung. Darüber hinaus, so der Tenor der Beiträge, sei die Bedeutung dieser Aspekte jedoch nur im jeweiligen Kontext zu verstehen, der die vielfältigen Funktionen der Semantik vom leeren Raum zu erkennen gebe, etwa die Legitimierung von Landnahme, die Herausbildung bzw. Festigung gruppenspezifischer Identität, die diskursive Begleitung von Staatsbildungsprozessen oder die polemische Reflexion konfessioneller Konflikte.12 gemann (Universität Marburg) ist eine Publikation beim Steiner Verlag Stuttgart in Vorbereitung. 8 Peter Fenves, Niemands Sache. Die Idee der ,Res Nullius‘ und die Suche nach einer Kritik der Gewalt, übers. v. Thomas Schestag, in: philo:xenia, Bd. 1, 2010, S. 123 – 205. 9 Rüdiger Wolfrum, Staatsgebiete und staatsfreie Räume. Neuere Entwicklungen des Völkerrechts, Tübingen 1988. 10 Cornelia Vismann, Starting from Scratch. Concepts of Order in No Man’s Land, in: Bernd Hüppauf (Hg.), War, Violence and the Modern Condition, Berlin/New York 1997, S. 46 – 64; Daniel Damler, Wildes Recht. Zur Pathogenese des Effektivitätsprinzips in der neuzeitlichen Eigentumslehre, Berlin 2008. 11 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950, 41997; Iris Därmann, Figuren des Politischen, Frankfurt a. M. 2009. 12 Weiland, Tagungsbericht.

Einleitung

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Indes finden sich in den Forschungsdiskussionen zugleich immer wieder Stimmen, die vor einer Überbetonung der Rede vom leeren Land als Argument der Landnahme warnen. Insbesondere in Australien ist diese Diskussion ein politisches und stark polarisierendes Dauerthema öffentlicher Debatten. Erst vor kurzem hat der umstrittene rechtskonservative Publizist Michael Connors behauptet, dass die Verwendung von terra nullius als Argument bei der europäischen Besiedlung Australiens im 18. Jahrhundert keine Rolle gespielt habe, sondern vielmehr eine Erfindung der postkolonialen Selbstkritikdebatte der 1980er Jahre gewesen sei.13 Im Visier von Connors Attacke steht vor allem die bekannte Geschichtsdarstellung Australiens des renommierten Historikers Henry Reynolds, The Law of the Land.14 Der von Connors angegriffene Reynolds dagegen verweist darauf, dass die Denkfigur vom leeren Land bei der Landbesitznahme in Australien entscheidend war, auch wenn der Terminus terra nullius explizit nicht so im 18. Jahrhundert verwendet wurde. Ferner macht Reynolds deutlich, dass die Einwände Connors weniger historiographisch motiviert, sondern der politischen Gegenwart geschuldet sind, indem es Connors darum gehe, einen Schlussstrich unter den Diskurs der kritischen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit zu ziehen.15 Indem beide Seiten der Kontroverse Geschichte und Gegenwart – freilich auf je unterschiedliche Weise – miteinander verbinden, zeigt sich darin zugleich die ungebrochene Aktualität der terra nullius-Formel als Teilbereich der res nullius-Problematik. Von kühler Distanz zur Geschichte kann hier also keine Rede sein. Derweil wird in der jüngeren rechtshistorischen Debatte die Bedeutung von res nullius für die Rechtfertigung des Erwerbs von kolonialem Besitz auch von einer politisch weniger erhitzten Warte aus relativiert. Referenzen auf res nullius und terra nullius, so zusammenfassend Lauren Benton und Benjamin Straumann, verweisen nicht auf eine fest umgrenzte Rechtsdoktrin im strikten technischen Sinne, sondern auf ein loses Set an Rechtsstrategien, aus dem konträre und sich widersprechende Legitimationspostulate ableitbar sind.16 Betrachtet man beispielsweise die Rechtfertigungsmuster der europäischen Expansionspolitik in der frühen Neuzeit, dann zeigt sich für den gelehrten Diskurs der scheinbar widersprüchliche Befund, dass Rekurse auf res nullius und terra nullius entweder dazu dienen konnten, imperiale Okkupationsbestrebungen zu rechtfertigen, oder aber – genau im Gegenteil – solchen Bestrebungen die Legitimationsgrundlage zu entziehen. So haben in der Forschung Autoren wie Anthony Pagden oder Richard Tuck terra nullius-Argumentationen zur paradigmatischen Rechtfertigungstechnik des englischen und französischen Kolonia-

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Michael Connor, The Invention of Terra Nullius, Sydney 2005. Henry Reynolds, The Law of the Land, Melbourne 1987. 15 Henry Reynolds, A New Historical Landscape? A Response to Michael Connor’s ,The Invention of Terra Nullius‘, in: The Monthly. Nr. 12, Mai 2006, http://www.themonthly.com. au/issue/2006/may/1294984625/henry-reynolds/new-historical-landscape (letzter Zugriff 21. 9. 2013). 16 Benton/Straumann, Acquiring Empire by Law. 14

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Michael Kempe und Robert Suter

lismus erklärt.17 Hingegen betonen andere Historiker wie Brian Slattery oder Stuart Banner, dass diese Argumentationsmuster – gerade umgekehrt – dazu dienten, solche imperialen Hegemonialansprüche zu unterminieren.18 In der Tat hatte beispielsweise Domingo de Soto bereits 1535 argumentiert, dass der vom römischen translatio imperii abgeleitete Weltherrschaftsanspruch von Kaiser Karl V. nicht gerechtfertigt sei. Denn die neuesten transozeanischen Entdeckungen machten deutlich, dass das Imperium der Römer keineswegs die gesamte Erde umspannte.19 Obwohl diese Resultate die Bedeutung von res nullius relativieren, lassen sie sich doch wiederum methodisch für die Analyse dieser Rechtsformel fruchtbar machen. Was es zu untersuchen gilt, sind Konstellationen, in denen res nullius zum Argument werden, ohne aber andere, auch kontradiktorische Argumente auszublenden. So gehört es zur eigentümlichen Genealogie von terra nullius-Applikationen, dass man in der Praxis Gebietsansprüche der Gegenseite anerkennen konnte, sie in der Selbstbeschreibung des eigenen Handelns jedoch wieder negierte. Europäische Siedler hatten im 17. Jahrhundert das Eigentumsrecht der Indigenen in Nordamerika explizit oder implizit akzeptiert, als sie ihnen ihr Land wegnahmen, die Wegnahme danach jedoch als Inbesitznahme eines leeren Landes, eines vacuum domicilium, legitimiert. Solche Widersprüche gilt es nicht aufzulösen, sondern vielmehr ernst zu nehmen, verweisen sie doch darauf, dass die Rechtsformel res nullius keineswegs einfache Verhältnisse beschreibt. Viel eher zeigen die verschiedenen Beiträge, die der Sammelband versammelt, dass die Funktion der Rechtsformel darin besteht, für zusätzliche Komplexität zu sorgen, was wiederum neue Optionen der Besetzung und Verteilung von Gütern und Land eröffnet.

III. Gewalt und Raum Dass die Rechtsformel res nullius nicht ablösbar ist von ihrer Behauptung und Konkretion, zeigt ihre Geschichte. Sie ist daher stets auch eine Geschichte konkreter historischer Konstellationen, Aktionen, Kulturtechniken und Diskurse, in denen diese Formel zum Einsatz kommt und entsprechend der jeweiligen Situation umgedeutet wird. Da die Reklamation auf res nullius immer wieder von Bemächtigungen handelt, sei es von Dingen, Ländern, Tieren oder Menschen, lässt sie sich nicht trennen von einer Kritik der Gewalt, die diese gewaltsame Seite von Rechtssetzungen

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Anthony Pagden, Lords of All the World. Ideologies of Empire in Spain, Britain and France, c. 1500–c. 1800, New Haven (CT) 1995, S. 75 f.; Richard Tuck, The Rights of War and Peace. Political Thought and the International Order from Grotius to Kant, Oxford 1999, S. 123 – 125. 18 Brian Slattery, Paper Empires. The Legal Dimensions of French and English Ventures in North America, in: John McLaren et al. (Hg.), Despotic Dominion. Property Rights in British Settler Societies, Vancouver 2005, S. 50 – 78; Stuart Banner, Why Terra Nullius? Anthropology and Property Law in Early Australia, in: Law and History Review, Heft 23/1, 2005, S. 95 – 131. 19 Benton/Straumann, Acquiring Empire by Law, S. 23 – 25.

Einleitung

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thematisiert.20 Dazu gehört auch, dass res nullius den Preis von Generalisierungen im Medium und in der Anwendung des Rechts sichtbar macht. Das betrifft ebenso die Nicht-Anerkennung anderer Rechtssysteme, auch wenn diese, etwa im Inkareich, durchaus einen generalisierten Charakter aufwiesen, wie auch den gerade bei dieser Rechtsfigur evidenten Bezug auf andere, beispielsweise theologische Generalisierungen; so beim Argument, Besitz gründe sich nur auf einer Kultivierung der bewohnten Erde, wie es Gott von den Menschen gefordert habe.21 Erst so konnten Exklusionslinien gezogen werden zwischen dem Christlichen und Nicht-Christlichen, dem Zivilisierten und Unzivilisierten, jenseits derer die terra nullius situiert wurde. Gleichzeitig stellt sich hier auch eine Unterscheidung zwischen terra und res nullius ein, denn während durch das Niemandsland eine generelle Besitzlosigkeit postuliert wurde, konnte es bei Niemandsgütern auch um individuellen Erwerb gehen. So schloss die Erklärung zum Niemandsland nicht die Anerkennung aus, dass Eingeborene in Niemandsländern bereits Niemandsgüter, etwa durch Jagd, in ihren Besitz gebracht hatten.22 Res nullius ermöglicht die Einführung neuer Differenzen, durch die zugleich auch neue Machtverhältnisse prozessiert werden. So erreicht in der frühen (europäischen) Neuzeit der alte Streit über die Frage, ob das Meer in Besitz genommen werden könne oder allen gehöre, in den Schlagworten mare clausum versus mare liberum seinen Höhepunkt.23 Auch nachdem sich weltweit die Unterscheidung zwischen Hoheitsgewässern und der hohen See als völkerrechtlichem Terrain durchgesetzt hatte, blieb die Frage umstritten, ob der internationale Raum des Maritimen als res omnium oder res nullius zu gelten habe. Kleinere Seemächte drängten auf letzteres. Denn als Gemeingut, als transnationales Kondominium verstanden, drohte das Meer, das zeigten die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts mit der maritimen Suprematie Großbritannien, allein von den Seegroßmächten dominiert zu werden, die jeweils für sich beanspruchten, im Namen aller zu handeln.24 Als Hugo Grotius das offene Meer zu denjenigen Gütern zählte, die wie Luft allen gehören, bezog er sich auf das römische Recht, um zwischen res nullius – Dingen, die von jemandem in Besitz genommen werden könnten, weil sie niemandem gehörten – und res communis omnium – Dingen, die allen gehörten, weil sie niemand in Besitz

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Fenves, Niemands Sache. David Boucher, The Law of Nations and the Doctrine of Terra Nullius, in: Olaf Asbach/ Peter Schröder (Hg.), War, the State and International Law in Seventeenth-Century Europe, Farnham, Surrey 2010, S. 63 – 82, hier S. 65. 22 Ebd., S. 72. 23 Mit weiterführenden Literaturhinweisen: Michael Kempe, Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen 1500 – 1900, Frankfurt a. M. 2010, S. 95 – 99. 24 Gilbert Gidel, Le droit international public de la mer, 3 Bde., Chateauroux 1932 – 34, Bd. 1: Introduction – La Haute Mer, Chateauroux 1932, S. 213 – 224. Siehe auch Ernst Radnitzky, Meeresfreiheit und Meeresgemeinschaft, in: Archiv für öffentliches Recht, Bd. 22, 1907, S. 416 – 447. 21

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Michael Kempe und Robert Suter

nehmen könne – zu unterscheiden.25 Eine Unterscheidung, die Carl Schmitt zum Anlass genommen hat, die Differenz zwischen Land und Meer als Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht zu definieren.26 Doch weder Andrea Alciato noch Alberico Gentili, auf die sich Schmitt bezieht, gingen als Rechtstheoretiker von einer Abwesenheit jeglichen Rechts auf dem Meer aus, sondern nur von einer Absenz territorialen Rechts, unter bleibender Präsenz des Völkerrechts. Und obgleich Grotius später das Meer im Unterschied zum Land als anhaltenden Naturzustand verstand, so entsprach dies keinesfalls einem Hobbes’schen Verständnis vom status naturae, wie es Grotius von Schmitt unterstellt wurde. Vielmehr herrschte nach grotianischer Auffassung ebenso im maritimen Raum kein Rechtsvakuum.27 Auch die auf dem Rechtstitel von res nullius beruhenden Landnahmen schaffen keineswegs rechtlich und politisch sicheres Terrain. So schreibt 1936 ein englischer Beamter über die Falklandinseln, die 1833 von Großbritannien okkupiert wurden, obwohl die Argentinier zu dem Zeitpunkt das Eiland als res nullius bereits für sich reklamiert hatten, dass es nicht leicht sein würde, „to explain our position without showing ourselves up as international bandits“.28 Res nullius wirkt kreativ: Ihre Umdefinition ist nicht nur Ausdruck neuer Machtverhältnisse, sie schafft auch neue Rechtsobjekte und -räume. Das lässt sich unter anderem am Beispiel der aktuell am Meeresboden vermuteten Bodenschätze nachvollziehen.29 Land und Meer sind nicht länger durch eine linear verlaufende Küstenlinie getrennt, sondern das Land erstreckt sich neu unter dem Meeresspiegel, der trotzdem internationales Gewässer bleibt. Dem vorher zweidimensionalen Komplex von Land und Meer erwächst eine dritte Dimension, wenn das Land nunmehr in Form der Kontinentalplatten gegeben sein soll.30 Unter dem Meeresspiegel ist somit eine neue terra zu entdecken.

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Hugo Grotius, Defensio captitis quinti (1615), in: ders., The Free Sea (Hakluyt transl.), hg. v. David Armitage, Indianapolis 2004, S. 115. Siehe auch Gustaaf van Nifterik/Janne Nijmann, Introduction: Mare liberum Revisited (1609 – 2009), in: Grotiana, Bd. 30, 2009, S. 3 – 19. 26 Schmitt, Nomos der Erde, S. 13 – 20. 27 Kempe, Fluch der Weltmeere, S. 33 – 38. Siehe auch ders., Teufelswerk der Tiefsee. Piraterie und die Repräsentation des Meeres als Raum im Recht, in: Hannah Baader/Gerhard Wolf (Hg.), Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich/Berlin 2010, S. 379 – 411. 28 John Troutbeck zit. n.: Lowell S. Gustafson, The Sovereignty Dispute over the Falkland (Malvinas) Islands, New York 1988, S. 33. 29 Gregory A. French, Der Tiefseebergbau. Eine interdisziplinäre Untersuchung der völkerrechtlichen Problematik, Köln 1990; Nico Schrijver/Vid Prislan, From Mare Liberum to the Global Commons: Building on the Grotian Heritage, in: Grotiana, Bd. 30, 2009, S. 168 – 206. 30 Shigeru Oda, International Control of Sea Resources, Dordrecht/Boston/London 1989.

Einleitung

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IV. Wilde Objekte Umfasst res nullius räumlich Land und Meer gleichermaßen, so gilt dies ebenso für die Objekte beider Räume. Zu den beweglichen herrenlosen Gütern gehören nicht nur Hochseefische und andere ,Früchte der Meere‘, sondern ebenfalls wilde Tiere. Dementsprechend beschränkt sich die Geschichte von Niemandsgütern nicht allein auf Landnahmen, Okkupationen und Plünderungen; sie erzählt ebenso von Dingen wie dem Wild, bei dem in Justinians Institutionen die Frage gestellt wird, ob es bereits durch die Verfolgung oder erst durch das Einfangen in den Besitz des Jägers gerate.31 Entschieden wird dann, erst das Einfangen sorge für sichere Besitzverhältnisse und dürfe daher Rechtsgültigkeit beanspruchen. Mit der mittelalterlichen Einführung des Forstrechts ist es hingegen das Land, auf dem sich die Tiere aufhalten, welches das Jagdrecht an ihnen begründet. Das wechselt in der frühen Neuzeit mit den Jagdregalien teilweise wieder, als erneut die Tiere unter den herrschaftlichen Bann gestellt werden, so dass der Bauer das auf seinen Feldern äsende Wild dulden muss, weil es als Eigentum des Staates, eine Etikettierung, die sich auf seinen Status als potentielle res nullius stützt, unter der Verfügungsgewalt des Territorialherrn steht.32 Das Wild wird damit zum Medium herrschaftlicher Gewalt, das diese aus dem Forst auf das Kulturland überträgt. Von den Bauernkriegen bis zu seiner endgültigen Aufhebung im 19. Jahrhundert bleibt dieses Recht denn auch umstritten, wie die lange Geschichte der Wilderei zeigt. Das ist jedoch nicht nur eine Konfliktgeschichte zwischen Herrschaft und Untertanen, sondern auch die Geschichte einer symbolisch überfrachteten Streitsache, die sich beidseitig als Objekt des Begehrens nach Eigentum konstituiert. Die Frage nach der Aneignung und Preisgabe herrenloser Sachen lässt sich in der Entwicklung des allgemeinen Zivilrechts bis zum römischen Recht zurückverfolgen. Skizziert werden kann diese Entwicklung als zunehmendes Verschwinden privatrechtlicher Anwendungsbereiche von res nullius. Im Zuge der wachsenden rechtlichen Durchdringung der Gesellschaft verschwanden nicht nur ursprünglich herrenlose Liegenschaften. Neben unbeweglichen Gütern wurden ebenfalls bewegliche Güter zunehmend aus dem Bereich der Herrenlosigkeit ausgeklammert. Während das römische Recht zahlreiche Fälle der Herrenlosigkeit und der Okkupationsmöglichkeit kannte, ist bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine beständige Abnahme der herrenlosen Sachen im Privatrecht zu beobachten. Ebenso schränkte sich der Kreis der Aneignungsberechtigten immer mehr ein. War im römischen und später im gemeinen Recht jedermann berechtigt, sich eine herrenlose Sache anzueignen, entwickelte sich bis heute in den meisten nationalen Rechtssystemen eine Vielzahl besonderer Aneignungsrechte bezüglich unterschiedlicher Sachen (z. B. Jagdrecht, Fi31

Fenves, Niemands Sache. Thomas Zotz, Beobachtungen zu Königtum und Forst im früheren Mittelalter, in: Werner Rösener (Hg.), Jagd und höfische Kultur im Mittelalter, Göttingen 1997, S. 95 – 122; Werner Rösener, Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Darmstadt 2004. 32

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schereirecht, Bergrecht) sowie ein ausschließlich fiskalisches Aneignungsrecht von Grund und Boden. Den wachsenden Verlust an Herrenlosigkeit im Bereich unbeweglicher und beweglicher Güter hatte bereits 1880 Rudolf Jhering kritisiert: „Die insula in flumine wie die in mari nata nimmt sich der Staat, ebenso den alveus derelictus; als Gegenstände der Privatoccupation figurieren sie nur noch in den Lehrbüchern […]. So verschwinden die sämtlichen unbeweglichen Sachen von der Bühne. Man könnte den Verlust verschmerzen, wenn nur die beweglichen blieben! Aber auch von ihnen tritt eine nach der anderen ab; man wird an die Abschiedssymphonie von Haydn erinnert, in der ein Mitglied des Orchesters nach dem anderen sein Pult verläßt und sein Licht auslöscht. Die usucapio pro herede lucrativa – die occupatio bellica – die freie Jagd auf Fisch und Wild – das freie Suchen nach Bernstein, Fossilien u.s.w. – in manchen Staaten sogar der Schatzerwerb – – lauter ausgelöschte Lichter – allgemeine Dunkelheit! Wohin der Mensch sich wendet, überall stößt er sich an das Privateigenthum, das ihm sein: Bis hieher und nicht weiter! entgegenruft.“33

Dieser privatrechtsgeschichtliche Befund widerspricht nur scheinbar der ungebrochenen Aktualität von res nullius als Rechtsformel. Im Gegenteil: Je eingeschränkter der Bereich herrenloser Sachen zu sein scheint, desto stärker wird die Figur der res nullius bemüht. Denn entgegen ihrer äußeren Gestalt geht es – das zeigen durchweg alle Beiträge des vorliegenden Bandes – eigentlich immer um konfliktreiche Verteilungsentscheidungen, die als solche allerdings oftmals nicht offen dargelegt, sondern durch den Gebrauch dieser Rechtsfigur unsichtbar gehalten werden. Und gerade in diesem Verschleiern verbirgt sich das verführerische Machtpotential dieser Rechtsformel. Wer sie erfolgreich anzuwenden vermag, dem scheint sie zu versprechen, Verteilungskämpfe durch deren Invisibilisierung als vermeintlich unstrittige Aneignungsvorgänge zu seinen Gunsten entscheiden zu können. Bei diesen Aneignungs- und Verteilungskonflikten sind Objekte und Räume oftmals nicht zu trennen. Wird mit res nullius Raumpolitik betrieben, dann geht es zumeist zugleich um Kontrolle und Zugriff von beweglichen Gütern, zum Beispiel um Fischgründe oder Weideland. Raumkontrolle kann gleichfalls andere – als herrenlos deklarierte – Güter beanspruchen wie Naturressourcen, Beutegüter oder Schatzfunde. Als Niemandslandbesetzungen codierte Raumnahmen wurden seit jeher durch verschiedenste Symbolisierungen markiert, sei es durch Grenzpfeiler, Holzkreuze, Siedlungen oder befestigte Lager; und obwohl sich in der europäischen Expansion die effektive Okkupation als einziger Rechtstitel solcher Besitznahmen durchgesetzt hat, finden sich bis heute immer noch bzw. erst recht wieder ebenso symbolische Annexionen, sei es etwa in Form einer amerikanischen Fahne auf dem Mond oder einer russischen Flagge auf dem Polarmeeresgrund. Vor der Effektivität und damit rechtlichen Faktizität einer Besetzung scheint es daher weiterhin notwendig zu sein, neue Räume, Objekte oder Ressourcen als Niemandsgüter oder Niemandsländer zu deklarieren, um die eigenen Ansprüche darauf symbolisch markieren zu können. 33 Rudolf von Jhering, Das Occupationsrecht an herrenlosen Sachen einst und jetzt. Eine romanistische Elegie (1880), in: ders., Scherz und Ernst in der Jurisprudenz: Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, Leipzig 1884, S. 127 – 136, hier S. 135.

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Die hier entworfene Ausgangslage lässt sich auf drei miteinander verschränkte Komplexe reduzieren, die auch den Sammelband strukturieren. Eine zentrale Rolle spielt res nullius im Zusammenhang mit der (1.) ursprünglichen Erwerbung. Niemandsgüter treten als das Andere des Besitzes auf, von dem her seine Legitimität ebenso begründet wie bestritten werden kann. Auf die Weise haben sie auch den Status eines Irritationsfaktors, denn wo sie auftauchen, stellen sich grundsätzliche Fragen, wie Besitz erworben, verteilt und aufgegeben werden kann. Obwohl bereits im römischen Zivilrecht enthalten, lässt sich der Rechtsformel keine lineare Genealogie unterstellen. Was zu untersuchen ist, sind vielmehr (2.) unsaubere Übersetzungen, die Anwendung auf konkrete Streitfälle, interessengeleitete freie Interpretationen sowie Übertragungen auf andere Raum- oder Gegenstandsbereiche. Wie verwickelt sich solche Genealogien gestalten können, zeigt die historische Semantik von terra nullius: Erst im 18. Jahrhundert semantisch greifbar, als völkerrechtliche Analogiebildung zu res nullius, hat der Begriff sukzessive seine Wirkung entfaltet, wobei er sich, obwohl kein zeitgenössischer Ausdruck, auch bezüglich der spanischen Eroberungen im 16. Jahrhundert durchsetzte.34 Was zählt, ist also weniger das Auffinden der Semantik von res nullius, als vielmehr das Nachzeichnen der Arbeit an ihr. Die Behauptung von res nullius vollzieht sich in (3.) Konfliktsituationen. Da Niemandsgut die Frage aufwirft, wem gehört, was niemandem gehört, oder ob jenes weiterhin niemandem gehören soll, befördert es Auseinandersetzungen, und meist wird es mit genau diesem Kalkül auch aufgerufen. Nicht zufällig bezeichnet res im römischen Prozessrecht, aus dem der Begriff stammt, weniger eine ,Tatsache‘ denn vielmehr eine ,Streitsache‘.35 So sorgt die res nullius-Formel im ersten Schritt für zusätzliche Komplexität in Besitzfragen, sie ermöglicht die Einziehung neuer Differenzen zwischen dem, was niemandem, jemandem und allen gehört. Man kann in diesem Zusammenhang drei Signifikationspraktiken unterscheiden: So muss das, was niemandem gehört, ebenso eine Gestalt erhalten wie der Prozess, der es in Besitz überführt. Die Konflikte haben sich dabei nicht nur an dem entzündet, was als res nullius gelten darf, sondern auch an der Form, wie es in rechtmäßigen Besitz überführt werden kann.

V. Übersicht der Beiträge Nachfolgend findet sich ein Überblick über die historischen, literaturwissenschaftlichen, soziologischen und ethnologischen Fallstudien, die der vorliegende Band versammelt. Aneignung, Verteidigung, Aufgabe: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den Vereinigten Staaten neue Gebiete zur Besiedlung freigegeben, zugleich hieß das, sie in Privateigentum zu überführen. Der Rechtshistoriker Daniel Damler beschreibt 34

Benton/Straumann, Acquiring Empire by Law. Michel Serres, Statues, Paris 1987, S. 294; Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2008 (engl. 1991), S. 112. 35

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die Voraussetzungen, den Vollzug und die Nachwirkungen des land rush. So griff man für die Begründung dieser großen Landnahme auf Überlegungen John Lockes zurück, die auch in den 1862 nach kontroversen Diskussionen erlassenen Homestead Act einflossen. Die Realität, welche die Gerichte bald nach dem land rush beschäftigte, sollte sich jedoch als widersprüchlicher erweisen als vorgesehen. Der Wilde Westen war offensichtlich weniger wild als auf dem Papier konzipiert, denn öfters war die vermeintlich unbewohnte Prärie, als die Siedler im Glauben, die ersten zu sein, auf ihren Planwagen dort ankamen, bereits von anderen (Soldaten, Bahnarbeitern) besetzt. Dennoch lieferte die Geschichte dieser Landnahme Stoff für eine Mythisierung des leeren Landes, wie Damlers Analyse von betreffenden Hollywood-Filmen zeigt. Hans W. Blom setzt die im Werk von Hugo Grotius zu findenden Argumentationen im Zusammenhang mit res nullius in ihren historischen Kontext. Dabei zeigt sich, dass Grotius res nullius in einer doppelten Bedeutung verwendet: Niemandsgüter sind einerseits noch niemandes Eigentum und andererseits nicht aneigenbare Güter. Die See gilt so als res nullius, weil sie nicht angeeignet werden kann, und die Heringe als res nullius, weil sie angeeignet werden können. Es gibt also zwei unterschiedliche Kategorisierungen von res nullius: Können sie angeeignet werden, stellen sie die Vorstufe zu Eigentum dar; entziehen sie sich hingegen der Überführung in Eigentum, ergibt sich daraus ihr Status als Allgemeingüter. Dies entspricht, wie Blom hervorhebt, dem Credo von Handelsnationen, die einen ,Kolonialismus light‘ verfolgen, dessen Ziel nicht die Aneignung fremden Eigentums (etwa über den Umweg, es zu Niemandsgut zu erklären) ist, sondern die Etablierung von Handelsbeziehungen. Hier ist Eigentum die Voraussetzung für koloniale Beziehungen. Zugleich liefert Grotius ein plausibles und heute noch stimmiges Modell für die Begründung von Kollektivgütern. Wie kompliziert die Rechtslage sein kann, wenn es darum geht, eine Sache nicht zu okkupieren, sondern herrenlos zu machen, untersucht die Soziologin Doris Schweitzer. Nicht nur die Aneignung von Dingen, sondern auch die Möglichkeit, sich ihrer zu entledigen, gehört zu den Anwendungsfeldern der res nullius-Problematik. Gesellschaftlich relevant sind solche Situationen beispielsweise im Zusammenhang mit Flüchtlingsgut, Sperrmüll oder Sondermüll (wie etwa radioaktives Material aus Atomkraftwerken). Wie aktuell diese Problematik ist, zeigen nicht nur die Diskussionen um Sonderdeponien, sondern auch die zahlreichen brisanten Fälle eines globalen Abfall-Imperialismus. Dabei geht es, das verdeutlicht Schweitzer anschaulich, nicht nur um Entledigungsrechte, sondern auch um Zugriffsrechte; im letzteren Fall etwa durch die Umkodierung von unbrauchbaren Abfällen in wertvolle Rohstoffe. Übertragung, Überschreitung: Res nullius, res privatae und res communes omnium sind alles Begriffskonstruktionen, die untrennbar mit der Rechtsgeschichte des Meeres verbunden sind. Dass dabei auch die Entdeckung und Erschließung von Unterwasserräumen im Laufe der frühen und späteren Neuzeit eine entscheidende Rolle spielte, darauf macht der Literaturwissenschaftler Burkhardt Wolf aufmerksam. Zunächst bildete die Unterwasserwelt dabei einen vor allem epistemisch leeren Raum. Die Entwicklung der submarinen Archäologie und die damit verbundenen Eigen-

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tumskontroversen von Unterwasserwracks zeigen indes, dass sich die Auseinandersetzungen im Schnittpunkt von mare clausum und mare liberum ab dem 20. Jahrhundert weniger um politische Herrschaft als um kulturelle Überlieferung drehten und heute noch drehen. Mit anderen Worten: Geht es auf dem Meer vorrangig um das Problem, wie man die Idee eines Kondominiums in praktische Seerechtspolitik umwandeln kann, so geht es auf dem Meeresgrund vor allem um den globalen Auftrag der Sicherung des heritage of mankind. Doch nicht nur das Meer und sein Grund sind Gegenstand von Verhandlungen über res nullius. Dass mit Ballon, Zeppelin und Flugzeug auch der Luftraum – wie etwa im Pariser Luftverkehrsabkommen – zum Rechtsraum wurde, ist nur der Ausgangspunkt der Überlegungen von Monika Dommann, die sich dann auf Versuche im Laufe des 20. Jahrhunderts, ebenso den Weltraum als Gebiet des Völkerrechts zu erfassen, konzentrieren. Nicht erst seit Carl Schmitts Nomos der Erde wird Völkerrechtsgeschichte auch als Raumgeschichte verstanden. Wie Schiffe so lassen sich auch Raumschiffe als Inseln lokalen Rechts behandeln; und auf diese Weise werden Fragen generiert, die rechtswissenschaftliche Ausführungen zunehmend in rechtsfiktionale Texte wandelten. Die russischen Sputnik-Erfolge der 1950er Jahre markieren dabei eine Beschleunigung der normativen Weltraumdiskurse. In Bezug auf das Weltall zeigt sich die mit der res nulliusFrage verbundene Problematik der Beherrschbarkeit großer, weit ausgedehnter und unbeherrschter Räume sowie das Völkerrechtsproblem der fehlenden Sanktionsgewalt in besonderer Schärfe. Betrachtet man überdies den Weltraum – zumindest perspektivisch auf eine fernere Zukunft – als zumindest potentiellen Begegnungsraum auch mit Nicht-Terrestriern, dann kommen Begriffe wie Völkerrecht und Menschenrecht nicht nur räumlich, sondern auch semantisch an ihre Grenzen. Konfliktsituationen, Streitsachen: Dass res nullius-Applikationen ebenfalls als eine Form von Kulturtechnik im weiteren Sinn verstanden werden können, wird aus den Ausführungen der Literaturwissenschaftlerin Cornelia Ortlieb zur spätkolonialen Tierfangproblematik deutlich, wie sich etwa in Franz Kafkas Strafkolonie oder in Carl Hagenbecks Zoodiskurs fassen lässt. Klassische Jagdrechtsstreitpunkte traten dabei in neuem Gewand auf: im Transfer von wilden Tieren aus Afrika nach Europa, die sich in Kisten und Käfigen auf Ozeandampfern zu res nullius wandelten. Res nullius bedeutet hier nicht primär herrenlos, sondern elternlos. In der Person des zoologischen Tierpflegers spiegelt sich zugleich wider, dass es sich bei diesen Prozessen auch um „Aneignungen durch Liebe“ handelt. Dass eine ähnliche Aussage zu NSBeutegut im Zweiten Weltkrieg kaum Sinn ergibt, weist auf die unterschiedlichen Praktiken hin, die mit Niemandsgütern verbunden sind. Anhand der Praxis der Edelmetallaneignungen in den im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten Ländern untersuchen die Historiker Ralf Banken und Ramona Bräu die Frage nach der Beuterechtspolitik des NS-Regimes. Dabei lässt sich feststellen, dass oftmals an unterschiedlichen Stellen der deutschen Verwaltung unklar blieb, ob die Aneignung von Gold- oder Silberbeständen in konkreten Fällen den Regeln der Kriegsbeutenahme entsprach, wie sie in der Haager Landkriegsordnung von 1907 vereinbart wurden. Kam eine solche Entsprechung nicht in Frage, hielt man nach Rechtstechniken Aus-

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schau, mit deren Hilfe sich der Raub von Sachgegenständen als legitimer Eigentumswechsel außerhalb des Kriegsrechts darstellen ließ. Als problematisch erwies sich dabei nicht, wie Banken und Bräu belegen, die rasche Inbesitznahme von Gütern und deren Bewertung als „herrenloses Gut“ (res nullius), sondern deren Verwertung und Weiterwendung. In sozialen Konkretisierungen können nicht bloß Besitzfragen, sondern auch Bestimmungsfragen relevant werden. Das implizieren ethnologische Befunde zu gesellschaftlichen Verhaltensmuster im Post-Apartheid-Südafrika. So weist der Konstanzer Ethnologe und Kulturanthropologe Thomas C. Kirsch darauf hin, dass der Rekurs auf Niemandsdinge in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mit einer spezifischen Anspruchsleugnung und Aberkennungssemantik einhergehen konnte. Das belegen Diebstähle von public properties, etwa Ampeln oder Stromkabeln. Solche Entwendungen sollten nicht nur bestimmte Eigentumsverhältnisse negieren. Vielmehr wurden damit zugleich Macht-Ansprüche des Staates für null und nichtig erklärt. Sachaneignung und symbolische politische Demontage wurden auf diese Weise mit einander verbunden.

I. Aneignung, Verteidigung, Aufgabe

Der amerikanische Traum Eigentum durch Arbeit im Wilden Westen Von Daniel Damler

I. „Zu ihnen können wir gehen, ihr Land ist leer“ – Prolog Es kommt nicht allzu häufig vor, dass moderne Gesetzgeber und Regierungen philosophische Modellannahmen ihren Entscheidungen zu Grunde legen, dass sie sich gedanklich in einen (fiktiven) vorstaatlichen Naturzustand hineinversetzen, ja diesen sogar als ein reales Geschehen zu simulieren und zu beleben versuchen. Jenes eigentümliche Schauspiel kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten zur Aufführung, als Teile des Staatslandes nach einem archaischen Verfahren – der Okkupation – verteilt und in Privateigentum überführt wurden. Die Leitidee, auf die sich die Verantwortlichen damals beriefen und die sie zur Rechtfertigung ihres Vorhabens ins Felde führten, geht auf John Locke zurück, der im ausgehenden 17. Jahrhundert im berühmten 5. Kapitel („Of Property“) seines Second Treatise of Government die These von der Begründung des Eigentums durch Arbeit in die Welt gesetzt hatte.1 „So viel Land“, heißt es an zentraler Stelle, „ein Mensch bepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und so viel er von dem Ertrag verwerten kann, so viel ist sein Eigentum. Durch seine Arbeit hebt er es gleichsam vom Gemeingut ab […]. Gott und seine Vernunft geboten ihm, sich die Erde zu unterwerfen, d. h. sie zum Vorteil des Lebens zu bebauen und auf diese Weise etwas dafür aufzuwenden, was sein eigen war – seine Arbeit. Wer, diesem Gebote Gottes folgend, sich irgendein Stück Land unterwarf, es bebaute und besäte, fügte ihm dadurch etwas hinzu, das sein Eigentum war, worauf kein anderer einen Anspruch hatte und was ihm niemand nehmen konnte, ohne ein Unrecht zu begehen.“2 Für Lockes Eigentumstheorie ist charakteristisch, dass sie ohne einen Gesellschaftsvertrag, ohne einen Konsens der Erdenbewohner auskommt. Allein die Geldwirtschaft, die sich erst in späteren Epochen und höher entwickelten Zivilisationen nachweisen lasse, mache eine Verständigung zwischen den Menschen notwendig und setze sie voraus. Zu Anfang, zu den Zeiten des großen Überflusses, habe kein 1

John Locke, Two Treatises of Government, hg. v. Peter Laslett, Cambridge 2005, Chap. V., §§ 25 – 51 (S. 285 – 302). 2 John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, übers. v. Hans Jörg Hoffmann, hg. v. Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1967, 5. Kap., § 32 (S. 221).

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Bedürfnis bestanden, die Mitmenschen um Erlaubnis zu bitten, wenn man einen Apfel vom Baum pflücke oder Eicheln vom Boden auflese. Ansonsten wären die ersten Menschen trotz der ungeheuren Menge an Land und Nahrungsmittel, die ihnen der Schöpfer überlassen habe, unweigerlich verhungert.3 Um zu verstehen, warum im 19. Jahrhundert das Locke’sche Paradigma jenseits des Atlantiks schlechthin als die ,natürliche‘, objektiv richtige Eigentumslehre galt, ist es zunächst erforderlich, sich kurz die landschaftlichen und demographischen Besonderheiten Nordamerikas zu vergegenwärtigen, so wie sie sich aus der Perspektive John Lockes darstellten (I.1.) – aus der Perspektive eines am Schicksal der Kolonien interessierten Engländers des 17. Jahrhunderts (I.2.).4 Das zweite Kapitel zeichnet die Geschichte des 1862 nach kontroversen Debatten erlassenen ,Homestead Act‘ nach, der die Rechtsgrundlage bildete für die spektakulären ,Landöffnungen‘ des späten 19. Jahrhunderts (Abb. 1).

Abbildung 1: Ikone der Moderne: William S. Prettymans Fotografie der ,Landöffnung‘ an der Grenze zum Cherokee Outlet am 16. September 1893

Nach einem Überblick über die verschiedenen Methoden der Landverteilung, die seit der Unabhängigkeit zur Diskussion standen (II.1.), werden die Argumente der Gegner (II.2.) und der Befürworter (II.3.) eines unentgeltlichen Landerwerbs gesichtet und gegeneinander abgewogen. 3

Locke, Two Treatises of Government, Chap. V., § 28 (S. 288 f.) Die Ausführungen in den Abschnitten I.1. und I.2. sind zum Teil Daniel Damler, Wildes Recht. Zur Pathogenese des Effektivitätsprinzips in der neuzeitlichen Eigentumslehre, Berlin 2 2010, entnommen. Vgl. ferner ders., Geben und Nehmen im Wilden Westen, FAZ vom 31. 12. 2013, S. N4. 4

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Das dritte Kapitel handelt von den Schwierigkeiten, die sich bei der Umsetzung des Homestead Act ergaben. Das gewählte Verfahren (III.1.) mochte philosophischen und theologischen Idealen entsprechen, trug jedoch den Realitäten im nicht mehr ganz so wilden ,Wilden Westen‘ des Fin de Siècle nur unzureichend Rechnung. Es stellte sich schnell heraus, dass die angebliche terra nullius in Wahrheit gar kein Niemandsland war und man sie auch nicht so einfach per Dekret in ein solches verwandeln konnte. Nur mit Mühe und Not gelang es Verwaltung und Gerichten, die Konflikte zwischen den privilegierten Alt-Siedlern und den in der Hoffnung auf den Coup ihres Lebens zugereisten Neu-Siedlern zu entschärfen (III.2.). Wie Hollywood dieses Geschehen interpretierte, davon soll im Epilog (IV.) die Rede sein. 1. Landschaft – Demographie – Legitimation Eine Welt, in der „Überfluss“ (the Plenty) herrscht, in der natürliche Ressourcen unbegrenzt zur Verfügung stehen, entsprach nicht alteuropäischer Lebenserfahrung – so wenig wie eine Welt ohne soziale und politische Bindungen. Man war gewohnt, den Menschen als zoon politikon zu denken, als ein Wesen, das der Gemeinschaft und Zuwendung bedarf, als ein Wesen, das kein Recht aus sich heraus – oder in der Auseinandersetzung mit der materiellen, unbelebten Welt – erschaffen kann, sondern darauf angewiesen ist, dass andere Menschen die Ansprüche anerkennen. Das Auffinden und Sich-Erschließen einer ,Neuen Welt‘ im Verlaufe der Europäischen Expansion hat diesen Erfahrungshorizont zunächst nicht wesentlich verschoben. Dafür gibt es handfeste Gründe. Die Historische Demographie schätzt die Einwohnerzahl des Mexikanischen Hochplateaus gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf mehr als 25 Millionen.5 Zeitgleich lebten auf der Iberischen Halbinsel weniger als 10 Millionen Menschen und in England gerade einmal 3 Millionen. Damit war Zentralmexiko die am dichtesten besiedelte Region der Erde, die doppelt so viele Bewohner pro Quadratmeile aufwies wie China oder Indien.6 Erst mit der Verbreitung europäischer Krankheiten, vor allem der Pocken, ändert sich die Lage dramatisch. Hundert Jahre später zählte man in der gleichen Gegend nur noch 700.000 indigene Bewohner, was einer ,Verlustquote‘ von 97 % entspricht.7 Als man in Spanien am 5 Sherburne F. Cook/Woodrow Borah, The Rate of Population Change in Central Mexico 1550 – 1570, in: Hispanic American Historical Review, Heft 37, 1957, S. 463 – 470, hier S. 466. Vgl. auch Woodrow Borah, The Historical Demography of Aboriginal and Colonial America. An Attempt at Perspective, in: William M. Denevan (Hg.), The Native Population of the Americas in 1492, Madison 21992, S. 13 – 34, hier S. 10. Abweichend William M. Denevan, Native American Population in 1492: Recent Research and a Revised Hemispheric Estimate, in: William M. Denevan (Hg.), The Native Population of the Americas in 1492, Madison 21992, S. xvii – xxix, hier S. xxviii. 6 Charles C. Mann, 1491. New Revelations of the Americas before Columbus, New York 2 2011, S. 107, 137. 7 Ebd., S. 147. Vgl. auch Robert A. Dull et al., The Columbian Encounter and the Little Ice Age. Abrupt Land Use Change, Fire, and Greenhouse Forcing, in: Annals of the Association of American Geographers, Heft 100, 2010, S. 1 – 17, hier S. 8; Denevan, Native American

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intensivsten über die Legitimität der Herrschaft über Las Indias diskutierte – in den 1530er und 1540er Jahren – war die Bevölkerungsdichte freilich immer noch vergleichsweise hoch. 1532 – im Jahre der Relectio de indis des Francisco de Vitoria – lebten fast 17 Millionen Mexikaner in der Region. Ähnlich hohe Einwohnerzahlen – im zweistelligen Millionenbereich – hat man für die Andenkulturen ermittelt. Auch in der Karibik wohnten zu Beginn des clash of civilizations einige Millionen Menschen.8 Wenngleich die genauen Zahlen umstritten sind (und wohl auch immer umstritten bleiben werden),9 lässt sich den Schätzungen jedenfalls eine zentrale Aussage entnehmen, die als solche nicht zweifelhaft sein kann: Lateinamerika war alles andere als ein dünn besiedelter Landstrich. So sahen das auch die spanischen Reisenden und Protokollanten, deren Berichte die empirische Grundlage der ,Duda-Indiana-Kontroverse‘ bildeten. Als Francisco López de Gómara in der Historia general de las Indias (1552) dem Leser eine Vorstellung von der Welt geben wollte, der Welt von heute, wie sie sich nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte dem Betrachter offenbare, da setzte er drei Wahrheiten an den Anfang: „Es gibt nur eine Welt und nicht viele, wie einige Philosophen dachten“, „Die Welt ist rund und nicht flach“, „Die Welt ist nicht nur bewohnbar, sie ist bewohnt“.10 In allen Regionen, auch den entlegensten seien Menschen zu finden, ergänzt er, die Welt sei voller Menschen (llena de gente).11 Doch war es nicht allein die Anzahl der Bewohner, die es den Chronisten des 16. Jahrhunderts erschwerte oder sogar unmöglich machte, sich Lateinamerika als pittoreske ,Wildnis‘ oder ,Dschungel‘ vorzustellen, sondern auch der Lebensstandard und die Siedlungsstrukturen. Etwa 300.000 Menschen lebten zu Beginn des Kulturkontakts in der Metropolregion Tenochtitlán, davon 150.000 bis 200.000 auf der 12 km2 großen Stadtinsel. Nach zeitgenössischen Maßstäben war die Hauptstadt der Azteken eine ,Mega-City‘ mit einer – dem Lebensstil und Habitus nach – ganz und gar urbanen, nicht-agraischen Gesellschaft.12 In einer so ,dichten‘ Zivilisation war alles Land in Gebrauch und Herrschaft, und da es sich um eine menschliche Zivilisation handelte, war dieses Land keine okkuPopulation in 1492, S. xvii – xxix, hier S. xxix. Zur späteren Entwicklung John R. McNeill, Ecology, Epidemics and Empires. Environmental Change and the Geopolitics of Tropical America, 1600 – 1825, in: Environment and History, Heft 5, 1999, S. 175 – 184. 8 Denevan, Native American Population in 1492, S. xvii – xxix, hier S. xxviii. 9 Vgl. Borah, The Historical Demography of Aboriginal and Colonial America, S. 13 – 34; Mann, New Revelations of the Americas before Columbus, S. 105 – 109. 10 Francisco López de Gómara, Historia general de las Indias, Caracas 1979, Cap. I – III (S. 10 – 14). 11 Ebd., S. 14: „La experiencia, que nos certifica por entero de cuanto hay, es tanta y tan continua en navegar la mar y andar la tierra, que sabemos cómo es habitable toda la tierra y cómo está llena de gente.“ 12 William T. Sanders, The Population of the Central Mexican Symbiotic Region, the Basin of Mexico, and the Teotihuacán Valley in the Sixteenth Century, in: Denevan (Hg.), The Native Population of the Americas in 1492, S. 85 – 150, hier S. 149.

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pierbare res nullius. „Es ist nicht nötig,“ erklärte Francisco de Vitoria 1539, „über diesen Rechtstitel [die Okkupation] […] viele Worte zu machen, weil, wie ich oben dargelegt habe, die Barbaren wahre Eigentümer in öffentlicher und privater Hinsicht waren [babari erant veri domini, et publice et privatim]. Es gilt aber die völkerrechtliche Regel, daß nur das dem Okkupanten zufällt, was in niemandes Eigentum steht. Da aber jene Güter nicht ihres Eigentümer entbehren, so fallen sie nicht unter diesen Rechtstitel.“13 Wesentlich anders lagen die Dinge in Nordamerika. Diese riesige Landmasse bevölkerten nach neueren Schätzungen gerade einmal 3,8 Millionen Menschen, nach anderen Berechnungen sogar nur 1,9 Millionen.14 Zudem beziehen sich die Angaben auf das Jahr 1492, also auf einen Zeitpunkt lange vor Beginn der englischen Besiedlung. Da sehr wahrscheinlich ist, dass sich die europäischen Seuchen von den spanisch besetzten Territorien nach Norden ausbreiteten, trafen die Engländer – anders als die Spanier – bereits auf eine durch Krankheiten stark dezimierte Bevölkerung. Dass die frühen Siedler ihre neue Heimat als einen verlassenen, verwilderten Ort empfanden, belegen zahlreiche Briefe und Reiseberichte: „A man may stand on a little hilly place and see divers thousands of acres of ground as good as need to be“, beschrieb Francis Higginson 1629 das Panorama der Neuen Welt, dieser englischen Neuen Welt.15 Städte und Dörfer hingegen, wie sie sich in Europa fanden, suchte man vergeblich. Von den Einwohnern Neuenglands seien nur noch wenige am Leben, vermeldete im gleichen Jahr John Winthrop, die übrigen habe eine große Seuche zu Grunde gerichtet.16 Entvölkert erschienen auch Robert Cushman die ihm bekannten Regionen: „Ihr Land ist ausgedehnt und leer, und sie sind wenig.“17 Der Eindruck verfestigte sich bald, und die Nachricht erreichte die andere Seite des Atlantiks. So stellte beispielsweise John Milton in einer Abhandlung fest, die indigenae Amerikas seien verschwunden und hätten keine Behausungen und kein Vieh 13 Francisco de Vitoria, De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in barbaros. Relectiones/Vorlesungen über d. kürzlich entdeckten Inder u. d. Recht d. Spanier zum Kriege gegen d. Barbaren [1539], lat. Text nebst dt. Übers. hg. v. Walter Schätzel, Tübingen 1952, II, 23 (S. 45). 14 Denevan, Native American Population in 1492, S. xx, xxviii; Douglas H. Ubelaker, North American Indian Population Size A.D. 1500 – 1985, in: American Journal of Physical Anthropology, Heft 77, 1988, S. 289 – 294, hier S. 291. 15 Rev. Francis Higginson to His Friends at Leicester, September 1629, in: Letters from New England. The Massachusetts Bay Colony 1629 – 1638, hg. v. Everett Emerson, Amherst 1976, S. 30. 16 John Winthrop, Reasons to Be considered for Justifying the Undertakers of the Intended Plantation in New England and for encouraging Such Whose Hearts God Shall Move to Join with Them in It [1629], in: The Puritans in America. A Narrative Anthology, hg. v. Alan Heimert/Andrew Delbanco, Cambridge (MA)/London 1985, S. 70 – 74, hier S. 71: „God hath consumed the natives with a great plague in those parts, so as there be few inhabitants left.“ 17 Robert Cushman, Reasons and Considerations touching the lawfullness of removing out of England into the parts of America [1621], in: Alexander Young (Hg.), Chronicles of the pilgrim fathers of the Colony of Plymouth 1602 – 1626, Boston 1841 (ND New York 1971), S. 239 – 249, hier S. 243.

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zurückgelassen (… neque habitationes aut pecora reliquerant).18 Ein Jahrhundert später tauchte die Differenz zwischen der spanisch-südamerikanischen und der englisch-nordamerikanischen Situation sogar in einer deutschen Disputation (De occupatione rerum immobilium) auf. Der Verfasser stellte den ehemals „blühendsten“ (florentissimae) Gemeinwesen Mexicos und Perus, die nicht okkupierbar gewesen seien, die insulae vacuae in der englischen Einflusssphäre gegenüber.19 Eine Landnahme der Neuen Welt war nach dem englischen Erfahrungs- und Erlebnishorizont also grundsätzlich möglich und anders als für spanische Autoren eine nahe liegende Option. „Zu uns können sie [die Heiden] nicht kommen, unser Land ist voll“, bemerkte Cushman 1621 mit entwaffnender Logik, „zu ihnen können wir gehen, ihr Land ist leer.“20 Juristischer formulierte John Donne 1622 die Annahme, die das Rückgrat der frühen englischen Kolonisationslehre bildete: „In the Law of Nature and Nations, A Land never inhabited, by any, or utterly derelicted and immemorially abandoned by the former Inhabitants, becomes theirs that will posesse it.“21 Freilich war das Land nicht völlig entvölkert und im Süden des Kontinents – wenn auch weit entfernt – gab es bereits spanische Festungen und Städte, so dass man sich genötigt sah, sich auf eine spezifischen Form der originären Landnahme – auf die effektive Okkupation – zu berufen. Die Nutzungs- und Daseinsformen einer sesshaften Gesellschaft, die Feld- und Gartenwirtschaft, die Errichtung von dauerhaften Siedlungen mit gesicherten Hofund Wohngebäuden, sollten das Maß der Dinge sein, das über den Bestand oder Nichtbestand von Rechten entschied. John Cotton22 gebrauchte in God’s Promise to his Plantations (1630) die Formulierung culture and husbandry, andere sprachen von habitations, cattle und enclosures. „Es ist rechtens (lawful),“ bemerkte Cushman23, „jetzt von Land Besitz zu nehmen, das nicht benutzt wird, und aus ihm Nutzen 18 John Milton, Scriptum dom. protectoris reipublicae Angliae, Scotiae, Hiberniae, &c. Ex consensu atque sententia concilii sui editum; In quo hujus Reipiblicae Causa contra Hispanos justa esse demonstratur, London 1655, in: The works of John Milton, Bd. XIII, New York 1937, S. 509 – 563, hier S. 556. 19 Johann Friedrich Ehrlen, De occupatione rerum immobilium, Disputatio inauguralis, Straßburg 1757, § X (S. 9): „Fuere tamen etiam in America insulae vacuae, quae omnio occupari poterant. Exempla quoad acquisitiones Britanicas occurunt in libro, ex Anglico in Germanicum idioma a Pseydonymo quodam verso, cui titulus: ,Das Britische Reich in Amerika‘, Lemgovi A. 1744.“ 20 Cushman, Reasons and Considerations touching the lawfullness of removing out of England into the parts of America [1621], S. 239 – 249, hier S. 243. 21 John Donne, A sermon preached to the honourable company of the Virginia plantation, London [13. November 1622], in: George R. Potter (Hg.), The Sermons of John Donne, Bd. 4, Berkeley 1962, S. 264 – 282, hier S. 274. 22 John Cotton, God’s Promise to His Plantantions [London 1630], in: The Puritans in America. A Narrative Anthology, hg. v. Alan Heimert/Andrew Delbanco, Cambridge (MA)/ London 1985, S. 76 – 80, hier S. 77: „It is principle in nature, that in a vacant soil, he that taketh possession of it, and bestoweth culture and husbandry upon it, his right it is.“ 23 Cushman, Reasons and Considerations touching the lawfullness of removing out of England into the parts of America [1621], S. 244.

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zu ziehen.“ Winthrop, der in Cambridge ausgebildete Jurist, stellte fest, dass allein das Einzäunen von Land und dessen Bewirtschaftung ein civil right begründe.24 Da die natives keine Befestigung ihrer Wohnstätten und Güter vornahmen, blieb ihnen allein ein natural right, was im Ergebnis bedeutete, dass sie auf die Generosität der neuen Siedler angewiesen waren.25 2. John Locke und Amerika Von solchen Landesbeschreibungen und kolonialen Apologien erlangte auch John Locke Kenntnis,26 der zu seiner Zeit über eine der größten Sammlungen publizierter Reiseberichte verfügte. Insgesamt 195 einschlägige Titel weist das Inventar aus, darunter zahlreiche Beschreibungen der nordamerikanischen plantations.27 Dieser Weltgegend galt Lockes besonderes Interesse – schon aus beruflichen Gründen:28 Von 1669 bis 1675 beschäftigten die Proprietors der Kolonie Carolina, unter ihnen Anthony Ashley Cooper, der spätere erste Earl of Shaftesbury und langjährige Gönner Lockes, diesen als ihren Sekretär.29 In die Anfangsphase seiner Anstellung fällt der Entwurf der Fundamental Constitutions of Carolina, 24 Winthrop, Reasons to Be considered for Justifying the Undertakers of the Intended Plantation in New England [1629], S. 71: „That which lies common and had never been replenished or subdue is free to any that will possess and improve it, for God hath given to the sons of men a double right to the earth: there is a natural right and a civil right; the first right was natural when men held the earth in common, every man sowing and feeding where he pleased, and then as and the cattle increased, they appropriated certain parcels of ground by enclosing and pecular manrance, and this in time gave them a civil right […].“ 25 Ebd. 26 Den kolonialen Kontext der Locke’schen Eigentumstheorie heben hervor: James Tully, Rediscovering America: the Two treatises and aboriginal rights, in: ders., An approach to political philosophy: Locke in contexts, Cambridge 1993, S. 137 – 176; ders., Aboriginal Property and Western Theory: Recovering a Middle Ground, in: Social Philosophy and Policy XI (1994), S. 153 – 180; Anthony Pagden, The Struggle for Legitimacy and the Image of Empire in the Atlantic to c.1700, in: Nicholas Canny (Hg.), The origins of Empire: British overseas enterprise to the close of the seventeenth century (The Oxford history of the British Empire, Bd. 1), Oxford 1998, S. 34 – 54; Barbara Arneil, John Locke and America: The Defence of English Colonialism, Oxford 1996, S. 132 – 167; David Armitage, The Ideological Origins of the British Empire, Cambridge 2000, S. 96 – 99; ders., John Locke, Carolina, and the Two Treatises of Government, in: Political Theory, Heft 32, 2004, S. 602 – 627; Herman Lebovics, The uses of America in Locke’s Second Treatise of government, in: Journal of the history of ideas, Heft 47, 1986, S. 567 – 581; Duncan Ivison, Locke, Liberalism and Empire, in: The Philosophy of John Locke: New Perspectives, hg. v. Peter R. Anstey, London 2003, S. 86 – 105; kritisch: Stephen Buckle, Tully, Locke and America, in: British Journal for the History of Philosophy, Heft 9, 2001, S. 245 – 281. 27 Dazu Damler, Wildes Recht, S. 40. 28 Eingehend Armitage, John Locke, Carolina, and the Two Treatises of Government, S. 602 – 627. 29 Zur Geschichte von North und South Carolina der Überblick bei Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, Münster 22004, S. 496 – 511.

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die unter anderem das Verbot enthielten, Land von den natives durch Kauf oder in anderer Weise zu erwerben.30 Von Oktober 1673 bis Dezember 1674 übte Locke zudem das Amt eines Sekretärs des English Council for Trade and Foreign Plantations aus. Von 1696 bis 1700 agierte er als Sekretär der Nachfolgeorganisation, des Board of Trade. Kaum ein anderer politischer Denker seit Grotius dürfte also intensiver mit kolonialen Angelegenheiten befasst gewesen sein als John Locke.31 Ob er allein deshalb das Prädikat ,Theorist of Empire‘ verdient, sei dahin gestellt.32 Dahin gestellt sei auch, ob die Okkupation in der kolonialen Wirklichkeit tatsächlich das Mittel der Wahl war, um Land zu erwerben, wenn man die Möglichkeit hatte, von der indigenen Bevölkerung Grund und Boden zu lächerlichen Preisen zu erstehen und durch eine solche ,Enteignung im Konsens‘ gewalttätigen (und kostspieligen) Konflikten aus dem Weg zu gehen.33 Entscheidend ist, dass Locke den ,eigentumsrechtlichen Naturzustand‘ – die materiellen Lebensbedingungen der menschlichen Urgesellschaft – nach dem Modell nordamerikanischer Lebensraumerfahrungen entwarf: „So war anfangs, und zwar weitaus mehr als es heute der Fall ist, die ganze Welt ein Amerika.“34 Die weite Wildnis der Erde von damals (the then vast Wilderness of the Earth) existiere fort in der unkultivierten Einöde Amerikas (the wild woods and uncultivated wast of America left to Nature, without any improvement, tillage or husbandry).35 Das 5. Kapitel des Second Treatise of Government enthält zahlreiche solcher Anspielungen und Verweise auf die Verhältnisse in Übersee. So fanden in Europa en passant ,amerikanische‘ Begriffe wie wilderness, vastness und plenty Eingang in das Vokabular der politischen Philosophie.

30 The Fundamental Constitutions of Carolina [1669], in: John Locke, Political Essays, hg. v. Mark Goldie, Cambridge 1997, S. 181: „No person whatsoever shall hold or claim any land in Carolina by purchase or gift or otherwise, from the natives or any person whatsoever, but merely from and under the lords proprietors, upon pain of for seiture of all his estate, moveable or unmoveable, and perpetual banishment.“ 31 Bereist hat Locke die Gebiete in Übersee allerdings nie. 32 Dazu David Armitage, John Locke: Theorist of Empire?, in: Empire and Modern Political Thought, hg. v. Sankar Muthu, Cambridge 2012, S. 84 – 111. 33 Dass es Praxis war, Land käuflich zu erwerben, anstatt es einfach in Besitz zu nehmen, bestätigte – für Neuengland – ein Zeitgenosse Lockes, Robert Morden, in seiner „Geography Rectified” von 1693. Die neuere Forschung neigt dazu, derartigen Berichten Glauben zu schenken: Stuart Banner, How the Indians lost their land. Law and Power on the Frontier, Cambridge (MA)/London 2005, S. 10 – 48 (mit umfangreichen Nachweisen). 34 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 5. Kap., § 49 (S. 232). 35 Locke, Two Treatises of Government, Chap. V, § 36 (S. 293), § 37 (S. 294).

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II. Locke in the books: Die Kontroversen um den Homestead Act (1862) Für die enorme Popularität John Lockes in Nordamerika bis 1900 gibt es verschiedene Gründe, schon allein deshalb, weil ja nicht nur eine bestimmte Theorie, sondern die ganze Bandbreite seiner Theologie und Philosophie rezipiert wurde.36 Aber natürlich hat die nachdrückliche Erwähnung der American wilderness im Kapitel „Of Property“ es den Amerikanern besonders leicht gemacht, Lockes Eigentumslehre als eine auf ihre Bedürfnisse – auf die Bedürfnisse der Neuen Welt – zugeschnittene Doktrin zu deuten und zu verehren – als einen Gegenentwurf zu den auf Übereinkünften, gesellschaftlichen Konzessionen und Rücksichtnahmen fixierten Theorien des Mein und Dein, wie man sie aus dem ,feudalen‘ Europa kannte. Zu keiner anderen Gelegenheit trat die Treue zu ,America’s Philosopher‘ so deutlich zu Tage wie im Rahmen der politischen Auseinandersetzung um die Verteilung – die ,Rückgabe‘ – von Staatsland an die Bevölkerung am Vorabend des Amerikanischen Bürgerkrieges. 1. Traditionen der Landnahme und -verteilung seit 1776 Als sich die amerikanischen Kolonien 1776 vom englischen Mutterland lossagten, stand die Besiedelung des Landes westlich der Appalachen noch nicht ganz oben auf der politischen Agenda. Man hatte schließlich alle Hände voll damit zu tun, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Siedlungsgemeinschaften entlang der Ostküste zu einem Staat zu vereinigen und das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität zu fördern. Doch als sich der Erfolg der Konsolidierung abzeichnete, begann sich Washington mehr und mehr für die Verhältnisse im Westen zu interessieren. Ein Meilenstein auf dem Weg zur Kontinentalmacht war der ,Louisiana Purchase‘ von 1803, der mit einem Schlag das Territorium der USA verdoppelte – und zugleich Napoleons Kriegskasse füllte. 500 Millionen acres Land – ein acre entspricht etwa 4.047 m2 – wurden damals übertragen. In den folgenden Jahrzehnten gab es viele weitere solcher Erwerbungen, wenn auch etwas weniger umfangreiche. Um 1850 hatten die Vereinigten Staaten 1,2 Milliarden acres Grund und Boden in ihrem Portfolio.37 Nicht erst 1850, sondern schon lange vorher hatte man angefangen darüber nachzudenken (und sich darüber zu streiten), was nun eigentlich mit diesem ,Schatz‘, diesen gewaltigen terrestrischen Ressourcen, zu geschehen habe. Relativ schnell stand fest, dass ein Großteil des erworbenen Landes nicht ,öffentlich‘ bleiben, sondern in private Hände gelangen sollte. Doch auf welche Weise konnte und sollte sich der Eigentümerwechsel vollziehen? Darüber gingen schon die Meinungen in der Genera36 Eingehend Merle Curti, The Great Mr. Locke. America’s Pilosopher, 1783 – 1861, in: The Huntington Library Bulletin, Heft 11, 1937, S. 107 – 151. 37 Dennis W. Johnson, The Laws That Shaped America. Fifteen Acts of Congress and their Lasting Impact, New York 2009, S. 77. Grundlegend zur Verwaltung des amerikanischen Staatslandes Paul W. Gates, History of Public Land Law Development, Washington 1968.

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tion der Gründungsväter auseinander. Von Thomas Jefferson ist bekannt, dass er die yeoman farmer, die freien Kleinbauern und Landbesitzer, als Stabilitätsgaranten der amerikanischen Demokratie ansah und daher die Zuteilung kleiner Parzellen an eine große Zahl Bedürftiger befürwortete. Seinem Mitstreiter Alexander Hamilton kam es dagegen vornehmlich darauf an, möglichst schnell möglichst viel Geld der Staatskasse zuzuführen. Da die potentiellen yeoman farmer überwiegend nicht liquide waren, bevorzugte er den Verkauf großer Flächen an kapitalstarke Kaufleute und Unternehmer.38 Die wichtigsten Public Land Laws der ersten Jahrzehnte lassen sich – cum grano salis – dem ,System Hamilton‘ zurechnen.39 Die Verordnung von 1785 gestattete die Veräußerung von Flächen in der Größenordnung von 640 acres (oder mehr) zu einem Preis von mindestens $ 1 pro acre – zahlbar in bar. 1796 wurde das Mindestgebot auf $ 2 erhöht, im Gegenzug räumte man dem Käufer das Recht ein, sich mit der Zahlung der zweiten Tranche ein Jahr Zeit zu lassen. Vier Jahre später lag die zu erwerbende Minimalgröße bei 320 acres, noch einmal vier Jahre später bei 160 acres. Auch die Kreditkonditionen verbesserten sich (aus Sicht der Käufer). Angesichts gravierender Zahlungsausfälle wurde die Landvergabe auf Kredit 1820 jedoch wieder aufgegeben, dafür betrug die Minimalgröße jetzt nur noch 80 acres und das Mindestgebot $ 1,25. Ein Systemwechsel kündigte sich mit der Preemption-Gesetzgebung an. Die squatters – Siedler, die sich im Westen lange vor Ankunft der staatlichen Landvermesser niedergelassen hatten – sollten nicht länger um Haus und Hof bangen müssen, sondern die Möglichkeit erhalten, zu günstigen Konditionen das über die Jahre kultivierte Land als Eigentum zu erwerben. Der Preemption Act von 1841 räumte jedem squatter ein Vorkaufsrecht für maximal 160 acres ein. Der Graduation Act von 1854 erlaubte es den Behörden zudem, das Mindestgebot zu unterschreiten, wenn sich Land über einen längeren Zeitraum als unverkäuflich erwiesen hatte.40 In den 1840er Jahren wurde der Ruf nach einer unentgeltlichen Verteilung von Staatsland an Bedürftige immer lauter. 1848 spaltete sich die ,Free Soil Party‘ von den Demokraten ab. Der Parteiname war Programm. Alle Bürger sollten von dem Landreichtum des amerikanischen Staates profitieren und in den Genuss des freien Landlebens kommen. Auch wenn die ,Free Soil Party‘ nicht lange Bestand hatte: Ihr Anliegen lebte fort und fand insbesondere unter den Republikanern viel Zuspruch. Es verging von nun an keine Legislaturperiode, in der der Kongress nicht über das Vorhaben verhandelte, öffentlichen Grund und Boden ohne Gegenleistung zur Besiedelung frei zu geben.41 38 John Opie, The Law of the Land. Two Hundred Years of American Farmland Policy, Lincoln/London 1987, S. 32. 39 Zum Folgenden Douglass C. North/Terry L. Anderson/Peter J. Hill, Growth and Welfare in the American Past. A New Economic History, Englewood Cliffs 31983, S. 114 f. 40 North/Anderson/Hill, Growth and Welfare in the American Past, S. 113 f. 41 Heather C. Richardson, Greatest Nation on Earth. Republican Economic Policies During the Civil War, Cambridge (MA) 1997, S. 140 f.

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Die leidenschaftlichsten Befürworter des homesteading als genuin amerikanische Lebensform waren Andrew Johnson, Demokrat aus Tennessee und nach der Ermordung Lincolns 17. Präsident der Vereinigten Staaten, Horace Greeley, streitbarer Herausgeber der New York Tribune, sowie Galusha Grow, ein junger Demokrat aus Pennsylvania. Johnson, Greeley und Grow sorgten dafür, dass das Thema auf der Tagesordnung blieb und brachten zahlreiche Gesetzesvorschläge ein, die jedoch nie Gesetzeskraft erlangten.42 Der Widerstand – insbesondere von Seiten der Südstaaten und ihrer Vertreter – war in den 1850er Jahren noch zu stark. Irgendeine Fraktion oder Institution gab es immer, die sich quer stellte. Symptomatisch war das Schicksal einer Homestead-Eingabe Johnsons im 32. Kongress. Zwar fand der Antrag des Demokraten im Frühjahr 1852 eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, doch hatte ein Drittel der Abgeordneten gar nicht abgestimmt. Der Senat legte ebenfalls wenig Enthusiasmus an den Tag und verzögerte den Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens. Als das Gesetz schließlich im Februar 1853 zur Abstimmung stand, votierte die Mehrheit der Senatoren gegen die Johnson-Vorlage.43 Auf lange Sicht jedoch zahlte sich die Hartnäckigkeit der Befürworter aus. 1860 passierte der Entwurf einer Homestead Bill mit einiger Mühe und zahlreichen Änderungen, aber dann doch mit deutlichen Mehrheiten beide Häuser des Kongresses. Diesmal hatte allerdings der Präsident – James Buchanan – Einwände und legte sein Veto ein, das zu überstimmen nicht gelang.44 Johnson und Grow waren außer sich, Greeley indes erkannte, dass die Ablehnung der Bill sich vorzüglich als Wahlkampfthema eignete und die dem homesteading zugeneigte republikanische Basis zu mobilisieren vermochte.45 Tatsächlich verfügten die Republikaner im nächsten Kongress über eine breite Mehrheit in beiden Häusern und stellten mit Abraham Lincoln auch den Präsidenten. Jetzt lief alles nach Plan. Im Februar 1862 setzte man die Homestead Bill erneut auf die Tagesordnung. Grow, inzwischen Sprecher des Repräsentantenhauses, war wild entschlossen, die Sache nun ein für allemal zu regeln, stieg von seiner Sprecherkanzel hinab und trat ans Rednerpult, um für das Gesetz zu werben.46 Der theatralische Akt und die flammende Rede verfehlten ihre Wirkung nicht. Eine überwältigende Mehrheit der Abgeordneten (107 zu 16 Stimmen) stellte sich hinter das Projekt.47 Auch der Senat erteilte seine Zustimmung.48 Abraham Lincoln 42

Johnson, The Laws That Shaped America, S. 79 – 82. Ebd., S. 80. 44 James M. McPherson, Für die Freiheit sterben. Die Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges, Köln 2008, S. 183; Lawrence M. Friedman, A History of American Law, New York 1974, S. 362 f. 45 Johnson, The Laws That Shaped America, S. 83. Zur (Präsidentschafts-)Kampagne von 1860 ausführlich Elting Morison, Election of 1860, in: Arthur M. Schlesinger jr. (Hg.), History of American Presidential Elections 1789 – 1968, Bd. 2, New York 1971, S. 1097 – 1154. 46 The Congressional Globe, 21. Februar 1862, S. 909. 47 The Congressional Globe, 28. Februar 1862, S. 1035. 48 The Congressional Globe, 6. Mai 1862, S. 1951. 43

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unterzeichnete den Homestead Act („An Act to secure Homesteads to actual Settlers on the Public Domain“) am 20. Mai 1862. Dass am Ende alles so schnell und reibungslos vonstatten ging, hing nicht zuletzt mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg zusammen, der die politische Landschaft der USA nachhaltig veränderte. Die entschiedendsten Gegner der Homestead-Gesetzgebung, die Abgeordneten aus den Südstaaten, verfolgten ihre Ziele außerhalb des Parlaments und blieben der Abstimmung fern, was die legislativen Abläufe wesentlich beschleunigte.49 Die Intensität der vorangegangenen politischen Kontroversen spiegelt sich im Text des Homestead Act nicht wider. Der Regelungsgehalt ist vergleichsweise schlicht, wenngleich nicht ganz so schlicht, wie gelegentlich suggeriert wird. Der erste Paragraph definiert Anspruch und Anspruchsberechtigte: Jede Person, die einem Haushalt vorsteht oder älter als einundzwanzig Jahre ist, die Staatsbürgerschaft der USA vorweisen kann und niemals gegen den Staat mit Waffengewalt rebelliert hat, soll vom 1. Januar 1863 an berechtigt sein, sich ungenutztes öffentliches Land im Umfang von maximal 160 acres anzueignen.50 Der zweite Paragraph regelte das administrative Verfahren. Nach der vorläufigen Inbesitznahme des Grund und Bodens meldete der homesteader seine Ansprüche beim nächst gelegenen land office an und gab die Versicherung ab, die persönlichen Voraussetzungen zu erfüllen und das Land zum Eigengebrauch (also nicht zum Nutzen anderer) zu begehren. Nach Zahlung einer Verwaltungsgebühr von $ 10 war der Antragsteller berechtigt, das Grundstück zu bebauen und landwirtschaftlich zu nutzen.51 Einen endgültigen Rechtstitel erwarb der homesteader indes erst nach fünf Jahren und nur dann, wenn er mit Hilfe von zwei glaubwürdigen Zeugen die ununterbrochene Besiedelung oder Kultivierung des Landes nachweisen konnte.52 Die dritte wesentliche und praktisch wichtige Regelung enthält der letzte, der achte Paragraph. Danach bleibt es dem 49 Vgl. Richardson, Greatest Nation on Earth, S. 144; Johnson, The Laws That Shaped America, S. 89 f. 50 Statutes at Large, Thirty-Seventh Congress, Sess. II, Chap. 75 (S. 392): „That any person who is the head of a family, or who has arrived at the age of twenty-one years, and is a citizen of the United States, or who shall have filed his declaration of intention to become such, as required by the naturalization laws of the United States, and who has never borne arms against the United States Government or given aid and comfort to its enemies, shall, from and after the first January, eighteen hundred and sixty-three, be entitled to enter one quarter section or a less quantity of unappropriated public lands […]“. 51 Ebd.: „[…] and that such application is made for his or her exclusive use and benefit, and that said entry is made for the purpose of actual settlement and cultivation, and not either directly or indirectly for the use or benefit of any other person or persons whomsoever; and upon filing the said affidavit with the register or receiver, and on payment of ten dollars, he or she shall thereupon be permitted to enter the quantity of land specified […].“ 52 Ebd.: „[…] shall prove by two credible witnesses that he, she, or they have resided upon or cultivated the same for the term of five years immediately succeeding the time of filing the affidavit aforesaid, and shall make affidavit that no part of said land has been alienated, and that he has borne rue allegiance to the Government of the United States; then, in such case, he, she, or they, if at that time a citizen of the United States, shall be entitled to a patent, as in other cases provided for by law […].“

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homesteader unbenommen, schon vor Ablauf der fünf Jahre das Eigentum endgültig zu erwerben, wenn er bereit ist, den Kaufpreis (minimum price) zu entrichten.53 Obwohl der Homestead Act nicht das letzte Gesetz dieser Art war – es folgte beispielsweise 1877 der Desert Land Act, der zur Besiedelung besonders unfruchtbarer Regionen animieren sollte54 –, so bedeutete das Jahr 1862 dennoch eine wichtige Zäsur in der Geschichte der amerikanischen public land policy. Die politischen, philosophischen und ökonomischen Annahmen, auf denen der Homestead Act basierte, blieben für die nächsten Jahrzehnte verbindlich.55 2. „The honest poor man desires no charity!“ Die Veto Message Buchanans vom 22. Juni 1860 ist gewiss kein stilistisches Meisterwerk und erst recht kein Dokument politischer Klugheit, einigen gilt sie sogar als der am schlechtesten begründete präsidiale Einspruch aller Zeiten.56 Immerhin hat Buchanans Mitteilung den Vorzug, dass sie alle wesentlichen Argumente, derer sich die Gegner der Homestead-Gesetzgebung bedienten, enthält. Auf die Weise erleichterte der Präsident nicht zuletzt den Befürwortern das Geschäft, die sich im Wahlkampf darauf beschränken konnten, den prominenten Text kritisch zu kommentieren und die Argumente Punkt für Punkt zu widerlegen. Der erste Einwand Buchanans war verfassungsrechtlicher Natur.57 Der Präsident sprach dem Kongress die Kompetenz ab, im großen Stil öffentlichen Grund und Boden zu verschenken oder zu Schleuderpreisen zu verkaufen. Wenn es dem Kongress verboten sei, Staaten oder Individuen ohne Gegenleistung mit Steuergeldern zu beglücken,58 müsse es ihm ebenso verboten sein, das Immobiliarvermögen des Staa53

Ebd., S. 393: „[…] That nothing in this act shall be so construed as to prevent any person who has availed him or herself of the benefits of the first section of this act, from paying the minimum price, or the price to which the same may have graduated, for the quantity of land so entered at any time before the expiration of the five years […]“. 54 Vgl. die Übersicht bei North/Anderson/Hill, Growth and Welfare in the American Past, S. 114 f. 55 Die ökonomische und politische Bilanz der Homestead-Bewegung ist bis heute umstritten; es überwiegen allerdings die kritischen Stimmen vgl. Terry L. Anderson/Peter J. Hill, The not so wild, wild West. Property rights on the frontier, Stanford 2009, S. 168 – 176; dies., The Race for Property Rights, in: Journal of Law & Economics, Heft 33, 1990, S. 177 – 197; Douglas W. Allen, Homesteading and Property Rights, or „How the West was really won“, in: Journal of Law & Economics, Heft 34, 1991, S. 1 – 23; Richard L. Stroup, Buying misery with federal lands, in: Public Choice, Heft 57, 1988, S. 69 – 77. 56 Paul W. Gates, Fifty Million Acres, Ithaca 1953, S. 89: „[…] perhaps the most irrational, ill-conceived and amazingly inaccurate message that has ever emanated from an American President“. 57 Eingehend zu den verfassungsrechtlichen Implikationen David P. Currie, The Constitution in Progress: The Public Land 1829 – 1861, in: The University of Chicago Law Review, Heft 70, 2003, S. 783 – 820. 58 James Buchanan, Veto Message vom 22. Juni 1860, in: James D. Richardson (Hg.), A Compilation of the Messages of the Presidents 1789 – 1897, Bd. 5, Teil 4: James Buchanan,

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tes zu verjubeln. Es mache in der Sache keinen Unterschied, ob man Steuergelder direkt zum Fenster hinauswerfe oder mit Steuergeldern erworbenes Land – man denke an den Louisiana Purchase – unter Wert an den Mann bringe.59 Die Gegenseite berufe sich zu Unrecht auf Art. 4 Abschnitt 3 der Verfassung, denn diese Norm erlaube es dem Kongress lediglich, über Staatseigentum „zu verfügen“. Die Wendung dispose of bedeute eben gerade nicht ,verschenken‘. Der Kongress verwalte den öffentlichen Grund und Boden als Treuhänder – und kein Treuhänder sei befugt, das ihm anvertraute Gut ohne ein Äquivalent aus der Hand zu geben. Chief Justice Taney gebrauche folglich dispose of in der Bedeutung ,verkaufen‘, ,zu Geld machen‘. Eine unentgeltliche Verteilung von Land unter der Bevölkerung gestatte die Verfassung demnach nicht.60 Anschließend lenkte Buchanan die Aufmerksamkeit auf alle diejenigen, die von den Wohltaten des Homestead Act voraussichtlich nicht profitieren. So werde man es den alten Siedlerfamilien, denen niemals jemand etwas geschenkt habe, nur schwer oder gar nicht vermitteln können, dass künftig alles Land im Westen umsonst oder fast umsonst zu haben sei. Ausgerechnet jene Generation, die im Schweiße ihres Angesichts einst die Wildnis kultiviert, Straßen und Schulen gebaut habe, werde nun nachträglich ihrer Früchte beraubt und verhöhnt.61 Das war ein besonders populärer, auch später noch in den Parlamentsdebatten häufig zu vernehmender Einwand gegen die Homestead Bill. Er wolle nicht engherzig erscheinen, gab beispielsweise der Abgeordnete Wickliffe 1862 zu Protokoll, „but let me say that my ancestors, who were among the pioneers of Kentucky, got no homesteads given them by the Government. They won them and had to protect them from the savage by their rifles, after peace Washington 1897, S. 608 – 614, hier S. 609: „[…] that Congress does not possess the power to make donations of money already in the Treasury, raised by taxes on the people, either to States or individuals.“ 59 Ebd., S. 610: „The question is still clearer in regard to the public lands in the States and Territories within the Louisiana and Florida purchases. These lands were paid for out of the public Treasury from money raised by taxation. Now if Congress had no power to appropriate the money with which these lands were purchased, is it not clear that the power over the lands is equally limited?“ 60 Ebd.: „But I can not so read the words ,dispose of‘ as to make them embrace the idea of ,giving away‘. The true meaning of words is always to be ascertained by the subject to which they are applied and the known general intent of the lawgiver. Congress is a trustee under the Constitution for the people of the United States to ,dispose of‘ their public lands, and I think I may venture to assert with confidence that no case can be found in which a trustee in the position of Congress has been authorized to ,dispose of‘ property by its owner where it has been held that these words authorized such trustee to give away the fund intrusted to his care. No trustee, when called upon to account for the disposition of the property placed under his management before any judicial tribunal, would venture to present such a plea in his defense. The true meaning of these words is clearly stated by Chief Justice Taney in delivering the opinion of the court (19 Howard, p. 436). He says in reference to this clause of the Constitution: ,It begins its enumeration of powers by that of disposing; in other words, making sale of the lands or raising money from them, which, as we have already said, was the main object of the cession (from the States), and which is the first thing provided for in the article‘.“ 61 Ebd., S. 611.

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had concluded with the British Government in 1783. You have not given homesteads to the pioneers in the old free States.“62 Auch den Veteranen geschehe Unrecht, ergänzte Buchanan, jenen Soldaten, denen man in Anerkennung ihrer Tapferkeit und treuen Dienste land warrants zugeteilt habe, denn diese warrants seien, wenn der Homestead Act in Kraft treten sollte, nicht mehr viel wert.63 Zudem sei nicht recht einsichtig, warum eine bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppe bevorzugt werde, warum nur der Landwirt, nicht aber der Arbeiter und Handwerker, der in gleichem Maß den Wohlstand der Nation mehre, von der Regierung eine Gratifikation erhalte.64 Ferner stehe zu befürchten, dass sich das großzügige Angebot in der Welt herumsprechen werde.65 Dann sei man gezwungen, unerwünschten Einwanderern – namentlich von der anderen Seite des Pazifiks – amerikanisches Staatseigentum zu übertragen.66 Zuletzt warf Buchanan noch ein Argument in die Waagschale, von dem er annehmen durfte, dass es die Befürworter der Homestead Bill in Rage versetzen werde. Der „ehrliche, arme Mann“, gab der Präsident zu Bedenken, erstrebe keine Almosen – weder vom Nachbarn noch von der Regierung („He desires no charity, either from the Government or from his neighbors“).67 Er könne sehr gut aus eigener Kraft für sich und seine Familie sorgen und sei stolz auf seine Unabhängigkeit. Wer den honest poor man zum Bittsteller dergradiere, zerstöre den „noblen Geist der Unabhängigkeit“ und mache jene verderblichen Gesellschaftstheorien hoffähig, die schon anderen Ländern zum Verhängnis geworden seien.68 62 The Congressional Globe, 19. Februar 1862, S. 890 (Mr. Wickliffe): „The first settlers of a new country are a most meritorious class. They brave the dangers of savage warfare, suffer the privations of a frontier life, and with the hand of toil bring the wilderness into cultivation. The ,old settlers‘, as they are everywhere called, are public benefactors. This class have all paid for their lands the Government price, or $ 1.25 per acre. They have constructed roads, established schools, and laid the foundation of prosperous commonwealths.“ 63 Buchanan, Veto Message vom 22. Juni 1860, S. 611: „This bill will do great injustice to the old soldiers who have received land warrants for their services in fighting the battles of their country. It will greatly reduce the market value of these warrants.“ 64 Ebd., S. 611: „This bill will prove unequal and unjust in its operation, because from its nature it is confined to one class of our people. It is a boon exclusively conferred upon the cultivators of the soil. Whilst it is cheerfully admitted that these are the most numerous and useful class of our fellow-citizens and eminently deserve all the advantages which our laws have already extended to them, yet there should be no new legislation which would operate to the injury or embarrassment of the large body of respectable artisans and laborers.“ 65 Zu den tatsächlichen Auswirkungen des Homestead Act auf die europäische Emigration vgl. Folke Dovring, European Reactions to the Homestead Act, in: The Journal of Economic History, Heft 22, 1962, S. 461 – 472. 66 Buchanan, Veto Message vom 22. Juni 1860, S. 612 f.: „The invitation extends to all, and if this bill becomes a law we may have numerous actual settlers from China and other Eastern nations enjoying its benefits on the great Pacific Slope.“ 67 Ebd., S. 614. 68 Ebd.: „This bill […] may introduce among us those pernicious social theories which have proved so disastrous in other countries.“

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3. „Free homes for Freemen!“ Die Argumente, die Präsident Buchanan und seine Mitstreiter gegen die Homstead Bill ins Feld führten, wiesen einen gemeinsamen Nenner auf: Sie basierten auf der Annahme, dass das brach liegende Land im Westen als solches einen Wert habe. Gelang es, diese Annahme in Zweifel zu ziehen und zu widerlegen, war aus Sicht der Befürworter viel gewonnen. Die verfassungsrechtlichen, fiskalischen und psychologischen Einwände waren dann mit einem Schlag erledigt. Mit der Locke’schen Eigentumstheorie stand ein Denkmodell zur Verfügung, das wie dazu geschaffen schien, den Gegnern des Homestead Act den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die „great free-labor theory of the country“, wie ein Abgeordneter sie nannte (ohne Locke zu erwähnen),69 besagt nichts anderes, als dass erst die menschliche Arbeit der Materie etwas hinzufügt, das dazu berechtigt, von einem ,Vermögensgut‘ oder ,Wertgegenstand‘ zu sprechen, welches sich einer bestimmten natürlichen oder juristischen Person zuordnen lässt. Bislang, wetterte Grow in einer viel beachteten Rede, habe die Regierung Geld damit verdient, dass sie Gottes Schöpfung auf dem Markt feilbiete. Doch mit welchem Recht eigentlich, wenn sie selbst keinen Finger krumm gemacht, keine Arbeit und Mühen investiert habe?70 Genauso gut könnte der Staat verlangen, dass der Bürger ihm die Luft zum Atmen oder das Sonnenlicht abkaufe.71 Ähnlich argumentierte der Abgeordnete Lovejoy. Die Erde sei offenkundig zu dem Zweck erschaffen, sie zu bearbeiten, zu kultivieren, „zu verbessern“, nicht aber dazu, Adeligen oder Großkapitalisten Annehmlichkeiten zu bereiten.72 Erst durch den Akt der Bodennutzung „verdiene“ der Mensch sein Recht am Land.73 69

The Congressional Globe, 28. Februar 1862, S. 890 (Mr. Windom). Galusha A. Grow, Free Homes for Freemen. Speech of Hon. G. A. Grow of Pennsylvania in the House of Representatives, February 29, 1860, o.O., o. J., S. 3: „This government, by existing land policy has thus caused to be abstracted from the earnings of its hardy pioneers almost seventeen hundred million dollars for the mere privilege of enjoying one of God’s bounties to man. This large amount has been abstracted from the sons of toil without rendering any equivalent, save a permit from the State to occupy a wilderness, to which not a day or hour of man’s labor had been applied to change it from the condition in which the God of nature made it. Why should Governments seize upon any of the bounties of God to man, and make them a sources of revenue?“ 71 Ebd.: „Why should governments wrest from him the right to apply to his labor to such unoccupied portion of the earth’s surface as may be necessary for his support until he has contributed to the revenues of the State, any more than to permit him to breathe the air, enjoy the sunlight, or quaff from the rills and rivers of the earth?“ 72 Appendix to the Congressional Globe, 26. März 1860, S. 175 (Mr. Lovejoy): „The earth was evidently designed for culture, that by the sweat of the face bread might be supplied for the sustenance of physical life. Earth, air, and water, were by the ancients regard as being equally essential to human life. The earth, therefore, should not be monopolized and withheld from culture, either for the pleasure of lords or the profit of capitalists.“ 73 Ebd.: „Let the public domain, then, be carved up into homesteads, and subdued and cultivated by any one who chooses to become its possessors and cultivator. He earns it by this very process.“ 70

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Wenn man von einigen Besonderheiten absieht, trugen die Anhänger der Homestead Bill genau die gleichen Argumente vor, die zu Beginn der Kolonisation Nordamerikas englische Diplomaten und Siedler gebrauchten, als sie sich gegen die Ansprüche der spanischen Krone und der indigenen Bevölkerung zu Wehr setzten. Diesmal freilich stand die eigene Regierung am Pranger. Die Erde, bemerkte Horace Greeley, sei groß genug, um jedem Erdenbürger, jeder Familie ein Auskommen zu sichern, selbst wenn die lebensfeindlichen Weltgegenden unbewohnt blieben.74 Wer glaube, er könne Land horten und sich große Flächen aneignen, die zu bewirtschaften er niemals im Stande sei, verkenne Wesen und Bestimmung der Schöpfung: „The earth, the air, the waters, the sunshine, with their natural products, were divinely intended and apointed for the use and sustenance of Man (Gen. i. 26, 28) – not for a part only, but for the whole Human Family.“75 Der Verweis auf den göttlichen Auftrag, nur so viel Grund und Boden in Besitz zu nehmen, wie man zur Ernährung der Seinen benötige, fehlt in nahezu keinem Plädoyer der Befürworter.76 Da nach der Gesetzesvorlage die homesteader genau das erhielten, was ihnen dem göttlichen Weltenplan zufolge zustehe, könne keine Rede davon sein, die Regierung verteile Geschenke oder gar Almosen an Bedürftige. Im gegenwärtigen Zustand sei das Land im Westen keinen Pfifferling wert. Der Staat müsse jedem dankbar sei, der es auf sich nehme, die verwahrlosten Landstriche, ,die Wildnis‘, in Ackerland zu verwandeln und für die Zivilisation zu erschließen.77 Es gehe darum, mahnte Greeley, allen Bürgern die gleichen Chancen zu eröffnen. Den Fleißigen um die Früchte seiner Arbeit bringen, das wolle niemand. Wer im Sommer auf der faulen Haut liege, könne im Winter nicht die gleichen Speisen und Kleider beanspruchen wie derjenige, der im Sommer eifrig seine Scheuer gefüllt habe. Alles andere laufe dem Apostel-Wort zuwider „Der, der nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“78 Das Gesetz des Bodens belohne den Fleißigen und bestrafe den Müßiggänger.79 74 Horace Greeley, Land Reform, in: ders., Hints towards reforms in lecturers and other writings, New York 1850, S. 311 – 317, hier S. 311: „The Earth’s surface undoubtedly contains good arable land enough to give every family in existence a farm of ample dimensions, even though all the unhealthful or inhospitale portions of the globe were left utterly uninhabited.“ 75 Horace Greeley, The Right to Labor, in: ders., Hints towards reforms in lecturers and other writings, New York 1850, S. 318 – 322, hier S. 318. 76 The Congressional Globe, 28. Februar 1862, S. 1035 (Mr. Potter): „[…] certainly no more equitable disposition of them can be made than to appropriate them to the purpose for which their Creator designed them – the assignment of a limited quantity to each head of a family for the purpose of cultivation and subsistence.“ 77 The Congressional Globe, 20. Mai 1858, S. 2265 (Mr. Johnson): „[The bill] does not proceed upon the idea, as some suppose, of making a donation or gift of the public land to the settler. It proceeds upon the principle of consideration, and, as I conceive, and I think many others do, the individual who emigrates to the West, and reclaims and reduces to cultivation one hundred and sixty acres of the public domain, subjecting himself to all the privations and hardships of such a life, pays the highest consideration for his land.“ 78 Greeley, Land Reform, S. 316 f. 79 Ebd., S. 317: „Not to transfer the toiler’s earnings to the idler, but to prevent such transfer, is the object of Land Reform.“

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Andere Abgeordneten rechneten ihren Kontrahenten en detail vor, was die bisherige Praxis dem Staat eingebracht habe und was er einnehmen werde, wenn das Land erst einmal an tausende oder hunderttausende ehrgeizige Siedler verteilt sei. Gerade einmal $ 200.000 habe der Staat im letzten Jahr (1861) mit Landverkäufen verdient, behauptete der Abgeordnete Windom, was sei das im Vergleich zu den $ 18.000.000, die man pro Jahr auf der Habenseite – „as the financial result of the improvement and cultivation of the 134.000.000 acres of land“ – verbuchen könne?80 Hinzu komme die nicht zu unterschätzende politische Dividende. Er wolle nicht schon wieder das Alte Rom und die Landreform der Gracchen als Beispiel anführen, wie das so häufig geschehe, bemerkte Johnson, aber richtig sei doch, dass der Aufstieg der (unproduktiven) Aristokratie und der Niedergang des freien Bauernstandes das Römische Reich zu Grunde gerichtet habe.81 Der Homestead Act begünstige das Entstehen einer Mittelschicht, die ein elementares Interesse am Wohlergehen und an der Stabilität des Staates habe.82 Notfalls mit der Waffe in der Hand werde der unabhängige Farmer Eigentum und Freiheit verteidigen und leidenschaftlicher als jeder Soldat kämpfen.83 Bei Durchsicht der Diskussionsbeiträge fällt auf, dass so gut wie kein Redner den Versuch unternahm, die realen Geschehnisse und Zustände im Wilden Westen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beschreiben und zu analysieren. Das Bild der frontier im Westen, das den Abgeordneten am Rednerpult in Washington vor Augen stand, unterschied sich nicht wesentlich von dem Bild des kolonialen Amerikas, das Locke – inspiriert von frühneuzeitlichen Reiseberichten – seiner Eigentumstheorie zu Grunde legte. Man glaubte sich der Menschheit im Naturzustand sehr nahe, sah einen ungeheuer ausgedehnten, verwunschenen, bedauerlicherweise auch etwas verkommenen Garten Eden vor sich, in dem wilde Menschen und Tiere ihr Unwesen trieben und einem das Leben schwer machten. Besonders Grow wurde nicht müde, die Wildheit der ,Wildnis‘ hervorzuheben – „the wildernis home, where the bones and sinews of men are struggeling with elements, with the unrelenting obstacles of nature“84 – und die sich dieser Wildnis annehmenden „Soldaten des Friedens“ in den höchsten Tönen zu preisen, „that grand army of the sons of toil, whose lives, 80 The Congressional Globe, 28. Februar 1862, S. 1034 (Mr. Windom). Vgl. auch Grow, Free Homes for Freemen, S. 2 f. 81 The Congressional Globe, 20. Mai 1858, S. 2268 (Mr. Johnson): „[…] as we find from Niebuhr’s History, the middle class of the community was all gone; it had left the country; there was nothing but an aristocracy on the one hand and depends upon thar aristocracy on the other; and when this got to be the case, the Roman Empire went down.“ 82 Ebd., S. 2267 (Mr. Johnson): „When a man has a home, he has a deeper, a more abiding interest in the country, and he is more reliable in all things that pertain to the Government.“ Vgl. auch The Congressional Globe vom 28. Februar 1862, S. 1031 (Mr. Holman). 83 So sah das auch Galusha Grow, Free Homes for Freemen, S. 7: „An independent yeomanry, scattered over our vast domain, is the best and surest guarantee for the perpetuity of our liberties; for their arms are the citadel of a nation’s power, their hearts the bulwarks of liberty.“ 84 Appendix to the Congressional Globe, 17. Februar 1854, S. 243 (Mr. Grow).

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from the cradle to the grave, are a constant warfare with the elements, with the unreleting obstacles of nature and the merciless barbarities of savage life“.85 Die Regierung müsse dem Pioniergeist dieser Menschen alle nur denkbaren Freiräume eröffnen, anstatt ihn in Ketten zu legen.86 Die Zivilisierung und Kultivierung des Wilden Westens war nach Meinung der Homestead-Fraktion eine beschwerliche, indes keine ungesunde oder unbehagliche Aufgabe. Das Landleben galt Grow, Johnson und anderen sogar schlechthin als der Jungbrunnen der inzwischen nicht mehr ganz so jungen amerikanischen Nation. Sie träumten von einem Land, „where children grow up amid rocks, woods, and waterfalls, and all the wild beauties of nature’s ever varying scenes, with the pure air of heaven to fan their locks and the music of birds mingling with their morning prayer and vesper hymn.“87 Den kleinen Hof des homesteaders beschrieb der Abgeordnete Lovejoy als eine beglückende Idylle, als das Zuhause eines Mannes, „who during the day cultivates the soil which he owns, and returns at evening to meet the ,wee ones‘ running out to greet their father, and to enter the white painted cottage to partake of the frugal evening meal with the mother and children.“88 Bei so viel heiler Welt blieb leider das Problembewusstsein auf der Strecke. Als der ehrenwerte Mr. Dent nachzufragen wagte, wie man eigentlich verhindern wolle, dass der Siedler nach Ablauf der fünf Jahre Grund und Boden an Immobilienspekulanten veräußere, erwiderte Grow erbost, darüber müsse sich niemand den Kopf zerbrechen, denn ein echter homesteader – „the man who has kept his quarter section five years, and has surrounded it with the comforts of the fireside, and has connected with it all the associations of home“89 – werde es so schnell nicht übers Herz bringen, dem trauten Heim den Rücken zu kehren. Und wenn es doch dazu kommen sollte, werde er Haus und Hof gewiss nur an einen Gleichgesinnten verkaufen, an einen ehrlichen Landmann, der das Pflügen und Säen zu schätzen wisse.90 Auch Johnson verschwendete kaum einen Gedanken auf mögliche Konflikte und Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Homestead Act. Sobald das Gesetz in Kraft getreten und das Land frei gegeben sei, werde sich alles wie von selbst regeln. „Freie Arbeit“ und „freies Land“: weiterer Zutaten bedürfe es nicht, um Frieden und Wohlstand zu sichern.91 85

The Congressional Globe, 21. Februar 1862, S. 910 (Mr. Grow). Appendix to the Congressional Globe, 17. Februar 1854, S. 244 (Mr. Grow): „While, then, the pioneer spirit goes forth into the wilderness, snatching new areas from the wild beast, and bequeathing them a legacy to civilized man, let not Government dampen his ardor and palsy his arm by legislation.“ 87 Ebd., S. 243 (Mr. Grow). 88 Appendix to the Congressional Globe, 26. März 1860, S. 175 (Mr. Lovejoy). 89 Appendix to the Congressional Globe, 17. Februar 1854, S. 243 (Mr. Grow). 90 Ebd. 91 The Congressional Globe, 20. Mai 1858, S. 2267 (Mr. Johnson): „Transfering man from the point where he is producing nothing, bring him in contact with a hundred and sixty acres of productive soil, and how long will it be before that man changes his conditions? As soon as he 86

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Wenn alles sich trefflich fügt, besteht natürlich auch keine Notwendigkeit, institutionelle Vorkehrungen zu treffen, die es ermöglichen, frühzeitig Konflikte zu entschärfen. Einen Anlass für Hader und Zwist zwischen den Siedlern oder zwischen ihnen und Dritten konnte Johnson beim besten Willen nicht erkennen. Es sei schließlich genug Land für alle da.92 Ausdrücklich wies Johnson die misanthropischen Annahmen der Madison-Anhänger zurück, die des Menschen Aufrichtigkeit in Zweifel zogen, die engherzig Neid und Gier und alle Dämonen der menschlichen Seele fürchteten. Nein, rief ihnen Johnson zu, „die große Masse der Bevölkerung, die große Mittelklasse, ist ehrlich.“93 Kein geringerer als der unvergleichliche „Mr. Jefferson“ habe immer wieder um Vertrauen in den Menschen und mündigen Bürger geworben. „Mr. Jefferson verkündet eine große Wahrheit: Man muss dem Menschen vertrauen; der Mensch kann seine eigenen Angelegenheiten regeln, und er hat ein Recht darauf, sie zu regeln.“94

III. Locke in action: Der Oklahoma Land Rush (1889) Mehr als ein Vierteljahrhundert verging, bis der Homestead Act und das ihn tragende philosophische Gerüst ernsthaft auf die Probe gestellt wurden. Der Oklahoma Land Rush von 1889 – ,President Harrison’s Horse Race‘ – war zwar nicht der erste Massensprint seiner Art, doch zweifellos einer der spektakulärsten in der Geschichte des Wilden Westens. Schon 1843 und 1845, also noch vor Erlass des Homestead Acts, hatten sich Siedler einen Wettlauf geliefert um die besten Stücke Land (,New Purchase District‘ und ,Des Moines Valley‘). Damals erfolgte die Freigabe des Grund und Bodens allen Ernstes um Mitternacht, ein Termin, der für erhebliche Konfusionen sorgte, weil die Teilnehmer bei völliger Dunkelheit durch die Prärie irrten.95 Zumindest diese Strapaze ersparte man den boomers von 1889, wie die Oklahoma-Siedler im Volksmund hießen. Konflikte und Missgeschicke gab es dennoch in Hülle und Fülle, ja sie waren so zahlreich, dass selbstkritische Zeitgenossen unumwunden von einer organisatorischen und gesellschaftlichen Tragödie sprachen. Die Gründe für die Malaise in Oklahoma sind vielfältig. Da die Landöffnungen der folgenden Jahre ähnliche Schwierigkeiten bereiteten, liegt die Vermutung nahe, dass dem gewählten Verfahren ein fundamentaler Denkfehler zu Grunde lag. gets upon the land, he commences to make his improvements, he clears out his field, and the work of production is commenced. In a short time he has a crop, he has stock and other things that result from bringing his physical labor in contact with the soil.“ 92 Ebd., S. 2273 (Mr. Johnson): „If some people go and take quarter sections, it does not interfere with the rights of others, for he who goes takes only a part of that which is his, and takes nothing that belongs to anybody else.“ 93 Ebd., S. 2268 (Mr. Johnson). 94 Ebd., S. 2270 (Mr. Johnson). 95 Donald E. Green, The Oklahoma Land Rush of 1889: A Centennial Re-Interpretation, in: The Chronicles of Oklahoma, Heft 67, 1989/90, S. 116 – 149, hier S. 118 f.

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1. Gesetzliche Grundlagen, Institutionen und Verfahren Das 1889 zur Besiedlung frei gegebene Areal begrenzte im Süden der South Canadian River, im Osten der Indian Meridian und das Pawnee-Reservat, im Norden das Cherokee Outlet und im Westen der Cimarron River und 98. Meridian.96 Das Gebiet gehörte zu den von der indigenen Bevölkerung 1866 (,Seminole Cession‘) und 1889 (,Creek Cession‘) erworbenen Landstrichen. Eine Eisenbahntrasse durchquerte das Territorium, unlängst (1886/87) erbaut von der Southern Kansas und der Gulf, Colorado and Santa Railway Company.97 Im Jahr 1889 ergingen drei Rechtsakte, die Ablauf und Verfahren der Freigabe regelten. Am 1. März ratifizierte der Kongress den Vertrag mit der ,Creek Nation‘ (Abschnitt 1) und statuierte bei der Gelegenheit (Abschnitt 2), dass der erworbene Grund und Boden Teil der public domain werde und nur in Übereinstimmung mit den Konditionen des Homestead Act „privatisiert“ werden dürfe.98 Einen Tag später, am 2. März, folgte der so genannte Indian Appropriation Act. Auch er sieht – mit Blick auf die ,Seminole Cession‘ – eine Verteilung des Landes nach den Grundsätzen der Homestead-Gesetzgebung vor. Darüber hinaus enthält das Gesetz Regelungen zu verschiedenen Einzelfragen. So werden die Rechte der Eisenbahngesellschaften kurz erwähnt, denen man „rights of way and depot ground“ garantiert – aber auch nicht mehr (Abschnitt 12). Einzelne Segmente sind für öffentliche Schulen reserviert und nicht okkupierbar. Der Secretary of the Interior wird ferner ermächtigt, Stadtgebiete auszuweisen. Der Präsident darf neue land districts schaffen und die dafür zuständigen land offices einrichten. Vor allem aber kommt ihm – und nur ihm – das Recht zu, den genauen der Termin für die Landöffnung festzulegen, „as soon thereafter as he may deem advisable“. Eine Klausel stellt klar, dass diese Regelungen und Garantien auch für das von den ,Creek Indians‘ erworbene Land gelten.99 Von seinem Recht, Datum und Uhrzeit der Freigabe zu bestimmen, machte Präsident Harrison am 22. März Gebrauch. Bereits einen Monat später – „at and after the hour of twelve o’clock, noon, of the twenty-second day of April“ – sollte nach seinem Willen, alles Land in den fixierten Grenzen potentiellen Siedlern zur Verfügung stehen.100

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Genaue geographische Angaben in Benjamin Harrison, Proclamation vom 23. März 1889, in: Statutes at Large, Proclamations Dezember 1889 – März 1891, S. 1545 f. 97 Berlin B. Chapman, The Legal Sooners of 1889 in Oklahoma, in: The Chronicles of Oklahoma, Heft 34, 1957, S. 382 – 415, hier S. 382. 98 Statutes at Large, Fiftieth Congress, Sess. II, Chap. 317 (S. 759): „The lands […] shall only be disposed of in accordance with the laws regulating homestead entries, and to the persons qualified to make such homestead entries, not exceeding one hundred and sixty acres to one qualified claimant.“ 99 Ebd., Chap. 412 (S. 1004 – 1006). 100 Harrison, Proclamation vom 23. März 1889, S. 1546.

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Besondere Erwähnung verdient die Bestimmung zum Umgang mit den Siedlern, die vor dem Zeitpunkt der Öffnung in das Territorium eindrangen und Land in Besitz nahmen. Bereits aus Anlass der Ratifikation des ,Creek Nation-Vertrages‘ am 1. März 1889 untersagte der Kongress ein solches Verhalten.101 Auch im ,Indian Appropriation Act‘ war zu lesen: „[…] until said lands are opened for settlement by proclamation of the President, no person shall be permitted to enter upon and occupy the same, and no person violating this provision shall ever been permitted to enter any of said lands or acquire any right thereto.“102 In dieser Fassung ist die Regelung als sooner clause in die amerikanische Geschichte eingegangen. In seiner Proklamation vom 22. März kleidete Präsident Harrison die Formel in eine ,Warnung‘, die seine Landsleute dazu anhalten sollte, sich keine unbilligen Vorteile zu verschaffen.103 Wie noch zu zeigen sein wird, war die sooner clause nur auf den ersten Blick eindeutig. Ein mit den Vorgängen in Oklahoma befasster Richter, Judge Layman Brown, bezeichnete die Vorschrift im Rückblick als die konfliktträchtigste Norm aller Zeiten und Länder.104 Immerhin war die sooner clause insoweit nicht völlig unbrauchbar, als sie eine Gruppe von Siedlern eindeutig de iure disqualifizierte: jene nämlich, die bei Nacht und Nebel am Vortag der offiziellen Landöffnung oder noch früher die Grenze des Oklahoma Districts ohne behördliche Erlaubnis überquert und sich sofort zu Eigentümern erklärt hatten. Aber selbst das nützte wenig, weil die staatlichen Institutionen nicht in der Lage waren, de facto die vorzeitige Okkupation zu unterbinden oder die moonshiners schnell zu überführen. Die Zeit zwischen der Erklärung des Präsidenten (22. März) und dem Termin der Landöffnung (22. April) betrug gerade einmal einen Monat und war offenkundig viel zu kurz bemessen, um funktionsfähige Verwaltungsbehörden in dem Territorium einzurichten. Präsident Harrison rechtfertigte die Eile später mit dem Bemühen, den Zuzug weiterer boomers zu verhindern. Das war an sich ein plausibles Anliegen, jedoch erwies sich in der Praxis die Frist einerseits als immer noch zu lang, um ehrgeizige Siedler von ihren Plänen abzubringen, andererseits als nicht lang genug, um die Behörden

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Statutes at Large, Fiftieth Congress, Sess. II, Chap. 317 (S. 759): „Any person who may enter upon any part of of said lands in said agreement mentioned prior to the time that the same are opened to settlement by act of Congress shall not be permitted to occupy or to make entry of such lands or lay any claim thereto.“ 102 Ebd., Chap. 412 (S. 1005). 103 Harrison, Proclamation vom 23. März 1889, S. 1546: „Warning is hereby again expressly given, that no person entering upon and occupying said lands before said hour of twelve o’clock, noon, […] will ever be permitted to enter any of said lands or acquire rights thereto; and that the officers of the United States will be required to strictly enforce the provision of the Act of Congress to the above effect.“ 104 James L. Brown, Early and Important Litigation, in: Sturm’s Oklahoma Magazine, Heft 8/2, April 1909, S. 26 – 30 – nach Chapman, The Legal Sooners of 1889 in Oklahoma, S. 384: „This was the one clause in the law that made more contention, I honestly believe, than any other statute that was ever written on earth.“

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angemessen auszustatten. Mit 5.000 Landsuchenden hatte Harrison gerechnet, 40.000 bis 50.000 wurden es.105 Symptomatisch für die chaotische Planung war Washingtons Unvermögen, passende Standorte für die beiden in Aussicht genommenen land offices zu bestimmen. Das eine Büro, soviel stand fest, sollte in der Nähe des Guthrie-Depot entstehen, das andere in der Umgebung der alten Kingfisher-Poststation entlang der militärischen Route zwischen Caldwell, Kansas und Fort Reno. John W. Noble, Harrisons Innenminister, berichtete einige Jahre später, wie er vergeblich versucht habe, in Washington jemanden ausfindig zu machen, der sich mit der Topografie der Gegend um Kingfisher auskannte. Da die Zeit drängte, blieb Noble nichts anderes übrig, als zu raten und auf Verdacht ein Stück Land auszuwählen. Die Verantwortlichen vor Ort staunten nicht schlecht, als sie feststellen mussten, dass die Regierung ihnen eine enge Schlucht als Behördensitz zugewiesen hatte.106 Gravierender waren die Defizite in der personellen und technischen Ausstattung der Ämter. Am Morgen des 22. April 1889 befand sich das Büro in Kingfisher in einem derart beklagenswerten Zustand, dass sich der Behördenleiter entschloss, es erst gar nicht für den Publikumsverkehr zu öffnen. In Guthrie blieb das land office zwar nicht geschlossen, doch arbeitsfähig war es deshalb noch lange nicht. Nur drei Siedlern – alle drei übrigens Freunde und Verwandte der Registerbeamten – gelang es, während der sechsstündigen Büroöffnungszeiten die erforderlichen Anträge einzureichen und sich registrieren zu lassen.107 Bei späteren Landöffnungen waren die Ämter in der Lage, mehr als 120 Anträge pro Tag anzunehmen und zu bearbeiten. Von einer solchen Geschwindigkeit konnten die Siedler 1889 nur träumen. Während sie tage- und nächtelang vor den land offices ausharrten, mussten die Staatsdiener in den Baracken sich selbst überhaupt erst einmal Klarheit über das anzuwendende Verfahren verschaffen.108

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Green, The Oklahoma Land Rush of 1889, S. 120 f. Ebd., S. 119 f. 107 Gordon Moore, Registers, Receivers, and Entrymen. U.S. Land Office Administration in Oklahoma Territory, 1889 – 1907, in: The Chronicles of Oklahoma, Heft 67, 1989/90, S. 52 – 75, hier S. 57. 108 Ebd., S. 59 f., S. 62. 106

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Abbildung 2: Staatswerdung im Wilden Westen: Schlange vor dem land office in Guthrie – Abbildung aus Harper’s Weekly

Dass die Siedler sich in ihr Schicksal fügten und die Situation nicht eskalierte, war vor allem dem unermüdlichen Einsatz der Armee zu verdanken. Dabei hätte nicht viel gefehlt und die U.S. Army wäre gar nicht vor Ort gewesen. Washington hielt einen militärischen Schutz offenbar für überflüssig, jedenfalls existierten keine entsprechenden Einsatzpläne. Als sich nichts tat, ergriff der kommandierende General Wesley Merritt beherzt die Initiative und setzte eine Woche vor dem Großereignis drei Infanteriebataillone in Marsch.109 Auch diese Einheiten vermochten natürlich nicht die riesige Grenze des Oklahoma-Territoriums zu bewachen und eine vorzeitige, illegale Besiedelung zu unterbinden. Zumindest aber konnten die Soldaten die aufgebrachte Menge davon abhalten, die überforderten Beamten der Registerbehörden zu lynchen. Außerdem nahmen in den Siedlungszentren dank der militärischen Drohkulisse die Konflikte zwischen den gesetzestreuen Siedlern und den sooners – den claim jumpers und land snatchers – nicht so häufig einen gewalttätigen Verlauf. Auf dem flachen Land, in der weiten Prärie, dort, wo die Armee nicht präsent sein konnte, sahen die Dinge anders aus. Hier kam es in regelmäßigen Abständen zu brutalen Übergriffen. Korrespondenten der New York Times und anderer großer Zeitungen berichteten immer wieder von Mord und Totschlag, merkwürdigen Unfällen und einem Klima der Angst und Unsicherheit, das jede Bereitschaft zu Investitionen im Keim erstickte.110 Je mehr Zeit verstrich, ohne dass Judikative und Exekutive ihren Pflichten nachkamen, desto häufiger legten die Menschen selbst Hand an und griffen zu den Waffen. „The disturbance in the county […] is on the increase“, berichtete im Herbst 109 110

Green, The Oklahoma Land Rush of 1889, S. 118. Ebd., S. 125 – 127.

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1889 Captain D. F. Stiles, „and hardly a day passes but from two to four complaints are made by homesteaders or contestants of threats, violence, or intimidation.“111 Ungefähr fünfzig Tötungsdelikte gingen allein in Payne County auf Rechnung der homesteader und ihrer Feinde.112 Die Bilanz derer, die im Auge des Sturms die staatliche Autorität aufrecht zu erhalten versuchten, fiel folglich vernichtend aus. Hart gingen sie mit Washington ins Gericht. „The unfortunate law“, klagte im November 1890 ein Beamter aus Oklahoma seinem Vorgesetzten, „under which the lands of this Territory were opened to settlement has created a state of affairs which is simply appalling, deplorable, and makes an honorable man shrink from its consequences […]. Fully one third of the men holding homestead entries in this land district are violators of the law, came into the Territory in violation of law, and are now maintaining their status by the deplorable crime of perjury.“113 2. Die res nullius, die keine war: boomers gegen sooners Bei einer Fallgruppe vorzeitiger Landnahme, die unter den ehrbaren Siedlern besonders viel böses Blut erregte, hätten auch optimal ausgestattete Behörden und weitere Armeebataillone keine Abhilfe schaffen können. Gemeint sind die Fälle, in denen Personen mit für sich genommen juristisch unangreifbaren Aufenthaltsgenehmigungen – die Arbeiter und Angestellten der Eisenbahngesellschaften, Poststationen usw. – die Gunst der Stunde nutzten und von ihrem Standort innerhalb des Territoriums aus Schlag zwölf die besten Böden okkupierten, während die an den Distriktgrenzen ausharrenden boomers erst noch weite Wege durch karge, verdörrte Landschaften zurücklegen mussten, bis sie ein günstiges Siedlungsgebiet erreichten. Aus Sicht der Verwaltung und Gerichte bestand das Problem darin, dass der sooner clause im Indian Appropriation Act und in der Proklamation des Präsidenten sich nicht zweifelsfrei entnehmen ließ, wie solche Fälle zu lösen sind. Washington hatte diesen Konflikt offenkundig überhaupt nicht bedacht. Es war der blinde Fleck der Regulierung. a) Townsite of Kingfisher v. Wood und Fossett Wie naiv die Vorstellung war, das gewählte Verfahren – die Freigabe zur Okkupation – werde gleichsam automatisch für Rechtssicherheit sorgen, zeigt der Rechtsstreit zwischen der Stadtgemeinde von Kingfisher und den Herren Wood und Fossett. In dem Fall meldeten gleich drei Parteien Ansprüche auf ein Stück Land an, nämlich 111 Captain D. F. an Major J. P. Sanger am 6. November 1889 – nach Green, The Oklahoma Land Rush of 1889, S. 127. 112 Memoirs of Frank J. Wikoff, in: Berlin B. Chapman, The Founding of Stillwater. A Case Study in Oklahoma History, Oklahoma City 1948, Appendix B, S. 182 – nach Green, The Oklahoma Land Rush of 1889, S. 128. 113 John H. Burford an John W. Noble am 22. November 1890 – nach Green, The Oklahoma Land Rush of 1889, S. 137.

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auf die nördliche Hälfte der „Sektion 15 T. 16 N., R. 7 W., Kingfisher, Oklahoma“. Die Gemeinde ,Kingfisher‘, die sich am Vorabend des land rush in Buffalo Springs – außerhalb des Oklahoma-Territoriums – konstituiert hatte, reklamierte die gesamte nördliche Hälfte für sich, während ein U.S. Marschal mit Namen William D. Fossett das nordwestliche Viertel der Sektion 15 und der Armeeangestellte John H. Wood das nordöstliche Viertel als rechtmäßig erworben betrachteten.114 Der Sachverhalt war, was die Chronologie der Ereignisse anbelangt, weitgehend aufgeklärt und unstrittig: Marschal Fossett überquerte die Grenze des Territoriums mit der Masse der Siedler am 22. April um zwölf Uhr mittags. Da er „das beste Pferd auf der westlichen Seite“ ritt, erreichte er als erster das nordwestliche Viertel der Sektion 15. Wie ein geölter Blitz steuerte Fossett das von ihm begehrte Land an, sprang vom Pferd, riss dem Tier den Sattel vom Leib und schwenkte eine Decke zum Zeichen der abgeschlossenen Inbesitznahme, so jedenfalls berichtete ein Augenzeuge.115 Weniger dramatisch verlief die Okkupation des nordöstlichen Viertels durch Wood. Dieser war gerade damit beschäftigt, in der Nähe von Kingfisher Holz für die Armee zu verladen, als er sich um Punkt zwölf dazu entschloss, eine ,Heimstätte‘ in Beschlag zu nehmen. Gemächlichen Schrittes – er benötigte keine acht Minuten – begab sich Wood auf ,seinen‘ Grund und Boden und begann sogleich, die Fundamente für eine Farm auszuheben.116 Als letzte trafen die Repräsentanten von Kingfisher, der Stadtgemeinde ,in Gründung‘, am besagten Ort ein und deklarierten das Land als das Ihre – „for purposes of trade and commerce“.117 Jeder der drei Ansprüche war offenkundig mit einem Makel behaftet: Wood nutzte zu Lasten der Mitbewerber den Umstand aus, dass er als Armeeangehöriger eine Aufenthaltsgenehmigung für das Oklahoma-Territorium besaß und daher das Gebiet nicht verlassen musste. Fossett machte zwar insoweit von seinen Vorrechten keinen Gebrauch und wartete bis zur Öffnung geduldig an der Grenze, indes profitierte auch er von seinem Status als Staatsbediensteter, hatte er sich doch als Aufenthaltsberechtigter Spezialwissen über die Lage und Beschaffenheit der Böden aneignen können. Die Gemeindevertreter schließlich standen vor dem Problem, dass beim land rush das Windhundprinzip galt, sie aber unstreitig erst nach Wood and Fossett sich auf dem Land niedergelassen hatten.

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Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 330 (= Decisions of the Department of the Interior and General Land Office in Cases Relating to the Public Lands, Bd. 11: 30. Juni 1890 bis 31. Dezember 1890, Washington 1891, S. 330 – 338, hier S. 330). 115 Nach Chapman, The Legal Sooners of 1889 in Oklahoma, S. 396: „I saw Bill Fossett jump off his horse about 200 yards west of the land office and on the same quarter section, jerk his saddle off, throw it down, and wave his blanket as notice of his claim to be the first settler upon this tract of land.“ 116 Chapman, The Legal Sooners of 1889 in Oklahoma, S. 396. 117 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 331.

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So lagen die Dinge, als die Behörden ihre Entscheidung treffen mussten. Den ersten Versuch, den Gordischen Knoten zu zerschlagen, unternahmen die beiden Sachbearbeiter des örtlichen land office. Sie kamen zu dem Schluss, dass die nördliche Hälfte der Sektion 15 im Voraus rechtmäßig zum städtischen Siedlungsgebiet bestimmt worden sei und daher weder Wood noch Fossett ein Anspruch auf das Land zustehe. Die nächste Instanz beurteilte die Rechtslage völlig anders und revidierte die Entscheidung des land office. Assistant Commissioner William M. Stone brachte sehr deutlich zum Ausdruck, dass er den Argumenten der Städtegründer, die als Kollektiv oder gar proto-staatlicher Verband Sonderrechte einforderten, nichts abgewinnen könne. Da habe man wohl etwas falsch verstanden, entgegnete er ihnen, das Gesetz stelle die Gruppe nicht über den Einzelnen, auch für eine Vereinigung von Menschen gelte der Prioritätsgrundsatz.118 Andernfalls könnten sich Menschen in jeder beliebigen Stadt der USA zusammenfinden und eine Landnahme zu Gunsten ihrer Vereinigung antizipieren – mit der Folge, dass alles Land schon vergeben sei, bevor der land run überhaupt begonnen habe.119 Die Gründung von Städten sei eine Folge der Landöffnung, aber nicht der vorrangige Zweck derselben.120 Da die Parteien immer noch keine Ruhe gaben, musste der Secretary of the Interior, John W. Noble, sich der Angelegenheit annehmen. Mit Stones Ausführungen zu den vermeintlichen Sonderrechten der ,Townsite of Kingfisher‘ war Noble einverstanden,121 nicht jedoch mit dessen Entscheidung zu Gunsten von Wood. Von Anfang an lässt Noble keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gehören. Des Ministers Parteinahme für die boomers tritt klar zu Tage, wenn er die Besonnenheit und Selbstdisziplin rühmt, mit der die Mehrheit der Siedler trotz widriger Umstände, bei Wind und Wetter, an der Grenze zum ,Gelobten Land‘ ausharrte, wohl wissend, dass die

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Nach Chapman, The Legal Sooners of 1889 in Oklahoma, S. 401: „A body of people coming together with the common purpose of locating a town upon public land, have no greater rights under the law than a homestead settler; they are upon the same footing, and, as in this case, their rights must be determined according to the priority of their initial acts.“ 119 Nach ebd., S. 402: „If, as is maintained by counsel in his argument, the people of Buffalo Springs could make a legal selection of a townsite in Oklahoma, with equal force might it be argued that meetings held in every village from Maine to California might with equal right select such townsites, and so plaster over the entire surface of Oklahoma with prospective towns, to the exclusion of the homesteaders for whose benefit the territory was thrown open.“ 120 Nach ebd.: „In the heat of speculation these parties seem to have overlooked the fact that towns are but the incidents in opening up a new country, and not the main object thereof.“ 121 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 331: „Upon this state of facts there can be no doubt that these entrymen would prevail over the townsite occupants, unless prohibited under the act of Congress and the proclamation of the President opening the territory. They were first on the ground, and this prior occupancy would have been notice, other things being equal, that the land had been legally appropriated and no longer subject to entry for townsite purposes.“

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Armee gar nicht in der Lage gewesen wäre, sie von einem vorzeitigen Eindringen in das Territorium abzuhalten.122 Auf die Lobpreisung heroischer Gesetzestreue folgt recht unvermittelt die Klage über die Dreistigkeit der sooners, wobei Noble den Eindruck erweckt, als seien die rechtmäßig ihren Dienst verrichtenden Arbeiter, Angestellte und Beamte und das Gros der illegalen Eindringlinge aus dem gleichen Holz geschnitzt.123 Für jemanden, der an der Spitze der Exekutive stand und von dem man hätte erwarten können, dass er sich als Dienstherr schützend vor seine registers, receivers, clerks und marshals stellt, war das eine bemerkenswerte Misstrauensbekundung. Allerdings unterschlug Noble keineswegs die Argumente der legal sooners. In einem fiktiven Plädoyer ließ er sie ausführlich zu Wort kommen: „True, it may be, that until said lands are opened to settlement by proclamation of the President, no person shall be permitted to enter and occupy the same; but we do not intend to enter or occupy any land until then; we are here, within the territory, but we are not entering and occupying any tract in particular just now […] the words of the law are technical, and even if the claimant is in the territory before noon, if he does not then claim the particular tract he has his eye on, and will seize immediately thereafter, he can hold it.“124 Dreh- und Angelpunkt war die schon mehrfach erwähnte sooner clause im Indian Appropriation Act, die das vorzeitige „Betreten und Inbesitznehmen“ des Landes (to enter upon and occupy) untersagte. Sofern eine Person vor dem offiziellen Termin das Oklahoma-Territorium lediglich betreten, indes das begehrte Stück Land noch nicht okkupiert hatte, wie in den meisten Sooner-Fälle, schien dem Wortlaut nach ein Verstoß gegen das gesetzliche Verbot in der Tat nicht vorzuliegen. 122 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 333: „Families in wagons, individuals on horseback, many a foot, and all in tense anticipation of the start, fringed long distances of the territorial borders. Some arranged to enter by the railroads. Many fleet horses were brought into requisition that their owners might outstrip their fellows in the race for lands and lots. But in all this multitude, coming from all quarters of our country, the north and south, east and westy and composed of as strong characters and varied dispositions as were ever before assembled, there was one marked and most estimable trait displayed – an obedience to law and authority. In the camps, that were formed awaiting the ,opening‘, in the inclement weather, under the strain of great excitement, and with a knowledge that the small military force stretched out over these long lines might be easily evaded, there was among these citizens a complete confidence in and reliance upon the strength and fairness of the government to protect them from imposition and fraud, if they, themselves, would do right.“ 123 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 333 f.: „But there were others not so disposed. There were men there who, upon one pretence and another – one necessity or another – had been admitted within the border. The railroads required men to preserve the track and to run the trains; the military wagons were handled by civilians engaged for the purpose; there were the registers and receivers of the land offices, with their clerks, there were the United States marshals and their deputies; and there were many others that had evaded the troops and crept into the domain without pretence of right. Many, in each of these classes, that were in the territory sooner than the law allowed for such designs of settlement, nevertheless intended to take advantage of their situation and anticipate and defeat the multitude on the borders.“ 124 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 334.

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Noble sah das anders, doch kostete es ihm erkennbar einige Mühe, das formale, sprachlogische Argument zu entkräften. Dem ,technischen‘ Gesetzesverständnis, wie er es nannte, begegnete er mit teleologischen Erwägungen: Es sei die offenkundige Absicht des Kongresses gewesen, jedem Oklahoma-Siedler die gleichen Chancen zu eröffnen.125 Daher spiele es überhaupt keine Rolle, wie man die Formel ,enter upon and occupy‘ zu verstehen habe, ob in Wahrheit ,enter upon or occupy‘ gemeint sei oder nicht usw.126 Entscheidend sei allein, dass nach dem Willen des Gesetzgebers niemandem ein Vorzugsrecht eingeräumt werden sollte. Jede andere Auslegung widerspreche dem ,Geist des Gesetzes‘. Den erteilten Sondergenehmigungen für einen Aufenthalt in der ,verbotenen Zone‘ komme keine Bedeutung zu, die über den eng begrenzten Zweck, einen Aufenthalt zu ermöglichen, hinausreiche. Die Lizenz solle die Inhaber schützen, nicht aber Dritten Schaden zufügen.127 Nobles Argumentation hat juristisch einiges für sich, allerdings überspannt der Minister den Bogen etwas, wenn er allen legal sooners unlautere Motive unterstellt, ihnen vorwirft, sie wollten aus einer misslungenen Formulierung des Gesetzgebers Kapital schlagen und sich ungebührliche Vorteile verschaffen. Man darf wohl ohne weiteres annehmen, dass ein Mann wie Wood, der seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig auf dem Oklahoma-Territorium lebte, der Tag ein, Tag aus im Schweiße seines Angesichts dabei half, eine militärische Infrastruktur aufzubauen, der in dem unzureichend erschlossenen und gesicherten Gebiet gewiss so manchen Unbill zu ertragen hatte und sich inzwischen dennoch dort heimisch fühlte, man wird wohl annehmen dürfen, dass jener Wood sich ,im Recht‘ fühlte, jedenfalls einen besser begründeten Anspruch auf das Land, das seine Heimat war, glaubte vorweisen zu können als irgendein eilig zugereister Glücksritter aus New Jersey. Sogar Noble zeigte ein gewisses Verständnis für die Situation der unfreiwillig privilegierten Staatsdiener. Er ging nämlich nicht so weit zu behaupten, dem Kongress sei daran gelegen gewesen, auch denjenigen von dem großen land run auszuschließen, der irgendwann einmal sich mit staatlicher Genehmigung auf dem Sperrgebiet aufgehalten habe.128 Folglich hatte der Secretary of the Interior keine Bedenken, U.S. Marshal Fossett in seinem Recht zu bestätigen, sofern dieser nicht, was noch zu klä125

Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 334: „The evident intention of Congress was to give to all persons desiring homes in Oklahoma an equal chance to obtain them. The territory was opened for homestead settlement to any qualified homesteader, but under the same conditions. No partiality was intended to be shown to any individual or class of individuals.“ 126 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 335. 127 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 336: „No license could be granted against the statute, and no one could successfully pervert his license or special employment to defeat the equal and just operation of the statute upon all alike. The permit was exhausted in protecting its possessor; it could not be used as a weapon against others.“ 128 Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 336: „I do not think it was the intention of Congress that a man who happened to be legally in the territory, but did not use his position to his own advantage, or to the disadvantage of his fellow-citizens, should be forever prohibited from acquiring any rights in the territory.“

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ren sei, sich das Land lediglich zu Spekulationszwecken einverleibt habe,129 denn eine solche Absicht stehe einem rechtmäßigen Erwerb entgegen.130 b) Smith v. Townsend Schon bald zeigte sich, dass das Machtwort des Secretary of the Interior nicht ausreichte, um die Lage in Oklahoma zu befrieden. Mit der für die meisten legal sooners nachteiligen Rechtsauffassung des Ministers wollte sich auch ein gewisser Alexander F. Smith nicht zufrieden geben. Smith, ein Arbeiter im Dienst der Atchison, Topeka & Santa Fe Railroad Company, hatte lange vor dem 2. März 1889, dem Tag, an dem die Pläne für die Oklahoma-Landöffnung öffentlich wurden, ein Zelt in dem für die Eisenbahngesellschaft reservierten Korridor aufgeschlagen. Dort, in der Nähe von Edmond Station, lebte er friedlich und unbehelligt mit seiner Familie bis zum Mittag des 22. April. Zur Stunde des land run baute Smith sein Zelt ab und errichtete es wieder neu außerhalb des besagten Korridors – in nur 150 yards (ca. 137 m) Entfernung. Das Land in der Umgebung seiner neuen ,Heimstätte‘ beanspruchte er für sich und seine Familie – sehr zum Verdruss von Eddie B. Townsend, der von der Distriktgrenze aus sich auf den Weg gemacht hatte und sich als erster Okkupant der Sektion unweit Edmond Station wähnte, dann aber feststellen musste, dass Smith bereits vor Ort war.131 Das lokale land office entschied zu Gunsten des Eisenbahnangestellten, doch widerrief der zuständige Commissioner diese Entscheidung und der Secretary of the Interior gab ihm Recht. Das von Smith angerufene Gericht erster Instanz war der gleichen Ansicht wie die Behörden und ebenso der Supreme Court von Oklahoma. Smith beharrte indes weiterhin auf seiner Rechtsansicht und begehrte eine finale Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.132 Der von Smiths Prozessvertretern Garland und May verfasste 38-seitige Schriftsatz, beim Supreme Court eingegangen am 19. Dezember 1892, war eine fulminante Abrechnung mit der behördlichen und gerichtlichen Diskriminierung der legal sooners. Seit den Tagen, bemerkten die Anwälte bissig, als sich des Hochverrats bereits schuldig machte, wer den Tod des Königs sich auch nur vorstellte, sei niemand mehr so dreist für seine (vermeintlichen) Vorstellungen und Absichten an den Pranger gestellt worden wie jene bedauernswerten Arbeiter, Angestellten und Beamten, die sich vor dem 22. April 1889 rechtmäßig auf dem Oklahoma-Territorium aufhielten.133 Noch dreister sei die Auslegung der Formel „enter upon and occupy the same“ in 129

Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 337. Townsite of Kingfisher v. Wood et al., 11 LD 330. 131 148 U.S. 490, 491 – 492 (1893). 132 148 U.S. 490, 492 – 493 (1893). 133 Alexander F. Smith vs. Eddy B. Townsend. Appeal from the Supreme Court of the Territory of Oklahoma. Brief of Apellant, S. 32 (U.S. Supreme Court Records and Briefs zu 148 U.S. 490). 130

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dem Sinne, dass für eine Disqualifikation schon der Aufenthalt als solcher ausreiche. Smiths Anwälte zitierten in der Folge eine Reihe von Präzedenzentscheidungen aus denen sich ihrer Ansicht nach zweifelsfrei ergab, dass die Absicht des Gesetzgebers vorrangig aus dem Wortlaut des Gesetzes zu erschließen sei. Für eine ambitionierte Sinnfindung bleibe kein Raum, wenn der Wortlaut eindeutig sei. Darauf habe kein Geringerer als Chief-Justice Marshall hingewiesen.134 Im vorliegenden Fall sei der Wortlaut eindeutig. Eine Disqualifikation setze ein „Betreten und Inbesitznehmen“ voraus, folglich genüge ein vorzeitiges Betreten für sich genommen nicht, jedenfalls keines, das rechtmäßig erfolge und nicht in der Absicht geschehe, sich bei der Landnahme Vorteile zu verschaffen. So wie der Secretary of the Interior die Formel auslege, hätte der Gesetzgeber den Zusatz ,and occupy the same‘ genauso gut weglassen können. Man dürfe jedoch bei Gesetzestexten niemals nach Belieben Worte hinzufügen oder eliminieren, sondern müsse unterstellen, dass jedem Begriff ein Sinn und eine Funktion zukomme.135 Aber selbst wenn man das Wortlaut-Argument für einen Moment außer Betracht lasse, stehe die Beweisführung der Gegenseite auf tönernen Füßen. Sollte wirklich die absolute Gleichheit der Startbedingungen dem Gesetzgeber so sehr am Herzen gelegen haben, wie das der Secretary of the Interior behaupte, warum habe dann der Kongress nicht verfügt, dass Teilnehmer mit besonders schnellen Pferden oder überhaupt mit Pferden vom land run ausgeschlossen seien und jedermann, gleich ob arm oder reich, den Weg zu Fuß zurücklegen müsse?136 Der Grund für eine derartige Kaskade von Ungereimtheiten sei darin zu suchen, dass Behörden und Gerichte gegen eine Handvoll Betrüger und Schmarotzer glaubten vorgehen zu müssen, um die große Mehrheit der ,ehrlichen Siedler‘ zu schützen – notfalls contra legem. Doch diese Annahme (oder Unterstellung) gehe fehl. Es handle sich bei den legal sooners eben nicht um die ,üblichen Verdächtigen‘, um jene Verächter des Rechts am Rande der Gesellschaft, die es immer geben werde. Das Territorium sei am 22. April von Tausenden von Menschen bevölkert gewesen, die allesamt – nach Rücksprache mit erfahrenen Anwälten – auf den Wortlaut des Gesetzes 134

Nach ebd., S. 12: „The intention of the legislature is to be collected from the words they employ. Where there is no ambiguity in the words there is no room for construction. The case must be strong indeed which justify a court in departing from the plain meaning of the words, especially in a penal act, in search of an intention which the words themselves did not suggest.“ 135 So sei in Montelair v. Ramsdell (107 U.S. 152) zu lesen: „It is the duty of the court to give effect, if possible, to every clause and word of a statute, avoiding if it may be any construction which implies that the legislature was ignorant of the meaning of the language employed“ – Alexander F. Smith vs. Eddy B. Townsend, S. 17. 136 Alexander F. Smith vs. Eddy B. Townsend, S. 24: „And, upon the theory of the Secretary of the Interior, what equality would there be in such race? That parties with fast horses would have the advantages of those with slow ones, and all horsemen the advantages of those with slow ones, and all horsemen the advantages of those on foot. Such a theory of equality is impracticable, and if carried to its logical sequence would involve in controversy nearly every homestead in the Territory.“

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vertrauten. Fast alle Heimstätten in Oklahoma seien von solchen ,Inländern‘ okkupiert worden. Misstrauen verdienten umgekehrt gerade diejenigen, die am Stichtag von außen her in das Land eingedrungen seien und meist als Abenteurer und Spekulanten ihr Glück suchten.137 Hilfsweise machten Smiths Advokaten geltend, ihr Mandant habe sich in einer besonderen Lage befunden, die ihn selbst dann als rechtmäßigen homesteader erscheinen lasse, wenn man die (unzutreffenden) Rechtsansichten des Secretary of the Interior zu Grunde lege. Im Unterschied zu so manchem anderen legal sooner sei Smith nämlich, wie vom Minister gefordert, sehr wohl von einem Ort außerhalb des Territoriums gestartet. Zwar habe er sich nicht im äußeren Umland von Oklahoma aufgehalten, dafür aber in dem für die Eisenbahngesellschaft reservierten, exterritorialen Korridor, der unstreitig nicht zur Landnahme freigegeben gewesen sei.138 Indes, alle Mühen der Anwälte waren vergeblich. In ihrem Urteil vom 3. April 1893 schlossen sich die Richter des Supreme Court der Rechtsauffassung des Innenministers und der Instanzgerichte an.139 Nun stand fest, dass Alexander F. Smith zu Unrecht das von ihm okkupierte Land beanspruchte. Das Gericht folgte in wesentlichen Punkten den Erwägungen des Secretary of the Interior und verfeinerte lediglich das eine oder andere Argument. Es lag ihm besonders am Herzen, die methodischen Annahmen des Smith’schen Wortlautarguments zu widerlegen. Man berief sich unter anderem auf eine Grundsatzentscheidung des Court of Exchequer aus dem Jahre 1584 – Heydon’s Case – die den Richtern aufgab, die wahre Absicht des Gesetzgebers zu ermitteln und diese bei der Auslegung der in Rede stehenden Norm zu berücksichtigen.140 Wer sich im vorliegenden Fall vom Wortlaut des Indian Appropriation Act löse, heißt es sinngemäß in der Urteilsbegründung, und stattdessen die eigentliche Intention des Gesetzgebers in den Blick nehme, nämlich gleiche Startbedingungen für alle zu schaffen, der dürfe nicht zulassen, dass legal sooners wie Smith ihre Privilegien zum Schaden der Nicht-Privilegierten ausnutzten.141 137 Alexander F. Smith vs. Eddy B. Townsend, S. 22: „The assumption by the court […] is also manifestly erroneous in fact, as thousands who took homesteads did cross the line before that time, and under the impression and belief, and acting under the advice of able and experienced lawyers, that an entry into the Territory alone would not disqualify them under said act of Congress; and nearly all of the homesteads in the Territory opened to settlement April 22, 1889, are held by persons who so entered within the exterior boundary lines of said lands, and are dependent on the construction which this court of last resort may place upon that act to hold their homes, while contestants are generally adventurers and speculators who filed contests.“ 138 Alexander F. Smith vs. Eddy B. Townsend, S. 26: „The right of way being no part of the lands opened to settlement, he was as much off and outside the boundaries of the lands to be opened as were the persons being immediately outside of any other of the boundary lines; any of these persons at the outside lines had only take a step cross the boundary and enter the lands. The appellant had no more advantage than any of these.“ 139 148 U.S. 490, 490 (1893). 140 148 U.S. 490, 494 (1893). 141 148 U.S. 490, 496 (1893).

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Mit Blick auf den angeblich exterritorialen Korridor der Eisenbahngesellschaft bemerkte der Oberste Gerichtshof, der zugestandene right of way beinhalte lediglich ein Nutzungssonderrecht und stehe daher im Status nicht dem Umland des Oklahoma-Distrikts gleich.142 An einem Umstand kam allerdings auch der Supreme Court nicht vorbei: dass Oklahoma vor der Landöffnung am 22. April alles andere als ein menschenleeres Territorium war, dass den Landstrich in Wahrheit Scharen von Arbeitern, Angestellten und Amtsträgern („Indian agents, deputy marshals, mail carriers, and many others“143) bevölkerten, die es gar nicht einsahen, ,ihr‘ Gebiet zu verlassen, um sich demütig in die Kolonne fremder Siedler einzureihen. Wie dramatisch die Situation war, ergibt sich aus einem im Oktober 1892 aufgesetzten Schreiben des Attorney-General W. H. H. Miller an den Supreme Court. Miller gab darin dem Gericht zu verstehen, dass es in der Sache ,Smith v. Townsend‘ dringend einer klaren und verbindlichen Entscheidung bedürfe, weil ansonsten – angesichts einer unübersehbaren Zahl ähnlich gelagerter Fälle – der Rechtsfrieden in der Region massiv gefährdet sei. Zum Beleg zitiert der Attorney-General aus einem Brief, den er vor einiger Zeit erhalten habe, „signed by the governor, district attorney, all the United States judges, and all the land officers in the Territory of Oklahoma.“ Die Unterzeichner erbaten, ja erflehten ein Durchgreifen des Supreme Court, um die Prozessflut – „an endless amount of litigation in the courts of this Territory“ – doch noch in den Griff zu bekommen.144 Miller beruft sich außerdem auf ein Schreiben des Vorsitzenden der CherokeeKommission, Warren G. Sayre, der ebenfalls in größter Sorge war über die Zustände in Oklahoma. Es sei nicht übertrieben, so Sayre, wenn man feststelle, dass dank der legislativen Fehlleistung die Zuordnung der Hälfte aller okkupierbaren Parzellen umstritten sei.145 Die Folgen für die Region seien verheerend. Da niemand wisse, ob einem das beanspruchte Stück Land morgen noch gehören werde, nehme man nur die dringend notwendigen Investitionen vor. Für den Unterhalt von Familien und den Aufbau funktionierender Infrastrukturen reiche das nicht. Aber das sei vielleicht noch nicht einmal das Schlimmste. Schwerer wiege der Sittenverfall und die Zunahme der Kriminalität.146

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148 U.S. 490, 498 – 499 (1893). 148 U.S. 490, 501 (1893). 144 Attorney-General W. H. H. Miller to the Supreme Court of the United States, Alexander F. Smith vs. Eddy B. Townsend, October Term 1892, S. 2 (U.S. Supreme Court Records and Briefs zu 148 U.S. 490). 145 Ebd., S. 4: „It is not an exaggeration to say that half of all these quarter sections are claimed, and in some manner occupied by two or more persons, who are at much expense contesting each other’s rights, because of diverse construction put upon the words of a statue.“ 146 Ebd.: „The moral tone of an entire people is affected, in that the conflicting claims, and the efforts to maintain them, are most conducive to quarrels, perjury, estrangements, violence, and murder.“ 143

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Bleibt die Frage, wie es überhaupt soweit kommen konnte, warum Washington so eklatant versagte und sich weigerte, Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen, die für jedermann erkennbar waren. Es bedurfte wahrlich keiner übermenschlichen prognostischen und gesetzgeberischen Fähigkeiten, um die Konflikte zwischen boomers und sooners vorauszusehen und durch balancierte gesetzliche Regelungen zu entschärfen. Freilich lassen sich Konflikte nur voraussehen, wenn man die Realitäten fest im Blick hat. Wer sich der ideologischen Grabenkämpfe um den Homestead Act erinnert, der wird Zweifel hegen an dem Wirklichkeitssinn der Verantwortlichen in Parlament und Regierung. Die mit philosophischen und theologischen Anspielungen durchsetzte Rhetorik der Homestead-Befürworter erweckt den Eindruck, als ob im fernen Westen ein von den Segnungen wie den Sünden der modernen Zivilisation völlig unberührtes, ,jungfräuliches‘ Land darauf harre, von strebsamen Siedlern bevölkert und kultiviert zu werden. Wenn wir davon ausgehen, dass der Topos vom verwilderten Garten Eden, von einer entrückten Locke’schen Welt im Naturzustand als ideologische Basis auch noch 1889 präsent war, ist leicht einzusehen, warum sich niemand in Washington über Eisenbahntrassen, Poststationen, Kasernen und Polizeiwachen den Kopf zerbrach. Eine Eisenbahn in Gottes terra nullius war und ist nun einmal eine absurde Vorstellung.

IV. Das Niemandsland der Traumfabrik – Epilog Dass ein ,Niemandsland‘ im Westen nur in der Phantasie existierte, für diese Erkenntnis zahlten die amerikanischen Siedler einen hohen Preis. Doch es gab auch Profiteure des großen Durcheinanders. Die expandierende amerikanische Filmindustrie, immer auf der Suche nach dramatischen Stoffen, war dankbar für die thematische Bereicherung des Western-Genres. Der land rush mit seinen erfreulichen wie unerfreulichen Begleiterscheinungen gehört zum ,goldenen‘ Repertoire des amerikanischen Films – so wie die Unterwelt Chicagos oder transsilvanische Blutsauger.147 Die meisten Produktionen schöpfen jedoch die Bandbreite der realen Konflikte und Verwicklungen nicht aus. Es ist vornehmlich eine Szene, für die sich die Regie seit den Anfängen des Films begeistert: jener ,magische Moment‘ der Landöffnung, als zur Mittagsstunde tausende von Siedlern auf Pferden oder Planwagen über die menschenleere Prärie hinwegfegen, angetrieben von der Hoffnung auf Reichtümer oder auch nur auf ein besseres Leben. Wesley Ruggles inszenierte diesen ,amerikanischen Traum‘ für Cimarron (1931) in spektakulären Bildern, aufgenommen mit mehr als zwei Dutzend Kameras, und sorgte – neben vielen anderen Hollywood-Regisseuren – dafür, dass das Versprechen auf eine bessere Welt im Westen im kollektiven Gedächtnis der Nation lebendig blieb.

147 Vgl. den Überblick von Jack Spears, Hollywoods Oklahoma, in: The Chronicles of Oklahoma, Heft 67, 1989/90, S. 340 – 381.

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Die Botschaft dieser epischen Bilderflut ist so einfach wie problematisch: Dem Publikum wird nicht nur suggeriert, jeder sei seines Glückes eigener Schmied, wer sich besonders anstrenge, habe also den größten Vorteil, sondern auch – und vor allem – ein solcher Aufstieg ,aus eigner Kraft‘ vollziehe sich wie in einem volkswirtschaftlichen Perpetuum mobile ohne Reibungsverluste, gehe nicht auf Kosten Dritter, ,weil genügend Land für alle da ist‘. An Konflikten, die in Mord und Totschlag enden, herrscht in Hollywoods Land-Rush-Western natürlich kein Mangel, doch beruhen sie in der Regel auf irgendwelchen charakterlichen Unzulänglichkeiten und sind nicht systemischer Natur. Einige Filme des Genres freilich unterlaufen das Paradigma der verlustfreien, sozialadäquaten Vermögensmehrung, indem sie schonungslos offen legen, welche Leiden und Ungerechtigkeiten mit der ,Erfindung‘ einer terra nullius im Wilden Westen verbunden waren, ohne die Berechtigung, ja Notwendigkeit eines solchen Vorgehens in Frage zu stellen.148 Einer der letzten großen Western der Stummfilmära, Tumbleweeds (1925), beginnt mit einem melancholischen Abgesang auf das Hirtenund Viehzüchterdasein im ,Alten Westen‘. Auf Befehl der Regierung, ist zu lesen, müssen die riesigen Rinderherden, die bislang auf dem Territorium von Oklahoma weideten, die Prärie verlassen, um Platz zu schaffen für die herannahenden homesteaders. Den Viehtreibern blutet das Herz, zumal ihnen auch Haus und Hof genommen wird, doch sie fügen sich in ihr Schicksal, weil sie erkennen, dass ein neues Zeitalter anbricht. Einer von ihnen, Don Carver, gespielt von William S. Hart, dem gefeierten Stummfilmstar, beschließt, frisch verliebt, ebenfalls sesshaft zu werden und für sich und seine Angebetete beim anstehenden Wettrennen eine homestead zu okkupieren. Als Carver noch einmal zu seiner alten Wirkungsstätte, auf die inzwischen geräumte Ranch der Viehzüchter, zurückkehrt, um entlaufene Rinder einzufangen, wird er von der Kavallerie gestellt und als sooner verhaftet. Unverschuldet erleidet Carver eine doppelte Schmach: Erst muss er seine Heimat Fremden überlassen und dann darf er noch nicht einmal von den jedermann zustehenden Rechten Gebrauch machen. Doch Carver gelingt zeitig die Flucht, so dass er am land run teilnehmen kann. Dank seiner Reitkünste erreicht er als erster das von ihm begehrte Farmland, muss indes feststellen, dass zwei Gauner – echte sooner – es sich schon unter den Nagel gerissen haben. Der Kampf um Heim und Herd ist also noch nicht zu Ende (Abb. 3).

148 Zur Deutung amerikanischer Western als politische Philosophie beispielhaft Robert B. Pippin, Hollywoods Western and American Myth. The Importance of Howard Hawks and John Ford for Political Philosophy, New Haven/London 2010.

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Abbildung 3: Hollywood jagt die Diebe der res nullius: Don Carver (William S. Hart) mit zwei überführten sooners in Tumbleweeds (USA 1925)

Tumbleweeds spielt virtuos mit den Erwartungen und der Empathie der Zuschauer, die am Ende nicht mehr so recht wissen, wem nun eigentlich das angebliche Niemandsland von Rechts wegen gehört. In einer der ersten Szenen des Films schreckt eine Klapperschlange Carvers Pferd auf, der sofort seinen Revolver zieht, aber nicht abdrückt, sondern nach einigem Zögern die Waffe wieder in den Halfter steckt. „Go ahaed an’ live“, ruft der Cowboy dem Reptil zu, „You’ve got a whole lot more right here than them that’s comin’.“ Die, die da kommen sollten und nach Carvers Ansicht ein geringeres ,Recht‘ hatten als die heimischen Wildtiere, waren die homesteaders. Als später wieder eine Schlange Carvers Wege kreuzt, erschießt der frisch gebackene Siedler das Tier kaltblütig („You didn’t use no sense meetin’ up with me today“). Die Ambivalenz des no man’s land als juristisches Argument ist auch eines der zentralen Themen in Shane (1952), einem Jahrhundertwestern von George Stevens. Der Film handelt von Joe Starrett, gespielt von Van Helflin, einem homesteader, der gemeinsam mit seiner Frau Marian und seinem kleinen Sohn Joey ein Stück Land bewirtschaftet, das er zuvor rechtmäßig, so wie es der Homestead Act vorsieht, okkupiert hat. Starretts Farm ist dem Rinderzüchter Rufus Ryker ein Dorn im Auge, weil sie ihn bei seinem Gewerbe behindert. Als sich Starrett trotz aller Appelle und Schikanen weigert, seine ,Heimstätte‘ aufzugeben, beschließt Ryker, einen Auftragsmörder, Jack Wilson, zu engagieren, der aus Anlass einer Aussprache einen Streit provozieren und bei der Gelegenheit den homesteader erschießen soll. Zu dem großen Show-down erscheint indes nicht, wie verabredet, Starrett, sondern ein ominöser Fremder, der sich als ,Shane‘ ausgibt. Diese von Alan Ladd verkörperte

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Lichtgestalt, blond, blauäugig, in weiß gekleidet, arbeitet seit einiger Zeit auf Starretts Farm. Über Shanes Biographie erfährt der Zuschauer nichts, doch er ahnt, dass der Fremde eine bewegte Vergangenheit als Revolverheld hinter sich hat. Eigentlich würde Shane seine bisherigen Lebensgewohnheiten gerne ad acta legen. Er erkennt aber, dass Starrett einem Duell mit Wilson nicht gewachsen wäre, und zieht an Stelle des Freundes in den Kampf. In einem dramatischen Finale befördert Shane die gesamte Viehzüchterbande samt Wilson in die ewigen Jagdgründe. Anschließend verlässt er die Gegend, kehrt also nicht mehr, obgleich durch einen Schuss verletzt, zu Starrett und seiner Familie zurück. Auf den ersten Blick sind die Rollen zwischen Gut und Böse klar verteilt: auf der einen Seite der standhafte homesteader mit seiner bezaubernden Familie, auf der anderen Seite Ryker, ein ungepflegter, finsterer Geselle und Haudegen, der sogar vor einem Auftragsmord nicht zurückschreckt, um seine Interessen durchzusetzen. Doch die Dinge liegen keineswegs so einfach, wie sie scheinen. Wer über Rykers unangenehme äußere Erscheinung und seine rauen Umgangsformen hinwegsieht, der wird zugeben müssen, dass sein Standpunkt keineswegs unvernünftig ist. Als Starrett dem um viele Jahre älteren Viehzüchter vorhält, er mache ihm das Leben schwer, obwohl er nicht im Recht sei, liest dieser ihm in einer denkwürdigen Ansprache die Leviten: „Right? You in the right? Look, Starret. When I came to this country, you weren’t much older than your boy there. We had rough times. We and other men that are mostly dead now. I got a bad shoulder yet from a Cheyenne arrowhead. We made this country, we found it, and we made it – with blood and empty bellies. Cattle we brought in were hazed off by Indians and rustlers. They don’t bother you much any more because we handled ’em. We made a safe range out of this. Some of us died doing it, but we made it. Then people move in who never had to raw-hide it through the old days. They fence off my range and fence me off from water. Some of them plough ditches, take out irrigation water. So the creek runs dry sometimes and I gotta move my stock because of it. And you say we have no right to the range. The men that did the work and run the risks have no rights?“ Im Grunde argumentiert Ryker nicht anders als die Befürworter des Homestead Act. Eine Rechtsposition müsse, bekräftigt er, durch Arbeit erworben sein, ansonsten sei sie null und nichtig. Sein Leben lang habe er, Ryker, geschuftet, habe die größten Strapazen auf sich genommen, um für Sicherheit, für Ruhe und Ordnung in der Gegend zu sorgen – und nun solle er zusehen, wie ihn ein Landfremder, mag er auch fleißig und strebsam sein, um die Früchte seiner Arbeit bringe? Starrett hat dem vor Zorn bebenden alten Mann nicht mehr zu sagen, als dass er ja schließlich auch nicht der erste gewesen sei, der das Land betreten und kultiviert habe. „I’m not belittling what you and the others did,“ entgegnet er kühl, „at the same time you didn’t find this country. There were trappers here and Indian traders long before you showed up. They tamed this country.“ Jede neue Generation baue auf den Leistungen der vorangegangenen auf. Jetzt seien sie, die homesteaders, an der Reihe. An anderer Stelle begründet Starrett sein ,besseres‘ Recht mit der Ineffizienz

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der Viehzucht auf großen Weideflächen im Vergleich zur Masttierhaltung der Siedler: „The old-timers can’t see it yet, but runni’ cattle on a open range can’t go on. It takes too much space for too little results. Those herds aren’t any good, they are all horns and bone. Cattle that is bred for meat and fenced in and fed right, that’s the thing.“ So sorgfältig die Regie die Argumente Starretts und Rykers herausarbeitet, so entschieden ergreift sie am Ende Partei für die Sache der homesteaders. Adam Smith sei dank, kann Hollywood sich einer Denkfigur bedienen, die es erleichtert, dergleichen verwickelte Konflikte mit einem happy end zu inszenieren. Dann schlägt die Stunde der „unsichtbaren Hand“, die in Stevens Western, in dem nur der Staat wirklich unsichtbar ist, in Gestalt des rätselhaften, unnahbaren Shane der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Diese unsichtbare Hand verteilt nicht nur, sie nimmt auch – und sie nimmt es nicht nur von den Faulen und Untätigen, sondern auch von denen, die ihren Wohlstand hart erarbeitet haben und ihn nun für alle Zeiten konservieren wollen. Nicht die Entdeckung, die Zerstörung ist die Präambel des Fortschritts. Anders gewendet: Der Glaube an eine unbegrenzt verfügbare res nullius befördert die ökonomische und gesellschaftliche Agonie. Kapitalismus, wenn er funktionieren soll, ist Umverteilung, ist Enteignung in Permanenz.

Grotius’ res nullius Ein kosmopolitischer Streit über Eigentum und Allgemeingut Von Hans W. Blom

I. Einführung: Grundeigentum und Krieg Letztendlich ist res nullius ein Gegenstand der Rechtsprechung und seine Anwendung hängt von den jeweiligen Umständen ab.1 Res nullius bezieht sich auf einen Sachverhalt, der niemandes Angelegenheit ist; eine res nullius ist ein Fall, der nicht vor ein Gericht gebracht werden kann, eben genau aus dem Grund, weil er niemandes Angelegenheit ist. Eine res nullius kann auf zwei Weisen existieren: erstens als etwas, das niemand für sich beanspruchen kann, weil es niemandes Eigentum sein kann (z. B. das freie Meer), oder zweitens als etwas, das momentan gerade niemandem gehört. Die Kategorien von res nullius in einer moralischen oder rechtlichen Argumentation auf die eine Art zu erklären und anzuwenden, unterscheidet sich von der anderen Art. Allerdings müssen beide, wie wir sehen werden, in einer Diskussion zusammen betrachtet werden. Die Unterscheidung zwischen dem grundsätzlich freien und dem zufällig freien Gut, ruft sozusagen eine Organisierungstheorie auf den Plan, die auf der Lehre der res communis, dem Allgemeingut, mit seiner eigenen Doppelbedeutung, gründet: das, was allen gehört und daher kein Individuum als seinen privaten Besitzer hat; und das, was einer Gruppe von Menschen gehört, und das wir daher vielleicht angemessener ,öffentliches Eigentum‘ nennen, quasi wie die res privata einer Gemeinschaft. Diese Aufteilungen stellen einen anschaulichen Fall ramistischer Logik dar,2 und damit sind wir noch nicht am Ende, denn es gibt diverse Beziehungen, in denen eine Person zu einer Sache stehen kann: Nutzung, Besitz, Dominium (Herrschaft). Die Verwendung eines Gegenstandes erfordert nicht notwendigerweise ihn sein Eigen zu nennen, und Eigentum heißt ebenso wenig, dass man Gewalt darüber hat. Die Nut1 Siehe Karl Friedrich Pauli, Dissertatio inauguralis iuridica De iure principis circa res nullius in genere, et in specie regis Prussorum circa res nullius in Borussia, Halae Magdeburgicae, Typis I.C. Hendelii 1747; Daniel Nettelbladt (praeses), Io. Melch. Arn. Goecke (resp.), Theoria generalis doctrinae de iure in re quae est res nullius, Halae Magdeburgicae, Litteris Hendelianis 1779; Jehan Bacquet, Des biens qui n’appartiennent à personne (res nullius) et des biens dont l’usage est commun à tous les hommes, res communes, Paris 1921. 2 Siehe zu Ramus in Leiden: Willem Otterspeer, Groepsportret met Dame I. Het bolwerk van de vrijheid. De Leidse universiteit, 1575 – 1672, Amsterdam 2000, S. 340 – 344.

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zung ist jenes Verhältnis, welches wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität von Dingen betrachtet wird, um sie irgendwie zu verwenden, um von ihrem Gebrauch zu profitieren. Aus diesem Grunde werden Dinge in Kategorien unterteilt: Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Produktionsmittel, Geld, Land. Darüber hinaus hängt es von vielen Faktoren ab, ob die jeweilige Art der Nutzung Eigentum voraussetzt oder politisch verhandelt wird. Ein Gratismittagessen unterscheidet sich von einem im Laden gekauften Brot; die Nutzung der Grünflächen der Allmende ist anders als Kühe auf eigenen Weiden grasen zu lassen. Es wäre eine dogmatische Behauptung, dass alle Güter irgendjemandem gehören, sei es in positiver oder negativer Weise. Der Apfel, den ich esse, muss nicht in dem Sinne Eigentum sein, dass mein Verzehren ihn für alle praktischen Anwendungen und unter normalen Umständen aus jedweder Art von sozialen Beziehungen ausschließt, die mir ermöglichen würden zu sagen, dass der Apfel mir gehört. „Ich esse diesen Apfel“ würde als Aussage genügen. Dann füge ich vielleicht hinzu: „Ich habe ihn nicht gestohlen, er hing an einem Baum am Wegesrand, er gehörte niemandem.“ So verstand Grotius res communes: die Güter, die jeder von uns benutzen darf. Thomas Horne legt nahe, dass wir Grotius’ res communes am besten als Eigentum, welches allen gehört, verstehen und dass Grotius so verstanden werden sollte, dass er den Ozean eher als positives allen gehöriges Allgemeingut sah, denn als negatives niemandem gehöriges Allgemeingut.3 Aber das ist nicht, was Grotius in De iure praedae commentarius (im Folgenden ,IPC‘), ausführte, wenn er Allgemeingüter Privatgütern gegenüberstellt und die Möglichkeit gerechter Nutzung von Gemeineigentum untersucht.4 In De iure belli ac pacis (im Folgenden ,IBP‘)5 versucht Grotius, eine Ursprungsgeschichte der Anfänge von Eigentum zu beschreiben.6 Dabei wird deutlich, dass er das Prinzip des mare liberum als Teil der Auseinandersetzung um das ursprüngliche Gemeinwesen interpretiert. Die kosmopolitische Auffassung von einer Art ,Urgemeinschaft‘ hat normative Auswirkungen zur Folge, und die Diskussion unter den Naturrechtstheoretikern der frühen Neuzeit ist zu einem großen Teil eine Debatte darüber, wie dieser normative Inhalt am besten formuliert werden kann, ohne das tatsächliche System von Eigentum, welches in der Geschichtsschreibung existiert, aus den Augen zu verlieren. Das Recht, Eigentum zu beschlagnahmen, kann etwa als subjektives Recht angesehen werden, wenngleich unter bestimmten Umständen. 3 Thomas A. Horne, Property Rights and Poverty: Political Argument in Britain, 1605 – 1834, Chapel Hill 1990, S. 14. 4 Hugo Grotius, De iure praedae commentarius, ex auctoris codice descripsit et vulgavit H. G. Hamaker (MS 1604 – 5), hg. v. H. G. Hamaker, Leiden 1868, im Folgenden ,IPC‘. Ich zitiere die englische Übersetzung der Ausgabe: Hugo Grotius, Commentaries on the Law of Prize and Booty, hg. v. Martine Julia van Ittersum, übers. v. G. L. Williams, Indianapolis 2006, S. 315, im Folgenden ,Commentary‘. 5 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis (Paris 11625), hg. v. B. J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp/R. Feenstra, Aalen 1993, im Folgenden ,IBP‘; und auf Englisch in Hugo Grotius, The Rights of War and Peace, 3 Bde., hg. v. Richard Tuck, Indianapolis 2005, im Folgenden ,Rights‘. 6 IBP II.2.10 – 13 = Rights, S. 437.

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Ein Beispiel hierfür ist John Lockes Theorie der Aneignung („to mix one’s labour“, „without any express Compact of all the Commoners“) unter dem Vorbehalt „as much as a Man Tills, Plants, Improves, Cultivates, and can use the Product of, so much is his Property“7, wobei „enough and as good is left for others“.8 Die Forschungsliteratur ist sich uneinig darüber, wie Grotius’ Position eingeordnet werden soll. Ein Grund liegt zu einem bestimmten Ausmaß darin, dass Grotius nicht in allen Details klar und prinzipientreu argumentiert. Ich werde hier nicht die ganze Bandbreite der Interpretationen darlegen, sondern mich darauf beschränken, zu zeigen, dass man bei Grotius von einer funktionalistischen Analyse von Eigentum sprechen könnte, bei der Eigentum und Recht Teile der gleichen Debatte sind. Die hierfür entscheidende Argumentation entwickelte Grotius zum ersten Mal im Rahmen seiner Theorie des gerechten Krieges in IPC, Kapitel VII.9 Zusammengefasst bilden hier das Recht auf Selbstverteidigung, auf Leben und Freiheit, die Pflicht zur Vertragseinhaltung und die Rechtsverletzung das Fundament des grotianischen Rechtssystems. Wie später bei Hobbes wird dieser Zusammenhang mit dem Zusatz ubi iudica deficiunt, incipit bellum verknüpft. Im Unterschied aber zu Hobbes, für den es im Krieg weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit gibt, unter7

John Locke, Two Treatises of Government, Second Treatise, London 1690, Chap. V, § 32. Zu Locke siehe James Tully, A Discourse on Property. John Locke and his adversaries, Cambridge 1980. Es ist nicht meine Intention, die Geschichte von Grundbesitz umfangreich darzulegen, obwohl eine gewisse Diskussion unvermeidbar ist. Siehe für den größeren Zusammenhang, zusätzlich zu Garnsey, Thinking about Property, die folgenden Bücher: Friedrich Carl von Savigny, Das Recht des Besitzes (Gießen 11803), hg. v. Philipps-Universität Marburg Fachbereich Rechtswissenschaften, Marburg 2011; Richard Schlatter, Private Property: The History of an Idea, London 1951; Jean-François Brégi, Droit romain. Les biens et la propriété, Paris 2009; Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart 1974; Stephen Buckle, Natural Law and the Theory of Property: Grotius to Hume, Oxford 1991; Günther Lottes (Hg.), Der Eigentumsbegriff im englischen politischen Denken, Bochum 1995; Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie, Darmstadt 1992; Udo Margedant/Matthias Zimmer, Eigentum und Freiheit. Eigentumstheorien im 17. und 18. Jahrhundert, Idstein 1993. Und neuerdings erschien Mathias Risse, On Global Justice, Princeton 2012, der diese Frage auf den Seiten 89 – 107 diskutiert. Leider habe ich dies erst nach dem Verfassen meines Aufsatzes gelesen. Das gilt auch für: M. de Wilde, ,God hath given the world to men in common‘: Grenzen aan privéeigendom in geval van nood en verspilling in het middeleeuwse en vroegmoderne natuurrecht, in: Netherlands Journal of Legal Philosophy, Heft 4, 2013, S. 8 – 28. 9 Commentary, S. 102 f. = IPC, S. 67 f.: „Prima est sui defensio, ex lege prima. […] Altera est ob rem suam, ex lege secunda: unde non resistere duntaxat licet, verum etiam dejicere. Res autem intelligenda est non tantum corporalis, sed jus etiam omne atque adeo bona fama, quae bonis jure propria est, quaque spolitari minime debent. […] Tertia, quae a plerique omissa est, ob debitum ex contractu aut simili ratione. Sed idcirco praeteritum hoc puto a nonnullis, quia et quod nobis debetur nostrum dicitur. Sed tamen exprimi satius fuit, cum et juris illa fecialis formula non alio spectet: Quas res nec dederunt, nec solverunt, nec fecerunt, quas dari, fieri, solvi oportuit. […] Quin et Baldus de pecuniario debito exprimit. […] Quarta est ob maleficium injuriamque omnem, quae iniquo animo tam facto quam verbis infertur.“ Zu den Gesetzen, die Grotius anführt, siehe IPC, Kapitel II und die Analyse dieser Gesetze in Peter Haggenmacher, Grotius et la doctrine de la guerre juste, Paris 1983, Annexe 3, S. 631 – 643. 8

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scheidet Grotius zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Krieg. Seiner Ansicht nach enthält die kollektive Weisheit der Menschheit die Argumente, welche Recht von Unrecht unterscheiden können. Menschen haben diese Frage schon immer diskutiert, da es in ihrem höchsten Interesse liegt. In allen Rechtsordnungen würden wir etwas von dieser Weisheit finden, und ebenso wie es Weisheit ist, ist es ein Ausdruck der Naturgesetze.10 Insbesondere stellt Grotius hier eine Verbindung zwischen Naturgesetz und römischem Recht her.11 In De iure belli ac pacis wiederholt Grotius gleich zu Anfang als Grundlage der Möglichkeit eines bellum iustum das zentrale Prinzip „ubi iudicia deficiunt, incipit bellum“.12 Dies ist der Kontext von res nullius und ihre rhetorische Funktion in der Auseinandersetzung in IPC, wo sie zuerst dargelegt wurde. Obwohl das Diktum, dass Krieg beginnt, wo das Recht endet und dass Gewalt mit Gewalt abgewehrt wird, in Grotius’ Zeit bereits geläufig war, radikalisierte Grotius diesen Konnex von Recht und Gewalt. Wenn ein gerechter Krieg beginnt, wo die Justiz an ihr Ende kommt, kann man nicht annehmen, dass Krieg an sich Unrecht ist. In IPC bringt Grotius frühere Gedanken zusammen und präsentiert eine zusammenhängende Argumentation auf einer höheren Ebene. Als eine Theorie von Krieg und Frieden ist sie zugleich eine Theorie der Gerechtigkeit, und als solche impliziert sie eine neue Konzeption von Person und deren Eigentum. Allerdings steht auf der praktischen Seite dieser Theorie ein radikaler Umbruch im Konzept von Individuum und Staat sowie deren Relationen, auf die sich die frühneuzeitlichen Diskussionen über Naturrecht anhaltend beziehen.13 In Bezug auf res nullius bedeutet dies, dass dieser Begriff entweder zu vernachlässigen bleibt oder zum Kernbegriff für das gesamte Denksystem von Grotius avanciert. Vier Jahre nach IPC wird Grotius in Mare liberum (1609) seine Argumentation straffen; ein Prozess, welcher sich 1613 im Manuskript Defenso capitis quinti Mari Liberi, geschrieben als Antwort auf Wilhelm Welwoods Kritik an Mare liberum aus demselben Jahr, wiederholt. Hier, im Kontext des anglo-niederländischen Konflikts um die Heringsfischerei in der Nordsee, wird der Begriff res nullius wieder in seiner doppelten Bedeutung präsentiert: zum einen das Meer als res nullius, weil niemand es für sich in Besitz nehmen kann, und zum anderen die Heringe als res nullius, weil sie ebenfalls niemandem gehören, sie aber sehr wohl von jemandem in Besitz genommen werden können.14 10

Siehe Hans W. Blom/Laurens C. Winkel, Grotius and the Stoa, Assen 2004, S. 3 – 20. Commentary, S. 105 f. = IPC VII, S. 69 f. Siehe weiter Benjamin Straumann, Is Modern Liberty Ancient? Roman Remedies and Natural Rights In Hugo Grotius’s Early Works on Natural Law, in: Law and History Review, Heft 27/1, 2009, S. 55 – 85. 12 IBP, II.1.2.1 = Rights, S. 393 – 395. 13 Siehe zu diesem Punkt auch Hans W. Blom, The Meaning of Trust: Fides between Selfinterest and Appetitus Societatis, in: Pierre-Marie Dupuy/Vincent Chetail (Hg.), The Roots of International Law/les fondements du droit international, Liber amicorum Peter Haggenmacher, Leiden 2013, S. 39 – 58. 14 Dies wäre in dem Sinne zu verstehen, dass darauf keine Steuern erhoben werden dürfen. 11

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In IBP (1625) wird Grotius das Eigentum zu einem Hauptbestandteil seiner Konstruktion machen, während res nullius als Fachbegriff für Dinge, die prinzipiell niemandes Eigentum sein können oder als Eigentum verfügbar wären, aber noch niemandem gehören, etabliert ist. Grotius’ Theorie von Eigentum entwickelte sich zwischen den Jahren 1603 und 1625 in eine kohärente juristisch-politische Konstruktion mit dem gebotenen Hinweis auf die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem, zwischen direktem und indirektem Besitz und zwischen Naturgesetzen und Gesetzen von Nationen. Man könnte sagen, Grotius hat erfolgreich die iberische Anwendung von res nullius als Argument für den Kolonialismus entschärft und dabei eine neue Herangehensweise an Politik und Gesetz entwickelt.15

II. Die Wiederentdeckung des Grundsatzes „Gott hat die Welt der gesamten Menschheit gegeben“16 Res nullius wurde manchmal als kolonialistisches Feigenblatt verstanden, das brutale Eroberungen verschleiern sollte. Aus dem ein oder anderen Grund wurde gewöhnlich so argumentiert, dass koloniale Siedler die Vorstellung hatten, dass das Land der Urbevölkerung – sofern vor Ort – irgendwie nicht tatsächlich gehört.17 Der australische Philosoph Bob Goodin korrigiert in einem wenig beachteten Artikel über Verträge18 interessanterweise dieses verfehlte Argument, indem er darauf hinweist, dass eigentlich häufiger Verträge mit den eingeborenen Anführern über Verkauf und Kauf oder Unterwerfung gemacht wurden, als dass dies nicht der Fall war. Eine kritische Analyse dieser Vorgehensweise, Indigene vertraglich aus ihrem rechtmäßigen Nutzungsrecht des Landes und seinen Produkten zu bringen, entwickelt sich entweder in die eine oder andere Richtung. Goodin selber gibt vor zu zeigen, dass die 15

Dies kann keine starke Präsenz der scholastischen Autoren bei Grotius während dieser Jahre voraussetzen, im Gegenteil: Das iberische Argument zu schwächen, ist am effizientesten, wenn ihre ,eigenen‘ Schreiber zitiert werden können. Siehe Annabel Brett, Liberty, Right and Nature: Individual Rights in Later Scholastic Thought, Cambridge 1997; Gustaaf van Nifterik, Vorst tussen volk en wet: over volkssoevereiniteit en rechtsstatelijkheid in het werk van Fernando Vázquez de Menchaca (1512 – 1569), Rotterdam 1999; Martti Koskenniemi, The Political Theology of Trade Law: the Scholastic Contribution, in: Ulrich Fastenrath et al. (Hg.), From Bilateralism to Community Interest. Essays in Honour of Judge Bruno Simma, Oxford 2011, S. 90 – 112. 16 „Deus enim res omnes non huic aut illi dederat, sed humano generi“. IPC, S. 215; Grotius, Mare liberum, Cap. V; ders., Free Seas, S. 22. 17 Siehe Richard Tuck, The Rights of War and Peace. Political Thought and the International Order from Grotius to Kant, Oxford 1999, S. 47 – 50; Francesca Falk, Thomas Hobbes’ horror vacui und John Lockes leeres Land. Postkoloniale Perspektiven auf die politische Philosophie, in: Historische Anthropologie, Heft 19/2, 2011, S. 292 – 310; für den australischen Fall siehe Merete Borch, Rethinking the Origins of Terra Nullius, in: Australian Historical Studies, Heft 32, 2001, S. 222 – 239. 18 Robert E. Goodin, Waitangi Tales, in: Australasian Journal of Philosophy, Heft 78, 2000, S. 309 – 333.

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Vertragstheorie an sich keine ausreichende Grundlage habe und dass sie es nicht leisten könne, zwischen rechtmäßigen und betrügerischen Verträgen zu unterscheiden. Auf eine andere Weise lässt sich vom kolonialen Feigenblatt sprechen, indem man deutlich macht, dass das Konzept von Verträgen an sich nicht mit einer kolonialen Einstellung zu vereinbaren sei und dass die indigenen Völker die Verträge so verstanden hätten, dass diese ihre Anerkennung als gleichberechtigte Partner enthielten und dass sie irgendwann – eher früher als später – im Gegenzug einen Vorteil daraus empfangen würden. Res nullius als einen Anreiz für kolonialistische Eroberungen zu betrachten, ist daher nicht nur inkorrekt, sondern überspielt ernsthafte Probleme rechtlicher Art zwischen Kolonialisten und Indigenen.19 Natürlich gibt es Fälle, in denen eine Referenz auf res nullius angebracht zu sein scheint. Die unbewohnten Falklandinseln/Malediven sind ein solcher Fall, auch wenn über die derzeitige Herrschaft gestritten wird. Und in solchen Fällen stammen die rechtlichen Rahmenbedingungen direkt aus dem römischen Recht. Die Konzeption von Mare liberum (1609) ist um zwei miteinander verbundene Argumente aufgebaut. Eines davon ist die kritische Diskussion des portugiesischen Anspruchs der Herrschaft über Südostasien unter Einbeziehung aller möglichen Grundlagen eines solchen Anspruchs: päpstliche Schenkungen, einige andere Souveränitätsrechte oder Grundeigentum. Die rhetorische Vorgehensweise soll beweisen, dass nur occupatio die rechtmäßige, durch das Naturgesetz zu rechtfertigende Weise ist, in der etwas angeeignet werden kann; da das Meer nicht zu besetzen ist, ist es prinzipiell eine res nullius. Das andere Argument handelt von der Natur des Grundbesitzes, und dabei übernimmt Grotius eine Aufteilung von Grundbesitz als Ausgangspunkt, die er bei Marcian fand20: res nullius, res communis und res privata. Hier wird die rhetorische Strategie verfolgt, dass die kosmopolitische Perspektive aufgrund der Annahme von res communis funktioniert; und dass res communis, Recht und Krieg in einer zusammenhängenden Argumentation verbunden sind. Das Schöne an einer solchen Aufteilung ist, dass sie von einer exklusiven und umfassenden Abtrennung ausgeht, aber dennoch nach einer Begründung verlangt. Die Geschichte dieser juristischen Begriffe ist Teil der Geschichte des römischen Rechts, einer pragmatischen und fallorientierten Tradition rechtlicher Stellungnahmen, welche nur teilweise in den Institutiones des Justinian in einem Rechtssystem systematisiert wurden. Insbesondere wurde der Begriff der res communis nicht besonders gründlich entwickelt. Richard Perruso beschreibt die Situation folgendermaßen: „An opinion by Marcian states: Quaedam naturali iure communia sunt omnium, quaedam universitatis, quaedam nullius, pleraque singulorum, quae variis ex causis cuique adquiruntur. Et quidem naturali iure omnium communia sunt illa: aer, aqua profluens, et mare, et per hoc litora maris [Digesten I, 8, 2; HWB]. While similar 19

Benton/Straumann, Acquiring Empire by Law, S. 1, legen dies ebenso aus. Siehe Richard Perruso, The Development of the Doctrine of Res Communes in Medieval and Early Modern Europe, in: Legal History Review, Heft 70, 2002, S. 69 – 93, hier S. 71. 20

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language appears in an opinion by Ulpian at D. 47, 10, 13, 7, most of the Digest opinions characterize all property that was set aside from private ownership and provided for the use of everyone as public, not common. This is consistent with the distinctions set out in the Institutes of Gaius.“21 Die Meere und die Küsten sind gemeinsames Eigentum (keine res nullius), auch wenn Perruso anmerkt, dass in diesem Fall die Bedeutung von common [gemeinsam] nicht klar sei, bedenkt man die fehlende Unterstützung von Marcians Unterscheidung in common [gemeinsam] und public [öffentlich] in anderen Texten des römischen Rechts. Perruso rekonstruiert die spätere Geschichte des Gemeinschaftseigentums so, dass nur im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert eine Verbindung zwischen Marcian und der Stoa (Cicero, Seneca und auch Ovid) Sinn zu machen schien. Insbesondere die stoischen Philosophen interpretierten res communis hilfreich für die Konstruktion einer neuen Theorie von Grundeigentum (Cicero Off. I.16 und Pro Sexto, 26). Senecas Deklaration (in benef. IV.28.3) „Gott hat die Welt der gesamten Menschheit übergeben“ half, res communis von res privata zu unterscheiden: Was Gott den Menschen als Gemeinschaft übergab, gehörte der Menschheit, bevor eine politische Ordnung etabliert wurde und machte dabei res communis zu einem Gegenstand des Naturrechtes (im Unterschied zum Zivilrecht). Ovid gibt in den Metamorphosen eine Darstellung der Ursprünge von Privateigentum aus dem usus communis.22 Wir werden sehen, dass Grotius diese Interpretationen aufgreift und sie gegenüber der Idee verteidigt, dass common [gemeinsam] public [öffentlich] ist. Ferner hat in diesem Zusammenhang Yan Thomas darauf hingewiesen, dass religiöse und gemeinschaftliche Objekte, weil sie als „unbezahlbar“ gelten und damit außerhalb eines ökonomischen Bezugssystems liegen würden, ihre Zugänglichkeit für communis usus behielten.23 Indes bezieht sich Perruso auf Robbe hinsichtlich des Arguments, dass Marcian trotzdem keine separate juristische Behandlung für diese res communis bereithält.24 Wie sieht es nun hierzu bei Grotius aus? Scharf wird zwischen dem, was niemandem gehört, und öffentlichem Besitz unterschieden: „Quod in littore quis aedificaverit eius erit; nam littora publica non ita sunt ut ea quae in patrimonio sunt populi, sed ut ea quae primum a natura sunt prodita et in nullius adhuc dominium pervenerunt. 21 Perruso, The Doctrine of Res Communes, S. 71. Es ist erwähnenswert, dass, welche Uneinigkeit mit Grotius die Vertreter von Pufendorf und Wolff auch hatten, sie alle diese marcianische Meinung zitierten, in der er Formen von Regierung im Umgang mit res nullius unterscheidet, siehe z. B. Pauli, De iure principis circa res nullius and Nettelbladt, Theoria generalis doctrinae de iure in re quae est res nullius. 22 Ovid, Metamorphosen, VI, 346. 23 Yan Thomas, La valeur des choses. Le droit romain hors la religion, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, Heft 57/6, 2002, S. 1431 – 1462. 24 Siehe Perruso, The Doctrine of Res Communes, S. 15 zu U. Robbe, La differenza sostanziale fra ,res nullius‘ e ,res nullius in bonis‘ e la distinzione delle ,res‘ pseudo-marcianea ,che non ha ne capo ne coda‘ [Pubblicazioni dell’Istituto di scienze giuridiche, economiche, politiche e sociali della Università di Messina, n. 112], Mailand 1979, S. 212.

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Non potuit clarius distinguere ea quae nullius sunt propria a publicis.“25 Hier untergräbt Grotius eine Tradition des quasi unbegrenzten Zugriffs auf ursprüngliches Allgemeingut in klassischen Naturrechtslehre, welche eine Aneignung von praktisch allem erlauben würde. Grotius’ Strategie ist es, praescriptio abzustreiten und den Status der Naturrechtsgrundsätze von einer zivilen Ordnung abhängig machen. Occupatio kann nur akzeptiert werden, sofern das beschlagnahmte Objekt occupatio unterworfen ist.26 Der Grund, an dieser Stelle auf res nullius zu referieren, liegt in der Entwicklung von res communis, wie Perruso sie detailliert dargestellt hat. Das heißt, die Abwesenheit von res communis im römischen Recht (außer bei Marcian) ließ es Grotius als erforderlich ansehen, seine Sichtweise im Gewand des gebräuchlicheren Konzeptes von res nullius zu artikulieren, obwohl res nullius diese Doppelbedeutung von ,gehört noch niemandem‘ und ,kann niemandem gehören‘ hat. Aber Grotius brauchte die res communis, um seinen wichtigsten Punkt anzuführen: Nicht alle Dinge können angeeignet werden, weil das eine Lawine zivilrechtlicher Prozesse auslösen würde. Damit sind wir wieder beim Gegenstand des vorherigen Absatzes angelangt: Worin liegt das Wesen und die Legitimation von Aneignung aus dem ursprünglichen Allgemeingut? Das bedeutet: Wo befindet sich die Trennlinie zwischen ,noch niemandes Eigentum‘-res nullius und ,kann nicht besessen werden‘-res nullius?

III. Eigentum und das Völkerrecht: rebus communibus pro communibus uti Zur Frage der Trennlinien zwischen den beiden Bedeutungen von res nullius findet sich in Mare liberum wenig. Der Anlass dieser kurzen Schrift war, den globalpolitischen Entwicklungen während der Verhandlungen mit Spanien, die den zwölfjährigen Waffenstillstand (1609 – 1621) vorbereiteten, entgegenzuwirken, weil diese Entwicklungen die Niederlande vom Handel mit Ostindien auszuschließen schienen. In diesen frühen Tagen war in den Generalstaaten noch nicht allgemein verstanden worden, wie profitabel die Niederländische Ostindienkompanie sein würde, und es gab die Vorstellung, dass sie es mit etwas Lobbyarbeit in Den Haag werden könnte. Aus diesem Grund hat Grotius den Abschnitt 12 aus IPC umgearbeitet, und als Mare liberum veröffentlicht. Was ließ Grotius bei der Veröffentlichung von 1609 unberücksichtigt, was im Manuskript von 1604/05 noch enthalten war? Zunächst wurde in IPC argumentiert, dass res nullius nicht anwendbar ist, wenn in einem Krieg Feindeseigentum in Besitz genommen wird, da auch ein triftiger Grund hierfür

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Hugo Grotius, Defensio Capitis quinti Maris liberi (MS: 1613), in: Samuel Muller, Mare clausum. Bijdrage tot de geschiedenis der rivaliteit van Engeland en Nederland in de zeventiende eeuw, Amsterdam 1872, S. 331 – 361, hier S. 339. 26 Siehe auch Grotius, The Free Seas, S. 116.

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vorliegen muss.27 Daraufhin erfolgte in IPC die Unterscheidung zwischen Dingen, die res nullius genannt werden (wie z. B. wilde Tiere, Fische und Vögel) und in Privatbesitz gelangen können, und solchen, die für immer von solchen Inbesitznahmen auszuschließen sind. Mit Bezug auf Cicero referierte Grotius dann hinsichtlich letzterer auf deren Primärfunktion, nämlich dass sie in ihrer Eigenschaft als Gemeingüter der ganzen Menschheit zum gemeinsamen Nutzen erhalten bleiben müssen (rebus communibus pro communibus uti).28 Mit diesem Grundsatz der gemeinsamen Nutzbarkeit von Gemeingütern wird ein Konzept von Allmende begründet, das sich auf zwei Pfeiler stützt: die Unbesitzbarkeit von Gemeingut sowie die Zugänglichkeit dieser Güter für den allgemeinen Gebrauch. Beim ersteren geht es um die Einschränkungen, inwieweit eine Aneignung legitim ist, letzteres beinhaltet die moralische Verpflichtung – wie schon bei Cicero formuliert und später bei Locke wiederholt –, dem anderen genauso viel zu überlassen, wie man für sich selbst beansprucht. Die moderne Diskussion dreht sich dagegen um die Begrenzungen, welche die Verknappung von Rohstoffen dem Gebrauch von Gütern setzt, die für alle Menschen notwendig sind. Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung sind eine Konsequenz aus einem selbstschädigenden, oder besser: selbstzerstörerischen Umgang mit res communis. Ökonomen benennen die Ursachen dieser sogenannten äußeren Wirkungen damit, dass diese Gegenstände nicht Teil des Marktes sind. Der Markt für die CO2-Emissionsrechte ist hierfür ein Beispiel. Das Quotensystem in der europäischen Fischerei ist wiederum ein Beispiel für eine andere Herangehensweise, in der das Allgemeingut als begrenzte Ressource für alle verstanden wird, und die selbst auferlegte Zurückhaltung erfordert. Um die „Tragödie der Allmende“ („tragedy of the commons“) zu verhindern, müssen wir nach dem Motto: ,Was mehr wird, wenn wir teilen: vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter‘, mit „Zusammenarbeit“ beginnen.29 Diese Herangehensweise erregt neuerdings viel Aufmerksamkeit. Zwei komplett verschiedene Zugänge zur selben Problematik bieten zum einen Charles Yves Zarka und zum anderen Ellen Frankel Paul an.30 Zarka ist der derzeitige Vertreter einer Reihe von Analysten, angefangen von Agamben bis Hardt und Negri,31 während Frankel Paul eine libertäre Version der Analysten der Theorie der kollektiven Ent27

Caput 4, II quaestio = Commentary, S. 71 f. IPC Kap. XII = Commentary, S. 322 f. 29 Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen: vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, übers. v. Silke Helfrich, München 2011. 30 Charles Yves Zarka, Réflexions sur la tragédie de notre temps: De l’appropriation à l’inappropriabilité de la Terre, in: Bulletin de la Société française de Philosophie, Heft 106/4, 2012, S. 1 – 40; Ellen Frankel Paul, Property Rights and Eminent Domain, Piscataway (NJ) 2008. 31 Giorgio Agamben, La communità che viene, Mailand 1990; Michael Hardt/Antonio Negri, Commonwealth, Cambridge (MA) 2009; Roberto Esposito, Communitas, Turin 2006; Maria Rosaria Marella (Hg.), Oltre il pubblico e il privato. Per un diritto dei bene communi, Verona 2012. 28

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scheidungen darstellt, zu der Elinor Ostrom und andere gehören.32 In den Arbeiten von Jan Laitos33, der von einem Recht des Nichtgebrauchs spricht, findet sich eine radikale Umkehr: „we show how the destruction of this critical nonuse component of natural resources is creating many of the alarming environmental changes that are so disturbing to the planet. Then, through a series of analytical arguments founded in economic game theory, we illustrate that sustainable resource use can only be achieved if legal rights are bestowed upon not just human resource users, or humans who benefit themselves from resource nonuse, but also upon the resource itself. We define this legal right as the resource’s ,right of nonuse‘. Establishing a ,right of nonuse‘ effectively privatizes a resource, facilitating a cooperative game that is between three kinds of players: human resource users, humans who selfishly prefer resource nonuse, and the resource itself.“34

IV. ,Kolonialismus light‘: eher eine Ideologie des Handels als der Eroberung In diesem Zusammenhang ist es erhellend, das Augenmerk auf eine besondere Form des Kolonialismus zu werfen, wie ihn beispielsweise Willem Usselincx (1576 – 1647?)35 für die holländische Fernhandelspolitik zu Beginn des 17. Jahrhunderts konstatiert hat. Die Frage, welche Usselincx sich 1622 in More excellent obseruations gestellt hat, lautet: Wäre es besser gewesen, einen weiteren Frieden mit Spanien zu schließen und weiterhin den Ostindienhandel zu betreiben (statt erneut Krieg zu führen)? Er legt seine Position folgendermaßen dar: Handel ist für die Niederlande essentiell, es gibt keine andere Grundlage für Einkommen. Sie sind die besten Händler und Seefahrer der Welt. Friede ist essentiell für sie, weil es ohne Frieden keinen Handel gibt. Aber ein Friede ohne Handel ist für sie nicht akzeptabel. „Friendship, commerce, and conseruation, are the necessary consequences of peace, according to the generall laws of nature, of all people, and of all times, conuersation and commerce, being signes of friendship, and of peace, which is denied to no man, but to an enemie.“36 32 S.V. Ciriacy-Wantrup/Richard C. Bishop, Common Property as a Concept in Natural Resources Policy, in: Natural Resources Journal, Heft 15, 1975, S. 713 – 728; Doris A. Fuchs, An Institutional Basis for Environmental Stewardship. The Structure and Quality of Property Rights, Dordrecht 2011; David Grinlinton/Prue Taylor (Hg.), Property Rights and Sustainability. The Evolution of Property Rights to Meet Ecological Challenges, Leiden 2011. 33 Jan G. Laitos, The Right of Nonuse, Oxford 2012; Jan G. Laitos/Catherine M. H. Keske, The Right of Nonuse, in: Journal Environmental Law and Litigation, Heft 25, 2010, S. 303 – 384. 34 Ebd., S. 303. 35 Zu dem in Antwerpen geborenen holländischen Immigranten und Kaufmann Willem Usselincx siehe die prägnante Biographie von W. P. C. Knuttel, in: P. C. Molhuysen/P. J. Blok (Hg.), Nieuw Nederlandsch biografisch woordenboek, Bd. 3, Leiden 1914, S. 1259 – 1261. 36 Willem Usselincx, More excellent obseruations of the estate and affaires of Holland: In a discourse, shewing how necessarie and conuenient it is for their neighbouring countries, as

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Die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) generierte sehr erfolgreich Gewinne: Zwischen 1595 und 1602 fuhren 46 Schiffe nach Ostindien, von denen 43 reich beladen zurückkehrten. Während der letzten elf Jahre waren kontinuierlich 30 Schiffe mit zusammengenommen 5000 Männern in Ostindien. Wenn man 1605 einhundert Gulden in die VOC investiert hatte, konnte man seinen Warenbestand nach den vergangenen 16 Jahren für 500 Gulden wieder verkaufen.37 Man frage sich, fährt Usselincx fort, welchen Vorteil das Allgemeinwohl aus dieser privaten Aktiengesellschaft erfährt? Der Einzelne könne ohne das Volk bestehen und mag in andere Länder ziehen. „But the public must stay and see itself become weak, and decrease in force and power, as her trade and traffic decay. For according to the proportion thereof, necessarily also the number of inhabitants decreases, and the power of the state likewise.“38 Überdies müssen die Schiffe und Seeleute ausgerüstet werden, was geschäftiges Treiben ins Inland bringt und den Seefahrern ihre Heuer. Die Ostindienkompanie hat den Handel übernommen, der früher in Venedig und später in Portugal stattfand. Jetzt sind die Spanier gezwungen, in Amsterdam einkaufen zu gehen. Die VOC etablierte ihren Handel, indem sie eine aktive Festungspolitik betrieb. Eine ihrer zehn ostindischen Festungen war Batavia auf der Insel Java, wo Angehörige zahlreicher Nationen unter dem Schutz des Gouverneurs friedlich und freundschaftlich miteinander Handel treiben würden, weshalb einheimische Fürsten darum gebeten hätten, ihre Söhne zur Unterrichtung in der christlichen Religion nach Holland schicken zu dürfen.39 Aber dann lenkt Usselincx die Diskussion nach Westindien, wo die Situation eine andere ist. Keine örtlichen Prinzen hier, mit denen man sich verbünden kann, sondern Einheimische, die von den Spaniern unterworfen sind. Die Holländer haben durch den Handel einen Fuß in der Tür. Es wird behauptet, dass der Reichtum Westindiens well as the Netherland prouinces, to trade into the West Indies. […] Faithfully translated out of the Dutch copie, London 1622, S. 1. 37 Neue Studien stützen Usselincx’ Analyse. Siehe besonders Oscar Gelderblom/Abe de Jong/Joost Jonker, The Formative Years of the Modern Corporation: The Dutch East India Company VOC, 1602 – 1623. CGEH Working paper no. 36, Utrecht 2012, Zugang über http:// www.cgeh.nl/working-paper-series (letzter Zugriff 1.12.12); Robert Parthesius, Dutch Ships in Tropical Waters. The Development of the Dutch East India Company (VOC) Shipping Network in Asia 1595 – 1660, Amsterdam 2010; Siegfried Huigen/Jan L. de Jong/Elmer Kolfin (Hg.), The Dutch Trading Companies as Knowledge Networks, Leiden 2010; C. Lesger, Handel in Amsterdam ten tijde van de opstand. Kooplieden, commerciële expansie en verandering in de ruimtelijke economie van de Nederlanden ca. 1550 – 1630, Hilversum 2001; Oscar Gelderblom/Joost Jonker, Public Finance and Economic Growth. The Case of Holland in the Seventeenth Century, in: The Journal Of Economic History, Heft 71, 2011, S. 1 – 39; Pieter C. Emmer/Willem Klooster, The Dutch Atlantic, 1600 – 1800. Expansion without Empire, in: Itinerario: European Journal of Overseas History, Heft 23, 1999, S. 48 – 69; Tapan Raychaudhuri, Jan Company in Coromandel 1605 – 1690. A Study in the Interrelations of European Commerce and Traditional Economies, Den Haag 1962. 38 Usselincx, More excellent obseruations, S. 5. 39 Ebd., S. 10.

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aus Gold und Silber bestehe, aber das stimmt nicht. Es sind Früchte und andere Produkte wie Zucker, Ingwer, Baumwolle, Holz, Tabak. Usselincx beschuldigt die Spanier, die ursprüngliche Gesellschaft zu zerstören, welche daraufhin verschwunden sei, anstatt „civil and polliticke“ zu werden. Schließlich hätten sie sich von der Arbeit abhängig gemacht, um die Früchte, die durch die Arbeit reiften, zu genießen.40 Er spricht dann ebenso vom Hinterland, wo die Spanier keinen Zugang haben, weil die Völker hier über ein politisches System verfügten, „where we in time might obtaine their good-wills: in which countries we might erect our colonies, and by that meanes traficque there, and without doubt better, conueniently, and with more profit.“41 Er behandelt Themen wie die Hitze, die Bereitstellung der erforderlichen Männer, die falsche Idee, dass Sklaverei profitabel sei und endet mit einer detaillierten Erörterung der Profite, die zu erwarten seien.42 Zusammengefasst versucht Usselincx in seinem Pamphlet von 1622, einen anderen ,Kolonialismus‘ zu skizzieren, als ihn die Spanier betreiben würden; einen, in dem es weniger um Eroberung von Land als um Gewinne aus Handel und Produktion ging. Usselincx ist hier sozusagen schon über das Vokabular von res nullius als Legitimationsbegriff von Eigentumsbegründung hinaus. Händler tauschen immer ein, was ihnen gehört (bis zur Einführung von finanziellen Derivaten an den Börsen), und was sie anbieten, ist der Gebrauchswert der Dinge, die sie verkaufen. In diesem Sinne wiederholt Usselincx Grotius’ Analyse, welche als Erstes den Nutzen vor Eigentum und Herrschaft stellt. Das resultiert in dem ,Kolonialismus light‘-Konzept. Wie und in welchem Umfang ,Kolonialismus light‘ trotzdem durch den kolonialistischen Imperialismus ersetzt wurde, ist ein anderes Thema, und geht über die Reichweite dieser Schrift hinaus. Es muss genügen, wie aus der älteren Geschichtsschreibung hervorgeht, dass dieser Wechsel durch Britanniens weltweite Seeherrschaft herbeigeführt und durch das viktorianische Empire installiert wurde. Neuere Forschungen zeigten, dass der Übergang zum Imperialismus erst im späten 18. Jahrhundert stattfand43 und sich daher nicht sehr von der holländischen Kolonialpolitik des frühen 19. Jahrhunderts unterscheidet. Viele Engländer waren in die Kolonialismusthematik involviert. Ein Beispiel ist Richard Hakluyt mit seiner Ausgabe von Grotius’ Mare liberum, so wie John Selden und natürlich John Locke. Und als Nachkömmlinge im Kolonialismusgeschäft eiferten sie ihren kolonialen Konkurrenten nach und versuchten ihren Erfolg zu übertrumpfen: „The English came late, and they began, as most newcomers do, as

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Ebd., S. 14 f. Ebd., S. 16. 42 Ebd., S. 22 f. Vgl. Giuseppe Dari-Mattiacci, Slavery and Information, in: Amsterdam Center for Law & Economics Working Paper Paper No. 2011 – 11. 43 Philip J. Stern, The Company-State. Corporate Sovereignty and the Early Modern Foundations of the British Empire in India, Oxford 2011. 41

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self-conscious imitators.“44 Der berühmteste Fall eines kolonialistischen Wettbewerbs war der zwischen den englischen und niederländischen Siedlungen an der nordamerikanischen Ostküste, der das Gebiet von Virginia über New York und Connecticut betraf und seinen Höhepunkt 1662 in der militärischen Übernahme von NeuAmsterdam und Neu-Holland durch eine britische Flotte hatte.45 Wie überall sonst hatten die Siedler sich mit den indigenen Stämmen über die Bedingungen der Besiedlung geeinigt, indem sie Land kauften oder sich auf andere Art vertrugen. Die Eroberung der Briten führte dazu, dass aus diesen teilweise privaten, teilweise öffentlichen Arrangements ein staatliches wurde, beispielhaft in der Patenturkunde des Earl of York (daher der Name ,New York‘). Wurde der ,Kolonialismus light‘ in den imperialistischen Kolonialismus transformiert? Das steht immer noch zur Debatte. Philip Stern führt an, dass sich der britische Kolonialismus nicht so sehr vom niederländischen unterschieden habe. Der Fall, den Stern bemüht, bezieht sich hauptsächlich auf Indien, nicht auf Amerika. Trotzdem argumentiert er, dass das Handelsnetzwerk der britischen East India Company so lange unbehelligt wie ein Firmen-Staat funktionierte und die Öffentlichkeit mit Gütern versorgte, die normalerweise der Staat bereitstellte, bis die britische Armee herbeigerufen wurde. Nur das Militär vollzog Eroberungen und etablierte dadurch ein Herrschaftsverhältnis.46 In Amerika war das anders. Der Wettbewerb mit anderen europäischen Staaten verlangte nach einer stärkeren Präsenz der britischen Regierung und die Notwendigkeit einer landwirtschaftlichen Entwicklung erforderte den Besitz von Land. Nun mag man einwenden, dass die gleichen Zutaten in beiden Fällen nur etwas anders gemischt waren. Der Handel mit Biberfellen und indianischen Gütern war einfach nicht genug für ein vollwertiges und autarkes Handelssystem. Obwohl Fallensteller-Gemeinschaften weiterhin an der Grenze zur Wildnis bestehen blieben, verlangte das komplexe Handelssystem an der Küste Neuenglands ein ausgeklügeltes System von (Selbst-)Regierung, welches weder die Handelsunternehmen noch die Regierung zuhause leisten konnten. Nachdem die Revolution dieses Problem ausgeräumt hatte, konnte die wahre Eroberung Nordamerikas beginnen und der Westen wurde letztendlich gewonnen. Die historischen Umstände zwangen

44 Anthony Pagden, The Struggle for Legitimacy and the Image of Empire in the Atlantic to c.1700, in: Nicholas Canny/Alaine Low/Wm Roger Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. I: The Origins of Empire: British Overseas Enterprise to the Close of the Seventeenth Century, Oxford 1998, S. 34 – 54, hier S. 34. 45 Die Geschichte wird erzählt in Russell Shorto, The Island at the Center of the World. The Epic Story of Dutch Manhattan and the Forgotten Colony That Shaped America, New York 2004; Jaap Jacobs, New Netherland. A Dutch Colony in 17th century America, Leiden 2005. 46 Stern, The Company-State; John McLaren/A.R. Buck/Nancy E. Wright, Despotic Dominion. Property Rights in British Settler Societies, Vancouver 2005; David Lea, Property Rights, Indigenous People and the Developing World. Issues from Aboriginal Entitlement to Intellectual Ownership Rights, Leiden 2008.

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die Engländer jetzt, res nullius und etwas, das manchmal „the agriculturalist argument“ genannt wird, in Anschlag zu bringen.47 Das geschah durch John Lockes „in the beginning all the world was America“, indem dieses Argument mit der Vorstellung vom Naturzustand verknüpft wurde. Auf eine Weise sind die amerikanischen Indianer immer noch im natürlichen Zustand, haben nur wenig bis gar keinen Grundbesitz und nur eine begrenzte individuelle Selbstregierung, weshalb die Landnahme durch die Europäer keine Eroberung sei, sondern das Bringen von Fortschritt („the burden of the white man“) impliziere – eine Denkannahme, welche sich in das Argument zu occupatio und possessio (das Landwirtschaftsargument) aus dem römischem Recht einfügt. Locke möchte zwei Hindernisse umgehen: Das erste ist das Konzept von Eroberung, daher res nullius; das zweite ist das Problem mit dem privaten Grundbesitz, denn dieser hätte Kolonialismus nicht erlaubt. Lockes Argumentation ist allgemein bekannt. Er wiederholt Grotius in der griffigen Phrase: „God gave the World to Adam and his Posterity in Common“. Aber dann fährt er in einem anderen Tonfall fort: „America is still a Pattern of the first Ages in Asia and Europe, whilst the Inhabitants were too few for the Country, and want of People and Money gave Men no Temptation to enlarge their Possessions of Land, or contest for wider extent of Ground“. Die sich in diesem (Natur-)Zustand befindlichen amerikanischen Ureinwohner „exercise very little Dominion, and have but a very moderate Sovereignty.“ Nicht die zivilisierte Gesellschaft Europas, wo die Individuen die „Kraft der Natur“ besiegt hätten, sondern die „Indianer“ sind „still in the state of Nature, each being, where there is no other, Judge for himself, and Executioner.“48 Darauf bezogen hat daher Anthony Pagden zu Recht konstatiert: „In their own self-image the English, then, became not the conquerors of Indians but their potential saviours, not only from paganism and pre-agricultural modes of subsistence, but also from Spanish tyranny. […] In exchange for this much-needed help, increasingly large areas of territory for their own use was all these harbingers of European technology required.“49 In einer später gestrichenen Passage des Manuskripts De iure praedae hatte Grotius bereits bemerkt, dass Amerika sich von Ostindien unterscheide: „alia enim Indiae, alia Americae ratio est.“50 Wir können mit Sicherheit voraussetzen, dass er sagen wollte, dass dort die Errichtung von Kolonien möglich wäre, sogar unter den Rahmenbedingungen des ,Kolonialismus light‘ – d. h. Landbesitz zusätzlich 47 Pagden, Struggle for Legitimacy, S. 43; Borch, Rethinking the Origins of Terra Nullius, S. 231. 48 Locke, Second Treatise, §§ 108, 87. 49 Pagden, Struggle for Legitimacy, S. 52. 50 Das Manuskript befindet sich in der Leidener Universitätsbibliothek, Ms. BPL 917, fol. 98r. Es wurde reproduziert in: Grotius, Commentary, Bd. II: The Collotype Reproduction, Oxford 1950.

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zu den Handelsposten –, gerade wie es Usselincx zur selben Zeit beschrieb: Landwirtschaft ist die grundlegende Angelegenheit in den Amerikas, und die „Bürde des weißen Mannes“ bestehe darin, fleißige und unternehmungslustige Menschen in diese Teile der Welt zu bringen. Auch Locke stimmt hier zu. Für ihn ist die Landwirtschaft das Ziel der Menschheit; „reifen, sammeln, bestellen“ verlangt nach Grundbesitz des Landes, das durch Agrikultur verbessert wird und so die „vacant places of America“51 in einen höheren Stand von Kultur und Zivilisation erhebt.

V. Die Tragik der Allmende Als Grotius die Kreatürlichkeit der Natur formulierte und betonte, dass die Welt der gesamten Menschheit gegeben worden sei, entwickelte er eine dynamische Beziehung zwischen den verschiedenen Auffassungen von Besitztum. Er begrenzt damit die menschliche Inanspruchnahme, indem er im Eigentum einen Grund sucht, d. h. hauptsächlich das Ziel, die Nutzungsmöglichkeiten des Objektes zu verbessern. Hinsichtlich seiner Zielsetzung ist es verständlich, die Besitzrechte an den Meeren auszuschließen, weil die Nutzung der Meere ihren Besitz nicht voraussetzt. Dies war auch eines seiner Argumente, weil er außerdem zeigen musste, dass ein Souveränitätsrecht unmöglich und darum Eigentumsrecht auf der Basis von Herrschaft ebenfalls ausgeschlossen war. Weiter führt Grotius an, dass der Zweck der Meere darin bestünde, Handel zwischen den jeweils als bedürftig zu betrachtenden Völkern zu ermöglichen. Das letzte Argument setzt ein gemeinschaftliches Interesse der Menschheit voraus. Darum stellt sich die Frage: An welchem Punkt steht Eigentum dem Interesse der Menschheit entgegen? Ein klassischer Fall ist der, den die Engländer in die Diskussion einbrachten: die Befischung der Meere. Überfischung kann die Interessen aller beeinträchtigen, weil keiner mehr fischen kann, wenn die Fische ausgestorben sind. Damit entsteht das Problem, wie man die Nutzung von Kollektivgütern zulassen kann, ohne sie damit zugleich ihrer Vernichtung preis zu geben. Elinor Ostrom lieferte eine Analyse von etwas, das im Original „The tragedy of the commons“ genannt wurde, indem sie vom „Drama der Allmende“ sprach.52 Die Tragödie der Allmende ist einfach gesagt die, dass das Allmendfeld im Dorf, das jeder benutzen konnte, seine Funktion verlor, weil zu viele Dorfbewohner zu viel Vieh auf das kleine Fleckchen führten. Das Drama der Allmende ist ein Prozess, in dem die Teilnehmer eine Strategie entwickelten, mit welcher sie die Allmende in einer nachhaltigen Form erhalten können. Eine Möglichkeit ist, Institutionen zu schaffen, welche die Interessen der Nutzenden so vertreten, dass alle Beteiligten davon überzeugt werden, sich aus Eigeninteresse auf Einschränkungen einzulassen, neue Methoden (wie etwa beim 51

Locke, Second Treatise, § 36. Siehe auch §§ 11, 32. Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen; andere, aber ähnliche Fragen behandelt: Elinor Ostrom/Charlotte Hess (Hg.), Understanding Knowledge as a Commons: From Theory to Practice, Cambridge (MA) 2006. 52

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Fischfang) und Forschungen (z. B. Meeresforschung) um eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu finden. Die weltweite Herausforderung der Menschheit liegt darin, die Bedingungen zu regeln, unter welchen die Erde als Handelsplatz weiter bestehen bleiben kann. Es könnte sein, dass das bloße Konzept der ,Allgemeinnutzung‘ helfen könnte, eine weltweite Tragödie der Allmende zu verhindern. Ferner gibt es Stimmen, die behaupten, dass die Idee, die Hochsee sei eine res nullius, in einer Welt der Knappheit keinen Nutzen mehr habe. Mein Standpunkt in diesem Beitrag hingegen war, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Genau mit der Behauptung, dass das Meer frei ist, weil es einen gemeinnützigen Zweck zu erfüllen hat, zeigt Grotius, dass er die wahre Beschaffenheit der Gemeingüter verstanden hat. Das zumindest hat die Diskussion um res nullius, zu Lande und zur See, gezeigt. Grotius’ Rolle im entstehenden ,Imperialismus light‘, so wie in den konzeptionellen Kämpfen der frühkapitalistischen Artikulation, war eine faszinierende Neuformulierung der klassischen Denkmuster, nicht nur eine Fußnote in der Geschichte des Seerechts.

Dereliktion Über die zunehmenden Schwierigkeiten, eine Sache herrenlos zu machen Von Doris Schweitzer Geht es in der westlichen Welt um das Eigentum, geht es immer ums Ganze: um das Subjekt, seine Identität, um die Möglichkeit der Freiheit schlechthin, ja das Recht an sich und der Staat stehen auf dem Spiel – und einiges mehr. Die Geschichte des Eigentums wird dabei erzählt aus der Perspektive seiner Gründung. Und spätestens Rousseaus Warnung vor dem „erste[n], der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein“1 weist auch in kritischer Manier auf die Gefahren dieses Gründungsaktes hin. Einmal in der Welt, wird das Eigentum für Wohl und Weh der bürgerlichen Gesellschaft verantwortlich gemacht, und genau deshalb gerät dieses „in die Welt setzen“ in den Fokus, werden die Gründungsmythen gestrickt oder kritisch beleuchtet. Im Angesicht dieser fundamentalen Arbeit am Eigentum und des Eigentums selbst erscheint die res nullius als ein aliud, ein Überbleibsel, wenn nicht gar ein Störfaktor in der so mühsam begründeten Eigentumsordnung.2 Wenn dem so ist – eine Annahme, die im Folgenden noch zur Debatte gestellt wird –, dann liegt eine Perspektivverschiebung nahe. Denn man kann jenseits eines starren Systemdenkens eine Ordnung auch dahingehend untersuchen, wie sie gerade mit solchen ,Störfaktoren‘ umgeht. Dann stellt sich aber ebenso die Frage: Wie kann man ein Ding zu einer res nullius, d. h. zu einer herrenlosen Sache machen? Oder gleichbedeutend: Wie wird man eine Sache eigentlich wieder los? Wie kann man das Eigentum wieder aufgeben – eine Sache derelinquieren, um den lateinischen Ausdruck zu verwenden? Um diese Perspektivverschiebung soll es im Folgenden gehen – aber nicht als rein abstrakte Auseinandersetzung mit der Frage von Dereliktion, res nullius und Eigentum. Vielmehr wird von einer Analyse des Rechts ausgegangen, der zufolge die Praktiken, Techniken, Verfahren, Medien und Quellen, die sich auf Recht beziehen, das 1 Jean-Jacques Rousseau, „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, in: ders., Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu editiert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn et al. 2001, S. 67 – 273, hier S. 173 (Herv. i. O.). 2 Vgl. etwa Peter Fenves, Niemands Sache. Die Idee der „Res Nullius“ und die Suche nach einer Kritik der Gewalt, in: Thomas Schestag (Hg.), Philo xenia, Basel 2009, S. 123 – 205.

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Juridische zuallererst konstituieren und darüber in seinen spezifischen bzw. systemeigenen Rationalitätstypen, epistemischen Schemata und (Kultur-)Techniken erkennbar machen.3 Insofern stehen jeweils lokale und historisch-spezifische Praktiken im Mittelpunkt. Das impliziert konkrete Beschränkungen: In sachlicher Hinsicht werde ich mich auf das Privatrecht konzentrieren, und zwar in dem Sinne, wie es mit der kategorialen Trennung des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert entstanden ist.4 Auch wenn die Abgrenzung dieser Rechtsgebiete bis heute schwer fällt bzw. regelmäßig vom Scheitern bedroht erscheint, geht es vorliegend damit um die Koppelung der res nullius an das individuelle Eigentumsrecht und der persönlichen, d. h. nicht-staatlichen Verfügung darüber – auch wenn nicht bestritten werden soll, dass das Eigentumsrecht staatlicherseits seine konkrete Ausgestaltung findet. Zudem wird das sich seit dem 1. Januar 1900 bis heute in Kraft befindliche deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) behandelt werden, was neben der sachlichen Begrenzung zugleich eine geographische wie zeitliche Einschränkung bedeutet. Man könnte gegen dieses Vorgehen auf die Universalisierungstendenz der Rechtssätze als allgemeine Regeln verweisen. Demnach wird häufig davon ausgegangen, dass im Recht universale Prinzipien oder Rechtsgrundsätze zu finden seien. Diese Annahme verliert aber aus dem Blick, dass es sich hierbei selbst um jeweils historisch-spezifische Praktiken der Universalisierung handelt, Techniken der Verallgemeinerung und Globalisierung im Sinne einer globalen Vernunft (Michel Serres). Insofern macht meines Erachtens auch eine Analyse des Rechts nur ausgehend von solchen Beschränkungen Sinn, will man sich nicht in der Diskussion über apriorische, letztlich zeit- und ortlose Wesensbestimmungen des Rechts verlieren, die immer wieder an der schieren Vielfalt der pluralen Rechtsordnungen – in historischer wie in geographischer Hinsicht – scheitern. Ausgangspunkt der Überlegungen zum Zusammenhang von Eigentum, res nullius und Dereliktion (III.) werden dementsprechend die gesetzlichen Regelungen bzgl. res nullius und Dereliktion im Gefüge des BGB bilden (I.) sowie diejenigen Literaturdebatten, Urteile und Beschlüsse der Rechtsprechung, in denen die Dereliktion zur Streitsache wurde (II.). 3

Vgl. François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a. M. 1993, S. 36, S. 52. Denn gegenüber einer vernunftrechtlichen Unterscheidung der Rechtsgebiete trat hier nun ein Auseinandertreten als systematischer und kategorischer Wesensunterschied zutage. Vgl. zu dieser Entwicklung grundlegend Martin Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht. Studien über Sinn und Funktionen der Unterscheidung, Stuttgart et al. 1968, S. 13 – 74; siehe auch Michael Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der Entstehung des modernen Staates, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen. Ihre Funktionen als wechselseitige Auffangordnungen, Baden-Baden 1996, S. 41 – 61; Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm et al. 1960.Wie Eugen Ehrlich ausführt, hatte diese Unterscheidung, die sich auf die bekannte Ulpianstelle D 1, 1, 2 („Huius studii duae sunt positiones, publicum et privatum […]“) bezieht, im römischen Recht noch keine systematische oder praktische Funktion, ja war nicht einmal einheitlich geregelt. Vgl. Eugen Ehrlich, Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen. 1. (einziger) Teil. Das ius civile, ius publicum, ius privatum, Aalen 1970, S. 159 – 200. 4

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I. Zunächst also zu den grundsätzlichen gesetzlichen Regelungen: Die Frage der herrenlosen Sache wird im BGB insbesondere in den §§ 958 ff. BGB behandelt. Einsatzort ist § 958 BGB, die Frage, wie eine Person originär, d. h. ursprünglich und nicht Kraft Rechtsgeschäft Eigentum an einer beweglichen res nullius begründen kann: „§ 958 BGB. Eigentumserwerb an beweglichen herrenlosen Sachen. (1) Wer eine herrenlose bewegliche Sache in Eigenbesitz nimmt, erwirbt das Eigentum an der Sache. (2) Das Eigentum wird nicht erworben, wenn die Aneignung gesetzlich verboten ist oder wenn durch die Besitzergreifung das Aneignungsrecht eines anderen verletzt wird.“5 Wie schon Absatz II zeigt, handelt es sich aus Sicht des BGBs bei der res nullius keineswegs um eine rechtlose Sache. So können Aneignungsrechte und -verbote, aber auch beschränkte dingliche Rechte daran bestehen.6 Doch gilt: Es besteht kein Eigentumsrecht einer Person an der Sache. Abgrenzungshorizont der res nullius im bürgerlichen Recht bildet damit das subjektive Recht des Eigentums von Personen. Beim Eigentum handelt es sich um ein absolutes Recht: Es bezieht sich nicht wie ein relatives Recht nur auf bestimmte andere Personen wie etwa die Vertragspartei. Vielmehr bezeichnet es eine interpersonale Beziehung, die gegenüber jedermann wirkt und geltend gemacht werden kann. Der öffentlich-rechtliche Eigentumsbegriff im Grundgesetz umfasst dabei (fast) jede vermögenswerte Rechtsposition.7 Demgegenüber ist das Eigentum im BGB enger gefasst, da es nur das Sacheigentum betrifft. Sachen wiederum sind nach § 90 BGB „körperliche Gegenstände“8: Diese müssen im Raum abgrenzbar und durch den Menschen beherrschbar sein.9 Das Eigentums5

Paragraphen des BGBs werden aus der aktuell gültigen Ausgabe zitiert, d. h. in der Fassung der Bekanntmachung vom 02. 01. 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909, 2003 I S. 738) zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. 10. 2012 (BGBl. I S. 2182) m. W. v. 01. 11. 2012. 6 Vgl. Jan Wilhelm, Sachenrecht, Berlin 42010, S. 438 Rn. 1031. 7 Hans-D. Jarass/Bodo Pieroth (Hg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, München 92007, S. 283, Art. 14 Rn. 6 ff. Zur Problematik, dass durch Art. 14 GG das Eigentum gegenüber dem Gesetzgeber geschützt, durch diesen aber zugleich bestimmt werden soll, vgl. Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, Heidelberg et al. 2012, S. 238 Rn. 971 – 976. 8 So heißt es in § 90 BGB: „Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände“. 9 Mangels einer solchen Körperlichkeit fallen aus dem Sachbegriff Energien, gleich, in welcher Form, Strahlen, Wärme und Schallwellen heraus; aber auch die Allgemeingüter, d. h. Licht, freie Luft und fließendes (d. h. nicht gefasstes) Wasser, gefallener Schnee etc. sind keine Sachen im Sinne des BGBs, da sie dem Abgrenzbarkeitserfordernis nicht genügen. Immaterialgüter, Rechte und Geisteswerke unterfallen ebenfalls nicht diesem Sachbegriff. Öffentliche Sachen wie Plätze, Straßen etc. sowie res sacrae unterfallen dem Sachbegriff, sind aber aufgrund der Widmung in ihrer Verkehrsfähigkeit beschränkt. Vgl. hierzu Marly, in: Hans T. Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch. Mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen. Band 1: Allgemeiner Teil 1, §§ 1 – 103, 13. Aufl., Stuttgart et al. 2000, Vor § 90 Rn. 32 – 46,

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recht bezeichnet nun – so die gemeinläufige Definition – das umfassende Herrschaftsrecht einer Person über eine Sache.10 Es umfasst innerhalb der Schranken des Gesetzes die Befugnis, die Sache zu nutzen oder dies gerade auch zu unterlassen, darüber zu verfügen (z. B. verkaufen), sie zu verbrauchen oder gerade nicht zu benutzen, zu beschädigen oder auch zu zerstören.11 Für die Perspektive des BGBs – wie im Übrigen auch für die des Strafrechts, das hinsichtlich des Diebstahls auf die Eigentumsvorschriften des bürgerlichen Rechts rekurriert – gilt also: Die Frage der Herrenlosigkeit ist an den Sachbegriff gekoppelt. Dabei ist das Eigentum zugleich an eine Sache gekoppelt – nur an einer konkreten Sache gibt es ein Eigentum – wie davon entkoppelt. Denn über das Eigentum kann gesondert von der Sache verfügt werden, ein Umstand, der wesentlich zur Verkehrsfähigkeit der Dinge beiträgt. Das römische Recht kannte zahlreiche und sehr spezielle Fälle der Herrenlosigkeit, an denen eine Okkupation (Eigentumsbegründung) möglich war. Der Romanist Rudolf von Jhering beklagte bereits 1880 – noch vor Erlass des BGBs – die beständige Abnahme der herrenlosen Sachen im Recht: „Die insula in flumine wie die in mari nata nimmt sich der Staat, ebenso den alveus derelictus; als Gegenstände der Privatoccupation figurieren sie nur noch in den Lehrbüchern […]. Sie zählen zu den ausgestopften Rechtsbegriffen unserer juristischen Museen, den Mumien, Spirituspräparaten. […] Bleibt nur noch der ager desertus […]. Ich habe noch nie von einem Fall gehört. So verschwinden die sämtlichen unbeweglichen Sachen von der Bühne. Man könnte den Verlust verschmerzen, wenn nur die beweglichen blieben! Aber auch von ihnen tritt eine nach der anderen ab; man wird an die Abschiedssymphonie von Haydn erinnert, in der ein Mitglied des Orchesters nach dem anderen sein Pult verläßt und sein Licht auslöscht. Die usupacio pro herede lucrativa – die occupatio bellica – die freie Jagd auf Fische und Wild – das freie Suchen nach Bernstein, Fossilien u.s.w. – in manchen Staaten sogar der Schatzerwerb – – lauter ausgelöschte Lichter – allgemeine Dunkelheit!“12 Die Entwicklung schreitet von der „reiche[n] Tafel des römischen Rechts, wo ein Gericht das andere überbot, von diesem schwelgerischen Mahl der Herrenlosigkeit § 90 Rn. 1 – 4. Seit 1990 sind Tiere keine Sachen mehr, werden aber in § 90a BGB der Sache gleichgestellt. 10 Otto Palandt/Peter Bassenge, Bürgerliches Gesetzbuch: mit Nebengesetzen insbesondere mit Einführungsgesetz (Auszug) einschließlich Rom I- und Rom II-Verordnungen sowie dem Haager Unterhaltsprotokoll, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (Auszug), Wohnund Betreuungsvertragsgesetz, BGB-Informationspflichten-Verordnung, Unterlassungsklagengesetz, Produkthaftungsgesetz, Erbbaurechtsgesetz, Wohnungseigentumsgesetz, Versorgungsausgleichsgesetz, Lebenspartnerschaftsgesetz, Gewaltschutzgesetz, 71. Aufl., München 2012, § 903 Rn. 1. 11 Vgl. ebd., § 903 Rn. 5. 12 Rudolf von Jhering, Das Occupationsrecht an herrenlosen Sachen einst und jetzt. Eine romanistische Elegie, in: ders./Max Leitner (Hg.), Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Wien 2009, S. 127 – 136, hier S. 135.

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zu der Bettelsuppe des heutigen Rechts“ voran, der „Vielfraß[] Eigenthum! – hat Alles zerstört“.13 Nach dem Verschwinden all dieser Rechtsbegriffe finden sich nicht mehr viele Fälle von Herrenlosigkeit im BGB, wie es am 1. Januar 1900 in Kraft getreten ist. Will man diese einteilen, so kann man folgende Differenzierung vornehmen: Eine Sache ist ursprünglich herrenlos und eine Sache wird herrenlos. Zur ersten Kategorie gehören etwa wilde Tiere, die sich in Freiheit befinden (nach § 960 Abs. I BGB), aber auch Meeresprodukte. Demgegenüber steht der Fall, dass eine Sache herrenlos wird. Dies kann geschehen durch entweder ein Ereignis: Gesetzlich geregelt ist etwa der Fall, dass ein wildes Tier, das gefangen gehalten wird, flieht (§ 960 Abs. II BGB; vgl. auch § 961 BGB bzgl. Bienen). Dieses Ereignis kann aber auch im Tod bestehen. Eine etwa heute noch umstrittene Problemstellung liegt in der Frage des Eigentums am Körper: Unterfällt nach herrschender Meinung der lebende Körper nicht dem Sachbegriff, so wird der Leichnam nach überwiegender Ansicht als herrenlose, jedoch nicht aneignungsfähige Sache angesehen.14 Eine Sache kann aber ebenso herrenlos werden durch eine bewusste, darauf zielende Handlung, durch die Eigentumsaufgabe: durch Dereliktion. Das BGB unterscheidet entlang der generellen Einteilung in bewegliche und unbewegliche Sachen zwei Fälle der Dereliktion. Für bewegliche Sachen heißt es in § 959 BGB: „Eine bewegliche Sache wird herrenlos, wenn der Eigentümer in der Absicht, auf das Eigentum zu verzichten, den Besitz der Sache aufgibt.“ Um eine Sache zu derelinquieren, muss also zum einen der Besitz aufgegeben werden. Diese Konzeption beruht auf der strikten Trennung der Bezüge zur Sache im juristischen Modell zwischen Eigentum, d. h. der rechtlichen Sachherrschaft, sowie Besitz, d. h. der tatsächlichen Sachherrschaft.15 Besitz kennzeichnet eine tatsächliche Beziehung zu einer Sache, unabhängig davon, ob der Besitzer ein Besitzrecht hat. 13

Ebd., S. 134. Vgl. Marly, in: Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch. Band 1, § 90 Rn. 5, 9 ff. m. w. N. Um diese Problematik ging es auch jüngst in den viel beachteten Entscheidungen um die Strafbarkeit der Mitnahme von Zahngold aus den Einäscherungsresten durch Krematoriumsmitarbeiter. Vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 19. 12. 2011, Aktenzeichen 2 Ws 123/11: Entnahme von Zahngold nach der Einäscherung Verstorbener, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 22, 2011, S. 1601 – 1607; OLG Bamberg, Urteil vom 29. 01. 2008, Aktenzeichen 2 Ss 125/07: Störung der Totenruhe durch Zahngoldentnahme nach Einäscherung, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 21, 2008, S. 1543 – 1547; Matthias Jahn, Wegnahme von Leichenteilen („Bamberger Zahngoldfall“), in: Juristische Schulung, Heft 5, 2008, S. 457 – 459; Hans Kudlich, Sterben und Leben in Franken … – nochmals: unbefugte Entnahme von Zahngold nach der Einäscherung, in: Juristische Arbeitsblätter, Heft 3, 2010, S. 226 – 229 m. w. N. Heute unproblematisch ist die Erbschaft: Wenn jemand stirbt, und kein Erbe vorhanden ist, tritt der Staat als sogenannter Noterbe ein. Demgegenüber gab es im römischen Recht die Figur des usucapio pro herede: Ist kein Erbe vorhanden, konnte sich nach altem Recht jedermann am Nachlass als herrenlos (res nullius) bedienen. 15 Geläufige Beispiele aus unserem Alltag, in denen Besitz und Eigentum auseinanderfallen, sind etwa Leihe und Miete. 14

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Insofern handelt es sich bei der Besitzaufgabe gem. § 959 BGB um einen sogenannten Realakt. Demgegenüber war die Frage, ob die Dereliktion ein Rechtsgeschäft darstelle und deswegen auch eine entsprechende Willenserklärung erforderlich sei, lange umstritten. Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Annahme vertreten, dass es sich bei der Dereliktion um einen Realakt handele.16 Und in den 1888 veröffentlichten Motiven zu dem Entwurfe des BGBs, wurde zwar festgestellt, dass für eine Dereliktion eine Willenserklärung erforderlich sei – so wurde in den Normtext das Wort ,Absicht‘ eingefügt – womit aber nach Ansicht der Redaktoren noch nicht entschieden sei, ob es sich damit um ein Rechtsgeschäft handele.17 Heute ist es jedoch nahezu unbestritten, dass eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung erforderlich ist. Als Willenserklärung gilt – so eine allgemeine Definition – die Kundgabe des rechtlich bedeutsamen Willens. Im Falle der Dereliktion bedeutet dies: die freiwillige und unbedingte Erklärung der Absicht, auf das Eigentum an der Sache zu verzichten. Das weitere Schicksal der Sache muss einem gleichgültig sein, so dass die Sache – wie es öfters heißt – sozusagen zum „Freiwild für jedes neue Herrschaftsverhältnis“18 werden kann. Erforderlich ist hierbei eine sogenannte einseitige, nicht-empfangsbedürftige Willenserklärung.19 Dieses bizarr anmutende Kommunikationsmodell, in dem kein Gegenüber erforderlich ist, weder zur Mitwirkung noch einfach nur zur Wahrnehmung der Willenserklärung, hat zum einen zur Folge, dass damit die Geschäftsfähigkeit des verzichtenden Eigentümers vorausgesetzt ist. Viel bedeutender aber ist zweitens, dass die Vorschriften des Allgemeinen Teils des BGBs über Willenserklärungen zur Anwendung kommen, und hier insbesondere die Frage der Auslegung und die der Wirksamkeit von Willenserklärungen (§§ 116 ff. BGB). Die Frage der Auslegung ist vor allem deshalb entscheidend, weil trotz der formalen Definition als Kundgabe eines Willens nicht unbedingt erforderlich ist, dass die Willenserklärung sprachlich artikuliert wird. Auch bei der Dereliktion muss der Verzichtswille nicht gesondert erklärt werden. Es genügt, „wenn sich der Verzichtswille aus der Art und Weise und den Begleitumständen der Besitzaufgabe erschließen läßt. Hierzu ist nicht nur die Ermittlung des tatsächlichen Willens im Wege eines Rückschlusses aus Indizien, sondern, da es sich meist um sehr allgemein gehaltene laienhafte Vor16

Vgl. etwa Ernst Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, Leipzig 1879, S. 313 – 316. Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Band III. Sachenrecht. Amtliche Ausgabe, Berlin, Leipzig 1888, § 904 (Dereliktion), S. 370 f. 18 Klaus Fritsche, Das Verhältnis von Dereliktion und Vernichtungsabsicht, in: Monatsschrift für Deutsches Recht. Zeitschrift für zivilrechtliche Praxis, 1962, S. 714. 19 Einseitig ist die Willenserklärung, weil – im Gegensatz etwa zu einem Kaufvertrag – für die Herbeiführung des rechtlichen Erfolges die Willenserklärung eines Einzelnen ausreicht. Als Beispiel kann man etwa die Kündigung nennen. Allerdings wird eine Kündigung erst dann wirksam, wenn der Gekündigte davon Kenntnis erlangt. Demgegenüber handelt es sich bei der Dereliktion um eine nicht-empfangsbedürftige Willenserklärung, wirksam also schon im Moment der Abgabe. 17

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stellungen handeln wird, auch die ,Aufbereitung‘ und juristische Qualifizierung dieses voluntativen Elements erforderlich.“20 Entscheidend ist der wirkliche Wille des Erklärenden. Dabei soll aus dem Kontext der sogenannte ,objektive Erklärungsgehalt‘ ermittelt werden.21 Im Grundsatz folgt die Dereliktion von unbeweglichen Sachen diesem Schema, wobei jedoch grundbuchbezogene Unterschiede zu beachten sind (§ 928 Abs. I BGB). Auch ein Grundstück wird dadurch herrenlos, jedoch entsteht ein Aneignungsrecht des Fiskus (§ 928 Abs. II BGB). Verzichtet er auf das Aneignungsrecht, so kann sich jeder Dritte das Grundstück aneignen.22

II. Sichtet man die Kommentare, Urteilssammlungen und das Schrifttum, so wird schnell klar, dass es sich bei der Dereliktion um eine periphere Rechtsmaterie handelt, der wenig Aufmerksamkeit zukommt. Was aber sind die Gegenstände, und was sind die Anlässe, in denen Dereliktion zu einer Streitsache wird? Gerade aufgrund der Randständigkeit der Dereliktion behandelt die rechtswissenschaftliche Literatur nicht nur tatsächlich vor Gericht sich befindliche Streitfälle, sondern konstruiert auch fiktive Fälle.23 So stellte man sich etwa anlässlich eines Zeitungsberichts am Anfang des 19. Jahrhunderts die Frage, wem bei einer Essenseinladung in einem Restaurant „[d]as Recht an der in einer Auster gefundenen Perle“24

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Gursky, in: Julius v. Staudinger (Begr.), J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Buch 3, Sachenrecht §§ 925 – 931; Anhang zu §§ 929 – 931; §§ 932 – 984 (Eigentum 2), Neubearb., Berlin 2011, § 959 Rn. 3, und weiter heißt es: „Dereliktionsabsicht bei der Besitzaufgabe wird man dann annehmen müssen, wenn dem Wegwerfenden das rechtliche Schicksal der Sache ersichtlich gleichgültig war, wenn er also zu diesem Zeitpunkt auch nichts dagegen hatte, daß sich ein anderer die Sache zueignen könnte.“ 21 Vgl. etwa LG Ravensburg, Urteil vom 03. 07. 1987, Aktenzeichen 3 S 121/87: Keine Eigentumsaufgabe an zum Sperrmüll zur Vernichtung gegebenen Bildern, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 49, 1987, S. 3142 f., hier S. 3143; LG Magdeburg, Urteil vom 08. 11. 2006, Aktenzeichen 9 O 584/06: WM-Lose bei eBay verkauft, URL: http://www.linksandlaw. de/urteil150-wm-lose.htm (letzter Zugriff 09. 11. 12). 22 Vgl. etwa BGH, Urteil vom 07. 07. 1989, Aktenzeichen VZR 76/88: Aneignung herrenloser Grundstücke nach Verzicht des Fiskus, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 4, 1989, S. 251 – 253. 23 Vgl. Gareis, Das Recht an der in einer Auster gefundenen Perle, in: Deutsche JuristenZeitung, Heft 7, 1905, S. 347 f., hier S. 348; Max Hachenburg, Juristische Rundschau, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Heft 24, 1912, S. 1513 f., hier S. 1513. 24 Vgl. Gareis, Perle; Julius Gierke, Das Recht an der in einer Auster gefundenen Perle, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Heft 8, 1905, S. 396 f.; Siegmund Schloßmann, Zum Wirtshausrecht und zur Lehre von den herrenlosen Sachen, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts, Jg. 49, 1905, S. 139 – 158.

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zukomme. Und in mehreren Abhandlungen wurde diskutiert, wie die „Kugel in der Wunde“ rechtlich zu behandeln sei.25 Auch die Gerichte beschäftigte immer wieder die Frage der Eigentumslage gemäß der Vorschriften des BGBs an Militärmaterial: Patronenhülsen, abgeschossene Munition und Torpedos, liegengebliebenes Kampfgerät.26 Nach dem Zweiten Weltkrieg stand insbesondere auch die rechtliche Zuordnung von Sachen zur Debatte, die auf der Flucht zurückgelassen wurden.27 Ansonsten diversifizieren sich die Streitfälle: Es geht etwa um mit Altlasten belastete Grundstücke; um weggeworfene WMLose; um eine in den Mülleimer geworfene EC-Karte; um übriggebliebene, für den Müll bestimmte Maultaschen; um Alteisen oder Kleidung, die für eine Sammlung bereit standen; um Dinge, die vom Sperrmüll mitgenommen wurden.28 All diesen Urteilen ist gemein, dass sie sich auf Sachen beziehen, die übriggeblieben sind oder zurückgelassen wurden: Reste, Verlassenes; aber auch Dinge, die man loswerden will: belastete Grundstücke, Müll, Abfall. Streit entzündet sich meist an der Frage, ob dabei eine Sache tatsächlich bzw. erfolgreich derelinquiert wurde.29 Hierzu kann man zwei Fallgruppen unterscheiden: 25 Vgl. die Literaturhinweise bei Hans J. Wieling, Sachenrecht. Band 1: Sachen, Besitz und Rechte an beweglichen Sachen, Berlin 22006, S. 486, Fn. 66; Lange, Das Eigentum an aus Wunden entfernten Geschossen, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Heft 23/24, 1914, S. 1382 f.; siehe auch Heinrich Wallenfang, Die Rechtslage der Kugel im Körper des Verwundeten und nach ihrer Entfernung aus demselben, Berlin 1917. 26 Vgl. die Nachweise in Gursky, in: Staudinger, Eigentum 2, § 959 Rn. 3, S. 684. 27 Vgl. etwa LG Dortmund, Urteil vom 20. 06. 1950, Aktenzeichen 2 S 87/50: Eigentumsverhältnisse an Flüchtlingsgut und Bergelohn, in: Monatsschrift für Deutsches Recht. Zeitschrift für zivilrechtliche Praxis, 1950, S. 546 – 547; OLG Kiel, Urteil vom 09. 07. 1947, Aktenzeichen Ss 96/47, in: Monatsschrift für Deutsches Recht. Zeitschrift für zivilrechtliche Praxis, S. 271; OLG Braunschweig, Urteil vom 14. 10. 1947, Aktenzeichen U 43/47: Mit. Anm. v. Rudolf Bruns, in: Monatsschrift für Deutsches Recht. Zeitschrift für zivilrechtliche Praxis 1947, S. 112 – 115. 28 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. 01. 1998, Aktenzeichen 10 S 233/97: Sittenwidrige Veräußerung eines Altlastengrundstücks zwecks Umgehung der Sanierungslasten zu Lasten der Allgemeinheit 1998, URL: http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink& docid=MWRE103849800&psml=bsbawueprod.psml&max=true&doc.part=L&doc.nor m=all (letzter Zugriff 09. 11. 12); LG Magdeburg, Urteil vom 08. 11. 2006 (WM-Lose); OLG Hamm, Beschluss vom 10. 02. 2011, Aktenzeichen III-3 RVs 103/10 (EC-Karte), URL: http:// www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/hamm/j2011/III_3_RVs_103_10beschluss20110210.html (letzter Zugriff 09. 11. 12); ArbG Lörrach, Urteil vom 16. 10. 2009 – 4 Ca 248/09, BeckRS 2009, 73041, in: Arthur Schall, Maultaschen im Sachrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 18, 2010, S. 1248 – 1252; OLG Stuttgart, Beschluss vom 12. 02. 1978, Aktenzeichen 3 Ss (8) 894/77: Zu dem Verbot, zur Abfuhr bereitgestellte Abfälle zu durchsuchen oder zu entfernen. Mit Anm. v. Ulrich Weber, in: Juristenzeitung, Heft 20, 1978, S. 691 – 694; OLG Saarbrücken, Urteil vom 07. 01. 1987, Aktenzeichen 1 U 165/84: Einsammeln von Altkleidersäcken mit der Aufschrift „Deutsches Rotes Kreuz“, in: Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report, Heft 8, 1987, S. 500 – 502; LG Ravensburg, Urteil vom 03. 07. 1987 (Sperrmüll). 29 Lange umstritten war die Frage, ob ein Miteigentumsanteil erfolgreich derelinquiert werden könne. Ursprünglich wollte die erste Kommission im Entwurf des BGBs die Regeln

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Die erste Fallgruppe befasst sich mit der Frage: Was wurde eigentlich gewollt? Wollte der Eigentümer tatsächlich das Eigentum aufgeben, und konnte daher die Sache von einem späteren Besitzer erfolgreich okkupiert werden? Beispielhaft hierfür ist ein Urteil des Landgerichts (LG) Ravensburg aus dem Jahre 1987.30 Das LG hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Ein bekannter Maler hatte nebst anderen Dingen selbstgemalte Bilder zur Speermüllabholung vor sein Haus gestellt. Ein Sperrmüllsammler nahm diese Bilder an sich. Der Maler verlangte nun die Herausgabe der Bilder, da er das Eigentum an den Bildern ja nicht aufgegeben habe. Das LG Ravensburg merkte zur Willenserklärung des Malers, die er durch die Bereitstellung der Bilder für die Sperrmüllabholung abgab, Folgendes an: „Wer Gegenstände in die Mülltonne wirft oder als Sperrmüll auf die Straße stellt, wird meistens jedes Interesse an ihnen verloren haben. Sein Wille geht dann nur dahin, daß der Müll fortgeschafft wird und ihn nicht mehr belastet. Ob dies die zuständige Müllabfuhr tut oder jemand, der mit dem Müll noch irgendetwas anfangen will, wird dem Eigentümer in der Regel gleichgültig sein. In diesen Fällen wäre eine Eigentumsaufgabe […] als Erklärungsgehalt durchaus in Betracht zu ziehen.“31 In der Regel – und so ja auch das LG – wird keinerlei Gedanke daran verschwendet, was mit der Sache passiert, die man nicht mehr haben will und deswegen wegwirft. Man will den Müll einfach nur loswerden, egal an wen oder wie. Vorliegend ist jedoch laut LG von einem anderen Fall auszugehen: „Anders verhält es sich […] von vornherein dann, wenn Dinge in den Müll gegeben werden, die erkennbar in irgendeiner besonderen Beziehung zu dem Eigentümer gestanden haben. Wer z. B. Briefe oder sonstige persönliche Dokumente, Bankunterlagen oder Geschäftspapiere wegwirft, will nicht, daß sie jeder beliebige Dritte an sich nimmt und sie unter Umständen gegen den früheren Eigentümer benutzt. Der Wille geht in solchen Fällen zwar auch dahin, die Gegenstände loszuwerden, dies aber nur zu dem Zweck, daß sie in einer Müllbeseitigungsanlage vernichtet werden. Der objektive Erklärungsgehalt ist dann

über die Dereliktion allgemein auf Miteigentumsanteile anwenden (vgl. § 950 Entwurf I BGB). Die zweite Kommission strich jedoch diese Vorschrift zugunsten der Annahme, dass der herrenlose Anteil den Miteigentümern anheim fiele. Siehe Benno Mugdan (Hg.), Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 3: Sachenrecht, Berlin 1899, S. 702. Heute geht jedoch geht die herrschende Meinung sowie Rechtsprechung – insbesondere mit Blick auf Wohnungs- und Grundstücksteileigentum – davon aus, dass eine entsprechende Dereliktion unwirksam sei. Vgl. etwa BGH, Beschluss vom 14. 06. 2007, Aktenzeichen V ZB 18/07: Kein Verzicht auf Wohnungseigentum. Mit Anm. v. Johann Dernhater, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 35, 2007, S. 2547 – 2549; BGH, Beschluss vom 10. 05. 2007, Aktenzeichen V ZB 6/07: Unzulässigkeit der Eintragung eines Verzichts auf Miteigentumsanteile im Grundbuch, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 31, 2007, S. 2254 – 2256. 30 LG Ravensburg, Urteil vom 03. 07. 1987 (Sperrmüll). 31 Ebd., S. 3143.

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eindeutig nicht auf eine Eigentumsaufgabe, sondern nur auf eine Eigentumsübertragung gem. § 929 BGB an den Träger der Müllabfuhr gerichtet.“32 Das LG legte das Verhalten des Malers im letztgenannten Sinne aus, da selbstgemalte Bilder für den Künstler einen persönlichen Erklärungswert haben. Dementsprechend qualifiziert das LG auch das Verhalten des Malers als ein bestimmtes rechtliches Wollen: Zwar macht man sich zumeist gar keine Gedanken über irgendeine rechtliche Folge, gleichsam ist in diesem Verhalten die juristisch sehr komplexe Konstruktion eines Angebots auf Übereignung der Bilder an die Müllabfuhr zu erkennen – eine Auslegung des eigenen Verhaltens, auf die man als sogenannter ,juristische Laie‘ erst einmal kommen muss. Angesichts dieser Rechtsprechung kann man sagen: Müll ist also nicht gleich Müll. Man muss dem Ding im Müll ansehen, ob es vernichtet werden soll oder ob dem Eigentümer das weitere Schicksal der Sache gänzlich gleichgültig ist. Wenn Bernhard Giesen Müll definiert als „sinnlose Stofflichkeit“33, so wird in der juridischen Praxis genauer differenziert: Es gibt eben auch Müll, der nicht gänzlich sinnentleert ist, ihm haftet sozusagen noch etwas Persönliches an – mit all seinen rechtlichen Konsequenzen.34 Damit enden aber die Ausführungen des LG Ravensburg noch nicht, seiner Ansicht nach wäre dem Maler im Übrigen gar nicht möglich gewesen, sein Eigentum an den Bildern im Sperrmüll aufzugeben. Das verweist auf die zweite Fallgruppe – die Frage nach der Grenze der Dereliktion, oder: Was darf ich überhaupt wollen? Im Gegensatz zur Okkupation, für die Aneignungsverbote im Gesetzestext explizit angesprochen werden, enthält § 959 BGB kein Dereliktionsverbot. Man mag dementsprechend auf die Idee kommen, dass man immer und überall alles derelinquieren kann. Dennoch setzt die Rechtsprechung dem rechtlichen Wollen und Können im Bezug auf die Dereliktion Grenzen, und zwar über die §§ 134, 138 BGB. Nach § 134 BGB gilt: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“ Diesen Fall sieht das LG Ravensburg durch die abfallrechtlichen Bestimmungen gegeben: „Ein solches Verbot ergibt sich aus § 3 I AbfG. Danach hat der Besitzer Abfälle dem Beseitigungspflichtigen zu überlassen. Dasselbe folgt aus § 2 I der Satzung 32 Ebd. So auch Herbert Grziwotz, Zivilrechtliche Probleme bei der Aneignung von Müll – Der Müll in Nachbars Tonne, in: Monatsschrift für Deutsches Recht. Zeitschrift für zivilrechtliche Praxis, Heft 13, 2008, S. 726 f., hier S. 727; Wilhelm, Sachrecht, S. 438 Rn. 1033; anderer Ansicht jedoch etwa Volker Blum, Bagatellen rechtfertigen keine fristlose Kündigung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 2010, S. 132; Gursky, in: Staudinger, Eigentum 2, § 959 Rn. 1. 33 Bernhard Giesen, Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit, Weilerswist 2010, S. 192. 34 Auf diesem Gedanken beruhen etwa auch die Urteile des OLG Hamm, Beschluss vom 10. 02. 2011 (EC-Karte) sowie des LG Magdeburg, Urteil vom 08. 11. 2006 (WM-Lose); bzgl. privater Briefe vgl. auch Fritsche, Dereliktion und Vernichtungsabsicht; Grziwotz, Aneignung von Müll, S. 727; Gursky, in: Staudinger, Eigentum 2, § 959 Rn. 3 m. w. N.

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über die Müllabfuhr der Stadt […]. Diese Bestimmungen sehen keine Einschränkung vor. Sie untersagen es daher schlechthin, Müll herrenlos werden zu lassen und verlangen zwingend seine Übereignung an den Träger der Müllabfuhr.“35 Alles, was Abfall ist, ist nach Ansicht des LG Ravensburg schlechterdings nicht herrenlos zu machen. Das betrifft fast jede Form des Mülls, gilt doch nach § 3 Abs. I, S. 1 KrwG, der heute an Stelle des AbfG zur Anwendung gelangt: „Abfälle im Sinne dieses Gesetzes sind alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss.“36 Wenn man also eine Sache nicht mehr haben will, tritt nach dem LG Ravensburg ein Dereliktionsverbot ein. Diese Rechtsansicht ist jedoch weder unumstritten noch abschließend geklärt – weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung.37 Folgt man jedoch dieser Ansicht, kann man Müll rechtlich gesehen nicht loswerden – und wenn doch, dann nur an den zuständigen Träger der Müllabfuhr. Und wer sich am Müll anderer vergreift, kann damit Diebstahl begehen, denn es handelt sich dieser Ansicht gemäß um fremdes Eigentum.38 Auf den Willen, die Sache loszuwerden, kommt es letztlich nicht mehr an, da dieser ,nicht rechtmäßig‘ ist. Auf Schwierigkeiten, eine Sache herrenlos zu machen, kann man aber auch wegen § 138 Abs. I BGB stoßen. Dort heißt es: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ Die Sittenwidrigkeit ist ein sogenannter ,unbestimmter Rechtsbegriff‘. Nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre bedeutet dies nach der sogenannten ,Anstandsformel‘ einen Verstoß gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“.39 Zur Konkretisierung dieser Formel ist laut 35 LG Ravensburg, Urteil vom 03. 07. 1987 (Sperrmüll), S. 3143. In § 3 Abs. I AbfG hieß es: „Der Besitzer hat Abfälle dem Entsorgungspflichtigen zu überlassen.“ Das Abfallgesetz (AbfG) vom 27. August 1986 wurde im Jahre 1996 durch das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW-/AbfG) ersetzt, an dessen Stelle nun im Juni 2012 das Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrwG) getreten ist. 36 Die entsprechende Bestimmung in § 1 Abs. I, S. 1 AbfG lautete: „Abfälle im Sinne dieses Gesetzes sind bewegliche Sachen, deren sich der Besitzer entledigen will oder deren geordnete Entsorgung zur Wahrung des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere des Schutzes der Umwelt, geboten ist.“ Gegenüber dem KrwG war im vorausgehenden § 3 Abs. I, S. 1 Krw-/AbfG der Abfallbegriff durch den Anhang I noch weiter spezifiziert worden. 37 Zustimmend Oechsler, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Sachenrecht §§ 854 – 1296, Wohnungseigentumsgesetz, Erbbaurechtsgesetz, München 52009, § 959 Rn. 6; Henssler, in: Hans T. Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch. Band 14 Sachenrecht 1, §§ 854 – 984, 13. Aufl., Stuttgart et al. 2002, § 959 Rn. 4 m. w. N.; anderer Ansicht etwa Wilhelm, Sachrecht, S. 438 Rn. 1033, Gursky, in: Staudinger, Eigentum 2, § 959, S. 688 Rn. 8. 38 Die praktische Relevanz dieser Frage war im Übrigen im letzten Jahr in der Debatte um die tonnenweise Vernichtung noch genießbarer Lebensmittel in Deutschland öfters im Gespräch, als es u. a. in mehreren Gerichtsverfahren darum ging, ob Leute, die abgelaufene Lebensmittel aus den Abfallcontainern der Lebensmittelmärkte mitnehmen (Containern), einen Diebstahl begehen. 39 Sack/Fischinger, in: Hans T. Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch. Band 2: Allgemeiner Teil 2, §§ 104 – 240 BGB, 13. Aufl., Stuttgart et al. 1999, § 138 Rn. 14 m. w. N.

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Rechtsprechung insbesondere auf die sozialethischen Anschauungen bzw. auf die Wertmaßstäbe abzustellen, die – so die Annahme – in der Rechtsgemeinschaft als maßgebende Ordnungsvorstellungen anerkannt sind. Zum Problem wurde diese Vorschrift im Rahmen der Dereliktion insbesondere vor dem Hintergrund der mit Altlasten verseuchten Grundstücke. Hierzu ein kurzes Beispiel: Ein Käufer hat ein Grundstück erworben. Es stellt sich überraschend heraus, dass der Boden verseucht ist. Eine erforderliche Altlastensanierung würde 500.000 E kosten. Das Grundstück ist damit wertlos, und der Käufer hat das Geld zur Sanierung nicht. Was tun? Nun, er könnte auf die Idee kommen, das Grundstück zu derelinquieren. Denn durch Dereliktion wird der ehemalige Eigentümer prinzipiell frei von allen Lasten, die an das Eigentum gebunden sind. Dieser Fall ist jedoch umstritten und von der Rechtsprechung auch nicht abschließend geklärt.40 Allerdings wies ein vielzitierter Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 14. November 1996 darauf hin, dass ein Rechtsgeschäft, das sich in dem Zweck erschöpft, die Entsorgungskosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen, sittenwidrig sei.41 Das gilt – so das BVerwG – auch für das Rechtsgeschäft der Dereliktion.42 Denn letztlich handelt es sich dabei um eine missbräuchliche Inanspruchnahme zivilrechtlicher Gestaltungsformen zur Abwälzung öffentlich-rechtlicher Pflichten – jene der Altlastensanierung. Diese Rechtsansicht des BVerwG ist mittlerweile in weitere – zum Teil auch etwas anders gelagerte Urteile eingegangen. Jüngst etwa ging es in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg vom Februar 2011 um die Frage, ob eine Weinbergbesitzerin ihren Weinberg, der nicht mehr zu bewirtschaften und daher unverkäuflich war, derelinquieren könne. Denn dadurch würde sie vermeiden, weiterhin Gebühren an den zuständigen Wasserverband zu entrichten. Allerdings – so der VGH – war diese Dereliktion nicht sittenwidrig und damit wirksam. Denn dass sich ein Eigentümer durch die Eigentumsaufgabe auch künftigen öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen entledigen will, reicht nach VGH für die Bejahung der Sittenwidrigkeit nicht aus.43 40

Im Jahre 1999 wurde jedoch im Bundesbodenschutzgesetz (§ 4 Abs. III, S. 4 BBodSchuG) gesetzlich festgeschrieben, dass der Derelinquent weiterhin für die Altlastensanierung haftet. 41 BVerwG, Beschluss vom 14. 11. 1996, Aktenzeichen 4 B 205.96: Haftung des Erwerbers eines verunreinigten Grundstücks, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Heft 6, 1996, S. 577 f, hier S. 577. Vgl. zum Meinungsstand VGH Mannheim, Beschluss vom 02. 06. 1997, Aktenzeichen 8 S 577/97: Kostentragung der Ersatzvornahme bei Eigentumsverzicht, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 48, 1997, S. 3259 f., hier S. 3259. 42 BVerwG, Urteil vom 11. 04. 2003, Aktenzeichen 7 B 141/02. Befreiung von der Haftung durch Grundstücksübertragung, in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 31, 2003, S. 2255 f., hier S. 2255. 43 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02. 02. 2011, Aktenzeichen Az. 3 S 958/09, URL: http://openjur.de/u/353733.html (letzter Zugriff 09. 11. 12); dieses Urteil wurde im April 2012 durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, BVerwG, Urteil vom 26. 04. 2012, Aktenzei-

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Der Müll, der verseuchte Boden, und selbst der eigentlich unbelastete Weinberg – das Eigentum kann zur Belastung werden. Wenn dies der Fall ist, so ist genau zu prüfen, ob die Dereliktion dann nicht an ihre Grenzen stößt – etwa weil ein gesetzliches Verbot oder die Sittenwidrigkeit der Eigentumsaufgabe verhindern, dass die Sache zu einer res nullius gemacht werden kann. Insbesondere im letzteren Fall geht es dabei um die Frage der gerechtfertigten Lastenverteilung zwischen Einzelnem und Allgemeinheit. Das Eigentum erscheint hier nicht nur im positiven Licht, sondern ebenso als Träger von Lasten und Pflichten. Letztlich entscheidet dabei die Frage der Verteilung dieser Lasten und Pflichten darüber, ob man bei der Dereliktion auf Schwierigkeiten stößt (z. B. Altlastengrundstück) oder erfolgreich das Eigentum daran aufzugeben vermag (z. B. Weinberg).

III. Mit der Frage nach der Dereliktion, der Frage also, wie und ob eine res nullius erzeugt werden kann, geht es heute im bürgerlichen Recht schwerpunktmäßig um den Müll, die Verschmutzung oder die Belastung der Dinge. Angesichts der Systematik des BGBs, aber auch der Entwicklung der Rechtsprechung, kann man meines Erachtens folgende Schlussfolgerungen über den Zusammenhang von Dereliktion, res nullius und Eigentum ziehen. 1. Wie bereits erwähnt handelt es sich im Rechtsalltag mit der Dereliktion und der Frage der res nullius auch heute noch um eine periphere Rechtsmaterie. Allerdings geht es hierbei – so die vertretene These – weder aus systematischer noch aus funktionaler Perspektive um Ausnahmefälle. Dafür sind insbesondere zwei Argumente ins Feld zu führen: Erstens geht es mit der Dereliktion zwar immer auch um die Frage des Verhältnisses von res nullius und Eigentum. Die Problematik dieses Verhältnisses hat nun insbesondere Peter Fenves in Auseinandersetzung mit Kants Rechtsphilosophie (und Walter Benjamins „Zur Kritik der Gewalt“) in dem Aufsatz „Niemands Sache“ herausgearbeitet.44 Denn, wie er betont, basiert Kants Rechtslehre auf der Beantwortung der Frage, wie an einer herrenlosen Sache ein gegenüber allen anderen verbindliches Eigentumsrecht begründet werden kann. Zur Debatte steht dabei die Frage der Begründung des Eigentumsrechts schlechthin – die Gründung des Rechts durch die Möglichkeit der Aneignung von Grund und Boden. Durch die Zentralität dieses Vorgangs für das Recht geriert das Problem der herrenlosen Sache bei Fenves sozusagen zum Knackpunkt für die Kant’sche Rechtslehre, offenbart es doch zu-

chen 7 C 11/11: Erlöschen der dinglichen Mitgliedschaft in Wasser- und Bodenverbund, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Heft 15, 2012, S. 974 – 976. 44 Fenves, Niemands Sache.

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gleich das Gründungsparadox des Rechts: Das Recht sucht sich jenseits der Gewalt zu verorten, kann aber immer nur gewaltvoll instituiert werden.45 Mit Kant und Fenves könnte man nun argumentieren, dass die Dereliktion auf die ständige Präsenz der res nullius im Recht verweist, d. h. die ständige Präsenz einer ungeklärten wie unklärbaren Situation im Recht, die dennoch zur Entscheidung fordert. Dem ist jedoch zu widersprechen. Vielmehr bestärkt die Dereliktion in einer gewissen Weise sogar das System der bürgerlich-rechtlichen Eigentumsordnung. Denn die herrenlose Sache, die durch Aufgabe des Eigentums geschaffen wird, kann jederzeit wieder okkupiert werden. Oder anders formuliert: Man kann sein Eigentum an der Sache aufgeben, das gehört zum Herrschaftsrecht über die Sache, man kann aber nicht das mögliche Eigentumsrecht an der Sache aufgeben. Eine res nullius im Sinne der Tatsache, dass es nicht-okkupierbar ist und sich damit dem Eigentum respektive der Eigentumsordnung zuallererst entzieht, ist heute privatrechtlich nicht erzeugbar. Vielmehr gilt: einmal in die privatrechtliche Eigentumsordnung integriert, gibt es kein Entkommen mehr. Die einzige Ausnahme scheint hier der tote Körper zu sein – fast mag man dabei an Jean Baudrillards Der symbolische Tausch und der Tod denken, in dem der Tod, respektive die Gabe des Todes die Einbruchsstelle des Außerordentlichen in die Systemordnung markiert.46 Allerdings sei daran erinnert: Zwar handelt es sich beim Leichnam nach überwiegender Ansicht um eine nicht aneignungsfähige Sache – jedoch hat der (noch) lebende Körper nach herrschender Meinung gar keine Sachqualität (s. o.). Durch den Tod entsteht also eine Sache, die sich der Eigentumsordnung entzieht, doch wird damit nicht eine Sache der Herrschaft des Eigentums entzogen. Diese Einbindung der res nullius im Rahmen der Dereliktion in die Eigentumsordnung wird auch durch einen weiteren Mechanismus im Modell des BGBs bestärkt. Wie ausführlich beschrieben, ist die Dereliktion ein Rechtsgeschäft. Das Gegenstück der Dereliktion, die Okkupation nach § 958 BGB, ist demgegenüber – so die herrschende Meinung – ein Realakt: Ich brauche keinen rechtsgeschäftlichen Willen, um Eigentum an einer herrenlosen Sache zu begründen.47 Eigentum an einer res nullius wird damit jenseits der Frage des Willens durch bloße Inbesitznahme begründet. Sobald also die Sachen in Besitz genommen sind, ist gesichert, dass daran auch in irgendeiner Form Eigentum oder zumindest Aneignungsrechte bestehen – entweder des Besitzers oder aber eines Anderen. Die Sachen werden damit durch diesen Mechanismus von Dereliktion und Okkupation in der Eigentumsordnung eingefangen und sozusagen festgeschrieben. Sachen zu definieren, die sich auf Dauer jenseits der Eigentumsordnung befinden, wird damit sehr schwer. Letztlich handelt es 45 Hierin liegt auch eine Verbindung zu Walter Benjamins berühmtem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“, den Fenves mit dessen Unterscheidung von rechtsbegründender und rechtserhaltender Gewalt als Kontrastfolie zur Interpretation der Kant’schen Rechtslehre heranzieht (ebd.). 46 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. 47 Henssler, in: Soergel (Begr.), Bürgerliches Gesetzbuch. Band 14, § 958 Rn. 5.

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sich dabei nur um verschwundene Dinge – jenseits des Eigentums befindet sich nur noch das Abwesende. Das zweite Argument gegen den Ausnahmecharakter der res nullius bezieht sich auf die Verkehrsfähigkeit der Dinge. Bei der Dereliktion handelt es sich um eine geradezu alltäglich rechtliche Handlung. Jeder und jede von uns produziert Müll, Abfall, Reste, die wir loswerden wollen. In gewisser Weise sichert nun die Möglichkeit der Dereliktion einen unproblematischen Verkehr der wertlosen Dinge. Ansonsten würde ja etwa gelten: Jede leere Flasche, die ich wegwerfe, würde weiterhin in meinem Eigentum stehen; ein Flaschensammler könnte daran Diebstahl begehen, und der Supermarkt, der dafür Pfand zahlt, macht sich unter Umständen der Hehlerei schuldig. Durch die Möglichkeit der Dereliktion werden jedoch Dinge, die als wertlos oder geringwertig codiert sind, für den Verkehr entproblematisiert. Denn sollten sie wieder in den Verkehr gelangen, so kann dies über die Dereliktion und Okkupation als rechtmäßig sanktioniert werden. Allerdings – und das zeigen die genannten Streitfälle – ist die rechtliche Lage mit dem Müll nicht mehr so einfach. Das verweist auf eine zweite Überlegung hinsichtlich der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung. 2. In den Streitfällen über die Frage, ob etwas durch Dereliktion erfolgreich zu einer res nullius gemacht wurde, geht es insbesondere um zwei Punkte: um die Ordnung der Dinge sowie um die Problematik der Zugriffsrechte. Für Giesen ist Müll, „in erster Linie, kein Problem der öffentlichen Ordnung, sondern ein Skandal für die kulturelle Ordnung der Dinge. Er bedroht die Ordnung der Dinge wie ein zerstörerischer Dämon […].“48 Diese außerordentliche Position des Mülls sieht Giesen in seiner bereits zitierten „sinnlosen Stofflichkeit“ begründet, denn „diese Sinnleere des Mülls beunruhigt uns, die wir gewohnt sind, die Dinge der Welt mit Symbolnetzen einzufangen oder sauber zu codieren“49. Die genannten Regelungen und Urteile verweisen jedoch auf eine ganz andere Beziehung zum Müll. Denn indem die Dereliktion als Rechtsgeschäft behandelt wird, und indem diese Rechtsmaterie insbesondere auf den Müll und die verschmutzten Sachen angewendet wird, wird der Müll, der Schmutz und die Belastung in die Ordnung der Dinge integriert. Dabei es geht zum einen – wie etwa im Urteil über die Sperrmüllbilder – um die Frage des Sinngehalts des Mülls, den es zu differenzieren gilt. Zum anderen erfolgt die Einbettung des Mülls in die normative Ordnung, wenn gefragt wird, ob die Dereliktion von belastetem Eigentum gegen die ,guten Sitten‘ (§ 138 BGB) verstößt. Denn dann wird der Umgang mit Müll respektive mit belastetem Eigentum wie etwa dem Altlastengrundstück unter dem Blickwinkel der in der Wertungsgemeinschaft maßgebenden Ordnungsvorstellungen gelesen – nicht jenseits der normativen Ordnung, sondern als deren Teil.

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Giesen, Zwischenlagen, S. 188. Ebd., S. 192.

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Mit der Rechtsfigur res nullius geht es immer auch um die Frage, wer sich der Sache bemächtigen kann und darf. Über die Frage nun, wie und ob Müll erfolgreich zu einer res nullius gemacht werden kann, verhandelt die bürgerlich-rechtliche Rechtsprechung meiner Ansicht nach nun insbesondere eines: die Zugriffsrechte auf den Müll. Im Gegensatz zur Frage aber, wie solche Zugriffsrechte gerechtfertigter Weise an einer res nullius begründet werden können – sei es etwa über die zeitliche Hierarchie (der erste kann sich die Sache aneignen) oder über die Leistung (Aneignung durch Arbeit) –, geht es hier bereits auf einer Vorstufe der Herrenlosigkeit über diese Zugriffsrechte. Denn es scheint, als würde mit der Herrenlosigkeit die Kontrolle über den Kreis der Aneignungsberechtigten aufgegeben werden – und über das gesetzliche Verbot der Dereliktion, etwa die abfallrechtlichen Bestimmungen, wird diese Konsequenz vermieden. Das lässt sich am Beispiel des Urteils des LG Ravensburg über die Sperrmüllbilder zeigen. Denn über die Einbindung der Dereliktion in die Rechtsgeschäftslehre erklärt das LG das Müllwegwerfen in den meisten Fällen gem. § 134 BGB als nichtig – und zwar mit der Konstruktion, dass der Maler ein Angebot auf Übereignung des Sperrmülls an die Müllabfuhr abgegeben habe. Rechtmäßig aneignen könnte sich den Müll nach dieser Rechtsansicht nur die Müllabfuhr – und das nicht, weil er eine res nullius ist, sondern weil er gerade keine ist und damit ein Übereignungsangebot zur ihren Gunsten vorliegt. Das ist vor allem deshalb von Interesse, weil hier auf der Ebene der individuellen Handlung – der Privatmensch, der Müll loswerden will – eine Materie verhandelt wird, die von enormer wirtschaftlicher Bedeutung ist. Denn auch wenn Müll im Diskurs zumeist als Belastung kodiert wird, handelt es sich um einen zunehmend wichtiger werdenden Wirtschaftszweig. Denn nicht nur, dass das Geschäft mit dem Müll jährlich Milliardenumsätze erzeugt, vielmehr geht es heute in der Frage des Mülls um Rohstoffversorgung. So werden etwa 14 Prozent des Rohstoffs heute in Deutschland aus Müll gewonnen – Tendenz steigend.50 Und angesichts der sich verstärkenden Rohstoffknappheit nimmt der Stellenwert des Mülls als Rohstofflieferant beständig zu.51Auf wirtschaftlicher Ebene wird der Müll nicht erst durch ein erfolgreiches Recycling als wertvoll und Wertstoff umcodiert, sondern bereits im Moment des Anfallens als Sekundärrohstoff in die Ordnung der Dinge integriert. Dieser Trend wird durch die Rechtsprechung, die die Möglichkeit der Dereliktion des Abfalls verneint, geradezu gestützt, werden hier doch die Zugriffsrechte auf diesen nun wertvollen Stoff verhandelt. 3. Stellt man sich die Frage nach dem Zusammenhang von Eigentum, res nullius und Dereliktion, so zeigt die Blickverkehrung weg von der Begründung des Eigentums an einer res nullius hin zu der Frage, wie man Eigentum eigentlich wieder los50

Vgl. Anne Kunze, Der verlorene Schatz, in: DIE ZEIT, 10. Mai 2012, URL: http://www. zeit.de/2012/20/Rohstoffe-Recycling (letzter Zugriff 09. 11. 12). 51 Das Schlagwort des „Urban Mining“ bezeichnet diese Hinwendung zur „Betrachtung der Großstadt als Bergwerk“. Siehe Wolfgang Krohn/Holger Hoffmann-Riem/Matthias Groß, Innovationspraktiken der Entsorgung von Müll und Abfall, in: Matthias Groß (Hg.), Handbuch Umweltsoziologie, Wiesbaden 2011, S. 421 – 442, hier S. 438.

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werden und somit eine res nullius erzeugen kann, eine Verschiebung der Perspektive auf das Eigentum: Die Frage der Dereliktion, die Frage, wann sie zu einem Problem wird, die Anlässe und Gegenstände, die zu Streitsachen werden, führen uns zum Problemkreis der Last, die das Eigentum bedeuten kann. Dieser Problemkreis ist nicht neu. Schon der Romanist Heinrich Dernburg spekulierte in seinem Pandektenlehrbuch aus dem Jahre 1884 über die Rechtsfigur der Dereliktion im römischen Recht: „Dereliktion kam vorzugsweise vor und wurde zuerst anerkannt in Fällen, in welchen Lasten das Eigenthum beschweren, die größer scheinen als dessen Vortheile.“52 Zur Debatte steht also nicht der Zusammenhang von Eigentum und Macht, Vermögen, potestas, subjektiven Rechten, ja die Frage der Möglichkeit der Begründung der Freiheit schlechthin durch die Idee des Eigentums. Vielmehr geht es um die Frage nach dem Verhältnis von Müll, Schmutz, Eigentum und res nullius. Wenn also das Eigentum in den theoretischen Auseinandersetzungen zumeist eher positiv konnotiert ist, so erscheint nun der Zusammenhang von Eigentum mit den schmutzigen Seiten unserer Gesellschaft – und das nicht wie in der überkommenen Eigentumskritik im abstrakten Sinne, sondern im tatsächlichen, d. h. im Sinne des Objekts. Denn der Müll, der Schmutz kommt in diesen positiven wie kritischen eigentumstheoretischen Auseinandersetzungen nur am Rande vor – mit einer Ausnahme: Michel Serres’ kleines Büchlein Le Mal propre, in der deutschen Übersetzung Das eigentliche Übel.53 Wie der deutsche Untertitel „Verschmutzen, um sich anzueignen?“ schon zeigt, geht der französische Philosoph, Epistemologe und Mathematiker Serres von einem konstitutiven Zusammenhang von Eigentum und Schmutz aus. In Abwandlung der Rousseau’schen Ursprungserzählung gilt für Serres im Sinne eines quasi-anthropologischen Ansatzes: Der Erste, der sein Revier mit Urin markiert, der seinen Acker mit Mist düngt, der die Jungfrau mit Sperma befleckt oder den Boden durch die Leichen seiner Vorfahren kennzeichnet und damit diese Orte für Andere unbewohnbar macht, ist der Begründer des Eigentums. Demzufolge gilt: „[D]as Eigene wird erlangt und bewahrt durch das Schmutzige. Besser: das Eigene ist das Schmutzige.“54 Müll, Schmutz, Ausscheidungen sind für Serres keine Nebenprodukte des Eigentums, sondern begründen es. Und auch wenn er heute von einem Übergang von der harten Verschmutzung durch Exkremente zur weichen Verschmutzung durch Zeichen ausgeht, so ist diese archaische Praxis der Eigentumsbegründung immer noch erkennbar, wenn er etwa fragt: „Wenn die reichen Länder ihre Industrieabfälle in die Mangrovenwälder der armen Länder kippen, nehmen sie sie dann nicht in Beschlag, re-kolonialisieren sie sie dann nicht?“55 52

Heinrich Dernburg, Pandekten. Erster Band, Berlin 1884, S. 510. Michel Serres, Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen? Berlin 2009. 54 Ebd., S. 9 (Herv. i. O.), und er fährt fort: „Umgekehrt heißt das also: ,sauber‘ ist gleich ,noch keinen definierten Eigentümer‘ zu haben, frei zugänglich. In Summe: entweder heißt eigen (propre) angeeignet, aber bedeutet dann schmutzig; oder sauber (propre) heißt wirklich rein, und bedeutet dann also ohne Eigentümer.“ 55 Ebd., S. 53, S. 45 – 69. 53

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Serres möchte am liebsten die – wie er sagt – „raubtierhafte Aneignung der Welt“ durch Enteignung rückgängig machen. Eine Art Dereliktion scheint erforderlich zu sein, damit wir in seinen Augen zu Mietern und nicht zu Eigentümern einer Welt werden, die durch diese Enteignung respektive Eigentumsaufgabe zu einer res nullius geworden ist. Der Kreis schließt sich damit mit Serres: Von der Aufgabe des Eigentums, der Dereliktion, gelangt man zum Müll, Schmutz, Dreck – und diese führen wiederum zum eigentlichen Akt der Eigentumsbegründung: „Die Verschmutzung kommt von der Aneignung und umgekehrt“56. Die Geschichte des Eigentums wird damit von seiner anderen Seite her erzählt. Entfliehen kann man diesem Kreislauf nur durch eine erneute Eigentumsaufgabe. Diese Enteignung versteht Serres, einigermaßen romantisch verklärt, als Symbiose mit der Welt. Man muss ihm darin nicht folgen. Bedenkenswert finde ich an seinem Ansatz aber Folgendes: Die Frage nach dem Zusammenhang von Müll, Eigentum und res nullius führt uns nicht an die Peripherie, sondern ins Zentrum des Eigentums, aber auch mitten in die Gesellschaft und die heutigen Problemlagen.

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Ebd., S. 69.

II. Übertragung, Überschreitung

Für Alle und Keinen Kulturerbe unter Wasser Von Burkhardt Wolf Zahllose Hinterlassenschaften birgt das offene Meer: unterschiedlichste Dinge vom bloßen Abfall bis zum künstlerischen Artefakt, vom simplen Gebrauchsgegenstand bis hin zum Schiffswrack. Vormals haben derlei Objekte kaum jemanden bekümmert, mit Ausnahme vielleicht einiger versprengter Schatztaucher. Seitdem es jedoch technologisch möglich ist, dem offenen Meer auf den Grund zu gehen und etliche der dort angehäuften Dinge ans Tageslicht zu holen, stellt sich unweigerlich die Frage: Wem gehören diese Hinterlassenschaften? Kann, wer nur bis zum Meeresboden vordringt, sich das dort Angesammelte einfach aneignen? Welche Rolle spielen hierbei vormalige, den Untergang begleitende Rechtshandlungen (etwa die Aufgabe von Gegenständen beim ,Seewurf‘ oder der ,Abandon‘ eines ganzen Schiffs) und entsprechende ältere Ansprüche (etwa die ehemaliger Eigner und ihrer Rechtsnachfolger auf ein verschollenes Schiff)? Handelt es sich beim Tiefseeboden und dem hier Gefundenen – in Analogie zur terra nullius des Entdeckerzeitalters – womöglich um eine terra submaritima nullius? Ist also die See, als juristische Sphäre, nur in Analogie zu ,terranen‘ Rechtsbegriffen zu bestimmen, selbst wenn es sich bei diesen ihrerseits nur um Analogiebildungen handelt (bei der terra nullius etwa um eine völkerrechtliche Ableitung aus dem römischen Sachenrecht)?1 Oder stellt das Meer nicht vielmehr eine ganz eigentümliche Herausforderung des Rechtsdenkens dar?

I. Das Meer: res nullius oder res omnium? Bereits der Rechtsstatus des Meeres selbst – und nicht erst der seiner vermeintlich herrenlosen Sachen – war von jeher umstritten. Auch wenn man hier das Mittelmeer im Sinne imperialer Befehlsgewalt als mare nostrum reklamierte, verstieg sich im antiken Rom niemand zu der Behauptung, die See zum alleinigen Gebrauch oder gar in festem Besitz zu haben.2 Unumstößliches Prinzip war vielmehr, dass das 1 Vgl. hierzu Lauren Benton/Benjamin Straumann, Acquiring Empire by Law. From Roman Doctrine to Early Modern European Practice, in: Law and History Review, Heft 28/1, 2010, S. 13 f., S. 17. 2 Vgl. hierzu Philip E. Steinberg, The Social Construction of the Ocean, Cambridge 2001, S. 64 f.

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Meer, so wie die Luft, nicht anzueignen, dass es eine res communis omnium, ein Gemeingut sei, und dass es als solches weder dem ius civile noch dem ius gentium, sondern vielmehr dem ius naturale untersteht. Die offene See war frei, allen zugänglich und damit gerade keine okkupierbare res nullius. Daran rüttelte man erst im späten Mittelalter, als seemächtige italienische Stadtstaaten wie Venedig oder Genua aus ,ihren‘ Meeren besonders ihre Handelskonkurrenten gewaltsam und effektiv verdrängten. Spanien und Portugal schienen 1494 mit dem päpstlichen Segen von Tordesillas gar danach zu streben, die Weltmeere (zumindest auf dem Papier) aufzuteilen. Freilich hat man diesen Vertrag eher als Zuordnung künftiger Einflusssphären und Seekorridore aufgefasst denn als Aufteilung fester Besitztitel. Überdies vereitelte schon die technisch unzulängliche Längengradbestimmung der Epoche die ein für allemal verbürgte Tatsache eines aufgeteilten Meeres. Das Meer wurde vielmehr zu einer Streitsache, die immer wieder nautische Bestimmungen und kartographische Messungen, Rechtsrituale und Augenzeugenberichte auf den Plan rief.3 Aus der Konkurrenz zwischen diesen katholischen Seemächten einerseits und den protestantischen Seemächten Englands und der Niederlande andererseits ist dann jene erste ,völkerrechtliche‘ Kontroverse hervorgegangen, die den Status der See insgesamt betraf. Umstritten war nun wiederholt die Frage, ob sie mare clausum oder mare liberum sei – eine Unterscheidung, die mit der Opposition zwischen (bereits angeeigneter) res nullius und (nicht aneignungsfähiger) res omnium nur zeitweilig zur Deckung kam. War etwa die Tudor-Herrscherin Elizabeth I. noch als Kämpferin für die Freiheit der Meere im römischen Sinne hervorgetreten, erwiesen sich die englischen Stuarts seit 1603 als unerbittliche Verfechter eines mare clausum. Diese Wende hatte herrschaftstechnische Gründe: Bereits James I. und dann in seiner Nachfolge Charles I. waren auf die absonderliche Idee verfallen, ihr souveränitätslogisches Konzept einer unbeschränkten Herrschaft über Territorien und Untertanen auf das menschenleere Nicht-Territorium der See auszudehnen. Ein geradezu emblematischer Fingerzeig hierfür sollte etwa das königliche Regalschiff namens Sovereign of the Seas werden, das 1638 im Rahmen eines umfangreichen Flottenbauprogramms vom Stapel lief. Nicht nur dem Zweck des Seekriegs, sondern auch dem juristischer Repräsentation diente dieses Prachtschiff, dessen Figurenschmuck auf die angebliche Ahnenreihe der Stuarts und damit auf ihre prätendierte, weil ,vererbte‘ Hoheitsgewalt über die vier englischen Meere verwies.4 Über dieses genealogisch-juristische Argument war das Schiff mit jahrzehntelangen Auftragsarbeiten höfischer Juristen und Historiker verknüpft, welche seit 1603 die britische Oberherrschaft über die angrenzenden Gewässer mittels historischer Dokumente untermauern sollten und hierzu die englischen Archive auf breiter Front durchstöberten. Dabei scheute man sich nicht, die nötigen Urkunden nachträglich anzufertigen oder aber dubiosen oder zumindest in3

Vgl. etwa Lauren Benton, A Search For Sovereignty. Law and Geography in European Empires, 1400 – 1900, Cambridge 2010, S. 13 – 23, S. 122 f. 4 Vgl. Hendrik Busmann, Sovereign of the Seas. Die Skulpturen des britischen Königsschiffes von 1637, Hamburg 2002, S. 168 – 178, S. 190 – 193.

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terpretationsbedürftigen Dokumenten im Handstreich eine genehme Lesart zu verschaffen. Maritime Souveränität, eine bis dahin widersinnige Konzeption, wurde somit zur uralten und nun wieder erneuerten Ratio britischen Königtums erklärt. Hatte James bereits 1604 die sogenannten King’s Chambers als Sperrzone für fremde Kriegsschiffe deklariert, in denen zudem königliche Lizenzen für den Fischfang nötig seien, reklamierte Charles gar die vier Meere um Britannien für sich: den Ärmelkanal, die Nordsee, die irische See und den Nordatlantik. Unter der Prämisse maritimer Souveränität wurde also der Seeverkehr um die britische Insel mit Archivpraktiken, Herrschaftszeremonien und schließlich auch mit Rechtsargumenten verbunden.5 Mit seinem Mare liberum (1609) – hervorgegangen aus De Jure Praedae (1604/ 1605), einer Auftragsarbeit zur Rechtfertigung einer niederländischen Prise in der südostasiatischen Malakkastraße – hatte Hugo Grotius noch die „Gemeinschaft des Menschengeschlechts“ und ihren legitimen „Nutzen“ gegen die Portugiesen und ihr fernöstliches Handelsmonopol ins Feld geführt. James und Charles wiederum gaben regelrechte Gegengutachten in Auftrag, um die niederländische Fischerei und Handelsmacht ihrerseits zu beschränken.6 William Welwood etwa berief sich in seinem Abridgement of all Sea-Lawes (1613) auf die Bibel und James’ angeblichen Providenzauftrag, der ihn wider alle Menschengemeinschaft zur Doktrin des Mare clausum ermächtige. Dem alten Argument, schon die Flüssigkeit der See verhindere ihre Aneignung, hielt Welwood entgegen, Gebietsansprüche könnten mit den Methoden von Navigation und Kartographie sehr wohl markiert, ja gar die unendlich „diuisible parts“ der See könnten integriert werden, „to designe finitum in infinito“.7 Auch John Selden behauptete in seinem (1618 entstandenen) Mare clausum, der See könne – trotz ihrer Unfestigkeit – durch „Instruments […] a distinction of Bounds“ eingeschrieben werden. „The Sea and Land mutually imbrace one another; […] the Seas are sufficiently distinguished by their Names and Bounds“.8 Der Nomos der ,Seenahme‘, von dem später Carl Schmitt handeln sollte, war also eine Frage nicht nur der Repräsentation, sondern auch der Navigation und Benennung. 5 Vgl. Thomas W. Fulton, The Sovereignty of the Sea. An Historical Account of the Claims of England to the Dominion of the British Seas, and of the Evolution of the Territorial Waters: with Special Reference to the Rights of Fishing and the Naval Salute, Edinburgh/London 1911, S. 9 – 16, S. 212 f. 6 Hugo Grotius, Von der Freiheit des Meeres (1609), Leipzig 1919, S. 25, S. 83. Siehe auch Michael Kempe, Beyond the Law. The Image of Piracy in the Legal Writings of Hugo Grotius, in: Hans W. Blom (Hg.), Property, Piracy and Punishment. Hugo Grotius on War and Booty in De iure praedae – Concepts and Contexts, Leiden/Boston 2009, S. 379 – 395. Auch in: Grotiana 26 – 28, 2005 – 2007, S. 379 – 395. 7 Zit. n. Bradin Cormack, Marginal Waters. Pericles and the Idea of Jurisdiction, in: Andrew Gordon/Bernhard Klein (Hg.), Literature, Mapping, and the Politics of Space in Early Modern England, Cambridge 2001, S. 155 – 180, hier S. 162 f. 8 John Selden, Of the dominion; or, Ownership of the sea. […] Written at first in Latin, and Entituled, Mare Clausum seu De Dominio Maris, London 1652 [lat. Ausgabe 1635], Reprint New York 1972, S. 127, S. 138.

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In seiner (zunächst unveröffentlichten) Erwiderung von 1614 machte Grotius dagegen geltend: Nicht schon die bloße Benennung und Grenzziehung vermag zur Aneignung zu führen, denn sonst könnte ja jeder Astronom und Landvermesser leichthin auch Mond und Sterne für sich reklamieren, sondern allein ein ,körperlicher Akt‘ der Besitznahme. Konkret meinte er damit die Dominanz einer Seeflotte oder, in Küstennähe, die Reichweite von Geschützbatterien.9 Auf nichts anderes hatte freilich James’ Seemachtsambition gezielt als auf eine maritime Dominanz, die die Reichweite terraner Souveränität ausdehnen sollte. Die Unterscheidung zwischen imperium (oder rechtlicher Souveränität) und dominium (oder faktischem Gebrauch) hatte er unter der Hand aufzulösen versucht, indem er 1609 sein imperium auch über fremde Fischer proklamierte, die ja nicht seine Subjekte, sondern nur durch die angrenzende Zone des dominium mit ihm assoziiert sein konnten. Man könnte die Stuart’sche Strategie also dahingehend beschreiben, dass die ,Seenahme‘ – die Aneignung des von Natur aus unbewohnten Meeres als einer vermeintlichen res nullius – unter dem Titel souveräner Herrschaft, aber im Modus einer effektiven Okkupation, einer fortwährenden Bewirtschaftung, vonstatten gehen sollte. Diese Strategie entsprach einer Übertragung terraner Rechtsbegriffe auf die See, welche in diesem Zuge als vormalige res nullius erscheinen konnte, die nun allerdings in die Stuart’sche Herrschafts- und Besitzsphäre eingegangen sei. Etliche Juristen indes, die – wie etwa Cornelis van Bynkershoek – nicht von Stuarts Gnaden waren, suchten fortan nach einer Position, die zwischen der genuinen Freiheit der res omnium des Meeres und einer territorialen Machtauffassung vermittelte. Sie waren es letztlich, die die Gestalt des neuzeitlichen Völkerrechts zur See nachhaltig prägten. Rückblickend sollte Carl Schmitt diesen um 1600 entbrannten ,Bücherkrieg‘ als eine bloße Übergangsepisode bezeichnen: Statt auf die Weltmeere und damit einen neuen Nomos der Erde habe man vor allem auf lokale Interessen wie solche an Durchfahrtsrechten und an der Fischerei gezielt. Und überhaupt seien Begriffe wie der einer res nullius oder res omnium noch ganz der terranen Denkweise antiker Binnenmeerkulturen verhaftet. Erst die Neuzeit habe entdeckt, „dass Recht und Frieden überhaupt nur auf dem Land verortet sind“; dass die See also, weil hier wie im Naturzustand nur die Prise und der Krieg des Stärkeren Gewicht habe, auch niemals die res omnium oder das Kondominium einer Staatengemeinschaft sein kann; und dass Land und Meer zu einem spannungsvollen Gleichgewicht zwischen Territorialmächten einerseits und einer allbeherrschenden Seemacht andererseits zu gelangen hatten, wie es im Frieden von Utrecht 1713 dann auch geschehen sei.10 Man muss, 9

Zur Wende des späteren Grotius vor dem Hintergrund der niederländischen Okkupationspolitik im Indischen Ozean vgl. Martine Julia van Ittersum, Profit and Principle. Hugo Grotius, Natural Rights Theories and the Rise of Dutch Power in the East Indies (1595 – 1615), Leiden/Boston 2006. 10 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 4 1997, S. 146. Vgl. hierzu auch ebd., S. 146 – 153. Zur Kritik Schmitts vgl. auch Michael Kempe, Teufelswerk der Tiefsee. Piraterie und die Repräsentation des Meeres als Raum im Recht, in: Hannah Baader/Gerhard Wolf (Hg.), Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich/Berlin 2010, S. 379 – 411.

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gerade mit Blick auf das international law des 20. Jahrhunderts, nicht soweit gehen, völkerrechtliche Kategorien nur als Feigenblatt eines in Wirklichkeit nackten Kräftespiels zu sehen. Wohl aber ist in der seerechtlichen Pionierzeit um 1600 deutlich geworden, dass das Meer immer nachdrücklicher einem Widerstreit diverser Souveränitätsansprüche mit völkerrechtlichen Regularien ausgesetzt sein sollte; und dass auf diesem ,staatsfreien‘ Raum die Codierung juristischer Geltung und ein Rechtsschematismus wie der von res nullius, res meum und res omnium erst durch den faktischen Zugriff und somit durch die Reichweite gewisser Medien oder Kulturtechniken gültig werden konnte – sei es durch die Reichweite von Kartographie und Nautik, sei es durch die Reichweite des Archivs.

II. Der Meeresboden als Archiv Seit den Anfängen abendländischer Seefahrt fürchtete man das ,freie‘, fernab aller Küsten gelegene Meer. Schließlich sah man es als Schauplatz des Verschwindens, ja als eine Art Un-Ort der Verschlingung und des unwiderruflichen Vergessens. Jene Dokumente und Archive, die den hier versunkenen oder verschollenen Schiffen galten, bezeugten allerdings weniger ,erinnerungspolitische‘ denn vielmehr kaufmännische Belange. Erstellt und angelegt wurden sie nicht von Souveränen und Seemächten, sondern von Kaufleuten, die seit dem 14. Jahrhundert mit ihren Seeassekuranzen die allerersten Versicherungen überhaupt betrieben. Ehe man den angeblichen Untergang eines Schiffs als vollendete Tatsache zu den Akten nahm, wurde er zur Streitsache zwischen den Versicherern und den womöglich nur betrügerischen, womöglich aber auch entschädigungsberechtigten Versicherten. Die Archive der frühneuzeitlichen Versicherungsgesellschaften dokumentieren deshalb in erster Linie die gegensätzlichen Bemühungen, das vermeintliche Ereignis eines Schiffbruchs zu beglaubigen oder aber als bloße Fiktion zu enttarnen.11 Egal, ob betrügerische Absicht nachgewiesen wurde oder man sich auf das Faktum des Untergangs einigte: Ein versunkenes Gut war das –zumindest virtuelle – Eigentum entweder des Geschädigten oder aber, falls er den Verlust kompensiert hatte, des Versicherers. Keineswegs war es eine herrenlose Sache. Weil es aber, zumindest für die Tiefsee, keinerlei Bergungstechniken und damit auch kaum Aussicht auf Wiedererlangung gab, war dieser Besitztitel rein potentieller Natur. Was auf dem offenen Meer versunken war, schien also im Wortsinne ,gründlich‘ verlorengegangen. Nicht umsonst ist unter den Gemeinplätzen abendländischer Rhetorik für die See von jeher der paradoxe Topos der ,Ortlosigkeit‘ und damit des Vergessens reserviert. Dies änderte sich erst um 1800, als man sich für die Tiefen des Meeres zu interessieren begann und zudem die Sphäre der Seefahrt erstmals als ,kulturellen‘ Wirkungsraum begriff. Hegel etwa bezeichnete die See als das „größte Me11 Vgl. etwa Jacques Ducoin, Naufrages, conditions de navigation et assurances dans la marine de commerce du XVIIIe siècle, Paris 1989, Bd. I., S. 3 – 12, S. 249 – 255.

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dium der Verbindung“.12 Eben weil sie die „Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen“ gibt, nötigt sie zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen statischen Land- und dynamischen Meereskulturen. Für Hegel zeichnet dabei die Gestalt der Erde selbst den Gang des Geistes vor. Denn nur jene Kulturen, die Zugang zur See besitzen, gelangen über ihre „beschränkten Kreise hinaus“.13 Damit ist zum einen Kultur im emphatischen Sinne immer schon „mit dem Elemente der Flüssigkeit, der Gefahr und des Unterganges“ versetzt.14 Zum anderen rückt Kultur insgesamt in eine geophilosophische Perspektive, in der sich Lebens- und Weltzeit überlagern. Um 1800 wurde deshalb für etliche Denker die Geologie zu einer Leitwissenschaft, förderte sie doch ein Wissen nicht nur von der Erdgeschichte, sondern ebenso von der Kultur, ihrer Möglichkeit und Vergangenheit zutage. Dies zeigte sich zunächst auf dem festen Land: In den Tiefenschichten der Erde hatte sich die Geschichte des Geistes und seiner kulturellen Manifestationen sedimentiert, wie Hegel erkannte. Hierin folgte er der ,Geognosie‘ Abraham Gottlob Werners, der die in sich verschlossene Erde, ihre Mineralien und Steine allererst ,lesbar‘ zu machen versucht und damit jene Verschränkung von Naturhistorie, Altertumskunde und Sprachgeschichte angebahnt hatte, die die Erdgeschichtsschreibung um 1800 allgemein kennzeichnete. Fossilien sollten wie archäologische Zeugnisse entziffert werden, und Buffon sprach gar von naturgeschichtlich zu konsultierenden „archives du monde“.15 Es bedurfte so nur mehr eines kleinen Schrittes hin zur ,Schicht‘ als Ordnungsprinzip der ,Stratigraphie‘. Entsprechend seiner evolutionistischen Auffassung sah etwa Charles Lyell in den Gesteinsschichtungen Zeugnisse geologischer (und auch ,kultureller‘) Epochen, ihrer unabsehbar langen ,Tiefenzeit‘ und ihres katastrophalen Untergangs. Haben sich also Geologie und Kulturwissenschaft zu Lande schon rein konzeptionell zugearbeitet, so war diese Tiefenforschung zur See ungleich schwieriger. Bis weit ins 19. Jahrhundert blieb die Meereskunde nämlich wortwörtlich ,oberflächlich‘. Das Meer war eine schiffbare, aber gefährliche Wasserfläche, deren unerreichbaren Untergrund man sich als tödliches und ,azoisches‘ Element vorstellte, ehe 1868 zufällig, nämlich durch nach oben geholte Telegraphiekabel, Tiefseeorganismen ans Tageslicht kamen. Seither ging man dem Meer nicht mehr nur metaphern-, verkehrs- und kommunikationstechnisch, sondern auch evolutionstheoretisch auf den Grund. Dass aber die Tiefsee eine Domäne nicht allein der Naturgeschichte ist, wurde mit ihrer Erforschung schon bald zu einem Credo der ersten Kulturwissenschaftler. Weil deren Ahnherr Hegel Schiffe als „Werkzeuge“ maritimer Kultur und damit eigentlich von Kultur schlechthin bezeichnet hatte, mussten sich am Meeresboden nicht nur Ruinen der Erd-, sondern auch solche der Kulturgeschichte finden. Hatte Noah 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Frankfurt a. M. 1995, Bd. 7, S. 390. 13 Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ebd., Bd. 12, S. 118. 14 Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ebd., Bd. 7, S. 390. 15 Georges Louis Leclerc Comte de Buffon, Les Époques de la Nature, Paris 1780, S. 1.

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mit seiner Arche, wie Hegel sagt, in einer Art restitutio ad integrum „die zerrissene Welt zusammen[gebaut]“,16 so diente nun umgekehrt das Meer als ein Archiv untergegangener Kultur. Bereits Lyell hielt es „für wahrscheinlich, dass sich am Meeresboden im Laufe der Zeiten eine größere Anzahl von Denkmälern des menschlichen Könnens und Fleißes angesammelt haben wird, als jemals auf dem festen Land sichtbar werden könnte.“17 Die Tiefsee war also kein dunkler Abgrund des Vergessens mehr. Sie barg nun zahllose nautische Fundstücke und damit einen immensen Schatz kultureller Schlüsselzeugnisse. Mit seiner Erschließung ist das Meer zu einer Frage des ,kulturellen Gedächtnisses‘ geworden. Weniger terra nullius, auf deren Grunde alles zur res nullius wird, als vielmehr eine Art Archiv, fordert es zur unablässigen Tiefenforschung heraus, in deren Zuge immer wieder neu zu verhandeln ist, wem das hier Geborgene eigentlich gehört. Bis heute gelten Schiffswracks als die wichtigsten Kulturzeugnisse am Meeresgrund, und dies aus ,kulturtheoretischer‘ Raison. Denn nicht nur, dass Seefahrzeuge unter allen beweglichen Artefakten von jeher die größten und komplexesten darstellen. Zum einen geben gerade Hochseeschiffe Aufschluss über das vormalige Alltagsleben, umfassen doch die in ihren Wracks geborgenen Dinge zuweilen Kunstobjekte, zumeist aber technische Artefakte, Abfälle und Gebrauchsgegenstände. Zum anderen informieren die Schiffe selbst, ihr Rumpf und ihr nautisches Zubehör über den Stand zeitgenössischer Technologien und Ökonomien. Waren Schiffe einst ,Werkzeuge‘ von Kultur, weil sie dieser einen unbeschränkten oder zumindest globalen Raum eröffneten, so bilden ihre Wracks nun Bergungsformen für dieselbe, insofern sie deren historisch beschränkte Zeit in sich regelrecht verschließen. Eine derart eigentümliche Temporalität mag, um eine prägnante Klassifikation des englischen Schriftstellers James Hamilton-Paterson anzuführen,18 nicht nur die archäologisch relevanten Fundstücke, sondern auch jene Wracks kennzeichnen, die als „Zeitbomben“ eine ablaufende Frist drohender Schadenswirkungen, die als „Goldminen“ die wertsteigernde Zeit des Antiquitätenhandels oder als „Gräber“ eine im trauernden Eingedenken rituell wiederzubelebende Vergangenheit betreffen. Im Falle der Goldminen wird das Bestreben der ursprünglichen Eigner und ihrer Rechtsnachfolger darauf zielen, nach Maßgabe des geltenden Bergerechts wieder in Besitz der versunkenen Schätze zu gelangen; im Falle der Zeitbomben hingegen versucht man allzu häufig, sein gefährliches und umweltschädigendes Eigentum zu ,derelinquieren‘, es, wenn schon nicht rechtsgemäß, so doch stillschweigend – und ,sittenwidrig‘ – herrenlos zu machen.19 Im Falle der Gräber und Kulturgüter schließlich werden eigen16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: ders., Werke, Frankfurt a. M. 1995, Bd. 1, S. 273 – 417, hier S. 274. 17 Charles Lyell, Principles of Geology, Bd. II., London 1832, S. 258 (Übers. BW). 18 James Hamilton-Paterson, Seestücke. Das Meer und seine Ufer, Stuttgart 1995, S. 139. 19 Zum Problem der Dereliktion auch im Falle des Mülls vgl. den Beitrag von Doris Schweitzer in diesem Band. Zum freiwilligen oder unfreiwilligen Abandon von Schiffswracks vgl. Anne G. Giesecke, Wrecked and Abandonded, in: Carol V. Ruppé, International Handbook of Underwater Archaeology, New York et al. 2002, S. 573 – 584, hier S. 580 – 583.

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tumsrechtliche Fragen zunächst zurückgestellt: Geht es dort primär um eine Nichtaneignungsfähigkeit aus Gründen der Pietät und religiösen Gefühle, dann hier um einen kulturellen Eigenwert, der sich aus der Spezifik dieser Fundstätten ergibt. Gerade historisch wertvolle Wracks scheinen nämlich dem Hier und Jetzt entzogen. Oder, anders gesagt: Mehr noch von Zeit als von Wasser überspült, gelten sie als radikal alt. Von der Unterwasserarchäologie werden sie deshalb als time capsules, als „Zeitkapseln“ bezeichnet. Ihr eigentümlicher Wert mag im Gegensatz zu dem anderer Wracks darin bestehen, dass sie einen entlegenen ,Zeitraum‘ dokumentieren, ja schlechtweg ,kulturelle Zeit‘ verkörpern. In diesem Sinne sind Schiffswracks ,deep structures‘ – Fundstätten, die durch die Anordnung sichtbarer Artefakte Vergangenheit in Synchronizität übersetzen. Was die submarinen von den meisten landfesten archäologischen Fundstätten unterscheidet (aber mit dem Sonderfall schlagartig untergegangener Städte wie Pompeji vereint), ist die Gleichzeitigkeit, mit der ihre Artefakte niedergelegt wurden. Sie bieten singuläre Momentaufnahmen – nämlich solche vom Augenblick des Untergangs. Zugleich schlägt sich in diesen ,Chronotopoi‘ jene Zeit nieder, die seit dem Untergang verstrichen ist. Einerseits mag nämlich die Erosionsgewalt der Zeit bzw. der See die time capsules geradezu unlesbar machen. Andererseits kann sich an ihnen ein stabiles Mikroklima konsolidieren, so dass die Tiefsee nicht mehr zerstörerisch, sondern konservatorisch wirkt. Lesbar sind Schiffswracks so oder so nur im Kontext ihrer jeweiligen Fundstätten. Diese gelten deshalb ihrerseits als archäologische Zeugnisse. Schließlich enthalten sie – in ihrer womöglich ursprünglichen Formation – verstreute Einzelteile, die sogenannte ,Wrackspur‘. Und zugleich beherbergen sie jenes natürliche milieu, das dem kulturellen lieu de mémoire zugrunde liegt. Weil also auch Fundstellen deep structures sind, unterlässt die neuere Unterwasserarchäologie die Hebung von Wracks entweder ganz oder nimmt diese nur partiell vor. An ihre Stelle setzt sie dann die sogenannte in-situ-Archivierung: die Erstellung eines umfassenden, der Idee nach erschöpfenden survey, der die Stätte materiell intakt belässt, um sie zugleich in Daten zu übersetzen und als solche zu den Akten zu nehmen. Vor diesem Hintergrund hat man nicht nur die alte geologische Metapher des ,Bodenarchivs‘ wiederaufgegriffen, die das Meer explizit von einer Metapher des Vergessens zu einer solchen des Archivs erklärt. Unter dem Einfluss der New Archaeology klammerte man seither auch jeden vermeintlich gesicherten historisch ,Kontext‘ ein, um stattdessen aus dispersen und divergenten Elementen signifikante Datenräume zu erschließen. Die Unterwasserarchäologie stützt sich heute auf vielfältige Verfahren der data recovery, auf Modellierungen, Simulationen und Szenarienbildungen, die nicht selten unverzichtbar sind, um die Fundstelle trotz anscheinend insignifikanter Daten lesbar zu machen und die Fundstücke selbst, die ja oftmals nur in Fragmenten und Spuren vorliegen, allererst als benennbare res oder Gegenstände zu konstituieren. Man kann hierbei auch von einer Rückkopplung vielfältiger Findeund Bestimmungsprozeduren sprechen: Um sich von Zufallsfunden unabhängig zu machen, steht zur Ermittlung eines Suchrasters die planmäßige Archivrecherche am Beginn; ist man tatsächlich unter Wasser fündig geworden, so sind sämtliche In-

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formationen abermals mit landfesten Archivdaten abzugleichen oder diesen hinzuzufügen, um zu neuen Hypothesen und von dort aus wieder ins Archiv und wieder zurück zum Meeresgrund zu gelangen. Doch damit nicht genug: Jede archäologische Unternehmung hat ihrerseits ein sogenanntes ,Projekt-Archiv‘ aller gewonnenen Daten und ergriffenen Maßnahmen anzulegen, es fortlaufend zu aktualisieren und den bestehenden Archiven einzuschreiben. Dass man, was den Status des Kulturguts angeht, erst an der Wende zum 21. Jahrhundert zu einer haltbaren völkerrechtlichen Regelung gelangte, ist so gesehen vielleicht kein Zufall. Seinem prekären Objektstatus wurden schließlich erst jene digitalen Technologien gerecht, die seit diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Schon zur Konstitution dieser eigentümlichen res ist letztlich erfordert, die Bestände aller alten und auch aller kurrenten Archive zusammenzuführen, ihre verschiedenen Dokumente (von Texten, Karten und Plänen bis hin zu Fotografien, Ton- und Filmaufnahmen) zu digitalisieren und zu vernetzen. Bei der unterwasserarchäologischen Gratwanderung zwischen Artefakten und Akten, zwischen Gegenstand und Diskurs, sind sämtliche verfügbaren Speichertechnologien zu mobilisieren, um auch zunächst nutzlose Daten zu bewahren. Letzten Endes ist, mehr noch als die materielle Erhaltung, die Datensicherung – die Erhaltung der „potentialities of the evidence“ also – der „ultimate concern“.20 Die Archive der submarinen Archäologie sind deshalb ,Projektarchive‘ in einem strikten Sinne: Sie sind Ausdruck eines imperfekten Noch-nicht-Wissens. Was sie latent halten, weil von der Notwendigkeit tatsächlicher Referenz befreien, sind die am Meeresgrund gefundenen Artefakte. Was sie damit aber bergen, ist ein Potentialis namens ,Kultur‘.

III. Das gemeinsame Kulturerbe der Menschheit Anders als in Schmitts ,rechtsontologischer‘ Bestimmung des Meeresraums prognostiziert, entwickelte sich die See bis zum späten 20. Jahrhundert keineswegs nur zum Schauplatz einer unablässigen ,Seenahme‘ durch die jeweils Stärkeren. Als in den späten 1960er Jahren erstmals die technologischen Mittel dafür bereitstanden, den Meeresgrund auf breiter Front auszubeuten sowie seine Ressourcen in die neue Weltwirtschaftsordnung einzuspeisen, führte der Protest der ,Entwicklungsländer‘ zu einer Art Schonung wenigstens des Tiefseebodens. Analoge Forderungen hatten bereits die staatsfreien Räume der Antarktis und des Weltalls betroffen. 1954 etwa schlug Aldo Armando Cocca vor, den Weltraum als res communis humanitatis

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M. A. Smith, The Limitations of Inference in Archaeology, in: Lawrence E. Babits/Hans van Tilburg (Hg.), Maritime Archaeology. A Reader of Substantive and Theoretical Contributions, New York/London 1998, S. 167 – 174, hier S. 173, und Wilburn A. Cockrell, Why Dr. Bass couldn’t convince Dr. Gumbel. The Trouble with Treasure revisited, again, in: ebd., S. 85 – 96, hier S. 95.

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zu schützen.21 Für das konkrete Management indes, das die Schonung eines staatsfreien Raums besorgt, aber auch für die völkerrechtliche Diskussion überhaupt wurde nachgerade der Tiefseeboden zum Paradigma.22 Nachdem Andrés Bello, Schriftsteller und Jurist im Geiste Grotius’, bereits im Jahre 1830 das völkerrechtliche Konzept eines ,unteilbaren gemeinsamen Patrimoniums‘ entworfen und der argentinische Jurist José León Suárez im Jahre 1927 erstmals von einem ,Erbe der Menschheit‘ gesprochen hatte, bezeichnete Prinz Wan Waithayakorn auf der ersten Genfer Seerechtskonferenz 1958 die Hohe See als „l’héritage commun de toute l’humanité“, ehe der maltesische Botschafter Arvid Pardo 1967 auf der UN-Vollversammlung ganz konkret vorschlug, den Meeresboden jenseits der Grenzen nationaler Gesetzgebung zum common heritage of mankind zu erklären.23 Was das ,gemeinsame Erbe der Menschheit‘ mit der vormaligen Konzeption einer res nullius verbindet, ist die rechtliche Aufmerksamkeit nicht nur für die vermeintlich herrenlose Sache, sondern ebenso für die Konkurrenz bei einer möglichen Aneignung; was es davon scharf unterscheidet, ist ein generelles Aneignungsverbot, so dass der unterhalb der ,Hohen See‘ befindliche Grund mitsamt seiner zahlreichen Ressourcen gerade nicht terra nullius und res nullius sein kann. Ähnlich wie die Konzeption einer res communis omnium bezeichnet das common heritage of mankind ein Gemeingut; nur sollte dessen Ausbeutung auch gemeinschaftlich überwacht und von Mal zu Mal lizenziert werden und zudem im Sinne eines gerechten Ausgleichs der gesamten Völkergemeinschaft zugute kommen. Schließlich verfügten die ,Entwicklungsländer‘ nicht über die notwendigen technischen und finanziellen Mittel, um von den nunmehr erschließbaren Bodenschätzen tatsächlich einen angemessenen Anteil zu erhalten. Zuletzt wurde zu diesem Zweck 1994 im ,Implementation Agreement‘ der United Nations Convention on the Law of the Sea der Begriff der Area festgeschrieben: eines ,Gebiets‘, das jenseits der Küstenmeere, der Anschlusszonen und des Festlandsockels, mithin jenseits der Einflusszone nationaler Souveränität liegt und als common heritage of mankind zu schützen ist. Dabei umfasst die rechtliche Spezifikation dieses Begriffs neben dem Aneignungsverbot, einem institutionalisierten Verwaltungs- bzw. Nutzungsmodell und dem Gebot friedlicher Nutzung auch die gemeinsame Verpflichtung zu wissenschaftlicher und technischer Kooperation sowie eine gewisse Treuhandschaft gegenüber künftigen Generationen – ein Aspekt,

21 Vgl. Vladimir Postyshev, The Concept of the Common Heritage of Mankind. From New Thinking to New Practice, Moskau 1990, S. 84. 22 Vgl. Stephan Hobe, Die staatsfreien Räume – insbesondere der Weltraum, in: Karl Schmitt (Hg.), Politik und Raum, Baden-Baden 2002, S. 79 – 88, hier S. 79 – 82, und Gbenga Oduntan, Sovereignty and Jurisdiction in the Airspace and Outerspace. Legal Criteria for Spatial Delimitation, New York 2012, S. 203 f., S. 208. 23 Vgl. Detlev Wolter, Grundlagen „Gemeinsamer Sicherheit“ im Weltraum nach universellem Völkerrecht. Der Grundsatz der friedlichen Nutzung des Weltraums im Lichte des völkerrechtlichen Strukturprinzips vom ,Gemeinsamen Erbe der Menschheit‘, Berlin 2003, S. 168 f., und Helmut Tuerk, Reflections on the Contemporary Law of the Sea, Leiden/Boston 2012, S. 31 – 33.

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der neben dem in den 1970er Jahren absehbaren, wachstumsbegrenzenden Rohstoffmangel auch die damals klar erkannten ökologischen Risiken in Rechnung stellt. Obschon diese Schutz-, Distributions- und Pflicht-Bestimmungen zum ,gemeinsamen Erbe der Menschheit‘ auf die natürlichen Ressourcen des Meeresgrundes zielen, bietet es sich geradezu an, sie auch auf die kulturellen Bestände am Tiefseeboden zu beziehen. Diese Analogie ist in vielerlei Hinsicht zu rechtfertigen: Bereits dem Völkerrecht des 18. Jahrhunderts wurde – etwa bei Emer de Vattel – als Auftrag zugeschrieben, all jene Formen und Bestände der Kunst zu schützen, die der Menschheit insgesamt zur Ehre gereichen. Dass ein Schaden an irgendwelchen Kulturgütern ein solcher für das gesamte Kulturerbe der Menschheit und dass dessen Aneignung als Kriegsbeute illegitim sei, war schon in der kriegsrechtlichen Diskussion des 18. und 19. Jahrhunderts angesprochen, spätestens 1954 dann in der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten explizit kodifiziert worden. Die Analogie zum common heritage of mankind wird freilich dadurch verkompliziert, dass Kulturgüter, anders als vormals nicht nutzbare Naturressourcen, ursprünglich das Eigentum von Individuen waren oder zumindest der Hoheitsgewalt eines Staats unterstanden.24 Die Analogisierung betrifft mithin nicht nur eine solche zwischen Natur und Kultur,25 sondern ebenso zwischen Individuen, Völkern oder Staaten auf der einen, der Staatengemeinschaft, internationalen Organisationen oder der ,Menschheit‘ auf der anderen Seite. Vielleicht ist diese Analogie nirgendwo besser durchzuführen als im ,Gebiet‘. Hier werden nämlich etliche Kulturgüter in einem natürlichen Milieu regelrecht konserviert, so dass bereits die Fundstellen unter die Kategorie des ,Kulturdenkmals‘ fallen. Und mehr noch: Sämtliche Spuren, die von menschlicher Kultur und Tätigkeit am Tiefseeboden hinterlassen wurden, werden als Kulturdenkmäler aufgefasst.26 Überdies fallen, sobald auf den staatsfreien Tiefseeboden gesunken, sämtliche vormals individuelle, nationale oder staatliche Besitztümer der Staatengemeinschaft, ihren Verwaltungsbehörden oder ,der Menschheit‘ insgesamt zu. Deswegen wurde erstens vorgeschlagen, neben den Bodenschätzen auch das im ,Gebiet‘ befindliche Kulturgut als ,gemeinsames Erbe der Menschheit‘ zu deklarieren; hier zweitens die Anwendung des Berge- und Fundrechts auszuschließen, cultural property also 24 Vgl. hierzu Rudolf Dolzer, Die Deklaration des Kulturguts zum ,common heritage of mankind‘, in: ders./Erik Jayme/Reihard Mußgnug (Hg.), Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes. Symposion vom 22./23. Juni 1990 im Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg, Heidelberg 1994, S. 13 – 26, v. a. S. 13 f., S. 22. 25 Bereits die 1972 beschlossene Convention Concerning the Protection of the World Cultural and Natural Heritage ging aus zwei unterschiedlichen Bewegungen zum Umweltschutz und zum Erhalt kultureller Stätten hervor. Dies zeigt sich noch heute an der institutionellen Trennung von Naturschutz und Kulturerbeschutz auf der Ebene von Gesetzgebung, Verwaltung und assoziierten Wissenschaften. Vgl. hierzu Thomas M. Schmitt, Cultural Governance. Zur Kulturgeographie des UNESCO-Welterberegimes, Stuttgart 2011, S. 107 f. 26 Vgl. Frank G. Fechner, Unterwasserarchäologie und Recht, in: Poseidons Reich. Archäologie unter Wasser. Sondernummer von Antike Welt. Zeitschrift für Archäologie und Kulturgeschichte, 26, 1995, S. 97 – 104, hier S. 99.

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tatsächlich zum cultural heritage umzuwidmen, ohne dabei die Ansprüche und Interessen von Eigentümern und Ursprungsstaaten ganz auszuklammern; und drittens das Kulturgut den Ressourcen der area somit letztlich gleichzustellen. In diesem Zuge würde man über die Rechtsfigur des ,kulturellen Erbes der Menschheit‘ hinausgehen – einen Oberbegriff ohne konkreten rechtlichen Inhalt, der eben deshalb so allgemein gehalten ist, weil er individuelle und staatliche Ansprüche nicht mit dem Universalismus des überindividuellen und staatsfreien Erbebegriffs vermitteln kann.27 Diese konkrete Vermittlung übernimmt im Falle des ,Gebiets‘ das Meer als, mit Hegel gesprochen, ,größtes Medium der Verbindung‘. Was aber dann als exemplarisches Kulturgut gelten muss, sind die im ,Gebiet‘ versunkenen Schiffswracks. Für unterschiedliche Arten von Schiffswracks sind auch unterschiedliche juristische Regelungen von Belang: bei ,Zeitbomben‘ die Vorschriften des Haftungs- und Bergerechts, bei ,Gräbern‘ die Verpflichtung zur Wahrung des Andenkens und der Totenruhe, während bei ,Goldminen‘ ein Vorzugsrecht auf Eigentum, Zugang oder Ausbeutung bestehen kann. ,Zeitkapseln‘ indes fordern gerade dadurch das internationale Recht heraus, dass hier die Probleme der Gefahrenvorsorge, des Andenkens und Nutzungsanspruchs auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: den der ,Kultur‘. Nachdem 1982 die United Nations Convention on the Law of the Sea verabschiedet worden war, konstituierte sich 1994 ein Cultural Property Committee, das sich mit Blick auf die Fundstücke des Tiefseebodens einerseits der Frage des Eigentums, andererseits dem Schutz der Fundstücke selbst widmete. Bis 2001 dann die Convention for the protection of the Underwater Cultural Heritage beschlussreif vorlag (und 2009 wirksam wurde), war zweierlei deutlich geworden: Was sich auf dem Grund der Tiefsee sammelt, muss zuweilen noch als Hinterlassenschaft von Privatpersonen, Unternehmen oder Staaten gelten, zuweilen aber schon als eine der ganzen Menschheit. Und bildet das hier Gesammelte Sach-Ensembles und Fundstellen, „in denen die Kultur des Menschen ihren materiellen Ausdruck gefunden hat“, so handelt es sich um „Kulturgüter“, die vor der Gefahr der Zerstörung und des Vergessens zu bewahren sind.28 Kulturgut stellt keine res nullius dar, sondern, wie man es formuliert hat, eine „res sui generis“.29 Pointiert könnte man auch sagen, die Archäologie (und besonders die unter Wasser) sei überhaupt nicht mit Sachen befasst, denn: „the archaeologist is digging up, not things, but people.“30 Jedenfalls soll das Kulturgut um des Andenkens an die Tätigkeit und den Werdegang der Menschheit willen, sozusagen als deren Erbschaft, an ihre künftigen Generationen weitergegeben werden. Und nicht von ungefähr hat man sich für diese Bestimmung wiederholt auf Charles Lyell und dessen Mutmaßung berufen, beim Tief27 Vgl. Ronald Herzog, Kulturgut unter Wasser. Schatztaucher, das Seevölkerrecht und der Schutz des kulturellen Erbes, New York 2002, S. 312 f., S. 351. 28 Nadine Christina Pallas, Maritimer Kulturgüterschutz, Berlin 2004, S. 29. 29 Michael Anton, Neuer Schutz archäologischer Kulturgüter, in: Michael Wittinger/Rudolf Wendt/Georg Ress (Hg.), Verfassung – Volkerrecht – Kulturgüterschutz. Festschrift für Wilhelm Fiedler zum 70. Geburtstag, Berlin 2011, S. 319 – 351, hier S. 350. 30 R. E. Mortimer Wheeler, Archaeology from the Earth, Oxford 1954, S. 13.

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seeboden handle es sich um eine deep structure und um ein ,Bodenarchiv‘, in dessen unerschöpflicher ,Tiefenzeit‘ die kulturelle Kontinuität des Menschengeschlechts enthalten sei. Dass heute insbesondere untergegangene Schiffe für Lyells monuments stehen, verdankt sich augenscheinlich einem Zufall: Denn während um die Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage gefeilscht wurde, arbeitete das Legal Committee of the International Maritime Organisation an einem Regulierungsinstrument für Tiefseewracks. Unter diesem Eindruck fassten etliche der UNESCO-Verhandlungsteilnehmer die time capsules als exemplarisch für die Konzeption des underwater cultural heritage auf.31 Seither sind historische Wracks, schon rein völkerrechtlich, die Archen maritimer, ja globaler Kultur. Schließlich scheint sich mit ihnen der Auftrag zum kulturelle Erbe am klarsten zur Geltung zu bringen: Mitte des 20. Jahrhunderts war der Schutz von Kulturgütern zur nationalen Sache erklärt worden, und seitdem es hierüber internationale Verträge gab, wurden die einzelnen Staaten, was die Kulturgüter auf ihrem Territorium angeht, als Treuhänder gegenüber der gesamten Menschheit eingesetzt. Geht man aber vom Nicht-Territorium des ,Gebiets‘ aus, wo es keinerlei nationale Ansprüche mehr geben soll, wird ,die Menschheit‘ zu einem Treuhänder ihrer selbst – und wird die Logik des familiären, dynastischen oder nationalen Erbes gänzlich durchbrochen. Als eine Erbschaft, die vom Menschengeschlecht aufs Menschengeschlecht überzugehen hat, stehen solche Kulturgüter jedenfalls außerhalb aller kommerziellen Verwertung, sind also –wie in ihrem Fall erstmals völkerrechtlich festgelegt – eine res extra commercium, die wie die See selbst nicht Gegenstand eines zivilen Kontrakts sein kann. Gelten diese Fundstücke – im Gegensatz zum national gepflegten und international nur beobachteten ,Weltkulturerbe‘ – als ,gemeinsames Erbe der Menschheit‘, so betrifft dieses ,Gemeinsame‘ neben der kollektiven Aneignung auch die gemeinschaftliche Verpflichtung zum Schutz und zur Erhaltung, was zuletzt heißt: einerseits zur Gefahrenvorsorge, die den Denkmalschutz zu einer Frage des Umweltschutzes erhebt;32 andererseits zur koordinierten archäologischen Bergung oder vielmehr archivarischen Datensicherung. Als solche ,Erbschaft‘ aufgefasst, kommt den Kulturgütern am Meeresgrund somit eine Schlüsselrolle bei der kulturellen Reproduktion und damit bei der Implementierung des Kollektivsingulars ,Menschheit‘ zu: Diese ist weniger ein neues Rechtssubjekt, das die klassischen Eigentümer und Hoheitsträger verdrängen würde, als vielmehr eine völkerrechtliche Begriffspersona, die bestimmte Rechte und Pflichten verkörpert, eine regulative Idee, die die sittliche Achtung für die Gattung als ganze fordert und für das Gemeinsame der Staaten und die globale Ausrichtung ihrer Hoheitsakte und Rechtssysteme 31

Vgl. hierzu Ariel W. Gonzalez, Negotiating the Convention on Underwater Cultural Heritage: Myths and Reality, in: Roberta Garabello/Tullio Scovazzi (Hg.), The Protection of the Underwater Cultural Heritage: before and after the 2001 UNESCO Convention, Leiden 2003, S. 83 – 88, hier S. 85. 32 Vgl. hierzu Charalampos Katsos, Nachhaltiger Schutz des kulturellen Erbes. Zur ökologischen Dimension des Kulturgüterschutzes, Baden-Baden 2011, S. 150 – 153.

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einsteht.33 Man hat sogar davon gesprochen, neben der UN-Charta von 1945 zur Sicherung des ,Weltfriedens‘ und neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als dritten entscheidenden Schritt zur Konkretisierung der ,Menschheit‘ die UNESCO-Satzung von 1945 zum ,Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt‘ anzuführen –werde doch erst durch deren ,vertikale‘ Dimension die Menschheit als Kulturgemeinschaft konstituiert.34 Auch in dieser Hinsicht kann das Kulturgut unter Wasser mitsamt seiner assoziierten rechtlichen und administrativen Praktiken als exemplarisch gelten. Eins jedenfalls führt diese Menschheits- und Treuhandkonzeption klar vor Augen: Zur juristischen Fassung eines Kulturguts, das nicht mehr territorial verankert ist, das sich nicht einfach als ,Sache‘ adressieren lässt und zudem keiner souveränen Autorität wie der des Staats untersteht, reicht es nicht aus, dem ,Idyll‘ des römischen Zivilrechts einfach Rechtsbegriffe wie die der res nullius oder res omnium zu entlehnen.35 Soll etwa, wie im Falle des Kulturerbes unter Wasser, das, was vormals niemandem gehört hatte und theoretisch allen zugänglich war, zu einer Sache werden, die allen gehört, am besten aber unberührt im ,Bodenarchiv‘ verbleibt, so sind keine einzelnen Staaten, sondern nominell die Behörden der internationalen Gemeinschaft und faktisch die Unterwasserarchäologen die Erbwalter der ,Menschheit‘.36 Das von ihnen gepflegte Kulturerbe besteht ,für Alle und Keinen‘. Diese paradoxe Verschränkung von Kollektiv- und Niemandseigentum bildet keine res nullius, weil es von aller Aneignung ausgeschlossen ist, aber ebenso wenig eine res omnium, weil es nicht von jedem beliebig zu nutzen ist und doch allen gehört. Auch von einem mare liberum kann hier nicht mehr einfach die Rede sein, ebenso wenig aber von einem mare clausum: Zwar ist das Meer geschlossen, aber nunmehr zum Nutzen aller, nicht nur der Stärkeren. Vielmehr muss man hier von einer kollektiven Treuhandschaft gegenüber der gesamten Menschheit sprechen, mit der die vormals exklusiven Interessen von Einzelstaaten zusehends durch Gemeinschaftsinteressen überlagert werden. Will man das Konzept des ,common heritage of mankind‘ als Alternative zur römischen Konzeption der res nullius und res omnium sehen, so darf es nicht als ein Territorialprinzip verstanden werden, dessen Eigentümlichkeit die Nichtaneignungsfähigkeit darstellen würde. Als nicht-appropriierbar galt bereits die res omnium. Das 33

Vgl. hierzu etwa Werner Stocker, Das Prinzip des Common Heritage of Mankind als Ausdruck des Staatengemeinschaftsinteresses im Völkerrecht, Zürich 1993, S. 111, S. 115, S. 227. 34 Vgl. Peter Häberle, Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat. ,Denk-Mal‘-Themen, Geschichtsorte, Museen, nationaler und internationaler Kulturgüterschutz, Berlin 2011, S. 130 f. 35 Zur Unbrauchbarkeit der Kategorien bei der rechtlichen Erfassung des Tiefseebodens und seiner Ressourcen vgl. Gregory A. French, Der Tiefseebergbau. Eine interdisziplinäre Untersuchung der völkerrechtlichen Problematik, Köln 1990, S. 147 – 149. 36 Vgl. hierzu Eke Boesten, Archaeological and/or Historic Valuable Shipwrecks in International Waters. Public International Law and what it offers, The Hague 2002, S. 33.

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,gemeinsame Erbe der Menschheit‘ ist aber gerade dadurch ausgezeichnet, dass es sich von Territorialvorstellungen löst.37 Sein take off von den ,terranen‘ Prinzipien des Rechts geht einerseits mit einer spezifischen Affinität zu neueren Technologien einher (sinnfällig in der Raumfahrt ebenso wie in der Tiefsee-Erschließung), weshalb man die hier avisierte Weltgemeinschaft auch als „global village“ und „common global civilization of science and technology“ bezeichnet hat;38 andererseits mit einer spezifischen Affinität zur ,Kultur‘ und ihrem Universalismus. Hat man zuletzt treffend von einer ,creeping jurisdiction‘ gesprochen, einer schleichenden Ausdehnung territorialer Souveränitätsansprüche auf die Hohe See, der das Seerecht entgegenwirken sollte, so kann man als umgekehrte, völkerrechtlich unterstützte Tendenz im Fall des Kulturgüterschutzes eine Art ,schleichender Kulturalisierung‘ des Meers beobachten – als wäre Kultur das Andere des Staats und seiner Logik von Eigentum und exklusiver Aneignung.

IV. Schluss: Kulturtechnik und Recht Das Auftauchen von ,Kultur‘ als neuzeitlicher Leitbegriff hat man auf die Schwelle um 1800 datiert, ohne sich damit auf eine begriffsgeschichtliche Zäsur festzulegen. Schließlich ist mit ,Kultur‘ weniger ein besonderes thematisches Gebiet oder ein bestimmtes Gegenstandsfeld als vielmehr eine spezifische Beobachtungsposition verknüpft: das Interesse an umfassenden, zunächst wertfrei gehaltenen Beschreibungen und Vergleichen, an Reflexionen und Metareflexionen, kurzum: an einer Beobachtung zweiter Ordnung. Einerseits ist Kultur – und dies wird besonders deutlich seit dem 19. Jahrhundert – ein globales Projekt und daher immer schon „Weltkultur“, wie Jacob Burckhardt schreibt: „Es besteht eine großartige, allseitige, stillschweigende Abrede, ein objektives Interesse an alles heranzubringen, die ganze vergangene und jetzige Welt in geistigen Besitz zu verwandeln.“39 Andererseits gibt sich alles, was Kultur kommuniziert, in seiner bloßen Kontingenz und schieren Positivität zu erkennen, um dennoch im ,kulturellen Gedächtnis‘ als sinnhaft zu erscheinen.40 Das ,Gedächtnis‘ Kultur bedarf dabei freilich eines Archivs, das „nicht einfach in einer Ansammlung von Materialien besteht, sondern in der Verfügbarkeit eines Katalogs bzw. einer Organisation, die deren Handhabung und Koordination ermöglicht.“41 ,Kultur‘ 37 Zur Ersetzung der römischen Kategorien durch das Konzept eines public trust und zur Fehldeutung des common heritage of mankind vgl. Kemal Baslar, The Concept of the Common Heritage of Mankind in International Law, The Hague et al. 1998, S. 86, S. 283 f. 38 Wolter, Grundlagen Gemeinsamer Sicherheit, S. 227. 39 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: ders., Das Geschichtswerk, Bd. II., Frankfurt a. M. 2007, S. 763 – 972, hier S. 813. 40 Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1999, S. 31 – 54, hier S. 36 – 38, S. 45, S. 47, S. 54. 41 Elena Esposito, Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 239.

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existiert nicht ohne gewisse Kulturtechniken der Darstellung und Organisation, des Vergleichens, der Sammlung, Speicherung und Übertragung. Was um 1800 noch die begriffliche Reflexion besorgt hat, implementieren die Technologien des 20. Jahrhunderts auf einer zusehends globalen und zugleich virtuellen Ebene. Man mag hier an die Diskussion um immaterielle Kulturgüter, etwa folkloristische Traditionen, denken, die die UNESCO letztlich dazu bewogen haben, das „important cultural heritage of every nation“ ins „universal heritage of humanity“ umzuwidmen.42 Im Falle des Unterwasserkulturerbes besteht der Schutzund Pflegeauftrag der Archäologie nicht zuletzt darin, die materiellen Substrate dessen aufheben, was in den Reflexionsbegriff der ,Kultur‘ eingehen soll. Dies hat gute sachliche und methodische Gründe. Schließlich ist die Archäologie „a destructive science. Once a site has been excavated, it can never be put back together.“43 Würde Kultur unmittelbar geborgen, so hätte dies zuletzt nur ihre materielle Zerstörung zur Folge. Deshalb ist der archäologische Zugriff mit Virtualisierung rückgekoppelt. Das Archiv setzt an die Stelle des Artefakts die bloße Information, die – anders als das Fundstück – tatsächlich der gesamten Menschheit zukommen könnte, so es nur ein für alle und immerzu zugängliches Übertragungsarchiv gäbe: „historical sites are part of our common heritage, and the information they contain belongs to everyone.“44 Die heutige Pflege des Kulturerbes, deren Ziele und grundsätzliche Verfahren von der Convention on the Protection of the Underwater Cultural Heritage verbindlich vorgeschrieben wurden, zeichnet der immer umfassende Einsatz von digitalen Aufzeichnungs- und Modellierungs-, Speicher- und Übertragungstechnologien aus. Diese haben das Kulturgut zu einem „networked object“ transformiert, dessen Erhaltung für die Nachwelt ganz neuartige Probleme aufwirft, etwa die der laufenden Konvertierung in neue Daten- und Programmformate. Zirkulierend zwischen wissenschaftlichen Kontexten, Museumskulturen und einer globalen Öffentlichkeit, haben derartige Objekte überdies zur Verunsicherung bislang elementarer Grenzen geführt, nämlich der Grenzen „between authority and expertise, permanency, instability and transition, linearity, multidimensionality and multi-directionality, certainty and unpredictability.“45 Und wenn das Kulturgut zu einem nicht-lokalisierbaren „im42 Vgl. Monika Dommann, Lost in Tradition? Reconsidering the History of Folklore and its Legal Protection since 1800, in: Christoph Beat Grabe/Mira Burri-Nenova (Hg.), Intellectual Property and Traditional Cultural Expressions in a Digital Environment, Cheltenham/Northampton 2008, S. 3 – 16, hier S. 13. 43 R. Duncan Mathewson III, Archaeology on Trial, in: Babits/van Tilburg, Maritime Archaeology, S. 97 – 104, hier S. 100. 44 Ebd. 45 Georgios Styliaras/Dimitrios Koukopoulos/Fotis Lazarinis, Handbook of research on technologies and cultural heritage. Applications and environments, Hershey 2011, S. 166, S. 182. Vgl. hierzu auch Emmanuel Baltsavias (Hg.), Recording, Modeling and Visualization of Cultural Heritage, London 2006, v. a. S. 11 – 20, S. 129 – 156, S. 205 – 216, S. 339 – 354, S. 407 – 430.

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materiellen Gut“ wird, dann kann bei diesem virtuellen „Mitteilungsobjekt“ immaterialgüterrechtlich nicht die Aneignung, sondern allein die Aktualisierung entscheidend sein.46 Schon mit Blick auf die mittlerweile zahlreichen Webapplikationen für das Weltkulturerbe kann man behaupten, dem internationalen Recht staatsfreier Räume unterstehe neben dem Tiefseeboden, der Antarktis und dem Weltraum mit dem cyberspace nunmehr noch eine weitere Sphäre, in der eigentumsrechtliche, aber auch kulturgüterschutzrechtliche Fragen aufgeworfen werden.47 Nicht zuletzt hierin findet also die Metapher des ,Datenozeans‘ eine gewisse sachliche Berechtigung. Zugleich jedoch führt der cyberspace nochmals klar vor Augen, worauf bereits das seerechtliche Regime hingedeutet hat: Die völkerrechtliche Fassung von Eigentumsverhältnissen an womöglich herrenlosen Sachen, die noch dazu als Kulturgut gelten können, gleicht einem unendlichen Projekt der Kulturarbeit, an dem unterschiedliche Technologien und Disziplinen ebenso prägend beteiligt sind wie das internationale Recht – im Fall des Kulturerbes unter Wasser neben der juristischen Begriffsmaschine die Technologien der Nautik ebenso wie das Wissen und die Datenverarbeitung der Archäologie. Was diese Kulturarbeit angeht, mag man auch von ,Kulturtechniken‘ sprechen, die die ,Grammatik‘ des Rechtssatzes grundlegend umstrukturieren, etwa an die Stelle des alten menschlichen Rechtssubjekts nun Gegenstände, Technologien und Medien setzen, die dann über die Stellung und Geltung vermeintlicher Rechtssubjekte wie das der ,Menschheit‘ bestimmen oder sie allererst hervorbringen. Es kann, wie gesagt wurde, kein Zufall sein, dass die völkerrechtliche Aufmerksamkeit für das Kulturerbe, seine immaterielle und globale Fassung zeitlich mit der wissenschaftlichen Erforschung von ,Kulturtechniken‘ zusammenfällt.48 ,Kultur‘ ist schließlich, sowohl für die Praxis des Kulturgüterschutzes als auch für die Theorie der Kulturwissenschaft, eine Sache, derer man durch persönliche Aneignung nicht habhaft werden kann. Zugleich aber scheint sie eine Sache, die, in ihrer Virtualität, nirgends besser geborgen werden kann als im Medium der neuen digitalen Technologien.

46 Jan Jacob, Ausschließlichkeitsrechte an immateriellen Gütern. Eine kantische Rechtfertigung des Urheberrechts, Tübingen 2010, S. 211. 47 Vgl. hierzu Shabtai Rosenne, The perplexities of modern international law, Leiden 2004, S. 315, S. 330. 48 Vgl. Cornelia Vismann, Kulturtechniken und Souveränität, in: dies., Das Recht und seine Mittel. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 2012, S. 445 – 459, hier S. 445 f., S. 455.

Keine Aneignung Übermorgen Eine historische Lektüre von Weltraumnormen Von Monika Dommann Ein Unternehmen durchdacht zu haben, das bedeutet keineswegs bloß: es vorbereitet zu haben, sondern das heißt vielmehr: es durchgeführt zu haben.1 Vladimir Mandl, 1932

Für Robert I. Lenkbare Luftschiffe über Zürich Womit beginnen? Oder vielmehr: wann? Friedrich Meili (1848 – 1914) erkor den Luftraum dann zu seinem juristischen Gegenstand, als Zeppelins Luftschiff Modell Z3 1908 über seine Zürcher Wohnung flog, beziehungsweise „fuhr“, wie der Jurist sich ausdrückte2 (Abb. 1). Die Lenkbarkeit des Modells Z3 war für Meili der entscheidende Wendepunkt:3 Das sei nicht mehr passives Fliegen, sondern Fahren unter Unterstützung eines Motors, die Besiegung der Luftmassen nach dem Willen des Lenkers: „Und als vollends am 1. Juli 1908 das lenkbare Luftschiff von Zeppelin in Zürich (und zwar in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung) in den Lüften erschienen war, fand ich Z.3. gleiche einem Appell an mein juristisches Gewissen – ich musste ihm folgen.“4 Meili schrieb genau dann über die Luftschiffe, als sie ihn heimsuchten, und dies geschah, als sie zum Verkehrsmittel wurden, das heißt Passagiere und Waren über längere Distanzen

1

Vladimir Mandl, Das Weltraum-Recht. Ein Problem der Raumfahrt, Mannheim/Berlin/ Leipzig 1932, S. 1. 2 Zu Friedrich Meili vgl. [A.E.]: Professor Dr. Friedrich Meili (1848 – 1914), in: Universität Zürich. Rektoratsreden und Jahresberichte, Zürich 1914, S. 63 – 65; Marianne Runge, Friedrich Meili (1848 – 1914). Lebensbild eines vielseitigen Zürcher Juristen, Diss. Jur., Basel 1978; Bruno Schmid, Meili, Friedrich, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) 2008, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D15771.php (letzter Zugriff 2.10.13). 3 Friedrich Meili, Das Luftschiff im internen Recht und Völkerrecht, Zürich 1908, S. 9. 4 Ebd., S. 17.

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Quelle: ETH Bibliothek Filmarchiv, Fel_008460-RE.

Abbildung 1: Neue Horizonte: Luftschiff über Zürich, 12. August 1908

in der Luft transportierten, so wie dies die Schiffe zu Wasser oder die Eisenbahnen zu Land bereits berechenbar und meist zuverlässig taten. Meili verstand sich als Modernist und Internationalist. Er war angezogen von den „ganz modernen Vehikeln“5 des Verkehrs, der Medien und der Infrastrukturen. Spezialisiert im internationalen Privatrecht hatte es dem Professor an der Universität Zürich das „ganze Erdenrund“6 angetan und alles, was in Bewegung und am Vagabundieren war – seien es die Wechsel der Kaufleute, die transatlantischen Dampfschiffe, die Völker der Welt oder die sich mischenden und vermengenden „verschiedenen Rassen“.7 Die Verkehrsflüsse öffneten neue Horizonte und Möglichkeiten, den engen Rechtsrahmen des Nationalstaates zu verlassen. Nachdem er in den 1870er Jahren über den Telegraphen promoviert hatte, schrieb Meili unter anderem auch über die Post, das Telefon, die Dampfschiffe, die Elektrizität, die Eisenbahn, das Automobil und schließlich 1908 über das Luftschiff.8 Die juristische Studie zum Luftschiff war weit mehr als ein weiteres Rechtsgutachten über ein neues Vehikel der modernen Welt. Meili sprach von der „Wärme der Huldigung“, die er Graf Ferdinand von Zeppelin entgegen bringen möchte: „Auch ein Jurist darf der Ausdauer und dem Geiste des Erfinders ein Wort der Verehrung widmen, zumal, wenn er dazu eine ungesuchte Gelegenheit hat.“9

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Ebd., S. 5. Friedrich Meili, Die neuen Aufgaben der modernen Jurisprudenz. Vortrag gehalten in der Wiener Juristischen Gesellschaft am 2. April 1892, Wien 1892, S. 7. 7 Ebd., S. 25. 8 Meili, Das Luftschiff; ders., Ballons, Flugmaschinen und die Jurisprudenz, Frankfurt 1909. 9 Ebd., S. 11. 6

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Ordnend, klärend und unterstützend sei das Recht, so Meili, und „eine lückenlose Weltgrösse“10 vermöge es zu werden. Das Luftschiff war für den Zürcher Juristen erfrischend und anregend, und gerade deshalb so anziehend, weil er sich durch die internationale Arbeit „auf dem kosmischen Gebiete“ eine Universalisierung des Rechts erhoffte: „Den grossen und weiten Blick [sic! M.D.], mit dem die Dinge hier angesehen werden müssen, wird das Universum und es allein bleiben.“11 Welch besseres Vehikel als das Universum konnte zur Universalisierung des Rechts herangezogen werden? Luft- und Staatsgebiete waren hierfür nur mehr eine Beschränkung. Mittels der Luftschiffe sollte das Recht in neue Höhen abheben. Doch es gab auch andere, persönliche Motive für die Leidenschaft zu den Luftschiffen: Nach dem Tod seiner Ehefrau 1902 und dem frühen Tod seines einzigen Sohnes 1904, verlassen vom „Glück“ „in der engsten Familie“, bot ihm der „grosse Horizont des internationalen Lebens“ kleine Fluchten.12 Vom bibliophilen Fundus dieses großen Horizontes zeugt seine über 3.000 Bücher umfassende juristische Privatbibliothek (eine Fundgrube des internationalen Rechts seit dem 16. Jahrhundert), die er 1910 der Zentralbibliothek Zürich vermachte. Darunter finden sich selbstverständlich auch zwei Schriften von Ferdinand von Zeppelin aus dem Jahr 1908, jenem Jahr, als Z3 in den Lüften über Zürich erschienen war.13

II. Rechtsressourcen als Geschichtsquellen Wenn im Folgenden eine historiographische Lektüre von Weltraumnormen des 20. Jahrhunderts (von Paul Fauchilles völkerrechtlicher Skizze eines Regimes der Luftfreiheit zur Zeit des Hochimperialismus bis zu den Resolutionen und Verträgen der UNO zur Nutzung des Weltraums während des Kalten Krieges) entwickelt werden soll, ist damit erstens die Prämisse verbunden, dass Rechtsgeschichte immer auch als Geschichte rechtswissenschaftlichen Wissens verstanden werden muss. Und zwar deshalb, weil das Recht mit historischem Wissen durchtränkt ist, oder, in den Worten Niklas Luhmanns: „Das Recht muss nie ,anfangen‘. Es kann an vorgefundene Traditionen anschließen.“14 Der Blick auf die Geschichte ist nie unschuldig, auch nicht im Recht. Und er ist schon gar nicht selbstredend. Im Gegenteil: Der epistemische Status von Geschichte im Recht ist erklärungsbedürftig, gerade weil Geschichte in der juristischen Literatur immer präsent ist. Wer behauptet, dass er Recht hat, wer das Recht revidiert oder kommentiert, tut dies immer mit einem 10

Ebd., S. 5. Ebd., S. 54. 12 Zentralbibliothek Zürich Ms Z II 554, Brief Friedrich Meili an Ludwig Forrer, 1. Januar 1905. 13 Graf Zeppelin, Die Eroberung der Luft. Ein Vortrag gehalten im Saale der Sing-Akademie zu Berlin am 25. Februar 1908, Stuttgart/Leipzig 1908; Ferdinand von Zeppelin, Die Luftschiffahrt, Stuttgart 1908. 14 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 138. 11

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Blick zurück. Zweitens ist mit dieser historischen Lektüre von Weltraumnormen das Vorhaben verknüpft, Rechtsdokumente als Quellen einer allgemeinen Geschichte zu lesen und damit eine der Differenzen zwischen dem Recht und der Historiographie, auf die Marie Theres Fögen und Dieter Grimm hingewiesen haben, produktiv zu wenden. Fögen hat argumentiert, dass es das Recht mit „Geltung“ (alles Recht ist geltendes Recht), die Geschichte hingegen mit „Kontingenz“ (alles, was geschah, konnte geschehen oder auch nicht geschehen) zu tun habe.15 Grimm bemerkte, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Recht primär im Dienst des Rechts erfolge.16 Deshalb gerät historisches Wissen bloß als „Reservoir dogmatisch nutzbaren Wissens“ in den Fokus der Jurisprudenz. Eine Geschichte des Rechts, die nicht im Dienste des Rechts zu stehen hat, muss auch keine Wurzeln suchen17, keine Argumente historisch bekräftigen und keine Kontinuitäten betonen. Sie darf bei den Brüchen, Störungen und Ambivalenzen des Rechts ansetzen. Sie kann genau da nochmals genauer hinschauen, wo alles scheinbar geklärt wurde. Sie kann verfolgen, welche kulturellen Konstellationen diesen Klärungen vorausgehen und welche sozialen und politischen Konflikte sie manifestieren. Und sie kann sich den Luxus erlauben, vom Recht abzukommen, wenn es nötig ist, um jenen Praktiken auf die Spur zu kommen, die bei der juristischen Erfassung des genuin unfassbaren Weltraums manchmal mit im Spiel waren und auch Texte entstehen ließen, die in Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari als „kleine Literatur“ bezeichnet werden könnten.18

III. Freier Luftraum für Imperien Das Institut de Droit International war seit seiner Gründung im Jahr 1873 jene Organisation, die sich als wissenschaftlich fundiertes „rechtliches Gewissen der zivilisierten Welt“19 und als Wegbereiter seiner Universalisierung verstand.20 Diese Wiege des Völkerrechts wurde von liberalen Juristen in Brüssel ins Leben gerufen. Sie verstanden ihr Projekt als Wissenschaft, betrieben seit 1869 eine eigene Zeitschrift, die Revue générale de droit international public, und sahen sich als Wegbereiter eines 15 Marie Theres Fögen, Die ungeliebten Kinder der Rechtswissenschaft, in: Andrea Büchler (Hg.), opuscula, Zürich/St. Gallen 2009, S. 88 – 96, S. 92 – 93. 16 Dieter Grimm, Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 399 – 427. 17 Kritisch-polemisch zur Wurzelsuche in der Rechtsgeschichte: Rainer-Maria Kiesow, Wurzelmänner, in: Rechtshistorisches Journal, Heft 12, 1993, S. 637 – 641. 18 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M. 2012 [Paris 1975]. 19 Vgl. hierzu die Statutes des Institutes, welche den Fortschritt des Völkerrechts als Zweck formulierten, und unter § 1 präzisierten: „En travaillant à formuler les principes généraux de la science, de manière à répondre à la conscience juridique du monde civilisé.“ 20 Zur Geschichte des Institut de Droit International vgl. Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law, 1870 – 1960, Cambridge/New York 2002.

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neuen Rechtsregimes, das mit der absolutistischen Diplomatie des Wiener Kongresses von 1815 und der Sklavenhaltergesellschaft brechen sollte. Wie die universalistischen Rechtsnormen jedoch im Zeitalter des Imperialismus praktiziert wurden, manifestierte sich, um beim Beispiel Belgiens zu bleiben, im Rahmen der vom belgischen König Leopold II. im Jahr 1878 an Henry M. Stanley übertragenen Okkupation des Kongos, in welcher sich Stanley durch Verträge in schriftlicher Form das Einverständnis der lokalen Eliten holte.21 Annektiert wurde der Kongo mittels Stanleys Karte, welche dieser nach seiner Afrikadurchquerung gezeichnet hatte, wie es der belgische Historiker David van Reybrouck in seiner fulminanten Geschichte des Kongos auf den Punkt brachte: „Annektieren bedeutet hier buchstäblich: auf eine Landkarte schauen und so denken wie der erste Grundeigentümer bei Jean-Jacques Rousseau: ,Ceci est a moi‘“.22 Die Okkupationsbestimmungen der Kongoakte griffen dann in eigenmächtiger Form auf die Regelung der Besitzergreifung herrenloser Gegenstände des römischen Privatrechts zurück, und waren in den Worten Jörg Fischs der letztlich nicht geglückte Versuch einer „Entpolitisierung eines hoch politischen Gegenstandes“.23 Das Institut de Droit International, das selbsternannte rechtliche Gewissen der zivilisierten Welt, war dabei tief in diese imperialen Praktiken verstrickt, wenn es das Rechtskonstrukt des Kongos von 1884/85 als internationalen Akt sanktionierte, der auch den europäischen Interessen, welche den Freihandel und die freie Flussschifffahrt ohne administrative Bürden in den ausgedehnten Gebieten Zentralafrikas schätzten, diente und dabei die aufkeimende Kritik am Terror unter Leopold II. bis 1908 vollständig ignorierte.24 Der Leiter der Revue générale de droit international public, der französische Völkerrechtler Paul Fauchille (1858 – 1926), hatte sich bereits mit den Luftgefährten befasst, als diese noch nicht vollends steuerbar waren: „Dans l’état actuel du science, l’aéorostat, loin d’assujettir à sa puissance l’air qui environne, on est au contraire le jouet: ce n’est pas lui qui commance à l’air, c’est à l’air qui le gouverne.“25 Die erste völkerrechtliche Abhandlung über Luftballone und Luftschiffe von Paul Fauchille aus dem Jahr 1901 und sein ein Jahr später veröffentlichter Beitrag im Jahrbuch des Institut de Droit International sind nicht bloß als frühe Texte der Normierung des Luftraums zu lesen, sondern durchaus auch in jenen ambivalenten kolonialen Kontexten zu betrachten, in denen sich das rechtliche Gewissen der zivilisierten 21

Ebd., S. 136 – 143. Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, Wiesbaden 1984, S. 89 – 91. 22 David van Reybrouck, Kongo. Eine Geschichte, Berlin 2012: Dieser ganz verfluchte Dreck. Der Kongo unter Leopold II., S. 77 – 126, hier S. 79. 23 Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, S. 89. 24 Vgl. hierzu Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 155 – 178; Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa, Boston/New York 1998. 25 Paul Fauchille, Le domaine aérien et le régime juridique des aérostats, Paris 1901, S. 5. Zu Paul Fauchille vgl. Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 279 – 281.

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Welt verortete. Die Regelung des Luftraums geschah nicht im luftleeren Raum, sondern zur Zeit des Hochimperialismus. Fauchille behandelt denn auch eingehend die rechtliche Dimension des Luftraums als Kriegszone, der durch die Aufklärungsballone bereits bei mehreren Schlachten nach der Französischen Revolution (z. B. Fleurus 1794), im Sezessionskrieg (1863) oder dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/ 71) strategisch in Beschlag genommen worden war.26 Paul Fauchille fasst die Luft in Analogie zum Meer als freien Raum, die niemandem gehöre und von allen frei genutzt werden könne: „L’air est libre. […] L’air, par sa nature même, ne se prête à aucune appropriation; il ne serait être occupé d’une façon réelle et continuie: il ne peut être un object de propriété.“27 Es ist Hugo Grotius’ naturrechtliche Lesart des Mare Liberum aus dem 17. Jahrhundert, die hier in der völkerrechtlichen Skizze des Luftraums zu Beginn des 20. Jahrhunderts anklingt, wenn Fauchille von der Natur des Luftraums spricht, die sich jeglicher Souveränität widersetze: „L’atmosphère est rebelle à toute possession matérielle.“28 Da jeder Souveränitätsanspruch niemals fixiert werden könne und instabil bleiben müsse, hätten Staaten keine Eigentums- und Souveränitätsrechte an der Luft: „L’air étant un res nullius don’t l’usage est commun à tous“.29 Res nullius, zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Hugo Grotius zu Gunsten der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) gegenüber monopolitischen Ansprüchen der Portugiesen in der Hochseeschifffahrt aus dem römischen Recht entliehen,30 wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts beim französischen Völkerrechtler Fauchille in Bezug auf die Luftfahrt ein Werkzeug, das die Universalisierung von Rechtsnormen in Einklang mit nationalen, das heißt französischen Traditionen festschreiben sollte.31 Dass das völkerrechtliche Konzept des Luftraums nicht die Aushebelung nationalstaatlicher Rechte beinhaltet, sondern ganz im Gegenteil deren Universalisierung vorantreibt, spiegelt sich auch in der in Analogie zur Schifffahrt formulierten Auflage, dass alle Luftschiffe nationale Flaggen tragen müssten sowie dem Verdikt, dass jegliche Luftschiffe ohne Flagge Piraten seien.32

26

Régime juridique des aérostats, in: Annuaire de L’Institut de Droit International, Heft 19, 1902, S. 19 – 114, hier S. 21 – 22. 27 Ebd., S. 32. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 34. 30 Hugo Grotius, Mare Liberum. Original Latin Text and Modern English Translation, edited and annoted by Robert Feenstra with a General Introduction by Jeroen Vervliet, Leiden/ Boston 2009 [1609]. Zu Hugo Grotius und der grotianischen Verwendung von res nullius siehe auch den Beitrag von Hans W. Blom in diesem Band. 31 Diese Position machte Fauchille 1911 bei seinem Bericht zum in Anschluss an die zweite Hagener Friedenskonferenz erarbeiteten maritimen Kriegsrecht explizit, als er die Wurzeln in der Kriegsrechtsvereinheitlichung Napoleons ortete. Vgl. Paul Fauchille, Manuel de lois de la guerre maritime, in: Annuaire de L’Institut de Droit International, Heft 25, 1912, S. 40 – 122, hier S. 42; Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, S. 279. 32 Régime juridique des aérostats, S. 28.

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Der Eiffelturm in Paris, 1898 zum 100. Geburtstag der Französischen Revolution errichtet und mit über 100 Metern das höchste Gebäude der Welt, ist bei Fauchille die bauliche Messlatte, welche die Grenze zwischen Land und Luft definiert: „On doit donc admettre que la colonne d’air située au-dessus du sol peut être soumise au droit de propriété jusqu’à hauteur où il est matériellement possible d’édifier un bâtiment: cette hauteur est actuellement de 300 mètres.“33 Oberhalb dieser Marke menschlicher Baukunst, die von den Besuchern der Pariser Weltausstellung um 1900 als Ausstellungsturm in Beschlag genommenen wurde, beginnt der von Fauchille als Atmosphäre bezeichnete Raum, wo die als Luftsäulen imaginierte nationalstaatliche Souveränität enden sollte. Hier sollte sich ein freier Luftraum für die internationale Kommunikation und den Verkehr erheben, der aber zugleich für alle jene Aktivitäten aller Nationalstaaten zugänglich sein sollte, mit denen sie ihre Existenz schützen durften (wie Zoll, Sanitätspolizei und Spionageabwehr). Dieser von Paul Fauchille um 1900 mit Rückgriff auf res nullius formulierte Rechtsraum der Luft als „milieu nécessaire au dévelopment de la civilisation et à la prosperité de tous les nations“34 ist deshalb in Weiterführung der Überlegungen von Lauren Benton und Benjamin Straumann als Rechtskonstrukt im Rahmen eines Bündels von Praktiken imperialer Diskurse zu bezeichnen, welches zur Zeit des Hochimperialismus nationale Interessen in völkerrechtliche Fortschritts- und Zivilisationsvisionen einfließen ließ.35 Auch für Fauchille ist res nullius eher eine „ressource than road map“36, eine Ressource für ein Rechtsregime der Lüfte für Krieg und Frieden im Kontext imperialer Aufrüstung zu Land, zu Wasser und in der Luft um 1900. Als Ressource für die Geschichtswissenschaft kann und muss Fauchilles Skizze deshalb auf andere Quellen bezogen werden, beispielsweise auf den im Januar 1908 von Graf Ferdinand von Zeppelin bei der Singakademie in Berlin gehaltenen Vortrag „Die Eroberung der Luft“. Wenn Zeppelin bei dieser Gelegenheit das Luftschiff „als weiteres Bindeglied zwischen den Völkern“ bezeichnete, auch weil „eine Absperrung hoch oben in der Luft“ undenkbar sei,37 machte er ein paar Augenblicke später gleichzeitig deutlich, dass sich im Hintergrund im Luftschiffbau ein unerbittliches Wettrüsten zwischen Frankreich und Deutschland abspielte. Zeppelin bat in Berlin „das deutsche Volk“ um Unterstützung angesichts des Gerüchts, dass sein französischer Konkurrent Henry Juillot, Ingenieur des Militärluftschiffes „Patrie“, ein neues Luftschiff „mit einem dem meinigen nahekommenden Gasinhalt“ baue.38 33

Fauchille, Le domaine aérien et le régime juridique des aérostats, S. 7. Ebd., S. 8. 35 Lauren A. Benton/Benjamin Straumann, Aquiring Empire by Law. From Roman Doctrine to Early Modern European Practice, in: Law and History Review, Heft 28/1, 2010, S. 1 – 38; Lauren A. Benton, Law and Empire in Global Perspective, in: American Historical Review, Heft 117/4, 2012, S. 1092 – 1100. 36 Benton/Straumann, Aquiring Empire by Law, S. 38. 37 Graf Zeppelin, Die Eroberung der Luft. Ein Vortrag gehalten im Saale der Sing-Akademie zu Berlin am 25. Februar 1908, Stuttgart/Leipzig 1908, S. 28. 38 Ebd., S. 30. 34

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Bei der Zivilisierung der Nationen und auch der Lüfte, der sich die Völkerrechtsbewegung verschrieben hatte, ging es letztlich auch um die Vorstellung einer Zivilisierung des Krieges. Doch „im Kriege gehört die Luft doch dem, der sie erobert“39 ! Diese Einschätzung lag so kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der Luft, als seit 1910 unter der Ägide des Institut de Droit International Konferenzen zur Regelung der Luftfahrt stattfanden.40 Zu einer verbindlichen internationalen Konvention fanden sich die Staaten vor dem Ersten Weltkrieg nicht zusammen, bloß zu einer kurzen Resolution, die dem Geist der Skizze Fauchilles aus dem Jahr 1901 folgte. Dieser war der Luftfreiheit und dem Prinzip der Territorialität gleichermaßen verpflichtet, auch und gerade vor dem Hintergrund der Unmöglichkeit der Durchsetzung der Souveränität in der Luft. Der Luftraum wurde zur res communis erklärt, während das Luftschiff, das sich in der Luft gleichsam in Exterritorialität befand, nationaler Souveränität unterstellt wurde. Es wurde festgehalten, dass Luftschiffe national immatrikuliert sein und eine klar erkennbare Marke des betreffenden Staates tragen müssen. Der Luftraum wurde als international und frei erklärt, gleichzeitig durfte dieses Prinzip von den Nationalstaaten zur Verteidigung ihrer Sicherheit beschnitten werden. Der Luftkrieg sei erlaubt, allerdings unter der Bedingung „de ne présenter, pour les personnes ou la propriété de la population pacifique de plus grands dangers que la guerre terrestre ou maritime.“41 Damit waren die Luftschiffe vor dem Ersten Weltkrieg in juristischer Hinsicht beinahe schon gewöhnliche Verkehrsmittel geworden. Die internationale Verkehrszirkulation hatte die nationale Adressierbarkeit als wichtigstes Prinzip einer neuen Ordnung des Luftraums unabdingbar gemacht, um Szenarien wie dem Absturz eines belgischen Flugzeuges mit deutschen und holländischen Passagieren über britischem Territorium rechtlich Herr zu werden. Im Pariser Luftverkehrsabkommen von 1919, einer Konvention amerikanischer und europäischer Staaten, wurde das Territorialitäts- und Souveränitätsprinzip im Artikel 1 auch für die Luftfahrt verankert: „The high contracting parties recognize that every power has complete and exclusive sovereignty over the air space above its territory.“42 Damit war die seit Ende des 19. Jahrhunderts strittige Frage, ob der Luftraum gemäß der Luftfreiheitstheorie oder der Lufthoheitstheorie geregelt werden sollte, im Sinne ersterer geklärt. Während vor 1914 noch der Freiheitsgedanke überwog, figurierte der Erste Weltkrieg als Wendepunkt in dieser Frage. Obwohl die militärische Luftaufklärung bereits vor dem Ersten Weltkrieg praktiziert worden ist, wurde sie doch erst im Stellungs- und Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs strategisch unerlässlich.43 Wenn es darum ging, die Gegner an der Aufklärung zu hindern, oder den eigenen Flugzeugen die Aufklärung zu ermöglichen, 39

Ferdinand Schroeder, Der Luftflug. Geschichte und Recht, Berlin 1911, S. 74. Revue juridique internationale de la locomotion aèrienne, Paris 1910 – 1913. 41 Revue juridique internationale de la locomotion aèrienne, Heft 2, 1911, S. 218 f. 42 Convention for the Regulation of Aerial Navigation, in: The American Journal of International Law, Heft 17/4, 1923, S. 195 – 212, hier S. 198. 43 Vgl. hierzu Christian Kehrt, Moderne Krieger. Die Technikerfahrungen deutscher Militärpiloten 1910 – 1945, Paderborn 2010. 40

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wurden die Grenzen zwischen Luftaufklärung und Luftkampf fließend. Seit 1915 wurden Maschinengewehre in die Militärflugzeuge installiert und auch bereits erste Bombardierungsversuche gestartet, die dann im spanischen Bürgerkrieg getestet und im Zweiten Weltkrieg massenhaft zum Einsatz kamen. Das völkerrechtliche Konzept der „population pacifique“ war als Kriegskategorie obsolet geworden. Es wurde nun niemand mehr geschont.

IV. Auflösung des Rechts im Weltraum Der Ursprung des Weltraumrechts liegt im Jahr 1932 und in Pilsen, so legt es jedenfalls die Rechtsliteratur nahe. Jede Abhandlung über Weltraumnormen fängt mit Vladimir Mandl (1899 – 1941) an, dem Rechtsanwalt aus Pilsen, der die 500 Exemplare seines 48 Seiten starken Büchleins mit dem Titel Das Weltraum-Recht. Ein Problem der Raumfahrt auf eigene Kosten drucken und durch einen deutschen Verlag vertreiben ließ.44 Obwohl der Text bloss in wenigen Bibliotheken der Welt aufbewahrt wird, ist er im juristischen Gedächtnis präsent, obwohl er sich genauer betrachtet schlecht eignet als Fundament eines neuen Rechtsfeldes, wird er doch als Wurzel des Weltraumrechts gepflegt.45 Mandl hatte bei der österreichischen Artillerie gedient und kannte das Fliegen als Besitzer eines Flugzeugführerzeugnisses (auch ein Produkt bürokratischer Adressierbarkeit des Luftraums) aus eigener Erfahrung. Gegen Ende der 1920er Jahre war die Rakete in Europa zum Vehikel futuristischer Phantasien und praktischer Erkundungen geworden: Davon zeugt etwa die 1926 in Wien gegründete Wissenschaftliche Gesellschaft für Höhenforschung oder der von Johannes Winkler gegründete Verein für Raumschifffahrt in Breslau, der zwischen 1927 und 1929 auch die Zeitschrift Die Rakete46 herausgab. Die Rakete warb mittels Berichten über fiktive Fahrten ins All und Experimenten mit Raketenschlitten oder Raketenwagen auf dem Boden für die Sache der Raumfahrt und um neue Vereinsmitglieder. Zu erwähnen wäre aber auch Fritz Langs Verfilmung von Thea von Harbous Roman Frau im Mond, einer UFA-Produktion von 1929. „Es gibt für den menschlichen Geist kein Niemals, höchstens ein Noch nicht“, steht da gleich zu Beginn als Motto über dem 156-minütigen Leinwandepos. Was folgt, ist ein fulminantes Arsenal von Weltraumeuphorie, Mondintrigen, Ressourcengier und Kosmosliebe. Der Raketenstart 44

Mandl, Das Weltraum-Recht. Die Geschichte des Advokats Vladimir Mandl wäre eine eingehende Untersuchung wert. Ich stütze mich bei meinen Ausführungen zu Mandl auf die Recherchen von Gerhard Reintanz, der sich im Rahmen seines Handbuchs zum Weltraumrecht aus der DDR von 1967 die Mühe machte, den Sohn Mandls ausfindig zu machen, um immerhin wenige Details über dessen Vater zu erfahren. Gerhard Reintanz, Weltraumrecht, Berlin 1967, S. 14 f. 45 Vgl. z. B. Karl-Heinz Böckstiegel, Handbuch des Weltraumrechts, Köln et al. 1991, S. 9; Francis Lyall/Paul B. Laresen, Space Law. A Treatise, Farnham 2009, S. 5 f. 46 Johannes Winkler, Die Rakete. Zeitschrift des Vereins für Raumschiffahrt E. V., Breslau 1927 – 1929.

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im gigantischen Hangar wird als modernes Massenspektakel inszeniert, mit flutenden Scheinwerfern, in Zeitlupe eingezogenen Abflugbrücken, einem Mann am Mikrofon, einer Hosen tragenden Frau, und einem durchgezählten Countdown „6, 5, 4, 3, 2, JETZT!“. Ein futuristisches JETZT war programmatisch für die von Vladimir Mandl drei Jahre später veröffentlichte Abhandlung zum Recht im Weltall. Während Friedrich Meili erst dann über die Luftschiffe geschrieben hatte, als sie ihm in Zürich buchstäblich über den Kopf geflogen waren, waren für Vladimir Mandl die Existenz und die Aktivitäten von Weltraumvereinen in Wien und Breslau und das Durchdenken der Raketenreise im Kopf, auf Papier und auf der Leinwand bereits Anlass genug, um als Jurist über den Weltraum zu schreiben: „Ein Unternehmen durchgedacht zu haben, das bedeutet keineswegs bloß: es vorbereitet zu haben, sondern das heißt vielmehr: es durchgeführt zu haben“.47 Mandls Büchlein ist zweigeteilt, doch sind Teil 1 („Gegenwart“) und Teil 2 („Zukunft“) miteinander verwoben. Wenn Mandl mit „Welt“ den vorstellbaren und zugleich bewohnten Raum meint, fasst er das „Weltall“ dagegen „als jenen Raum, welcher bisher nur in der Vorstellung des Menschen betreten werden konnte.“48 Der Weltraum ist das Andere der Welt: „Die Raumfahrt beginnt, wo die Luftfahrt endet“. Denn die Luft ist ein „schädigendes Hemmungselement, höchstens ein Abflugs- und Landungsplatz für die Raumfahrt“.49 Dass es noch Gesetzbücher gibt (wie der französische Code civil Art. 440), die den römischen Grundsatz „Qui dominus est soli, dominus est coeli et inferiorum“ als Leitgedanke für Eigentumsinteressen im Luftverkehr akzeptieren, damit kann Mandl nichts mehr anfangen. Je weiter der Raumfahrer im Luftraum von der Erdoberfläche sich entferne, und zwar noch innerhalb der irdischen Lufthülle, gelange er in eine Zone, die von den Interessen des Eigentümers des unten liegenden Erdbodens gänzlich frei sei.50 Mandl bedient sich in dem im Präsens gehaltenen Teil 1 ausgiebig des in der Rechtswissenschaft verankerten Analogiedenkens, das ihm gerade auch dazu dient, dessen Grenzen zu bestimmen. Beispielsweise wenn er die Regeln für Flugzeuge im Luftverkehrsabkommen von 1919 des Luftverkehrsrechts im Weltraum für nichtig erklärt: Weil der Feuerschweif der Raumrakete in der Nacht deutlich sichtbar ist, müssen sie auch keine besondere Beleuchtung aufweisen (Abb. 2). Ein Raumschiff braucht kein Hoheits- noch Eintragungszeichen, weder Zulassungs- noch Luftfahrerscheine, kein Bordbuch und auch keine Haftpflichtversicherung für die Rahmfahrer mehr. Es kann sich der bürokratischen Adressierbarkeit und Versicherungstechniken entledigen.

47

Mandl, Das Weltraum-Recht, S. 1. Ebd. 49 Ebd., S. 3. 50 Ebd., S. 10. 48

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Quelle: Zeitschrift des Vereins für Raumschifffahrt e.V., 15. September 1925.

Abbildung 2: Feuerschweif der Raumrakete in der Nacht: Die Rakete

Teil 2 verlässt die Gegenwart und damit auch das grammatikalische Präsens. Die Zukunft wird im Futur geschrieben, und in den Worten Mandls, „die Raumfahrt von der legislatorischen Gleichsetzung mit der Luftfahrt frei machen“.51 Es ist von der Hoffnung die Rede, dass die Menschen neben den körperlichen Anstrengungen auch den „psychischen Andruck“ der Planetenfahrt ertragen werden, nämlich das Gefühl der Schwerelosigkeit und das „Weh der Verlassenheit im unendlichen Raum“.52 Angesichts dieses „Unternehmens von kolossalem Umfange“53 wird 51 52

Ebd., S. 22. Ebd., S. 40.

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zwar wohl ein „Raumfahrtrat“ aller Interessengruppen die Raumfahrtprojekte vorher überprüfen, Genehmigungen erteilen oder verweigern, den Startplatz kontrollieren, und auch die Teile inspizieren, die sich während der Fahrt von der Rakete ablösen, wenn sie nicht in harmloser Form, völlig zersplittert, zum Erdboden gelangen. Zwar wird der Raumschiffkapitän Befehlsgewalt oder sogar Strafgewalt über seine Besatzung bekommen und man wird wohl für die Zurückgebliebenen, aber nicht die Raumfahrer, für Sicherheitsmaßnahmen sorgen müssen, wenn die Befriedigung von Gläubigern, die Versorgung der Unterhaltsberechtigten oder die Erziehung der Kinder bedroht sind.54 Doch schlussendlich wird nichts an der grundsätzlichsten Frage der Völkerrechtler vorbeiführen, „wie weit nach oben das Herrschaftsgebiet eines Staates reicht“.55 Mandl schreibt dazu, dass da, wo der Luftraum endet, auch die Gebietshoheit, die sich Staaten oberhalb ihres Territoriums zugesprochen haben, endet. Die Raumfahrt wird deshalb mit dem Begriffe des Staates als „rechtliche Zwangsgemeinschaft“ brechen.56 Denn „kein irdischer Staat“ wird imstande sein, „einen organisierten Zwang auf einen anderen Himmelkörper auszuüben, um dort seine Gesetze durchzusetzen; der Rechtszwang wird also illusorisch, und zwar nicht nur in jenen fernen Gegenden, sondern auch auf der Erde selbst, da künftighin jeder widerspenstige Staatsbürger der Zwangsausübung dadurch entgehen wird, dass er auf irgend einen Stern flüchtet.“57 Der juristische Rechts- und Staatsbegriff wird nicht aufrechtzuerhalten sein. Es wird keine Herrschergewalt der Gemeinschaft gegenüber seinen Mitgliedern mehr geben und Staat und Bürger werden ebenbürtige Rechtssubjekte sein. Das Staatsgebiet selbst werde raumlos sein, heute hier, morgen woanders, und eine „derartige Beweglichkeit und Gebietslosigkeit oder Durchdringlichkeit wäre mit dem heutigen juristischen Staatsbegriff unvereinbar“.58 Die Rechtsregeln jener künftigen Epoche werden frei zwischen den Teilnehmern vereinbart werden. Mandl unterstreicht schließlich im letzten Satz nochmals, dass das Weltraum-Recht deshalb kein dem Recht hinzugefügter Normenkomplex, sondern eine „wesensverschiedene Erscheinung“ sei.59 Als Vladimir Mandl, der Rechtsanwalt aus Pilsen, im Jahr 1932 sein WeltraumRecht veröffentlichte, gingen in Deutschland die Nationalsozialisten als klare Gewinner aus den Reichstagswahlen hervor und außerhalb Berlins lancierte das Heereswaffenamt ein geheimes Raketenforschungsprogramm unter Leitung des damals zwanzigjährigen Werner von Braun, einem Mitglied des Vereins für Raumschiff-

53

Ebd., S. 22. Ebd., S. 26. 55 Ebd., S. 31. 56 Ebd., S. 42. 57 Ebd., S. 43. 58 Ebd., S. 45. 59 Ebd., S. 48.

54

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fahrt.60 Indes verkaufte Mandl in den folgenden zwei Jahren bloß 25 Exemplare seines Büchleins.61 Er verschenkte resigniert den Rest der Auflage an seine Freunde, als der Verlag in Deutschland von den Nationalsozialisten konfisziert wurde. 1934 veröffentlichte er noch ein Büchlein zur Rakete als Verkehrsmittel62 und starb 1941 in Prag an Lungentuberkulose. Ohne Genaueres über sein Leben von 1932 bis 1941 zwischen Pilsen und Prag zu wissen, drängt sich hier dennoch eine spekulative Lektüre von Mandls Weltraum-Recht mit Hilfe von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Überlegungen zu den Schriften Franz Kafkas auf. Müsste man nicht ihre Lektüre von Kafka beiziehen?63 Ihre mit Rekurs auf Kafkas Rede von „kleinen Literaturen“ entwickelte Lesart einer „minderen Literatur“ zur Hilfe nehmen? Ihre Deutung dieser Literatur als Literatur einer Minderheit, verfasst in einem engen Raum, wo das Schreiben die Kraft in sich trägt, politisch zu sein und eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken? Warum nicht Mandls neben (oder vielleicht auch bei) seiner Arbeit als Rechtsanwalt ausgeübtes Schreiben über den Weltraum als Fluchtlinien deuten, die nicht einfach der Welt zu entfliehen trachten, sondern vielmehr darauf zielen „die Welt und ihre Vorstellung in die Flucht zu schlagen“, wie Deuleuze/Guattari betonen?64 War nicht Mandls Weltraumreise eine Deterritorialisierungsbewegung, und zwar im wortwörtlichen Sinne? Ein Versuch, Territorialität und Souveränität sowie Recht und Staat mittels der naturwissenschaftlichen Gesetze der Lichtgeschwindigkeit aufzulösen? Was sind denn Mandls Raumfahrer, wenn nicht lose und freie Figuren im Zeitalter kriegerischer Großraumprojekte und Totalitarismen? Anders als Mandl verkündete der Professor für internationales Recht am Institut für sowjetisches Recht in Moskau Eugène (oder Evgeny) Korovin (1892 – 1964) zwei Jahre später 1934 die Gültigkeit der Normen des internationalen Luftverkehrsabkommens in der Stratosphäre: „Nous venons de constater qu’avec la conquête de la stratosphère, le principe de la souveraineté étatique élargit son champ d’application: de telle sorte que l’affirmation de certains auteurs prêts à proclamer la mort de la souveraineté – ou au moins son inutilité, – nous semble prématurée.“65 Er deutete Souveränität nun als Prinzip „progressiver Nationen“ um, namentlich der Sowjetunion, Chinas und der Türkei.

60 Michael J. Neufeld, Von Braun: Dreamer of Space, Engineer of War, New York 2007; Wayne Biddle, Dark Side of the Moon. Werner von Braun, the Third Reich und the Space Race, New York/London 2009, hier S. 46 – 55. 61 Vgl. Reintanz, Weltraumrecht, S. 14. 62 Vladimir Mandl, Die Rakete zur Höhenforschung. Ein Beitrag zum Raumfahrtproblem, Leipzig/Berlin 1934. 63 Deleuze/Guattari, Kafka. 64 Ebd., S. 65. 65 Eugène Korovin, La conquète de la stratosphère et le droit international, in: Revue générale de droit international public, Heft 41, 1934, S. 675 – 686, hier S. 684.

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V. Friedensraum im Kalten Krieg Nach 1945 war es der Kalte Krieg, der die Weltraumnormen kodierte, und vor diesem Hintergrund müssen sie auch historisch dekodiert werden.66 Nachdem die Luftsouveränität im Jahr 1944 im Luftfahrtabkommen von Chicago bekräftigt worden war, wurde um 1950 die Frage staatlicher Souveränitätsrechte der Atmosphäre wieder drängend. Im maritimen Recht im 18. Jahrhundert hatte das vom Holländer Cornelius van Bynkershoek mit Rückgriff auf ältere Traditionen fomulierte Prinzip der „Kanonenschußweite“ gegolten, das heißt die Hohheitsrechte sollten da enden, wo die Macht der Waffen endete.67 Hatte bei Paul Fauchille um 1900 der Eiffelturm die Trennungslinie zwischen Boden und Luft markiert (300 Meter), und hatte er damals den Staaten eine Schutzzone zugestanden, die sich an der Sichtweite der Ferngläser und der Fotografie als Grenze der Luftaufklärung orientierte (1500 Meter),68 war es um 1950 die Erfindung von neuen Zweistufenraketen (gut 400 Kilometer), die Anlass zur Frage gab, ob in dieser Höhe noch von Territorialität die Rede sein sollte. Für John C. Cooper vom Institute of Advanced Study in Princeton war 1951 ganz klar, dass sich staatliche Souveränität so weit in den Weltraum erstrecke, als es „scientifically and physically“ möglich sei „for any one State to control the regions of space directly above him“.69 Die nationalstaatliche Souveränität war mit dem physikalischen Forschungsstand verschmolzen und damit potentiell grenzenlos geworden, verschmolzen mit dem Stand der Technik, der auch zu einem Spielball im Wettkampf zweier Gesellschaftssysteme geworden war. ,Sputnik‘ war hierbei nicht bloß der Name des ersten Satelliten, der im Weltall um die Erde kreiste, sondern seit dem 4. Oktober 1957 auch das Synonym für den Schock einer Nation und die Markierung einer neuen Phase des Weltraumnormdiskurses. Nun ging es nicht mehr um ein theoretische Frage, sondern um ein praktisches Problem.70 An der Konferenz zum Weltraumrecht im Herbst 1958 in Den Haag wurde wieder zurückgeschaut auf die Rechtsgeschichte zu Zeiten des Kolonialismus (Francisco de Vitorias, Francisco Suarez und Hugo Grotius). Sollten die Satelliten als neue „Kolonien“ betrachtet werden, oder waren es gar „unabhängige Objekte“ (man befand sich immerhin inzwischen in der Epoche der Dekolonisation)?71 Wie stark die Satelliten 66 Sozial- und Wissenshistorische Studien zum europäischen Weltraumfuturismus sind noch selten, für die Nachkriegszeit vgl. Alexander C. T. Geppert, Imaging Outer Space. European Astroculture in the Twentieth Century, Basingstoke 2012. 67 Vgl. Cornelius van Bynkershoek, De Dominio Maris dissertatio. A Photographic Reproduction of the Second Edition (1744). With an English Translation by Ralph Van Deman Magoffin and an Introduction by James Brown Scott, New York 1923, S. 44. 68 Régime juridique des aérostats, S. 36 f. 69 John C. Cooper, High Altitude Flight and National Sovereignty, in: The International Law Quarterly, Heft 4, 1951, S. 411 – 418, hier S. 418. 70 Le droit international des espaces célestes, in: Annuaire de L’Institut de Droit International, Heft 50/1, 1963, S. 128 – 496, hier S. 128. 71 Andrew G. Haley/Welf Heinrich Prinz von Hanover, First Colloquium on the Law of Outer Space. The Hague 1958. Proceedings, Wien 1959, S. 3.

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in die politische Semantik des Kalten Kriegs eingeflossen sind, spiegelt sich nicht zuletzt in der Figur der ,Satellitenstaaten‘, einer Chiffre des Westens für jene Staaten, die trotz formaler Unabhängigkeit als eine Art Kolonien der Sowjetunion betrachtet wurden. Eugène Korovin, der 1934 die staatliche Souveränität im Weltall propagiert hatte, war seit 1959 der Vorsitzende einer Kommission für Rechtsfragen des interplanetarischen Raumes in der Sowjetunion geworden. Die Frage der Reichweite staatlicher Souveränität war aktueller denn je, als das Territorium der Sowjetunion der amerikanischen Luftaufklärung nach dem Zweiten Weltkrieg unzugänglich geworden war. Als die USA 1953/54 mit einem als Wetterexpedition getarnten Ballon unter dem Decknamen ,Moby Dick‘ (zwischen 15.000 und 22.000 Metern in der Höhe) von Deutschland aus Spionageflüge mit Fotokameras durchführten, die von der sowjetischen Luftabwehr schwierig zu orten waren, reagierten russische Völkerrechtler scharf und betonten die staatliche Souveränität „bis zum Himmel“.72 Moby Dick trieb nun nicht mehr durch die Meere, sondern über die Lüfte. Wenn bei Herman Melville der Leviathan Mitte des 19. Jahrhunderts zum Synonym des Wals avancierte, jener Leviathan, der bei Thomas Hobbes zum Inbegriff von Souveränität („genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas“) geworden war, vom Menschen zu dessen „Schutz und Verteidigung“73 ersonnen, erhielt Moby Dick 100 Jahre später einen neuen Sinn. Es ging um die Frage, wie groß dieser von Menschen geschaffene Riese denn (noch) sei. Welche Räume sollten der Verteidigung staatlicher Souveränität offen sein? Und könnte es denn Räume geben, in die Leviathan keinen Einlass hat? Das Institut de Droit International in Brüssel blieb eine Plattform für die Erörterung des Weltraumrechts,74 doch war der Hauptsitz jener internationalen Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sicherung des Weltfriedens gegründet wurde, nicht mehr in der Alten, sondern der Neuen Welt angesiedelt. Der Weltraum (inklusive dem Mond und anderen Himmelskörpern) wurde dabei in den Resolutionen (seit 1961) und völkerrechtlichen Verträgen (seit 1966) von der Generalversammlung der UNO in New York zur „province of all mankind“ umgedeutet, gleichsam zum Friedensraum im Kalten Krieg, der keiner „national appropriation by claim of sovereignity“ unterliegen dürfe, weder „by means of use or occupation, or by other 72

Gennadij P. Zukov, Weltraumrecht [Redaktion: H. P. Kehrberger], Berlin 1968, S. 350. Herman Melville, Moby-Dick. Neu übers. v. Matthias Jendis, hg. v. Daniel Göske, München/Wien 2003 [1851 London/New York]; Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingel. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frankfurt a. M. 1984 [1651], S. 5. Zu Melvilles Moby-Dick im Kontext amerikanischen Empires vgl. auch Thomas Bender, A Nation Among Nations. America’s Place in World History, New York 2006, S. 187 – 189. 74 Le droit international des espaces célestes, in: Annuaire de L’Institut de Droit International, Heft 50/1, 1963, S. 128 – 496; Le droit international des espaces célestes, in: Annuaire de L’Institut de Droit International, Heft 50/2, 1963, S. 60 – 187. Einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Weltraumrechts in den 1960er Jahren bietet: Karl-Heinz Böckstiegel, Handbuch des Weltraumrechts, Köln et al. 1991, S. 8 – 27. Francis Lyall/Paul B. Larsen, Space Law. A Treatise, Farnham 2009, S. 1 – 30. 73

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means“.75 Keine Aneignung Übermorgen, gewissermaßen. Was hier vertraglich beschlossen wurde, betraf die Zukunft. Gesellschaften spiegeln sich im Weltall. Weltraumnormen handeln deshalb mindestens ebenso von der Welt wie vom Weltall, sie behandeln zwar das Morgen oder Übermorgen, und reden doch von der Gegenwart. Und wenn sie von Frieden reden, dann meinen sie auch den Kalten Krieg. Als am 20. Juli 1969 Neil Amstrong als erster Mensch seinen Fuß auf den Boden setzte, ein Zivilist, und kein Militär, mit dem amerikanischen Emblem auf seinem Anzug, wusste er, was es für einen Amerikaner zu tun gab: Um 22.44 Uhr (amerikanischer Zeit, EST) entrollte er die amerikanische Flagge und steckte sie in den Mondstaub, ein Akt, der mittels Kameras den Fernsehzuschauern der ganzen Welt übermittelt wurde (Abb. 3).

Quelle: Mystères d’archives. Une collection de 10 films documentaires, Arte Editions Paris 2008 – 2011, hier: En direct de la lune, 1969.

Abbildung 3: Präsident Richard Nixon, amerikanische Astronauten und die amerikanische Flagge auf dem Mond, 20. Juli 1969

Die mediale Übertragung zur Hauptsendezeit wurde von amerikanischem Boden in Houston aus perfekt orchestriert. Die USA, die ehemalige Kolonie, die keine Kolonien besitzen wollte, wiederholte jenen Akt der Raumaneignung, den sie seit dem Spanisch American War in Kuba, den Philippinen oder Puerto Rico im Jahr 1898 vollzogen hatten. Jener Himmelskörper, der gemäß völkerrechtlichen Verträgen keiner nationalen Souveränität unterstand, wurde mit Rekurs auf das alte Ritual der Landnahme symbolisch okkupiert (Abb. 4).

75 Vgl. United Nations. Office for Outer Space Affairs. United Nations Treaties and Principles On Outer Space. Related General Assembly resolutions and other Documents, http:// www.oosa.unvienna.org/oosa/SpaceLaw/outerspt.html (letzter Zugriff 25.7.13), hier: Treaty on Principles Governing the Activities of States in the Exploration and Use of Outer Space, including the Moon and Other Celestial Bodies. Adopted by the General Assembly in its Resolution 2222 (XXI) of 19 December 1966, S. 3 f.

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Quelle: Library of Congress, LC-D4-21495.

Abbildung 4: Hissen der amerikanischen Flagge auf Guantanamo, Kuba, 12. Juni 1898

War der Kongo im 19. Jahrhundert durch Henry M. Stanley im Auftrag des belgischen Königs mittels einer Karte okkupiert worden, war es im 20. Jahrhundert wieder ein Griff zu den Medien (eine Fernsehübertragung inklusive Telefongespräch zwischen dem amerikanischen Präsidenten und seinem Astronauten), der die Okkupation des Mondes sichtbar, fixierbar, übertragbar und damit real machte. Staatliche Souveränität wird nicht bloß mit den Ressourcen des Rechts, sondern auch den sozialen, medialen, kulturellen, wissenschaftlichen, technischen und politischen Mitteln erworben und durchgesetzt. Gleichzeitig sind dies auch jene Mittel, mit welchen sie in Frage gestellt werden kann. Dass auch die Phantasie eine solche Ressource sein kann, dies hatte Vladimir Mandl in Pilsen zu Beginn der 1930er Jahre scharf erkannt und damit die Souveränitätsansprüche radikal in die Flucht geschlagen.

III. Konfliktsituationen, Streitsachen

An der Kistenwand Zur Legitimation des Tierfangs um 1900 Von Cornelia Ortlieb Eine der berühmtesten Erzählungen des Juristen und Schriftstellers Franz Kafka handelt von einem Affen, der Mensch wird – oder vielmehr: Variétékünstler – und einer wissenschaftlichen Kommission seine Geschichte erzählt. Als Ein Bericht für eine Akademie 1916 veröffentlicht, lässt der Text die Erinnerungen des neuen Menschen an sein vergangenes Affendasein an einem präzise benannten Ort einsetzen: „Ich stamme von der Goldküste. Darüber, wie ich eingefangen wurde, bin ich auf fremde Berichte angewiesen. Eine Jagdexpedition der Firma Hagenbeck […] lag im Ufergebüsch auf dem Anstand, als ich am Abend inmitten eines Rudels zur Tränke lief. Man schoß; ich war der einzige, der getroffen wurde; ich bekam zwei Schüsse.“1 Und, etwas später: „Nach jenen Schüssen erwache ich – und hier beginnt allmählich meine eigene Erinnerung – in einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers.“2 Der menschgewordene Affe schildert sich mithin als einstmals herrenloses Tier, das gleichermaßen gejagt, erlegt, gefangen und nach Deutschland transportiert wird, doch der eigentliche Akt seiner Inbesitznahme bleibt in der Reihung der Ereignisse auffällig ausgespart. Die zweimalige Nennung des Namens Hagenbeck macht den phantastisch anmutenden Bericht jedoch unversehens zur historischen Erzählung:3 Carl Hagenbeck der Jüngere, der den Tierhandel als Erbe seines Vaters übernommen und zu einem Weltunternehmen ausgebaut hat, ist zugleich der Begründer des modernen Zoos, in dem sich wie in Kafkas Bericht die Sphären von Wissenschaft und Schaustellung eigentümlich vermischen. Indem der ehemalige Affe sich als Gefangener des Systems Hagenbeck beschreibt, ist zudem eine zentrale Konstellation der Moderne aufgerufen, die ich im Folgenden beleuchten möchte, weil sie dem res nullius-Problem eine neue Kontur verleiht: Es ist nun, im Kontext dieser Tierfänge, nicht 1 Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, in: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. v. Hans-Gerd Koch, Bd. 6: Beim Bauen der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift, S. 107. 2 Ebd., S. 108. 3 Der Text bildet daher auch den Ausgangspunkt für eine zoohistorische Darstellung des Tierfangs, die Hagenbecks Fangtechniken ein ganzes Kapitel widmet und auch sein ,anthropologisches‘ Projekt eigens in den Blick nimmt: Nigel Rothfels, Savages and Beasts. The Birth of the Modern Zoo, Baltimore/London 2002.

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länger das uneindeutige Besitzverhältnis, das Gegenstand der Aushandlung wird, sondern die res selbst, die Sache, die an der fernen Küste aufwendig beschafft, verpackt, nach Hamburg und von dort in andere europäische Länder exportiert wird, gerät zum fragwürdigen Objekt der Aneignung, zum leeren Zentrum einer andauernden Ununterscheidbarkeit. Als Niemandsgut stellt sich der gewesene Affe selbst indirekt seiner Zuhörerschaft vor, denn offenbar können Hagenbecks Männer an der Küste nicht nur auflesen, sondern gezielt erjagen, was sie dann an sich nehmen und aus dem Land bringen werden. Der Verdacht liegt nahe, dass solche Wegnahme an der verheißungsvoll benannten Küste sich in einem rechtsfreien Raum abspielt, der sich mit Phantasmen von einem Niemandsland voller herrenloser Güter füllen ließe. Doch Kafkas Affe erzählt in wenigen Sätzen auch die heute im kollektiven Gedächtnis wenig präsente Geschichte deutscher Träume von kolonialer Herrschaft,4 die kaum verbrämt der Inbesitznahme vermeintlich werthaltiger Landstriche galten: Eben dort, an der Goldküste, hatte sich der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz als erster Deutscher ein Gebiet angeeignet, das zumindest noch nicht im Besitz der konkurrierenden Engländer und Franzosen war, und damit die kurze Geschichte der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika eröffnet.5 Wie Kafka als Verfasser der Erzählung In der Strafkolonie sicher aufmerksam verfolgt hat,6 wird diese imperiale Vision einiger Kaufleute von Anfang an gleich mehrfach juristisch und politisch abgesichert; die Herrschaft in den weit4 Vgl. z. B. die Kritik einer Gruppe von Historikerinnen an der Musealisierung dieser Geschichte: Manuela Bauche/Dörte Lerp/Susann Lewerenz/Marie Muschalek/Kristin Weber, Kolonialismus im Kasten? www.kolonialismusimkasten.de (letzter Zugriff 10.4.13): „Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) versammelt beeindruckende 8.000 Exponate zur ,Geschichte von Deutschen und Europäern‘. Die Geschichte des deutschen Kolonialismus ist darin allerdings fast unsichtbar: Im umfangreichen Abschnitt, der sich dem deutschen Kaiserreich widmet, findet sie lediglich in einer versteckten Vitrine Erwähnung. Deutsche Kolonialgeschichte wird damit von allen anderen Entwicklungen abgetrennt, die in der Ausstellung dargestellt werden – als gäbe es zwischen Kolonialismus und Populärkultur, Reichstagsdebatten oder Wissenschaften keinen Zusammenhang.“ 5 Genau genommen ist dieser „Kolonialismus […] nur ein Aspekt der imperialen Geschichte des 19. Jahrhunderts“: „Die schnelle Eroberung und Aufteilung des afrikanischen Kontinents, ein neuer draufgängerischer Ton in der internationalen Politik und die rasche Ausweitung der politisch gestützten Geschäfte europäischer Banken und Ressourcen erschließender Kapitalgesellschafen in Übersee ließen bei manchen Beobachtern gegen Ende des Jahrhunderts den Eindruck aufkommen, die Weltentwicklung sei in eine neue Phase eingetreten: diejenige des ,Imperialismus‘.“ Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 620. Während nicht alle kontinentalen Imperien durch die Herrschaft über ,Kolonien‘ definiert sind, sind „andere (die Deutschen etwa) gerade stolz darauf […] Kolonien zu ,besitzen‘“. Ebd., S. 619. Vgl. auch ders., Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 52006. 6 Nach Kafkas Willen sollte die Erzählung zusammen mit Das Urteil und Die Verwandlung unter dem Titel Strafen erscheinen, womit nicht zuletzt der juristische Kontext dieser schriftstellerischen Arbeiten markiert ist. Vgl. zum zeithistorischen Kontext Klaus Wagenbach (Hg.), Franz Kafka. In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914. Mit Quellen, Abbildungen, Materialien aus der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, Chronik und Anmerkungen, Berlin 1975.

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räumigen und dünn besiedelten afrikanischen Gebieten ,Deutsch-Südwestafrika‘ und ,Deutsch-Ostafrika‘ wird als überaus aufwendiges System deutscher Verwaltung und Bürokratie unter (para)militärischer Sicherung installiert.7 In den deutschen Kolonien ist entsprechend nicht etwa das Recht ausgesetzt und dem deutschen Besitzstreben ein rechtsfreier Raum eröffnet, sondern umgekehrt minutiös geregelt, dokumentiert und festgeschrieben, wie Besitzverhältnisse organisiert sein sollen.8 Nicht die erhofften Bodenschätze, sondern die zahllosen exotischen Tiere bieten sich dem Gewinnstreben an, wie bereits zuvor jahrhundertelang der Handel mit Elfenbein, aber auch mit lebenden Tieren das Hauptinteresse kolonialer Geschäfte in Afrika dargestellt hatte.9 Erleichtert wird der Tierhandel dadurch, dass im deutschen bürgerlichen Recht seit 1806 das Tier ohnehin einer Sache gleichgestellt ist – bis heute ein Gemeinplatz ethischer Empörung, dazu angetan, die vorgeblich humane Philosophie der Aufklärung in ein eigentümliches Zwielicht zu rücken. Spätestens das postdarwinistische Zeitalter, das Kafkas Texte kommentieren, muss an dieser juristischen Ordnung der Lebewesen und ihren philosophischen Grundlagen erhebliche Zweifel verspüren, besteht doch die Pointe von Darwins Abstammungslehre, zumal in ihrer populären und oft karikierten Version, darin, dass der Mensch als

7 In mehreren Texten hat der Protagonist der deutsch-afrikanischen Kolonialgeschäfte, der promovierte Historiker und habilitierte Philosoph Carl Peters, geschildert, wie er ab 1884 quasi im Alleingang sein Projekt einer solchen Herrschaftsbegründung initiiert und durchgeführt hat, auch gegen den Willen der Regierung: Nach der Gründung eines Vereins, der die notwendigen finanziellen Mittel für die erste Expedition beschaffen sollte, habe er „Bescheid“ bekommen, „daß auch dieser Plan niemals die Zustimmung der Regierung haben werde; sie denke gar nicht daran, einer deutschen Erwerbung im Hinterland portugiesischer Kolonien den deutschen Reichsschutz zu erteilen. […] So entschloß ich mich, zu den übrigen Risiken einer Kolonialgründung auf privatem Wege auch noch das einer nachträglichen Ablehnung durch die Kaiserliche Reichsregierung auf mich zu nehmen.“ Carl Peters, Wie Deutsch-Ostafrika entstand, Leipzig 1919, S. 16 f. Mit seinem Unternehmen stellt sich Peters dabei explizit in die Tradition der britischen „adventurers“, die von der Regierung vertraglich zum Erwerb solcher „Besitzungen“ autorisiert wurden, „wo nobody’s country in Frage kam“. Ebd., S. 11. 8 Freilich sind diese Rechtsverhältnisse sehr spezieller Art: „Rechtlich waren die Deutschen Kolonien Inland, aber die Reichsverfassung galt hier nicht und Reichsrecht nur für deutsche Staatsangehörige, was die Afrikaner nur durch ausdrückliche Einbürgerung werden konnten. […] Alleiniger Herr und Gesetzgeber war der Kaiser; der Reichstag kam nur ins Spiel, wenn ein Gesetz für deutsche Staatsangehörige erlassen werden oder Geld bewilligt werden mußte.“ Thomas Pakenham, Der kauernde Löwe. Die Kolonisierung Afrikas 1876 – 1912, Düsseldorf et al. 1993, S. 295, S. 296 f. Der Autor betont auch die Verspätung der Deutschen im ,Wettlauf um Afrika‘, das nach europäischer Vorstellung zum größten Teil res nullius gewesen sei. Vgl. ebd., S. 398. 9 Seit den Expeditionsreisen Vasco da Gamas im ausgehenden 15. Jahrhundert hatten die Portugiesen ein Handelsimperium errichtet, das rasch auch andere Eroberer anzog, „Holländer, Engländer, Franzosen, Dänen, Schweden und Deutsche, alle bestrebt, bei dem erbarmungslosen Rennen um Gold, Sklaven und Elfenbein ihren Gewinn zu machen“. Martin Meredith, Der afrikanische Elefant. Eine Biographie, Kreuzlingen/München 2003, S. 63.

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Teil des Tierreichs kein Geschöpf von eigenen Gnaden, sondern ein Nachfahre des Affen ist.10 Mit Blick auf die außerordentlich beliebten Erzählungen von afrikanischen Jagdabenteuern, die Kafkas Bericht flankieren und verstärken, wird zudem sichtbar, dass die Begegnungen von Menschen und Tieren im kolonialen Handel trotz minutiöser juristischer Regelung neue Unbestimmtheiten generieren: Auf dem Spiel steht nun nicht mehr die Zuordnung von Besitztümern, sondern der Status des Besitzguts selbst, das sich in den Erzählungen vom angeeigneten anthropomorphen Tier unter dem Einfluss der neueren ,Rassen‘-Theorien auf problematische Weise mit den anderen fremdartigen Bewohnern des Landes vermischt. Umso bemerkenswerter ist es, dass diese Erzählungen kolonialer Inbesitznahme lebendiger Wesen eine eigene unheimliche Kultur des Sensiblen und Sentimentalen ausbilden: Der Tierfang wird in der Fülle literarischer Berichte und autobiographischer Erzählungen zur überlegenen Kulturtechnik stilisiert, weil deutsche Jäger sich programmatisch zu liebenden und hegenden Naturschützern transformieren und ihr verschwiegenes Geschäft zugleich mit Gewehr und Gefühl betreiben. Diese Überlegungen umkreisen auch den vermeintlich unscheinbaren Gegenstand, der das heimliche Zentrum von Kafkas Text bildet: die Kiste mit der eigens hervorgehobenen vierten Wand, die dem Affen zum Gefängnis und Reisegefährten wird, ihn zum Transportgut und letztlich zum Künstler wandelt. Ein literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Erhellung der Geschichte von res nullius-Konfigurationen kann somit darin bestehen, zu zeigen, wie literarische Texte und vermeintlich neutrale Berichte oder Gebrauchstexte eine komplexe und irritierende Erzählung von Menschen und Tieren in prekären Zwischenzuständen entwerfen, die nicht zufällig genau dort in Verwirrung gerät, wo Recht, Ethos und Gefühl in Übereinstimmung gebracht werden müssen.

I. Fremde Berichte. Zur gesetzlichen Regelung von Jagd und Fang in den deutschen Kolonien Wie der menschgewordene Affe, so sind auch moderne Leser für das Phänomen des Tierfangs auf das angewiesen, was in Kafkas Erzählung vieldeutig „fremde Be10 Kafka hat nachweislich schon als Schüler „Darwin, Haeckel, Nietzsche“ gelesen. Vgl. Wagenbach (Hg.), Franz Kafka: In der Strafkolonie, S. 10. Haeckels Kommentar zu Darwins Lehre besteht unter anderem in der Erfindung des „sprachlosen Affenmenschen“ an der Schwelle vom Tier zum Menschen. Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn 1899, S. 191. Zur Sprache als Differenzkriterium vgl. die wirkungsmächtige Studie Agambens und dessen Darstellung der „anthropologischen Maschine“ um 1900: Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, dt. v. Davide Giuriatio, Frankfurt a. M. 2003. Zur Literaturgeschichte des Darwinismus vgl. beispielsweise Werner Michler, Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859 – 1914, Wien et al. 1999; Peter Sprengel, Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionsbiologie in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 1998.

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richte“ genannt wird, in einer sprechenden Umkehrung dessen, was eigentlich Bericht vom Fremden ist. Vor deren Lektüre möchte ich jedoch noch auf eine eigentümliche Passage im Bericht des Affenmenschen hinweisen, die bislang wenig literaturwissenschaftliches Interesse gefunden hat. Sie handelt nämlich, auf den ersten Blick etwas redundant, von dem bereits zitierten Käfig: „Es war kein vierwandiger Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei Wände an einer Kiste festgemacht; die Kiste bildete also die vierte Wand. Das Ganze war zu niedrig zum Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit eingebogenen, ewig zitternden Knieen, und zwar […] zur Kiste gewendet, während sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten. […] Ich war zum erstenmal in meinem Leben ohne Ausweg; zumindest geradeaus ging es nicht; geradeaus vor mir war die Kiste, Brett fest an Brett gefügt. Zwar war zwischen den Brettern eine durchlaufende Lücke […], aber diese Lücke reichte bei weitem nicht einmal zum Durchstecken des Schwanzes aus und war mit aller Affenkraft nicht zu verbreitern.“11 Das eigentümliche Gebilde, halb Käfig, halb Kiste, oder vielmehr: der Käfig, der sich mit der Kiste als vierter Wand verdoppelt und in dem der Affe verkehrt herum sitzt, stellt das eigentliche Zentrum der Erzählung dar. Offensichtlich hat die Beschreibung hier aber auch verschmolzen, was in den fremden Berichten von Hagenbecks Fangzügen gleichfalls immer plastisch beschrieben wird: Die käfigartige Falle, in die das Tier getrieben wird, und die Transportkiste, in der es von Einheimischen getragen, mit der Eisenbahn und schließlich mit dem Schiff nach Hamburg gebracht wird, sind Werkzeuge der Kultur; Tierfang ist eine Kulturtechnik, die die gewöhnliche Jagd triumphal überbietet. Neue literarische Gattungen bilden sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts heraus, um die Heldentaten dieser eigentümlichen kolonialen Eroberer massentauglich aufzubereiten, die nicht unentdecktes Land erkunden, Gebiete annektieren oder andersgläubige Einwohner missionieren, sondern die Professionalisierung eines globalen Handels mit lebenden exotischen Geschöpfen betreiben, den sie paradoxerweise als humanes Projekt von Hege, Schutz und Forschung camouflieren. Unübertroffen gelingt Carl Hagenbeck selbst in seinen Erinnerungen mit dem vielsagenden Titel Von Tieren und Menschen dieser Spagat: Überaus anschaulich, witzig und mit zahlreichen staunenswerten Photographien geschmückt, schildert der Zoogründer den 11 Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, S. 108. Mehrfach wurde bereits auf Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral als Quelle für diese Passage hingewiesen, wo unter Anderem der Mensch als „dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier“ bezeichnet wird. Vgl. zuletzt Jochen Thermann, Kafkas Tiere. Fährten, Bahnen und Wege der Sprache, Bonn 2007, S. 76. Thermann betont überdies mit Bezug auf Agamben das Element des Einfangens: Agamben zufolge sei die „anthropologisch[e] Maschine […] immer auch ein Einfangen“. Ebd., S. 72. Freilich verwischen sich hier buchstäbliche und übertragene Redeweise in Zitat und zitiertem Text, denn dort heißt es unbestimmt: „Insofern in ihr [der anthropologischen Maschine, CO] die Erzeugung des Humanen mittels der Option Mensch/Tier, human/inhuman auf dem Spiel steht, funktioniert die anthropologische Maschine notwendigerweise mittels einer Ausschließung (die immer auch ein Einfangen ist) und einer Einschließung (die immer auch eine Ausschließung) ist.“ Agamben, Das Offene, S. 46 f.

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Aufstieg seiner Familie von den Schaubuden des Hamburger Doms zu einem buchstäblich weltumspannenden dynastischen Unternehmen, das zumal im Modus der anthropologisch-zoologischen Schaustellung auf der Höhe der zeitgenössischen Wissenschaften agiere.12 Einer der zahllosen begeisterten Leser des vielfach neu aufgelegten Erfolgsbuchs war Franz Kafka, der nachweislich manche Details seiner Erzählung vom menschgewordenen Affen Hagenbecks Erinnerungen entnommen hat.13 Als notorischer Leser von Biographien und Selbstzeugnissen dürfte Kafka zudem auch in diesem Text nach Anregungen für sein eigenes komplexes Autobiographie-Projekt gesucht haben.14 Und schließlich beginnt Kafka mit den Notizen zum Bericht nur wenige Monate vor der Überarbeitung seiner gleichermaßen zeithistorischen wie phantastischen Erzählung In der Strafkolonie.15 In den Erzählungen der Tierfänger, die bis in die 1950er Jahre zur Unterstützung der Mensch- und Mannwerdung Heranwachsender kindgerecht aufbereitet und in großen Auflagen verbreitet wurden, konturiert sich unter verheißungsvollen Titeln wie Wild und Wilde im Herzen Afrikas, Mit Blitzlicht und Büchse, Bwana Simba. Der Herr der Löwen oder auch, sachlich präzise, Auf Großtierfang für Hagenbeck der neue Typus des deutschen Kolonialhelden in der paradoxen Figur des tierlieben Jägers, der einer chaotischen Natur Schutz und Frieden bringt. Die Schilderungen brutaler Jagdszenen nach Art der Augenzeugenberichte von Kriegsteilnehmern bekommen hier eine sentimentale Rückseite, oft wechseln diese beiden Modi innerhalb weniger Seiten oder durchdringen einander unkommentiert. Vor allem packende Schilderungen von Kampfszenen zwischen Mann und Ungetüm werden deutschen Lesern solcher Literatur geboten. Die verschiedenen Autoren weisen sich in der Regel durch das Vokabular professioneller Jäger aus, wie es beispielsweise die endlosen Erzählungen des Elefantenjägers Hans Hermann Schomburgk vorführen, der

12 [Carl Hagenbeck], Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen von Carl Hagenbeck, erweiterte Ausgabe Berlin 1909, S. 20. Eine detailreiche und mit vielen Archivmaterialien argumentierende Gesamtdarstellung des Hagenbeck’schen Imperiums bietet Eric Ames, Carl Hagenbeck’s Empire of Entertainments, Washington 2008. 13 Vgl. Hartmut Binder, Kafka. Der Schaffensprozeß, Frankfurt a. M. 1983, S. 295 ff.; Andreas Kilcher/Detlef Kremer, Die Genealogie der Schrift. Eine transtextuelle Lektüre von Kafkas ,Bericht für eine Akademie‘, in: Claudia Liebrand/Franziska Schößler (Hg.), Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg 2004, S. 45 – 72, hier S. 59 ff. 14 Hagenbecks Buch erzählt nicht nur die Geschichte erfolgreicher Mannwerdung eines dankbaren Sohnes, sondern bietet in den Schilderungen des Lebens mit Tieren ein helles Gegenbild zu Kafkas Schilderungen seines despotischen Vaters, die mit zahlreichen TierBezügen arbeitet. Vgl. Cornelia Ortlieb, Kafkas Tiere, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Heft 126, 2007, Sonderheft: Texte, Tiere, Spuren, hg. v. Norbert Otto Eken/Eva Geulen, S. 339 – 366. 15 Ein Notizheft vom April 1917 enthält zwei Fragmente und eine erste Fassung der gesamten Erzählung; im August 1917 schreibt Kafka verschiedene Varianten zum Schluss der Strafkolonie. Vgl. Binder, Der Schaffensprozeß, S. 272; Wagenbach, In der Strafkolonie, S. 58.

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als Elefantenjäger, Tierfänger, Afrikaforscher und schließlich Photograph geradezu als Prototyp einer Hagenbeck-Karriere gelten kann.16 In der brachialen Schilderung einer Elefantenjagd muss Schomburgk seinen Gegner im Nahkampf erst einmal auf Augenhöhe schießen: „Laut donnerte mein Schuß über die Steppe. Der Elefant zuckte zusammen und wurde auf den zweiten Schuß flüchtig […]. Jetzt nahm ich das 9 Millimeter zur Hand und gab ihm auf Entfernungen von hundert bis vierhundert Metern fünfundzwanzig Schuß spitz hinten aufgesetzt, die auch nicht die geringste Wirkung hatten. Zirka fünfhundert Meter entfernt, stellte er sich wiederum ein, dieses Mal aber in hohes Schilf […]. Auf sechzig Meter gab ich ihm hier zwei gut gesetzte Blattschüsse, die ich deutlich aufschlagen sah“, womit noch längst nicht das Ende des Kampfes erreicht ist.17 Schomburgks minutiöse Schilderung suggeriert nächste Nähe: „Als uns ungefähr zehn Schritte trennten, gab ich ihm einen Schuß auf den Rüsselansatz und sprang zur Seite, aber zur falschen, denn der Elefant, durch den Schuß ins Taumeln gebracht, kam ebenfalls dort hinüber, und im nächsten Augenblick fand ich mich gegen die Brust des Elefanten gedrückt, den ausgestreckten Rüssel über mir […]. Ich warf das Gewehr hoch und gab ihm einen Schuß, der den linken Unterkiefer zerschmetterte.“18 Die Angaben von Maß und Zahl wie das Fachvokabular bei der Differenzierung der Schüsse verweisen hier auf die Professionalität des tollkühnen Kriegers, der sich auf zahlreichen beigefügten Photos in typischen Jäger-Posen neben toten Tieren präsentiert. Deutsche Jäger sind in der Welt der kolonialen Erzählung die ersten Beschützer von Mensch und Umwelt: Behutsam und umsichtig erlegen sie all die bösen Tiere, die immer wieder die Pflanzungen zerstören und deren Besitzer töten, wie beispielsweise der brutale Elefant, den Wilhelm Munnecke in seiner Erzählung von den Heldentaten John Hagenbecks – einem Halbbruder des Zoogründers – skizziert: „[E]r hält den Rüssel eingerollt, den Kopf gesenkt. Ohnmächtig grimme Wut funkelt aus seinen Augen. Wild schlägt sein Puls. Die Flanken zittern. Haß und

16 Neben Christoph Schulz ist Schomburgk sicher der interessanteste Jäger und Tierfänger der Kolonialzeit; seine diversen Bücher, mit eigenen Photographien angereichert, erschienen über Jahrzehnte in großen Auflagen. Vgl. zu diesen und anderen Quellen den bibliographischen Kommentar in: Rothfels, Savages and Beasts, S. 251 – 259. Den Kolonialherrn als Krieger schildert: [Gustav Frenssen], Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugbericht von Gustav Frenssen, Berlin 1906. Das überaus erfolgreiche Buch trug entscheidend zum Ruhm des ehemaligen Geistlichen bei, der sogar für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde; ab 1933 war der heute fast vergessene Autor ein dezidierter Anhänger des NS-Regimes. 17 Hans Hermann Schomburgk, Wild und Wilde im Herzen Afrikas. Zwölf Jahre Jagd- und Forschungsreisen, Berlin 1910, S. 297. 18 Ebd., S. 274. Freilich können auch diese Erzählungen an eine viel ältere Tradition anknüpfen: Schon um 1700 schildern europäische Jäger in ganz ähnlicher Weise, wie scheinbar unverwundbare Elefanten auch nach Hunderten von Schüssen nicht aufgeben. Vgl. Willem Bosman, A New and Accurate Description of the Coast of Guinea, divided into the Gold, the Slave and the Ivory Coasts, London 1705; dazu: Meredith, Der afrikanische Elefant, S. 70.

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Zorn kochen in seinem laut stöhnenden Atem“.19 Als „Tyrann des Urwalds“ tötet das zornige Tier so willkürlich wie brutal einen harmlosen Treiber; man findet ihn, wie der Erzähler sprachlos resümiert, „[v]om Bauch bis in die Brust aufgespießt von dem mächtigen Stoßzahn. Das Genick gebrochen“.20 So weiträumig und kleinteilig auch dieser Bericht verfasst ist, so beredt schweigt er über das, was man im weitesten Sinn als Problem der Legitimation auffassen könnte: Weder die im Text konturierte Figur des kaltblütigen, verwegenen Jägers noch der Bericht stellen das Geschehen in Frage oder geben ihm auch nur einen Rahmen. Buchstäblich selbstverständlich soll sein, dass weiße Jäger mit Hilfe zahlreicher schwarzer Helfer in so genannte paradiesische Gebiete vordringen, um dort alles abzuschießen, was ihnen vor die unzähligen Gewehre kommt. Erläuterungsbedürftig ist dagegen der Tierfang, von dem in der Einführung zu Christoph Schulz’ Buch der Zoologe Eduard Elven schreibt, seine „Methoden“ seien „dem großen Publikum durchweg unbekannt“.21 Und schließlich stellt auch Wilhelm Munnecke in seiner fiktional verbrämten Erzählung von den Heldentaten des Tierfängers John Hagenbeck die fremde Welt des Dschungels als buntes Gewimmel phantastischer Geschöpfe plastisch vor Augen: „[Ü]berall ist es lebendig geworden, allüberall im feuchten, struppigen Grunde, in den verrankten Lianen, den verschlungenen Ästen, den turmhohen Baumkronen. Zikaden zirpen, Siamangs und Ungkos singen in allen Stimmlagen, die dem Affenvolk eigen, jauchzende Lieder; Nashornvögel blasen in den Kronen flügelklatschend […] ihr knarrendes Instrument, und dazwischen trompeten in Baß und Bariton die wankenden, stampfenden Ungetüme der wilden Elefanten.“22 Nigel Rothfels hat in seiner Geschichte des modernen Zoos daher zu Recht in dieser Reihung von Tierfang-Geschichten einen Dreischritt gesehen: Der kommerzielle Jäger wird zum tierliebenden Fänger und schließlich zur überlebensgroßen Figur des literarischen Dschungel-Helden, der mit dem Handel zugleich Schutz und Frieden in die ungeordnete, wild wuchernde Natur bringt.23 Eine solche Fokussierung des überlebensgroßen Helden verdeckt jedoch die juristischen und administrativen Voraussetzungen von Jagd und Fang, die gleichwohl in den Erzählungen der Tierfänger untergründig präsent sind. Noch die späteste ein19 Wilhelm Munnecke, Hagenbecks Dschungelfahrten. Mit 22 Abbildungen auf Tafeln, Oldenburg/Hamburg 1951, S. 13. 20 Ebd., S. 58, S. 54. 21 [Christoph Schulz], Auf Großtierfang für Hagenbeck. Selbsterlebtes aus afrikanischer Wildnis von Chr. Schulz (vom Hause Carl Hagenbeck in Hamburg). Mit über 80 Illustrationen nach Original-Aufnahmen, Dresden 1921, S. 9. Elven bedauert, dass nur wenige Tierfänger „dürftige Notizen“ über ihre Erlebnisse veröffentlicht hätten, denn „gerade diese mit Natur und Wild in innigem Kontakte stehenden Männer hätten uns vieles Interessante mitteilen können, das über den Rahmen gewöhnlicher Jagdgeschichten hinausgeht und dem Wissenschaftler oft wertvolles Material in biologischer oder zoogeographischer Form hätte liefern können.“ Ebd. 22 Munnecke, Hagenbecks Dschungelfahrten, S. 8. 23 Rothfels, Savages and Beasts, passim.

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schlägige Verordnung, 1913 vom Reichs-Kolonialamt herausgegeben, trägt den doppelten Titel Jagd und Wildschutz in den afrikanischen Schutzgebieten.24 Hatte schon der Elefantenjäger Schomburgk seine martialischen Schilderungen unterbrochen, um eine zweiseitige Abbildung seines Jagdscheins präsentieren zu können, mitsamt der so genannten Abschussliste,25 so zeigt sich auch auf den siebzig Seiten dieser Schrift die von den Jägern oft belächelte deutsche Regelungswut: Allein die Liste der jagdbaren Tiere umfasst sieben Seiten, auf denen Gattung und Art jeweils mit deutschem und lateinischem Namen genannt sind, und noch viel umfangreicher sind die Artikel, die den Jagdschein betreffen, genauer: den „Kleinen Eingeborenen Jagdschein“, „Großen Eingeborenen-Jagdschein“, „Bezirkjagdschein“, „Kleinen Jagdschein“, „Großen Jagdschein“ und „Tagesjagdschein“; Artikel I § 4 regelt eigens die Höhe der Gebühren für diese Papiere mit der Binnendifferenzierung nach „Eingeborenen oder denselben rechtlich gleich gestellten Farbigen in einem bestimmten Bezirk“.26 Die 1911 verfasste Verordnung, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung im Grunde schon historisch obsolet war, stellt auch explizit eine Revision der seit 1891 in sieben vorhergehenden Verordnungen getroffenen Regelungen dar, die im Text einzeln aufgelistet sind. Als Grund für diese permanente Neu-Regelung gibt der Absatz „Jagdgesetzgebung“ an: „In Ländern, die wie die deutschen Schutzgebiete, heute noch im Beginn ihrer Erschließung und wirtschaftlichen Entwicklung stehen, vergeht im Gegensatz zu Kulturländern kaum ein Zeitraum von wenigen Jahren, ohne daß nicht die Verwaltung neue Wahrnehmungen zu machen hätte, welche für die bestehende Gesetzgebung Änderungen bedingen.“27 Zu solchen „Wahrnehmungen“ in Gebieten, die entsprechend ,Naturländer‘ genannt werden müssten, gehört die eines bedrohlich schrumpfenden Wildtierbestands in Gegenden, in denen die Jagd offenbar nicht streng genug reglementiert worden war; ein Problem, dem die Verwaltung offensichtlich allein mit der Erhöhung der Gebühren für die Jagdscheine begegnet. Minutiös ist geregelt, für den Abschuss welcher „jagdbaren Tiere“, eingeteilt in vier Klassen, welche Summe zu bezahlen ist, und noch die Ausfuhr der Jagdbeute und auch der lebenden Tiere muss mit hohen Ausfuhrzöllen erkauft werden. Bis zuletzt taucht der Elefant aber hier als alleiniger Listenposten in der „Klasse 3“ der „jagdbaren Tiere“ auf; mit einer verräterischen 24 Reichs-Kolonialamt (Hg.), Veröffentlichungen des Reichs-Kolonialamts Nr. 5: Jagd und Wildschutz in den deutschen Kolonien, Jena 1913. 25 Das nicht ausgefüllte Formular beginnt mit dem Aufdruck: „Jagdschein Nr. … Gültig vom 1. Januar bis 31. Dezember 2008. Für Herrn Schomburgk. Inhaber ist berechtigt, im deutsch-ostafrikanischen Schutzgebiet, unter Beobachtung der Bestimmungen der Jagdschutzverordnungen, vom … zu jagen.“ Im Anschluss listet eine Tabelle diejenigen Arten, deren Jagd verboten ist, darunter auch die Schimpansen; die zweite Seite gibt die vom Jäger auszufüllende „Abschußliste“ mit drei Spalten, deren erste die Liste der jagdbaren Arten enthält, die in der dritten Spalte mit der Zahl der geschossenen Tiere ergänzt werden soll, während die mittlere Spalte das zu begleichende „Schutzgeld“ nennt. Schomburgk, Wild und Wilde, S. 242 f. 26 Reichs-Kolonialamt (Hg.), Jagd- und Schutz-Verordnung, S. 43 f. 27 Ebd., S. 40.

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Zusatzbestimmung in § 9: „Die Aneignung von herrenlosem Elfenbein ist dem Landesfiskus vorbehalten“ – der „Ablieferer“ könne allerdings eine Vergütung von 25 Prozent des Marktwerts erhalten.28 Auch § 10 ist im Hinblick auf diesen Sonderfall aufschlussreich: „Unverarbeitete Elefantenzähne, die ein geringeres Gewicht als 15 kg besitzen, unterliegen der Einziehung.“29 Zugleich dienen Elefantenzähne jedoch auch als Währung, wie Schomburgks Jagdschein belegt, der als „Schutzgeld“ für den Abschuss eines Elefanten „100 rp. [Rupien] oder einen Zahn des erlegten Tieres“ anordnet.30 Schließlich verfügt § 11: „Der Tierfang ist der Jagd mittels Hinterladerbüchse gleichgestellt“ – einer Form der Jagd, wie sie eben nicht von so genannten Eingeborenen und Farbigen ausgeübt wird – und: „Der Gouverneur ist befugt, einzelnen Personen auf bestimmte Zeit bestimmte Flächen zum ausschließlichen Tierfang unter jedesmal zu vereinbarenden Bedingungen und gegen Entrichtung besonderer Abgaben zu überweisen“.31 Vorausgesetzt sind dabei immer Besitzverhältnisse, wie sie beiläufig inmitten von tabellarischen Bestandsaufnahmen und Preislisten benannt werden: „Aus der Höhe der […] Ausfuhrwerte erhellt ohne weiteres, dass es nicht bloß aus ethischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen Aufgabe und Pflicht der Verwaltung ist, für die Erhaltung eines Teils des National-Vermögens, wie es der Wildbestand einer Kolonie darstellt, einzutreten“.32 Wenn derart lebende Tiere zu Objekten der Vermögensverwaltung erklärt werden, hat offensichtlich das ökonomische Kalkül längst verdrängt, was entsprechend vage als „ethisch[e] Gründe“ immerhin noch im Wortlaut der Formulierung zu finden ist.33 Inmitten der minutiös geregelten Abläufe nistet so, wie das Zitat über die Befugnisse des Gouverneurs belegt, der Tierfang als Refugium von Willkürentscheidungen und als kapitalistisch-imperialistische Zone, wie auch die plötzlich im Gesetzestext herrenlos herumliegenden Elefantenzähne, die gleich in mehreren Abschnitten erwähnt werden, natürlich das eigentliche Objekt des Interesses sind: Unter dem Eu28

Ebd., S. 47. Ebd. 30 Schomburgk, Wild und Wilde, S. 243. 31 Reichs-Kolonialamt (Hg.), Jagd- und Schutz-Verordnung, S. 48. 32 Ebd. 33 In einem Versuch, den Beitrag der neuen „Ethologie“ – einer aus verschiedenen Naturwissenschaften gespeisten Lehre vom Tier zur Bestimmung des Mensch-Tier-Verhältnisses – zu erhellen, wird entsprechend mit drei verschiedenen Epochen argumentiert: In einer ersten frühen Phase der Menschheitsgeschichte sei die Natur insgesamt als übermächtiges Subjekt begegnet, dessen Eigenheiten man nur durch genaue Beobachtung und Weitergabe des so erworbenen Wissens habe erkunden können, in einer zweiten Phase sei, zumal in der westlichen „Industriegesellschaft“, die „Ausbeutungsbeziehung als zweite Form der Mensch-NaturBeziehung […] in ihrer weitestentwickelten Ausprägung“ an die Stelle dieser forschenden Erfassung der umgebenden Welt getreten, die „wissenschaftlich objektive Auffassung vom Tier“ erst in der Naturforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts etabliert worden: „Die differenzierte Erforschung von Lebewesen ist gleichermaßen Ursache und Folge einer Historisierung der Natur“. Carola Stoob, Der Beitrag der Ethologie zum Verständnis der menschlichen Auffassung vom Tier, in: Paul Michel (Hg.), Tiersymbolik, Bern et al. 1991, S. 171 – 203, hier S. 176 f. 29

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phemismus der „wirtschaftlichen Gründe“ ist das Millionengeschäft des Elfenbeinhandels verborgen, das ohne die Sklavenarbeit einheimische Träger nicht zu bewältigen gewesen wäre, die auf Gewaltmärschen zur Küste Zigtausende von bis zu dreißig Kilogramm schweren Elefantenzähnen auf den bloßen Schultern tragen mussten.34 In der Regelung des erlaubten Tierfangs als Variation der Hinterlader-Jagd wiederholt und zeigt sich so auch das kaufmännische Kalkül, das das Deutsche Reich überhaupt in den Besitz der afrikanischen Gebiete gebracht hatte. Der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz hatte ja seinerseits vorgeblich legal die unterhalb der Goldküste gelegenen Gebiete Südwest-Afrikas von vierzig so genannten Hottentotten gekauft – für eine bestimmte Geldsumme in Gold und zweihundert Gewehre, in einem Ritual freilich, das geradezu eine Travestie der frühneuzeitlichen Akte der Kolonisierung darstellt: Den indigenen ,Häuptlingen‘ und ihrem Gefolge wird ein Vertrag in niederländischer Sprache vorgelesen, eine nicht zu verhandelnde Summe Geld und Gewehre überreicht und wenige Wochen später durch die Ankunft zweier Kriegsschiffe demonstriert, dass Handel unter dem Schutz des Deutschen Reichs künftig eine pseudolegale Angelegenheit der Kolonialherren unter militärischer Deckung bedeuten wird. Ein weiteres Schlupfloch der Legitimation hält die Reihe der Paragraphen in der zitierten Verordnung zudem gleich mehrfach offen: Wenn es um wissenschaftliche Zwecke geht, ist der Tierfang und die Ausfuhr lebender Tiere kraft Gouverneursentscheidung noch einmal anders zu bedenken – und abzurechnen: „Zu wissenschaftlichen und Zuchtzwecken kann der Gouverneur unter von ihm festzusetzenden Bedingungen das Fangen und Töten einer bestimmten Anzahl dieser Tiere […] gestatten“35 – eigentlicher Herr und stellvertretender Besitzer der vermeintlich wilden Tiere ist also im Zweifelsfall immer der Gouverneur.

34 Meredith zitiert beispielsweise – ohne genaue Quellenangabe – den Bericht des englischen Seemanns Alfred Swann, der 1882 den Marsch einer riesigen Elfenbeinkarawane nach Sansibar beobachtet hat und über die Sklavenarbeit der Träger entsetzt war: „Als sie an uns vorbeigingen, sahen wir, dass viele am Hals angekettet waren. Andere waren mit dem Hals an den Gabelungen von etwa 1,80 Meter langen Pfählen angebunden, deren Enden von den Männern mitgetragen wurden, die ihnen vorausgingen. Die Frauen, die ebenso zahlreich wie die Männer waren, trugen, zusätzlich zu einem Elfenbeinzahn oder anderen Lasten auf dem Kopf, noch Babys auf dem Rücken. […] Es ist schwer, den furchtbaren Zustand ihrer Körper angemessen zu beschreiben; sie waren in vielen Fällen nicht nur von dem Einschnitt einer ,Chikote‘ [eines Peitschenhiebs, CO] gezeichnet […], sondern ihre Füße und Schultern waren eine einzige Masse offener Wunden, die um so schmerzhafter durch die Fliegenschwärme waren, die dem Marsch folgten und von dem herabfließenden Blut lebten.“ Alfred J. Swann, Fighting the Slave-Hunters in Central Africa, London 1910, hier zit. n. Meredith, Der Afrikanische Elefant, S. 96 f. 35 Reichs-Kolonialamt (Hg.), Jagd- und Schutz-Verordnung, S. 43 f.

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II. Mütter und Kinder, Vettern und Väter. Sentimentale Verwandtschaften und postdarwinistische Verwirrungen Bereits der vorgeblich erbarmungslose Elefantenjäger Schomburgk lässt seine Abschuss-Erzählungen in die rührende Geschichte seiner liebevollen Pflege des kleinen Elefanten Jumbo münden und nimmt damit auch die historische Entwicklung von der Jagd zum Fang in den Kolonien auf, wie Munneckes Text sie dann in der Figur John Hagenbecks verschmilzt. Elefant und Affe haben gemeinsam, dass der Fang lebender Tiere es erfordert, sie aus einem starken sozialen Verbund zu isolieren – und das ist nur bei Jungtieren erfolgversprechend. Diese müssen freilich buchstäblich ihren Müttern von der Brust geschossen werden, wie es Munnecke schildert, wenn die Jäger im Dschungel ein amorphes Ding entdecken: „Im Gebüsch aber winselt ein grauer Klumpen. Als sie näher kommen, blicken sie in das vor Schmerzen verzerrte Gesicht einer Äffin. Zu Tode verwundet, krümmt sie sich und schaut vorwurfsvoll zu den großen Menschen auf. An ihrer Brust hängt saugend ein Junges“.36 Aus dem undefinierbaren Objekt der Entdeckung wird auch bei seiner Identifikation nicht mehr als ein grammatikalisch korrekt benanntes Neutrum, ,das Junge‘. Doch nicht zufällig ist es der Blick in das Gesicht des Tieres, der aus einer womöglich neutralen Beute ein weibliches Geschöpf macht, das Schmerz erträgt, unausgesprochene Vorwürfe macht und, überaus symbolträchtig, sein Kind an der Mutterbrust nährt. Nicht das Aufrechterhalten eines Jagdethos, sondern Empathie und Einfühlung verrät die Formulierung des Erzählers, John Hagenbeck habe „der Qual des Tieres durch einen Gnadenschuß ein Ende“ bereiten müssen, an die sich freilich die lapidare Bemerkung anschließt: „Das Junge nehmen sie mit.“37 Noch unvermittelter treffen bei dem Jäger und Kunstmaler Moritz Pathé Abschuss-Routine und empathische Anthropomorphisierung zusammen: Pathé schildert zunächst, wie er im afrikanischen Urwald unversehens einer riesigen Herde von Hunderten von Affen gegenübersteht, wie dann dicht vor ihm ein „starkes Männchen“ stehen bleibt, das „die Zweibeiner neugierig und aufmerksam [mustert]“,38 aber dennoch umstandslos abgeschossen wird mit dem Kommentar: „Schade um das tapfere Kerlchen, aber wir haben seit Tagen kein Fleisch gegessen“.39 Auf der folgenden Seite schildert Pathé dagegen, wie die beiden Betrachter, beim neuerlichen Anblick einer Herde, nun von „zehn bis fünfzehn Schimpansen“, mitten im westafrikanischen Urwald, „weltverloren auf eine Familie ihrer tierischen Vettern [star-

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Munnecke, Hagenbecks Dschungelfahrten, S. 32. Ebd. 38 Moritz Pathé, Auf Tierfang in Afrika. Mit 45 Originalzeichnungen des Verfassers, München 21960, S. 117. 39 Ebd., S. 118. In etwas anderem Sinn heißt es bei Schomburgk über eine Herde Elefanten: „Auf kaum vierzig Schritte wälzte sich jene Fleischmasse von vielen tausend Zentnern auf mich zu, die mich zu zermalmen drohte.“ Schomburgk, Wild und Wilde, S. 292. 37

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ren]“.40 Diese turnen in den Bäumen und einige trommeln auch auf „trockenen Ästen“, was den Künstler nachdenklich werden lässt: „Und mir kommt der Gedanke, daß die primitive Trommel der Neger nur ein Schritt weiter ist in der Entwicklung vom Urmenschen zum Kulturmenschen unserer Tage.“41 Und auch John Hagenbecks Begleiter Pieter wird durch ein weiteres Affen-Erlebnis geläutert: Als er unversehens einem Orang-Utan-Weibchen gegenüber steht, das er sofort „mit einem Schuß zu Boden legte“, betrachtet er den „toten Riesen“ und sieht „im langen Haar ein halbkahles struppiges Junges hängen, das sich eng an die noch warme Mutter anschmiegt“ – eben dieses „Waisenkind“ löst „eine stille Wandlung“ in ihm aus: Fortan ist er Pfleger und Mutter-Ersatz.42 Der Tierfang wird hier unversehens durch humanitäres Engagement legitimiert: „Und was ihm bisher fremd gewesen war: er sorgte sich um das Wohlergehen eines Tieres. Sorgte sich wie um einen Menschen, wie für ein eigenes Kind“43 – vielleicht nicht zufällig angesichts eines Wesens, dessen Name übersetzt ,Waldmensch‘ bedeutet und das seit seiner Entdeckung die Grenzen zwischen Tier- und Menschenwelt in Frage stellt.44 Die selbe Form der Aneignung durch Adoption findet sich bei Schomburgk, der weiträumig schildert und mit Photographien illustriert, wie der Elefant Klein Jumbo nach dem Niederschießen seiner Mutter kläglich trompetend neben dem toten Körper verharrt, bis er mitgenommen, mit Milch gefüttert wird und gar in der Hütte neben dem Bett des Tierfängers ein Lager bereitet bekommt – im selben Bett zu schlafen verbietet sich nur wegen der gefährlichen Liebesbeweise des Tiers.45 Die Fütterszenen nehmen in allen Schilderungen der Tierfänger großen Raum ein, und sie können uns daran erinnern, dass das deutsche Recht bis heute die Aneignung herrenloser Tiere als beweglicher Sachen durch den Akt des Fütterns vollzogen sieht.46 40

Pathé, Auf Tierfang in Afrika, S. 119. Ebd. 42 Munnecke, Hagenbecks Dschungelfahrten, S. 92. 43 Ebd. 44 Diese Frage wird in Munneckes vorgeblich wahrheitsgetreuem Reisebericht zwischen „Weißen“ und „Eingeborenen“ diskutiert: „,Na ja, was ihr hier so Menschen nennt. Den Affen nennt ihr ja auch Mensch.‘ ,Nein, Herr, nur den Utan nennen wir so, nennen wir Orang-Utan, den Menschen des Waldes – Waldmensch; nicht aber auch die anderen Affen.‘“ Ebd., S. 43. 45 Schomburgk, Wild und Wilde, S. 281: „Ich hatte mein Feldbett zu ihm in den Stall gestellt, und es versuchte fortwährend, sich zu mir aufs Bett zu legen. Nun wiegt aber ein junger Elefant, selbst in dem zarten Alter von zwei Jahren, schon soviel wie ein mittelgroßer Ochse, so daß seine Liebkosungen im wahren Sinne des Wortes erdrückend wirkten.“ 46 Ein Artikel zur Information von Tierärzten fasst die juristischen Bestimmungen zu Fundtieren und herrenlosen Tieren wie folgt zusammen: „Unter herrenlosen Tieren sind nach bürgerlichem Recht Tiere zu verstehen, an denen kein Eigentum besteht (BGB ff 958 – 964). Dies können sowohl ausgesetzte bzw. freilebende/verwilderte Haustiere oder Wildtiere sein. Wilde Tiere gelten als herrenlos, solange sie sich in Freiheit befinden. Wildtiere in Tiergärten und Wildgehegen sowie Fische in Teichen oder anderen geschlossenen Privatgewässern sind nicht herrenlos. Gefangengehaltene Wildtiere werden herrenlos, wenn sie ihre Freiheit wiedererlangen und der Eigentümer nicht unverzüglich die Verfolgung aufnimmt oder diese aufgibt. Ein gezähmtes Tier gilt dann als herrenlos, wenn es die Gewohnheit ablegt, an den 41

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Trotz der sentimentalen Beschwörung dieser Akte der Liebe, als die solche Zähmung und Dressur verbrämt wird, schiebt sich jedoch in allen Erzählungen auch eben das Element wieder in den Vordergrund, das ich als Zentrum von Kafkas Bericht bezeichnet habe: die Kiste. Dabei gibt es einerseits die als Falle aufgestellten Käfige, in die man die Tiere mit Ködern lockt. Spätestens für den Transport werden aber auch ganze Gruppen von Tieren in Kisten geworfen und verpackt, deren Anfertigung in den Texten als die eigentlich überlegene Kulturtechnik beschrieben wird: Fallenstellen und Schlingenlegen können auch die einheimischen Jäger, aber geeignete Kisten für den Transport herzustellen, bleibt den technisch versierten Europäern vorbehalten, die zudem die schwere Last der Organisation solcher Karawanen tragen müssen. Anschaulich schildert so Christoph Schulz in seinem Buch Auf Großtierfang für Hagenbeck die „große Umsicht“, „die vielen Unkosten, Mühe und Arbeit“, die mit einem solchen Transport verbunden waren: das Herstellen der „vielen verschiedenen Transportkisten“, das Beschaffen der Nahrung, das Anwerben einheimischer Träger, das Verpacken der Tiere.47 Als versiertem Ingenieur gelingt es ihm sogar, speziell für den Fang von Flusspferden riesige Transportkisten zu bauen, die an die Öffnung einer Fallgrube gestellt werden, so dass den gefangenen Tieren nur der Ausweg in die Kiste bleibt. Die „zum Teil sehr schweren Kisten“, wie sie der Verfasser noch untertreibend nennt, eines solchen Transports, zu dem einmal allein achtzig Affen gehören, müssen einheimische Träger auf Stangen durch unwegsames Gelände schleppen. Die Flusspferdkisten werden dabei auf Karren gefahren, deren Weg freilich vorausgehende Männer erst mit Buschmessern freischlagen müssen. Dann fahren einheimische Träger die Kisten auf Einbäumen gestapelt über Flüsse und andere Gewässer, und hieven sie schließlich mit primitiven Hebevorrichtungen an Bord eines Dampfers.48 In den ersten zwanzig Jahren dieser Schiffstransporte hat Hagenbeck so 300 Elefanten, 80 Nashörner, 10.000 Affen und vieles mehr nach Hamburg gebracht.49 Auf zeitgenössischen Zeichnungen und Photographien ist sehr gut der Unterschied zu erkennen zwischen solchen aus Brettern gezimmerten geschlossenen Transportkisten und den vergitterten Käfigen, die an Bord wie in den Menagerien der Zeit platzsparend gestapelt wurden.50 Für die Tierfänger ist es offensichtlich, dass ein solch aufwendiges Unternehmen mit den einfachen Bastkörben und Netzen der Einheimischen nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre – nicht nur Schulz schildert gleichermaßen amüsiert und tadelnd, wie unzureichend deren Hilfsmittel für Fang und Transport gewesen seien.51 Der ihm bestimmten Ort zurückzukehren.“ Gerd Möbius, Rechtliche Fragen im Zusammenhang mit Fund- und herrenlosen Tieren, in: Tierärztliche Umschau, Heft 52, 1997, S. 658 – 666, hier S. 658. 47 Schulz, Auf Großtierfang für Hagenbeck, S. 24. 48 Ebd., S. 64. 49 Ebd. 50 Vgl. Ames, Carl Hagenbeck’s Empire, S. 10, S. 27. 51 Schulz, Auf Großtierfang für Hagenbeck, S. 67: „Überall standen Körbe mit grunzenden und schreienden, sich wie toll gebärdenden Pavianen. Die Neger hatten sie in Netzen gefangen

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Stolz auf die europäische Verpackungskunst hat womöglich dort auch eine sachliche Berechtigung, wo unversehens mit großen Stückzahlen operiert wird, wie gerade beim Affenhandel.52 Spätestens diese Terminologie macht aber zugleich überdeutlich sichtbar, dass hier Waren verschifft werden sollen, Handelsobjekte, Sachen, die teuer verkauft werden – und angeblich auch auf Wunsch, „den Schwarzen“ abgekauft werden konnten, denen „noch der Vorteil [winkte], für das unverschämte Gesindel bare Münze zu bekommen“.53 Umso auffälliger ist es, wie die Tierfänger einhellig von ihrer Arche Noah schwärmen, vom friedlichen Zusammensein von Mensch und Tier auf den langen Zügen durch die Wüste, von paradiesischem Nebeneinander in den Haltestationen unterwegs. Dieses Vokabular macht schon deutlich, was hier zur Verhandlung steht: Das herrenlose Tier, das legal geschossen, gefangen und indirekt in jedem Fall gekauft wurde, ist keine Sache wie jede andere. Es muss neuerdings als naher Verwandter akzeptiert werden und ist doch zugleich unter den ökonomischen Bedingungen des Überseehandels nur als transportables Ding in hohen Stückzahlen zu vermarkten – beispielsweise im „Paradies“, wie eine große Anlage des Tierparks Stellingen ab 1908 sinnfällig heißen wird.54

III. Die vierte Wand Nicht zufällig ist Carl Hagenbeck als weltgrößter Tierhändler zugleich der Erfinder der so genannten Völkerschau oder „anthropologisch-zoologischen Ausstellung“, in der Mensch und Tier buchstäblich im selben Raum gezeigt werden. Entscheidend für Carl Hagenbecks wirkungsmächtige Erfindung eines gelenkten Blicks auf Tiere und Fremde ist die künstliche Herstellung dessen, was Betrachtende dann als naturwüchsige Umgebung wahrnehmen: Real existierenden Landschaften nachgebildete, dreidimensional gestaffelte komplexe Kulissenbauten sollen in den so genannten Freigehegen den Eindruck natürlicher Lebensräume vermitteln. Hagenbeck selbst schreibt über das „moderne Tierparadies“, das er unter unermesslichem Aufwand erschaffen will: „Von einem gegebenen Punkt des Gartens sollte man die Tiere aller Zonen, in großen Abstufungen, und jede Art in einer ihrer Heimat angemessenen Umgebung, gleichsam frei sich bewegen sehen. […] Steinböcke, Gemsen und Antilopen brauchten das Leben der Gefangenschaft nicht mehr in den Niederungen und einzeln oder zu mehreren in hohen Stabkörben herbeigebracht. […] Sie wurden in ihren Käfigen mit Tragstangen herbeigeschleppt. Da diese Käfige weder solide noch praktisch waren, so mußte ich alle Affen umquartieren; dabei entwischte uns mindestens ein Dutzend […].“ 52 Schulz fährt ebd. fort: „Außerdem kam zu meinem Entsetzen immer neue Zufuhr, und bald hatte ich über 100 Stück beisammen. Etwa 80 davon bevölkerten später den Affenfelsen des Stellinger Tierparks.“ 53 Ebd. 54 Eine Photographie dieses Ensembles von aufsteigenden Panoramen, die in eine Hochgebirgslandschaft übergingen, findet sich in: Ames, Carl Hagenbeck’s Empire, S. 171.

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zu vertrauern, sondern durften auf felsigem Grat lustig zur Höhe streben. Der König der Tiere bewegte sich frei, in stolzer Majestät in seiner weiten Grotte.“55 Frei ist auch der Blick der Betrachtenden auf die Tiere, da er von keiner Käfigstange zerschnitten wird, und es ist kein Zufall, dass hier ausgerechnet die afrikanische Tierwelt als Beispiel für eine solche harmonische Einheit von Landschaft und Lebewesen dienen muss. Vielmehr findet Hagenbeck in seinem Patentantrag für das so genannte naturwissenschaftliche Panorama eine auch für res nullius-Fragen aufschlussreiche Definition: „Das neue Panorama kennzeichnet sich im wesentlichen dadurch, daß auf einem geeigneten Terrain ein Teil einer fremden Gegend, mit den jeweilig dahin gehörigen Geschöpfen (Menschen und Tieren) bevölkert, vorgeführt wird.“56 Mensch und Tier gehören also offenbar fest in eine bestimmte Gegend, so dass man das ganze Ensemble symbolisch transportieren kann, um dann diesen territorialen Besitz als fremde Welt und neues Paradies auszustellen. Dieser räumliche Transfer hat zugleich im kolonialen Kontext einen zeitlichen Aspekt: Wird den ,Primitiven‘ gemeinhin von ,zivilisierten‘ Europäern die gemeinsam geteilte Gegenwart verweigert, so gelangt hier mit den Kisten und Käfigen symbolisch auch eine andere Vergangenheit in den selben Erfahrungsraum und das wilde Tier wird auch zeitlich zum Niemandsgut.57 Beide Gruppen von Lebewesen kommen zudem in dieser Ausstellung als Ununterscheidbares zusammen, wie auf dem Eingangsportal des Stellinger Tierparks, das der Prospekt zur Eröffnung 1907 wie selbstverständlich so beschreibt: „Links der mächtige Eisbär, rechts das majestätische Löwenpaar […] seitwärts davon links der lebensgrosse Nubier mit Speer und Kampfschild, rechts ein Indianer im Kriegsschmuck mit Tomohawk und Büchse“. Zwei gemischte Paare also, friedlich vereint in kämpferischer Pose.58 Ein Maler soll es gewesen sein, der Hagenbeck die Idee des belebten Panoramas eingegeben hat, und wie die Tierfänger, so überspielt auch der Zoogründer in seinen Memoiren den Akt der Inbesitznahme durch eine Reihe von Euphemismen: Die Lappländer sollten den Import einer Rentierherde „begleiten“, der Agent, der diese „zusammenbrachte“, „[veranlaßte] gleichzeitig eine Familie von Lappen zur Fahrt nach Hamburg“.59 Quasi ganz von selbst fügt sich dann in Hagenbecks Erinnerung das neue Format der Völkerschau, deren erste schon ein sensationeller Erfolg 55

Hagenbeck, Von Tieren und Menschen, S. 134, S. 135. Eric Ames, Wilde Tiere. Carl Hagenbecks Inszenierung des Fremden, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hg.), Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen, Bern 2000, S. 123 – 148, hier S. 127. Vgl. zum „Transgressionsangebot“, das eine solche Inszenierung von Echtheit dem zeitgenössischen Betrachter macht, Volker Mergenthaler, Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Transgression (1897 – 1936), Tübingen 2005, S. 29 f. 57 Vgl. zur Verweigerung geteilter Gegenwart Johannes Fabian, Time and the other. How anthropology makes its object, New York 2002. Für diesen Hinweis und Interpretationsvorschlag danke ich Michael Kempe. 58 Ames, Wilde Tiere, S. 129. 59 Hagenbeck, Von Tieren und Menschen, S. 80. 56

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war: In den Kulissen der nordischen Landschaft zeigten die Lappen Kulturtechniken wie das Verfertigen von Kleidungsstücken und Geräten oder auch, geradezu entlarvend selbstredend, ihr geschicktes Einfangen der Rentiere mit Wurfschlingen. Hagenbeck selbst erklärt sich den Erfolg dieser Ausstellung damit, dass sie „mit einer gewissen Naivität und Unverfälschtheit ins Leben getreten war und auch so vorgeführt wurde. Die Gäste aus dem hohen Norden hatten gar keinen Begriff von Schaustellungen und was damit zusammenhängt, es wurde auch absolut keine Vorstellung gegeben. Die Karawane war auf dem geräumigen Grundstück hinter unserm Hause, am neuen Pferdemarkt, untergebracht, befand sich also vollständig im freien, ohne künstliche Kulissen und Hintergründe. Es bot sich hier wirklich ein Bild, das wohl im kleinen eine getreue Kopie des Naturlebens war“60 – eine Kopie, die Hagenbeck schon bald ihrerseits kopieren lässt, wenn im großen Eismeer-Panorama Tier und Menschen im selben künstlichen Naturraum als Teil des Zoos gezeigt werden. Munneckes Abenteuererzählung aus der Perspektive des Tierfängers John Hagenbeck hatte freilich eine andere Genealogie erörtert. Der zurücktretende Erzähler lässt seinen Helden über die Anfänge der Schaustellung und des Hagenbeck-Imperiums in Hamburg sinnieren: „Im Jahre 1887 war es, als dort auf dem Heiligengeistfelde der Zirkus Carl Hagenbeck eröffnet wurde. John kam zur Eröffnung nach dort und brachte eine Singalesentruppe aus Ceylon mit, die er als erste große Völkerschau dem staunenden Publikum in einem besonderen Zelte zeigte. Er war einer der ersten Europäer, der mit solchen Völkerschauen großen Stils öffentlich auftrat. Als Abschluß des Programms führten seine Singalesen eine Pantomime auf, die er selber verfaßt hatte. Er lächelt still vor sich hin und sieht noch heute die weit aufgerissenen Augen des Publikums beim Erscheinen der braunen Ceylonesen in ihren prächtigen Seidengewändern, die bunt in allen Farben glänzten.“61 Doch auch der Vater habe schon 1848 den selben „Trieb“ in sich gehabt, wie sonst habe er auf die Idee kommen können, mit sechs Seehunden nach Berlin zu fahren, die ihm dort, als Meerjungfrauen ausgestellt, einen „Koffer voll Silbertaler“ eintrugen.62 Folgt demnach die Aufführung der „Singalesen“ einer Choreographie mit vorgeschriebenem Drehbuch und präsentiert zirzensische Kunst, so scheint auch die Berliner Präsentation mit klassischen Schaubudentricks eben nicht dem Paradigma der Natürlichkeit und Unverfälschtheit gehorcht zu haben, das der jüngere Hagenbeck so entschieden für seine neue Konzeption der anthropologisch-zoologischen Schau reklamiert – mehr oder weniger bewusst den heiklen Punkt überspielend, dass auch der Besitz an Menschen oder zumindest ihrer Arbeitskraft und Kunstfertigkeit um 1900 längst den Gesetzen des kapitalistischen Systems gehorcht. Auch auf diesen Punkt verweist Kafkas Kiste: Diese bildet doch, dem Bericht für eine Akademie zufolge, die vierte Wand des Käfigs; als vierte Wand bezeichnet man jedoch in Schaustellungszusammenhängen wie dem Theater und dem Variété die 60

Ebd., S. 81. Munnecke, Hagenbecks Dschungelfahrten, S. 78. 62 Ebd., S. 79. 61

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zum Zuschauerraum offene Seite der Bühne, die seit dem späten 18. Jahrhundert in der Regel eine so genannte Guckkasten-Bühne ist. Wenn sich Kafkas Affe mit dem Gitter im Rücken der Kiste zuwendet, so zeigt freilich das mehrfach wiederholte und viel gedeutete „kein Ausweg“, dass das als Sache und Ware verpackte Tier wie die so genannten „Naturmenschen“ der Völkerschauen vom Besitzerwechsel nichts Gutes zu erwarten hat und doch zugleich nur über diesen Ausweg der Schaustellung in eine Zwischenexistenz flüchten kann: „Affen gehören bei Hagenbeck an die Kistenwand – nun, so höre ich auf, Affe zu sein. […] Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillestehen, angedrückt an eine Kistenwand“.63 Kafkas Affe steht hier, buchstäblich und der Redensart gemäß, mit dem Rücken zur Wand. Doch mit erhobenen Armen an die Wand gestellt wird gemeinhin der, den wir als Menschen bezeichnen – zum Abschuss freigegeben im legalen Akt der Tötung durch Hinrichtung, als den sich auch diese Form des Tier- und Menschenfangs entlarven lässt. Zeitgleich mit dem kurzlebigen Imperium der so genannten Schutzgebiete in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika errichtet Carl Hagenbeck somit in Hamburg-Stellingen ein so genanntes Tierparadies, in dem wie in den Kolonien kaufmännische Interessen durch eine Art sentimentalen Idealismus überformt werden. Programmatisch sieht der Zoogründer daher in seinen Tierfängern die neue Generation von wagemutigen Forschern, die wie die Helden der Pol-Expeditionen unter Einsatz von Leib und Leben neue Gebiete erschließen und den Fortschritt der zivilisierten Gesellschaft vorantreiben – und er besteht darauf, mit seinen Schauen und Darbietungen einen Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen zu leisten. Wie in Kafkas Text, so eröffnet sich in Hagenbecks Imperium ein Kunstraum, in dem sich Elemente von Schaustellung und Wissenschaft überkreuzen, und vielleicht letztmalig zeigt sich in den Texten der Tierfänger die Selbstgewissheit eines kolonialen Besitzwillens, der sich immer auf der Seite des Rechts weiß und die Leerstelle seiner Aneignungsstrategie mit ganzen Bündeln von Legitimationserzählungen füllt. Das fremde Tier als Niemandsgut, Ding und Ware wird so bezwungen, angeeignet und zugleich symbolisch vernichtet. Das ausgestellte Andere, ununterscheidbar zwischen Mensch und Tier, wird als Schauspieler seiner selbst dafür zu einer Projektionsfläche im leeren Raum der Kulissenwelt eines neuen Niemandslands.

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Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, S. 109 f.

„Herrenloses Gut“ Raub und Verwertung mobilen polnischen Eigentums im Zweiten Weltkrieg Von Ralf Banken und Ramona Bräu

I. Einleitung In den letzten fünfzehn Jahren hat sich die zeit- und wirtschaftsgeschichtliche Forschung in großem Umfang den Raubzügen des Dritten Reiches im deutsch besetzten Europa zugewandt; von der Arisierung jüdischer Firmen über die Ausbeutung der Zwangsarbeiter und Wegnahme der letzten Habe von Holocaustopfern bis hin zur Plünderung materieller Ressourcen jeglicher Art in den besetzten Gebieten.1 Deutlich wurde dabei, dass das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg über fünf Jahre nicht allein durch den vollständigen Zugriff auf das deutsche Volkseinkommen und das Vermögen der deutschen Bevölkerung, sondern auch auf das der besetzten Länder führen konnte; auch wenn über die genaue Höhe des quantitativen „Beitrages“ der besetzten Gebiete zur deutschen Kriegswirtschaft und Kriegsfinanzierung noch keine abschließende Einigkeit in der Forschung besteht.2 Der Zugriff auf die öffentlichen und privaten Ressourcen in den besetzten Staaten bildete dabei eine Fortsetzung des schon vor Kriegsbeginn getätigten Zugriffs des NS-Staates auf sämtliche Produktionsfaktoren in „Großdeutschland“ und insbeson1

Der Zugriff der deutschen Stellen auf das Privatvermögen der Bevölkerung besetzter Länder wird im Folgenden allgemein sprachlich als Raub gewertet, d. h. als Entwendung der beweglichen Gegenstände unter Zwang, häufig unter Anwendung von Gewalt oder deren Androhung unabhängig davon, auf welcher formaljuristischen Rechtsgrundlage die völkerrechtswidrige Konfiskation stattfand. Aus diesem Grund werden auch die Begriffe der Beschlagnahme oder Konfiskation synonym und nicht in einem rechtlichen Sinne verwendet. Der in diesem Beitrag ebenfalls häufig verwendete Quellenbegriff der „Verwertung“ wird in dieser Untersuchung ebenfalls neutral im Sinne von „aus etwas Nutzen ziehen“ verwandt. Vgl. ausführlich zu diesem Problem: Ralf Banken, Edelmetallmangel und Großraubwirtschaft. Die Entwicklung des deutschen Edelmetallsektors und die Degussa AG 1933 – 1945, Berlin 2009, S. 23. 2 Siehe hierzu als Überblick die Diskussion zwischen Götz Aly und Adam Tooze mit den entsprechenden Verweisen auf die Forschungsliteratur: Adam Tooze, Einfach verkalkuliert, in: die tageszeitung, 12./13. März 2005; Götz Aly, Nicht falsch, sondern anders gerechnet, in: die tageszeitung, 15. März 2005; Adam Tooze, Doch falsch gerechnet, weil falsch gedacht, in: die tageszeitung, 6. März 2005, S. 16.

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dere auf das Vermögen der jüdischen Bevölkerung.3 Diese staatliche Inanspruchnahme auch privater Ressourcen war zwingend nötig, um den beschleunigten Rüstungskurs weiter durchführen zu können. Im Zweiten Weltkrieg radikalisierte sich diese Politik, die dem Kriegserfolg alles unterordnete. Im Widerspruch zum damaligen Völkerrecht nahmen die deutschen Institutionen dabei auf unterschiedlichen Wegen und in vielfachen Formen ebenfalls Zugriff auf das Eigentum privater Institutionen, Unternehmen und Bürger in den besetzten Ländern. Wie bereits vor dem Krieg setzte sich das NS-Regime dabei hemmungslos über Rechte und Interessen von Privatpersonen wie Unternehmen hinweg – erst recht bei „Gegnern“ und „Feinden“ des Reiches. Gleichzeitig nutzte man staatlicherseits jedoch das Medium „Recht“ als Steuerungsinstrument für die Verwertung des Raubgutes. Obwohl einerseits bei der Konfiskation Eigentums- und Besitzrechten der eigentlichen Eigentümer keine größere Bedeutung mehr zugebilligt wurde, war das Eigentumsrecht andererseits jedoch nötig, um die geraubten Ressourcen wieder für den ökonomischen Kreislauf nutzbar zu machen. Das Raubgut für die Kriegswirtschaft zu verwerten, stellte die deutschen Stellen dabei vor einige verwaltungstechnische Probleme. Nicht die rasche Inbesitznahme von Gütern und deren Bewertung als herrenloses Gut (res nullius) erwies sich als problematisch, sondern deren Verwertung und Weiterwendung. Diese Schwierigkeiten werden im Folgenden exemplarisch am Raub von Edelmetallen sowie Wertpapieren, Geld und sonstigen Wertsachen in den besetzten Gebieten Polens sowie an der daran anschließenden Verwertung durch die Reichshauptkasse-Beutestelle veranschaulicht.

II. Der Raub mobilen polnischen Eigentums im Zweiten Weltkrieg 1. Der Raub edelmetallhaltiger Gegenstände in den besetzten Gebieten Polens Edelmetalle in jeglicher Form bildeten eine wichtige Ressource der deutschen Kriegswirtschaft. Während Silber und die Platinmetalle (Platin, Ruthenium, Rhodium, Palladium, Osmium, Iridium) vor allem für die Herstellung hochmoderner Rüstungsgüter benötigt wurden – z. B. für hochwertige Elektronikschalter, die Herstellung von Aufklärungs- und Röntgenfilmen oder Katalysatoren in der Treibstoffherstellung –, bildete Gold für das „devisenarme“ Reich ein wichtiges Zahlungsmittel zur Finanzierung kriegswichtiger Importe aus den neutralen und verbündeten Staaten. Die Beschlagnahme von Edelmetallen und edelmetallhaltigen Gegenständen in den besetzten Ländern und den verfolgten Bevölkerungsteilen in Deutschland erfolgte in vielfältiger Form. Neben dem Zugriff auf die Goldreserven der Notenbanken 3

Banken, Edelmetallmangel, S. 834 f.

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und die Silberlager staatlicher Münzen griffen die deutschen Stellen auch auf Edelmetallbesitz privater Unternehmen und Institutionen zu, so z. B. auf die Bestände von Scheideanstalten und Buntmetallhütten, Kirchen oder wissenschaftlichen Einrichtungen. Schließlich beschlagnahmten die deutschen Institutionen in großem Umfang auch den Edelmetallbesitz der privaten Bevölkerung, etwa durch Zwangsabgaben, die Beschlagnahme von Bankschließfächern, Razzien oder aber in den Vernichtungslagern, wo den Opfern nach der Tötung sogar das Zahngold aus dem Mund gebrochen wurde. Wie der Raub von Edelmetallen konkret organisiert wurde, welche deutsche Stelle dafür zuständig war und wer sich die finanziellen Äquivalente des geraubten Edelmetalls einverleiben durfte, hing dabei vor allem von den regionalen Machtverhältnissen ab. Sieht man von den Vernichtungslagern der SS ab, waren die Ausbeutungsaktionen dabei stets territorial organisiert. Allerdings führten in fast allen der besetzten Gebiete immer mindestens zwei deutsche Institutionen den Edelmetallraub durch. Vielfach waren die jeweiligen Zuständigkeiten gar nicht geregelt, sondern wurden in Auseinandersetzungen untereinander machttechnisch „geklärt“. Vor der „Einsetzung“ der zuständigen Behörden für die Beschlagnahme und Verwertung der Edelmetalle und anderer Beutegüter konfiszierten jedoch die Wehrmachteinheiten, Devisenschutzkommandos und andere Spezialorganisationen (Organisation Schu, Wehrerfassungskommandos etc.) beim und direkt nach dem Vormarsch der deutschen Truppen das Edelmetallvermögen des besetzten Landes und seiner Bürger. Dies war auch in Polen der Fall. Nach der Errichtung der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen waren unterschiedliche Institutionen für den Edelmetallraub und die Verwertung des Beuteguts zuständig. Diese unterschieden sich in den eingegliederten Gebieten von denjenigen im Generalgouvernement. Im ersteren Fall waren hier vor allem die Devisenschutzkommandos, der Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturgutes in den angegliederten Ostgebieten, die Haupttreuhandstelle Ost und ihre örtlichen Treuhandstellen zuständig. Im Generalgouvernement wiederum waren die in Zollfahndungsstellen umgewandelten Devisenschutzkommandos, die von der Krakauer Regierung eingerichtete Treuhandstelle, die SS und die kommunalen Besatzungsbehörden die wichtigsten mit dem Edelmetallraub befassten Stellen. Der anschließende Verwertungsweg der konfiszierten Edelmetalle war dann davon abhängig, wer die Edelmetallgegenstände beschlagnahmt hatte. Die SS und ihre Gliederungen gaben nur einen kleineren Teil der von ihnen in Polen aufgebrachten Edelmetalle an die regionalen Besatzungsbehörden vor Ort ab, den größten Teil der Edelmetalle verbrachten sie direkt nach Berlin zum Wirtschafts-VerwaltungsHauptamt der SS, das diese wiederum vor allem an die Reichsbank ablieferte. In den eingegliederten Gebieten gab der Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturgutes in den angegliederten Ostgebieten sowie die Treuhandstellen der Haupttreuhandstelle Ost (HTO) edelmetallhaltige Gegenstände an die Berliner Ver-

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waltungs- und Verwertungsgesellschaft – eine HTO-Tochter – ab. Von dort aus gelangten sie an die Zentrale Pfandleihstelle Berlin Abt. III; sofern der Schmuck nicht vor Ort an lokale Juweliere veräußert wurde. Im Generalgouvernement schließlich bildete die Treuhand-Verwertungs-Gesellschaft mbH im Auftrag der Abteilung Treuhand der Regierung des Generalgouvernements (Hauptabteilung Wirtschaft) die zentrale Verwertungsstelle, die die Edelmetalle entweder an die Emissionsbank und die Münze des Generalgouvernements abgab oder aber an private Unternehmen wie die Degussa verkaufte. Die von den Wehrmachtseinheiten beschlagnahmten Güter gingen schließlich an die Reichshauptkasse-Beutestelle des Reichsfinanzministeriums. Auch Devisenschutzkommandos und andere Institutionen gaben jedoch in der ersten Zeit der Besatzung konfisziertes Gut dorthin ab. Insgesamt führte die Ämterkonkurrenz in den besetzten Gebieten nicht nur zu ständigen Machtkämpfen und dem Aufbau doppelter Beschlagnahmestrukturen, sondern verursachte auch eine Radikalisierung durch immer brutalere Methoden und die Ausweitung des Zugriffs auf das gesamte jüdische und große Teile des nichtjüdischen Edelmetallvermögens in den besetzten polnischen Gebieten. Gleichzeitig lässt sich eine Übertragung der Ausbeutungstechniken aus dem Reich auf die besetzten Gebiete und die dortige Weiterentwicklung erkennen. Die deutschen Stellen organisierten nach reichsdeutschem Vorbild eine Leihhausaktion im Sudetenland, errichteten in Prag eine Zentralstelle nach Wiener Vorbild oder ließen in den Niederlanden wie in Polen Devisenschutzkommandos Devisen und Edelmetalle aus Banksafes beschlagnahmen. Dieser Methodentransfer ist auch bei der Ausbeutung in den Ghettos und ansatzweise für den Edelmetallraub in den Vernichtungslagern zu beobachten.4 Dennoch zeigen sich im Vorgehen der deutschen Besatzungsbehörden beim Edelmetallraub auch die Unterschiede der allgemeinen Besatzungspolitik. Deutlich lässt sich ein Nord-Süd- bzw. West-Ostgefälle erkennen. Während die Beschlagnahmen in West- und Nordeuropa durch mehr oder weniger geordnete Verwaltungsaktionen – meist erhielten die privaten Besitzer hier Entschädigungen, wenngleich nicht immer im Wert adäquat – gekennzeichnet waren, erfolgten sie in Süd- und Osteuropa ungeordnet und kaum mit rechtlichen Mitteln. Auch ist in Mittel- und Osteuropa unzweifelhaft eine Brutalisierung der Raubaktionen zu beobachten. Im Osten erinnerten sie stärker an koloniale Raubmethoden. Während den Juden der Edelmetallbesitz in der Tschechoslowakei noch ähnlich wie im Reich weitgehend im Rahmen administrativer Maßnahmen abgenommen wurde, wurden sie in Polen gleich nach der Besetzung bei Wohnungsdurchsuchungen, Razzien oder in Ghettos beraubt. Je weiter östlich, desto häufiger war der Edelmetallraub unmittelbar mit Gewalt verbunden, bis hin zum Tod der Edelmetallbesitzer; wie bei den Massenerschießungen in der Sowjetunion und in den Vernichtungslagern.

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Ausführlich hierzu Banken, Edelmetallmangel, S. 835.

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Ein West-Ost-Gegensatz lässt sich ebenfalls für die vor Ort erfolgende verwaltungstechnische Aufnahme und Sortierung der geraubten Edelmetalle sowie deren Weiterleitung ins Reich oder die – seltenere – lokale Verwertung beobachten. Hier erwiesen sich – anders als beim Raub – fehlende rechtlich-administrative Grundlagen als hinderlich. Vielfach blieben geraubte Edelmetallgegenstände mehrere Monate unbearbeitet liegen, weil Vorgaben vorgesetzter Behörden fehlten oder sich widersprachen. Überdies entbrannte ein Streit um die Zuständigkeiten und es mangelte zudem an Mitarbeitern mit entsprechenden Fachkenntnissen. Dies war vor allem in den neu entstandenen Institutionen der Zivilverwaltung im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ostland der Fall, aber auch in der Haupttreuhandstelle Ost und bei der Treuhand-Verwertungs-GmbH in Krakau sowie beim Generaltreuhänder für die Sicherstellung deutschen Kulturgutes. Derartige Strukturen begünstigten die Korruption, die unter den deutschen Besatzungsbehörden ein grassierendes Problem darstellte. 2. Der Raub privater Wertpapiere, Geld und anderer Wertsachen in Polen Neben Edelmetallen und den zahlreichen eingelieferten Schmuckgegenständen befanden sich in den über 4.000 Depots, die während der Kriegsjahre durch die Beutestelle der Reichshauptkasse angelegt wurden, auch Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher und persönliche Gegenstände verschiedener Art, die unterschiedliche deutsche Stellen beschlagnahmt und dorthin abgegeben hatten. Größte Einlieferer waren dabei auch hier die Einheiten der Wehrmacht, die die im besetzten Europa erbeuteten Werte zur Erfassung und Verwertung an die Beutestelle für die Verwertung und deutsche Kriegsfinanzierung abgaben. Bereits mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen im September 1939 begann der Raubzug, in dessen erster Phase zumeist ungezielt privates wie staatliches Vermögen in Form von Devisen und Wertpapieren enteignet wurde. Die Vorgehensweise, wie diese Werte dem Reich zur Verwertung übertragen werden sollten, blieb jedoch zunächst unklar. So erbeuteten die Wehrmachtseinheiten auch Staatsanleihen, Rentenpapiere, Obligationen, Aktien, Versicherungspolicen, Sparbücher, Geldkassetten, Devisen und Tresorinhalte aus Zoll- und Steuerämtern, Verwaltungen, Rathäusern, Privatwohnungen, Banken und Betrieben. Zudem nahmen sie diese Wertsachen den in Gefangenschaft gekommenen polnischen Soldaten oder ansässigen oder flüchtenden Privatpersonen ab, vor allen polnischen Juden.5 Zunächst wurden diese Gegenstände bei den Feldkassen der Armeeoberkommandos (AOK) gesammelt. Dort herrschte in Ermangelung von Richtlinien zum Verfahren bezüglich der erbeuteten Werte Unklarheit über das weitere Vorgehen. So wandte sich der Oberfeldzahlmeister der 10. Armee, Weinhold, am 14. September 1939 Rat suchend an die Reichshauptkasse, wie mit den erbeuteten Wertpapieren umzugehen sei. Dabei betonte er, dass nicht festgestellt werden könne, ob die Obligationen Ei5

Vgl. Bundesarchiv Berlin (BA Berlin) R 2104 Nr. 68.

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gentum des polnischen Staates oder von Privatpersonen seien, weil am Fundort keine Feststellung der Eigentümer möglich gewesen sei. Den Begriff des herrenlosen Gutes verwendete er jedoch nicht.6 Wenige Tage später berichtete Weinholds Vorgesetzter, der Armeeintendant der 10. Armee, an den Heeresintendanten, dass der größte Teil der „erbeutete[n] oder herrenlose[n] Zahlungsmittel (Zloty) […] von den Zahlstellen der 10. Armee zum Ankauf von Gegenständen in Polen verwendet [worden sei]. Andere erbeutete oder herrenlose fremdländische Zahlungsmittel und Goldmünzen durch Vermittlung der Feldkassen an die Reichsbank abgeführt [werden].“7 Er erbat dabei Auskunft für den Umgang über die von den Feldkassen der Divisionen, von Truppenteilen und Dienststellen angelieferten „herrenlosen Wertpapiere und Sparkassenbücher“ sowie „Wertpapiere und polnische bzw. fremdländische Zahlungsmittel, die bei Durchsuchungsaktionen und Schießereien den Juden und anderen polnischen Staatsangehörigen abgenommen und Wertpapiere, die in polnischen Banken beschlagnahmt wurden“. Konkret wollte er dabei wissen, ob das Abgabeverfahren an die Reichsbankstellen beizubehalten sei.8 Eine Unterscheidung der Beute in privates und staatliches Vermögen wurde jedoch nicht gemacht. Erbeutete Werte wurden einfach als herrenloses Gut angesehen, gleich welcher Herkunft diese waren, oder ob sie durch Raub bzw. Zwangsbeschlagnahme oder -enteignung den rechtmäßigen Eigentümern abgenommen worden waren. Im weiteren Schriftverkehr zwischen Armeeintendantur, Reichsbankdirektorium, Heeresintendantur, dem Generalbevollmächtigten für die Wirtschaft und dem Reichsfinanzministerium kam man schließlich Mitte Oktober überein, dass die Reichsbank bereit sei, die herrenlosen Devisen und Wertpapiere entgegenzunehmen und in Absprache mit dem Reichsfinanzministerium zu verwalten und zu verwerten.9 Ob es sich dabei tatsächlich um herrenloses Gut handelte, wurde weder hinterfragt noch rechtlich oder begrifflich beanstandet. Anfang November wandte sich der zuständige Bearbeiter im RFM an den Heeresintendanten beim Oberkommando des Heeres, um zur „Verwendung erbeuteter und beschlagnahmter Gelder und Wertpapiere in Polen“ Stellung zu nehmen. Denn hinsichtlich Ablieferung und Verwendung von Zahlungsmitteln und Wertpapieren bestand weiterhin keine einheitliche Verfahrensweise.10 Klärung über die dann weiterhin angewandte Ablieferungsform über die Reichsbankstellen und Reichskreditkassen sollte die Besprechung der beteiligten

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Vgl. BA Berlin R 2 Nr. 70047. BA Berlin R 2 Nr. 70047. Die Reichsbankstellen überstellten die Gegenstände dann an die Reichshauptkasse. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 7

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Reichsstellen beim Oberkommando der Wehrmacht am 29. November 1939 erbringen.11

III. Die Bedeutung des Rechts bei Raub und Verwertung 1. Die Bedeutung des Rechts bei Raub und Verwertung in den besetzten Gebieten Wie bei anderen Gütern erfolgte die Beschlagnahme von edelmetallhaltigen Gegenständen, Wertpapieren und anderen Wertsachen in den ersten Wochen der Besetzung Polens zunächst formal aufgrund allgemeiner Beschlagnahmeverordnungen der deutschen Besatzungsbehörden.12 Allerdings standen diese im Gegensatz zum bestehenden Völkerrecht, verbot die Haager Landkriegsordnung doch den Zugriff der Besatzungsmacht auf das Eigentum von Privatpersonen und Unternehmen in den besetzten Gebieten13, was die Wehrmacht und nationalsozialistische Institutionen jedoch nicht an ihrem Vorgehen hinderte. Da Edelmetalle allgemein als Devisen galten, hinterfragten viele verantwortlich Handelnde die Beschlagnahme von Edelmetallen als Mittel zur Bekämpfung der großen, in Deutschland schon seit 1931 herrschenden Devisenknappheit sowieso nicht mehr, sondern hatten sie als Handlungsmaxime und als wichtigen nationalen Kriegsbeitrag geradezu verinnerlicht. Einer besonderen Legitimation zur Edelmetallbeschlagnahme bedurfte es für die deutschen Institutionen daher nicht. Devisenmangel und Rohstoffarmut der deutschen Wirtschaft seit 1931 erklärten die Beschlagnahmeaktionen im Reich hinreichend, so dass Fragen der Rechtmäßigkeit meist gar nicht erst aufkamen und die Raubmaßnahmen von allen deutschen Besatzungsinstitutionen allgemein akzeptiert wurden.14 Gleiches gilt für Wertpapiere und andere Wertsachen. Zudem stützten die Vorgaben von Göring und seiner Vierjahresplanbehörde die umfangreichen Beschlagnahmen in den besetzten Gebieten.15 Wenngleich der Begriff des „herrenlosen Gutes“ erst Anfang 1940 genauer gesetzlich geregelt wurde, tauchte der Rechtsbegriff in der Korrespondenz der deutschen Stellen schon sofort nach dem Einmarsch in Polen und den ersten Konfiskationen auf. 11

Ebd. Die endgültige Regelung, der sich auch Luftwaffe und Marine anschlossen, erfolgte erst im Juni 1940. 12 Die folgenden Ausführungen beruhen auf dem von Ramona Bräu bearbeiteten Projekt zur Rolle der Reichsfinanzverwaltung im Generalgouvernement, das wiederum eine Teilstudie im Gesamtprojekt zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums darstellt. 13 Allgemein zur Geschichte der Haager Landkriegsordnung siehe Geoffrey Best, Humanity in Warfare: The Modern History of the International Law of Armed Conflicts, New York 1980. 14 Nur selten finden sich in den Quellen Reflektionen über die rechtliche Basis der Beschlagnahmen. Siehe zu einer der wenigen Ausnahmen: Staatsarchiv Posen (StA Posen) 759 III Nr. 1221. 15 Banken, Edelmetallmangel, S. 842 – 845.

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In den frühen Verordnungen wurde der Bevölkerung zudem fast nie eine konkrete Begründung für die Konfiskationen genannt. Eher selten wurden den ehemaligen Besitzern Bescheinigungen über den Umfang der beschlagnahmten Gegenstände und Wertsachen ausgestellt. Häufig wurden diese auch toten Soldaten entwendet oder beim Vormarsch oder Rückzug von der Wehrmacht oder anderen Institutionen quasi in „Sicherungsgewahrsam“ genommen. Gleiches gilt für Razzien und insbesondere für die jüdische Bevölkerung, denen z. B. Edelmetallgegenstände und anderes Wertvolles fast immer ohne Entschädigung oder eine Quittung abgenommen wurden. In diesen Fällen und aufgrund „mangelnder“ bürokratischer Sorgfalt war den verwertenden Stellen im Reich daher vielfach unbekannt, woher das Raubgut stammte und auf welcher rechtlichen Basis es jeweils beschlagnahmt worden war. Mit dem Ende der Militärverwaltung im besetzten Polen, der Teilung des besetzten polnischen Gebietes in das Generalgouvernement und die dem Reich anzugliedernden Gebiete im Herbst 1939 ging dann die Zuständigkeit für die Beute zum einen an die HTO, die den gesamten staatlichen und privaten Besitz in den „eingegliederten Ostgebieten“ verwaltete und verwertete sowie an die Regierung des Generalgouvernements in Krakau, die in ihrem Sprengel für die Verwertung eine eigene Treuhandstelle schuf. Die Grundlage für die Verwaltung und Verwertung durch die HTO bildeten zwei Verordnungen; die so genannte Polenvermögensverordnung und die Staatsvermögensverordnung.16 Beide Verordnungen regelten nachträglich die bereits bestehende Enteignungspraxis und schufen die rechtliche Grundlage dafür, die Vermögenswerte des polnischen Staates als auch seiner Bevölkerung im Interesse der nationalsozialistischen Besatzungs- und Siedlungspolitik einzusetzen. Die dabei festgelegte entschädigungslose Enteignung stieß im Reichsfinanzministerium jedoch zunächst auf Irritation und Ablehnung, da die Beamten bei dieser entgegen dem Völkerrecht stehenden Verfahrensweise Schadensersatzforderungen nach dem Krieg befürchteten.17 Besondere Bedenken äußerte das bearbeitende Referat im RFM über die „Polenvermögensverordnung“, da der uneingeschränkte Zugriff auf polnische Privatvermögen und deren jede rechtliche Grundlage entbehrende Einstufung als herrenloses Gut nicht nur völkerrechtswidrig war, sondern auch befürchtet wurde, dass das deutsche Privatvermögen im Ausland auf dieselbe Weise konfisziert werden könnte. Eine grundsätzliche Ablehnung der nationalsozialistischen Polenpolitik lässt sich in den eher formaljuristischen Bedenken jedoch nicht erkennen.18 Mit der Übernahme der Verwaltung und Verwertung der polnischen Ver16 Vgl. Verordnung über die Behandlung von Vermögen der Angehörigen des ehemaligen polnisches Staates, so genannte Polenvermögensverordnung vom 17. September 1940, Reichsgesetzblatt (RGBl). I, S. 1270; Verordnung des Beauftragten für den Vierjahresplan über die Sicherstellung des Vermögens des ehemaligen polnischen Staates, so genannte Staatsvermögensverordnung vom 15. Januar 1940, RGBl. I, S. 174. 17 Vgl. Bernhard Rosenkötter, Treuhandpolitik. Die „Haupttreuhandstelle Ost“ und der Raub polnischer Vermögen 1939 – 1945, Essen 2003, S. 120 – 123. 18 Vgl. ebd., S. 126 f.

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mögen durch die Treuhandstelle im Generalgouvernement war das Ministerium zudem in Bezug auf die polnische Beute in eine Beobachter- und Kontrollfunktion verwiesen, da es keine direkten Eingriffsmöglichkeiten mehr besaß.19 Im Generalgouvernement stellten vor allem Grundstücke und bewegliches Eigentum der in Ghettos zusammen getriebenen jüdischen Bevölkerung die Masse des durch die Treuhandstelle zu verwaltenden Gutes dar.20 Eine Enteignung der polnischen Bevölkerung wie in den „eingegliederten Ostgebieten“ fand auf dem Verordnungsweg nicht statt. Einzig das Vermögen des polnischen Staats wurde mit der Verordnung vom 20. September 1940 enteignet.21 Allerdings nahm man durchaus Zugriff auf das Privateigentum der polnischen Bevölkerung im Generalgouvernement, z. B. in der Verordnung über die Beschlagnahme von privaten Vermögen im Generalgouvernement (Beschlagnahmeverordnung) vom 21. Januar 1940. Dieser Verordnung zufolge musste die gesamte polnische Bevölkerung ihr Vermögen anmelden. Von Bedeutung war nun, dass das Vermögen automatisch als herrenlos galt, wenn es nicht angemeldet wurde.22 Erst die hier mittels Verordnung eingeführte Rechtsfigur des herrenlosen Gutes erlaubte so nun ab Anfang 1940, nicht angemeldetes Privatvermögen auf einer (formal)-rechtlichen Basis zu beschlagnahmen und zu verwerten. Darüber hinaus wurde aufgrund dieser Verordnung auch das Eigentum der aus dem Generalgouvernement geflüchteten Polen und Staatenlosen als herrenlos behandelt und eingezogen.23 19

Vgl. ebd. S. 168 – 170. Mit der Verordnung über die Pflicht zur Anmeldung jüdischen Vermögens im Generalgouvernement vom 24. Januar 1940 wurden alle jüdischen Vermögen erfasst. In den Durchführungsverordnungen wurde die Enteignung und Einziehung dieser Vermögen durch das Generalgouvernement geregelt. Ehemalige jüdische Immobilien wurden in der Folge als herrenloses Gut angesehen und durch die Treuhandverwaltung des Generalgouvernements verwaltet. 21 Vgl. Verordnung über das Eigentum an dem Vermögen des früheren polnischen Staates vom 20. September 1940 VBlGG, S. 313. 22 In der Verordnung über die Pflicht zur Anmeldung des jüdischen Vermögens im Generalgouvernements vom 24. Januar 1940 bestimmte § 4, dass Vermögen, das nicht innerhalb der Anmeldepflicht angemeldet worden war, „als herrenlos“ galt und gemäß $ 8 der Verordnung über die Beschlagnahme von privaten Vermögen im Generalgouvernement vom 24. Januar 1940 einzuziehen war (Verordnungsblatt des Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete (GGP) 1940, S. 23). StA Posen 759 III Nr. 2178. Vgl. auch: Archiv Neuer Akten Warschau (ANA Warschau) 111 Nr. 935. 23 Verordnung über die Beschlagnahme von privaten Vermögen im Generalgouvernement vom 21. Januar 1940 (GGP 1940 S. 23, S. 33). LA Berlin Rep. B 039 – 01 Nr. 242, Nr. 405; Leni Yahil, Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden, München 1998, S. 229; Karol M. Popieszalski, Hitlerowskie „Prawo“ Okupacyjne w Polsce Czesc II Generalna Gubernia Wybor. Dokumentow I. Proba syntezy, Posen 1958, S. 128, S. 262 – 267. Außerdem bildeten die Verordnung über die Behandlung von Angehörigen des ehemaligen polnischen Staates vom 17. September 1940 oder aber auch die Feindvermögensverordnung wichtige gesetzliche Grundlagen für den Zugriff auf jüdisches und polnisches Eigentum und Vermögen. RGBl 1940 I, S. 1270 – 1273. Die Verordnung zielte auf die Beschlagnahme von Eigentum derjenigen Polen, die ins Ausland geflüchtet waren bzw. von den Deutschen aus den 20

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Mit dem Begriff des „herrenlosen Gutes“ verwendete man dabei eine alte Rechtsfigur, die sich bis heute auch im BGB findet. Bereits im ersten Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 bestimmte der Gesetzgeber unter dem Stichwort der Aneignung in den §§ 958 bis 961, dass derjenige, der eine herrenlose bewegliche Sache in Eigenbesitz nähme, gleichzeitig das Eigentum an der Sache erwerben würde, sofern dadurch die Besitzergreifung nicht das Aneignungsrecht eines Anderen verletzen würde. Als herrenlos wurde eine bewegliche Sache allerdings nur dann bezeichnet, wenn der Eigentümer zuvor absichtlich auf sein Eigentum verzichtet und den Besitz der Sache aufgegeben hatte.24 Auch nach dem Erlass der entsprechenden Vorschriften – die Beschlagnahmen zuvor beruhten meist auf noch formal-rechtlich vageren Vorgaben – war der Umstand, dass der Eigentümer seinen Besitz an der jeweiligen Sache absichtlich aufgegeben hatte, zweifelsohne bei der Beschlagnahme privater Gegenstände und Wertsachen in den besetzten Ländern keinesfalls gegeben. Vielmehr erfolgte die Abgabe ja nicht freiwillig, sondern stets unter Androhung von Zwangsmaßnahmen und häufig auch durch die Ausübung staatlicher Gewalt der Besatzungsmacht; sieht man davon ab, dass deutsche Rechtsbegrifflichkeiten in den besetzten Ländern nicht galten und das Vorgehen gegen das Völkerrecht verstieß. Allerdings dienten die Beschlagnahmeverordnungen – vor allem in den besetzten Ländern Osteuropas – nicht nur als formal-legale Basis und gesetzliche Rechtfertigung des Beschlagnahmevorgangs, sondern vor allem zur Steuerung des Beschlagnahme- und Verwertungsprozesses. Ziel der Verordnung war nämlich, zum einen Unterschlagungen zu unterbinden und – vor allem – zweitens dem Reich den finanziellen oder materiellen Nutzen aus der Konfiskation zu sichern25, u. a. weil bereits vor Kriegsausbruch zahlreiche eingegliederten Gebieten ausgewiesen wurden, vor allem auf deren Betriebs- und Landbesitz. Sie konnte jedoch auch auf bewegliches Vermögen angewendet werden. Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP 1983 – 1992, Nr. 40178, Nr. 4839 – 4845; BA Berlin R 7 Nr. 3153, R 2 Nr. 56168. Siehe ansonsten auch die Verwaltungsvorschriften der HTO zur Polenvermögensverordnung vom 30. Mai 1941. Mitteilungsblatt der HTO 1941 Nr. 5; 1. Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Behandlung von Vermögen der Angehörigen des ehemaligen polnischen Staates vom 15. Mai 1942, in: Mitteilungsblatt der HTO 1942, S. 46; 2. Berichtigung der Bekanntmachung des Beauftragten für den Vierjahresplan Haupttreuhandstelle Ost über die Anmeldung polnischen Vermögens. Deutscher Reichs-Anzeiger 1940 Nr. 273; StA Posen 759 III Nr. 142; Rosenkötter, Treuhandpolitik, S. 122, S. 125 – 134. 472 RGBl I 1940, S. 303; Reichssteuerblatt 6 Nr. 37 (7. 5. 1942); Staatsarchiv Kattowitz 118/0 Nr. 4928 Nr. 355. 24 Welche Schwierigkeiten bei dem Versuch, eine Sache herrenlos zu machen, entstehen können, zeigt der Beitrag von Doris Schweitzer in diesem Band. 25 Siehe zum weiteren Gebrauch des Rechtsbegriffes der herrenlosen Güter in Polen sowohl durch die Treuhandstelle des Generalgouvernements, der Ghettoverwaltung von Lodz oder der SS: ANA Warschau 111 Nr. 755; LA Berlin B Rep.039 – 01 Nr. 406; Gilles, Hauptsache sparsam, S. 123; LA Berlin B Rep. 039 – 01 Nr. 396; Staatsarchiv Lodz 8 Nr. 29892; Staatsarchiv Lublin 306 Nr. 36. Vgl. zur Nutzung der Rechtsfigur des herrenlosen Gutes auch im Reichskommissariat Ostland oder im besetzten Westeuropa bei der Verwertung durch die staatliche Kriegsgesellschaft Roges (Rohstoffhandelgesellschaft mbH): Center for Advanced Holocaust Studies Washington (CAHS) RG 18002 M Reel Nr. 8; BA Berlin R 2 Nr. 56155;

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Behörden und NS-Stellen versucht hatten, über den Zugriff auf – zumeist – jüdisches Vermögen sich eine Finanzierungsquelle jenseits der staatlichen Haushaltszuweisungen zu erschließen. Wie schon vor dem Krieg suchten Göring und andere Spitzeninstitutionen des NS-Staates exakt diesen Zugriff von SS-Stellen sowie Kommunalund Sonderinstanzen auch durch rechtliche Vorgaben zu verhindern; mit wechselhaftem Erfolg. Tatsächlich betraf der Zugriff auf private Vermögenswerte im Generalgouvernement vor allem die Konfiskation bzw. Zwangsabgabe von Wirtschaftsgütern für Lieferungen in das Reichsgebiet. Unternehmen wurden wie in den Ostgebieten unter kommissarische Verwaltung von Treuhändern gestellt. Als herrenlos betrachtetes Staats- oder Privatvermögen weckte dabei vor allem Begehrlichkeiten der Gebietsverwaltungen. Die Auseinandersetzung um die rechtliche Übertragung herrenloser Vermögenswerte zog sich zwischen den deutschen Besatzungsverwaltungen jedoch teilweise über Monate und Jahre hin. Dies zeigt auch der Versuch des Distriktchefs Krakau vom Herbst 1941, die herrenlosen Vermögen in Krakau an die Stadt Krakau zu übertragen.26 Wertgegenstände der polnischen und jüdischen Bevölkerung oder polnischer Verwaltungseinrichtungen wurden generell als herrenlos betrachtet und zur Verwertung an die Treuhandstelle in Krakau oder im Fall von Devisen an die Emissionsbank in Warschau abgegeben.27 Im Fall der Edelmetalle floss der größte Teil des Raubgutes – von den beachtlich großen unterschlagenden Mengen einmal angesehen – insgesamt aber dennoch ins Reich und wurde dort in den Verwertungskreislauf eingespeist, entweder als rüstungswichtiger Rohstoff oder aber als internationales Zahlungsmittel in Form von Goldbarren. Allein im polnischen Fall haben die verschiedenen deutschen Stellen nachweislich mindestens 8,2 t Gold, 139 t Silber und sonstige Edelmetallgegenstände im Wert von 9,8 Mio. RM geraubt. Der wahre Wert dürfte dabei deutlich höher als 38,4 Mio. RM liegen, wird aber wegen der großen Quellenprobleme wohl nie genauer quantifiziert werden können.28 In den überlieferten Beutebüchern für Polen finden sich zudem Angaben zum Eingang von Wertpapieren im Wert von 3.375.978 Złoty, 2.785 Dollar, 200 Pfund, 88.150 ffr, 200 sfr, 111.650 bfr, weiteren über 5.000 Papieren ohne Wertangabe sowie für diverse andere Wertpapiere, Wertgegenstände, Sparkassenbücher, Landesarchiv Berlin (LA Berlin) 039 – 01 Nr. 242; BA Berlin R 121 Nr. 8; Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg RW 36 Nr. Wi IA3.113b. 26 Vgl. Instytut Pamie˛ci Narodowej Warschau (IPN) GK 94/IV Nr. 443, Bl. 2 – 4. 27 Vgl. Schreiben Hauptabteilung Finanzen an die Chefs der Distrikte Abteilung Finanzen und Finanzinspekteure vom 5. Mai 1941 zur Verwertung von Wertgegenständen über die Treuhandverwertungs GmbH, ANA Warschau 111 Nr. 935, Bl. 1 – 3. Schreiben des Finanzinspekteurs in Zamosc an die Hauptabteilung Finanzen vom 15. April 1940 zur Verwertung herrenloser und dem Staat verfallener Depositen; ANA Warschau 111 Nr. 935, Bl. 4. 28 Zu den Quellenprobleme, die sich u. a. aus der fehlenden Steuerung der Raubvorgänge durch eine staatliche Zentralstelle ergeben, siehe ausführlich: Banken, Edelmetallmangel, S. 742 f., S. 820 – 825, S. 836.

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Schmuck, Fotoapparate, Bücher usw., die mit einer Anzahl von insgesamt 20.425 Stück angegeben wurden. Hinzu kamen dann noch verschiedene Devisenwerte, die zum Teil nach Währung und Wert, oft aber auch nach der Anzahl aufgeführt wurden.29 Der genaue Anteil der über die Reichsbank verwerteten westeuropäischen bzw. amerikanischen Wertpapiere und ihr Geldwert ausländischer Währungen in Reichsmark, der dem Reich gutgeschrieben wurde, lässt sich anhand der lückenhaften Überlieferung nicht genau feststellen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass unabhängig von der Frage, wer letztlich konkret von den Erträgen aus den Beschlagnahmen profitierte, der Rückgriff auf den Rechtsbegriff des herrenlosen Gutes ausreichte, die edelmetallhaltigen Gegenstände in den besetzten Gebieten von den Eigentümer zu beschlagnahmen und für eine weitere Verwertung im Reich bereitzustellen. 2. Die Bedeutung des Rechts bei der Verwertung „polnischer“ Edelmetallgegenstände im Reich Die einfache Inanspruchnahme der rechtlichen Figur des herrenlosen Gutes für die Beschlagnahme der Edelmetalle gründete in den besetzten Ländern und hier insbesondere in Polen und Osteuropa auf der Tatsache, dass die deutschen Stellen dort insgesamt deutlich weniger an einer rechtlichen „soliden“ Basis ihrer Maßnahmen interessiert waren. Anders als bei der Beschlagnahme führte die Nutzung dieses Rechtsbegriffes aber bei der Verwertung der geraubten Edelmetalle im Reich zu rechtlich-bürokratischen Problemen, was im Folgenden an der ReichshauptkasseBeutestelle aufgezeigt werden soll. Die dortigen Probleme bei der Edelmetallverwertung eignen sich dabei sehr gut als Fallbeispiel, da andere Stellen, die mit der Verwertung geraubter edelmetallhaltiger Gegenstände beschäftigt waren, ähnlichen Schwierigkeiten gegenüberstanden, wie dies weiter unten noch für Wertpapiere, Geld und andere Wertsachen näher erläutert wird. Das zentrale Problem der Verwertung des edelmetallhaltigen Beuteguts bestand für die Behörden im Reich in der formal-rechtlichen Aneignung der Edelmetalle, die für eine physisch-wirtschaftliche Verwertung zwingend nötig war: ohne eindeutige Eigentumsrechte war ein Eigentumstransfer an die privaten Unternehmen, d. h. die Scheideanstalten (als Scheidgut), die Rüstungsindustrie (als Rohstoffe oder Halbfertigwaren) oder die Reichsbank (als Goldbarren) nicht möglich. Für die Aneignung der Beute war daher stets zu klären, welchen Rechtsstatus die geraubten herrenlosen Sachen besaßen und ob mögliche Regressforderungen der ursprünglichen Besitzer konkret ausgeschlossen werden konnten. Die Reichshauptkasse-Beutestelle, die nach Kriegsbeginn für eben die Verwertung des Beuteguts der Feldzüge eingerichtet worden war, war dabei eine Abteilung der Reichskasse, die – wie der Name schon sagt – als zentrale Kasse für alle Einnahmen und Ausgaben des Reiches zuständig war. Sie gehörte zum Reichsfinanzminis29

Vgl. BA Berlin 2104 Nr. 68, Nr. 71, Nr. 72, Nr. 66.

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terium und unterstand im Fall der Beutestelle dem Generalbüro, das wiederum unterhalb des Minister- und Staatssekretärbüros angesiedelt war.30 Von Beginn des Zweiten Weltkrieges an bekam die Beutestelle beschlagnahmte Edelmetalle, zumeist direkt von Wehrmachtseinheiten, die nicht nur Edelmetallmengen aus staatlichem, sondern auch aus Privatbesitz nach Berlin sandte. Die Edelmetalle aus privatem Besitz stammten dabei von getöteten gegnerischen Soldaten sowie der einheimischen Bevölkerung, die man auch im Rahmen von Plünderungen, Razzien und Erschießungen in Besitz genommen hatte. Vor allem aber konfiszierte man den Besitz geflohener polnischer Bürger. Neben der Wehrmacht gaben auch verschiedene SS-Institutionen (Sipo, Gestapo) sowie Polizeibataillone, lokale Besatzungsbehörden, die Treuhandstelle Bialystok oder das Auswärtige Amt Edelmetallsachen an die Reichshauptkasse ab; mit Ausnahme der Devisenschutzkommandos jedoch in erheblich geringerem Ausmaß. Eine wichtige rechtliche Grundlage für die Annahme und Verwertung der Beutegüter durch die Beutestelle bildeten die Vereinbarungen zwischen dem Reichsfinanzministerium und dem Oberkommando der Wehrmacht von Anfang 1940.31 Hiernach sollten zunächst die in Polen erbeuteten und beschlagnahmten Zahlungsmittel, Wertpapiere oder Wertgegenstände vollständig an die Reichshauptkasse abgeführt werden, die dafür den Gegenwert auf ein besonderes Verwahrkonto buchte. Für die Beurteilung von Rück- und/oder Ersatzforderungen sollten möglichst genaue Angaben über die Herkunft des Beschlagnahmeguts erfolgen.32 Diese für Polen geltenden Bestimmungen wurden durch OKH-Anweisung vom 7. Juni 1940 mit detaillierten Bestimmungen faktisch auch auf alle Beschlagnahmegüter der besetzten Westgebiete übertragen33 – ein Verfahren, dem sich das Oberkommando der Luftwaffe im November 1940 anschloss.34 Auf Basis der Abmachung zwischen Reichsfinanzminis30

Siehe zur Organisation des Reichsfinanzministeriums und der Reichshauptkasse Karl Groth, Die Reichsfinanzverwaltung, Berlin/Wien 1942, S. 19, S. 22 f., S. 29. 31 Bericht der Reichshauptkasse an die Restverwaltung des Reichsfinanzministeriums vom 5. Januar 1946. BA Berlin R 2104 Nr. 69. 32 Siehe das Schreiben des OKW vom 8. Februar 1940 (35 n 19 g Kdos/284/40 WB (III)) betr. die Behandlung der im ehemals polnischen Gebiet erbeuteten oder beschlagnahmten Zahlungsmittel, Wertpapiere und Wertgegenstände an das OKH (Ch.H.Rüst und BdB), OKH (GenQu), OKM, Reichsministerium der Luftfahrt, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichsfinanzministerium (Ministerialdirigent Bayrhoffer A2004 – 27 GenB) sowie das Reichsbankdirektorium (Reichsbankdirektor Sattler) und das Wi-Rü-Amt (Leutnant von Pufendorf). BA Berlin R 2301 Nr. 7549; LA Berlin B Rep.039 – 01 Nr. 243; IFZ Nürnberger Dokumente NG 4096 und NG 5248. 33 Siehe das Schreiben des OKH (Ch.H.Rüst. u. Bde 59a 22 VA/Ag VI/V1 XIB) an den Heeresintendanten beim Generalquartiermeister mit der Bitte um die Bekanntgabe an die Abrechnungsintendanturen bei Wehrkreisverwaltungen OKW/WV, OKH/Haush. und die Reichshauptkasse betr. der Behandlung von erbeuteten und beschlagnahmten Geldmitteln, Wertpapieren und Wertgegenständen aus den besetzten Westgebieten vom 7. Juni 1940. BA Berlin R 2301 Nr. 7549; LA Berlin B Rep. 039 – 01 Nr. 243; IfZ Nürnberger Dokumente Nr. NG 5249. 34 BA Berlin R 2301 Nr. 7549.

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terium und dem OKW erhielt die Reichshauptkasse schließlich am 27. Juni 1940 die Weisung, „Kriegsbeute“ immer anzunehmen. Zudem wurden die im Juni 1940 für die Westgebiete getroffenen Regelungen später auch für alle anderen besetzten Gebiete übernommen.35 Neben diesen Vereinbarungen besaß die Beutestelle zudem eigene Vorschriften zur Verwertung eingelieferter Gegenstände. Alle in der Beutestelle ankommenden Beutewerte wurden in einem Depot erfasst und eingelagert. Sie wurden zudem im Wartezeit- und im Wertsachbuch gebucht.36 Nach der Aufnahme, Sichtung und Bearbeitung eines solchen Depots wurden edelmetallhaltige Gegenstände in den Tresoren der Reichshauptkasse in der Jägerstraße sowie in denjenigen des Reichsfinanzministeriums in der Mauerstraße eingelagert und verwahrt.37 Aufgrund des großen Eingangs kamen die Beamten der Beutestelle kaum mit der Bearbeitung der Einlieferungen nach, so dass die ankommenden Pakete teilweise noch in späteren Kriegsjahren ungeöffnet in den Tresoren lagerten, während in anderen Fällen Schmuck lose herumlag.38 Auch waren die Tresorkapazitäten der Reichshauptkasse durch das Beuteaufkommen schnell erschöpft.39 Grund hierfür war, dass die Beutestelle zahllose Depots mit edelmetallhaltigen Gegenständen nicht verwertete, obgleich man andererseits gerade große Lieferungen (Münz- und Industriesilber etc.) sowie Bruch- und Altgold schnell an Reichsbank, die Preußische Münze, Zentrale Pfandleihstelle Berlin und die Industrie weiter abgab. Aufgrund der Anordnung des Reichsfinanzministers vom 27. Juni 1940 führte sie zudem der Reichsbankhauptkasse bis zum Ende des Krieges Geldmittel, Devisen aller Art, Hartgeld sowie gemünztes und ungemünztes Gold zu und erhielt von dieser den Gegenwert zum jeweiligen Kurs.40 Da aus vielen Anlieferungsunterlagen jedoch nicht klar hervorging, ob die jeweilige Beute tatsächlich Kriegsbeute im Sinne der Haager Landkriegsordnung von 1907 darstellte, wurden die Depots zu einem großen Teil zunächst nicht verwertet. Dies lag an einer Anordnung des Reichsfinanzministeriums, eine Klärung über die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme im Sinne des genannten Kriegsrechts herbeizuführen oder aber bei gerechtfertigten Ansprüchen die Beute zurückzugeben. Deutlich werden diese Vorbehalte an den Ausführungen des Reichsrechnungshofes von 1944: „Im Reichsfinanzministerium wird folgender Standpunkt eingenommen: die gesam35

BA Berlin R 2104 Nr. 69. Neben den Sachbüchern (Beutebücher) führte die Beutestelle auch Wertzeichnungsbücher, Einlieferungs- und Einliefererakten sowie das Einnahmebuch über das besondere Verwahrkonto. BA Berlin R 2301 Nr. 7549. 37 BA Berlin R 2 Nr. 36174; Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz) ZF45 f Nr. 2/205/9. 38 Prüfungsbericht des Deutschen Rechnungshofs vom 13. 1. 1944, in: BA Berlin R 2301 Nr. 7549. 39 BA Berlin R 2104 Nr. 69. 40 BA Berlin R 2104 Nr. 50; BA Berlin R 2104 Nr. 83; BA Berlin R 2104 Nr. 67; BA Berlin R 2104 Nr. 69. 36

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te Materie muß mit großer Vorsicht bearbeitet werden, insbesondere soweit die Verwertung der Beute in Frage kommt. In vielen Fällen steht nicht fest, ob es sich bei den eingelieferten Objekten um echte Beute im Sinne der Haager Landkriegsordnung handelt. Die Sachwerte müßten häufig wieder freigegeben werden, nachdem der Nachweis geführt worden war, daß es sich um Privateigentum handelte. Die Entscheidung darüber hat der Reichsminister der Finanzen nach Anhörung der Wehrmacht getroffen.“ Noch am 30. Juni 1944 sprach sich Reichsrechnungsdirektor Patzer in einem Brief an das Generalreferat Abteilung I des Ministeriums mit Bezug auf die Gesetze für Kriegsbeute gegen die Zuführung der Erlöse aus der Kriegsbeute in den Reichshaushalt nach Vorschlag des Rechnungshofs aus.41 Dennoch wurden Gold und Silber – nicht aber Schmuckstücke – sofort verwertet.42 Die aus diesen Verwertungen erzielten Erlöse wurden zunächst im Beutebuch verbucht, da ein haushaltsmäßiger Einnahmeartikel noch nicht vorhanden war.43 Die Nichtverwertung von Schmuck gründete darin, dass der Wert zahlreicher edelmetallhaltiger Gegenstände – anders als Geld, Gold oder andere „normierte“ Sachen und Wertpapiere – nicht einfach durch die Beamten bestimmt werden konnte, da diesen die Fach- und Marktkenntnisse fehlten.44 Zudem stand einer schnellen Verwertung entgegen, dass man bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen Regressforderungen der eigentlichen Besitzer befürchtete. Da die Magazine der Beutestelle und andere Tresore sich immer mehr mit nicht verwertetem Beutegut füllten, setzte 1943 eine innerministerielle Diskussion ein, den Verwertungsprozess zu vereinfachen und zu beschleunigen. Wohl auch aus diesem Grund, aber auch aus Personalmangel45 drängte das Reichsfinanzministerium Ende 1943 auf die Verringerung der Depots und die Einrichtung von Sammeldepots.46 Auf diese Weise wollte man das Beutegut, das überwiegend aus Privatbesitz 41

BA Berlin R 2104 Nr. 69 und R 2301 Nr. 7549. Prüfungsbericht des Deutschen Rechnungshofs vom 13. Januar 1944, in: BA Berlin R 2301 Nr. 7549. 43 Ebd. 44 BA Berlin R 2104 Nr. 50; BA Berlin R 2104 Nr. 83; BA Berlin R 2104 Nr. 67; BA Berlin R 2104 Nr. 69. 45 Nach dem Direktor der Reichshauptkasse am 21. März 1944 waren nur fünf Kräfte für die Planung, Sichtung, Aufbereitung und Buchung der eingelagerten unbearbeiteten Depots zuständig, obwohl sich deren Zahl von rund 500 auf 1.200 erhöht hatte. Allein mit der ordnungsgemäßen Aufarbeitung wären drei bis vier Beamte mehrere Monate lang beschäftigt, und die Tresore seien voll, während dauernd „Ware“ einliefe, die bei beschränktem Raum fortwährende Umlagerungen der neuen und Restdepots erforderlich mache. BA Berlin R 2104 Nr. 69. 46 Siehe die Diskussion zwischen Reichsfinanzministerium (Referat Dr. Eylert, Referat Patzer), Reichshauptkasse, Reichswirtschaftsministerium (Regierungsrat Dr. Moehrke) und Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (Oberregierungsrat Dr. Jahn, Oberregierungsrat Bötcher) über eine schnellere und rechtmäßige Verwertung der Depots der Beutestelle ab September 1943. Das Generalbüro (Patzer) hielt bis Mitte 1944 (und wohl darüber hinaus bis zum Kriegsende) an den Bedenken des Reichsfinanzministeriums fest, so dass die Edelme42

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stammte und keine Kriegsbeute darstellte47, einer Verwertung zuführen bzw. den bürokratischen Aufwand vermindern.48 So sollten nun u. a. Bruch- und Zahngold, Goldpulver und ähnliches gleich der Reichsbank zur Verwertung angeboten werden.49 Erst Ende 1944 gingen der Reichshauptkasse die notwendigen Anweisungen zu und die Verwertung von Edelmetallgegenständen aus zahlreichen Depots begann.50 Allerdings sollten auch jetzt nur diejenigen Gegenstände verwertet werden, „die einwandfrei in das Eigentum des Reiches gelangt und bei denen deshalb Schadensersatzansprüche dritter Personen nicht zu erwarten“ waren.51 Zu einer größeren Verwertung kam es jedoch bis April 1945 durch die Kriegsereignisse nicht mehr. Stattdessen vergrößerte sich das Chaos: Zahlreiche Anlieferungen von Beutegut an die Reichshauptkasse, die deutsche Institutionen noch beim Rückzug aufgebracht hatten, gingen verloren, blieben stecken oder landeten anderswo. Die zahlreichen unbearbeiteten und nicht verwerteten Depots in der Reichshauptkasse-Beutestelle wurden schließlich nach der Eroberung Berlins im Frühjahr 1945 von sowjetischen Offizieren beschlagnahmt und abtransportiert.52 Dass die Bemühungen zur schnelleren Verwertung trotz zahlreicher Vorschläge und Überlegungen stecken blieben, war aber nicht nur dem Kriegsverlauf und anderen damit verbundenen Dringlichkeiten geschuldet. Die fehlende Bereitschaft der zuständigen Referate (Patzer, Maedel) sowie des Generalbüros und der Ministeriumsspitze, eine klare Entscheidung zu treffen, war auch darauf zurückzuführen, dass man von höherer Stelle das Problem der nicht verwerteten Depots in der Beutestelle aussitzen und auf ein siegreiches Kriegsende warten wollte, um dann ohne Angst vor Regressforderungen die Depots endgültig zugunsten des Reiches zu verwerten. tallgegenstände vielfach weiter als Verwahrungen behandelt werden sollten. Brief des Generalbüros (Patzer, A2004 – 1616 Gen B) vom 30. Juni 1944 an die Reichshauptkasse. LA Berlin A Rep. 092 Nr. 54622; BA Berlin R 2104 Nr. 69. 47 Kriegsbeutestelle an Referat Patzer vom 12. April 1943. BA Berlin R 2 Nr. 9172a. 48 BA Berlin R 2301 Nr. 7549. 49 Siehe die Anweisung des Reichsfinanzministeriums (O5221 A-142 VI b), Referat Dr. Eylert, an die Reichshauptkasse vom 23. November 1943, nach der die Zahl der vorhandenen Depots verringert werden sollte. BA Berlin R 2104 Nr. 69. 50 Die Verwaltungsanweisungen über diese Sachen wurden erst aufgrund von Verfügungen des Reichsfinanzministeriums vom 18. Dezember 1944 (O5221 A-250/44 VIIII) und 26. März 1945 (O 5221 A-287/VIII) herausgegeben und deshalb nur noch in ganz beschränktem Maße durchgeführt. Siehe hierzu den Bericht der Reichshauptkasse an die Restverwaltung des Reichsfinanzministeriums vom 5. Januar 1946. BA Berlin R 2104 Nr. 69. 51 Anweisung des Reichsfinanzministeriums (O5221 A-287/VIII) über die Verwertung von Reichsvermögen bei der Reichshauptkasse vom 26. März 1945. BA Berlin R 2104 Nr. 69; IFZ Nürnberger Dokumente Nr. NG 5249. 52 Siehe den Bericht der Reichshauptkasse an das Reichsfinanzministerium Restverwaltung vom 17. Januar 1946 oder die Aussagen von Amtsrat Robert Laessig, Mitarbeiter der Reichshauptkasse, nach dem Krieg. BA Berlin R 2104 Nr. 69; BA Koblenz ZF45 f Nr. 2/205/ 9.

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Folge dieser Haltung war, dass die Zahl der Depots – und damit auch der unverwerteten Depots – von 1943 bis zum Kriegsende weiter stark anwuchs. Dies lag dabei nicht nur an den „verwertungsfeindlichen“ Vorschriften, den fehlenden Anweisungen der Vorgesetzten und der Unterbesetzung der Beutestelle, sondern auch an den wieder stark ansteigenden Einlieferungen, weil die Wehrmacht und andere deutsche Stellen auf dem Rückzug vielfach noch zahlreiche Beschlagnahmen (darunter Edelmetalle) vornahmen. Insgesamt ist der Umfang der von der Beutestelle angenommenen bzw. verwerteten Edelmetalle kaum zu bestimmen. Einzig einige Einzelangaben in den Quellen erlauben einen Eindruck der Mengen und Werte. So waren nach einem ersten Prüfungsbericht des Rechnungshofes vom Juni 1943 „über 3.000 Verwahrungen“ – d. h. Depots – mit 1.500.000 Beutestücken eingegangen, und im Januar 1944 lag diese Zahl bereits bei 4.000, von denen erst 3.400 Depots bearbeitet worden waren.53 Nach dem Krieg schätzten die Mitarbeiter der ehemaligen Reichshauptkasse den Wert der bis Ende April 1945 als Kriegsbeuteerlös gebuchten Erträge dann insgesamt sogar auf 280 Mio. RM.54 Edelmetalle machten an diesem Aufkommen wertmäßig höchstens einen Bruchteil aus, doch allein im Oktober 1943 verwahrte die Beutestelle etwa 200 kg Edelmetall, dessen Verwertung noch ausstand.55 Die nicht verwerteten Beutesachen – darunter umfangreiches „herrenloses Gut“ – wurden dann im Mai 1945 allesamt von den russischen Truppen abtransportiert. 3. Die Bedeutung des Rechts bei der Verwertung privater Wertpapiere und Wertsachen im Reich Die Verwertung privater Wertpapiere und Wertsachen im Reich wies eine ähnliche Entwicklung auf wie diejenige von edelmetallhaltigen Gegenständen. Eine der ersten Lieferungen nichtedelmetallhaltiger Gegenstände an die Beutestelle der Reichshauptkasse stammte vom AOK 10 und wurde in Berlin zum 28. Februar 1940 als Einlieferung der Reichsbankstelle Koblenz verbucht. Neben 1.000 Golddollar, 15 Goldrubel, verschiedenen Silbermünzen – davon polnische im Wert von 54.484 Złoty – und 150 RM wurden ebenfalls Gold, Silber und Aktien im Wert von 63.784 Złoty sowie 4 Pässe, verschiedene Schulzeugnisse und Quittungen im Beutebuch unter dem Kürzel P2 erfasst. Im Vermerk für das im Reichsfinanzministerium zuständige Referat Weiß wurde dazu ausdrücklich bemerkt, „dass diese Werte nicht von der kämpfenden polnischen Armee erbeutet, sondern Zivilpersonen abgenommen bzw. in polnischen Banken usw. herrenlos vorgefunden wurden. Ob es sich infolgedessen um Privateigentum polnischer Staatsangehöriger handele oder nicht, 53

Prüfungsbericht des deutschen Rechnungshofs vom 21. Juni 1943. BA Berlin R 2301 Nr. 7549. 54 Bericht der Reichshauptkasse an das Reichsfinanzverwaltung Restverwaltung vom 17. Januar 1946. BA Berlin R 2104 Nr. 69. 55 BA Berlin R 2104 Nr. 69.

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müsse der Entscheidung des RFM vorbehalten bleiben.“56 Mit diesem Vermerk erschien in den Beutebüchern der Reichshauptkasse zum ersten Mal die Einschätzung, dass die eingelieferten Werte als herrenloses Gut anzusehen seien, obwohl gleichzeitig offenbar Bedenken bestanden, dass es sich um Privateigentum und damit nicht um reguläre Kriegsbeute handeln würde. In den anschließenden Monaten hielten die Beamten der Beutestelle folgende Gegenstände penibel in den Büchern fest: polnische Anleihen, Sparkassen- und Depositenbücher, ein Siegel mit der Gravur BW, Gummistempel aus Lamsdorf; Banknoten in Złoty und Polnischer Mark (PM) sowie Aktien aus dem Geldschrank des „flüchtigen Juden“ Loebel Abt; Staatsanleihen aus jüdischem Besitz; Anleihen und Depositenbücher mit namentlicher Auflistung der Eigentümer; Sparkassen und Depositenbücher der Fam. Klafter aus Bitterfeld, die von der Sicherheitspolizei in Krakau erbeutet wurden; Wertpapiere in Polnischer Mark im Nennwert von über 5.000.000 PM aus Neustadt; weitere 46 Stück wertlose PM; 73 polnische Sparbücher zum großen Teil im Wert von 1 bis 2 Złoty; sowie Złotybeträge von polnischen Kriegsgefangenen.57 Der Großteil der in Berlin eingehenden und in den Depots der Reichshauptkasse erfassten und eingelagerten Gegenstände wies dabei keinen größeren Wert auf. Wie geschildert wurden die Edelmetallgegenstände teilweise verwertet, im Falle der polnischen Wertgegenstände mit Erlass des Reichsfinanzministers zur Verwertung an die HTO abgegeben. So wurden auf Grundlage der Entscheidung vom 28. März 1940 mit Ausnahme der Wertpapiere sämtliche polnische Beutewerte an die HTO zur Verwaltung und Verwertung abgetreten. Der tatsächliche Transfer der Gegenstände aus den Depots der Reichshauptkasse wurde jedoch erst im Frühjahr 1943 umgesetzt.58 Ein Großteil der im Polenfeldzug und später während der deutschen Besatzung erbeuteten Wertpapiere bot jedoch keinerlei Verwertungsmöglichkeit. Ursache war vielfach, dass die polnischen Staatsanleihen, Aktien oder Rentenpapiere ihren Wert verloren hatten bzw. so alt waren, dass sie noch in den Währungen der Teilungsmächte von vor 1918 bzw. in polnischer Mark gezeichnet waren. Deshalb wurden die polnischen, aber auch russischen Wertpapiere in der am 10. Mai 1943 aufgestellten Bestandsliste der Beutestelle denn auch gar nicht mehr aufgelistet.59 Ungeachtet dessen wurden sie weiterhin in den Büchern der Reichshauptkasse geführt und auch eingelagert. Oftmals finden sich in den Listen der Beutebücher für die wertlosen Papiere Mengenangaben in Stück, Säcken oder sogar Kisten. Die ungeheure Menge der europaweit erbeuteten Wertpapiere, die zur Verwertung in den Tresoren der Beutestelle lagerten, wird deutlich an der allein für Frankreich aufgeführten Aufstellung von Ak56

BA Berlin R 2104 Nr. 68. Ebd. 58 Vgl. BA Berlin R 2104 Nr. 69a. Mit Anweisung des Reichsministers der Finanzen vom 26. August 1943 wurden auch die Erlöse aus eventuellen Verkäufen von Wertpapieren aus der polnischen Beute an die HTO überwiesen. Vgl. BA Berlin R 2104 Nr. 69. 59 Vgl. BA Berlin R 2104 Nr. 68. 57

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tien, Anleihen, Obligationen, Staats- und Rentenpapieren und verschiedenen Wechseln im Wert von 73 Millionen französischen Francs, weiteren 6.000 Stück ohne Wertangabe und 15.000 bis 20.000 losen Zinskupons.60 Die Probleme, die sich bei der Verwertung der als herrenloses Gut angesehenen Wertpapiere ergab, stellte die Reichsbank in einem Schreiben vom 11. Mai 1942 an das Reichsfinanzministerium dar. Das Ministerium hatte in der Absicht, die Wertpapiere möglichst gewinnbringend zu verwahren und zu verwerten, eine Übergabe der dem Reich als Beute angefallenen Wertpapiere an die Wertpapierstelle der Reichsbank vorgesehen. Diese verwehrte nicht die Verwaltung, machte aber zum einen darauf aufmerksam, dass die termingerechte Verwertung der ausländischen Wertpapiere nicht möglich sei, da Ablaufzeiten, Werte usw. unbekannt seien; zum anderen waren vor allem französische Wertpapiere von den Eigentümern gesperrt worden. Bei einer eventuellen Verwertung der Papiere im Ausland könnten diese in Frankreich eingezogen werden, so dass ein Umtausch in neue Wertpapiere nicht Ziel führend sei, da der notwendige Nachweis des Eigentums zum 1. September 1939 für Beutestücke nicht erbracht werden könne. Für Wertpapiere, die auf einen bestimmten Eigentümer eingetragen waren, konnten zudem ohne Blankoabtretung keinerlei Verwaltungsmaßnahmen übernommen werden.61 Der formelle Akt der rechtlichen Aneignung der Papiere, deren Inbesitznahme zunächst über die Bewertung als herrenloses Gut rasch und unhinterfragt erfolgt war, führte so dazu, dass zum einen massenhaft wertlose Wertpapiere und Devisen in den Depots der Beutestelle lagerten und zweitens, dass der Großteil der verwertbaren Papiere aufgrund der rechtlichen Situation wie Blei in den Tresoren der Reichshauptkasse und der Reichsbank lag. Im Juni 1944 stellte der zuständige Referent des Reichsfinanzministeriums, Patzer, dann auch fest, dass es sich „[b]ei dem weitaus größeren Teil der eingelieferten Wertpapiere entweder unzweifelhaft um Privateigentum [handelt], […] oder um Werte, deren Herkunft ungewiß ist. Ein Erlös für die als ,Beute‘ eingelieferten meist ausländischen und daher zurzeit nur begrenzt verwertbaren Wertpapiere ist bisher im Allgemeinen nur erzielt worden, wenn nach den hier zugänglichen Unterlagen Stücke ausgelost oder umgetauscht worden sind oder wenn es sich um die Einlösung überfälliger Zinsscheine usw. handelte.“62 Die Bedenken bezüglich einer rechtmäßigen Verwertung der Papiere gingen soweit, dass noch 1944 die Erlöse auf ein Verwahrkonto des „Beutefonds“, nicht aber als reguläre Haushaltseinnahmen des Reiches verbucht wurden.63 Auch einer Verwertung der Sachwerte stand Referent Patzer skeptisch gegenüber: Da es sich nicht ausschließlich um Staatseigentum des Feindes handele, müsse eine Entscheidung nach dem Kriegsende getroffen werden.64 Das heißt, das Reichsfinanzministerium bzw. die Beutestelle der Reichshauptkasse 60

BA Berlin R 2104 Nr. 69. Vgl. BA Berlin R 2104 Nr. 69a. 62 BA Berlin R 2104 Nr. 69. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd. 61

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glaubten wegen der bereits im Herbst 1939 bestehenden rechtlichen Bedenken, die Verwertung der als herrenlos geführten Beutegüter bis zum Kriegsende nicht anders lösen zu können, als diese für eine eventuelle Verwertung nach dem Krieg aufzubewahren bzw. die erzielten Erlöse auf einem Verwahrkonto zu halten. Ende Januar 1945 wendete sich die Beutestelle dann mit der Bitte an das Referat Maedel im Reichsfinanzministerium, die Zerstörung von Urkunden, Ausweisen und Geschäftspapieren, die „unnötige Verwaltungsarbeit“ bedeuteten und dringend benötigten „Aufbewahrungsraum“ einnähmen, vorzunehmen zu dürfen, denn es sei mit den Sachen nichts anzufangen. Bank- und Postsparbücher, die man habe einziehen können, seien zudem verwertet.65 Ab dem 22. Februar 1945 bearbeiteten die Beamten die Übergabe von eingelagerten Gegenständen von Toilettenartikeln, Geldbörsen, Bestecken und Kristallsachen bis hin zu Handtaschen, Bleistifthaltern usw. an das Oberfinanzpräsidium Berlin.66 Die Mehrheit der aufbewahrten Beutewertpapiere und ausländischen Devisen, die aufgrund des Krieges nicht verwertet werden konnten oder ihren Wert verloren hatten, wurden wie auch die noch in den Tresoren liegenden Edelmetallgegenstände von der Roten Armee im Frühjahr 1945 abtransportiert.

IV. Fazit: Die Folgen einer unterschiedlichen Auslegung eines Rechtsbegriffs Deutlich wurde aus den beiden Fallbeispielen – der Verwertung von Edelmetallen bzw. Geld und Wertpapieren –, dass die Nutzung der Rechtsfigur des herrenlosen Gutes nützlich für Beschlagnahme, d. h. die physische Aneignung der Edelmetalle und den Transfer ins Reich geeignet war. Für die deutschen Stellen in den besetzten polnischen Gebieten kam es weniger auf präzise und unanfechtbare Rechtsbegriffe an, denn auf einen schnellen Zugriff auf das mobile polnische Vermögen; auch, um es für das Reich und die Regierung des Generalgouvernements vor dem Zugriff regionaler und anderer staatlicher Stellen (SS, Gauleiter, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums etc.) zu sichern. Hierfür genügte auch eine formelle Rechtsgrundlage, da Klagen der Eigentümer sowieso nicht möglich und vorgesehen waren. Es zeigt sich für beide Untersuchungsfälle, dass die schnell verfassten Beschlagnahmeverordnungen genügten, um die sofortige Verfügungsgewalt sowohl über die geraubten Edelmetallgegenstände als auch der anderen Wertsachen zu erhalten und so die sich daraus ergebenen Erträge zentral dem Reich zuzuführen. Für die Verwertung der geraubten Güter war der Rechtsbegriff des herrenlosen Gutes jedoch weniger nützlich, da das Raubgut aus diesem Status in das formale Eigentum des Staates umgewandelt werden musste. Dem Transfer des Raubguts stan65 66

Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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den dabei nicht einfach nur ,formale‘ und ,bürokratische‘ Hemmnisse gegenüber, weil herrenloses Gut nach geltendem Reichsrecht eben eine rechtsverbindliche Behandlung zwingend notwendig machte. Wichtiger war vielmehr, dass es sich dabei – im Sinne Fraenkels – um einen Transfer aus dem Bereich des Maßnahmen- in den Normenstaat handelte, der unerlässlich war, um die Güter in den allgemeinen Wirtschaftskreislauf einspeisen zu können. Das entscheidende Problem für die Verwertung der Edelmetalle, Wertpapiere und Devisen stellte eben nicht die materielle Aneignung des Raubguts und Deklarierung als herrenloses Gut dar, sondern die Wiederumwandlung der res nullius in Eigentum, d. h. die Zuweisung vollständiger und rechtlich unanfechtbarer Verfügungsrechte an eine natürliche oder juristische Person. Maßnahmen- und Normenstaat unterlagen zudem jeweils unterschiedlichen Funktionslogiken. Unabhängig von bürokratischen Routinen und den daraus erwachsenen Mentalitäten der verantwortlichen Finanzbeamten konnten die klassischen Verwaltungsvorschriften eben immer nur ein Stück weit so gedehnt und uminterpretiert werden, ohne das Funktionieren der eigenen Verwaltungsabläufe zu gefährden. Ansonsten hätte nicht nur der Verlust der bürokratischen ,Sauberkeit‘ gedroht, sondern wäre – viel wichtiger – die Steuerung des Ministeriums durch seine Führung unmöglich geworden.67 Dass Verwaltungshandeln ohne den Rahmen formalisierter Verwaltungsregeln nicht möglich war, wussten die Spitzen im Finanzministerium zweifellos, stand ihnen gerade auch mit dem Blick auf zahlreiche Negativ-Beispiele in den anderen NS-Sonderbehörden klar vor Augen, dass man durch eine Verwertung ohne eine zumindest formal legalistische Grundlage die Basis des eigenen (Verwaltungs-)Handelns zerstören würde. Hinzu kam allerdings, dass die politische Spitze im Reichsfinanzministerium davon ausging, dass es strategisch besser sei, die Verwertung herrenloser Güter wegen möglicher Rechtsansprüche der ursprünglichen Besitzer und deren Regierungen bei einer Niederlage des Deutschen Reiches auf die Zeit nach dem Krieg zu verschieben. In der Endphase des Krieges spielten auch Überlegungen eine Rolle, dass die Alliierten die Ministeriumsspitze möglicherweise wegen der unrechtmäßigen Verwertung des Raubgutes gerichtlich zur Verantwortung zog. Bezeichnenderweise zeigten sich in anderen staatlichen Institutionen bei der Verwertung geraubter Güter ähnliche Probleme, z. B. bei der Reichsbank, wo man mit einer „Politik“ des Nichtso-genau-wissen-wollens reagierte.68

67 Ausführlich hierzu: Wolfgang Franz Weinert, „Die Sauberkeit der Verwaltung im Kriege“. Der Rechnungshof des Deutschen Reiches 1938 – 1945, Opladen 1993. Siehe zum Problem, dass Verwaltungen, Unternehmen und andere bürokratisch verfasste Institutionen nicht dauerhaft Korruption in der eigenen Organisation akzeptieren können, ohne die eigene Institution zu gefährden, Werner Plumpe, Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, in: Jens Ivo Engels et al. (Hg.), Geld – Geschenke – Politik: Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 19 – 47. 68 Banken, Edelmetallmangel, S. 699 – 715, S. 719 – 726.

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Über den eigentlichen NS-Fall hinaus zeigt das hier präsentierte Fallbeispiel schließlich auch die Bedeutung von Eigentumsrechten als Grundlage moderner Industriegesellschaften. Ähnliche Schwierigkeiten beim Transfer ungeklärten Eigentums in klare Besitzverhältnisse zeigten sich z. B. nach der Wende in der DDR, wo Investitionen in Unternehmen und Immobilien unterblieben und nicht in den ökonomischen Wirtschaftskreislauf der modernen Eigentümergesellschaft eingebracht werden konnten, was über Jahre größere volkswirtschaftliche Schwierigkeiten zur Folge hatte. Wie lang derartige Eigentumsfragen in die Zukunft wirken, macht allerdings auch der von deutschen Stellen ausgeübte Raub von Edelmetallgegenständen, Wertpapieren und anderen Wertsachen im Zweiten Weltkrieg deutlich, der ja nicht mit dem Kriegsende beendet war. Die Rückerstattung bzw. der finanzielle Ausgleich derartiger deutscher Raubzüge ist eben wegen der ungeklärten Eigentumsverhältnisse in zahllosen Fällen bis heute schwierig, unabhängig davon, dass sich viele deutsche Stellen (Gerichte, Gesetzgeber, ehemalige Angehörige der verwertenden Stellen im Dritten Reich etc.) jahrelang auf eine rein formal-juristische Haltung zurückzogen und die Aufklärung und den eigentumsrechtlichen Ausgleich der Raubvorgänge bis heute verhindern.

Die Demontage der Nation Infrastruktur als Niemandseigentum im neoliberalen Südafrika Von Thomas G. Kirsch

I. Einleitung Seit dem Ende des Kalten Krieges zeichnen sich weltweit Bewegungen im territorialstaatlichen Gefüge ab, die nicht nur Fälle der Auflösung klassischer Staatlichkeit wie in Afghanistan und Somalia betreffen, sondern auch Prozesse einer nach innen gerichteten, nachholenden Nationenbildung, bei denen sich existierende Staaten um eine Stärkung ihrer nationalstaatlichen Zentripetalkräfte bemühen. Wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte, laufen dem materiellen Aspekt solcher Nationenbildungsprozesse, der unter anderem in staatlichen Infrastrukturausbauprogrammen zum Ausdruck kommt, jedoch verstärkt Herausforderungen der globalen Zirkulation und Veräußerung rohstofflicher Ressourcen entgegen. Als indirekte Folge des Erstarkens neuer Industriemächte, durch die sich der globale Bedarf an Industrierohstoffen substantiell erhöht hat, ist in vielen Ländern nämlich auch eine Zunahme des rechtswidrigen Abbaus von Infrastruktur zu beobachten, die zum Teil spektakuläre Dimensionen erreicht hat. Im Jahr 2004 wurde beispielsweise ein Mann von der polnischen Polizei verhaftet, der eine zweihundert Meter lange und 360 Tonnen schwere Metallbrücke illegal demontiert und in Stücke zerschnitten an einen Schrotthändler verkauft hatte.1 Im darauffolgenden Jahr verschwanden 24.000 metallene Kanaldeckel von den Straßen und Gehsteigen der chinesischen Hauptstadt Beijing.2 Sechs Jahre später hatte der Infrastrukturdiebstahl im ostafrikanischen Kenia solch endemische Ausmaße erreicht, dass sich die dortige Vereinigung der Eisen- und Altmetallhändler genötigt sah, der Öffentlichkeit zu erklären, dass sie mit diesen Diebstählen nichts zu tun habe.3 Die Regierung Jamaikas beschloss im selben Jahr, den Handel mit Metallschrott zwischenzeitlich zu verbieten; in der entsprechenden Regierungserklärung hieß es: die Altmetallindustrie „[is] doing more harm than good […] we have gotten to the stage 1

Bridge Work for Polish Police, in: Mail&Guardian, 13. August 2004. More Manhole Mishaps as Steel Prices Attract Thieves, in: Mail&Guardian, 16. August 2005. 3 Kenya: We Are Not Behind Iron Theft, Says Metal Association 2011, in: The Star [Kenia], 20. Dezember 2011. 2

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now where they are vandalising private property, and government property, which is having a serious impact on the country’s infrastructure“.4 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich am Beispiel Südafrikas mit kontroversen Prozessen in diesem Spannungsfeld zwischen Infrastrukturaufbau und Infrastrukturabbau; zwischen Aufbereitung rohstofflicher Materie zu Infrastruktur und Reduktion infrastruktureller Materialität auf dessen rohstoffliche Qualität; zwischen innerstaatlicher Nationenbildung und transnationalen Schattenwirtschaften. Vor dem Hintergrund einer Problematisierung von geläufigen wissenschaftlichen Interpretationsmustern in Bezug auf neoliberale Ordnungen, in denen davon ausgegangen wird, dass Neoliberalismus allseits als ein Prozess der umfassenden Privatisierung gedeutet wird, argumentiere ich, dass das gegenwärtige Südafrika durch die widersprüchliche Konstellation einer ,neoliberalen Nationenbildung‘ gekennzeichnet ist, die unter anderem für die klassifikatorische Ambiguität und fehlende Trennschärfe in der Bestimmung ,privater‘ und ,öffentlicher‘ Objekte verantwortlich ist und die letztlich dazu führt, dass materielle Infrastruktur von manchen Südafrikanern als Niemandseigentum (res nullius) behandelt wird, dessen Eigentumsstatus noch zu klären ist und anhand dessen konfliktreiche Fragen nach Eigentumsverhältnissen und dem Gemeinwohl zur Aushandlung kommen.

II. Infrastruktur: Aufbauen und Abbauen Nach dem Ende der Apartheid in Südafrika unternahm die neu gewählte Regierung des African National Congress (ANC) große Anstrengungen, die zuvor marginalisierten und vorwiegend von ,schwarzen‘ Menschen bewohnten Sozialräume durch Infrastrukturmaßnahmen zu fördern. Der programmatischen Zielsetzung, bis zum Jahr 2012 alle südafrikanischen Privathaushalte an das Elektrizitätsnetz anzuschließen, näherte man sich dabei mit Entschiedenheit und großem Investitionsaufkommen. Parallel zu dieser nachholenden Modernisierung brachte die neoliberale Ausrichtung der neuen Regierung aber auch einen Privatisierungsschub mit sich, so dass die Elektrizitätsversorgung einem kostendeckenden Modell folgte, wobei nicht nur die Kosten des jeweiligen Stromverbrauchs, sondern auch die Investitionskosten für die infrastrukturelle Bereitstellung des Elektrizitätsnetzes an die Kunden weitergegeben wurden. In einigen Regionen führte diese Geschäftspolitik zu einer Preissteigerung von mehr als 400 Prozent, die von ökonomisch prekär lebenden Bevölkerungsschichten nicht getragen werden konnte und zu massenhaften Zwangsabschaltungen führte. So wurden allein in Soweto, einem der größten südafrikanischen townships bei der Stadt Johannesburg, im Jahr 2001 monatlich 20.000 Haushalte vom Stromnetz genommen.5 Im darauffolgenden Jahr wurde dreizehn Prozent der südafrikani4 5

Scrap Metal Ban Best for the Country, in: Jamaica Information Service, 27. Juli 2011. Maj Fiil-Flynn, The Electricity Crisis in Soweto, Johannesburg 2001, S. 16.

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schen Bevölkerung, also mehr als drei Millionen Menschen, (zumindest zwischenzeitlich) der Strom abgestellt.6 Einer der führenden politischen Protagonisten im Kampf gegen diese Entwicklung, Trevor Ngwane, sprach in einem Interview daher kritisch davon, dass „post-apartheid society was supposed to be a society of connections, connecting all those black working class people who had been deprived under apartheid. Instead the new South Africa is a society of disconnections“.7 Meine Forschung in diesem Zeitraum8 galt vor allem den sozial konzertierten und teils in Protestbewegungen mündenden Bemühungen, den von Zwangsabschaltungen betroffenen Stadtbewohnern durch illegale, aber als legitim empfundene Maßnahmen einen Zugang zu Elektrizität zu verschaffen. Am Beispiel des Soweto Electricity Crisis Committee (SECC) argumentierte ich, dass die Frage, ob man im gegenwärtigen Südafrika Zugang zu Elektrizität hat oder nicht, nicht nur in lebenspraktischer Hinsicht bedeutsam ist, sondern auch einen symbolischen Mehrwert hat, denn die Anbindung ans Stromnetz steht hier weithin für die erstrebenswerte Teilhabe am Projekt der Moderne und als infrastrukturelles Wahrzeichen für die soziopolitische Partizipation vormals ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen. Diese Bemühungen um Zugang zu Elektrizität kulminieren in einer spezifischen Form der Materialisierung politischen Handelns9, da hier vorwiegend auf die Erweiterung der vorhandenen Infrastruktur abgezielt wird. Ein geläufiges Verfahren besteht beispielsweise darin, ein stellenweise blankes Kabel, an dessen Ende ein Backstein befestigt ist, über die oberirdisch verlegten Leitungen des Elektrizitätsnetzes zu werfen, um auf diese Weise Strom abzuzapfen; oder aber es wird nachts ein Stromkabel mit Hilfe eines hakenförmigen Bambusstabs in diese Leitungen eingehakt, so dass es tagsüber entfernt werden kann und der Stromdiebstahl unentdeckt bleibt. In beiden Verfahren sorgen klandestine Abzweigungen für eine sozialräumliche Ausweitung der Elektrizitätsversorgung, die im Grundsatz der gleichen technischen Logik gehorcht wie das amtliche Stromnetz, aber eine politisch unautorisierte Expansion des soziotechnischen Netzwerkes10 darstellt. Im Jahr 2003 wurde zum Beispiel von einer geschäftstüchtigen Frau aus Tshwane (Pretoria) berichtet, die ihre vergleichsweise mittellos lebenden Nachbarn auf rechtswidrige Weise mit Elektrizität versorgte: „The cables were carefully buried in trenches dug in the ground around the house and extended across the street to the nearby informal settlement. In places the tarred road had been dug up and the wires buried and then covered up again. David 6

David A. McDonald, The Bell Tolls for Thee: Cost Recovery, Cutoffs, and the Affordability of Municipal Services in South Africa, in: David A. McDonald/John Pape (Hg.), The Crisis of Service Delivery in South Africa, Johannesburg 2002, S. 161 – 179. 7 Is it a Crime to Fight for Services?, in: Socialist Worker, 17. August 2002. 8 Thomas G. Kirsch, „Illegal Connections“. Conflicts over Electricity in Soweto, South Africa, in: Soziale Welt, Sonderband 16, 2005, S. 193 – 208. 9 Vgl. Langdon Winner, Do Artifacts have Politics?, in: Daedalus, Heft 1, 1980, S. 121 – 136. 10 Vgl. Thomas P. Hughes, Networks of Power: Electrification in Western Society, 1880 – 1930, Baltimore 1983.

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Chauke, a hawker and a resident, said that at the end of the month there were long queues outside the woman’s house as people waited to pay their ,accounts‘, while others waited to be ,connected‘“.11 Im Zuge meiner Recherchen zu diesem Themenkomplex wurde ich allerdings auch auf unzählige Berichte in den Massenmedien aufmerksam, die eine bemerkenswert anderslautende Geschichte davon erzählen, in welches Verhältnis sich manche Teile der südafrikanischen Bevölkerung zur Materialität öffentlich zugänglicher Infrastruktur setzen. Dieses nicht erweiternde, sondern demontierende Verhältnis macht Infrastrukturausbau zu einer demoralisierenden Sisyphusarbeit, denn oft werden die tagsüber verlegten Kabel schon in der darauffolgenden Nacht entwendet, um unter der Bezeichnung ,Altmetall‘ im Schrotthandel verkauft zu werden.12 Tatsächlich sind derartige Infrastrukturdiebstähle im gegenwärtigen Südafrika kein Einzelfall, sondern haben unlängst ein so problematisches Ausmaß erreicht, dass in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit höchster Dringlichkeit nach Lösungen gerufen wird. Beispielsweise entstand im Zeitraum der Jahre 2006 bis 2011 durch den Diebstahl von Kupferkabeln aus dem Infrastrukturbestand einiger staatlicher und parastaatlicher Telefon-, Eisenbahn- und Stromgesellschaften in Südafrika (Eskom, Metrorail, Prasa, Telkom, Transnet) ein direkter und indirekter Schaden in Höhe von drei Milliarden Südafrikanischen Rand, was im Dezember 2011 umgerechnet 286 Millionen Euro entsprach.13 Der unplanmäßige Infrastrukturrückbau geht dabei mit einer beindruckenden ökonomischen Umverteilung einher, denn während Energieversorgungs- und Telekommunikationsunternehmen in Johannesburg im Jahr 2011 pro Monat mehr als zwei Millionen Euro aufbrachten, um die ihnen entwendeten Kabel zu ersetzen, erzielte der dortige Kupferhandel einen Rekordgewinn von monatlichen 36 Millionen Euro.14 Dass es sich hierbei um eine schattenwirtschaftliche Umverteilung handelt, zeigt sich besonders gut im Fall der südafrikanischen Westkapprovinz, die selbst über keine Kupferminen verfügt, im Jahr 2006 aber Kupfer im Wert von mehr als acht Millionen Euro nach Fernost exportierte.15 Angesichts dieses Schadens und den damit einhergehenden Folgen für die südafrikanische Bevölkerung, die ich unten im Detail thematisieren werde, erstaunt nicht, dass vielfältige Bemühungen unternommen werden, Infrastrukturdiebstahl einzudämmen. So ging die Stadtverwaltung Kapstadts im Jahr 2007 dazu über, die Straßenlampen auch tagsüber brennen zu lassen, wobei weniger die so erzeugte Illumination, als vielmehr die elektrische Spannung der zuleitenden Stromkabel der krimi-

11

Informal Power, in: Sunday Times, 23. März 2003. How Copper Theft is Ruining the Economy, in: Engineering News, 29. August 2008. 13 ,Sporadic‘ Cable Theft Costs R3bn, in: Technology News, 13. August 2012. 14 R20 m a Month to Replace Stolen Cable, in: Sunday Tribune, 31. Juli 2011. 15 Cable-theft Epidemic Wreaks Havoc in SA, in: Mail&Guardian, 20. Juni 2007. Siehe auch: SA’s Junkyard Sale, in: Mail&Guardian, 14. August 2006. 12

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nalitätspräventiven Abschreckung dienen sollte, denn man geht davon aus, dass „thieves rarely risk their lives by hacking into live wires“.16 Im Zusammenhang mit dem Thema des vorliegenden Sammelbandes ist vor allem zu betonen, dass Infrastrukturdiebstahl nicht nur materiellen Schaden und öffentliche Entrüstung auslöst, sondern im gegenwärtigen Südafrika auch immer wieder zu politisierten Debatten darüber führt, welcher moralische bzw. strafrechtliche Status dieser Form des Diebstahls zugeschrieben werden sollte. Bei einem Treffen mit Schrotthändlern im Jahr 2007 warnte Helen Zille, die damalige Bürgermeisterin Kapstadts und gegenwärtige Premierministerin der Westkapprovinz, davor, dass sich kein Investor für eine Stadt interessieren würde „if you can’t rely on something as basic as an electricity supply“, wobei sie Infrastrukturdiebstahl als ,Vandalismus‘ bezeichnete: „The entire infrastructure, from sewerage substations to electricity-generating points, is being vandalised for the sake of a few bucks“.17 Von Seiten anderer Akteure, wie der privatwirtschaftlichen Koalition Business Against Crime und der staatlichen Eisenbahngesellschaft Spoornet (heute Transnet Freight Rail), wurde Kabeldiebstahl wiederholt der Kategorie ,Sabotage‘ zugeordnet, wodurch auf den wirtschaftlichen Schaden für die ganze südafrikanische Nation verwiesen wird. So schädigt Infrastrukturdiebstahl, dem Pressesprecher von Spoornet zufolge, „not only Spoornet and its customers but also South Africa as a whole. When consignments fail to reach their international destinations on time, the country’s reputation suffers because overseas markets then view us as unreliable and inefficient“.18 Auf den der Allgemeinheit zugefügten Schaden wurde auch vom Leiter einer Polizeieinheit in Kapstadt hingewiesen, die auf Kabeldiebstahlsdelikte spezialisiert ist: „People who resort to this kind of criminal activity not only gamble with their own lives, but also negatively affect the quality of life of hundreds of other families. The money the city now has to spend on repairs could have been better used in providing muchneeded services to the community“.19 Einen Höhepunkt erfuhren die Debatten um den strafrechtlichen Status von Infrastrukturdiebstahl im August 2008, als sich ein Parlamentsabgeordneter der Inkatha Freedom Party, Hennie Bekker, in einer parlamentarischen Eingabe dafür aussprach, Kabeldiebstahl in rechtlicher Hinsicht als ,Terrorismus‘ zu klassifizieren.20 Er begründete seine Eingabe wie folgt: „It is my view that the theft of copper cable by ,informal collectors‘ and the subsequent sale of it to persons or businesses that recycle it for resale in the open market, or overseas export is an act purely for financial gain. However, if the subsequent disruption to and losses for our economy is taken into 16

Cape Town Keeps Lights on to Deter Cable Thieves, in: Mail&Guardian, 8. August 2007. 17 Cable-theft Epidemic Wreaks Havoc in SA, in: Mail&Guardian, 20. Juni 2007. 18 ,Declare Cable Theft Sabotage‘ – Spoornet, in: Business Day, 19. Juni 2007. 19 Cable Thieves Cause Damage Worth R500 000, in: Mail&Guardian, 8. November 2007. 20 Pressemitteilung der Inkatha Freedom Party: IFP MP to Submit Legislative Proposal on Cable Theft, 7. August 2008.

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account, this crime has far greater implications for South Africa’s stability and security as a whole. It is therefore my position that the objective of financial gain forming the basis of theft and/or destruction of copper cable should be included in the definition of a terrorist activity as defined in the Protection of Constitutional Democracy against Terrorist and Related Activities Act (Act No. 33 of 2004). Doing so would ensure that this crime is no longer regarded as a petty crime and perpetrators would be faced with the severe penalties provided for in section 18 of the Act, including imprisonment for life.“21 Bekker konnte sich mit dieser parlamentarischen Eingabe letztlich nicht durchsetzen, da gewichtige Gegenargumente angeführt wurden. So gab der Direktor der Rechtsabteilung der südafrikanischen Polizei (SAPC) zu bedenken, dass „To prove that cable theft is a terrorist activity, you would need to prove the motive to sabotage the entire state“.22 Und auch auf wissenschaftlicher Seite galt die Inklusion von Kabeldiebstahl in den Protection of Constitutional Democracy against Terrorist and Related Activities Act (Act No. 33 of 2004) weithin als nicht durchsetzbar. In einer politikberatenden Stellungnahme des Institute for Security Studies (ISS) in Pretoria hieß es beispielsweise, dass Bekkers parlamentarischer Eingabe die fragwürdige Wahrnehmung des Phänomens des Kabeldiebstahls zugrunde liege, „that there may be a concerted attempt to attack the South African economy in an effort to stem development and growth. This raises the question of whether it would be possible and indeed desirable, for non-ferrous metal theft and, in particular copper-cable theft, to be classified as an act of terrorism“.23 Diese Frage wurde in der Stellungnahme des ISS aus zwei Gründen verneint: Erstens sei es nicht im Geiste der diesbezüglichen Gesetzgebung, sie auf „any uncoordinated actions, such as random copper theft incidents“24 anzuwenden; zweitens wäre es „very difficult in most instances to prove that the accused had a ,political, religious, ideological or philosophical motive, objective, cause or undertaking‘ motivating him or her to steal non-ferrous metal in any form“25, was allerdings eine Voraussetzung dafür sei, einen Tatbestand unter den bestehenden Protection of Constitutional Democracy against Terrorist and Related Activities Act (Act No. 33 of 2004) fallen zu lassen. In den vergangenen Jahren spielte die Frage, ob Kabeldiebstahl einen ,terroristischen Akt‘ darstellt oder nicht, eine weniger prominente Rolle. Dennoch zeichnet sich die Diskussion weiterhin durch erhitzte Gemüter und einen nicht unerheblichen symbolischen Überschuss aus, wenn zum Beispiel der Energieminister Dipuo Peters während einer Aussprache mit Medienvertretern im August 2011 in drastischem Ton 21

Private Member’s Legislative Proposal, Hennie Bekker MP: The Protection of Constitutional Democracy against Terrorist and Related Activities Amendment Bill, 6. August 2008. 22 Cable Theft is Terrorism, says Inkatha, in: Sunday World, 8. August 2008 (Herv. TK). 23 Ben Coetze, Copper-Cable Thieves Not Terrorists, Institute for Security Studies, 26. Mai 2008 (Herv. TK). 24 Ebd. 25 Ebd.

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davon sprach, dass „a person who steals copper, who steals the cables is a murderer, a thief, is everything and a saboteur. Because as you would know without telecommunications, without electricity the health services, education and all the necessary services can come to a halt“.26 In der Zusammenschau gewährt die Debatte um Infrastrukturdiebstahl im gegenwärtigen Südafrika einen interessanten Einblick in vielfältige Aushandlungsprozesse über die materiellen Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens, das Verhältnis zwischen privaten und öffentlichen Interessen und den damit zusammenhängenden Problemen gemeinschaftlich genutzten materiellen Eigentums. Dabei fällt auf, dass Infrastrukturdiebstahl unter anderem deshalb so kontrovers und symbolisch besetzt ist, weil – unabhängig von den konkreten Eigentumsverhältnissen an einer bestimmten Infrastruktur – nicht nur die Besitzer, sondern zwangsläufig auch die Nutzer dieser Infrastruktur durch Infrastrukturdiebstahl in Mitleidenschaft gezogen werden. In der Frage, wer sich gegen Infrastrukturdiebstahl wehren sollte bzw. kann, findet sich also eine komplexe Konstellation wieder, in der grundsätzliche Parameter des sozialen Zusammenlebens zur Disposition stehen. Zum einen geht es hier (mehr oder weniger implizit) um die infrastrukturellen Voraussetzungen moderner Vergesellschaftung und die Bedeutung privaten Eigentums für die Möglichkeit öffentlichkeitsbildender Sozialität. Wie ich unten ausführen werde, liegt eine besondere Schwierigkeit im Kontext des gegenwärtigen Südafrikas dabei darin, dass es aufgrund der neoliberalen Privatisierungsprozesse nach dem Ende der Apartheid für südafrikanische Bürger im Alltagserleben oftmals nicht ersichtlich ist, ob es sich bei einer bestimmten infrastrukturbereitstellenden Organisation um eine staatliche, parastaatliche oder rein privatwirtschaftliche Organisation handelt. Zum anderen zeichnet sich Infrastrukturdiebstahl durch einen besonderen Umgang mit Materialität aus, denn im Unterschied zu den meisten anderen Formen der rechtswidrigen Entwendung materieller Güter geht es hier um die klassifikatorische Transformation von technisch aufbereiteter Materialität (Kupferkabel) in einen Sekundärrohstoff (Kupferkabel), der anschließend weiterverarbeitet bzw. neu aufbereitet werden kann. So setzen auch die Bemühungen südafrikanischer Technologieunternehmen, Kennzeichnungssysteme für Kabel zu entwickeln, mit der Feststellung ein, dass „Cable is devoid of an identity once the casing has been removed. By the time it reaches the foundry or for export, it is in its raw state and the individual who has it in their presence can claim ownership“.27 Aber auch andere infrastrukturelle Objekte aus Metall, wie beispielsweise Brückengeländer, werden im Zuge ihres rechtswidrigen Rückbaus dergestalt modifiziert, dass sie nicht mehr identifizierbar

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South African Government information: Transcript of Infrastructure Development Cluster, chaired by Minister Sibusiso Ndebele, Department of Transport, 18. August 2011. 27 Copper Cable Theft Declared a High-priority Crime, in: Engineering News, 23. Juni 2011.

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sind: „Criminals break the material into tiny pieces, therefore making it unrecognisable“.28 Vor dem Hintergrund dieser beiden Punkte war in Südafrika wiederholt davon die Rede, dass Infrastrukturdiebstahl in der öffentlichen Wahrnehmung ein „victimless crime“29 darstellt oder zumindest einen Akt, dessen moralischer und strafrechtlicher Status durch einen hohen Grad an Unbestimmtheit ausgezeichnet ist, da es große Schwierigkeiten bereitet, die Leidtragenden eines solchen Aktes eindeutig zu benennen: Niemand? Die infrastrukturbereitstellende Organisation? Die Nutzer der entsprechenden Infrastruktur? Die nationalstaatliche Gemeinschaft? Die folgenden Ausführungen nehmen einen konzeptionellen Faden meines oben zusammengefassten Artikels über Stromdiebstahl in Soweto30 auf, um ähnlich wie in diesem Artikel nach dem impliziten symbolischen Überschuss von Infrastrukturdiebstählen im gegenwärtigen Südafrika zu fragen, der bei rein rationalitätstheoretisch argumentierenden Interpretationen ausgeblendet bleibt. Ich verfolge dabei die These, dass der infrastrukturelle Ausbau im Zuge der südafrikanischen Nationenbildung nach dem Ende der Apartheid durch den zeitgleich stattfindenden neoliberalen Privatisierungsschub irritiert wird, was dazu führt, dass weiten Teilen der südafrikanischen Bevölkerung nicht immer einsichtig ist, auf welchem Verhältnis von privaten und staatlichen Eigentumsverhältnissen die infrastrukturelle Grundlage der avisierten Nationalgemeinschaft beruht. Infrastrukturdiebstahl stellt sich vor diesem Hintergrund nicht nur als Akt der Selbstbereicherung dar, sondern auch als Absage an den gemeinschaftlichen Aspekt der soziotechnischen Infrastruktur und das Ziel der Nationenbildung durch Infrastrukturausbau. Während Stromdiebstahl zu einer politisch unautorisierten Erweiterung des soziotechnischen Netzwerkes des südafrikanischen Nationalstaates führt, erwirkt Infrastrukturdiebstahl eine entautorisierende Verkürzung dieses Netzwerkes und damit – im sinnbildlichen und buchstäblichen Sinne – die Demontage der Nation. Gegenwärtige kultur- und sozialwissenschaftliche Begriffswelten stoßen bei der Interpretation dieses symbolischen Überschusses von Infrastrukturdiebstahl jedoch an ihre Grenzen, so dass der heuristische Wert anderer Begriffswelten zu prüfen ist. Das Thema des vorliegenden Sammelbandes liefert dabei die willkommene Gelegenheit, die heuristischen Möglichkeiten des Arbeitens mit dem Begriff ,Niemandseigentum‘ (res nullius) auszuloten.

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Durban Battles to Curb Metal Theft, in: IOL News, 15. August 2006. Neil Arendse, Copper Theft Prevention: An Analysis of Current Strategies in Place to Address the Scourge; City of Cape Town 2010; Coetze, Copper-Cable. 30 Kirsch, „Illegal Connections“. 29

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III. Begriffsgeschichtlicher und -theoretischer Exkurs In den Geschichts- und historischen Rechtswissenschaften sind die Begriffe res nullius und terra nullius vorwiegend in der Untersuchung geschichtlicher Prozesse einer durchmachteten sozialräumlichen Expansion aufgerufen worden, um zum Beispiel den rechtlichen Eigentumsstatus (scheinbar) herrenloser Materialität oder emische Rechtfertigungen kolonialer Aneignungen zu thematisieren. Da mehrere dieser Thematisierungen in der Einleitung und den anderen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes herausgearbeitet werden, muss an dieser Stelle nicht erneut auf sie eingegangen werden. Mit der Verwendung dieser beiden Begriffe gehen allerdings auch grundsätzlichere Fragen einher, die einerseits ihren empirischen Status und andererseits ihren heuristischen Wert betreffen, und die für die Argumentation in meinem Beitrag von besonderer Bedeutung sind. Was an der Spezifizierung des empirischen Status von terra nullius problematisch ist, lässt sich beispielhaft an den Eingangssätzen eines Aufsatzes des bekannten amerikanischen Rechtshistorikers Stuart Banner mit dem Titel „Why Terra Nullius? Anthropology and Property Law in Early Australia“ zeigen: „The British treated Australia as terra nullius – as unowned land. Under British colonial law, aboriginal Australians had no property rights in the land, and colonization accordingly vested ownership of the entire continent in the British government. The doctrine of terra nullius remained the law in Australia throughout the colonial period, and indeed right up to 1992. Terra nullius is such a basic and well-known fact of Australian history that it is easy to lose sight of how anomalous it was in the broader context of British colonization. The British had been colonizing North America for two centuries before they reached Australia, but by the middle of the eighteenth century, imperial policy in North America had turned away from terra nullius.“31 In diesen Sätzen wird terra nullius zuerst als eine soziale Praxis dargestellt, die phänomenologisch der induktiven wissenschaftlichen Beobachtung zugänglich ist („treated … as“), im übernächsten Satz als eine rechtliche Satzung („the doctrine … remained the law“), dann als eine unbestreitbare geschichtliche Tatsache („basic and well-known fact“), und schließlich als inhaltliche Orientierung imperialer Politik („policy“). Diese unterschiedlichen Spezifikationen mögen nicht prinzipiell im Widerspruch zueinander stehen, machen jedoch deutlich, dass die wissenschaftlichen Benennungen dessen, als was bzw. in welcher Form terra nullius empirisch in Erscheinung tritt, oft durch Unschärfen und Ambiguitäten gekennzeichnet sind. Der Wunsch, den empirischen Status von terra nullius zu klären, liegt auch Michael Connors32 aufsehenerregender Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung zur britischen Kolonisierung Australiens, insbesondere mit den Standardwer31 Stuart Banner, Why Terra Nullius? Anthropology and Property Law in Early Australia, in: Law and History Review, Heft 1, 2005, S. 95 – 131, hier S. 95. 32 Michael Connor, The Invention of Terra Nullius, Sydney 2005.

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ken seines Kollegen Henry Reynolds33, zugrunde. In polemischem Einsatz stellt sich diese Kritik als dissidente Enthüllung eines wissenschaftlichen Mythos dar: „Because I had difficulty understanding terra nullius I went to the library. It took less than thirty minutes in the Law Library at the University of Tasmania to suggest that the definitions of terra nullius given by Henry Reynolds, which I had been trying to understand, did not make sense and were not supported by the references he gave. When I looked in the copies of our eighteenth century colonial records, expecting to find them dripping with terra nullius, the phrase wasn’t there.“34 Connors quellennah entwickelte These ist, dass terra nullius in der Geschichte Australiens niemals „a law, or a clearly expressed and accepted doctrine“35 gewesen sei und daher auch nichts mit der konkreten australischen Kolonialgeschichte zu tun habe, sondern ein politisiertes und fälschlich historisierendes Produkt der Gegenwart darstelle „which uses history to change the present“.36 Es soll an dieser Stelle nicht geprüft werden, ob bzw. in welchen Aspekten Connors Kritik zuzustimmen ist. Für die in diesem Beitrag entwickelten Überlegungen ist jedoch interessant, in welcher Prägnanz hier die begriffstheoretische Frage aufgeworfen wird, inwiefern die Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten in einer empirischen Untersuchung darauf angewiesen ist, dass diese Begrifflichkeiten auch im untersuchten empirischen Feld verwendet werden. Zugespitzt gilt die oben ausgeführte Kontroverse nämlich der Frage, ob terra nullius bei der Kolonisierung von Australien eine Rolle spielte, wenn der Begriff in diesem historischen Kontext nicht ausdrücklich verwendet wurde. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz argumentieren Lauren Benton und Benjamin Straumann, dass die meisten der in diese Kontroverse involvierten Wissenschaftler fälschlicherweise davon ausgehen, dass die Begriffe res nullius und terra nullius entweder als ein „routine part of early modern interimperial politics“37 zu verstehen seien oder keine bzw. eine untergeordnete Rolle spielten. Dieses Denken in sich gegenseitig ausschließenden Alternativen übersehe allerdings nicht nur, dass rechtsphilosophische Ideen von den Praktikern des Kolonialismus nur selektiv zur Kenntnis genommen und angewandt wurden, sondern auch, dass zwei verschiedene Kontexte der Verwendung dieser Begrifflichkeiten unterschieden werden müssen: „Europeans mainly invoked res nullius explicitly within critiques of the legal basis of empire and implicitly and unsystematically – alongside claims to possession

33

Henry Reynolds, The Law of the Land, Melbourne 1987. Connor, Invention of Terra Nullius, S. 1. 35 Ebd., S. 10. 36 Ebd., S. 9. 37 Lauren Benton/Benjamin Straumann, Acquiring Empire by Law. From Roman Doctrine to Early Modem European Practice, in: Law and History Review, Heft 1, 2010, S. 1 – 38, hier S. 1. 34

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– within a broad set of symbolic actions and statements designed to establish superior claims over imperial territories“.38 Zentrale Dimensionen dieser Kontroverse zusammenfassend, lassen sich zwei Ansätze in der Interpretation des empirischen Status von res nullius und terra nullius unterscheiden. Zum einen besteht die Auffassung, dass diesen Begrifflichkeiten nur dann historische Relevanz zugeschrieben werden kann, wenn sie den historischen Akteuren in versprachlichter Form als expliziter Referenzpunkt ihres Handelns dienten. Zum anderen findet sich die Interpretation, dass die diesen Begriffen zugrunde liegende Haltung auch in Form implizit bleibender kultureller Grundannahmen und Dispositionen in das Handeln sozialer Akteuren eingelagert sein kann, so dass sie auch dann analytisch produktiv gemacht werden können, wenn sie im untersuchten Feld nicht sprachlich expliziert werden. Im zweitgenannten Ansatz deutet sich an, worin der oben erwähnte heuristische Wert der beiden Begriffe bestehen kann: Indem res nullius bzw. terra nullius als implizit mitlaufender Referenzpunkt geschichtlichen Handelns verstanden wird, lassen sich bestimmte überzeitlich wirksame Phänomene im Verhältnis von Rechtssubjekten und -objekten erfassen. Wie ich im Folgenden am Beispiel von res nullius zunächst begrifflich erläutern und dann anhand empirischen Materials aus der Gegenwart ausführen möchte, kann der heuristische Wert dieses Begriffs aber auch dadurch nutzbar gemacht werden, dass er als „sensitizing concept“ im Sinne Herbert Blumers eingesetzt wird, um in empirische Studien Blickachsen einzulagern, „along which to look“.39 Als sensibilisierendes Konzept soll res nullius im Folgenden als eine diskursive Kategorie verstanden werden, die ein bestimmtes Verhältnis zwischen menschlichen Subjekten und materiellen Objekten benennt, nämlich die von einer Gruppe sozialer Akteure wahrgenommene Existenz von spezifischen Objekten, die als ,Niemandseigentum‘ klassifiziert werden und daher angeeignet werden können. Besonders aufschlussreich ist diese diskursive Kategorie in Konstellationen, wenn neben den beanspruchenden Rechtssubjekten und dem beanspruchten Niemandseigentum eine weitere Gruppe sozialer Akteure auszumachen ist, die (realiter oder im Prinzip) Anspruch auf das entsprechende Rechtsobjekt erhebt oder erheben könnte, der das Eigentumsrecht allerdings abgesprochen wird. In solchen Konstellationen impliziert der oben erläuterte Klassifikations- und Aneignungsakt eine stereotypisierende Entwertung des Eigentümerstatus und der Eigentumskompetenz bestimmter anderer sozialer Akteure. Dies zeigt sich beispielsweise darin, wie die koloniale Aneignung Australiens selbstlegitimatorisch von der systematischen Abwertung der indigenen Bevölkerung getragen wurde: „Australian sources of the late Enlightenment and Romantic period, written between 1788 and 1850, portrayed indigenous Australian populations as non-religious, indolent, idle, hideous and as uncivilized cannibals. […] 38

Ebd., S. 5. Herbert Blumer, Symbolic Interactionism. Perspective and Method, Englewood Cliffs 1969, S. 148. 39

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Aborigines represented in these sources did not own the land because they did not till it; they disrespected property rights and lived as nomadic hunter/gatherers without fixed abode and useful implements. […] Their lack of a proper language with a developed vocabulary made them less than human, almost on a level with primates.“40 Das besondere heuristische Potential von res nullius als einem sensibilisierenden Konzept, das in diesem Beitrag zur Anwendung kommen soll, liegt meines Erachtens also nicht so sehr darin, ein bestimmtes dyadisches Verhältnis von Rechtssubjekten und -objekten benennbar zu machen, sondern vielmehr ein triadisches Verhältnis zu beschreiben, das auch die identitätspolitische Entwertung des Eigentümerstatus und der Eigentumskompetenz anderer Subjekte umfasst.

IV. Res nullius in actu Wie oben erwähnt, brachten das Ende des Apartheidregimes und die ersten umfassend demokratischen Wahlen in Südafrika in den 1990er Jahren vielfältige soziale, politische und wirtschaftliche Transformationsprozesse mit sich und markierten den Beginn sozialräumlich expansiver Strukturentwicklungsprogramme, um den vormals benachteiligten (,schwarzen‘) Bevölkerungsgruppen einen (verbesserten) Zugang zur Grundversorgung (z. B. Straßenbau, Stromversorgung, Wasserversorgung, Telekommunikation, öffentliches Gesundheits- und Schulwesen) zu verschaffen. Diese Anstrengungen einer infrastrukturellen Nationenbildung im buchstäblichen Sinne des Wortes sehen sich allerdings entgegengesetzten Kräften ausgesetzt, denn die illegale Demontage und der rechtswidrige Verkauf von öffentlich zugänglichen Infrastrukturelementen führt zu einem unplanmäßigen Rückbau genau jenes soziotechnischen Netzwerkes, das die nachholende Nationenbildung eigentlich erwirken soll. Allein im Oktober und November 2000 waren zum Beispiel fast zwei hundert Ampelanlagen von Straßenkreuzungen der Stadt Johannesburg entwendet worden.41 Im gleichen Jahr führte Vandalismus, der Diebstahl von Kabeln, elektronischen Signalsystemen und Metalltüren zu einem Verlust von circa 1,3 Millionen Euro für die größte Eisenbahngesellschaft in der Provinz Gauteng.42 Anfang 2002 brachte ein ähnlicher Vorfall nördlich der Stadt Durban den Tod von mehr als 20 Menschen mit sich, als zwei Passagierzüge kollidierten.43 Im Jahr 2001 verschwand das komplette Aluminiumgeländer einer Brücke bei Pretoria44, während der Diebstahl von 40

Norbert Finzsch, „It is scarcely possible to conceive that human beings could be so hideous and loathsome“: Discourses of Genocide in Eighteenth- and Nineteenth-century America and Australia, in: Patterns of Prejudice, Heft 2, 2005, S. 97 – 115, hier S. 115. 41 Thieves Steal 192 Traffic Lights, in: Sunday Times, 12. November 2000. 42 Brave Bid to Stop Cable Thieves in their Tracks, in: Sunday Times, 30. Juni 2001. 43 Horror Train Crash Kills 22 in KwaZulu-Natal, in: The Post, 5. Februar 2002. 44 Thieves Strip Bridge, in: Sunday Times, 29. Juli 2001.

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1.750 Wasserzählern in der ersten Hälfte des Jahres 2003 zur Überflutung mehrerer Stadtteile Johannesburgs führte.45 Im gleichen Jahr wurden die außenliegenden Telefonkabel einer Polizeistation entwendet, so dass keine Notrufe angenommen werden konnten.46 Zwei Jahre später mussten die Büros der South African Press Association in Kapstadt, Johannesburg und Pretoria zwischenzeitlich ihre Tätigkeit einstellen, nachdem Kabeldiebstahl das elektronische Netzwerk der Nachrichtenagentur unterbrochen hatte.47 Diese impressionistisch anmutende Aufzählung, die leicht erweitert werden könnte, zeigt nicht nur, dass Infrastrukturdiebstahl ein weitverbreitetes Phänomen im gegenwärtigen Südafrika darstellt. Sie lässt auch erkennen, dass dieser unplanmäßige Rückbau des soziotechnischen Netzwerkes weitreichende Folgen für die südafrikanische Bevölkerung hat: Eigentum wird zerstört und menschliches Leben gefährdet; es kommt zu belastenden Unterbrechungen der infrastrukturellen Grundversorgung; Pendler verspäten sich auf dem Weg zur Arbeit und werden infolgedessen gekündigt; die durch Kabeldiebstahl verursachte Unzuverlässigkeit elektronischer Kommunikationsnetzwerke führt zu Verunsicherungen im Bereich kriminalitätspräventiver Maßnahmen.48 Es verwundert daher nicht, dass die Reaktionen der Betroffenen auf Infrastrukturdiebstahl oft gereizt und emotional aufgeheizt sind. Beispielsweise wurden im Frühjahr 2000 nach einer Serie von Einbrüchen in einer Schule bei Durban drastische Maßnahmen ergriffen: „Hundreds of pupils armed with hammers and screwdrivers this week raided an informal settlement which had been built with materials stolen from their dilapidated school. On Friday – watched by police officers – the self-styled ,asset seizure unit‘ retrieved doors, windows and chairs […] To whoops of excitement from schoolgirls, groups of sweating male pupils arrived back at the school bearing toilet pipes, window panes and frames, burglar guards and chalkboards. And when a woman came to complain that the school should have consulted the community, an 18-year-old pupil retaliated: ,When thieves steal, they don’t inform us that they are coming‘.“49 Solche Fälle von Selbstjustiz machen deutlich, dass die Bevölkerung im gegenwärtigen Südafrika nicht darauf vertraut, dass das Problem des Infrastrukturdiebstahls von staatlichen Exekutivkräften gelöst wird bzw. gelöst werden kann.50 In einigen Fällen sind Polizisten und Angestellte von privaten Sicherheitsfirmen sogar

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Meter Eaters, in: Sunday Times, 3. August 2003. Cable Thieves Cut off Cops, in: Sunday Times, 12. August 2001. 47 Cable Theft Cuts Local News Updates, in: Sunday Times, 7. Oktober 2003. 48 Zum Beispiel: Theft of Copper Cables Cripples Karoo, in: Weekend Post, 14. Juli 2011; State Talks Tough on Cable Theft, in: IOL News, 19. August 2011; Crime up after Theft of Cable, in: Sowetan, 28. September 2011. 49 The School with the Guts to Fight Back against Thieves, in: Sunday Times, 12. März 2000. 50 Two Men in Serious Condition after Stealing Copper, in: Business Day, 22. Juni 2010. 46

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selbst angeklagt worden, Infrastrukturdiebstähle begangen oder zumindest gedeckt zu haben.51 Auf staatlicher, zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Seite werden vielfältige Aktivitäten unternommen, um den Infrastrukturdiebstahl einzudämmen. Zum einen umfassen diese Maßnahmen den Einsatz privater Sicherheitsdienste zum patrollierenden Schutz von Kabelnetzwerken und die Gründung neuer polizeilicher Einheiten, die auf den Diebstahl materieller Infrastruktur spezialisiert sind, wie die sogenannten ,Copperheads‘ in Kapstadt.52 In manchen Fällen beruht die Tätigkeit eines solchen Einsatzteams auf der Kooperation zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen, beispielsweise zwischen Vertretern der Polizei, eines Stromversorgungsunternehmens, einer Telefongesellschaft und einer Eisenbahngesellschaft.53 Zum anderen werden Versuche unternommen, die lokale Bevölkerung dadurch in die Ermittlung und Verfolgung von Infrastrukturdiebstahl einzubeziehen, indem Belohnungen für entsprechende Informationen ausgelobt werden.54 Zudem soll der Bevölkerung anhand von großangelegten Informationskampagnen bewusst gemacht werden, wie sie selbst unter der rechtswidrigen Demontage von Infrastruktur zu leiden hat und warum man vom Erwerb demontierter Infrastrukturobjekte absehen sollte.55 Ein im Rahmen der ,Izinyoka‘-Abschreckungskampagne des Stromversorgungsunternehmens Eskom verwendetes Poster stellt Kabeldiebe in mystifizierender Form als ein Hybrid zwischen Mensch und Schlange dar.56 Und schließlich ist wiederholt diskutiert worden, ob der Diebstahl von Kupferkabeln dadurch eingeschränkt werden könnte, dass man Kupfer rechtlich einer anderen Kategorie, nämlich ,Edelmetall‘, zuordnet – eine Klassifikation, die es erlauben würde, wesentlich höhere Strafen auf Kabeldiebstahl auszusprechen.57 Es finden sich zudem Bemühungen, Infrastrukturdiebstahl dadurch einzudämmen, dass sie entweder durch andere Technologien (z. B. Alarmsysteme) gesichert werden, oder dass die materielle Beschaffenheit infrastruktureller Objekte modifiziert wird, um ihren ökonomischen Wiederverkaufswert zu reduzieren.58 Die letztgenannten Maßnahmen gehen von der grundsätzlichen Beobachtung aus, dass vom Infrastrukturdiebstahl vorwiegend metallische Objekte betroffen sind. Sie zie51

Cable Gang Walks after Police ,Lose‘ Docket, in: Sunday Times, 7. Juli 2002. Hundreds without Phones after Cable Thieves Strike, in: Sunday Times, 27. Mai 2000; The Great Joburg Power Struggle, in: Sunday Times, 8. April 2001; City to Give More Mettle to Copperheads, in: IOL News, 6. Mai 2011. 53 Task Team Cracks Down on Cable Thieves, in: SABC News, 18. September 2001. 54 Brave Bid to Stop Cable Thieves in their Tracks, in: Sunday Times, 30. Juni 2001; Theft Costs Spoornet R140-Million, in: Mail&Guardian, 3. März 2008. 55 Mayor Seeking Residents’ Help in Crack Down on Cable Theft, in: Sunday Times, 15. September 2002. 56 Commuters Fight for Space on Remaining Trains, in: Mail&Guardian, 18. November 2006. 57 Stop Copper Thieves, City Power Tells Govt, in: Mail&Guardian, 5. Mai 2010. 58 Telkom Paying R6,6 m a Month for Monitoring; Mail&Guardian, 28. Mai 2010. 52

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len folglich darauf ab, den Metallanteil dieser Objekte zu reduzieren oder aber Kupfer durch Metalllegierungen zu ersetzen, die schwieriger einzuschmelzen sind. Anfang 2003 war es der Eisenbahngesellschaft Spoornet (heute Transnet Freight Rail) beispielsweise gelungen, 1.300 Kilometer Kupferkabel durch ,tiger wire‘ zu ersetzen, in dem Aluminium- und Stahlfäden miteinander verwoben sind.59 Eine andere Methode besteht darin, die physische Zugänglichkeit von Kabelnetzwerken einzuschränken, indem sie mit einer Betonumhüllung ummantelt werden.60 Wie hier ersichtlich wird, formieren sich in der Bekämpfung des Infrastrukturdiebstahls sozialräumlich weitreichende Netzwerke der unterschiedlichsten Institutionen und Akteursgruppen wie Grundversorgungsdienstleister, Polizeikräfte, Pädagogen, Öffentlichkeitsarbeiter, Ingenieure und private Sicherheitsdienste. Zugleich ist festzustellen, dass weder die Folgen der rechtswidrigen Demontage infrastruktureller Objekte noch die dagegen gerichteten Maßnahmen rein lokaler Natur sind. Die Person, die sich im Oktober 2003 im Bezirk Linden in Johannesburg daran machte, ein Telefonkabel durchzutrennen, vollzog zweifelsohne eine hochgradig lokalisierte Handbewegung; zugleich hatte diese Tätigkeit nicht nur Folgen für den direkt davon betroffenen Hauptsitz der South African Press Association (SAPS), sondern auch für die Regionalbüros dieser Nachrichtenagentur in 1.400 Kilometer Entfernung und den an diesem Tag international zur Kenntnis genommenen Anteil der Berichterstattung aus Südafrika. Oft haben auch die Maßnahmen gegen Infrastrukturdiebstahl einen translokalen Horizont. So soll Kabeldiebstahl unter anderem anhand des restriktiven SecondHand Goods Bill durch die Kontrolle von Altmetallhändlern eingedämmt werden, was wiederum die Notwendigkeit mit sich bringt, den Metallexport aus Südafrika in den kriminalitätspräventiven Blick zu nehmen.61 Fälle wie derjenige aus dem Jahr 2001 in Durban, bei denen die Hafenpolizei in Schiffscontainern die zerkleinerten Bestandteile mehrerer Eisenbahnwagons fand, die ins Ausland verschifft werden sollten, mögen zwar extreme Beispiele sein, machen aber auch deutlich, dass die Bemühungen, Infrastrukturdiebstahl einzudämmen und sich die entwendeten Objekte wieder anzueignen, zu weitreichenden Übersetzungsketten von Kontrollmaßnahmen – bis hin zu verschärften Grenzkontrollen – führen.

59 Meter Eaters, in: Sunday Times, 3. August 2003; Spoornet Bites Back at Cable Thieves with ,Tiger Wire‘, in: Engineering News, 6. März 2003. 60 The Great Joburg Power Struggle, in: Sunday Times, 8. April 2001. 61 Zum Beispiel: The Problem at Hand, in: Mail&Guardian, 16. September 2008; Cable Theft Made Less Lucrative, in: Business Day, 22. Mai 2012; Metal Exports Linked to Cable Theft, in: Dispatch Online, 27. September 2002.

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V. Infrastruktur als materielle Grundlage sozialen Lebens Wenn es eine Aussage im bislang noch recht neuen Feld der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu ,Infrastruktur‘ gibt, die es in den Rang eines Bonmots geschafft hat, dann ist es zweifelsohne Susan Stars Definition von Infrastruktur als etwas, das „part of the background for other kinds of work“62 und „ready-tohand“63 ist, und deren Eigenschaften nur dann sichtbar werden, wenn sie aufhört zu funktionieren: „The normally invisible quality of working infrastructure becomes visible when it breaks: the server is down, the bridge washes out, there is a power blackout“.64 Die meisten Untersuchungen infrastruktureller Phänomene, die disziplinär in die Bereiche der Techniksoziologie, der Science and Technology Studies und der sogenannten Laboratory Studies fallen, sind dabei darauf angewiesen, eine „infrastructural inversion“65 vorzunehmen, also nach dem Figur-Grund-Prinzip diejenigen empirischen Aspekte in den Vordergrund zu heben, die in der Alltagspraxis strukturell den Hinter- bzw. Untergrund formen. Im vorliegenden Beitrag ist solch eine methodologische Inversion nicht notwendig, da hier eine empirische Konstellation im Zentrum des Interesses steht, die ihren Ausgangspunkt in Momenten des Zusammenbruchs von Infrastruktur nimmt und die so in den Blick rückt, welche krisenhaften Kontroversen über das Wesen und die Probleme sozialen Zusammenlebens in solchen Momenten zum Ausdruck kommen. Die oben ausgeführten Debatten über Infrastrukturdiebstahl und seine Folgen führen dabei zum einen vor, wie soziale Akteure der Tatsache gewahr werden, in welchem Ausmaß ihre eigene Sozialität auf materiellen Möglichkeitsbedingungen aufruht. In Paraphrasierung eines Theorems der Akteur-Netzwerk-Theorie66 könnte man sogar sagen, dass in den Auseinandersetzungen um Infrastrukturdiebstahl ein Moment der sozialen Selbstreflexion eingelagert ist, in dem die Erkenntnis aufblitzt, dass die Trennung von Natur und Gesellschaft (doch) nicht vollzogen wurde oder gar unmöglich ist.67 Zum anderen machen die hier beschriebenen Prozesse der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion von materieller Infrastruktur deutlich, wie im gegenwärtigen Südafrika um alternative soziotechnische Netzwerke gerungen wird. Auf62 Leigh Susan Star, The Ethnography of Infrastructure, in: American Behavioral Scientist, Heft 3, 1999, S. 377 – 391, hier S. 380 (Herv. TK). 63 Ebd. 64 Ebd., S. 382. 65 Geoffrey C. Bowker, Information Mythology. The World of/as Information, in: Lisa BudFrierman (Hg.), Information Acumen. The Understanding and Use of Knowledge in Modern Business, London 1994, S. 231 – 247, hier S. 235. 66 Vgl. Michel Callon, Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay, in: John Law, Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, London 1986, S. 196 – 233; Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005. 67 Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2002.

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schlussreich ist nämlich, dass in der Debatte um Infrastrukturdiebstähle nicht nur deren gesellschaftlich dekonstruktiver Aspekt hervorgehoben wird, sondern man auch darüber diskutiert, welche anderen sozialen Formationen in Form von ,Syndikaten‘ im Zuge der rechtswidrigen Demontage infrastruktureller Objekte und ihrer Konversion in schattenwirtschaftliche Waren entstehen. So ist in Bezug auf den Diebstahl von Kupferkabeln die Rede davon, dass „it’s not the small guys who are the major worry; it’s the organised syndicates who pull kilometres of cable out of the ground and have a whole system in place“.68 Auch der weitverbreitete Kabeldiebstahl von Baustellen sei dem organisierten Verbrechen zuzurechnen: „The gangs of armed men pulling off the robberies are well organised and properly resourced. They use subtle and well-planned methods to gain access to the sites – despite the fact that contractors are increasingly taking to arming their security guards. They just come in with their own guns, catch one guy by holding a gun to his head and then take his uniform. […] Then they overpower the others one by one and gain control of the entire site, bringing in their own truck equipped with the necessary lifting equipment.“69 Hier zeigt sich beispielhaft, dass die durch Infrastrukturdiebstahl vollzogene (klassifikatorische) Transformation von technisch aufbereiteter Materialität (Kupferkabel) in einen Sekundärrohstoff (Kupferkabel) mit einer Umstellung und Neuausrichtung soziotechnischer Netzwerke in Form von ,kriminellen Verbindungen‘ einher geht; zugleich führt sie zur Formation neuer soziotechnischer Assoziationen, anhand deren der Infrastrukturdiebstahl eindämmt werden soll. In einer ganz spezifischen dingbiographischen Konstellation dessen, was Arjun Appadurai das „social life of things“70 und Igor Kopytoff die „cultural biography of things“71 genannt hat, werden (infrastrukturelle) Objekte in diesem Prozess also in verschiedenen materiellen Aggregatszuständen in unterschiedliche soziale Relationen eingebunden. Für das Thema dieses Beitrags ist dabei besonders bedeutsam, dass diese Relationalität nicht nur soziotechnische Konnektivität und Eigentumsverhältnisse betrifft, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis von Eigentum und Nutzung, denn die meisten Kontroversen um Infrastrukturdiebstahl im gegenwärtigen Südafrika drehen sich um infrastrukturelle Objekte, die – unabhängig davon, wem sie rechtlich gehören – im Bereich der Grundversorgung (auch) von anderen, nicht zu den Eigentümern zählenden Personen genutzt werden.

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Copper Theft Causing Chaos, in: IOL News, 16. November 2006. Ebd. 70 Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986. 71 Igor Kopytoff, The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process, in: Appadurai (Hg.), The Social Life of Things, S. 64 – 91. 69

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VI. Niemandseigentum als Resultat klassifikatorischer Ambiguität Ich möchte vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und meiner ideengeschichtlichen Ausführungen zu terra nullius und res nullius nun zur eingangs gestellten Frage zurückkommen, wie der implizite symbolische Überschuss solche Konstellationen des Infrastrukturdiebstahls interpretiert werden kann. Es steht außer Zweifel, dass die rechtswidrige Demontage infrastruktureller Objekte und ihre Konversion in schattenwirtschaftliche Waren in den allermeisten Fällen mit Armut zu tun haben. Dass es in besonderem Maße infrastrukturelle Objekte sind, die von diesem unplanmäßig demontierenden Zugriff betroffen sind, kann im Alltagsverstand dadurch plausibilisiert werden, dass viele Arten (netzwerkbildender) Infrastruktur öffentlich zugänglich sowie sozialräumlich ausgreifend sind und deshalb schwieriger beschützt werden können als die meisten Formen privaten Eigentums. Darüber hinaus möchte ich jedoch auch argumentieren, dass es die oft unklare Trennschärfe und klassifikatorische Ambiguität in der Bestimmung ,öffentlicher‘ und ,privater‘ Objekte ist, die materielle Infrastruktur in den Augen mancher Südafrikaner zum Niemandseigentum werden lässt. Neben dem oben erläuterten Prozess der Nationenbildung, bei dem die Erweiterung soziotechnischer Netzwerke in Form einer Verallgemeinerung des Zugangs zu Grundversorgung mit der symbolischen Konstruktion einer nationalstaatlichen Gemeinschaft72 verzahnt ist, zeichnet sich die politische Entwicklung Südafrikas nach dem Ende der Apartheid nämlich durch eine neoliberale Grundorientierung73 aus, die unter anderem dazu führt, dass vormals staatliche Obliegenheiten privatisiert oder institutionell in nicht-staatliche Bereiche ausgelagert werden (,outsourcing‘). Die alltäglichen Lebenswelten südafrikanischer Bürger betrifft dies besonders im Bereich der Grundversorgung mit Elektrizität und Wasser, da mit der Privatisierung von Körperschaften des öffentlichen Rechts die Einführung wettbewerbsorientierter Kosten- und Erlösrechnungen einhergeht, die in struktureller Spannung zu der in Südafrika weitverbreiteten Annahme steht, dass diese Aspekte der Grundversorgung den Menschenrechten zugerechnet werden sollten. Wie während meiner Feldforschungen in Südafrika deutlich wurde, bringt diese neoliberale Ausrichtung jedoch auch eine gewisse Verunsicherung hinsichtlich der konkreten Eigentumsverhältnisse von Grundversorgungsinstitutionen und ihres jeweiligen materiellen Besitzstandes hervor. In anderen Worten: Meine Gesprächs72 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York 2006. 73 Vgl. Patrick Bond, Elite Transition. From Apartheid to Neoliberalism in South Africa. London 2000; Jean Comaroff/John L. Comaroff. Reflections on Liberalism, Policulturalism, and ID-ology: Citizenship and Difference in South Africa, in: Social Identities, Heft 4, 2003, S. 445 – 473; dies., Ethnicity, Inc.: On Indigeneity and its Interpellations, Chicago 2005; Paul Williams/Ian Taylor, Neoliberalism and the Political Economy of the ,New‘ South Africa, in: New Political Economy, Heft 1, 2000, S. 21 – 40.

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partner in diesem Themenbereich waren nicht (hinreichend) darüber informiert, ob bestimmte infrastrukturelle Objekte zum Eigentum des Staates gehören oder sich in privatwirtschaftlichem Besitz befinden. Desweiteren waren sie sich in der Regel in der normativen Frage uneinig, ob die grundversorgende Infrastruktur für Elektrizität und Wasser idealerweise in staatlicher oder nicht-staatlicher Hand liegen sollte. Während die einen die diesbezügliche Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern hervorhoben, betonten andere, dass die Betriebsverlässlichkeit und die Instandhaltung von Infrastruktur nur durch privatwirtschaftliche Modelle gesichert werden könnten. Die Möglichkeit öffentlichen Wohles (salus publica) hängt in der erstgenannten Argumentationslinie von der Existenz gemeinschaftlichen Eigentums (res communis) ab, während es in der zweitgenannten Argumentationslinie in Abhängigkeit von der Existenz privaten Eigentums (res privata) steht. Ähnliche klassifikatorische Herausforderungen finden sich im Bereich der räumlichen Nutzung südafrikanischer Städte, da hier zunehmend Konstellationen vorzufinden sind, in denen entweder privates Eigentum die räumliche Voraussetzung für öffentliche Sozialität darstellt oder Öffentlichkeit durch privatwirtschaftliches Engagement sichergestellt wird. Die am besten dokumentierten Beispiele für derartige Konstellationen, die auf Seiten der Nutzer der entsprechenden städtischen Räume oftmals mit einer Unkenntnis hinsichtlich der konkreten Eigentumsverhältnisse einhergeht, sind die in Privatbesitz stehenden, aber der breiten Öffentlichkeit zugänglichen Einkaufszentren sowie die kriminalitätspräventive Kontrolle öffentlicher Stadträume durch private Sicherheitsunternehmen, wie dies seit einigen Jahren im Cape Town Central City Improvement District74 gebräuchlich ist. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Landschaft materieller Infrastruktur im gegenwärtigen Südafrika zunehmend von der Wahrnehmung fließender Grenzen zwischen ,privatem‘ und ,öffentlichem‘ bzw. ,gemeinschaftlichem‘ Eigentum gekennzeichnet ist, für die Nutzer dieser Infrastruktur aber auch die moralische Frage impliziert, wer bzw. welche Instanz legitimerweise ihr Eigentümer sein sollte. Dieser Befund steht in Spannung zu einem geläufigen wissenschaftlichen Interpretationsmuster neoliberaler Ordnungen, in dem davon ausgegangen wird, dass Neoliberalismus allseits als ein Prozess der umfassenden Privatisierung gedeutet wird. In den vergangenen Jahren kam es in der ethnologischen Forschung zu einer verstärkten Problematisierung der Idee, ,Neoliberalismus‘ als eine analytische Kategorie zu gebrauchen. So fasst James Ferguson seine diesbezüglichen Leseerfahrungen in polemischem Ton wie folgt zusammen: „In thinking about the rapidly expanding literature on neoliberalism, I am struck by how much of the critical scholarship on topic arrives in the end at the very same conclusion – a conclusion that might be expressed in its simplest form as: ,neoliberalism is bad for poor and working people, 74 Rita Abrahamsen/Michael C. Williams, Securing the City: Private Security Companies and Non-State Authority in Global Governance, in: International Relations, Heft 2, 2007, S. 237 – 253.

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therefore we must oppose it‘. It is not that I disagree with this conclusion. On the contrary. But I sometimes wonder why I should bother to read one after another extended scholarly analysis only to reach, again and again, such an unsurprising conclusion.“75 In Reaktion auf solche Problematisierungen76 wurde das Herstellen neoliberaler Ordnungen vermehrt selbst zum Gegenstand ethnographischer Forschungen gemacht, wobei insbesondere Jean und John Comaroffs77 Verständnis des ,Neoliberalismus‘ als eine spezifische „cultural formation“ produktiv gemacht und darauf Wert gelegt wurde, „to treat neoliberalism as a process rather than a fait accompli, and to emphasize that its rise to global prominence has been fraught with contradiction and partiality and subject to limitation“.78 Meine Überlegungen in diesem Beitrag nehmen diesen Faden auf, um darauf hinzuweisen, dass neoliberale Ordnungen – im Sinne ,soziokultureller Formationen‘ – mit soziotechnischen Feldern interagieren, die wiederum durch „contradictions, antagonisms, and contested political projects“79 charakterisiert sind. Im Falle des gegenwärtigen Südafrikas bedeutet dies, dass die neoliberale Ausrichtung der post-Apartheid-Regierungen in ein spannungsvolles Verhältnis zur nachholenden Nationenbildung gerät, wodurch – so möchte ich argumentieren – die geläufige Assoziation neoliberaler Ordnungen mit Privatisierungsprozessen in Frage gestellt wird und die wichtige Beobachtung in den Blick kommt, dass sich solche Konstellationen durch klassifikatorische Ambiguitäten in der lebensweltlichen Frage auszeichnen, welche Objektwelten res communis und welche res privata zuzurechnen sind. Der oben ausgeführte Fall der rechtswidrig rückgebauten und dann gewaltsam zurückeroberten infrastrukturellen Substanz einer Schule bei Durban lässt erkennen, dass es viele Beispiele dafür gibt, dass bestimmte Objektwelten von den lokalen Bevölkerungen als res communis wahrgenommen werden. Im Fall der Schule bei Durban waren es zum Beispiel Fensterscheiben, Türen, Tafeln und Toilettenschüsseln. Dies ist jedoch nicht die Regel. Wie sich bei meinen Feldforschungen in der südafrikanischen Ostkapprovinz zeigte, sind selbst Grundversorgungseinrichtungen der persistenten Gefahr demontierender Zugriffe ausgesetzt. Es werden daher Bemühungen unternommen, die Idee des Gemeinschaftscharakters des entsprechenden Eigen75

James Ferguson, The Uses of Neoliberalism, in: Antipode, Heft 41, 2009, S. 166 – 184, hier S. 166. 76 Vergleiche auch die jüngst geführte und zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags noch nicht abgeschlossene Debatte in der Zeitschrift Social Anthropology (2012 – 2013; Bd. 20, Heft 1 – 3; Bd. 21, Heft 1). 77 Jean Comaroff/John L. Comaroff, Millennial Capitalism: First Thoughts on a Second Coming, in: Public Culture, Heft 2, 2000, S. 291 – 343; dies. (Hg.), Millennial Capitalism and the Culture of Neoliberalism, Durham 2001. 78 Catherine Kingfisher/Jeff Maskovsky, Introduction. The Limits of Neoliberalism, in: Critique of Anthropology, Heft 2, 2008, S. 115 – 126, hier S. 115. 79 John Clarke, Living with/in and without Neo-Liberalism, in: Focaal – European Journal of Anthropology, Heft 51, 2008, S. 135 – 147, hier S. 144.

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tums als eine kriminalitätspräventive Maßnahme wirksam werden zu lassen. So wurde mir im Gespräch mit einem Bezirksvorsteher des townships Mdantsane bei East London erklärt, dass beim Bau einer lokalen Grundschule darauf geachtet wurde, möglichst viele Anwohner gegen finanzielle Entlohnung in den Konstruktionsprozess einzubeziehen, damit sie sich – so hofft man – mit dem Schulgebäude identifizieren und es sich symbolisch zu eigen machen. Diese Strategie, die auch in anderen Kontexten Südafrikas und allgemein in der Entwicklungszusammenarbeit zur Anwendung kommt, zielt im Kern darauf ab, potentielle Infrastrukturdiebe durch ihren aktiven Einbezug bei der Konstruktion einer Infrastruktur davon abzuhalten, zu einem späteren Zeitpunkt eben diese Infrastruktur rechtswidrig zu dekonstruieren. In Form symbolischen Eigentums soll die entsprechende Infrastruktur in der Wahrnehmung der Bevölkerung folglich von einer res nullius in eine res communis transformiert werden. Dass solche Transformationen infrastruktureller Objekte in den Status symbolischen Eigentums nicht immer erfolgreich sind, hat damit zu tun, dass in Südafrika schon seit langem umstritten ist, welcher Personenkreis in die communis eingerechnet werden sollte. Heutzutage kann Südafrika als Austragungsort einer hyperinflationären Identitätspolitik bezeichnet werden, in der heterogene Gruppierungen sozialer Akteure nicht nur um die öffentliche Anerkennung ihrer jeweiligen Identitätsbehauptungen kämpfen, sondern in diesem Zuge auch konfliktreich verhandeln, welche Struktureinheit gesellschaftlichen Lebens solch eine Anerkennung überhaupt verdient: Individuen oder Gruppen. Zudem wäre es zwar formal korrekt, die Zugehörigkeit einer Person zur südafrikanischen ,Gesellschaft‘ über die Staatsbürgerschaft zu definieren; gleichzeitig würde solch eine Bestimmung aber der historischen Komplexität der weiterhin virulenten Frage nicht gerecht werden, ob die auf dem Territorium des südafrikanischen Staates lebenden Menschen tatsächlich eine ,Gesellschaft‘ darstellen oder nicht.80 Diejenigen, die die Existenz einer ,Gesellschaft‘ in Südafrika bezweifeln, haben darauf hingewiesen, dass die sozialen Realitäten in diesem Land viel zu heterogen und antagonistisch orientiert sind, um die Verwendung eines Kollektivsingulars zu erlauben. Diese Kontroversen um die Möglichkeit einer demographisch umfassenden südafrikanischen Sozialität und die klassifikatorische Ambiguität in der Bestimmung ,öffentlicher‘ und ,privater‘ Objekte, mit der die Menschen im gegenwärtigen Südafrika zunehmend konfrontiert sind, lassen die rechtswidrige Demontage infrastruktureller Objekte und ihre Konversion in schattenwirtschaftliche Waren in einem anderen Licht – das heißt: nicht nur als zweckrational motivierten Diebstahl – erscheinen. Infrastrukturelle Objekte werden hier nämlich weder als eigentumsdifferenzierte res privata noch als schützenswerte res communis behandelt, sondern als res nullius, die sich angeeignet werden kann, weil erstens die konkreten Besitzverhältnisse unklar sind und zweitens in Frage gestellt wird, dass in Südafrika eine Ge80 Vgl. Ivor Chipkin, Do South Africans Exist? Nationalism, Democracy and the Identity of ,the People‘, Johannesburg 2007.

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meinschaft(lichkeit) existiert, die die Voraussetzung dafür wäre, dass infrastrukturelle Objekte zu einer res communis werden können. Indem also technisch aufbereitete Materialität klassifikatorisch in einen Sekundärrohstoff transformiert wird und in diesem Zuge de facto als Niemandseigentum behandelt wird, kommt zum einen eine Absage an die gruppenübergreifende Eigentumskompetenz und die politische Vergemeinschaftung der südafrikanischen ,nationalen Gemeinschaft‘ zum Ausdruck. Zum anderen wird dadurch ein Prozess im öffentlichen Diskurs ausgelöst, in dem eben die Möglichkeitsbedingungen des Entstehens einer umfassenden südafrikanischen Sozialität zur Aushandlung kommen.

VII. Schluss In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit für Fragen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit in all ihren immateriellen und materiellen Aspekten kommen oft jene empirischen Konstellationen zu kurz, in denen es um die materielle Dekonstruktion bestehender Wirklichkeiten geht. In diesem Beitrag habe ich mich am Beispiel des Infrastrukturdiebstahls im gegenwärtigen Südafrika mit eben solchen Momenten der Dekonstruktion beschäftigt, um anhand des Begriffs res nullius – im Sinne eines sensibilisierenden Konzeptes – eine wichtige Facette des unplanmäßigen Rückbaus von Infrastruktur herauszuarbeiten, die als symbolische Entwertung der Möglichkeit nationalstaatlicher Gemeinschaftlichkeit verstanden werden kann. Die klassifikatorische Transformation technisch aufbereiteter Materialität in einen Sekundärrohstoff und die damit einhergehende Konversion infrastruktureller Objekte in schattenwirtschaftliche Waren bringen eine grundsätzliche Umstellung und Neuausrichtung soziotechnischer Netzwerke mit sich, die – in buchstäblichem und übertragenem Sinne – einer Demontage der Nation gleich kommt: einer Demontage in Form des physischen Rückbaus, des Einschmelzens und des schattenwirtschaftlichen Ausverkaufs, aber auch in Form einer nihilistischen Absage an die Behauptung, Südafrika sei ein Nationalstaat.

Autorenverzeichnis PD Dr. Ralf Banken, Wittelsbacher Allee 23, 60316 Frankfurt a.M. Prof. Dr. Hans W. Blom, Da Costastraat 21, NL-2513RN Den Haag Ramona Bräu, Schubertstraße 31, 99423 Weimar Dr. Daniel Damler, Schumannstraße 55, 60325 Frankfurt a.M. Prof. Dr. Monika Dommann, Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl Schmid-Straße 4, CH-8006 Zürich Prof. Dr. Michael Kempe, Leiter der Leibniz-Forschungsstelle Hannover, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen beim Leibniz-Archiv der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Waterloostraße 8, 30169 Hannover Prof. Dr. Thomas G. Kirsch, Universität Konstanz, Fach 38, 78457 Konstanz Prof. Dr. Cornelia Ortlieb, FAU Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Komparatistik, Bismarckstraße 1B, 91054 Erlangen Dr. Doris Schweitzer, Helmholtzstraße 76, 50825 Köln Dr. des. Robert Suter, Universität Konstanz, Forschungsinitiative „Wahrheit und Subjektivität“ († 11. 09. 2014) PD Dr. Dr. Burkhardt Wolf, Choriner Straße 29, 10435 Berlin