Religiöse Paralleljustiz: Zulässigkeit und Grenzen informeller Streitschlichtung und Streitentscheidung unter Muslimen in Deutschland [1 ed.] 9783428548392, 9783428148394

Unlängst häuften sich Meldungen über eine sogenannte »islamische Paralleljustiz« in Deutschland. Die Arbeit untersucht d

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German Pages 274 Year 2016

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Religiöse Paralleljustiz: Zulässigkeit und Grenzen informeller Streitschlichtung und Streitentscheidung unter Muslimen in Deutschland [1 ed.]
 9783428548392, 9783428148394

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1332

Religiöse Paralleljustiz Zulässigkeit und Grenzen informeller Streitschlichtung und Streitentscheidung unter Muslimen in Deutschland

Von

Kathrin Bauwens

Duncker & Humblot · Berlin

KATHRIN BAUWENS

Religiöse Paralleljustiz

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1332

Religiöse Paralleljustiz Zulässigkeit und Grenzen informeller Streitschlichtung und Streitentscheidung unter Muslimen in Deutschland

Von

Kathrin Bauwens

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahr 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14839-4 (Print) ISBN 978-3-428-54839-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84839-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemster 2014 von der juristischen­ Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Fabian Wittreck, für die hervorragende Betreuung der Arbeit. Sein fachliches Engagement und seine menschliche Güte haben wesentlich zur Erstellung dieser Arbeit beigetragen. Herrn Professor Dr. Janbernd Oebbecke sei für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens gedankt. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Herrn Professor Dr. Christian Kersting LL. M. (Yale) und dem gesamten Lehrstuhlteam des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie deutsches und internationales Unternehmens-, Wirtschafts- und Kartellrecht der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für die stets angenehme und herzliche Arbeitsatmosphäre. Dem Lehrstuhlteam verdanke ich eine sehr schöne Zeit, die ich immer in guter Erinnerung behalten werde. Für das Korrekturlesen der Arbeit und wertvolle fachliche Diskussionen danke ich insbesondere Johanna Brock-Wenzek, Dr. Sebastian Dworschak, Alexander Belk sowie Geesa de Vries. Von Herzen danke ich schließlich meinen Eltern Bärbel Bilstein-Wessendorf und Dr. med. Jürgen Bauwens für ihre stete uneingeschränkte und liebevolle Unterstützung. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main, im Januar 2016

Kathrin Bauwens

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Erster Teil Eine Abgrenzung – Staatlich anerkannte religiöse Schiedsgerichte und informelle Paralleljustiz – Einführung und Begriffserklärung, Stand der Forschung



21

A. Informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung in Migrantenmilieus . . . . 21 B. Informelle und formelle Scharia-Gerichte in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I.

Öffentliche Schattengerichte – Die Sharia-Councils in Großbritannien . . . . . . 27

II. Muslim Arbitration Tribunal – islamisches Schiedsgericht? . . . . . . . . . . . . . . . 31 III. Die umstrittene Rede des Erzbischofs von Canterbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 C. Die Scharia-Debatte in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I.

One Law for all Canadians? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

II. Darstellung der vorgebrachten Argumente – Relevanz für die Bewertung informeller Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 D. Scharia im Westen  – Rechtspluralismus als wünschenswertes Ziel einer religions­ pluralistischen Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I.

Eine heterogene Mehrheit von Rechten im selben sozialen Feld . . . . . . . . . . . . 43

II. Religiöse Rechtsspaltung oder religiöse Schiedsverfahren als Antwort auf religiösen Pluralismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Religiöse Rechtsspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Religiöse islamische Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

Zweiter Teil

Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht

56

A. Das islamische Recht: Entstehung, Rechtsquellen und Grundzüge des materiellen ­ Familien- und Erbrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I.

Entstehung und frühe Geschichte des islamischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . 57

10

Inhaltsverzeichnis 1. Muhammads Zeit in Medina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. Die Zeit der Kalifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Die Entstehung der Rechtsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Die Quellen des islamischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Der Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Die Sunna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Der Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4. Der Analogieschluss und andere juristische Auslegungsmethoden . . . . . . . 65 5. Idschtihad und die Schließung des Tores der selbstständigen Rechtsfindung 66 III. Islamisches Familien- und Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Ehefähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Ehehindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 a) Anzahl der geschlossenen Ehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Konfession des Ehepartners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Verwandtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 d) Wartefrist nach Scheidung oder Tod (iddat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 e) Statusgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 f) Dreimalig ausgesprochener talāq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 g) Pilgerfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4. Allgemeine Wirkungen der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5. Güterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 6. Die Brautgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 7. Unterhalt nach der Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 8. Eheverträge (taqliq) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 9. Beendigung der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Einseitige Scheidungsmöglichkeiten durch den Mann . . . . . . . . . . . . . 79 aa) Verstoßung (ṭalāq) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 bb) Schwur der Enthaltsamkeit (īlā) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 cc) Vergleich mit einer Frau, zu der ein verwandtschaftliches Eheverbot besteht (ẓihār) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 b) Scheidungsvollmacht der Frau (ṭalāq-e tafwīḍ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 c) Einvernehmliche Scheidung durch Vereinbarung der Ehepartner . . . . . 83 d) Richterliche Auflösung der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 e) Eheauflösung durch Religionswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 f) Beendigung durch Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 10. Sorgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 11. Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Inhaltsverzeichnis

11

a) Festgelegte Erbfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Gewillkürte Erbfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Kognatische Erbfolge der Schiiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 12. Der Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller bzw. religiöser Schlichtungen . . . . . . . . . . . . 90 I.

Religionsfreiheit, Art. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Anwendung der festgestellten Grundsätze auf religiöse Paralleljustiz . . . . 96 3. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Schranken des Art. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

II. Allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder existierender Gerichtspluralismus? Garantie und Grenzen privater Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I.

Staatliche Rechtsprechung und private Gerichtsbarkeiten – Begriffsklärung . . 104

II. Grenzen privater Gerichtsbarkeiten – Das staatliche Rechtsprechungsmonopol als irreführende Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Rechtsprechungsmonopol: Vom Wortlaut ausgehende Eingangsüberlegung 110 2. Art.  92 GG als verfassungsrechtliche Grundlage eines staatlichen Rechtsprechungsmonopols? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Absolutes Rechtsprechungsmonopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Eigene Stellungnahme zu einem absoluten Rechtsprechungsmonopol . . 114 aa) Die Privatautonomie als zwingender Garant privater Gerichte . . . 115 bb) Rückschluss aus den Gesetzgebungsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . 116 cc) Kritsche Würdigung der für ein absolutes Rechtsprechungsmonopol vorgebrachten Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (1) Die geschichtliche Entwicklung des Justizwesens . . . . . . . . . 117 (2) Der Topos der Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (3) Extensive Auslegung der Vorschriften des organisatorischen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 d) Quasi-absolutes Rechtsprechungsmonopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Eigene Stellungnahme zu einem quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 f) Relativ-formales und relativ-modales Rechtsprechungsmonopol . . . . . 122 g) Eigene Stellungnahme zu den formalen Interpretationsansätzen . . . . . . 123

12

Inhaltsverzeichnis 3. Herleitung eines quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopols aus grundrechtlichen Schutzpflichten und dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch . 125 a) Grundrechtliche Grenzen privater Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Keine Begrenzung durch Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 IV. Die praktische Umsetzung des quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopols im deutschen Gerichtspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Schiedsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Vereins- und Verbandsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Betriebsjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4. Parteischiedsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5. Kirchengerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V. Rückschlüsse für den Untersuchungsgegenstand und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . 141

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I.

Die Sittenwidrigkeit von auf islamischem Recht beruhenden Rechtsgeschäften 144 1. Ehevereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Scheidungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4. Sorgerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5. Gewichtung männlicher und weiblicher Zeugenaussagen . . . . . . . . . . . . . . 151

II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 III. Eingriffsmöglichkeiten der Exekutive zur Durchsetzung der Gleichberechtigung 152 1. Keine Eingriffsbefugnis aus der ordnungsrechtlichen Generalklausel in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Keine Eingriffsbefugnis aus der Schutzpflicht des Art. 3 Abs. 2 GG . . . . . 153 a) Das Gentechnik-Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs . . . . . 155 b) Das Schleyer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 156 c) Kritik an grundrechtlichen Schutzpflichten als unmittelbarer Eingriffsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 d) Keine Eingriffsbefugnis aus der ordnungsrechtlichen Generalklausel in Verbindung mit einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 2 GG . . 160 e) Mögliche Maßnahmen zur Erfüllung der Schutzpflicht ohne Eingriffe in Rechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3. Einordnung des Gleichheitssatzes unter das Teilschutzgut der Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen – Problematik der Subsidiaritätsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Inhaltsverzeichnis

13

E. Eingriff aufgrund einer Verletzung der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 I.

Verfassungs- und rechtspolitische Kritik am Begriff der öffentlichen Ordnung 166

II. Verletzung der öffentlichen Ordnung durch informelle religiöse Verfahren? . . 168 F. Unzulässige Rechtsdienstleistung nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz . . . . . . . . 173 I.

Entwicklung der Reglementierung des Rechtsberatungsmarktes in Deutschland 174

II. Komplementärfunktion des Rechtsdienstleistungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . 175 III. Das Rechtsdienstleistungsgesetz als Eingriffsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 IV. Schutzzwecke des Rechtsdienstleistungsgesetzes als vorrangiges Auslegungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Schutz der Rechtssuchenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Schutz des Rechtsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Schutz der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Schutz der Anwaltschaft als ungeschriebenes Schutzgut? . . . . . . . . . . . . . 179 V. Informelle religiöse Rechtsberatung als erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Außergerichtlichkeit, § 1 Abs. 1 S. 1 RDG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Rechtsdienstleistung, § 2 Abs. 1 RDG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Konkrete Angelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Fremde Angelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 c) Rechtliche Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Konstellation 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 bb) Konstellation 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 cc) Konstellation 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Ausschlusstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Ausschluss des Vorliegens einer Rechtsdienstleistung nach § 2 Abs.  3 Nr. 2 RDG: Schiedsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Ausschluss des Vorliegens einer Rechtsdienstleistung nach § 2 Abs.  3 Nr. 4 RDG: Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4. Erlaubnisfreiheit aufgrund eines Ausnahmetatbestandes? . . . . . . . . . . . . . 190 a) Rechtsdienstleistung aufgrund besonderer Sachkunde in einem ausländischen Recht, §§ 10 Abs. 1 Nr. 3, 12 RDG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Unentgeltlichkeit, § 6 RDG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 G. Eingriffe bei strafrechtlich relevantem Verhalten im Rahmen der religiösen Paralleljustiz im familienrechtlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

14

Inhaltsverzeichnis Dritter Teil



Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten

197

A. Religiös-kulturelle Motive der Beteiligten – Das islamische Strafrechtsverständnis 198 I.

Kategorisierung der Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. Grenzvergehen (hadd) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Talionsdelikte (qiṣāṣ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

B. Islamisches Strafrechtsverständnis und Offizialprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 I.

Verankerung des Offizialprinzips im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

II. Durchbrechungen des Offizialprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Antragsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Privatklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Täter-Opferausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 C. Friedensstiftende Funktion der Schlichter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

Präventivwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

II. Behinderung repressiver Polizeiarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 D. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsrechten und Wahrheitsermittlungspflicht – Möglichkeiten der Unterbindung von Schlichtungen im strafrechtlich relevanten Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 I.

Repressive Maßnahmen – Strafrechtliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Strafvereitelung (§ 258 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Aussagedelikte (§§ 153–162 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

II. Präventive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Allgemeine Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Sensibilisierung der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 III. Vorfeldmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Untersagungsverfügung, Gefährderansprache und Gefährderanschreiben . . 219 2. Kontaktverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3. Eingriffsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 a) Schutzgut: Strafrechtliche Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Schutzgut: Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Schutzgut: Das Strafmonopol des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Inhaltsverzeichnis

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d) Vorliegen einer konkreten Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 e) Beschränkung durch das Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 f) Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 E. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Ergebnisse der Arbeit in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Anhang: Interview mit Frau Rechtsanwältin Nazan Simsek aus Augsburg vom 3. Dezember 2013 über ihre Erfahrungen mit religiöser Paralleljustiz . . . . . . . . . . . . . . . 240 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Einleitung „Der Fremde bringt sein Recht mit“, sagte einst in Deutschland der Volksmund  – sollte er aber auch in der Fremde danach beurteilt werden?1

Etliche rechtliche Probleme und Fragestellungen, die sich aus der religiösen Pluralität Deutschlands ergeben, sind schon seit langem Gegenstand eines umfangreichen wissenschaftlichen Diskurses2. Aus der Vielfalt der in Deutschland vertretenen Glaubensrichtungen ergeben sich vor allem dann rechtliche Probleme, wenn die ausgeübte Religion ein Verhalten fordert, das mit dem Verständnis des Grundgesetzes von Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechten nicht oder nur schwer zu vereinbaren ist. Regelmäßig muss dann eine Abwägung zwischen der durch Art. 4 GG geschützten Religionsfreiheit des Einzelnen und den betroffenen Verfassungsgütern stattfinden. Die bisher aufgekommenen Konflikte, mit denen sich regelmäßig auch die deutschen Gerichte befassen, sind mannigfaltig: Man denke nur an die Problematik des Schächtens3, der religiösen Kleidung4, der Einhaltung von Gebetszeiten während 1 Im Zusammenhang mit den Themenkomplexen Rechtspluralismus und Migration weist auf die Redewendung hin B. Turner, Rechtspluralismus in Deutschland: Das Dilemma von öffentlicher Wahrnehmung und rechtsethnologischer Analyse alltäglicher Rechtspraxis, in: U. Bertels u. a. (Hrsg.), Aus der Ferne in die Nähe: Neue Wege der Ethnologie in die Öffentlichkeit, 2004, S. 155–183 (170). Die Redewendung m. w. N. findet sich ferner bei R. SchmidtWiegand, Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1996, S. 268. 2 Übergreifend zu religiösen Konfliktfeldern: C. Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität  – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates? Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 68. Deutschen Juristentages Berlin 2010, Bd. 1, 2010, S. D 1–D 176; zu religiösen Konfliktfeldern des Islam in Deutschland: ­S. ­Muckel, Reli­ gionsfreiheit für Muslime in Deutschland, in: J. Isensee/W. Rees/W. Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, 1999, S. 239–257; H. Marré, Der Islam in Deutschland – Historische, politische und rechtliche Überlegungen zu einem komplexen Thema, in: S. Muckel (Hrsg.), Festschrift für ­Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 553–578; C. Rogall-Grothe, Integration und Islam, in: ZAR 2009, S. 50–53. 3 Hiezu etwa BVerfGE 104, 337 ff.; BVerwGE 99, 1; 112, 227; 127, 183; T. Kuhl/P. Unruh, Tierschutz und Religionsfreiheit am Beispiel des Schächtens, in: DÖV 1991, S. 94–102; K.-H. Kästner, Das tierschutzrechtliche Verbot des Schächtens aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 2002, S.  491–495; J. Oebbecke, Islamisches Schlachten und Tierschutz, in: NVwZ 2002, S. 302–303; F. Wittreck, Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot. Anmerkungen aus Anlaß der Schächtentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat 42 (2003), S. 519–555. 4 Hierzu etwa BVerfGE 108, 282 ff.; E.-W. Böckenförde, „Kopftuchstreit“ auf dem richtigen Weg?, in: NJW 2001, S. 723–728; M. Betrams, Lehrerin mit Kopftuch? – Islamismus und

18

Einleitung

der Schul- oder Arbeitszeit, des Baus von Moscheen5, des Schutzes religiöser Feiertage6, des Rufs des Muezzins oder des Läutens von Kirchenglocken7. Während sich Wissenschaft und Praxis mit den genannten Konfliktfeldern bereits ausführlich auseinandergesetzt haben, beschäftigt sich die mediale Öffentlichkeit in jüngster Zeit mit einer Thematik, der in Deutschland bisher kaum juristische Aufmerksamkeit zuteil wurde. Es handelt sich um die Etablierung einer „Paralleljustiz“, die von Muslimen vor allem in familienrechtlichen Streitig­keiten in Anspruch genommen wird8. Auch in strafrechtlich relevanten Sachverhalten agieren sogenannte Friedensrichter, die zwischen Täter und Opfer vermitteln. Die deutsche Justiz bleibt dabei regelmäßig außen vor. Dieser jüngste „Religionskonflikt“ wurzelt, so lässt sich vermuten, jedenfalls auch in einem Religionsverständnis, nach dem der Gläubige sein gesamtes Leben nach seiner Religion auszurichten hat. Das klassische islamische Recht stellt umfassende Regelungen für das zwischenmenschliche Zusammenleben auf und appelliert an seine Anhänger, ihre

Menschenbild des Grundgesetzes, in: DVBl. 2003, S.  1225–1234; Marré, Islam (Fn.  2), S. 565 ff.; J. Oebbecke, Das „islamische Kopftuch“ als Symbol, in: S. Muckel (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 593–606; G. Czermak, Kopftuch, Neutralität und Ideologie  – Das Kopftuch-Urteil des BVerfG im ideologischen Streit, in: NVwZ 2004, S. 943–946. 5 Hierzu instruktiv T. Troidl, Auf Gott gebaut: Kapellen, Krypten und Moscheen. Zwischen (öffentlichem) Baurecht und Religionsfreiheit, in: BauR 2 (2012), S. 183–200 m. w. N. Zum Minarettverbot in der Schweiz eingehend R. Zimmermann, Zur Minarettverbotsinitiative in der Schweiz, in: ZaöRV 69 2009), S. 829–864. 6 Etwa zum Verbot musikalischer Darbietungen: BayVerfGH, NVwZ-RR 2008, 218; zur Vereinbarkeit von Art. 5 BayFeiertG mit der Veranstaltung einer „Heidenspaß-Party“ am Karfreitag: VGH München, Beschl. v. 5.4.2007 – 24 CS 07.872, BeckRS 2009, 32968; zur Zulässigkeit von Automatenvideotheken an Sonn- und Feiertagen: VGH München, NVwZ 2007, 1215; OLG Stuttgart, NVwZ-RR 2008, 170. 7 Zur Zulässigkeit des liturgischen Glockenläutens aus der Rechtsprechung etwa VGH Mannheim, DVBl. 2012, 1055; zum reinen „Zeitläuten“ im Wohngebiet LG Arnsberg NVwZRR 2008, 774; zum Ruf des Muezzins etwa P. T. Huber, 100 Jahre Nachbarschutz contra Glocken­geläut, in: JA 2005, S. 119–122 (121 f.) 8 Die Medien greifen die Thematik jüngst immer wieder auf, aus der Fülle der Berichte etwa M. Popp, Allahs Richter, in: Der Spiegel, 29.8.2011 (Nr.  35), S.  57–59; S.  Ateş, Im Schatten des deutschen Rechtsstaats entsteht islamische Paralleljustiz, in: Die ZEIT Nr.  49 (29.11.2011); V. Rieble, Scharia, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 17.3.2012, abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/gerade-recht-scharia-11687149.html (03.12.2015); S.  Ripperger, Paralleljustiz in Deutschland, in: Deutsche Welle Online, 24.4.2012, abrufbar­ unter: www.dw.de/paralleljustiz-in-deutschland/a-15907508 (03.12.2015); C. Akyol, Friedensrichter, die Bestrafung verhindern, in: ZEIT online, 2.5.2012, abrufbar unter: www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2012–05/friedensrichter-islam-justiz (03.12.2015); A. Rollmann, Im Namen der Ehre am Staat vorbei, in: Deutschland Radio, 5.7.2012, abrufbar unter: http://www. deutschlandfunk.de/im-namen-der-ehre-am-staat-vorbei.886.de.html?dram:article_id=211442 (03.12.2015); Y. Musharbash, Das Gesetz der Clans – Kriminelle Großfamilien aus dem Libanon regeln in Deutschland Konflikte auf ihre eigene Art. Wie kann der Rechtsstaat reagieren?, in: Die ZEIT online 12.07.2013, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2013/29/libanon-clanskriminalitaet-deutschland (03.12.2015).

Einleitung

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Konflikte möglichst nach religiösen Vorschriften vor religiösen Gerichten auszutragen und staatliche Gerichte zu meiden. In Großbritannien und Kanada ist religiöse, und vor allem islamische Gerichtsbarkeit, bereits seit langem Gegenstand einer breiten sowohl öffentlichen als auch akademischen Debatte. Ausgelöst wurde die Diskussion dort durch die Einführung von Schiedsgerichten, die nach islamischem Recht urteil(t)en. Die vorliegende Arbeit will sich jedoch im Kern nicht mit religiöser Schiedsgerichtsbarkeit, also staatlich anerkannter privater Gerichtsbarkeit beschäftigen9. Untersuchungsgegenstand soll vielmehr die informelle, religiös oder traditionell motivierte Streitschlichtung und Streitentscheidung sein, die bisweilen als „religiöse Paralleljustiz“ bezeichnet wird. Die Thematik wirft eine Reihe ungeklärter (verfassungs)rechtlich relevanter Fragen auf. Muss der Staat die Entstehung eines strukturellen Äquivalentes zur staatlichen Gerichtsbarkeit dulden? Ist Rechtspluralismus integrationspolitisch wünschenswert? Wo liegen die Grenzen privater Gerichtsbarkeit; wo diejenigen privater Rechtsberatung? Bestehen Eingriffsgrundlagen des Staates, um die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Privatrechtsordnung durchzusetzen? Wo liegt die Grenze zwischen zulässiger Schlichtung und strafbarer Vereitelung des staatlichen Strafanspruchs? Die vorliegende Arbeit versucht, diese und weitere Fragen anhand einer systematischen Prüfung möglicher Eingriffsgrundlagen zu beantworten.

9 Hierzu sei verwiesen auf die jüngst publizierte Arbeit von F. Hötte, Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit. Angloamerikanische Rechtspraxis, Perspektive für Deutschland, 2013.

Erster Teil

Eine Abgrenzung – Staatlich anerkannte religiöse Schiedsgerichte und informelle Paralleljustiz – Einführung und Begriffserklärung, Stand der Forschung Um den Begriff der religiösen Paralleljustiz rechtlich einzuordnen und zu bewerten, wird zunächst dargestellt, welche Sachverhalte hierunter zu verstehen sind und welche Erkenntnisse bisher über das Phänomen gewonnen werden konnten (A.). Sodann soll auf die sogenannten Sharia-Councils eingegangen werden, die sich als informelle islamische Gerichtsbarkeit institutionalisiert haben und dort schon seit langer Zeit öffentlich operieren (B.). Außerdem wird die „Scharia-­ Debatte“ Ontarios dargestellt, in der ab dem Jahre 2005 höchst kontrovers diskutiert wurde, ob islamische Schiedsgerichte weiterhin zugelassen werden sollten (C.). Schließlich werden im Kontext des Oberbegriffs Rechtspluralismus einige Gedanken zu einer religiös gespaltenen Zivilrechtsordnung sowie zu der Möglichkeit einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit gefasst (D.)

A. Informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung in Migrantenmilieus Vorangestellt werden muss, dass es weder in Deutschland noch in anderen Staaten fundierte empirische Erhebungen darüber gibt, ob, wie und in welchem Umfang informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung betrieben wird1. Es erscheint aber auch fraglich, ob ein Versuch, hierüber Daten zu erheben, überhaupt gelingen würde. Denn es ist ja gerade das erklärte Ziel informeller religiöser Streitschlichtung, diese abgeschirmt und ohne staatliche Einwirkung durchzuführen2. Zwar hat das Bundesministerium der Justiz Anfang des Jahres 2012 eine Stelle geschaffen, die sich der näheren Untersuchung der Thematik Parallel 1

So auch M.-C. Foblets, Community justice among immigrant family members in France and Belgium, in: R. Kuppe/R. Potz (Hrsg.), Law and Anthropology, International Yearbook for Legal Anthropology 7 (1994), S. 371–385 (377). 2 So auch der vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (StMJV) herausgegebene Bericht, ‚Paralleljustiz‘  – Abschlussbericht auf der Grundlage der ‚Stoffsammlung‘ vom 13. März 2012 und unter Einbeziehung der Ergebnisse des vom baye­ rischen Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz einberufenen Runden Tisches ‚Paralleljustitz‘ mit einer Anlage ‚Paralleljustiz‘ – Maßnahmen der Vertrauensbildung und zur Sensibilisierung der Justizpraxis (nicht veröffentlicht), S. 10.

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1. Teil: Eine Abgrenzung

justiz annehmen soll3. Auf eine schriftliche Anfrage des Abgeordneten Michael Frieser, welche allgemeinen Erkenntnisse die Bundesregierung über sogenannte Friedensrichter habe und welche empirischen Erkenntnisse sie darüber habe, in welchem Umfang diese im Umfeld von Strafverfahren in Erscheinung getreten seien, antwortete der Parlamentarische Staatssekretär Max Stadler am 19.1.2012 jedoch noch wie folgt: „Der Bundesregierung liegen keine empirischen Erkenntnisse seitens der Bundesländer oder sonstige belastbare empirische Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang sogenannte islamische Friedensrichter seit dem Jahr 2000 im Umfeld deutscher Strafverfahren in Erscheinung getreten sind. Dies gilt auch bezüglich etwaiger Personen, die als sogenannte Friedensrichter bzw. Streitschlichter bei Strafverfahren in Deutschland aufgetreten sind.“4

Dass es informelle Verfahren gibt, erscheint jedoch mittlerweile durch Aussagen milieunaher Personen belegt. In die Öffentlichkeit getreten ist insbesondere­ Hassan Allouche, der sich selbst als „Friedensrichter“ bezeichnet. Dabei konstatiert er jedoch, der Begriff „Friedensstifter“ würde seine Tätigkeit im Grunde treffender beschreiben: „Besser wäre wohl ‚Friedensstifter‘ – ich treffe ja keine Entscheidungen, ich mache keine Urteile, sondern ich sage den Leuten nur, dass sie sich vertragen sollen, und mache Vorschläge für die Lösung des Konflikts.“5 Die Tätigkeit als Friedensrichter sei eine Tradition seiner Familie. Schon sein Urgroßvater, Vater und auch sein Bruder seien Friedensrichter gewesen. Aus ihren Büchern, Testamenten und anderen Aufzeichnungen habe er die Tätigkeit als Friedensrichter erlernt6. Er schlichte Streitigkeiten aus allen Lebensbereichen. Seine Klientel stamme überwiegend aus arabischen Ländern und der Türkei7. Bemerkenswert ist, dass ­Allouche angibt, die Tätigkeit der Friedensrichter habe „mit Religion nichts zu tun“8. An anderer Stelle bemerkt er jedoch: „Wenn Streit zwischen zwei katholischen Familien ist, nutze ich das Argument, dass Jesus den Menschen gesagt hat, sie sollten Frieden halten. Genauso zitiere ich Mohammed, wenn zwei muslimische Familien streiten. Aber wenn die Kontrahenten verschiedene Religion haben, dann rede ich gar nicht von Religion.“9 Und später ergänzt er: „Ich diene nur Gott oder­ Allah, niemandem sonst.“10 Besonderen Wert legt Allouche darauf, dass es ihm in 3

So MdB Andrea Voßhoff auf dem durch die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag durchgeführten Justizkongress „Islamische Paralleljustiz in Deutschland? – Eine Herausforderung für den Rechtsstaat“ am 23.4.2012, O-Ton Mitschnitt abrufbar unter: http://veranstaltungen. cducsu.de/veranstaltungen/islamische-paralleljustiz-in-deutschland-eine-herausforderung-fuerden-rechtsstaat (03.12.2015). 4 Deutscher Bundestag, Schriftliche Fragen mit der in den Woche vom 16. Januar 2012 eingegangenen Antworten der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8405, S. 12 f. 5 A. Kaminski/F. Nolte, „Ich will nur Frieden, Ruhe und Sicherheit.“ Interview mit Hassan Allouche am 22.09.2011, in: Betrifft Justiz Nr. 108 (Dezember 2011), S. 173–177 (173). 6 Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 173. 7 Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 174. 8 Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 174. 9 Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 174. 10 Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 175.

A. Informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung in Migrantenmilieus 

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erster Linie darum gehe darauf hinzuwirken, dass die deutschen Gesetze respektiert und beachtet würden11. Inwiefern seine Ausführungen der Wahrheit entsprechen, ist schwer zu beurteilen. Dass die Schlichtungen patriarchalisch geprägt sind, ist jedoch ebenfalls aus dem Interview herauszuhören: „Wenn ich für eine Schlichtung z. B. nach Schweden oder Ägypten fahre, dann suche ich dort das Familienoberhaupt, den Herrscher der Familie auf.“12 Weiter bemerkt Allouche: „Ich werde z. B. im Bekanntenkreis der Beteiligten herumfragen, wie sich die Frau verhält, ob sie z. B. mit einem anderen Mann zum Tanzen und Trinken geht und ihre Kinder allein lässt. Dazu hat sie kein Recht. Da bekomme ich die Wahrheit heraus.“13 Die ersten ausführlichen Recherchen zu dem Phänomen der Paralleljustiz in Deutschland veröffentlichte Joachim Wagner im August 2011 unter dem Titel „Richter ohne Gesetz – Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat“14. Die – „im Grundton alarmistische Darstellung“15 – bildete in Deutschland den Anfangspunkt verstärkter medialer Aufmerksamkeit16, die jedoch keinesfalls das Ausmaß der „Scharia-Debatten“ in England und Großbritannien erreichte17. Die deutsche Wissenschaft hat sich der Thematik bisher kaum angenommen18. Zunehmende Beachtung finden die Erkenntnisse über eine „islamische Paralleljustiz“ jedoch auf politischer Ebene. Die Einrichtung der soeben genannten Stelle im Bundesjustizministerium zeigt, dass die Bundesregierung der Thematik eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beimisst. Am 23. April 2012 veranstaltete die CDU/CSU-Fraktion 11

Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 173 ff. Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 176. 13 Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 5), S. 176. 14 J. Wagner, Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 2011; 2. Aufl. 2012 mit der Ergänzung im Titel „Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat – Wie Imame in Deutschland die Scharia anwenden“. Hierzu die kritische Rezension von M. Brocker, in: ZfP 58 (2011), S. 474–476, sowie die Besprechungen von A. Kaminski, Islamische Paralleljustiz? Innerkultureller Interessenausgleich? Patriarchalischer Druck?, in: Betrifft Justiz 2011, S. 170–172 und B. v. Heintschel-Heinegg, „Richter ohne Gesetz“: Eine uns in die verborgene Welt islamischer Paralleljustiz führende Justizrecherche, in: JA (11) 2011, Editorial. 15 F. Wittreck, Paralleljustiz in ethnischen Minderheiten?  – Die bundesdeutsche Perspektive  –, in: A. Deixler-Hübner/M. Schauer (Hrsg.), Migration, Familie und Vermögen, 2014, S. 91–119 (92). 16 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 8. 17 Hierzu sogleich im Ersten Teil Kap. C. 18 Soweit ersichtlich aus rechtswissenschaftlicher Sicht bisher nur Wittreck, Paralleljustiz (Fn. 15) und ders. mit dem Vortrag „Religiöse Paralleljustiz im Rechtsstaat?“ im Rahmen der Ringvorlesung „Religiöse Vielfalt. Eine Herausforderung für Politik, Religion und Gesellschaft“, die das Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ im Wintersemester 2012/2013 in Kooperation mit dem „Centrum für Religion und Moderne“ veranstaltet hat. Ein Mitschnitt des Vortrags ist abrufbar unter: www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/audio/2012/Audio_ Ringvorlesung_Religioese_Vielfalt_Vortrag_Wittreck.html (03.12.2015); eine politikphilosophische Bewertung nimmt vor M. Brocker, Scharia-Gerichte in westlichen Demokratien – Eine Betrachtung aus Sicht der Politischen Philosophie, in: ZfP Nr. 3/2012 (September), S. 314–331; außerdem noch A. Funke, Parallelwelten des Rechts? Die Anerkennung des Rechts und der Gerichtsbarkeit von Religionsgemeinschaften durch den Staat, in: A. Bettenworth/A. Funke/ M. Lecke/K. v. Stosch (Hrsg.), Herausforderung Islam, 2011, S. 42–72 (46). 12

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1. Teil: Eine Abgrenzung

des Deutschen Bundestags einen Justizkongress unter dem Arbeitstitel „Islamische Paralleljustiz in Deutschland? – Eine Herausforderung für den Rechtsstaat“19. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz erarbeitete im Rahmen eines „Runden Tisches Paralleljustiz“ bereits konkrete Maßnahmen zur Vertrauensbildung und zur Sensibilisierung der Justizpraxis, um informellen Verfahren entgegenzuwirken20. Ismail Tipi, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion des Hessischen Landtags, wies jüngst darauf hin, man habe sich in den Koalitionsverhandlungen in einem Konsenspapier für die Bekämpfung islamischer Paralleljustiz ausgesprochen21. Auch der Polizei ist die Erscheinung der Paralleljustiz nicht unbekannt. So referierte Peter-Michael Haeberer, ehemaliger Leiter des Landeskriminalamtes Berlin, im Rahmen der 70. Sitzung des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung am 6. Dezember 2010 über religiöse Paralleljustiz22. Um die Thematik aus millieunaher Perspektive zu beleuchten, hat die Verfasserin die Rechtsanwältin Nazan Simsek befragt, die in ihrer täglichen Arbeit als Fachanwältin für Familienrecht regelmäßig auf Paralleljustiz trifft und sich bereits seit längerer Zeit mit der Thematik befasst23. Nach Auswertung der genannten Quellen werden für die vorliegende Untersuchung folgende Ausgangsthesen zugrunde gelegt: –– Unter Paralleljustiz bzw. informellen religiösen Verfahren sind Strukturen zu verstehen, die für sich in Anspruch nehmen, parallel zu oder sogar über den staatlichen Instanzen informell Rechtsstreitigkeiten beizulegen. Die Beteiligten meiden die staatlichen Gerichte und suchen stattdessen Imame oder andere Autoritäten der Gemeinde auf, um diese über ihre Streitigkeiten entscheiden zu lassen. Die Entscheidungen akzeptieren sie als für sich bindend24. –– Die Beteiligten agieren dabei bewusst im Verborgenen25. –– Die Beteiligten orientieren sich bei der Beilegung der Streitigkeiten nicht ausschließlich am islamischen Recht, sondern auch an allgemeinen Rechts- und­ 19

Justizkongress der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag „Islamische Paralleljustiz in Deutschland? – Eine Herausforderung für den Rechtsstaat“ am 23.4.2012, Informationen und Tonmitschnitte sind abrufbar unter http://veranstaltungen.cducsu.de/veranstaltungen/islamischeparalleljustiz-in-deutschland-eine-herausforderung-fuer-den-rechtsstaat (03.12.2015). 20 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2). 21 Siehe hierzu die Meldung „Durchbruch im Kampf gegen Paralleljustiz und Scharia?“ auf der Internetpräsenz des Abgeordneten Ismail Tipi, abrufbar unter: http://www.ismail-tipi.de/ inhalte/2/aktuelles/45326/durchbruch-im-kampf-gegen-paralleljustiz-und-scharia-/index.html (03.12.2015). 22 Rede von P.-M. Haeber, ehem. Leiter des Landeskriminalamtes Berlin im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses am 6.12.2011, abrufbar unter: www.parlament-berlin.de/ados/ 16/InnSichO/protokoll/iso16-070-ip.pdf (03.12.2015). 23 Interview mit Nazan Simsek vom 03.12.2013. Eine Textfassung des Interviews ist der Arbeit als Anhang I beigefügt. 24 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. II. 25 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. II.

A. Informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung in Migrantenmilieus 

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Moralvorstellungen des jeweiligen Kulturkreises. Das Phänomen Paralleljustiz scheint kein islamspezifisches, sondern ein kulturspezifisches Problem zu sein, wobei das islamische Recht, insbesondere dessen grundlegende Wertentscheidungen, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen können26. –– Es ist zwischen informellen Verfahren im Strafrecht und im Zivilrecht zu unterscheiden, die unterschiedlichen Mustern folgen27. –– Im zivilrechtlichen Bereich wird informell besonders häufig über familienrechtliche Streitigkeiten entschieden. Hier besteht vor allem die Gefahr, dass Frauen bei der Anwendung islamischen Rechts oder patriarchalisch geprägter Rechts- und Moralvorstellungen diskriminiert werden28. Bezogen auf Deutschland existieren diesbezüglich sehr wenige Erkenntnisse und nur vereinzelte Aussagen Betroffener. An dieser Stelle soll jedoch zum einen auf das Interview mit Rechtsanwältin Simsek hingewiesen werden, die berrichtet, dass sie immer wieder mit familienrechtlichen religiösen Schlichtungen konfrontiert wird, in denen Frauen systematisch benachteiligt werden29. Viele muslimische Frauen seien einem sozialen Druck durch ihre Familie oder die Gemeinde ausgesetzt, sich bei familienrechtlichen Problemen nicht an staatliche Instanzen, sondern an religiöse oder familiäre Autoritäten zu wenden30. An dieser Stelle sei auch auf die schon 1999 erschienene von Martina Schmied durchgeführte Studie zu informeller religiöser Streitschlichtung unter Muslimen in Österreich hingewiesen31. Schmied führte umfangreiche Befragungen in den betroffenen Millieus durch und gelangte zu der Erkenntnis, dass Muslime sich im Raum Wien informelle Streitlösungsmechanismen aufgebaut haben und diese vor allem bei­ familienrechtlichen Konflikten in Anspruch genommen werden. Einer ihrer Interviewpartner, ein muslimischer Vorbeter, betonte, dass für ihn die staatliche Eheschließung keine besondere Bedeutung habe, da eine Imam-Ehe (imām nikāh) die einzig anzuerkennende Ehe sei. Er regele bei Trennungen sämtliche nachehelichen Ansprüche. So würden im Scheidungsfall schriftliche Unterhaltsverträge geschlossen, in denen sich Ehemänner vor einem Zeugen und ihm zu einer monatlichen Zahlung von Alimente verpflichteten32. Auch der Vorsitzende der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich führte laut Schmied aus,

26 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. II; Interview mit Nazan Simsek (Fn. 23), S.  2; zur Bedeutung der Tradition im Rahmen informeller Streitschlichtung in der ­Region Hebron im Westjordanland: U. Qubaja, Konfliktregulierung in den besetzten palästinensischen Gebieten: Empirische Betrachtung des Ṣulḥ-Systems in der Region Hebron, 2012, passim, insbes. S. 28, 30, 46. 27 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. II. 28 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. V. 29 Interview mit Nazan Simsek (Fn. 23), S. 1. 30 Interview mit Nazan Simsek (Fn. 23), S. 1. 31 M. Schmied, Familienkonflikte zwischen Scharia und Bürgerlichem Recht. Konflikt­ lösungsmodell im Vorfeld der Justiz am Beispiel Österreichs, 1999. 32 Schmied, Familienkonflikte (Fn. 31), S. 164.

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1. Teil: Eine Abgrenzung

dass familiäre Streitigkeiten in der Regel von den Imamen der Gemeinschaft geschlichtet werden. Der Schritt zu den staatlichen Gerichten müsse nach Möglichkeit vermieden werden33. –– Für Schlichtungen strafrechtlich relevanter Konflikte ergibt sich folgendes Bild: Nachdem eine Straftat begangen wird, nimmt üblicherweise der Täter, die Familie des Täters oder direkt ein sogenannter Friedensrichter Kontakt zu dem Opfer oder dessen Familie auf und bittet darum, von einer Anzeige abzusehen oder eine schon gestellte Anzeige zurückzunehmen. Als Friedensrichter fungieren Clanälteste, Imame oder auch Personen, die in keinerlei Verbindung zu den Beteiligten stehen, sich aber auf Schlichtungen spezialisiert haben und daher im Milieu bekannt sind. Es finden Vermittlungen zwischen Täter und Opfer statt, die meistens darauf hinauslaufen, dass der Täter dem Opfer einen Geldbetrag als Wiedergutmachung zahlt und das Opfer dem Täter im Gegenzug die Tat vergibt und nicht mehr zur Anzeige bringt. Die durch die Friedensrichter geführten Verhandlungen führen zu einer erheblichen Behinderung der Justizpraxis, da Straftaten oft ohne die Aussage des Opfers nicht aufgeklärt werden können34. –– In den entsprechenden Milieus kann ein faktischer Zwang entstehen, das staatliche Justizsystem zu meiden und stattdessen Streitigkeiten durch in der Familie oder der Gemeinde anerkannte Autoritäten entscheiden zu lassen. Hier können religiöse Erwägungen, ein stark ausgeprägtes Ehrgefühl, aber auch schlicht die Angst, die Anbindung an die Gemeinde zu verlieren, eine Rolle spielen. Zudem können Informations- und Vertrauensdefizite zur Meidung des staatlichen Systems führen. Aus diesen Gründen werden die Entscheidungen informeller Streitschlichtung und -entscheidung grundsätzlich akzeptiert und das staatliche Justizsystem wird auch im Nachhinein nicht in Anspruch genommen35. Ausgehend von diesen Überlegungen soll untersucht werden, ob es migrationspolitisch sinnvoll ist, gegen religiöse Paralleljustiz vorzugehen. Zudem soll heraus­ gearbeitet werden, welche konkreten Möglichkeiten dem Staat für ein Vorgehen zur Verfügung stehen. Hierfür ist im Folgenden zunächst auf die Erkenntnisse aus Großbritannien einzugehen. Dort hat sich islamische Streitschlichtung und -entscheidung bereits in teilweise öffentlich agierenden Schariagerichten institutionalisiert. Auch in der Provinz Ontario in Kanada gab es im Jahre 2003 Bestrebungen eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit zu etablieren. Die Erkenntnisse, die sich in Großbritannien und Ontario im Zuge der sogenannten Scharia-Debatten herauskristalisiert haben, sollen im Folgenden dargestellt werden.

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Schmied, Familienkonflikte (Fn. 31), S. 168. StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. II, V. 35 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 2), S. II. 34

B. Informelle und formelle Scharia-Gerichte in Großbritannien 

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B. Informelle und formelle Scharia-Gerichte in Großbritannien In Großbritannien ist die Entwicklung informell agierender religiöser Streitschlichtung und -entscheidung bereits seit einiger Zeit bekannt. Schon vor einigen Jahren gaben englische Wissenschaftler an, dass Muslime oft das staatliche Rechtssystem meiden und community leader36 einsetzen würden, die ihre Streitigkeiten verhandeln und entscheiden sollen. Muslimischen Minderheiten sei es möglich geworden, aus ihren religiösen Zentren heraus eine eigenständige rechtliche Struktur aufzubauen. Die Entscheidungen der informellen „Gerichte“ würden grundsätzlich beachtet und durch eine Mischung aus Sanktionen und Ächtung durch die Gemeinschaft durchgesetzt37.

I. Öffentliche Schattengerichte – Die Sharia-Councils in Großbritannien Im Unterschied zu der in Deutschland zu beobachtenden Tendenz, öffentliche Aufmerksamkeit tunlichst zu vermeiden, haben sich in Großbritannien Organisationen gebildet, die am islamischen Recht ausgerichtete Verfahren in großem Umfang betreiben und diese auch öffentlich bewerben. Samia Bano untersuchte in ihrer Dissertation den Aufbau und die Funktionsweise solcher sogenannter Sharia-­Councils38. Konkret beschäftigte sie sich mit den Institutionen „­ Muslim Law ­Shariah Council“ (MLSC), „B’ham Muslim Family Support Service and Shariah Council“ (BSC), „Islamic Shari’a Council“ (ISC) sowie dem „Shariah Court of the UK“ (SCU). Die größte Organisation dieser Art ist wohl das ISC, das laut eigener Angaben bisher über 7000 Fälle verhandelt hat39. Nach Banos Untersuchungen befassen sich die Sharia-Councils im Wesentlichen mit Mediation und Streitbeilegung, dem Erlass von Scheidungszertifikaten und dem Erlass von­ Fatawa, also Expertenmeinungen zu einem bestimmten rechtlichen Thema. Inhaltlich handelt es sich überwiegend um Familienrechtsstreitigkeiten sowie Fragen betreffend islamischer Bräuche und Sitten40. Diese Angaben stimmen mit denen 36 I. Yilmaz, Muslim Alternative Dispute Resolution and Neo-Ijtihad in England, in: Turkish Journal of International Relations (2) 2003, S. 117–140. 37 R. Jones/W. Gnanapala, Ethnic minorities in English Law, 2000, S. 103 f. 38 S. Bano, Complexity, Difference and „Muslim Personal Law“: Rethinking the Relationship between Sharia Councils and South Asian Muslim Women in Britain, PhD-Thesis, September 2004, abrufbar unter: wrap.warwick.ac.uk/1205/1/WRAP_THESIS_Bano_2004.pdf (03.12.2015); weiterentwickelt und ergänzt im Jahre 2012: dies., Muslim Women and Shari’ah Councils: Transcending the Boundaries of Community and Law, 2012. 39 Diese Angabe ist auf der Internetpräsenz unter dem Punkt Statistics zu finden, abrufbar unter: http://www.islamic-sharia.org/4.html (03.12.2015). 40 Bano, Complexity (Fn.  38), S.  115; dies., In Pursuit of Religious and Legal Diversity: A Response to the Archbishop of Canterbury and the ‚Sharia Debate‘ in Britain, in: Ecclesiastical Law Journal, 2008, S. 283–309 (295).

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1. Teil: Eine Abgrenzung

Zaki ­Badawis überein. Badawi war als Direktor des Islamic Cultural Centre sowie als Chef Imam der London Central Mosque in Regent’s Park an der Gründung des ISC im Jahre 1978 beteiligt. Er gibt ebenfalls an, dass hauptsächlich Ehe­scheidungen verhandelt werden. Hinzu kommen nach seinen Angaben viele erbrechtliche Streitigkeiten41. Um zu verdeutlichen, warum Muslime die Sharia-Councils vor allem immer wieder in Anspruch nehmen, um religiöse Scheidungen zu erwirken, muss das islamische Eherecht erläutert werden. Eine ausführliche Darstellung des Eherechts erfolgt im Zweiten Teil in Kap. 3 dieser Arbeit. Bereits an dieser Stelle soll jedoch erwähnt werden, dass dem Mann im Islam deutlich mehr Möglichkeiten offen ­stehen, eine nicht mehr gewollte Ehe zu beenden, als der Frau. Die Frau kann im Gegensatz zum Mann die Ehe nicht selbstständig beenden. Sie benötigt entweder das Einverständnis des Mannes oder die Erlaubnis eines Gerichts.  In säkularen Staaten entstehen aufgrund dieser Hürde für die Frauen oft sogenannte limping marriages. In diesen Fällen ist die Ehe zivilrechtlich schon durch ein staatliches Gericht geschieden, der Mann verweigert aber seine Zustimmung, die Ehe auch religiös zu scheiden. Von der muslimischen Gemeinde wird eine zivilrechtliche Scheidung jedoch oft nicht anerkannt. Das führt dazu, dass eine Wieder­ heirat als Ehebruch angesehen wird und daraus entstehende Kinder als uneheliche Abkömmlinge gelten. Da der Mann nach islamischem Recht bis zu vier Frauen heiraten darf, kann er auch ohne die islamische Scheidung wieder heiraten. Die Frau hat hingegen, da sie noch als verheiratet gilt, praktisch keine Möglichkeit, in der muslimischen Gemeinde erneut zu heiraten42. Um dem Dilemma der muslimischen Frauen entgegenzuwirken, hat Großbritannien im Jahre 2002 den Divorce (Religious Marriages) Act erlassen43. Danach kann das staatliche Gericht vor einer zivilen Scheidung auf Antrag einer Partei einen Nachweis über die vorherige religiöse Auflösung der Ehe verlangen. Die Frauen wenden sich daher an die ShariaCouncils, um religiöse Scheidungszertifikate zu erlangen. In dieser Hinsicht üben die Sharia-Councils also für viele muslimische Frauen eine bedeutende Funktion aus, was die folgende, nach Bano zitierte Aussage einer Muslima, die ein ShariaCouncil in Anspruch genommen hat, exemplarisch zeigt:

41 Z. Badawi, Muslim Justice in a Secular State, in: M. King (Hrsg.), God’s Law versus State Law: The Construction of an Islamic Identity in Western Europe, 1995, S. 73–80 (77 f.). 42 Zu dieser Problematik insbesondere J. Brandon/S.  Hafez, Crimes of the Community.­ Honour-based violence in the UK, 2008, S.  98 ff. Die Autoren geben Aussagen betroffener Frauen wieder und konstatieren: „In many cases, the woman’s family and community will not accept the validity of a civil divorce and will insist on an Islamic divorce. Until this is obtained, the woman risks being socially ostracised by her family, neighbours and religious community.“ Ferner Yilmaz, Dispute Resolution (Fn. 36), S. 130 ff. sowie J. MacFarlane, Faith-Based Dispute Resolution, in: R. Murphy/P. A. Mollinari (Hrsg.), Doing justice: dispute resolution in the courts and beyond, 2009, S. 287–302 (291 f.). 43 Divorce (Religious Marriages) Act 2002 c. 27, abrufbar unter: http://www.legislation.gov. uk/ukpga/2002/27/pdfs/ukpga_20020027_en.pdf (03.12.2015).

B. Informelle und formelle Scharia-Gerichte in Großbritannien 

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„They wanted me to meet with my husband. In fact they said that I couldn’t have a divorce unless we both met with the imam. But it wasn’t as bad as I thought. My husband took it very seriously […] what the imam was saying. I think he needed a religious person to explain to him where he was going wrong and why I was leaving him.“

Bano kommt in ihrer Bewertung der Sharia-Councils dennoch zu einem differenzierten Ergebnis44. Denn die Sharia-Councils versuchen, wie es nach dem Islam vorgeschrieben ist, zunächst das Paar wieder zu versöhnen. Die betroffenen Frauen müssen daher oft ein langwieriges Verfahren durchlaufen, das nach Banos Recherchen üblicherweise folgendermaßen abläuft: Die Ehefrau wendet sich an das Sharia-­Council, um eine islamische Scheidung zu beantragen. Hierfür muss sie die Gründe des Scheidungswunsches detailliert darlegen. Angelehnt an das islamische Recht sind die Scheidungsgründe, die von den Sharia-Councils akzeptiert werden, genau festgeschrieben. Als Beispiel soll hier das SCUK dienen, nach dessen Satzung ein Scheidungszertifikat erlassen werden kann, wenn –– der Ehemann der Ehefrau „direkte“ Leiden zufügt, beispielsweise körperliche Schäden, Wunden oder blaue Flecken –– der Ehemann der Ehefrau „indirekte“ Leiden zufügt, beispielsweise sie nicht mit Essen, Wohnung und Kleidung versorgt –– der Ehemann den Kindern Leid antut –– der Ehemann homosexuell oder alkoholabhängig wird. Nach der Satzung des SCUK kann außerdem eine Scheidung beantragt werden, wenn die Frau ihren Ehemann „hasst und ihn nicht mehr ertragen kann“. Wird die Ehe aber aus diesem Grund geschieden, so verliert die Frau jegliche Unterhaltsansprüche45. Hat die Ehefrau die Gründe vorgetragen, wird dem Ehemann eine Mitteilung zugestellt, in der er dazu aufgefordert wird, sich zu den Gründen zu äußern. Tut er dies nicht, werden ihm bis zu zwei weitere Mitteilungen zugesandt. Weigert sich der Ehemann Stellung zu nehmen, kann dies den Scheidungsprozess erheblich verzögern. Reagiert der Ehemann weiterhin nicht, wird – sofern dem Sharia-Council die von der Frau vorgetragenen Gründe ausreichen – gegebenenfalls ein Scheidungszertifikat erlassen. Reagiert der Ehemann, so versucht das Sharia-Council in mehreren Sitzungen, die auch zur Schlichtung genutzt werden, den Vorwürfen der Frau nachzugehen und entscheidet am Ende, ob es das Scheidungszertifikat erlässt. Die Verfahren erstrecken sich nicht selten über ein halbes Jahr. Bano kritisiert an den Verfahren vor allem, dass sich die Frau oft in einer schwächeren Position befinde, da sie das Scheidungszertifikat dringend brau-

44

Bano, Complexity (Fn. 38), S. 278; dies., Women (Fn. 38), S. 254 f., 274 ff. Zum Ganzen Bano, Complexity (Fn.  38), S.  144. Die durch die verschiedenen Institutionen anerkannten Gründe variieren teilweise je nach Rechtsauffassung, gleichen sich aber in weiten Teilen. Zu den nach der Scharia anerkannten Scheidungsgründen siehe im Detail unten Zweiter Teil A. III. 8. 45

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1. Teil: Eine Abgrenzung

che. Nicht selten würden die Schlichtungssitzungen dazu genutzt, Unterhalt und Sorgerechtsfragen zu verhandeln, in denen die Frauen erhebliche Zugeständnisse machen würden, um das Scheidungszertifikat schließlich zu erhalten46. Bemerkenswert ist letztlich auch, dass – jedenfalls beim ISC – keine Urteilsgründe er­ lassen werden und das Gericht zuvor erlassene Urteile keinesfalls als bindend oder auch nur als Maßstab für folgende Urteile ansieht47. Dementsprechend negativ bewerten viele Frauen die Verfahren der Sharia-Councils. Auch hierzu exemplarisch zwei nach Bano zitierte Aussagen: „It was weird but it felt as though I was the one being told off and when I tried to put across what I thought was wrong […] it’s as though he (the imam) didn’t want to hear it.“ „I told him [the imam] that I left him because he was violent but he started saying things like ‚Oh, how violent was that? Because in Islam a man is allowed to beat his wife!‘ I mean, I was so shocked. He said it depends on whether he really hurt me! I was really shocked because I thought he was there to understand but he was trying to make me admit that somehow I had done wrong.“48

Darüber, ob informelle Verfahren auch in Deutschland nach diesem Muster ­abgehalten werden, gibt es bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Jedenfalls sind sie noch nicht wie in Großbritannien von muslimischen Organisationen institutionalisiert worden. Dass Imame oder andere muslimische Gelehrte religiöse Scheidungen auf ähnliche Weise, jedoch in einem verstärkt informellen Rahmen vornehmen, erscheint angesichts der großen Bedeutung, die die religiöse Scheidung für Muslime besitzt, jedoch wahrscheinlich. Der Rechtsanwältin Simsek sind religiöse Scheidungszertifikate in ihrer täglichen Arbeit bereits begegnet49.

46 S. Bano, Islamic Family Arbitration, Justice and Human Rights in Britain, in: Law, Social Justice and Global Development, Issue 1 (2007), S. 1–26 (20); von ähnlichen persönlichen Erfahrungen berichtete die Frauenrechtlerin Gina Khan auf der Auftaktveranstaltung der One Law for All-Kampagne im House of Lords am 10. März 2008, eine Aufzeichnung der Rede ist im Internet abrufbar unter http://www.youtube.com/watch?v=J6mvv2ZCTKs&feature= channel_page&hl=de&gl=DE (03.12.2015); einen Fall in Kanada, in dem die Ehefrau sämtlich Unterhalts- und Sorgerechtsklagen zurückzog und ihrem zivilrechtlich geschiedenen Mann eine relativ hohe Geldsumme zahlte, um eine religiöse Scheidung von diesem zu erlangen schildert L. E. Weinrib, Ontario’s Sharia Debate, in: R. Moon (Hrsg.), Law and Religious Pluralism in Canada, 2008, S. 239–263 (254). 47 So G. Douglas/N. Doe/S. Gilliat-Ray/R. Sandberg/A. Khan, Social Cohesion and Civil Law: Marriage, Divorce and Religious Courts. Commentary. Report of a Research Study funded by the AHRC, Juni 2011, S. 36. 48 Bano, Legal Diversity (Fn. 40), S. 202 f. 49 Interview mit Nazan Simsek (Fn. 23), S. 1.

B. Informelle und formelle Scharia-Gerichte in Großbritannien 

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II. Muslim Arbitration Tribunal – islamisches Schiedsgericht? Neben den Sharia-Councils existiert in Großbritannien seit dem Jahre 2007 das Muslim Arbitration Tribunal (MAT), das nach eigenen Angaben Streitigkeiten unter Zugrundelegung des islamischen Rechts in staatlich anerkannten Schiedsverfahren verhandelt. Es verfügt über Sitze in London, Birmingham, Bradford, Nuneaton und Manchester50. Der in England und Wales geltende Arbitration Act 199651 erlaubt in Section 46 den Parteien der Entscheidung des Gerichts „other considerations“ zugrunde zu legen, was die Vereinbarung religiösen Rechts in einem Schiedsverfahren grundsätzlich ermöglicht52. Das MAT stellt auf seiner Internetpräsenz eine Verfahrensordnung bereit, die detaillierte Regelungen bezüglich des Verfahrens enthält und gewöhnlichen Schiedsinstitutionen gleicht, so dass durch das Gericht erlassene Schiedssprüche grundsätzlich vollstreckbar sein müssten. Bemerkenswert ist vor allem, dass neben islamischem Recht auch das staatliche Recht beachtet werden soll („In arriving at its decision, the Tribunal shall take into account the Laws of England and Wales and the recognized Schools of Islamic Sacred Law“, § 8 Abs. 1 Procedural Rules MAT). Das Schiedsgericht besteht außerdem immer zumindest aus einem islamischen Rechtsgelehrten sowie einem in England und Wales zugelassenen Rechtsanwalt („The Tribunal shall consist of as a minimum a scholar of Islamic Sacred Law, a Solicitor or Barrister of England and Wales“, § 10 Abs. 1 Procedural Rules MAT). Auch müssen sämtliche Dokumente gemäß § 15 Abs. 1 Procedural Rules MAT in englischer Sprache eingereicht werden. Schließlich muss das Tribunal den Parteien gemäß § 8 Abs. 3 Procedural Rules MAT die Urteilsgründe schriftlich zustellen53. Das MAT spricht sich explizit gegen Geschlechterdiskriminierung und für eine Vereinbarung von islamischem und staatlichem Recht aus: „We understand that some people will be concerned about taking a case to MAT thinking it may be just a group of Imams sitting in a mosque. Will they be biased against women? Will they understand young people?  Will they understand contemporary problems in modern Britain? The short answer is we will have young qualified people, male and female, sitting 50 Informationen hierzu sind abrufbar auf der Internetpräsenz des MAT: http://www.ma tribunal.com/ (03.12.2015). 51 Der Arbitration Act 1996 c. 23 ist abrufbar unter: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/ 1996/23/contents (03.12.2015). 52 R. Sandberg, Law and Religion, 2011, S.  185 f.; Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  9), S. 175 f. 53 Das MAT betont, dass es sich vor allem durch sein geregeltes Verfahren von den informellen Scharia-Councils unterscheidet, siehe hierzu The Interfaith Legal Advisors Network (Hrsg.), Muslim Arbitration Tribunal, Paper Third Meeting centre for Law and Religion, Cardiff University, 19.  Januar 2009, abrufbar unter: http://www.law.cf.ac.uk/clr/networks/ilan6.html (03.12.2015). Zum Verfahrensablauf des MAT siehe ferner M. Rafeeq, Rethinking Islamic Law Arbitration Tribunals: Are they compatible with traditional American notions of justice?, in: Wisconsin International Law Journal (28) 2010, S. 108–139 (124 ff.).

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1. Teil: Eine Abgrenzung as members of the Arbitration Tribunal. They are not scholars or lawyers from abroad but from here. In order to promote harmony, we intend to provide female lawyers to sit as the legally qualified member as often as possible. There will be no race or sex discrimination in this organisation! We believe in the co-existence of both English law and personal religious laws. We believe that the law of the land in which we live is binding upon each citizen, and we are not attempting to impose Shariah upon anyone. Shariah does however have its place in this society where it is our personal and religious law. What a great achievement it will be if we can produce a result to the satisfaction of both English and Islamic law.“54

Inwieweit sich das MAT tatsächlich an diese Grundsätze hält, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Vor allem in dem von Denis McEoin verfassten und durch das Civitas Institut herausgegebenen Bericht Sharia Law, or ‚One Law for All‘55 wird die Auffassung vertreten, es fände keine Mediation statt, sondern Frauen würden unter Druck regelmäßig für sie nachteilige Vereinbarungen schließen. Belege kann der Bericht hierfür aber ebenfalls nicht nennen. In dem für Muslime wichtigen Bereich des Familienrechts wird das MAT ohnehin kaum vollstreckbare Schiedssprüche erlassen können. Denn nach englischem Recht sind viele familienrechtliche Streitigkeiten schon gar nicht schiedsfähig. Zwar ist die objektive Schiedsfähigkeit nicht gesetzlich geregelt, und es existieren nur wenige Urteile diesbezüglich56. Nicht schiedsfähig sind aber jedenfalls Streitigkeiten, die das öffentliche Interesse betreffen („public interest“). Hierzu gehören Streitigkeiten, die das Kindeswohl berühren, also beispielsweise Fragen bezüglich des Sorgerechts und des Kindesunterhalts sowie Personenstandssachen57. Auch scheinen sich die Gerichte das Letztentscheidungsrecht für Scheidungsfolgefragen vorzubehalten58. Somit ist praktisch keine religiöse Schiedsgerichts­ barkeit im familienrechtlichen Bereich möglich. Nicht unterschätzt werden darf allerdings die Möglichkeit, außergerichtlich Vereinbarungen zu treffen und diese im gerichtlichen Verfahren als Vergleich einzuführen. Hier besteht für das MAT und die Sharia-Councils ein großer Spielraum. Auf diese Weise können die Institutionen faktisch Fälle nach islamischem Recht verhandeln oder gar entscheiden. Oft werden die Gerichte die Vereinbarungen nicht beanstanden, solange sie nicht offensichtlich unbillig sind59. 54 Erklärung des MAT, „Values and Equalities of MAT“, am 03.12.2015 abgerufen unter: www.matribunal.com/values.html (nicht mehr abrufbar). 55 D. MacEoin, Sharia Law or „One Law For All?“, Bericht für das Civitas Institute for the Study of Civil Society London, 2009, abrufbar unter: /www.civitas.org.uk/pdf/ShariaLawOr OneLawForAll.pdf (03.12.2015). 56 J. Rivers, The Law of Organized Religions. Between Establishment and Secularism, 2010, S. 102. 57 Rivers, Law (Fn. 56), S. 102; Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 177. 58 Mit Verweis auf zwei gerichtliche Entscheidungen Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 175; mit Verweis auf den Matrimonial Causes Act 1973 so auch Douglas/Doe/Gilliat-Ray/ Sandberg/Khan, Social Cohesion (Fn. 47), S. 47. 59 Rivers, Law (Fn. 56), S. 102 („So long as it [die Vereinbarung, Anm. d. Verfasserin] is not patently unreasonable, the Court is likely to ‚rubber-stamp it‘“).

B. Informelle und formelle Scharia-Gerichte in Großbritannien 

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III. Die umstrittene Rede des Erzbischofs von Canterbury Die Debatte um islamisches Recht und islamische Gerichtsbarkeit wurde im­ Februar 2008 in Großbritannien noch einmal verstärkt. Der 104. Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, hielt vor dem Royal Court of Justice einen Vortrag zum Thema „Civil and Religious Law in England: A Religious Perspective“60. In diesem Vortrag referierte Williams darüber, welches Maß an Freiheit und Anerkennung der säkulare Rechtsstaat religiösen Minderheiten und ihren Gesetzen entgegenbringen sollte. Obwohl der Erzbischof in seiner Rede betonte, dass es keine parallele Gerichtsbarkeit in Großbritannien geben dürfe, die Individualrechte einschränke61, löste sein Vortrag geradezu eine „Medienschwemme“ aus, die an Hysterie kaum zu überbieten war62. Auch in der Wissenschaft folgte eine fruchtbare Debatte, die aber eher sozialpolitisch als rechtlich gefärbt war63. Hinzu kamen letztlich diverse „Studien“ gemeinnütziger Organisationen, denen allerdings teilweise zu Recht mangelnde Differenziertheit vorgeworfen wird64. So wird, vor allem in dem oben schon genannten, durch das Civitas Institut herausgegebenen Bericht Sharia law or ‚One Law for All‘ nicht deutlich zwischen religiöser Schiedsgerichtsbarkeit auf der einen Seite und informellen religiösen Gerichten auf der anderen Seite unterschieden, obwohl die Differenzierung im Vorwort65 sogar noch angemahnt wird66. Durch die Darstellung von frauendiskriminierenden online-fatawa wird außerdem der Eindruck vermittelt, diese seien in Groß­ britannien rechtlich durchsetzbar67. Ähnlich ist die großangelegte Kampagne „One Law for All“ zu beurteilen, die im Jahre 2008 ins Leben gerufen wurde. Ihr Ziel 60 R. Williams, Civil and Religious Law in England: A Religious Perspective, in: Ecclesias­ tical Law Journal 10 (2008), S. 262–282. 61 Williams, Law (Fn. 60), S. 268. 62 Nur einige Beispiele aus der Fülle der Pressereaktionen: R. Butt, Archbishop backs Sharia Law for British Muslims, in: The Guardian, 7.2.2008, abrufbar unter: www.guardian.co.uk/ uk/2008/feb/07/religion.world (03.12.2015); J. Petre, Archbishop William sparks sharia Law row, in: Telegraph, 7.2.2008, abrufbar unter: www.telegraph.co.uk/news/uknews/1577928/ Archbishop-Williams-sparks-Sharia-law-row.html (03.12.2015); C. Hitchens, To Hell with the Archbishop of Canterbury: Rowan Wiliams dangerous claptrap about plural jurisdiction, in: Slate Online Magazine, 11.2.2008, abrufbar unter: www.slate.com/articles/news_and_­politics/ fighting_words/2008/02/to_hell_with_the_archbishop_of_canterbury.html (03.12.2015). Auch in Deutschland berichtete die Presse: F. Freiburg, Vorstoß in Großbritannien: Sturm der Entrüstung über Sharia Erzbischof, in: Spiegel Online, 7.2.2008, abrufbar unter: www.spiegel.de/ politik/ausland/vorstoss-in-grossbritannien-sturm-der-entruestung-ueber-scharia-erzbischofa-534024.html (03.12.2015). 63 Siehe nur P. Shah, Transforming to Accommodate? Reflections on the Shari’a Debate in Britain, in: R. Grillo u. a. (Hrsg.), Legal Practice and Cultural Diversity, 2009, S.  73–91; J.-F. Gaudreault-DesBiens, Religious Court’s Recognition Claims: Two Qualitatively Distinct Narratives, in: R. Ahdar/N. Aroney (Hrsg.), Shari’a in the West, 2010, S. 60–69. 64 So etwa Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 183 ff. 65 MacEoin, Sharia Law (Fn. 55), Vorwort von N. Addisson, S. ix ff. 66 So zutreffend Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 184. 67 So zutreffend Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 184.

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1. Teil: Eine Abgrenzung

ist die gänzliche Abschaffung jeglicher religiöser Gerichtsbarkeit in Großbritannien68. Auch hier wird jedoch nicht zwischen offizieller Schiedsgerichtsbarkeit und inoffiziellen Gerichten unterschieden69. In dem Bericht „Sharia Law in Britain: A Threat to One Law for All and Equal Rights“70 werden ausführlich die drakonischen Strafen des traditionellen islamischen Strafrechts dargestellt. Die Begründung hierfür lautet: „Whilst there is obvious difference between stoning a woman to death and denying her the right to divorce and child custody, the fundamentals and misogyny behind Sharia’s civil and penal codes are the same – it is just a matter of degree. It is deceptive, or at best a mistake, not to see the civil aspects of Sharia law as part of an extension of its penal code.“71

Die Aussage ist exemplarisch für eine alarmistisch gefärbte Debatte, der wenige wissenschaftlich konstruktive Ansätze zu entnehmen waren. Fest steht im Ergebnis jedenfalls, dass Williams in seiner Rede nicht für ein paralleles unabhängiges Rechtssystem plädierte. Der Rede ein konkretes Fazit oder eine praktische Lösung zu entnehmen, erweist sich jedoch als schwierig. So spricht er angelehnt an Ayelet Shachar72, über eine „transformative accom­ modation“73, in der der Einzelne die Wahl zwischen verschiedenen Jurisdiktionen haben soll, so dass in gewisser Weise ein Wettbewerb unter den verschiedenen Gerichtsbarkeiten entstehe. Beide Systeme, religiöses und staatliches, müssten Zugeständnisse machen und würden sich durch gegenseitigen Einfluss langsam verändern74. Wie ein solches System konkret ausgestaltet werden soll, ließ Williams allerdings offen75. Auch enthielt seine Rede keine konkreten Vorschläge, wie die Rechte gerade der schwächeren Parteien, also insbesondere der Frauen und Kinder, in informellen Verfahren besser geschützt werden können. Am 3.  Juli 2008 schloss sich Lord Philips of Worth Matravers den Aussagen des Erzbischofs an.

68 So fordert die Kampagne: „We, the undersigned individuals and organisations, call on the UK government to bring an end to the use and institutionalisation of Sharia and all religious laws and to guarantee equal citizenship rights for all.“, abrufbar unter: http://www.onelaw forall.org.uk/about/ (03.12.2015). 69 So zutreffend Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 185. 70 One Law for All Campaign, Sharia Law in Britain: A Threat to One Law for All and Equal Rights, 2010, abrufbar unter: http://www.onelawforall.org.uk/wp-content/uploads/NewReport-Sharia-Law-in-Britain_fixed.pdf (03.12.2015). 71 One Law for All Campaign, Sharia Law (Fn. 70), S. 7 f. 72 A. Shachar, Multicultural Jurisdiction. Cultural Differences and Women’s Rights, 2001, S. 117 ff. 73 Dem Begriff der transformative accommodation nähert sich aus einer historischen Perspektive des Juden- und des Christentums B. Jackson, Transformative Accommodation and Religious Law, in: Ecclestical Law Journal (11) 2009, S. 131–153 (137). Zu dem Aspekt der transformative accommodation in der Rede Wiliams Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  9), S. 172 f. 74 Williams, Law (Fn. 60), S. 274. 75 In diesem Sinne auch Jackson, Transformative Accommodation (Fn. 73), S. 131; Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 175.

C. Die Scharia-Debatte in Kanada

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Auch er machte jedoch keine Vorschläge, wie der Missbrauchsgefahr informeller Sharia-Councils entgegengewirkt werden könnte. Stattdessen verwies er auf die Privatautonomie, die die Anwendung anderer als staatlicher Gesetze im privaten Bereich zulasse76.

IV. Zwischenergebnis Bis heute operieren die informellen Sharia-Councils in Großbritannien – wenn auch unter dem Bewusstsein der Öffentlichkeit – unkontrolliert und im „Schatten“ des Gesetzes. Versuche der Unterbindung dieser Gerichte oder eine Implemen­ tierung des islamischen Rechts oder gar einer islamischen Gerichtsbarkeit in das britische Justizsystem gab es bisher nicht. Auch eine offizielle islamische Schiedsgerichtsbarkeit scheint es jedenfalls in dem für Muslime wichtigen Bereich des ­Familienrechts nicht zu geben. In Deutschland hat eine solche Institutionalisierung  informeller religiöser Streitschlichtung bisher nicht stattgefunden. Großbritannien ist hier (zumindest noch) ein Extrembeispiel für am Justizsystem vorbeiagierende islamische Gerichtsbarkeit. Aus der Forschung, die bisher in Großbritannien zu den Sharia-Councils vorliegt, sind zwei zentrale Schlussfolgerungen zu ziehen. Zum einen ist es für einige Muslime von hoher Bedeutung, familienrechtliche Streitigkeiten, vor allem Ehescheidungen, durch ein religiöses Gericht entscheiden zu lassen. Die beteiligten Frauen sind hier auf religiöse Institutionen, die die Scheidungsverfahren durchführen, angewiesen. Zum anderen besteht aber die Gefahr, dass Frauen in diesen Verfahren aufgrund ihrer schwächeren Position Zugeständnisse machen, in die sie unter anderen Umständen nicht ein­ gewilligt hätten.

C. Die Scharia-Debatte in Kanada In Kanada wurde im Jahre 2004 in der Provinz Ontario durch das Islamic Institute of Civil Justice (IICJ) eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit angeboten77. Die endgültige Etablierung islamischer Schiedsgerichte wurde jedoch im Ergebnis durch eine Gesetzesänderung verhindert. In Kanada entstand im Zuge des Ver-

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Rede von Lord Chief Justice Phillips, Equality before the law, die Rede ist abrufbar unter: http://archive.eastlondonmosque.org.uk/archive/uploadedImage/pdf/LMC%20Lord%20Chief% 20Justice%20booklet.pdf (03.12.2015); zu einer ähnlichen Bewertung der Rede kommt Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 171 ff. 77 Einen guten Überblick über die Geschehnisse gibt Kapitel 1 (Section 1) des Berichts von M. Boyd, Dispute Resolution in Family Law. Protecting Choice, Promoting Inclusion, Full Report, 2004, abrufbar unter: http://www.attorneygeneral.jus.gov.on.ca/english/about/pubs/boyd/ (03.12.2015); hierzu ferner auch M. Rohe, Das Islamische Recht: Geschichte und Gegenwart 3. Aufl. 2011, S. 316 ff.

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1. Teil: Eine Abgrenzung

suchs der Einführung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit eine breite ­Debatte, die zwar nicht eins zu eins auf die informellen Verfahren übertragen werden kann, deren Argumente aber zum Teil für ihre rechtliche Bewertung fruchtbar gemacht werden können. Im Folgenden werden daher zunächst der Ablauf der Debatte und ihre rechtlichen Folgen dargestellt (I.). Sodann wird eine Bewertung der im Zuge der Debatte vorgebrachten Argumente vorgenommen (II.).

I. One Law for all Canadians? Die Scharia-Debatte78 begann Ende des Jahres 2003, als Syed Mumtaz Ali, der Präsident des Islamic Institute of Civil Justice (IICJ) öffentlich erklärte, dass von nun an eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit in Kanada möglich sei. Die durch die Schiedsgerichte getroffenen Entscheidungen würden ohne weitere Kontrolle von staatlichen Gerichten umgesetzt79. Das IICJ erweckte hierbei den unzutreffenden Eindruck, die Regierung von Ontario habe ihr eine spezielle Erlaubnis zur Errichtung islamischer Schiedsgerichte erteilt80. Nach dem damals geltenden Schiedsverfahrensrecht war dies jedoch seit jeher möglich. Denn der im Jahre 1991 erlassene und 1992 in Kraft getretene Arbitration Act81 sah keine Beschränkung der objektiven Schiedsfähigkeit vor. Da als Rechtsgrundlage für Schiedsverfahren außerdem auch „rules of law“82 und damit unkodifizierte Regelungen 78

Neben einer Fülle von Medienberichten erschienen auch zahlreiche akademische Beiträge, etwa N. Bakht, Family Arbitration Using Sharia Law: Examining Ontario’s Arbitration Act and its Impact on Women, in: Muslim Worlds Journal of Human Rights (1) 2004, Issue I, Article 7; S. McGill, Religious Tribunals and the Ontario Arbitration Act 1991: The Catalyst for Change in: Journal of Law and Social Policy (20) 2005, S. 53–66; A. Shachar, Religion, State and the Problem of Gender: New Modes of Citizenship and Governance in Diverse Societies, in: McGill Law Journal 2005, S. 49–88; J. Aslam, Judical Oversight of Islamic Family Law Arbitration in Ontario: Ensuring meaningful consent and promoting multicultural citizenship in: N. Y.U Journal of International Law and Politics (38) 2006, S. 841–876; T. C. W. Farrow, Re-Framing the Sharia Arbitration Debate, Constitutional Forum (15) 2006, S.  79–86; N. Bakht, Religious Arbitration in Canada: Protecting Women by Protecting them from Religion, in: Canadian Journal Women & Law (19) 2007, S. 119–144; A. Shachar, Privatizing­ Diversity: A Cautionary Tale from Religious Arbitration in Family Law, in: Legal Pluralism, Privatization of Law and Multiculturalism (9) 2008, S. 573–607; V. Bader, Legal Pluralism and Differentiated Morality: Shari’a in Ontario?, in: R. Grillo u. a. (Hrsg.), Legal Practice and Cultural Diversity, 2009, S. 49–72; B. M. Choksi, Religious Arbitration in Ontario – Making the case based on the British example of the muslim arbitration tribunal, in: University of Pennsylvania Law School Journal of International Law (33) 2012, S. 792–840 (811 f.). 79 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 3. 80 Rohe, Recht (Fn. 77), S. 323. 81 Ontario Arbitration Act S. O. 1991, ch. 17 (1991), abrufbar unter: www.canadalegal.com/ gosite.asp?s=1764 (03.12.2015). 82 Die Formulierung beruht auf dem UNCITRAL Model Law on International Arbitration von 1985, das Kanada im Jahre 1986 mit einigen Modifikationen umgesetzt hat, hierzu E. Gaillard/ J. Savage, Fouchard Gaillard Goldman on International Commercial Arbitration, 1999, S. 85, Rn. 170 f.

C. Die Scharia-Debatte in Kanada

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gewählt werden konnten, war eine religiöse Schiedsgerichtsbarkeit nach der damaligen Rechtslage bereits zulässig83. Auf die Ankündigung des IICJ folgte eine breite Debatte, die weitestgehend auf einer abstrakten sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen Ebene geführt wurde84 und teilweise – wie in Großbritannien – emotionalisiert und unsachlich war. So warf beispielsweise der Präsident des Canadian Islamic Congress (CIC) Mohamed Elmasry den Kritikern vor: „For in the midst of our community we have members who are bent upon smearing Islam, ridiculing the Qur’an, badmouthing Mohamed, or go about proclaiming that Shariah (Islamic Law) is backward and discriminates against women.“85

Unter den Gegnern einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit entwickelte sich die Debatte zu einer angstschürenden Kritik am Islam im Allgemeinen. Vor allem die Medien zogen Vergleiche zu islamisch geprägten Ländern wie Iran oder Pakistan und heizten die Debatte mit Hinweisen auf Steinigungen und andere drakonische Strafen an86. Dazu trugen nicht unwesentlich die Aussagen Syed Mumtaz Ali bei, der keinen Zweifel daran ließ, dass Muslime strengstens verpflichtet seien, nach islamischem Recht zu leben. Oft erweckte er den Anschein, eine noch weiterreichende Einführung der Scharia anzustreben87. Auf die Frage, warum er muslimisches Recht als Grundlage für schiedsgerichtliche Entscheidungen einführen wolle, antwortete er: „Sharia is part of our life. If we proclaim to be a Muslim, we must live our life according to the injunctions of Allah and His Prophet. Let’s take the example of marriage. You cannot

83 Hierzu Bakht, Family Arbitration (Fn. 78), S. 4; Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 12; McGill, Religious Tribunals (Fn. 78), S. 54; N. Bakht, Were muslim barbarians really knocking on the gates of Ontario?: The Religious Arbitration Controversy  – Another Perspective, in: Otawa Law Review, 40 Anniversary, 2006, S. 67–82; P. Fournier, In the Canadian shadow of Islamic law: translating mahr as a bargaining endowment, in: Osgoode Hall Law Journal (44) 2006, S. 649–677 (654). Eine eingehende Darstellung der Rechtslage bis zum Jahre 2006 ist nachzulesen bei Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 130 ff. 84 Rohe, Recht (Fn. 77), S. 323. 85 M. Elmasry, Why Was Sharia Not Treated Like Halacha?, in: Friday Magazine (8) 2005, abrufbar unter: http://usa.mediamonitors.net/Headlines/Why-was-Shariah-not-treated-likeHalachah (03.12.2015). 86 So ausdrücklich ein Bericht auf der Nachrichtenplattform WorldNetDaily vom 28.11.2003: „Canadian judges soon will be enforcing Islamic law, or Sharia, in disputes between Muslims, possibly paving the way to one day administering criminal sentences, such as stoning women caught in adultery.“, abrufbar unter http://www.wnd.com/2003/11/22027/ (03.12.2015). Und auch das Canadian Counsel of Muslim Women schrieb: „As the proponents claim that God wants them to live under Sharia/Muslim law, the question then arises as to why are they advocating for only one aspect of Muslim jurisprudence? Why the focus only on family law and not on the whole, total system of laws including criminal? Or will this be the second stage of their demand of religious right?“ (zitiert nach Boyd, Dispute Resolution [Fn. 77], S. 54.) 87 Rohe, Recht (Fn. 77), S. 323.

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1. Teil: Eine Abgrenzung have an Islamic marriage without applying Sharia. Similarly, if there is a fear a matrimonial dispute is about to occur, the Qur’an clearly states that you must try to solve it by having two arbitrators, one from each side.“88

Bezeichnend ist allerdings, dass viele muslimische Frauenorganisationen gegen die Einführung islamischer Schiedsgerichte plädierten89, während die Organisationen, die sich für eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit aussprachen, meist durch Männer vertreten wurden, wie beispielsweise die Canadian Society of Muslims oder das Muslim Arbitration Board90. Vehemente Kritik äußerte vor allem die Organisation The Canadian Council of Muslim Women, die im Juni 2005 die No Religious Arbitration Coalition gründete. Sie mobilisierte gut einhundert andere Organisationen, die sich gegen die Etablierung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit aussprachen91. Im Zuge der Debatte verfasste Marion Boyd, von 1993 bis 1995 Justizministerin (Attorney General) in Ontario, auf Anfrage des damaligen Justizministers, Michael Bryant, und der Ministerin für Frauenangelegenheiten (Minister for Women’s Issues), Sandra Pupatello, ein umfangreiches Gutachten zu islamischer Schiedsgerichtsbarkeit in Familien- und Erbstreitigkeiten. Dabei lag der Schwerpunkt ihrer Analyse auf den Auswirkungen der Schiedsgerichte auf besonders schutzwürdige bzw. verletzliche Personen. Im Ergebnis empfahl sie, religiöse Schiedsgerichtsbarkeit in Familien- und Erbrechtsstreitigkeiten grundsätzlich beizubehalten. Ein völlig unkontrolliertes paralleles Rechtssystem sei allerdings abzulehnen. Religiöse Schiedsverfahren ermöglichten jedoch gerade keine Abschottung, sondern seien in das kanadische Rechtssystem integriert92. Um den Schutz schwacher Parteien, insbesondere der Frauen zu garantieren, sollten aber der Arbitration Act und der Family Law Act93 grundlegend reformiert werden94. Boyd gab der Regierung hierzu insgesamt 46 Empfehlungen. So sollten ihrer Meinung nach beispielsweise strengere Formerfordernisse für Schiedsvereinbarun 88 Interview der Zeitung The Ambition (kanadisches Magazin für junge Muslime) mit Syed Mumtaz Ali vom 23. Mai 2004, zitiert nach Shachar, Religion (Fn. 78), S. 74. 89 Aslam, Oversight (Fn. 78), S. 842. 90 Fournier, Shadow (Fn. 83), S. 656. 91 Bakht, Religious Arbitration (Fn. 78), S. 130. Die Standpunkte der Organisation und weitere Informationen sind abrufbar unter http://ccmw.com/ (03.12.2015). 92 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 88. Im Wortlaut führt sie aus: „In addition, it must be clearly understood that arbitration is not a parallel system, but a method of alternative dispute resolution that is subject to judicial oversight, and is thus subordinate to the court system. Assertions that arbitration actually provides a system of justice running alongside the traditional court system are misleading and unfounded. Nor would it be at all advisable to encourage the creation of such a system.“ 93 Family Law Act, R. S. O. 1990, Chapter F. 3, abrufbar unter: http://www.e-laws.gov.on.ca/ html/statutes/english/elaws_statutes_90f03_e.htm (03.12.2015). 94 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), Section 8: Recommendations, S. 133 ff.; ähnlich vermittelnde Ansätze finden sich bei Shachar, Religion (Fn. 78), S. 75 ff. und Bader, Pluralism (Fn. 78), passim.

C. Die Scharia-Debatte in Kanada

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gen in Familien- und Erbrechtsstreitigkeiten gelten95. Entsprechende Schiedsvereinbarungen sollten ferner nur Bindung entfalten, wenn sie nach Entstehen der Streitigkeit und vor dem Beginn des Schiedsverfahrens geschlossen werden96. Das religiöse Recht, auf das sich die Parteien geeinigt haben, sollte so konkret wie möglich in einem statement of principles of faith-based Arbitration durch die Schiedsrichter vor dem Verfahren niedergelegt werden, damit die Parteien ihre Rechte und Pflichten möglichst konkret voraussehen könnten97. Weiter schlug sie als zwingende Voraussetzung vor, dass vor jedem familienrechtlichen Schiedsverfahren unabhängiger Rechtsrat eingeholt werden müsse98. Der zuständige Anwalt solle die Beratung mit einem Certificate of Legal Advice belegen, aus dem hervorgehen soll, dass er die jeweilige Partei über ihre Rechte nach dem geltenden staatlichen Recht aufgeklärt hat99. Auch sollte das gesamte Verfahren dokumentiert werden und eine Zusammenfassung jedes Schiedsspruchs der Regierung von Ontario zur Verfügung gestellt werden100. Sie schlug außerdem vor, nur Schiedsrichter aus professionellen Organisationen zuzulassen101, die mit der Regierung zusammenarbeiten und jährlich einen Bericht über ihre Tätigkeit verfassen102. Die Regierung kam jedoch den Vorschlägen Boyds nicht nach103. Im September 2005 kündigte der Premierminister Ontarios eine Änderung des Arbitration Acts an104. Im Februar 2006 wurde in Ontario der Family Statute Law Amendment Act erlassen105. Dieser sieht vor, dass Schiedsverfahren in Familiensachen nur bindend sind, wenn sie nach kanadischem Recht entschieden werden106. Da die Scharia-­ Gerichte zum größten Teil  familien- und erbrechtliche Sachverhalte verhandeln sollten, war der Versuch der Etablierung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit somit in Kanada gescheitert. 95 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 134. Insbesondere empfahl Boyd auch erhöhte Anforderungen an den Inhalt der Schiedsvereinbarung zu stellen. So sollte jede Schiedsvereinbarung eine detallierte Auflistung der Streitgegenstände, eine Verbindlichkeitserklärung, eine Rechtswahlklausel, in der explizit das anzuwendende Recht festgeschrieben ist, sowie eine Erklärung, auf welche Rechte verzichtet wird und auf welche die Parteien nicht verzichten können, enthalten. 96 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 134. 97 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 136. 98 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 134. 99 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 137. 100 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 140. 101 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 136. 102 Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 140. 103 Von der Literatur wurden Boyds Vorschläge teilweise begrüßt, teilweise aber auch stark kritisiert. Unterstützend statt vieler etwa: M. E. Provins, Constructing an Islamic Institute of ­Civil Justice that encourages Women’s Rights, in: Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Review, 27 (2005), S. 515–540 (519, 540); kritisch: Fournier, Shadow (Fn. 83), passim. 104 Aslam, Oversight (Fn. 78), S. 843. 105 Family Statute Law Amendment Act 2006, abrufbar unter: http://www.ontla.on.ca/web/bills/ bills_detail.do?locale=en&BillID=297&detailPage=bills_detail_the_bill&Intranet= (03.12.2015). 106 Siehe hierzu die Explanatory Note zum Family Statute Law Amendment Act, abrufbar unter: http://www.ontla.on.ca/web/bills/bills_detail.do?locale=en&BillID=297&detailPage=bills_ detail_about&Intranet= (03.12.2015).

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1. Teil: Eine Abgrenzung

Im Hinblick auf die Problematik der informellen Paralleljustiz bleibt festzustellen, dass die von Boyd vorgeschlagenen Kontrollmechanismen nur in die Organisation einer offiziellen islamischen Schiedsgerichtsbarkeit integriert werden könnten. Auf die Vorteile und Nachteile der Einführung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit wird in diesem Abschnitt unter D. II. 2. eingegangen.

II. Darstellung der vorgebrachten Argumente – Relevanz für die Bewertung informeller Verfahren Im Zuge der Debatte wurde eine Fülle von Argumenten für und gegen die Einführung islamischer Schiedsgerichte vorgebracht. Diese sollen als Denkanstöße dienen und für die Bewertung informeller religiöser Verfahren fruchtbar gemacht werden. Als problematisch wurde von Gegnern islamischer Schiedsgerichtsbarkeit vor allem die geschlechterdiskriminierende Wirkung vieler islamischer Vorschriften, insbesondere des Prozess-, Erb-, und Familienrechts angesehen. Dieser Einwand wird im Laufe der Arbeit an mehreren Stellen aufgegriffen. Zunächst wird das islamische Recht im zweiten Teil in Kapitel A. näher dargestellt. In Kapitel D. I. werden islamische Vorschriften im Hinblick auf die Problematik der Geschlechter­ diskriminierung untersucht. In Kapitel D. II. wird schließlich untersucht, ob der Staat in die informellen Verfahren eingreifen darf, um die faktische Diskriminierung von Frauen zu unterbinden. Auch wurde vorgebracht, dass das islamische Recht nicht einheitlich, sondern vielfach unterschiedlich interpretiert werde und damit unberechenbar sei107. Dass die Interpretation des islamischen Rechts nicht nur zwischen den Rechtsschulen, sondern auch innerhalb der einzelnen Schulen variiert, wird im Rahmen der Darstellung des islamischen Rechts deutlich. Problematisch ist dies vor allem im Hinblick auf Rechtswahlklauseln in Schiedsverträgen, da so oft nicht absehbar ist, welche Auslegung des islamischen Rechts zur Anwendung kommen wird108. Es ist allerdings fraglich, ob auch in den informellen Verfahren Verträge geschlossen werden, in denen das anzuwendende Recht bestimmt wird, oder ob die Parteien die Entscheidung nicht vielmehr alleine in das Ermessen des Friedensrichters stellen. Weiterhin wurde angeführt, schwächere Mitglieder der Gemeinde würden faktisch gezwungen, sich der religiösen Schiedsgerichtsbarkeit zu unterwerfen. Da die Gemeinde nur denjenigen als „guten Muslim“ ansehe, der sich den Religionsgerichten unterwerfe, entstehe ein faktischer sozialer Zwang, die staatlichen Gerichte zu meiden109. Vor allem Frauen seien nach Ansicht vieler Kritiker durch eine 107

Rohe, Recht (Fn. 77), S. 327. So auch Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 248. 109 Shachar, Religion (Fn. 78), S. 74; dies., Diversity (Fn. 78), S. 587 ff. 108

C. Die Scharia-Debatte in Kanada

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Einführung islamischer Schiedsgerichte besonders gefährdet110. Oft seien sie sich ihrer Rechte im Gastland nicht bewusst, und nur aus diesem Grund würden sie sich dem islamischen Schiedsgericht unterwerfen. Andere seien sich zwar ihrer Rechte bewusst, fürchteten aber die Ächtung der Gemeinde, wenn sie sich nicht ihren Streitschlichtungsmechanismen unterwerfen. Diese Überlegung deckt sich mit der oben schon aufgestellten Ausgangsthese. Zu beachten ist jedoch, dass valide empirische Erkenntnisse diesbezüglich fehlen. Sowohl für potenzielle Schiedsverfahren als auch für gänzlich informelle Verfahren gilt, dass durchaus die Möglichkeit besteht, dass die Mehrheit – auch der „schwächeren“ Gemeindemitglieder – sich den Verfahren völlig freiwillig unterwirft. Eine erhöhte Gefahr eines „faktischen Zwangs“ kann jedoch nicht gänzlich ausgeblendet werden. Die diesbezüglichen Anzeichen durch Äußerungen Beteiligter in Deutschland werden jedenfalls durch die Aussagen in der kanadischen Debatte bestärkt. Darüber hinaus wurde angeführt, dass es nur zu einer staatlichen Kontrolle des Schiedsspruchs komme, wenn eine Partei diesen angreife. Die unterlegene Partei wisse jedoch häufig nicht, dass ein Aufhebungsgrund vorliege bzw. traue sich wiederum aufgrund sozialen Drucks durch die muslimische Gemeinschaft nicht, gegen einen Schiedsspruch vorzugehen111. Auch diese These kann auf die informellen Verfahren übertragen werden. Es muss nach den derzeitigen Erkenntnissen davon ausgegangen werden, dass staatliche Gerichte nur einen Bruchteil der informell verhandelten Entscheidungen zu Gesicht bekommen. Wie in den Ausgangsthesen schon dargelegt, liegt es wiederum nahe, dies auf sozialen Druck, Unkenntnis der Rechtslage oder mangelndes Vertrauen in das deutsche Justizsystem zurückzuführen. Genauso kann aber auch eine bedingungslose Akzeptanz des als religiös richtig empfundenen Urteils der Grund dafür sein, dass das deutsche Justizsystem weitgehend gemieden wird. Die Befürworter beriefen sich vor allem auf die in der kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten (Canadian Charta of Rights and Freedoms)112 garantierte individuelle113 und kollektive114 Religionsfreiheit sowie auf das Recht auf Multikulturalität (multiculturalism), das die Charta als Interpretationshilfe

110 So sehr deutlich etwa Bakht, Family Arbitration (Fn.  78), S.  18 ff.; Shachar, Religion (Fn. 78), S. 73 ff.; Aslam, Oversight (Fn. 78), S. 851 ff. 111 McGill, Religious Tribunals (Fn. 78), S. 57; Bakht, Family Arbitration (Fn. 78), S. 19. 112 Canadian Charter of Rights and Freedoms, Constitution Act, 1982, Part I, abrufbar unter: http://laws-lois.justice.gc.ca/eng/Const/page-15.html#h-39 (03.12.2015). 113 So etwa der Antrag des Council on American-Islamic Relations Canada, Review of Ontario’s Arbitration Process and Arbitration Act, Written Submission to Marion Boyd, S. 3 vom 10.8.2004; außerdem noch Provins, Institute of Civil Justice (Fn. 103), S. 519, 540 und Aslam, Oversight (Fn. 78), S. 865 ff.; auch Syed Mumtaz Ali berief sich immer wieder darauf, dass eine islamische Gerichtsbarkeit unabdingbar für gläubige Muslime sei, hierzu etwa Interview der Zeitung The Ambition (Fn. 88), S. 74. 114 A. C. Korteweg, The Sharia Debate in Ontario, in: ISIM Review (18) 2006, S.  50–51 (51).

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1. Teil: Eine Abgrenzung

festschreibt115. Auch der Schutz der Privatautonomie als tragendes Prinzip der Schiedsgerichtsbarkeit wurde vorgebracht116. Frauen, die sich freiwillig der Schiedsgerichtsbarkeit unterwerfen würden, bräuchten keinen paternalistischen Schutz durch den Staat117. Zwar ist das kanadische Verfassungsrecht für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand nicht von Relevanz118, die angesprochenen Grundrechte der Religionsfreiheit und der Privatautonomie müssen aber auch in Deutschland im Hinblick auf informelle religiöse Verfahren untersucht werden. Die einschlägigen Grundrechte werden im Zweiten Teil in Kapitel B. untersucht. Bemerkenswert ist ferner, dass von vielen Befürwortern islamischer Schiedsgerichtsbarkeit die Vermutung ausgesprochen wurde, eine offizielle islamische Schiedsgerichtsbarkeit würde einer informellen Paralleljustiz entgegenwirken. Ein Verbot religiöser Schiedsgerichtsbarkeit in Familienrechtsstreitigkeiten führe hingegen zu einem Anstieg informeller Verfahren, in denen Frauen und Kinder viel eher der Gefahr einer Benachteiligung ausgesetzt seien119. Muslime würden immer nach Möglichkeiten suchen, ihre Streitigkeiten nach islamischen Vorschriften zu regeln. Wenn ihnen keine offiziellen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt würden, würden sie auf unkontrollierte, informelle Mechanismen der Streitbeilegung und -entscheidung ausweichen. Daher sei ein Verbot religiöser Schiedsgerichte ein pyrrhic victory, ein Pyrrhussieg, da die Gegner islamischer Schiedsgerichte vor allem Frauen und Kinder schützen wollten, mit dem Verbot aber genau das Gegenteil erreicht hätten120. In die gleiche Richtung zielt die These, 115 In Abschnitt 27 der kanadischen Charter der Rechte und Freiheiten heißt es wörtlich: „This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians“; grundlegend hierzu D. Bottos, Multiculturalism, Sec­ tion 27’s application in Charter cases thus far, in: Alberta Law Review (26) 1986, S. 621–633; im Kontext zur Scharia Debatte N. Bakht, Reinvigorating Section 27: An Intersectional Approach, in: Journal of Law & Equality (6) 2009, S. 135–161 sowie F. Bhabha, Between Ex­ clusion and Assimilation: Experimentalizing Multiculturalism, in: McGill Law Journal, 54 (2009), S. 45–90. 116 McGill, Religious Tribunals (Fn. 78), S. 58. 117 McGill, Religious Tribunals (Fn. 78), S. 58; Aslam, Oversight (Fn. 78) S. 850. 118 Hierzu Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 146 ff. In der kanadischen Debatte wurde besonders das Recht auf die kollektive Religionsausübungsfreiheit betont. 119 So etwa Korteweg, Sharia (Fn. 114), S. 21; Bhabha, Exclusion (Fn. 115), S. 83; Choksi, Religious Arbitration (Fn. 78), S. 809. 120 Bhabha, Exclusion (Fn. 115), S. 84; Beispielhaft für diese These sind die Ausführungen von Anver Emon: „Let’s be clear: With the ban on Sharia arbitration, there will be no positive gain for Muslim women. They are in the exact same position they were in prior to the prospects of government regulation of arbitration. Muslim women seeking an Islamic divorce will remain vulnerable to the machinations of bad faith husbands, uneducated imams, and partriarchal traditions through the use of mediated negotiated settlements, if they wish to remain a part of their religious community.“ (A. M. Emon, A Mistake to ban Sharia, in: The Globe and Mail, 13.09.2005, abrufbar unter http://www.law.utoronto.ca/news/article-emon-mistake-ban-sharia [03.12.2015]); in die gleiche Richtung gehen die Ausführungen von Sheeman Khan: „And for those who view this as a victory for the protection of women – think again. There are too many unqualified, ignorant imams making back-alley pronouncements on the lives of women, men

D. Scharia im Westen

43

dass dem islamischen Recht durch ein Anwendungsverbot die Chance genommen werde, sich zu modernisieren und westlichen Standards anzupassen. Dadurch, dass die Schiedssprüche mit den Grundprinzipien des nationalen Rechts übereinstimmen müssten, wäre der Islam geradezu gezwungen, sich von innen heraus zu modernisieren. Denn auch die Schiedsrichter würden natürlich danach streben, dass ihre Schiedssprüche endgültig bindend und vollstreckbar seien121. Ob sich informelle Verfahren tatsächlich durch die Etablierung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit eindämmen lassen und das islamische Recht sich in einem geregelten Schiedsverfahren modernisieren würde, ist eine berechtigte Überlegung, zu der es eine abschließende Antwort ohne empirische Untersuchungen nicht geben kann. Dennoch sollen hierzu in Kap. D. im Kontext der Thematik Rechtspluralismus einige Gedanken präsentiert werden.

D. Scharia im Westen – Rechtspluralismus als wünschenswertes Ziel einer religionspluralistischen Gesellschaft? Bevor die informellen Streitschlichtungs- und Streitentscheidungsverfahren rechtlich untersucht werden, soll im Folgenden auf die Thematik des Rechtspluralismus eingegangen werden, in deren Kontext auch die informellen Verfahren einzuordnen sind. Nach einer kurzen Beschreibung des Forschungsfeldes (I.), folgen Überlegungen zu einer religiös gespaltenen Zivilrechtsordnung (II.).

I. Eine heterogene Mehrheit von Rechten im selben sozialen Feld Mit dem Nebeneinander verschiedener rechtlicher Ordnungen beschäftigen sich unter dem Stichwort „Rechtspluralismus“ oder „Legal Pluralism“ vor allem Rechtsethnologen, Rechtsantrophologen, aber auch Sozial- und Rechtswissenschaftler. Ausgangspunkt des Forschungsfeldes ist die These, dass eine „heterogene Mehrand children. The practice will continue, without any regulation, oversight or accountability. Muslim women (and men) will still seek religious divorces and settlements of inheritance matters in accordance with their faith. And not just the ubiquitous downtrodden immigrant Muslim woman who speaks little English. Our overburdened courts will still need to rely on experts in Muslim family law to deal with pre-nuptial contracts. Nothing has really changed – except the fact that we have missed a golden opportunity to shine light on abuses masquerading as faith, and to ensure that rulings don’t contradict the Charter of Rights and Freedoms. “ (S. Khan, The sharia debate deserves a proper hearing, in: The Globe and Mail, 15.9.2005, abrufbar unter: http://www.theglobeandmail.com/globe-debate/the-sharia-debate-deserves-a-proper-hearing/ article738827/ [03.12.2015]). 121 Shachar, Diversity (Fn. 78) S. 602; zu diesem Aspekt auch Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 156 f.

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1. Teil: Eine Abgrenzung

heit von Rechten im selben sozialen Feld“122 bestehen kann. In dieser Phrasierung wurde die soziologische Theorie des Rechtspluralismus erstmals von John Griffith im Jahre 1986 formuliert123. Die Idee, dass sich durch den Staat gesetztes Recht erheblich vom „gelebten Recht“ unterscheiden kann, ist freilich schon auf die Arbeiten Eugen Ehrlichs zurückzuführen124. Die Idee des Rechtspluralismus wendet sich gegen ein etatistisches Verständnis, nach dem nur dem Staat rechtsschöpferische Macht zuerkannt wird. Nur staatliches Recht ist nach letzterem Verständnis Recht, vorstaatliche Gebilde können kein Recht generieren125. Mit Griffith ist dieses, ehemals vorherrschende Rechtsverständnis als illusorisch zu bezeichnen: „Legal pluralism is the fact. Legal centralism is a myth, an ideal, a claim, an illusion.“126 Jüngste Forschungsergebnisse sind dadurch gekennzeichnet, dass in nahezu allen komplexen Makrokulturen viele einzelne Mikrokulturen entdeckt werden, die nach eigenen Rechtsnormen agieren127. Lampe beschreibt diese Realität des Rechtspluralismus wie „folgt: „Diese heterogenen ‚subkulturellen‘ Rechte treten mit dem Recht der Makrokultur in Konkurrenz, und zwar desto stärker, je weiter sich diese ausbreitet. Sie grenzen Gruppen aufgrund ihrer besonderen kulturellen, ökologischen oder wirtschaftlichen Situation oder auch nur aufgrund ihrer gemeinsamen Überzeugung aus dem Anwendungsbereich des staat­lichen Rechts aus; sie schaffen semiautonome Gebilde mit eigenem Normbestand; sie schaffen ‚betroffene Minderheiten‘, die der Mehrheit die Gefolgschaft verweigern und hierfür ein ‚Recht zum Protest‘ oder sogar ein ‚Recht zum Widerstand‘ in Anspruch nehmen […] und sie verlangen von ihren Unterworfenen Solidarität, Anerkennung ihrer Statuten, evt. zivilen Ungehorsam gegen den Staat oder gar bewaffnete Kampfbereitschaft gegen dessen Herrschaftsträger.“128

Die Rechtspluralismusforschung unterscheidet zwischen „starkem“ und „schwachen“ Rechtspluralismus. Als schwacher Rechtspluralismus wird eine Rechtsordnung bezeichnet, in der aufgrund staatlichen Rechtsbefehls verschiedene Rechtsvorschriften auf verschiedene Bevölkerungsgruppen angewendet werden, also beispielweise die Scharia auf Muslime und die Halacha auf Juden. Es gelten 122 E.-J. Lampe, ‚Was ist Rechtspluralismus?‘, in: ders. (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 8–33 (8); siehe hierzu auch M. Davies, Pluralism in law and religion, in: P. Cane/C. Evans/Z. Robinson (Hrsg.), Law and religion in theoretical and historical context, 2008, S. 72–98. 123 J. Griffith, What ist Legal Pluralism?, in: Journal of Legal Pluralism (24) 1986, S. 1–55 (1): „By legal pluralism I mean the presence in a social field of more than one legal order.“ 124 E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1929 (Nachdruck der 1. Aufl. 1913); dazu K. F. Röhl, 100 Jahre Rechtssoziologie: Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, in: JZ 2013, S. 1117–1128. 125 Griffith, Pluralism (Fn. 123), S. 3; Lampe, Rechtspluralismus (Fn. 122), S. 8; instruktiv zur Bestimmung des Rechtsbegriffs R. Dreier, Der Begriff des Rechts, in: NJW 1986, S. 890–896. 126 Griffith, Pluralism (Fn. 123), S. 4; in diesem Sinne auch M. B. Hooker, Legal Pluralism: An Introduction to Colonial and Neo-colonial Laws, 1975, S. 2 sowie R. Schott, Rechtspluralismus und Rechtsgleichheit in den postkolonialen Staaten Afrikas, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 38–74 (38 ff.). 127 So Lampe, Rechtspluralismus (Fn. 122), S. 10. 128 Lampe, Rechtspluralismus (Fn. 122), S. 10.

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also offiziell zwei oder mehr Teilrechtsordnungen nebeneinander. Unter starkem Rechtspluralismus werden Konstellationen beschrieben, in denen sich neben der staatlichen Rechtsordnung in der Bevölkerung weitere informelle Regeln herausbilden, nach denen sich Teile der Bevölkerung richten129. Bei der Unterscheidung dieser zwei Ausprägungen des Rechtspluralismus ist jedoch zu beachten, dass erstere nicht im Konflikt zu einem etatistischen Rechtsverständnis steht. Denn auch wenn mehrere Rechtsordnungen gelten, so sind sie doch offiziell durch den Staat anerkannt und damit Teil der staatlichen Rechtsordnung. Bei der Form des schwachen Rechtspluralismus muss weiterhin zwischen der Anwendung mehrerer Rechte oder Rechtsordnungen durch staatliche Gerichte, durch Schiedsgerichte sowie der Übertragung von Rechtsprechungskompetenzen an außerstaatliche Gruppen, beispielsweise Religionsgemeinschaften, unterschieden werden. Auf diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Implementierung eines schwachen Rechtspluralismus wird unten (Punkt 2) eingegangen. Die Forschungen zum Rechtspluralismus waren (und sind) zu einem Großteil rechtsanthropologisch geprägt und beziehen sich zumeist auf kolonialisierte Völker Afrikas, Asiens und des Pazifiks130. Pluralistisch geprägte Rechtsordnungen sind hier aufgrund der verschiedenen Kolonialherrschaften, die weitere Rechtsordnungen zu den ohnehin schon partikularistisch ausgeprägten Stammesordnungen brachten, weit verbreitet131. Zwar wurden die modernen Rechtsgebiete, ­angelehnt 129

So erstmals Griffith, Pluralism (Fn.  123), S.  5 ff.; hierzu B. Turner, Rechtspluralismus (Fn.  1), S.  161. Die Frage, welche gesellschaftlichen „Verhaltensanweisungen“ neben dem vom Staat gesetzten Recht ebenfalls als „Recht“ zu bezeichnen sind, bildete von Anfang an die theoretische Kernfrage der Rechtspluralismusforschung. Diesbezügliche Ausführungen sollen an dieser Stelle jedoch nicht erfolgen, da sie für die Frage, ob eine pluralistisch gespaltene Rechtsordnung gesellschaftspolitisch wünschenswert ist, nicht von Belang sind. Hierzu Lampe, Rechtspluralismus (Fn. 122), passim; B. Dupret, Legal Pluralism, Plurality of Laws, and Legal Practices: Theories, Critiques, and Praxiological Re-specification, in: European Journal of Legal Studies (1) 2007, abrufbar unter: http://www.ejls.eu/1/14UK.htm (03.12.2015), jeweils m. w. N. Zur Existenz eines starken Rechtspluralismus in der Region Hebron im Westjordanland Qubaja, Konfliktregulierung (Fn. 26), passim und ausdrücklich S. 114 . 130 Aus der Fülle der diesbezüglichen Forschung etwa: E. A. Keay/S. S. Richardson, The Native and Customary Courts of Nigeria, 1966; F. v. Benda-Beckmann, Rechtspluralismus in Malawi: Geschichtliche Entwicklung und heutige Problematik eines ehemals britischen Kolonialgebiets, 1970; L. Pospisil, Kapauku Papuans and their law, 2. Aufl. 1971; Hooker, Pluralism (Fn. 126); F. v. Benda-Beckmann, Property in social continuity: continuity and change in the maintenance of property relationships through time in Minangkabau, West Sumatra, 1979; F. A. Salomone, The Clash between Indigenous, Islamic, Colonial and Post-Colonial Law in Nigeria, in: Journal of Legal Pluralism and Unofficial Law 21 (1983), S. 15–60; L. Benton, Law and colonial cultures: legal regimes in world history 1400–1900, 2002. 131 Hierzu S. E. Merry, Legal Pluralism, in: Law & Society Review, 1988, S. 869–879 (869); H. Sippel, Die Bedeutung afrikanischen Gewohnheitsrechts im Nationalstaat: Entwicklungen in Tanzania und Südafrika, in: Africa Spectrum, 33 (1998), S. 39–56 (39); R. Schott, Rechtspluralismus (Fn.  126); H.  Sippel, Afrikanische Rechtssysteme im Entwicklungsprozeß: Die Stellung der Frau im Erb- und Familienrecht im östlichen und südlichen Afrika, in: Africa­ Spectrum, 32 (1997), S. 255–280 (255).

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1. Teil: Eine Abgrenzung

an die europäischen Rechtsordnungen, weitgehend vereinheitlicht. Teilweise sind Kombinationen aus Gewohnheitsrecht, islamischem Recht und dem Recht der Kolonialmacht zu einer offiziellen Rechtsordnung verschmolzen132. Das offizielle Rechtssystem ist jedoch vielen Bevölkerungsteilen gar nicht bekannt und wird dementsprechend nur sehr eingeschränkt praktiziert133. Vor allem die ländliche Bevölkerung orientiert sich noch immer verstärkt am traditionellen Recht134. Auch im Gerichtswesen schlägt sich dieser Pluralismus nieder. Zum einen werden zahlreiche Konflikte innerhalb der Familien oder Dörfer von traditionellen Autoritäten beigelegt. Daneben operieren offizielle staatliche Gerichte135. Franz von BendaBeckmann bezeichnet den Zustand in den kolonialen Gebieten Afrikas dementsprechend als „einen Pluralismus von Rechtspluralismus-Konstruktionen“136. Mittlerweile betrachten rechtspluralistische Forschungsarbeiten aber nicht mehr nur ehemalige kolonialisierte Gesellschaften, sondern auch Rechtssysteme verschiedener ethnischer, kultureller und religiöser Gruppen innerhalb komplexer Gesellschaften, moderne Industriegesellschaften eingeschlossen137. In Europa waren auch diese bis ins späte 18. Jahrhundert hinein von lokalen pluralistischen Rechtsordnungen gekennzeichnet. Mit der Idee des Nationalstaates setzte allerdings die Vereinheitlichung des Rechts ein138, die sich bis heute fortgesetzt hat. Den kontinentaleuropäischen Nationalstaaten ist die parallele Geltung verschiedener Rechtsordnungen in einem Rechtssystem aufgrund der bedeutenden Rechtsvereinheitlichungsprozesse wie dem Code Napoléon oder dem Bürgerlichen Gesetzbuch des deutschen Reiches daher heute grundsätzlich fremd139. Eine Ausnahme stellt allerdings das griechische interpersonale Recht dar, wonach sich Ehe- und Ver 132 Hierzu U. Wanitzek, Integration of personal laws and the situation of women in Ghana: The Matrimonial Causes Act of 1971 and its application by the courts, in: Third World Legal Studies (10) 1991, S. 75–107. 133 Schott, Rechtspluralismus (Fn. 126), S. 67. 134 Schott, Rechtspluralismus (Fn. 126), S. 55. 135 Salamone, Clash (Fn. 130), S. 41 ff.; Schott, Rechtspluralismus (Fn. 126), S. 58. 136 F. v. Benda-Beckmann, Pluralismus von Recht und Ordnung, in: Behemoth. A Journal on Civilisation (1) 2008, S. 58–67 (64). Ulrike Wanitzek beschreibt exemplarisch für viele postkoloniale Staaten das pluralistische Rechtssystem Ghanas: „Like most other African countries, Ghana has a pluralistic legal system. Various customary laws, Islamic law, and the general law, that is based on the received English law, exist side by side. In certain areas, these laws have been integrated, which means that certain elements of the various legal systems have been combined with each other into a legal superstructure within which an interaction and coordination among the systems can take place. The weights of the legal system within this superstructure may vary considerably.“ (Wanitzek, Integration [Fn. 132], S. 75). 137 Merry, Pluralism (Fn. 131), S. 872; G. Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, in: Rechtshistorisches Journal 15 (1996), S. 255–290 (256); Turner, Rechtspluralismus (Fn. 1), S. 157; Davies, Pluralism (Fn. 122), S. 89. 138 Schott, Rechtspluralismus (Fn. 126), S. 38; B. Z. Tamanaha, Understanding Legal Pluralism: Past to Present, Local to Global, in: Sydney Law Review (29) 2007, S. 375–411 (410). 139 M. Rünger, Wie viel Rechtspluralismus verträgt der demokratische Rechtsstaat? Eine entwicklungspolitische Positionierung zu Kernwerten, politischen Kompromissen und Kohärenz in pluralistischen Rechtssystemen, in: Entwicklungsethnologie 14 (2005), S. 25–37 (26).

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wandtschaftsverhältnisse sowie teilweise erbrechtliche Fragen der Anhänger muslimischen Glaubens nach dem religiösen Recht der hanafitischen Schule richten140. Für die Rechtspluralismusforschung ergeben sich jedoch neue Anknüpfungspunkte. Exemplarisch sei nur der Machtverlust von Nationalstaaten aufgrund von Kompetenzabtretungen an übergeordnete Einheiten wie die Europäische Union genannt. Genauso sind im Gegenteil Autonomiegewinne kleinerer Einheiten innerhalb von Nationalstaaten zu beobachten, wie beispielsweise in der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawien141. Des Weiteren wird unter dem Stichwort „International Legal Pluralism“ vor allem die Gesamtheit international anerkannter Handelsbräuche diskutiert (lex mercatoria)142. Und letztlich rücken auch die in dieser Arbeit zu untersuchende gesellschaftliche Entwicklung der Immigration und die damit zusammenhängende Generierung von Subkulturen in den Fokus, die auch im Einwanderungsland ihr Heimat-, Gewohnheits- oder an religiösen Bräuchen orientiertes Recht leben143. Zu der Frage, welche Rechtsvorstellungen Migranten nach Deutschland „mitbringen“, schreibt Turner: „Überregional geltende Gewohnheitsrechte wie z. B. den Kanun-i-Lekes Dukanjini der Albaner oder das Paschtunwali der paschtunischen Afghanen, so genannte Ehrenkodizes. Und diese noch in lokalen Varianten. Hinzu kommen Elemente ihres jeweiligen nationalen Rechts – sofern sie es kennen bzw. so wie sie es akzeptieren oder interpretieren. Des Weiteren transferieren sie ihr religiöses Recht in offizieller Version und in informellen aber rechtsrelevanten Varianten. Sie treffen auf ein rechtspluralistisches Milieu, sehen sich mit diversen weiteren Fassungen des Rechtlichen konfrontiert, nach denen sie sich gleichfalls zu ­orientieren haben. Identitäten werden verändert, neue geschaffen, weitere addiert. Das kann dazu führen, dass nicht ein forum shopping, sondern eine Addition, eine Aufeinanderfolge 140 Zur Entscheidung dieser Streitigkeiten ist eine Gerichtsbarkeit der Muftis eingerichtet. Um Rechtskraft zu erlangen, müssen die Entscheidungen der islamischen Gerichte von einem Einzelrichtergericht erster Instanz des Bezirks, in dem der Mufti seinen Sitz hat, nach dem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit für vollstreckbar erklärt werden. Der staatliche Richter hat einen begrenzten Prüfungsrahmen. Er prüft nur, ob die Entscheidung innerhalb der Grenzen der Gerichtsbarkeit des Mufti gefällt wurde, und ob die angewendeten Vorschriften gegen die Verfassung verstoßen – hierzu E. J. Kastrissios, Länderteil Griechenland (2012), in: A. Bergmann/M. Ferid/D. Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, S. 1–130 (25 ff.). 141 Tamanaha, Legal Pluralism (Fn. 138), S. 386. 142 Zur lex mercatoria unter dem Gesichtspunkt des Rechtspluralismus Teubner, Bukowina (Fn. 137) passim; H.-J. Mertens, A Self-applying System Beyond National Law?, in: G. Teubner (Hrsg.), Global Law Without  a State, 2006, S.  31–43 passim. Eine Zusammenstellung der Grundsätze der lex mercatoria hat K. P. Berger auf der vom Center for Transnational Law der Universität Köln entwickelten Datenbank Trans-Lex zusammengestellt: www.trans-lex.org/ principles (03.12.2015). 143 Hierzu etwa die Überlegungen von I. Yilmaz, Muslim laws, politics and society in modern nation states: dynamic legal pluralism in England, Turkey and Pakistan, 2005; T ­ amanaha, Pluralism (Fn.  138), S.  388 f.; E. Röper, Die Grundrechte als Integrationsmaßstab, in: ZRP 2006, S. 187–190; A. Büchler, Islamisches Familienrecht in Europa? Begründungen und Grenzen rechtlicher Pluralität, in: L. Guliani (Hrsg.), Wissenschaftskolleg zu Berlin, Jahrbuch 2008/2009, 2010, S. 250–282 (268 ff.); jüngst auch P. Wiater, Rechtspluralismus und Grundrechtsschutz: Das Kölner Beschneidungsurteil, in: NVwZ 2012, S. 1379–1382 (1382).

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1. Teil: Eine Abgrenzung von Foren sich mit einem Disput beschäftigt. Nicht nur die staatliche Gerichtsbarkeit nimmt sich eines Falles an, anschließend, eventuell nach Abschluss eines ordentlichen Verfahrens, dessen Ergebnis man wenig Bedeutung beimisst, werden kulturell oder religiös anerkannte Instanzen involviert, kommt es zu einer weiteren ‚internen‘ Regelung des Disputes.“144

Turner hat damit bereits im Jahre 2004 auf die Problematik einer parallelen Rechtsstruktur unter Immigranten hingewiesen. Die Erkenntnis, dass auch in modernen Industriegesellschaften Elemente von starkem Rechtspluralismus vorhanden sind, muss den Fokus der Forschung darauf lenken, wie sich der Staat gegenüber diesen Erscheinungen verhalten sollte. Im Folgenden sollen hierzu einige Gedanken präsentiert werden, die auf die Erkenntnisse der Rechtspluralismus­ forschung zurückgreifen werden.

II. Religiöse Rechtsspaltung oder religiöse Schiedsverfahren als Antwort auf religiösen Pluralismus? Ein Staat hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf einen starken Rechtspluralismus zu reagieren. Er kann zum einen versuchen, diesen einzudämmen, also Maßnahmen ergreifen, die sich gegen rechtspluralistische Züge in der Gesellschaft wenden. Auf diese Maßnahmen wird sich die vorliegende Arbeit im Zweiten und Dritten Teil konzentrieren. Zum anderen besteht aber die Möglichkeit, die informellen Erscheinungsbilder paralleler Rechtsordnungen und Verfahren zu formalisieren. Auf diese Weise könnte ein schwacher Rechtspluralismus generiert werden, um die Ausbreitung eines starken Rechtspluralismus zu verhindern. Dies könnte entweder durch eine gespaltene Zivilrechtsordnung (1.) oder durch die Einrichtung religiöser Schiedsverfahren (2.) geschehen. 1. Religiöse Rechtsspaltung Um informellen Streitschlichtungs- und Streitentscheidungsverfahren entgegenzuwirken, könnte islamisches Recht als für Muslime geltendes staatliches Recht in Familien- und Erbrechtssachen für anwendbar erklärt werden. Ein plurales Rechtssystem könnte dazu beitragen, dass Muslime weniger Interesse hätten, informell und parallel zum offiziellen Rechtssystem Rechtsstreitigkeiten auszutragen. I­ hnen stünde dann ein Forum zur Verfügung, das auf ihre Interessen ausgerichtet ist. Urteile wären vollstreckbar. Für ein solches System könnte auf den ersten Blick außerdem sprechen, dass der Staat das islamische Recht kontrollieren und ihm gegebenenfalls die Geltung versagen kann. In Großbritannien hat die Union of Muslim Organisations of UK and Ireland schon in den 1970er Jahren eine Resolution ausgearbeitet, mit der sie ein religiös gespaltenes Zivilrecht forderte. Die staatlichen Gerichte sollten demnach das 144

Turner, Rechtspluralismus (Fn. 1), S. 171.

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muslimische Rechtssystem auf in Großbritannien und Irland lebende Muslime automatisch anwenden145. Ob die Mehrheit der in Großbritannien und Irland lebenden Muslime dieses Begehren allerdings befürworten würde, erscheint fraglich. Dafür könnte sprechen, dass die Mehrheit der ca. 1,6 Millionen146 muslimischen Einwanderer aus Indien und Pakistan stammt147. Dort gilt ein an der Scharia ausgerichtetes Familien- und Erbrecht. Aufgrund der Vergangenheit der britischen Kolonialherrschaft, die den Muslimen ein religiös geprägtes Familien-und Erbrecht beließ, wird angenommen, dass ein gespaltenes Rechtssystem als „Normalfall“ angesehen wird148. Belastbare empirische Erkenntnisse sind hierzu jedoch nicht vorhanden149. Anders als in Großbritannien sind die meisten deutschen Muslime allerdings­ türkischer Herkunft. Insgesamt stammen rund 2,5 bis 2,7 Millionen der in Deutschland lebenden Muslime aus der Türkei. Die Gesamtzahl muslimischer Bürger beträgt rund 3,8 bis 4,3 Millionen150. Der Anteil der aus der Türkei stammenden Muslime liegt in Deutschland also bei etwa 65 %. Die Türkei hat schon in den 145

Vertiefend hierzu Poulter, The Claim to a Seperate Islamic System of Personal Law for British Muslims, in: C. Mallat/J. Connors (Hrsg.), Islamic Family Law, 1990/1993, S. 147–166; siehe auch P. Fournier, The reception of Muslim family laws in western liberal states, 2005, abrufbar unter: http://www.wluml.org/node/504 (03.12.2015); R. Freeland/M. Lau, The Shari’a and English Law: Identity and Justice for British Muslims, in: A. Quraishi/F. E. Vogel (Hrsg.), The Islamic Marriage Contract: Case Studies in Islamic Family Law, 2008, S. 331–347. 146 Das Office for National Statistics zählt 1.588.890 Muslime: Office for National Statistics (Hrsg.), Focus on Ethnicity and Religion, 2006, S. 21, abrufbar unter: http://www.ons.gov.uk/ ons/rel/ethnicity/focus-on-ethnicity-and-religion/2006-edition/index.html (03.12.2015). 147 Office for National Statistics, Focus (Fn. 146), S. 21; hierzu auch Yilmaz, Muslim Laws (Fn. 143), S. 56. 148 S.  Poulter, Ethnicity, Law and Human Rights: the English Experience, 1998, S.  203; M. Rohe, Religiös gespaltenes Zivilrecht in Deutschland und Europa?, in: H. De Wall/M. Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, 2003, S. 409–429 (415); Yilmaz, Muslim Laws (Fn. 143), S. 199; Freeland/Lau, Shari’a (Fn. 145), S. 340 f. 149 Es existieren vielmehr sogar divergierende Umfrageergebnisse, wobei die empirische Belastbarkeit der einzelnen Umfragen hier nicht nachvollzogen werden kann. Eine Umfrage aus dem Jahre 1989 ergab, dass 66 % aller Muslime ihre Streitigkeiten lieber nach islamischem Recht lösen wollten (so Fournier, Reception [Fn.  145], ohne Seitenzählung). Eine im Jahre 2007 veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich 28 % der Muslime für die Anwendung islamischen Rechts aussprachen und 59 % die Anwendung britischen Rechts bevorzugen (M. Mirza/A. Senthilkumaran/Z. Ja’far, Living apart together. British muslims and the paradox of multiculturalism, 2007, abrufbar unter: http://www.policyexchange.org.uk/images/ publications/living%20apart%20together%20-%20jan%2007.pdf [03.12.2015]). Zum Ganzen auch Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  9), S.  168 ff., die zu dem Ergebnis kommt, dass jedenfalls nicht angenommen werden könne, dass die Mehrheit der Muslime die Anwendung islamischen Rechts befürworte. Dass „viele“ Muslime in Großbritannien die Anwendung islamischen Rechts begehren, meinen Freeland/Lau, Shari’a (Fn. 145), S. 331. 150 Bundesamt für Migration und Flüchtline (Hrsg.), Muslimisches Leben in Deutschland im Auftrag der deutschen Islam Konferenz, Stand: Juni 2009, S. 83, 85, abrufbar unter: http://www. bmi.bund.de/cae/servlet/contentblob/566008/publicationFile/31710/vollversion_studie_muslim_ leben_deutschland_.pdf (03.12.2015).

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1. Teil: Eine Abgrenzung

1920er Jahren die Scharia auch im Zivilrecht abgeschafft und ein am schweizerischen Recht angelehntes Zivilrecht erlassen. Zwar war dieses ebenfalls in weiten Teilen archaisch geprägt, mittlerweile hat sich die Türkei jedoch dem allgemeinen europäischen Standard angenähert. Jedenfalls im Hinblick auf den rechtlichen Hintergrund der in Deutschland lebenden Muslime kann daher die Vermutung aufgestellt werden, dass die Mehrheit der muslimischen Bürger gar kein Interesse an einem religiös gespaltenen Zivilrecht hätte151. Diese Annahme wurde im Februar 2012 vom Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V. im Zuge einer Reaktion auf den Vorstoß des rheinland-pfälzischen Justizministers Jochen Hartloff bestätigt, der für die Einrichtung islamischer Schiedsgerichte für zivilrechtliche Streitigkeiten plädierte152. Der Zentralrat der Muslime nahm hierzu mit folgender Presse­ erklärung Stellung: „Eine außergerichtliche Streitschlichtung ist zu begrüßen, weil sie unsere Gerichte entlasten und oft nachhaltiger die Streitparteien befrieden können [sic]. Der ZMD wird aber keinesfalls einer parallelen islamischen Justiz das Wort reden. Dies haben wir bereits vor 10 Jahren in unserer Charta differenziert festgehalten und daran wird sich auch heute nichts ändern.“153

Dementsprechend heißt es in Punkt 13 der Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft (Islamische Charta): „Das Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige lokale Rechtsordnung anzuerkennen, schließt die Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb-, und Prozessrechts ein.“154

Neben den tatsächlichen Gegebenheiten, die gegen ein Bedürfnis der in Deutschland lebenden Muslime nach der Implementierung islamischen Rechts sprechen, bestehen gewichtige rechts- und migrationspolitische Bedenken. Zunächst ist es für viele Muslime nicht nur Glaubensinhalt, ihre Streitigkeiten nach islamischem 151

So auch Rohe, Zivilrecht (Fn. 148), S. 415. Der Wortlaut des Justizministers ließ sich im Ergbnis nicht mehr eindeutig nachvollziehen. Unabhängig davon, ob er für ein religiös gespaltenes Zivilrecht, islamische Schiedsgerichte oder lediglich für außergerichtliche islamische Streitbeilegung plädiert hat, haben seine Aussagen eine breite mediale Diskussion angeregt. Aus der Fülle der Reaktionen siehe etwa C. Lemmer, SPD-Minister: Scharia-Richter denkbar, in: Berliner Zeitung Online, 2.2.2012, abrufbar unter: http://www.bz-berlin.de/aktuell/deutschland/spd-minister-scharia-richter-denkbararticle1376757.html (03.12.2015); F. Leclerc, Justizminister kann sich Scharia-Gerichte vorstellen, in Frankfurter Rundschau Online, 3.2.2012, abrufbar unter: http://www.fr-online.de/ politik/jochen-hartloff-justizminister-kann-sich-scharia-gerichte-vorstellen,1472596,11566738. html (03.12.2015); D. Baspinar, Muslime brauchen die Scharia nicht, in: ZEIT Online, 7.2.2012, abrufbar unter http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012–02/scharia-schiedsgerichte (03.12.2015). 153 Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V., ZMD-Stellungnahme zu den sogenannten „Scharia-Gerichten“ [sic] und außergerichtlichen Streitschlichtungen, abrufbar unter: http:// zentralrat.de/19718.php (03.12.2015). 154 Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft (Islamische Charta) vom 3. Februar 2002, abrufbar unter: http://zentralrat.de/3035.php (03.12.2015). 152

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Recht entscheiden zu lassen, sondern über diese Streitigkeiten auch nur Muslime entscheiden zu lassen. Muslime, die auf einem islamischen Gericht bestehen, würden daher die Autorität eines nichtmuslimischen Richters nicht anerkennen. Dies ist insbesondere zu vermuten, sofern es um die Auslegung islamischer Rechts­ vorschriften geht155. Um dem Begehren dieser Muslime zu entsprechen, würde demnach die Etablierung eines muslimischen Familien- und Erbrechts, das durch staatliche Gerichte angewendet wird, nicht genügen. Es müssten zusätzlich islamische Gerichte eingerichtet werden, die ausschließlich mit Muslimen besetzt sind156. Eine religiöse Rechtsspaltung im materiellen Recht würde also auch eine Spaltung des Gerichtswesens mit sich bringen. Eine solche Rechts- und Gerichtsspaltung ist jedoch migrationspolitisch nicht wünschenswert. Rechtsethnologische Forschungen in rechtspluralistisch geprägten Ländern zeigen, dass eine Anerkennung von Rechtspluralismus die Gefahr der Abgrenzung der verschiedenen Gruppen birgt. Ethnizität wird gefördert, wo eigentlich ein Zusammenwachsen der Bevölkerung wünschenswert wäre157. Die Einrichtung unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten kann zu einem Identifikationsverlust mit der Gesamtgemeinschaft und dadurch zu einer Fragmentierung der Gesellschaft führen. Eine rechtspluralistische Struktur, in der sich je nach Bevölkerungsgruppe das Familienrecht unterscheidet, wirkt der Integration entgegen und fördert Abschottung und das Heranwachsen von Parallelgesellschaften158. Insbesondere in Fällen, in denen sich die jeweiligen Teilrechtsordnungen auf verschiedene Legitimationsgrundlagen berufen, wenn also beispielsweise religiöses Recht oder vorstaatliche Traditionen neben staatlichem Recht herangezogen werden, ist das Konfliktpotenzial groß. Mit dem Hinzuziehen weiterer Legitimationsgrundlagen wird gleichzeitig die legitime Macht der jeweils hinter den anderen Ordnungen stehenden Autoritäten – also im konkreten Fall die des Staates – relativiert159. 155 Hierzu Freeland/Lau, Shari’a (Fn. 145), S. 343; in diesem Sinne auch Büchler, Familienrecht (Fn. 143), S. 271: „(…) zumal in eigentlichen ‚Parallelstrukturen‘ auch Zuständigkeit und Verfahren einer eigenen Ordnung folgen.“ 156 So ebenfalls S. Poulter, Ethnicity (Fn. 148), S. 203. 157 Hierzu Rünger, Rechtspluralismus (Fn. 139), S. 33; Benda-Beckmann, Pluralismus (Fn. 136), S. 64 f. 158 Ähnlich wie hier vor allem A. Büchler, Kulturelle Vielfalt und Familienrecht: Die Bedeutung kultureller Identität für die Ausgestaltung europäischer Familienrechtsordnungen  – am Beispiel islamischer Rechtsverständnisse, in: G. Nolte u. a. (Hrsg.), Pluralistische Gesellschaften und internationales Recht, 2008, S.  215–245 (239): „Zum zweiten gefährden familienrechtspluralistische Strukturen die gesellschaftliche Kohärenz und Kohäsion […], zumal auch Zuständigkeit und Verfahren einer eigenen Ordnung folgen würden.“ In diesem Sinne außerdem noch Brocker, Scharia-Gerichte (Fn. 18), S. 327 sowie Wittreck, Paralleljustiz (Fn. 15), S. 118; instruktiv hierzu auch A. Pacini, Socio-Political Dynamics of Arab Christians in J­ ordan, Israel, and the Autonomous Palestinian Territories, in: ders. (Hrsg.), Christian Communities in the Arab Middle East, 1998, S. 259–285 (269). 159 Benda-Beckmann, Pluralismus (Fn.  136), S.  65; von einer „abdication of sovereignty“ sprechen Freeland/Lau, Shari’a (Fn.  145), S.  341; diesbezügliche Bedenken äußerten auch M. Rohe, Der Islam und deutsches Zivilrecht, in: H.-G. Ebert/T. Hanstein (Hrsg.), Beiträge zum islamischen Recht II, 2003, S. 35–61 (59) sowie Witte/Nichols, Frontiers (Fn. 343), S. 369.

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1. Teil: Eine Abgrenzung

Außerdem besteht eine erhöhte Gefahr, dass Freiheitsrechte „schwacher“ Gruppenmitglieder eingeschränkt werden. Dies gilt selbst dann, wenn man jedem Gruppenmitglied das Recht zubilligt, sich jederzeit dem auf die Gruppe anwendbaren Recht zu entziehen. Andrea Büchler umschreibt auf Gruppenautonomie ausgerichtete Familienrechtsordnungen als konzentrische Anordnung individueller und kollektiver Privatheit, in der individuelle Rechte in der Zugehörigkeit zum Kollektiv aufgehen160. Für Individuen ist es demnach problematisch, sich von dem für die Gruppe geltenden Recht loszusagen. Konflikte zwischen individueller Freiheit und kollektiver Gruppenzugehörigkeit lassen sich kaum vermeiden. Für den Einzelnen wird dies umso problematischer, je stärker seine Identität durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft geprägt wird161. Indem einer Gruppe das Recht zugebilligt wird, ihre Mitglieder an bestimmte kulturelle oder religiöse Praktiken zu binden, werden gleichzeitig Freiheitsrechte der Gruppe angehöriger Individuen gefährdet. Die Zusicherung von Gruppenautonomie ist aber kein Selbstzweck um der Autonomie willen. Sie wird zugesichert, um die kulturelle oder religiöse Identität der einzelnen Gruppenmitglieder zu wahren, also vor allem zum Schutz der eigenen Identität vor der Mehrheitsgesellschaft. Nur in diesem Fall ist Autonomiegewährung zu rechtfertigen. Fordert eine Gruppe hingegen Autonomien, um ihre Mitglieder auf bestimmte Traditionen oder Praktiken – wie beispielsweise die Inanspruchnahme einer gruppeninternen Gerichtsbarkeit – zu verpflichten, ist dies nicht zu rechtfertigen162. Ein zu großes Maß an Autonomie kann daher Freiheitsrechte der einzelnen Gruppenmitglieder gefährden und läuft somit der ursprünglichen Rechtfertigung des Autonomiegedankens entgegen163. Überdies findet in Sachverhalten mit hinreichendem Auslandsbezug das islamische Recht auch jetzt schon über das internationale Privatrecht Anwendung, sofern es Teil der zur Anwendung berufenen ausländischen Rechtsordnung ist. Gerade für Rechtsfragen, die das Familien- und Erbrecht betreffen, wird zunächst an die Staatsangehörigkeit angeknüpft. So bestimmt Art.  14 EGBGB, dass sich die allgemeinen Wirkungen der Ehe zunächst nach dem Recht desjenigen Staates richten, dem beide Ehegatten angehören oder während der Ehe zuletzt angehörten, wenn einer von ihnen diesem Staat noch angehört. Dasselbe gilt für Fragen bezüglich des Güterstandes sowie die auf die Scheidung anwendbaren Vorschriften. Auch im Erbrecht ist auf Fragen bezüglich der Rechtsnachfolge und der Verfügung von Todes wegen gemäß Art. 25 und 26 EGBGB zunächst das Recht desjenigen Staates anwendbar, dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes angehörte. Auch in Fällen, in denen nach dem internationalen Privatrecht kein hinreichender Auslandsbezug vorliegt, bietet die Dispositionsfreiheit einen weiten Rahmen 160

 Büchler, Vielfalt (Fn. 158), S. 239; dies., Familienrecht (Fn. 143), S. 272. Büchler, Familienrecht (Fn. 143), S. 272. 162 So differenziert zutreffend Will Kymlicka, Multicultural Citizenship: A liberal theory of minority rights, 1998, S. 34 ff. 163 Büchler, Familienrecht (Fn. 143), S. 272. 161

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für auf das islamische Recht abgestimmte Rechtsgestaltung, beispielsweise bei der Gestaltung von Eheverträgen164. Die Grenzen zulässiger Individualvereinbarungen sind hier weit, lediglich die zivilrechtlichen Generalklauseln setzen der Privatautonomie über die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte Grenzen. In welchen Fällen islamisches Recht an die Grenzen zulässiger Rechtsgestaltung stößt, wird ausführlich im Zweiten Teil in Kapitel D. I. der Arbeit besprochen. An dieser Stelle genügt es anzumerken, dass dort, wo der Rechtsgestaltung durch verfassungsrechtliche Wertungen Grenzen gesetzt sind, grundsätzlich auch eine gespaltene Zivilrechtsordnung keine weitergehenden Gestaltungsmöglichkeiten einräumen dürfte. Was verfassungsrechtlich unzulässige Rechtsgestaltung nach geltendem Recht ist, würde nicht durch die Implementierung einer gespaltenen Zivilrechtsordnung zulässig. Daneben stellt sich ein beachtliches praktisches Problem. Islamisches Erb- und Familienrecht ist  – wie noch zu zeigen sein wird  – geprägt von Uneinheitlichkeit. Die Interpretationen divergieren nicht nur zwischen den, sondern auch innerhalb der einzelnen Rechtsschulen. Die Anwendung des islamischen Rechts durch staatliche Gerichte birgt somit extreme Unsicherheiten und erscheint kaum praktikabel165. Auch würden sich in Fällen, in denen Personen verschiedener Reli­ gionszugehörigkeit beteiligt sind, Probleme eines interreligiösen Kollisionsrechts ergeben166. Es würde letztlich nur die Möglichkeit bleiben, doch wieder auf das staatliche Recht zurückzugreifen. Darüber hinaus ist ein religiös gespaltenes Zivilrecht im Hinblick auf die negative Religionsfreiheit problematisch167. Soll zur Anwendung religiösen Rechts das einmalige Bekenntnis zum Islam ausreichen? Oder soll vor jedem Verfahren Wahlfreiheit bestehen, ob islamisches oder deutsches Recht Anwendung findet? Der negativen Religionsfreiheit würde es widersprechen, wenn nachträglich keine Möglichkeit bestünde, ein religiöses Verfahren abzulehnen. Denn Art.  4 GG wird beeinträchtigt, wenn der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit einem bestimmten Glauben ausgesetzt wird168. Die Gewährung von Wahlfreiheit würde hingegen dazu führen, dass die Betroffenen das Recht zur Anwendung gelangen lassen könnten, das für sie im konkreten Fall am vorteilhaftesten ist. Es käme zu einem forum shopping zwischen religiöser und staatlicher Gerichtsbarkeit. 164

Hierzu im Detail noch unten Zweiter Teil D. 1.  So zutreffend H. Ansari, The Legal Status of Muslims in the UK, in: R. Aluffi/G. Zincone (Hrsg.), The Legal Treatment of Islamic Minorities in Europe, 2004, S. 255–287 (266); F ­ ournier, Reception (Fn.  145) (ohne Seitenzählung); Freeland/Lau, Shari’a (Fn.  145), S.  342; Rohe, Zivilrecht (Fn. 148), S. 424. 166 So zutreffend Rohe, Zivilrecht (Fn. 148), S. 421. 167 So auch A. L. Estin, Embracing Tradition: Pluralism in American Family Law, in: Maryland Law Review 63 (2004), S. 540–604 (600 f.); J.-F.Gaudreault-DesBiens, On Private Choices and Public Justice: Some Microscopic and Macroscopic Reflections on the State’s role in Addressing Faith-Based Arbitration, in: R. Murphy/P. A. Molinari (Hrsg.), Doing Justice: Dispute Resolution in the Courts and Beyond, 2009, S. 247–286 (259, 263). 168 BVerfGE 93,1 (16). 165

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1. Teil: Eine Abgrenzung

2. Religiöse islamische Schiedsverfahren Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit169. Schiedsgerichte sind aus einem oder mehreren Schiedsrichtern zusammengesetzte Privatgerichte, denen die Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten durch private Willenserklärung übertragen ist170. Sie sind als funktionale Äquivalente zur herkömmlichen staatlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich anerkannt und ersetzen das staatliche Gericht nahezu vollständig171. Schiedsgerichte agieren demnach weitgehend autonom, lediglich in besonderen Fällen behält sich der Staat ein Prüfungsrecht vor, das er im Vollstreckungs- und im Aufhebungsverfahren ausübt172. Eine religiöse Schiedsgerichtsbarkeit wird teilweise aus migrationspolitischen Gründen als sinnvoll bewertet. Durch die Implementierung der religiösen Verfahren in das offizielle System könne dem unerwünschten Autonomiegewinn informeller religiöser Gerichte entgegengewirkt und die Integration von Muslimen gefördert werden173. Tatsächlich haben Schiedsverfahren den Vorteil, dass die Parteien sowohl die Schiedsrichter bestimmen als auch das islamische Recht in seiner anzuwendenden Form festlegen können174. Ersteres könnte zu einer größeren Akzeptanz eines offiziellen Verfahrens unter Muslimen führen. Letzteres könnte dem Problem der Unberechenbarkeit des islamischen Rechts zumindest entgegenwirken175. Der oben angesprochenen Problematik der negativen Religionsfreiheit könnte begegnet werden, indem man die Schiedsklausel, sobald sie bei einer konkreten Strei 169 Zur religiösen Schiedsgerichtsbarkeit insgesamt Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  9); zum deutschen Schiedsverfahrensrecht siehe noch unten 2. Teil C. III. 1. 170 K. H. Schwab/G. Walter, Schiedsgerichtsbarkeit. Systematischer Kommentar zu den Vorschriften der Zivilprozessordnung, des Arbeitsgerichtsgesetzes, der Staatsverträge und der Kostengesetze über das privatrechtliche Schiedsgerichtsverfahren, 7. Aufl. 2005, Kap.  1, Rn.  1; J.-P. Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008, Rn. 2; R. A. Schütze, Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 5. Aufl. 2012, Rn. 1. 171 BGH 65, 59 (61); F. Ebbing, Private Zivilgerichte. Möglichkeiten und Grenzen privater (schiedsgerichtlicher) Zivilrechtsprechung, 2003, S.  57; F.  Hesselbarth, Schiedsgerichtsbarkeit und Grundgesetz, 2004, S. 21 ff.; F. N. Rehm, Die Schiedsgerichtsbarkeit im Rechtssystem, 2009, Rn. 199. 172 Hierzu etwa J. Münch in: T. Rauscher/P. Wax/J. Wenzel (Hrsg.) Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 1059 Rn. 1 ff.; zur Schiedsgerichtsbarkeit noch unten Zweiter Teil C. III. 1. 173 In diesem Sinne etwaYilmaz, Muslim Laws (Fn. 143), S. 63 f.; M. Malik, Muslim Legal Norms and the Integration of European Muslims, EUI Working Papers RSCAS 2009/29, S. 22, abrufbar unter: http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/11653/RSCAS%202009_29.pdf?sequence=1 (03.12.2015); Büchler, Familienrecht (Fn. 143), S. 275; T. Modood, Multicultural Cititzenship and the Shari’a Controversy in Britain, in: R. Ahdar/N. Aroney (Hrsg.), Shari’a in the West, 2010, S. 33–42 (41); mit Einschränkungen auch Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 163, 249. 174 Zu den rechtlichen Rahmenbedingungen religiöser Schiedsgerichte in Deutschland Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9) S. 191 ff. 175 So auch Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 246 f.

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tigkeit relevant wird, unter einen Bestätigungsvorbehalt setzt176. Auch besteht bei Schiedsverfahren der Vorteil, dass nicht pauschal Rechte auf bestimmte Autoritäten übertragen werden. Die Kompetenz muss jeweils für das streitige Rechtsverhältnis begründet werden177 (wobei dann freilich wieder die soeben angesprochene Problematik eines forum shoppings zwischen religiöser und staatlicher Gerichtsbarkeit besteht). Muslime könnten durch religiöse Schiedsverfahren ihre Autonomie wahren, gleichzeitig bestünden aber Kontrollmöglichkeiten des Staates178. Zu dem tatsächlichen Bedarf religiöser Schiedsverfahren gilt allerdings das zu der Thematik einer gespaltenen Zivilrechtsordnung Gesagte gleichermaßen. Insbesondere ist auch hier zu konstatieren: dort, wo die Grundrechte der Gestaltungsfreiheit Grenzen setzen, müssen sie grundsätzlich auch einem Schiedsverfahren Grenzen setzen. Hötte stellt allerdings fest, dass der Staat bei der Überprüfung eines Schiedsspruchs beachten müsse, dass in der Rechtswahl der Parteien bereits eine Geschlechterdiskrimminierung angelegt sein könne und daher fraglich sei, inwieweit der Staat diesbezüglich aufgrund des ordre public-Vorbehalts noch eingreifen dürfe179. Eklatante Grundrechtsverletzungen dürften jedoch aufgrund des ordre public-Vorbehalts auch hier unzulässig sein. Fraglich erscheint schließlich, ob diejenigen Muslime, die sich grundsätzlich informeller religiöser Verfahren bedienen, tatsächlich Schiedsverfahren in Anspruch nehmen würden. Denn sofern eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit in Familienund Erbrechtsstreitigkeiten befürwortet wird, wird dies meist mit der Forderung nach der Implementierung von bisher nicht vorhandenen Schutzmechanismen verknüpft. Vorgeschlagen wird insbesondere eine Kombination aus ex ante- und ex post-Kontrolle180. Häufig genannt werden beispielsweise strengere Formvorschriften, obligatorische anwaltliche Beratung, gesicherte Qualifikation der Schiedsrichter, Aufzeichnung des Verfahrens und Begründungspflichten der Schiedssprüche181. Dies erscheint bezogen auf die sensiblen Bereiche des Familien- und Erbrechts auf den ersten Blick durchaus sinnvoll. Muslime könnten in den Regelungen allerdings einen zu starken Eingriff in ihre religiösen Vorstellungen sehen und wiederum auf inoffizielle Verfahren ausweichen, um die gesteckten Grenzen zu umgehen. 176

So auch Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 133 ff.; Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 247. 177 Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 11. 178 Zur Frage, ob die Kontrollmöglichkeiten des deutschen Schiedsverfahrensrechts im Hinblick auf die spezifischen Gefährdungssituationen religiöser Schiedsverfahren im Familienund Erbrecht ausreichend sind bzw. an welchen Stellen Nachbesserungsbedarf besteht, ausführlich Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 238 ff. 179 Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 221. 180 Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 245 ff. 181 Zu Änderungsvorschlägen im deutschen Schiedsverfahrensrecht Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 9), S. 241 ff.; im Zuge der kanadischen Debatte insbesondere Boyd, Dispute Resolution (Fn. 77), S. 133 ff.; hierzu außerdem A. M. Emon, Conceiving Islamic law in a pluralistic society: history, politics and multicultural jurisprudence, in: Singapore Journal of Legal Studies 2006, S. 331–355 (354) sowie Bader, Pluralism (Fn. 78), S. 63 ff.

Zweiter Teil

Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich die deutsche Rechtsordnung zu informeller religiös oder traditionell motivierter Streitschlichtunge und -entscheidung verhält. Vorangestellt werden ein Überblick über die Entstehung des islamischen Rechts sowie die Grundzüge des materiellen islamischen Erb- und Familienrechts (A.) Sodann wird zunächst geprüft, ob religiös oder traditionell motiviertes Schlichten und Entscheiden von Rechtsstreitigkeiten grundrechtlich geschützt ist (B.). Danach soll untersucht werden, ob religiöse Paralleljustiz gegen die deutsche Rechtsordnung verstößt und daher Maßnahmen zu ihrer Unterbindung getroffen werden können. Hierbei wird zunächst geprüft, inwieweit die deutsche Rechtsordnung die Etablierung einer Paralleljustiz erlaubt, und ob einer solchen durch ein staatliches Rechtsprechungsmonopol Grenzen gesetzt sind (C.). Anschließend wird untersucht, ob dem Staat Eingriffsmöglichkeiten eröffnet sind, wenn in informellen Schlichtungen Grundrechte der Beteiligten verletzt werden (D.). Sodann wird auf eine mögliche Verletzung der öffentlichen Ordnung durch die informellen Verfahren eingegangen (E.). Im Anschluss wird geprüft, ob die Schlichter durch die Ausübung ihrer Tätigkeiten gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstoßen (F.). Letztlich stellt sich die Frage, ob typischerweise die Gefahr eines strafbaren Verhaltens im Zusammenhang mit Paralleljustiz im familienrechtlichen Bereich besteht (G.).

A. Das islamische Recht: Entstehung, Rechtsquellen und Grundzüge des materiellen Familien- und Erbrechts Um die informelle Anwendung des islamischen Rechts beurteilen zu können, ist es zunächst notwendig, sich das islamische Recht in seinen Grundzügen zu vergegenwärtigen. Da sich Systematik und Inhalt des islamischen Rechts zu großen Teilen aus dessen geschichtlicher Entstehung erklären, soll auch auf diese kurz eingegangen werden (I.). Essentiell für das Verständnis des islamischen Rechts ist dessen Rechtsquellenlehre (II.). Schließlich werden die Grundzüge des islamischen Familien- und Erbrechts dargestellt (III.).

A. Das islamische Recht

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I. Entstehung und frühe Geschichte des islamischen Rechts Die Darstellung der Entstehung und Geschichte des islamischen Rechts beginnt mit dem Leben und Wirken Muhammads (1.). Sodann wird die Zeit der ersten­ Kalifen beschrieben (2.). Schließlich soll die Entstehung der Rechtsschulen kurz umrissen werden (3.). 1. Muhammads Zeit in Medina Die Herausbildung des islamischen Rechts begann ca. im Jahre 622 n. Chr. Zu dieser Zeit wanderte Muhammad mit einigen Anhängern von Mekka nach Yathrib, dem späteren Medina, aus (hiğra)1. Dort wurde er Anführer einer Gemeinschaft, die aus vielen einzelnen, teilweise zerstrittenen arabischen und jüdischen Stämmen bestand2. Schon bevor er nach Medina auswanderte, traf er mit den zerstrittenen Stämmen ein Übereinkommen. Diese „Gemeindeordnung von Medina“ wurde zur Grundlage einer neuen politischen Ordnung3. Hervorzuheben ist, dass Muhammad auch die Autorität zur Entscheidung von Streitigkeiten übertragen wurde4. In diesem Zusammenhang verdeutlicht der Koran, dass ­Muhammad nicht systematisch Regelungen aufstellte, sondern vielmehr immer, wenn ein neues Problem an ihn herangetragen wurde, versuchte, eine adäquate Lösung für den Einzelfall zu finden5. Aus diesem Grund erfolgte eine punktuelle, fallbezogene Entwicklung des 1 W. M. Watt/A. T. Welch, Der Islam, Bd.  I, Mohammed und die Frühzeit  – Islamisches Recht  – Religiöses Leben, 1980, S.  95 ff.; G. Krämer, Geschichte des Islam, 2. Aufl. 2008, S. 23; M. Rohe, Das Islamische Recht: Geschichte und Gegenwart 3. Aufl. 2011, S. 21; instruktiv zur Übersiedlung Muhammads von Mekka nach Medina A. Noth, Früher Islam, in: H. Halm (Hrsg.), Geschichte der arabischen Welt, 4. Aufl. 2001, S. 11–100 (11 ff.) sowie E. Serauky, Geschichte des Islam. Entstehung, Entwicklung und Wirkung. Von den Anfängen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, 2003, S. 88 ff. 2 W. M. Watt, Muḥammad, in: P. M. Holt u. a. (Hrsg.), The Cambridge History of Islam (1) 1970, S. 30–56; H. Küng, Der Islam: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, 4. Aufl. 2006, S. 195; Rohe, Recht (Fn. 1) S. 21. 3 Hierzu näher Watt/Welch, Islam Bd. I (Fn. 1), S. 96 ff. 4 H. Motzki, Die Entstehung des Rechts, in: A. Noth/J. Paul (Hrsg.), Der islamische Orient, Grundzüge seiner Geschichte, 1998, S. 151–172 (156); F. M. Donner, Muhammad and the caliphate, in: J. L. Esposito (Hrsg.), The Oxford History of Islam, 1999, S. 1–61 (8); C. Schirrmacher, Der Islam. Geschichte – Lehre. Unterschiede zum Christentum, Bd. I, 2. Aufl. 2003, S. 279; P. Bleisch Bouzar, Islamisches Recht, in: R. De Mortanges (Hrsg.) Religionsrecht, Eine Einführung in das jüdische, christliche und islamische Recht, 2010, S. 253–349 (266); ausführlich zu Muhammads Rolle als rechtlicher Führer J. E. Lowry, The Prophet as lawgiver and legal authority, in: E. Brockopp (Hrsg.), The Cambridge Companion to Muhammad, S. 83–102. 5 A. A. Syed, Principles of Mohammedan Law, 1983, S. 9 f.; E. Klingmüller, Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen im islamischen Recht, in: W. Fikentscher/H. Franke/O. Köhler (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, 1980, S. 375–414 (382); Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 156.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Rechts. Einige Verse des Korans sind demnach sogar explizit als Antworten auf Fragen der Anhänger Muhammads formuliert6. Der Prophet war also nicht nur Verkünder der göttlichen Botschaft, sondern auch die durch den Koran7 vorgegebene Person, an die sich die Gläubigen bei Rechtsstreitigkeiten wenden sollten8. Auch wenn die endgültige Einrichtung des Richteramtes erst dem zweiten Kalifen9 zugeschrieben wird10, liegt hier der Ursprung des islamischen Richters (qādi)11 und des religiös-rechtlichen Ratgebers (muftī)12, die auch heute noch von vielen Mus­ limen als einzige legitime judikative Entscheidungsträger angesehen werden. Zur Zeit Muhammads in Medina vollzog sich damit die Abkehr von der beduinischen Ordnung der arabischen Stammesgesellschaft. Es existierten zwar auch damals schon bestimmte Verhaltensregeln, diese waren jedoch lediglich durch „den Brauch der Väter“ legitimiert13. Die Entscheidungen des Propheten wurden hingegen als Gesetz Gottes angesehen und erhielten somit eine religiöse Legitimationsbasis14. Da Muhammad immer nur einzelne Streitigkeiten schlichtete, hinterließ er den Gläubigen bei seinem Tod kein ausdifferenziertes kodifiziertes islamisches Recht15. Zurück blieb eine unvollständige Ansammlung von Entscheidungen bzw. Verhaltensanweisungen16. Dies war der Anfangspunkt zur Entwicklung der Scharia, deren vollständige Herausbildung jedoch noch nahezu zwei Jahrhunderte andauerte17. 6

Hierzu gibt Harald Motzki folgendes Beispiel: „Eine Reihe von Versen aus medinensischer Zeit beginnt mit der Formel: ‚Sie (die Muslime)  fragen dich (Muhammad)  nach… Sag:..(…)‘. Ein Beispiel dafür ist Sure 4:176: Sie fragen dich um Auskunft. Sag: ‚Gott gibt euch (hiermit) über die seitliche Verwandtschaft (und deren Anteil am Erbe) Auskunft.‘ […]“ (Motzki, Entstehung [Fn. 4], S. 156). 7 Sure 4:59 lautet: „Oh ihr, die ihr glaubt! Gehorcht Gott, und gehorcht dem Gesandten und denen, die unter euch Befehlsgewalt besitzen. Und wenn ihr über etwas in Streit geratet, dann bringt es vor Gott und den Gesandten, sofern ihr an Gott glaubt und an den jüngsten Tag. Das ist das Beste (für euch) und nimmt am ehesten einen guten Ausgang.“ (A. Ünal, Der Koran und seine Übersetzung mit Kommentar und Anmerkungen, 2009, Sure 4:59). 8 Watt/Welch, Islam Bd. I (Fn. 1), S. 234; Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 159; N. J. Coulson, A History of Islamic Law, 8. Aufl. 1999, S. 21 f.; vorsichtiger zu der Muhammad durch den­ Koran zugeschriebenen Rolle als Richter: Lowry, Prophet (Fn. 4), S. 84. 9 Zu den Kalifen siehe sogleich Zweiter Teil A. I. 2. 10 H. Busse, Grundzüge der islamischen Theologie und der Geschichte des islamischen Raumes, in: W. Ende/U. Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. 2005, S. 21–54 (30). 11 Zum Begriff des qādi vgl. Th. W. Juynboll, ḲĀḌῙ, in: M. Th. Houtsma u. a. (Hrsg.), En­ zyklopaedie des Islam, Geographisches, etnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker, Bd. II, 1927, S. 649. 12 Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 160; zur Institution des Muftis siehe auch J. Schacht, An Introduction to Islamic Law, Nachdruck der 1. Aufl. 1964, 1986, S. 73 ff. 13 Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 159; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 266. 14 Motzki, Entstehung (Fn.  4), S.  159; Serauky, Geschichte (Fn.  1), S.  90; Küng, Islam (Fn. 2), S. 194. 15 Watt, Muḥammad (Fn. 2), S. 55; Küng, Islam (Fn. 2), S. 195. 16 Syed, Principles (Fn. 5), S. 9 f.; Klingmüller, Entstehung (Fn. 5), S. 383; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 268. 17 Klingmüller, Entstehung (Fn. 5), S. 383.

A. Das islamische Recht

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2. Die Zeit der Kalifen Nach Muhammads Tod im Jahre 632 musste ein Nachfolger (halīfa, Kalif) gefunden werden, auf den die legislativen, judikativen und exekutiven Funktionen des Propheten übergehen sollten18. Über die Frage der Nachfolge des Propheten entfachte sich ein Streit, der den Islam bis heute prägt. Der Streit um die Nachfolgefrage löste die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten aus19. Die späteren Schiiten waren der Ansicht, dass Muhammad zu seinen Lebzeiten seinen Vetter und Schwiegersohn ʿAlī zu seinem Nachfolger ernannt hatte20. Bis heute folgen sie der Ansicht, dass Muhammad ʿAlī als „geistlichen Vorsteher und damit zugleich als Haupt der Theokratie auf der Erde eingesetzt“21 hat. „Das ‚Licht‘ der göttlichen Inspiration sei von Muhammad auf ihn und – später – weiter auf seine leiblichen und spirituellen Nachkommen übergegangen.“22 Die Nachfolger ʿAlīs sind daher nach schiitischer Ansicht zugleich als Imāme die einzigen Personen, die die Autorität zur Auslegung des islamischen Rechts besitzen23. Die heutigen Sunniten hingegen verlangten die Wahl eines Kalifen aus dem Stamm der Koreischiten (Quraiš), dem mekkanischen Adelsstamm, dem Muhammad entstammte24. Auch sie folgten also in der Nachfolgefrage einem genealogisch-­ tribalen Prinzip (nasab). Hinzu kam ein religiös geprägtes Kriterium, nämlich die Frage nach früheren Verdiensten um die Unterstützung des Propheten und Durchsetzung des Glaubens25. Sie waren ferner der Ansicht, dass der Nachfolger durch Wahl bestimmt und durch eine öffentliche Huldigung bestätigt werden sollte26.

18 Küng, Islam (Fn.  2), S.  211; Krämer, Geschichte (Fn.  1), S.  29; Rohe, Recht (Fn.  1), S. 24 f.; A. Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker, 4. Aufl. 2014, S. 44. 19 C. Schirrmacher, Der Islam. Geschichte – Lehre. Unterschiede zum Christentum. Bd. II, 2. Aufl. 2003, S.  2; D. Zacharias, Islamisches Recht und Rechtsverständnis, in: S.  Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 45–157 (91); Rohe, Recht (Fn. 1), S. 24 f. Mit fast 90 % gehört die überwiegende Mehrheit der Muslime dem sunnitischen Islam an (T. Miller [Hrsg.], Mapping the Global Muslim Population. A Report on the Seize and Distribution of the World’s Muslim population, October 2009, Pew Research Center, S. 8, abrufbar unter: http://www.pewforum.org/uploadedfiles/Orphan_ Migrated_Content/Muslimpopulation.pdf [03.12.2015]). 20 T. Nagel, Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, 1994, S. 57 f.; Busse, Grundzüge (Fn. 10), S. 29; D. Waines, An introduction to Islam, 4. Aufl. 2006, S. 156; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 25. 21 Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 92. 22 Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 92; ähnlich Nagel, Geschichte (Fn. 20), S. 58. 23 A. Fyzee, Outlines of Muhammadan Law, 4. Aufl. 1999, S. 44; Nagel, Geschichte (Fn. 20), S. 59. 24 Watt/Welch, Islam Bd. I (Fn. 1), S. 51; Noth, Islam (Fn. 1), S. 12; H. Busse, Grundzüge (Fn.  10), S.  28 f.; W. A. Saleh, The Arabian context of Muḥammad’s life, in: J. E. Brockopp (Hrsg.), The Cambridge Companion to Muḥammad, 2010, S. 21–38 (28). 25 Noth, Islam (Fn. 1), S. 73 ff. 26 Schirrmacher, Islam Bd. 2 (Fn. 19), S. 2.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Im Ergebnis wurde Abū Bakr (632–634), Schwiegervater des Propheten und einer seiner frühsten Anhänger, zum ersten Kalifen ernannt27. Nach seiner nur zweijährigen Regierungszeit folgte ihm ʿUmar ibn al-Khaṭṭāb (634–644), ebenfalls ein Schwiegervater des Propheten28. Dritter Kalif wurde ʿUthmān (644–656), ein Schwiegersohn des Propheten29. Der vierte Kalif wurde schließlich ʿAlī30. Für die heutigen Schiiten war demnach erst der vierte Kalif der erste rechtmäßige Nachfolger Muhammads.  Auch innerhalb der Gruppe der Schiiten kam es jedoch bedingt durch die Uneinigkeiten um die Nachfolgefrage immer wieder zu Spaltungen31. Die Mehrheit der Schiiten gehört heute der Gruppe der Zwölferschiiten an. Sie sind beispielsweise im Irak stark vertreten und ihre Lehre ist Grundlage der Staatsreligion des Irans32. Da sich aus Sicht der Schiiten die ersten Kalifen gegen den Willen Muhammads das Kalifat angemaßt hatten, galten diese für sie nicht als Garanten einer wahrheitsgetreuen Widergabe des islamischen Rechts. Unterschiede in der schiitischen und sunnitischen Lehre ergeben sich daher insbesondere in der Anerkennung der verschiedenen Rechtsquellen, wobei die schiitischen Untergruppen hier ebenfalls uneinheitliche Ansichten vertreten33. Im materiellen Recht differieren die schiitischen und die sunnitischen Lehren vor allem im Erbrecht34. Das Wirken der Kalifen prägte das islamische Recht, da mit dem Amt des Kalifen die Funktion des obersten Richters verbunden war35. Die Kalifen waren­ jedoch nicht die einzigen, die zur Weiterentwicklung des islamischen Rechts beitrugen. Die Mitglieder der Gemeinde ließen sich auch von zahlreichen Gefährten 27 Noth, Islam (Fn. 1), S. 75. Vertiefend zu seiner Person F. Buhl, ABŪ BEKR, in: Houtsma, Enzyklopaedie Bd. 2 (Fn. 11) S. 85. 28 Noth, Islam (Fn. 1), S. 75; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 25. Vertiefend zu seiner Person G. Levi Della Vida, ʿOMAR B. AL-KHAṬṬᾹB, in: M. Th. Houtsma u. a. (Hrsg.), Enzyklopaedie des Islam. Geographisches, etnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker, Bd. 3, 1936, S. 1061. 29 Noth, Islam (Fn. 1), S. 76; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 25. Vertiefend zu seiner Person, G. Levi Della Vida, ʿOTHMᾹN, in: Houtsma, Enzyklopaedie Bd. 3 (Fn. 28), S. 1088. 30 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 25; zum Ganzen Busse, Grundzüge (Fn. 10), S. 28 ff. sowie C. F. Robinson, The rise of Islam, in: ders. (Hrsg.), The new Cambridge History of Islam, Bd. 1, 2010, S. 173–225 (194); zu der Abfolge der „vier rechtsgeleiteten Kalifen“ sowie der darauf folgenden Regierungszeit der Umaiyaden und Abbasiden Serauky, Geschichte (Fn. 1), S. 131–206; Busse, Grundzüge (Fn. 10), S. 28–41. Zur Person des ʿAlī siehe Brockelmann, ʿALĪ, in: M. Th. Houtsma u. a. (Hrsg.), Enzyklopaedie des Islam. Geographisches, ethnographisches und bio­ graphisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker, Bd. 1, 1913, S. 296. 31 Es bildete sich ein breites Spektrum an Deutungen über den rechtmäßigen Imam heraus, instruktiv nachzulesen bei Krämer, Geschichte (Fn. 1), S. 114. 32 H. G. Pauli, Islamisches Familien- und Erbrecht und ordre public, 1994, S. 6. 33 S. Ramadan, Das islamische Recht, Theorie und Praxis, 2. Aufl. 1996, S. 98; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 96 ff. 34 Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 6; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 26; zum Erbrecht siehe unten Zweiter Teil A. III. 10. 35 Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 162.

A. Das islamische Recht

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­Muhammads, denen man Kenntnis des Korans und der Traditionen des Propheten nachsagte, in Rechtsstreitigkeiten beraten36. Diese Vorgehensweise, also das Aufsuchen eines „Experten“ in religiös-rechtlichen Problemen, der sodann einen Ratschlag erteilt, entwickelte sich in der Folgezeit zu einer festen Institution im Islam, deren Legitimation im Koran festgeschrieben ist37. Die Rechtsgelehrten gelten somit als Nachfolger Muhammads „bezüglich der treuhänderischen Verwaltung des Wissens“38. Das islamische Gutachtenwesen, bei dem ein muftī, also derjenige, der befugt ist religiös-rechtliche Auskünfte zu geben, ein Responsum oder ein Rechtsgutachten39 (fatwā40) herausgibt, ist daher im Islam weit verbreitet41. Eine fatwā enthält dabei keine rein sachkundige Information, sondern eine gezielte Handlungsanweisung. Rechtsverbindlich sind die Anweisungen jedoch nicht42. 3. Die Entstehung der Rechtsschulen Während Muhammad zu seinen Lebzeiten die muslimische Gemeinde noch durch einzelne, religiös legitimierte ad-hoc Entscheidungen regieren konnte, musste nach seinem Ableben ein rechtlicher Objektivierungsprozess stattfinden43. So entstanden im Verlauf des achten Jahrhunderts n. Chr.44 verschiedene Rechtsschulen, von denen sich im sunnitischen Islam vier dauerhaft durchsetzen konnten: die hanafitische (hanafī)45, die malikitische (māliki)46, die schafitische (shāfi’ī)47 und die hanbalitische (hanbalī)48 Rechtsschule. Trotz unterschiedlicher Auffassungen 36

Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 163; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 268 f. Sure 4:59, siehe Fn. 7. 38 J. Schlabach, Scharia im Westen, Muslime unter nichtislamischer Herrschaft und die Entwicklung eines muslimischen Minderheitenrechts für Europa, 2009, S. 31. 39 Schlabach, Scharia (Fn. 38), S. 30. 40 Zum Begriff der fatwā D. B. Macdonald, FATWᾹ, in: Houtsma, Enzyklopaedie Bd.  2 (Fn. 11), S. 97. 41 Motzki, Entstehung (Fn. 4), S. 164; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 28. 42 Klingmüller, Entstehung (Fn. 5), S. 389; Schlabach, Scharia (Fn. 38), S. 31; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 305; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 28. 43 H.-G. Ebert, Tendenzen der Rechtsentwicklung, in: W. Ende/U. Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. 2005, S. 199–228 (200). 44 Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 286; Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 200. 45 Zur hanafitischen Rechtsschule: Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 33 f.; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 287; A. A. Reidegeld, Handbuch Islam. Die Glaubens- und Rechtslehre der Muslime, 2005, S. 121 f.; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 74–77. 46 Zur malikitischen Rechtsschule: Fyzee, Outlines (Fn.  23), S.  34; Schirrmacher, Islam Bd.  1 (Fn.  4), S.  287; Reidegeld, Handbuch (Fn.  45), S.  122 ff.; Zacharias, Recht (Fn.  19), S. 77–82. 47 Zur schafitischen Rechtsschule: Klingmüller, Entstehung (Fn. 5), S. 396; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 34 f.; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 288; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 124 f.; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 62–86. 48 Zur hanbalitischen Rechtsschule: Fyzee, Outlines (Fn.  23), S.  35; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 288 f.; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 125 f.; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 86–89. 37

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

zur Methode der Rechtsfindung beansprucht heute keine der Schulen absolute Verbindlichkeit. Die Schulen erkennen sich gegenseitig an. Der Gläubige darf sich an einen Rechtsgelehrten der Schule seiner Wahl wenden49. Die wichtigste schiitische Rechtsschule ist die der Ja’fariten, auch Zwölferschiiten genannt50. Die islamische Rechtswissenschaft, die sich nach dem Tode Muhammads entwickelte, wird fiqh51 genannt, was in etwa „das Verstehen des Sinnes eines Textes“ bedeutet52. Die islamische Jurisprudenz wurde im Zuge ihrer Entwicklung in zwei Bereiche unterteilt: Der Bereich der uṣūl al-fiqh (Wurzeln der Jurisprudenz) umfasst die Lehre von den Quellen des islamischen Rechts. Der Bereich des furū­ al-fiqh (Zweige der Jurisprudenz) meint das anzuwendende materielle Recht53.

II. Die Quellen des islamischen Rechts Über die Entwicklung des islamischen Rechts in seiner Anfangszeit besteht in der islamwissenschaftlichen Forschung noch immer Ungewissheit54. Als Begründer der islamischen Rechtsquellenlehre55 gilt der Rechtsgelehrte Asch-Schafi’i56, der im achten Jahrhundert wirkte (767–820)57. Nach seiner Lehre gibt es vier allgemein anerkannte Rechtsquellen. Auf höchster Stufe steht der Koran (qur’an), dann folgen die Tradition und Verhaltensweise des Propheten (sunna), der Konsens (al-iğmāᶜ) sowie der Analogieschluss (qiyās)58. Die vormals ebenfalls zur­ Anwendung gelangten Rechtsfindungstechniken der persönlichen Ansicht (ra’y), des Allgemeinwohls (maslaha itīslah), der Billigkeit (istihsan) und des Gewohnheitsrechts (`urf)  lehnte er hingegen ab59. Trotz der weitgehenden Anerkennung der Lehre des Schafi’i fanden im Detail teilweise erhebliche Modifikationen statt. 49

Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 90. Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 6; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 289; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 30. 51 Zur Bedeutung des Begriffs eingehend I. Goldziher, FIḲH, in: Houtsma, Enzyklopaedie Bd. 2 (Fn. 11), S. 106 sowie Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 17 ff. 52 Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 261. 53 Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 200; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 261; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 44; R. Lohlker, Islamisches Recht, 2012, S. 11 f. 54 Hierzu instruktiv Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 44–73. 55 Zur islamischen Rechtsquellenlehre vertiefend: A. Negm, Die Rechtsquellen des islamischen Rechts (Uṣūl al-fiqh al-islāmī), 2003. 56 Vertiefend zu seiner Person Heffening, AL-SHᾹFI, in: M. Th. Houtsma u. a. (Hrsg.), Enzyklopaedie des Islam. Geographisches, etnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker, Bd. 4, 1934, S. 271; instruktiv zu seinen Lehransätzen auch­ Coulson, History (Fn. 8), S. 53 ff. 57 Watt/Welch, Islam Bd. 1 (Fn. 1), S. 243, P. Scholz, Scharia zwischen Tradition und Moderne – Eine Einführung in das islamische Recht, in: JURA 2001, S. 525–534 (526). 58 Watt/Welch, Islam Bd. 1 (Fn. 1), S. 243; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 282; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 48 ff. 59 Scholz, Scharia (Fn. 57), S. 526. 50

A. Das islamische Recht

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Vor allem die Beschränkung der Rechtsfindung auf die vier Rechtsquellen sowie das Verhältnis der Rechtsquellen untereinander blieb umstritten60. 1. Der Koran Der Koran61 verkörpert nach muslimischem Glauben das an den Propheten herab gesandte Wort Gottes und ist daher die ranghöchste Rechtsquelle62. Er ist die „Verkörperung uneingeschränkter gesetzgebender Gewalt und damit der Ursprung jeglicher Gesetzlichkeit und rechtlicher Verbindlichkeit“63. Der Koran besteht aus 114 Suren, die sich wiederum aus rund 6200 Versen zusammensetzen. Die Suren sind nicht chronologisch, sondern entsprechend ihrer Länge in abnehmendem Umfang angeordnet64. Dem Koran wird aus sich heraus bindende Kraft zugemessen, es bedarf keines säkularen Transformationsaktes65. Allerdings sollen nur ungefähr 600 Verse unmittelbaren rechtlichen Gehalt aufweisen. Dazu werden zudem auch die vielen Ritualvorschriften (ibādāt) gerechnet, die sich mit religiösen Pflichten und Praktiken beschäftigen. Nur rund 80 Verse sollen weltliche Rechts­materien (muᶜāmalāt) betreffen66. Aufgrund der oben dargestellten Weise der Rechtsentwicklung durch Entscheidungsfindungen im Einzelfall werden viele Themen außerdem bruchstückhaft und unsystematisch abgehandelt67. Die Koran­ exegese ist daher für die islamische Jurisprudenz von großer Bedeutung68.

60 Scholz, Scharia (Fn. 57), S. 526; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 284; Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 200. 61 Zum Koran im Allgemeinen eingehend F. Buhl, AL-ḲORᾹN, in: Houtsma, Enzyklopaedie Bd. 2 (Fn. 11), S. 1139; Th. W. Juynboll, Handbuch des islamischen Gesetzes nach der Lehre der schāfiᶜitischen Schule nebst einer allgemeinen Einleitung, 1910, S. 2 ff. 62 Klingmüller, Entstehung (Fn. 5), S. 399; Syed, Principles (Fn. 5), S. 12; S. Uslucan, Islamisches Rechts- und muslimisches Gesellschaftsverständnis: Zur Verrechtlichung des Islam und Islamisierung des Rechts, in: ZAR 2006, S. 237–246 (238); Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 43, 116. 63 Ramadan, Recht (Fn. 33), S. 44. 64 Syed, Principles (Fn. 5), S. 12; Scholz, Scharia (Fn. 57), S. 525; Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 238. 65 Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 120. 66 Coulson, History (Fn. 8), S. 12; ähnliche Angaben finden sich bei Küng, Islam (Fn. 2), S. 196 sowie Rohe, Recht (Fn. 1), S. 48. Die Angaben variieren jedoch erheblich. Said Ramadan, gibt als Annäherungswert beispielsweise an: „So finden sich […] im Bereich des Familienrechts siebzig Anweisungen, im Zivilrecht weitere siebzig; das Strafrecht umfaßt dreißig, Recht­ sprechung und Verfahrensregeln dreizehn, Verfassungsrecht zehn, das Recht über internationale Beziehungen fünfundzwanzig und die Wirtschafts- und Finanzordnung zehn.“ (Ramadan, Recht [Fn. 33], S. 44. f.). 67 Syed, Principles (Fn. 5), S. 8. 68 Scholz, Scharia (Fn. 57), S. 526; Da sich viele Koranverse widersprechen, kommt hierbei vor allem der Möglichkeit der Derogation bzw. Abrogation koranischer Verse (naskh) besondere Bedeutung zu, hierzu Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 124 ff.

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2. Die Sunna Der Begriff Sunna69 bedeutet so viel wie Methode, Manier oder die Art und Weise70. Gemeint ist damit die althergebrachte Praxis oder die normative Sitte von Personengruppen, im frühen Islam vor allem die des Propheten, seiner Gefährten und deren Nachfolger71. Im 9. Jahrhundert, insbesondere nachdem der Rechtsgelehrte Asch-Schafi’i sein Werk über die verschiedenen Rechtsquellen veröffentlicht hatte, bezeichnete der Begriff Sunna nur das, was Muhammad selbst befohlen, verboten oder vorgelebt hatte72. Die Sunna wurde durch Überlieferungen (hadith)73 weitergegeben. Ein Hadith besteht immer aus zwei Teilen, einer Überlieferungskette und dem eigentlichen Text74. Nach sunnitischer Ansicht ist eine ­lückenlose bis auf den Propheten zurückreichende Kette von Überlieferern, auch Gewährsmänner (isnād)  genannt, erforderlich75. Nach schiitischer Ansicht genügt ein bestimmter Gewissheitsgrad76. Im sunnitischen Islam gelten bis heute die „sechs Bücher“ des al-Buḫāri, des Muslim, des Abū Dāwūd, des Ibn Māğa, des Tirmiḏī, des Nasāʾī und die Werke von Aḥmad ibn Ḥanbal, des Dārīmī und des Baihaqī als Standardsammlungen. Im schiitischen Islam sind unter den Hadithsammlungen die im 10. und 11. Jahrhundert entstandenen „vier Bücher“ die wichtigsten Quellen77. Die Authentizität vieler Hadithe wird von Islamwissenschaftlern allerdings bis heute in Frage gestellt78.

69 Zum Begriff der sunna A. J. Wensinck, SUNNA, in: Houtsma, Enzyklopaedie Bd.  4 (Fn. 56), S. 601; zur Entstehung und der Rechtsquelle der Sunna eingehend J. Schacht, The Origins of Muhammadan Jurisprudence, 6. Aufl. 1979, S. 58 ff. 70 Schacht, Origins (Fn. 69), S. 58; Negm, Rechtsquellen (Fn. 55), S. 119. 71 Syed, Principles (Fn. 5), S. 10; Scholz, Scharia (Fn. 57), S. 526; Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 239. 72 Coulson, History (Fn.  8), S.  57; Fyzee, Outlines (Fn.  23), S.  20; Negm, Rechtsquellen (Fn. 55), S. 119, 120. 73 Instruktiv hierzu Juynboll, Handbuch (Fn. 61), S. 13 ff.; Watt/Welch, Islam Bd. 1 (Fn. 1), S. 235 ff. Lohlker, Recht (Fn. 53), S. 82 ff. 74 Watt/Welch, Islam Bd. I (Fn. 1), S. 235; Lohlker, Recht (Fn. 53), S. 83. 75 Scholz, Scharia (Fn.  57), S.  526; siehe hierzu instruktiv Juynboll, Handbuch (Fn.  61), S. 13 ff.; ausführlich auch Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 127 ff. 76 Siehe hierzu Zacharias, Recht, (Fn. 19), S. 137 ff. 77 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 54. 78 Zuerst wohl I. Goldziher, Muhammedanische Studien, Bd.  2, 1890; später auch eingehend Juynboll, Handbuch (Fn. 61), S. 16 ff. und Schacht, Origins (Fn. 69), S. 163 ff. Instruktiv zum Stand der Forschung zur Entwicklung des islamischen Rechts Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 44–116.

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3. Der Konsens Der Konsens (al-iğmāᶜ) ist nach Koran und Sunna die dritte Rechtsquelle79. Durch ihn werden vor allem Rechtsfragen geregelt, für die sich in Koran und Sunna keine Anhaltspunkte finden oder die widersprüchlich geregelt sind80. Seit jeher problematisch sind die Fragen, wer an einer Konsensentscheidung mit­wirken muss, wie ein solcher Konsens zustande kommt und ob ein einmal getroffener Konsens zukünftige Rechtsgelehrte bindet81. Aus den Überlieferungen ergibt sich, dass ursprünglich der Konsens der gesamten Gemeinschaft gemeint war82. Die Ratio hinter dieser Annahme ist, dass die muslimische Gemeinschaft als Ganze nicht irren könne83. Allerdings ist ein Konsens der gesamten muslimischen Gemeinschaft praktisch unmöglich. Daher kommt nach herrschender Ansicht ein Konsens zustande, wenn „die Leute, die binden und lösen“ (also die Rechtsgelehrten), als Vertreter der Gemeinschaft einen übereinstimmenden Konsens finden84. 4. Der Analogieschluss und andere juristische Auslegungsmethoden Die vierte Rechtsquelle des islamischen Rechts (qiyās) ist eigentlich keine „Quelle“ im Wortsinne, sondern umfasst verschiedene juristische Auslegungsmethoden85. Zunächst ist hier der Analogieschluss zu nennen. Hierbei wird eine Rechtsvorschrift, die auf dem Koran, der Sunna oder dem Konsens beruht, auf einen vergleichbaren, nicht explizit geregelten Sachverhalt übertragen86. Der Analogieschluss muss also stets an eine der ersten drei Rechtsquellen anknüpfen und kann daher nie alleine stehen87. Er wird daher auch treffend als „Verbindung der Offenbarung mit dem menschlichen Verstand“88 bezeichnet. Ebenso kommen die juristischen Methodenansätze der argumenta  a minore ad maius,  a maiore ad minus und  a fortiori sowie  e contrario zur Anwendung89. Weitere wichtige­ 79 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 20; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 142; Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 239; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 58. Ausführlich zur Entstehung der Rechtsquelle des Konsens Schacht, Origins (Fn.  69) S.  82 ff.; instruktiv auch Juynboll, Handbuch (Fn. 61), S. 46 ff. 80 Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 283. 81 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 59. 82 Gardet, Islam, 1968, S. 155; Watt/Welch, Islam, Bd. 1 (Fn. 1), S. 244 f.; Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 239. 83 Watt/Welch, Islam, Bd. 1 (Fn. 1), S. 245. 84 Gardet, Islam (Fn. 82), S. 156; ähnlich P. Diwan, Muslim Law in Modern India, 7. Aufl. 1997 S. 30. 85 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 62. 86 Juynboll, Handbuch (Fn. 61), S. 50. 87 Watt/Welch, Islam, Bd.  1 (Fn.  1), S.  244; Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn.  62), S. 239; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 149. 88 Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 149. 89 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 62.

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Schlussverfahren sind das „Für-besser-Halten“ (istiḥsān), bei dem Rechtsfolgen abgewendet werden, die aus der Anwendung einer anderen Rechtsquelle eigentlich zu ziehen wären, das „Versperren der Mittel“ (sadd al-ḏarāʾiʿ), wonach alles, was zu Verbotenem führt, selbst verboten ist sowie die Berücksichtigung des allgemeinen Nutzens (istiṣlāḥ). Auch die Auffassungen der Prophetengenossen, Gewohnheitsrecht und Brauch sind als Rechtsquellen anerkannt90. 5. Idschtihad und die Schließung des Tores der selbstständigen Rechtsfindung Die islamische Rechtsmethodik ist aufgrund der durch den Koran abgeschlossenen Offenbarung von der Unterscheidung zwischen erlaubter Rechtserkenntnis und verbotener Rechtsneuschöpfung geprägt. Eine Grauzone stellt hier jedoch die Methode des idschtihad (iğtihād)  dar91. Danach ist es zulässig, sich durch eine verstandsgeleitete Interpretation von Koran und Sunna ein eigenes Urteil zu bilden. Findet die Meinung unter den Rechtsgelehrten Unterstützung, so verfestigt sie sich zu einem Rechtssatz92. Mit Beginn des 10. Jahrhunderts wurde jedoch teilweise die Auffassung vertreten, nicht im Koran oder der Überlieferung behandelte Rechtsfragen seien ausreichend geklärt. Eine selbstständige Rechtsfindung sollte nicht mehr stattfinden93. Stattdessen sollten die Gelehrten an die Rechtserkenntnisse der Schulhäupter gebunden sein94. Diese Entwicklung wurde von der Islamwissenschaft später als „Schließung des Tores der selbstständigen Rechtsfindung“ und damit als Niedergang der islamischen Rechtswissenschaft bezeichnet95. Nach teilweise vertretener Ansicht führte dieser, vor allem durch konservative Kräfte angetriebene Prozess, zu einer regelrechten „Erstarrung“ der Rechtsentwicklung96. Heute wird vielfach gefordert, die Methode des idschtihad verstärkt anzuwenden, um Reformen voranzubringen97. 90

Zu den juristischen Schlussverfahren Rohe, Recht (Fn. 1), S. 62 ff. Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 240; vertiefend zur Geschichte der Rechtsfigur des idschtihad: L. Wiederhold, Spezialisierung und geteilte Kompetenz  – Sunnitische Rechtsgelehrte über die Zulässigkeit von iğtihād, in: Die Welt des Orients 28 (1997), S. 153–169. 92 Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 240. 93 Schacht, Introduction (Fn. 12), S. 71; I. Abdal-Haqq, Islamic Law. An Overview of its Origin and Elements, in: The Journal of Islamic Law (1) 1996, S. 27–82 (36); Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 290; Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 104. 94 Zacharias, Recht (Fn. 19), S. 104. 95 Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 290; Abdal-Haqq, Overview (Fn. 93), S. 37. 96 Zum Teil wird jedoch auch bestritten, dass die Methode des idschtihad nicht mehr angewendet wurde. So hätte es stets Gelehrte gegeben, die sich der Methode der selbstständigen Rechtsfindung weiter bedient hätten; zum Ganzen instruktiv Uslucan, Gesellschaftsverständnis (Fn. 62), S. 240 f. und vertiefend W. B. Hallaq, Was the gate of ijtihad closed?, in: International Journal of Middle East Studies (16) 1984, S. 3–41. 97 Abdal-Haqq, Overview (Fn. 93), S. 35 ff. m. w. N.; zu den Voraussetzungen des idschtihad S. Mourad/S. Toumi, Methodenlehre der Ermittlung islamischer Bestimmungen aus Koran und 91

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III. Islamisches Familien- und Erbrecht Bevor auf das materielle islamische Familien- und Erbrecht eingegangen wird, ist festzuhalten, dass zu keiner Zeit der islamischen Geschichte das islamische Recht insgesamt zur Anwendung gelangt ist, sondern immer nur in Teilen praktiziert wurde. In den meisten islamischen Ländern orientieren sich heute vor allem das Familien- und Erbrecht an den koranischen Bestimmungen und Überlieferungen98. Da die informellen Schlichtungen überwiegend Streitigkeiten aus dem Familien- und Erbrecht betreffen, wird sich auch die folgende Darstellung auf diese Rechtsgebiete konzentrieren99. Die Angaben beziehen sich zunächst auf die­ hanafitische Schule, der gut ein Drittel aller Muslime angehören100. Bedeutende Abweichungen der anderen Schulen werden ebenfalls kurz dargestellt. 1. Ehefähigkeit Die Eheschließung (nikah) ist nach islamischem Recht ein weltlicher Vertrag101, dessen Abschluß die Ehefähigkeit der Parteien voraussetzt. Das islamische Recht unterscheidet zwischen der Volljährigkeit in Vermögensangelegenheiten102 und der Mündigkeit in persönlichen Angelegenheiten, zu der die Ehefähigkeit gehört. Ehefähig sind Personen, die die Pubertät, also die biologische Geschlechtsreife erlangt haben103. Dies ist nach hanafitischer Sicht bei beiden Geschlechtern im Alter von 15 Jahren der Fall104. Von einer Geschlechtsreife zu einem früheren Zeitpunkt ist auszugehen, wenn die betreffende Person selbst erklärt, die Geschlechtsreife Sunna, 2. Aufl. 2009, S. 126 ff.; Yilmaz ist der Ansicht, dass die Methode des idschtihad von den Sharia-Councils in Großbritannien regelmäßig angewendet wird, sie spricht von ‚Neo-idschtihad‘ (I. Yilmaz, Muslim Alternative Dispute Resolution and Neo-Ijtihad in England, in: Turkish Journal of International Relations [2] 2003, S. 117–140). 98 Schirrmacher, Islam, Bd. 1, (Fn. 4), S. 278. 99 Zu den übrigen Regelungsbereichen des islamischen Zivilrechts, also insbesondere Vertrags- und Wirtschaftsrecht, Gesellschaftsrecht und Eigentumsrecht siehe etwa N. B. E. Baillie, A Digest of Mohummadan Law, compiled and translated from authorities in the original arabic with an introduction and explanatory notes. Containing the Doctrines of the Hanifea Code of Jurisprudence, Wiederauflage der 2. Aufl. 1875, 1975 S. 771 ff.; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 103 ff. 100 T. Rauscher, Sharī’a, Islamisches Familienrecht der sunna und shīa, 1987, S. 8. 101 D. Pearl/W. Menski, Muslim Family Law, 3. Aufl. 1998, S. 139; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 88; Z. Mir-Hosseini, Marriage on Trial: A Study of Islamic Family Law in Iran and Morocco, 3. Aufl. 2000, S. 32; T. Nagel, Das islamische Recht: Eine Einführung, 2001, S. 69; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 321; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 755. 102 Die Volljährigkeit in Vermögensangelegenheiten (roshd) ist erreicht, wenn eine Person in der Lage ist, ihr Vermögen ohne Verschwendung und Gefährdung zu verwalten. Im frühen Islam wurde dies durch das Aushändigen einer Geldsumme getestet. Heute existieren weitgehend starre Altersgrenzen (Rauscher, Familienrecht [Fn. 100], S. 16, 19). 103 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 16; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 264, 328. 104 M. H. Kamali, Islamic Law: Personal Law, in: M. Eliade (Hrsg.), The Encyclopedia of Religion, Bd. 7, 1987, S. 446–453 (446); Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 141 Rn. 6–12.

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erreicht zu haben105, bei Mädchen allerdings nicht vor dem 9. Lebensjahr und bei Jungen nicht vor dem 12. Lebensjahr106. Nach der malikitischen und der schafitischen Lehre erlangt die Frau nicht durch die Pubertät, sondern durch die Eheschließung die Mündigkeit in persönlichen Angelegenheiten107. Die Schiiten vermuten die Geschlechtsreife überwiegend in einem Alter von 9 Jahren bei Mädchen und 15 Jahren bei Jungen108. In den meisten muslimisch geprägten Ländern liegt das gesetzlich festgelegte Heiratsmindestalter für Frauen bei 16 und für Männer bei 18 Jahren109. Grundsätzlich lassen alle Schulen die Eheschließung eines Minderjährigen durch einen Vormund (walī) zu110. Ist der Vormund aber nicht der Vater oder Großvater des Eheschließenden, so hat der Minderjährige mit Erreichen der Pubertät nach hanafitischer Ansicht die Wahl, ob er die Ehe vollziehen oder zurückweisen will (khijār al bulūq)111. Dies gilt jedoch nur, wenn die Ehe bis zu diesem Zeitpunkt nicht schon vollzogen wurde112. Die Schafiten und Schiiten halten eine durch einen Vormund geschlossene Ehe eines Minderjährigen nur für wirksam, wenn der Vater oder Großvater als Vormund agiert113. Die Malikiten lassen sogar einzig den Vater als Vormund zu114. Nach der Lehre der Hanafiten und Schiiten kann die Eheschließung nach der Geschlechtsreife grundsätzlich ohne die Zustimmung eines Vormunds erfolgen115. Ausnahmen ergeben sich aber dann, wenn die Frau einen Mann auswählt, der ihr sozial oder in anderer Hinsicht nicht gleichwertig ist116. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Mann eine nach dem Islam unzulässige Tätigkeit ausübt117. Die Schafiten, die Malikiten und wohl auch die Hanbaliten und die meisten Schiiten machen hingegen die Eheschließung der Frau von einer Zustimmung abhängig118. 105 Kamali, Personal Law, (Fn. 104), S. 446; D. El Alami/D. Hinchcliffe, Islamic Marriage and Divorce Laws of the Arab World, 1996, S. 7; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 141 Rn. 6–12. 106 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 141 Rn. 6–12; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 93 f. 107 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 19. 108 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 20; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 94. 109 Zum Mindestheiratsalter in Ländern mit islamische geprägten Rechtsordnungen: P. Mankowski, in: J. v. Staudinger (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, EGBGB, Art. 13 EGBGB Rn. 196 ff. (2011). 110 Baillie, Digest (Fn. 99), S. 50; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 208 f. 111 Baillie, Digest (Fn.  99), S.  50 f.; Kamali, Personal Law (Fn.  104), S.  447; El Alami/­ Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 7; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 143 Rn. 6–16. 112 Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 447; Diwan, Law (Fn. 84), S. 97. 113 Juynboll, Handbuch (Fn. 61), S. 210. 114 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 38. 115 Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 447; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 779; Diwan, Law (Fn. 84), S. 49; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 84. 116 Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 779; Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 447. 117 Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 779, Fn. 50. 118 Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 447; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 5; Diwan, Law (Fn. 84), S. 49; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 142 Rn. 6–15; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 779; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 84.

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Bei Schafiten und Malikiten ergibt sich dies zwingend schon dadurch, dass die Frau die Mündigkeit in persönlichen Angelegenheiten erst durch die Eheschließung erreicht119. 2. Eheschließung Die Eheschließung ist ein Vertrag, der durch Angebot und Annahme zustande kommt. Besondere Formerfordernisse bestehen nicht120. Nach hanafitischer Lehre ist jedoch die Anwesenheit zweier männlicher oder eines männlichen und zweier weiblicher Zeugen erforderlich121. 3. Ehehindernisse Eine Ehe darf nach dem Koran nicht geschlossen werden, wenn ein Ehehindernis besteht. Dabei wird zwischen Ehehindernissen unterschieden, die zur absoluten Nichtigkeit der Ehe führen (bātil) und solchen, die lediglich zur Fehlerhaftigkeit der Ehe führen (fāsid)122. Sowohl die nichtige als auch die fehlerhafte Ehe begründen keine Rechte und Pflichten der Ehegatten. Weder die Kinder noch die Ehefrau haben Leistungsansprüche gegen den Vater. Kinder, die aus einer solchen Ehe entstehen, gelten als unehelich123. Allerdings besteht bei der fehlerhaften Ehe kein endgültiges, sondern lediglich ein zeitliches Ehehindernis. Daher besteht nach einer Trennung und Beseitigung des Ehehindernisses die Möglichkeit einer wirksamen Eheschließung124. a) Anzahl der geschlossenen Ehen Eine bereits bestehende Ehe stellt nach dem Koran nur für die Frau ein Ehehindernis dar. Der Mann darf bis zu vier Frauen (Sklavinnen sind nach traditionellem Recht ausgenommen) ehelichen125. Das Recht des Mannes auf Polygamie

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Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 19. Kamali, Personal Law (Fn. 104) S. 446; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 5; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 91. 121 Pearl/Menski, Familiy Law (Fn. 101), S. 140; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 91; Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 217. 122 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 143 Rn. 6–18 ff.; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 10 f. 123 Diwan, Law (Fn. 84), S. 44; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 320. 124 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 144 Rn. 6–21; Diwan, Law (Fn. 84), S. 45. 125 Juynboll, Handbuch (Fn.  61), S.  217; Kamali, Personal Law (Fn.  104), S.  448; Nagel, Recht (Fn. 101), S. 71; Schirrmacher, Islam Bd. 1 (Fn. 4), S. 319; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 757. 120

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ist explizit im Koran festgeschrieben126. Der Koran erlaubt dem Mann jedoch nur dann weitere Eheschließungen, wenn er in der Lage ist, alle Frauen gleich zu behandeln127. Moderne Strömungen ziehen das Gebot der Gleichbehandlung heran, um ein faktisches Monogamiegebot auch für Männer zu begründen. Nur wenn der Mann sich auf eine Ehe beschränke, seien Ungleichbehandlungen ausgeschlossen128. Viele islamisch geprägte Länder verbieten die Polygamie heute vollständig, so­ beispielsweise Tunesien und Marokko. Andere stellen weitere Eheschließungen unter einen Genehmigungsvorbehalt, so beispielsweise Syrien, Irak und Pakistan129. Verstößt die Frau gegen das Verbot der Polyandrie, ist die Ehe nach einheitlicher Ansicht nichtig130. Verstößt der Mann gegen das Gebot, mit nicht mehr als vier Frauen verheiratet zu sein, ist streitig, ob die fünfte Ehe nichtig oder lediglich fehlerhaft ist. Überwiegend wird mit dem Argument, der Mann habe es in der Hand, eine der anderen Ehen zu scheiden, lediglich die Fehlerhaftigkeit der Ehe angenommen131. b) Konfession des Ehepartners Ein weiteres Ehehindernis ist die Zugehörigkeit zu einem anderen Glauben als dem Islam. Eine Frau darf ausschließlich einen Mann muslimischen Glaubens heiraten132. Männern ist es jedoch auch erlaubt Frauen zu heiraten, die den sogenannten Buchreligionen angehören, also vor allem Christinnen, Jüdinnen und auch Sabier (kitābiyya)133. Die Folgen eines Verstoßes gegen das Ehehindernis der Konfession sind allerdings nicht eindeutig geklärt134. Überwiegend wird die Eheschließung eines muslimischen Mannes mit einer Frau, die nicht einer Buchreligion angehört, als fehlerhaft angesehen. Die Eheschließung einer Muslimin mit einem Nichtmuslim wird teilweise ebenfalls als lediglich fehlerhaft qualifiziert, die über 126 Sure 4:3 lautet: „Und falls ihr befürchtet, dass ihr ihre Rechte nicht in angemessener Weise wahren könnt, wenn ihr die Waisenmädchen (in eurer Obhut) heiratet, dann heiratet andere Frauen (die euch zur Ehe erlaubt sind), so wie sie euch gut erscheinen, zwei, drei oder vier. Doch wenn ihr (hinsichtlich eurer ehelichen Pflichten) befürchtet, sie nicht (alle) gleich behandeln zu können, dann gebt euch mit nur einer zufrieden, oder mit euren Gefangenen […]“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 4:3). 127 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 45. 128 Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 449; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 17. 129 Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 449. 130 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 45. 131 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn.  105), S.  15; Pearl/Menski, Family Law (Fn.  101), S. 148 Rn. 6–37. 132 Kamali, Personal Law (Fn.  104), S.  447; Pearl/Menski, Family Law (Fn.  101), S.  146 Rn. 6–31; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 97; Nagel, Recht (Fn. 101), S. 71. 133 Kamali, Personal Law (Fn.  104), S.  447; Pearl/Menski, Family Law (Fn.  101), S.  146 Rn. 6–31; Nagel, Recht (Fn. 101), S. 71; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 83. 134 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 146 f. Rn. 6–31.

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wiegende Ansicht hält eine solche Ehe aber für nichtig135. Aus Sicht der Schiiten ist eine Eheschließung mit einer Person nichtmuslimischen Glaubens – gleich ob männlichen oder weiblichen Geschlechts – verboten136. Eine Ausnahme bildet die von Teilen der Schiiten anerkannte Ehe auf Zeit (mut’a)137. c) Verwandtschaft Auch enge Verwandtschaftsverhältnisse begründen Ehehindernisse. Es wird zwischen Blutsverwandtschaft, Milchverwandtschaft, Eheschließung mit Schwestern und Tanten, und Schwägerschaft unterschieden. Da die Regelungen zur Blutsverwandtschaft ausdrücklich im Koran niedergelegt sind, stimmen alle Rechtsschulen diesbezüglich in ihren Ansichten überein138 Ein Verstoß gegen das Verbot der Heirat von Blutsverwandten führt zur Nichtigkeit der Ehe139. Der Koran stellt die Milchverwandtschaft der Blutsverwandtschaft gleich. Milchverwandt sind Personen, die die gleiche Stillmutter hatten140. Die sunnitischen Rechtsschulen beschränken dieses Verbot allerdings auf die nächsten Milchverwandten. Verboten sind demnach Eheschließungen mit der Stillmutter und ihren Deszendenten sowie mit Stillgeschwistern und deren Deszendenten141. Weiterhin ist es verboten, die weiblichen Aszendenten und Deszendenten der Ehefrau sowie die vormaligen Ehefrauen der eigenen Aszendenten und Deszendenten zu heiraten142. Ein Verstoß gegen dieses Verbot zieht ebenfalls die Nichtigkeit der Ehe nach sich143. Nach der hanafitischen Lehre entsteht das Ehehindernis nicht gegenüber Deszendenten der Ehefrau, wenn die Ehe zwar wirksam 135

Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 47; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 15. Rohe, Recht (Fn. 1), S. 82. 137 Zum Rechtskonstrukt der Ehe auf Zeit R. Arshad, Islamic Family Law, 2010, S. 55 ff.; sowie Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 117 ff. 138 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn.  105), S.  13; Diwan, Law (Fn.  84), S.  53. Danach ist einem Muslim die Eheschließung mit folgenden Personen verboten: „Seinen weiblichen Aszendenten und Deszendenten beliebigen Grades, Schwestern, auch Halbschwestern beider Linien, weiblichen Deszendenten, von Brüdern und Schwestern unter Einschluß von Halb­ brüdern und -schwestern, Schwestern von Aszendenten unter Einschluß von Halbschwestern der (Vor-)Eltern bis zu beliebig entferntem Grade.“ (Rauscher, Familienrecht [Fn. 100], S. 48). 139 Diwan, Law (Fn. 84), S. 53; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 145 Rn. 6–25; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 106; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 757. 140 Juynboll, Handbuch (Fn.  61), S.  219; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn.  105), S.  13; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 145 Rn. 6–26. 141 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 145 Rn. 6–26; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 106. 142 Rauscher, Familienrecht (Fn.  100), S.  51; Diwan, Law (Fn.  84), S.  54; Pearl/Menski,­ Family Law (Fn. 101), S. 145 Rn. 6–25. 143 Diwan, Law (Fn. 84), S. 53; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 757. 136

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g­ eschlossen, aber noch nicht vollzogen wurde. Andererseits wird das Ehehindernis auch schon durch eine nichtige Ehe oder außerehelichen Geschlechtsverkehr begründet144. Nach schafitischer und malikitischer Lehre kann hingegen eine nichtige Ehe oder außerehelicher Geschlechtsverkehr das Ehehindernis nicht begründen. Die Schiiten verschärfen das Eheverbot dahingehend, dass jede Art sexueller Handlung, auch zwischen Heranwachsenden, ein Ehehindernis begründet145. Auch die Eheschließung mit Schwestern und Tanten ist verboten146. Demnach darf keine Ehe mit einer Schwester der eigenen Ehefrau bzw. mit einer Tante und einer Nichte gleichzeitig eingegangen werden147. Das Ehehindernis kann aber zeitlich begrenzt sein. Durch wirksame Auflösung der anderen Ehe kann es entfallen. Daher ist eine trotz des Eheverbots geschlossene Ehe zwar fehlerhaft, aber nicht nichtig148. Nach schiitischer Lehre ist das Verbot auf eine Heirat der Nichte bei­ bestehender Ehe mit der Tante beschränkt. Ein Verstoß führt nach schiitischer Ansicht zur Nichtigkeit der Ehe149. d) Wartefrist nach Scheidung oder Tod (iddat) Wird eine Ehe durch Tod oder Scheidung beendet, so ist es der Frau für einen bestimmten Zeitraum verboten, eine neue Ehe einzugehen150. Die Wartezeit diente ursprünglich der sicheren Abstammungsfeststellung, falls eine Frau bei Beendigung ihrer Ehe schwanger war151. Die Scharia lässt als Ehescheidungsmöglichkeit die Verstoßung durch den Mann (talāq) zu, wobei zwischen widerruflichem und unwiderruflichem talāq unterschieden wird152. Im Falle einer widerruflichen Scheidung darf die Frau schon deshalb während der Wartefrist nicht erneut heiraten, weil noch die Möglichkeit der Rücknahme besteht153. Die Fristen differieren je nachdem, ob die Ehe durch Tod oder Scheidung beendet wurde und danach, ob die Ehe vollzogen wurde. Sie werden nach Mondmonaten154 bzw. Menstruationszyklen berechnet155.

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Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 145 Rn. 6–25. Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 52; Diwan, Law (Fn. 84), S. 54. 146 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 148 Rn. 6–36; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 106 f. 147 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 15. 148 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 53; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 107. 149 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 53. 150 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 147 Rn. 6–34; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 107; Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 757 f.; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 82. 151 Juynboll, Handbuch (Fn.  61), S.  222; Pearl/Menski, Family Law (Fn.  101), S.  147 Rn. 6–34; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 108. 152 Hierzu sogleich näher im Zweiten Teil A. III. 8. 153 Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 758. 154 Zur Bestimmung und Berechnung des islamischen Mondmonates Reidegeld, Handbuch (Fn. 45), S. 552 ff. 155 Zur Berechnung der Fristen Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 107 ff. 145

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e) Statusgleichheit Die soziale Stellung des Mannes muss mindestens die Stellung der Frau erreichen. Wird gegen das Prinzip der Statusgleichheit verstoßen, wird überwiegend angenommen, dass die Ehe bei Gericht angefochten werden kann156. f) Dreimalig ausgesprochener talāq Ist der talāq noch widerruflich, so muss dieser lediglich widerrufen werden und die Ehe lebt wieder auf. Ist er unwiderruflich, so muss die Frau zwingend eine Ehe mit einem anderen Mann schließen, diese muss vollzogen werden und durch talāq oder Tod des anderen Mannes beendet worden sein. Erst danach ist eine Heirat mit dem ersten Mann wieder erlaubt. Wird dieses Vorgehen nicht befolgt, so ist die Ehe nichtig157. g) Pilgerfahrt Nach schafitischer und einigen schiitischen Lehren darf der Mann während der Pilgerfahrt (hajj), also nach dem Betreten des heiligen Bezirks in Mekka, keine Ehe schließen, bis er diesen Bereich wieder verlassen hat158. 4. Allgemeine Wirkungen der Ehe Das klassische islamische Recht folgt einer festen Rollenverteilung. Der Ehemann ist als Familienvorstand für die Ernährung und die Vertretung der Familie nach außen zuständig, während die Ehefrau sich um die frühkindliche Erziehung und den Haushalt sorgen muss. Zur Begründung dieser Rollenverteilung wird auf die stärkere Vernunftleitung der Männer und die höhere Emotionalität der Frauen hingewiesen159. Die Frau schuldet dem Mann Gehorsam160. Der Mann hat das Recht, die Bewegungsfreiheit der Frau in vernünftiger Weise einzuschränken und ihren Aufenthalt zu bestimmen161. Dem Mann wird nach traditionellem Verständnis ein Züchtigungsrecht eingeräumt, welches aus Sure 4:34 abgeleitet wird: 156

Diwan, Law (Fn. 84), S. 55; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 148 Rn. 6–38; ausführlich zum Kriterium der Gleichheit Baillie, Digest (Fn. 99), S. 62 ff. 157 Rauscher, Familienrecht (Fn.  100), S.  58 f.; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn.  105), S. 23; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 146 Rn. 6–29. 158 Diwan, Law (Fn. 84), S. 56; Nagel, Recht (Fn. 101), S. 71. 159 Schirrmacher, Isam Bd. 1 (Fn. 4), S. 305 f.; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 88. 160 Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 448. 161 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 71; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 177 Rn. 7–03 ff.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht  „Was jene Frauen angeht, von denen ihr absichtlichen Ungehorsam und den Bruch ihrer ehelichen Pflichten aus gutem Grund befürchtet, ermahnt sie (das zu tun, was richtig ist); dann (wenn sich dies als vergeblich erweist) schlagt sie (ganz leicht, aber nicht ins Ge­ sicht).“162

Da die Überlieferung Muhammads aber Gewalt gegen Frauen und Kinder abehnt, wird ebenfalls vertreten, dass sich das Recht der Züchtigung auf ernstes Ermahnen und Beschränkungen der Freiheit begrenzen soll163. Asaaf Fyzee164 verweist als Grundsatzentscheidung hinsichtlich der Ehewirkungen auf das im Jahre 1886 in Indien ergangene Urteil im Rechtsstreit Abdul Kadir v. Salima. Zu den Wirkungen der Ehe heißt es dort: „The legal effects of marriage are that it legalizes the enjoyment of either of them (husband and wife) with the other in the manner which in this matter is permitted by the law; and it subjects the wife to the power of restraint, that is, she becomes prohibited from going out and appearing in public; it renders her dower, maintenance, and raiment obligatory on him; and establishes on both sides the prohibitions of affinity and the rights of inheritance, and the obligatoriness of justness between the wives and their rights, and on her it imposes submission to him when summoned to the couch; and confers on him the power of correction when she is disobedient or rebellious, and enjoins upon him associating familiarly with her with kindness and courtesy.“165.

5. Güterrecht166 Im islamischen Recht besteht grundsätzlich Gütertrennung167. Die Ehefrau behält ihr Vermögen und ist auch nicht verpflichtet, es zum Unterhalt der Familie beizusteuern.  Der Ehemann muss der Frau während der Ehe Unterhalt zukommen lassen. Die Unterhaltspflicht entsteht jedoch nicht, wenn die Ehefrau die Ehe nicht vollzieht168. Außerdem entfällt sie, wenn die Frau ihre Gehorsamspflichten verletzt169. So verliert die Frau beispielsweise nach allen Rechtsschulen ihren Unterhaltsanspruch, wenn sie ohne Zustimmung des Mannes das Haus verlässt170.

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Ünal, Koran (Fn. 7), Sure 4:34. Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 72. 164 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 116 f. Siehe zu den Ehewirkungen auch Baillie, der sich auf dieselbe Fatwa bezieht, auf die auch in der Entscheidung Abdul Kadir vs. Salima verwiesen wird: Baillie, Digest (Fn. 99), S. 13; sowie Diwan, Law (Fn. 84), S. 44 und J. Esposito/DeLongBas, Women in Muslim Family Law, 2. Aufl. 2001, S. 21 ff. 165 Abdul Kadir vs. Salima vom 21. Januar 1886, ([1886] ILR 8 All 149), Rn. 8, abrufbar unter: http://www.indiankanoon.org/doc/119342/ (03.12.2015). 166 Zu den Ansprüchen der Ehegatten nach der Scheidung siehe Zweiter Teil D I. 167 Nagel, Recht (Fn. 101), S. 71; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 136. 168 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 73. 169 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 212. 170 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 182 Rn. 7–24; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 212. 163

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Nach hanafitischer Lehre kann Unterhalt grundsätzlich nur für Gegenwart und Zukunft verlangt werden, nicht hingegen für die Vergangenheit171. Der Umfang des geschuldeten Unterhalts richtet sich nach hanafitischer Ansicht nach dem mittleren Wert zwischen dem Status des Mannes und dem Status der Frau. Wenn der Status des Mannes unterhalb des Status der Frau liegt – was nach der oben beschriebenen Regel der Gleichheit nicht vorkommen sollte, aber den­ tatus noch vorkommen mag – ist nach hanafitischer und schafitischer Lehre der S des Mannes maßgeblich172. Nach malikitischer und hanbalitischer Lehre schuldet der Ehemann dennoch den Mittelwert zwischen beiden Vermögen173. Bei den Schiiten bestimmt sich der geschuldete Unterhalt danach, was eine Frau desselben Standes üblicherweise als Unterhalt benötigt174. Ob während der Wartefrist Unterhalt geleistet werden muss, richtet sich wiederum danach, ob diese durch Tod des Ehemannes oder durch Scheidung ausgelöst wird. Wird sie durch Tod ausgelöst, so steht der Frau kein Unterhaltsrecht mehr zu. Der Erbanspruch der Ehefrau ersetzt in diesem Fall den Unterhaltsanspruch. Wird die Wartefrist durch talāq ausgelöst, so behält die Frau jedenfalls bei Widerruflichkeit der Verstoßung ihren Unterhaltsanspruch während der Wartefrist175. Nach hanafitischer Lehre steht der Frau auch bei einer unwiderruflichen Verstoßung weiterhin der Unterhaltsanspruch zu. Die Malikiten vertreten, dass ein Anspruch auf Unterhalt nur besteht, wenn die Frau schwanger ist176. Nach Ablauf der Wartefrist verliert die Frau nach klassischem islamischem Recht allerdings grundsätzlich ihren Unterhaltsanspruch177. Teilweise wird aber aus Sure 2:236 die Möglichkeit einer Kompensationszahlung abgeleitet, wenn der Frau aufgrund des Nichtvollzugs der Ehe kein Anspruch auf die Morgengabe178 zusteht179.

171 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 74; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 183 Rn. 7–25. 172 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 20. 173 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 183 Rn. 7–26. 174 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 76. 175 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 76; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 183 Rn. 7–28. 176 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 183 Rn. 7–28. 177 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 76; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 184 Rn. 7–9. 178 Zur Morgengabe siehe sogleich Zweiter Teil A. III. 6. 179 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 86; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 184 Rn. 7–30. Sure 2:236 lautet: „Es ist kein Vergehen für euch, wenn ihr euch von Frauen scheidet (mit denen ihr einen Heiratsvertrag geschlossen habt), bevor ihr sie berürt oder ihnen eine Morgengabe ausgesetzt habt. Doch gewährt ihnen Versorgung, der Wohlhabende nach dem, was er vermag, und der Minderbemittelte nach dem, was er vermag  – eine Versorgung den guten Sitten und religiös anerkannter Handhabung entsprechend, eine Pflicht für die, die bestrebt sind, Gutes zu tun und dessen gewahr, dass Gott sie sieht.“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 2:36).

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6. Die Brautgabe Ein wichtiger Bestandteil der Ehe ist die Brautgabe (mahr)180. Sie ist kein Brautpreis, der an die Familie der Braut gezahlt wird, sondern dient der Absicherung der Frau nach Scheidung oder Tod des Ehemannes181. Außerdem ist sie, da sie meist erst bei Beendigung der Ehe fällig gestellt wird, ein Korrektiv zum Recht des Mannes, die Ehe einseitig durch ṭalāq zu beenden182. Die Brautgabe besteht aus einer Geldsumme oder anderen Wertgegenständen183. Ist die Höhe der Brautgabe nicht bestimmt oder postuliert ein Ehevertrag sogar, dass keine Brautgabe gezahlt werden soll, so ist die Ehe dennoch wirksam. Der Frau steht dann als Brautgabe die sogenannte mahr al-mithl zu184. Die Höhe der Brautgabe richtet sich in diesem Fall zum einen nach dem Wert, der üblicherweise Frauen aus der Familie der Braut als Brautgabe gezahlt wird. Zum anderen werden persönliche Fähigkeiten der Braut, wie zum Beispiel ihre Bildung, ihr Alter und ihr Aussehen berücksichtigt185. Die Höhe der Brautgabe variiert erheblich. In Deutschland kommen Brautgaben von 5 und 25.000 Euro vor, wobei der Durchschnitt dem Vernehmen nach bei 5.000 Euro liegt186. Im Hinblick auf den Fälligkeitszeitpunkt der Brautgabe wird regelmäßig vereinbart, dass diese nicht in der Gesamtsumme im Zeitpunkt der Eheschließung zu leisten ist, sondern ein Teil erst bei Eheauflösung durch Tod oder Scheidung fällig wird187. Der sofort fällige Teil muss auf Verlangen der Frau direkt nach der Eheschließung gezahlt werden, ohne dass es eines Nachweises des Vollzugs der 180 Das Institut der Brautgabe stützt sich auf folgende Suren: Sure 4:24: „[…] Und an wem immer von ihnen ihr euch als Ehegefährtinnen (unter diesen Bedingungen) zu erfreuen trachtet, setzt ihnen ihre vorgeschriebene Brautgabe aus. […]“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 4:24); Sure 60:10: „[…] Und es soll euch kein Vorwurf treffen (o ihr Gläubigen), wenn ihr sie heiratet, nachdem ihr ihnen ihre Brautgabe gegeben habt. […]“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 60:10). 181 Nagel, Recht (Fn. 101), S. 69. 182 Diwan, Law (Fn. 84), S. 58; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 331. 183 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 82; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 179 Rn. 7–10. Obwohl sich in einem Hadith Muhammads die Erzählung findet, dass der Prophet als Brautgabe eines armen Mannes auch die Lehre des Koran hat genügen lassen, da dessen Kenntnis der einzige Besitz des Mannes war, entspricht es der allgemeinen Ansicht, dass der Gegenstand der Brautgabe ein Vermögenswert sein muss, den ein Muslim rechtmäßig besitzen darf (Rauscher, Familienrecht [Fn. 100], S. 82). 184 Baillie, Digest (Fn. 99), S. 91; Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 448; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 19; Diwan, Law (Fn. 84), S. 59; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 180 Rn. 7–16. 185 Baillie, Digest (Fn. 99), S. 95; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 19; Diwan, Law (Fn. 84), S. 63; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 180 Rn. 7–16. 186 C. Jones-Pauly, Marriage Contracts of Muslims in the Diaspora: Problems in the Recognition of Mahr Contracts in German Law, in: A. Quraishi/F. E. Vogel (Hrsg.), The Islamic Marriage Contract, 2008, S. 299–330 (322). 187 Baillie, Law (Fn.  99), S.  92; Rauscher, Familienrecht (Fn.  100), S.  83; Diwan, Law (Fn. 84), S. 61; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 139.

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Ehe bedarf188. Der Frau steht ein „Zurückbehaltungsrecht“ des Vollzugs der Ehe bis zur Zahlung der Brautgabe zu189. Ist der Fälligkeitszeitpunkt nicht explizit vereinbart worden, so wird dieser nach den Bräuchen der Familie der Ehefrau bestimmt190. Fehlen solche Bräuche, ist innerhalb der hanafitischen Lehre umstritten, wann die Brautgabe fällig wird. Nach teilweise vertretener Ansicht ist die gesamte Summe sofort fällig. Nach überwiegender Ansicht gilt die Zweifelsregel, dass die Hälfte sofort, die andere Hälfte bei Beendigung der Ehe zu entrichten ist191. Die letztgenannte Ansicht wird durch die Funktion der Brautgabe als Korrektiv des Rechts des Mannes, über die Beendigung der Ehe bestimmen zu können, gestützt192. Stirbt der Mann vor Zahlung der mahr, so steht der Anspruch der Frau neben den Ansprüchen der übrigen Gläubiger. Er geht aber der Erfüllung von Verfügungen von Todes wegen vor193. Um ihren Anspruch durchzusetzen, steht der Witwe ein Zurückbehaltungsrecht zu194. Ist sie im Besitz des Nachlasses ihres Ehemannes, so kann sie diesen zurückbehalten, bis ihre Forderung befriedigt ist195. Ihr steht jedoch nicht das Recht zu, den Besitz erst zu ergreifen. Auch hat sie kein Recht, den Nachlass zu verkaufen und sich aus dem Erlös zu befriedigen196. 7. Unterhalt nach der Scheidung Die Teilung des Vermögens im Falle der Scheidung folgt den folgenden vier Prinzipien: erstens, die Versorgung gemeinsamer Kinder ist zu gewährleisten; zweitens, jeder Ehegatte behält das, was ihm vor der Ehe alleine gehörte; drittens, gemeinsam erworbenes Eigentum wird geteilt; viertens, Eheverträge sind einzuhalten197. Gütertrennung bedeutet im islamischen Recht aber nicht zwingend, dass die Frau keinen Zugriff auf das durch den Mann während der Ehe erworbene Vermögen hat. Auch immateriellen Beiträgen zur Ehe, wie Haushaltsführung und Kindeserziehung, kann ein finanzieller Wert innewohnen, so dass die Frau hieraus Ansprüche gegen den Ehemann geltend machen kann. Die klassischen islamischen Quellen beschäftigen sich mit diesem Aspekt jedoch kaum, so dass dieser Ansatz hauptsächlich von reformorientierten Juristen vertreten wird198. Der Hinweis, die 188

Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 83; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 139. El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 19; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 141. 190 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 140. 191 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 19. 192 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 84 f. 193 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 87; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 142. 194 Diwan, Law (Fn. 84), S. 66; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 142. 195 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 86; Diwan, Law (Fn. 84), S. 66 f.; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 142. 196 Diwan, Law (Fn. 84), S. 67; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 142, 144. 197 Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 136. 198 Siehe hierzu Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 136. 189

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Ehefrau habe keinerlei Ansprüche auf das durch den Ehemann während der Ehe erworbene Vermögen, findet sich noch immer häufig199. Ein Unterhaltsanspruch steht der Frau aber jedenfalls nach Aussprache des ṭalāq bei Widerruflichkeit der Verstoßung während der Wartefrist zu200. Darüber hinaus steht der Frau ein Anspruch auf die mahr zu, sofern diese noch nicht vorher ausgezahlt wurde. Spricht der Ehemann vor Vollzug der Ehe den ṭalāq aus und war die Morgengabe bereits festgesetzt, so steht der Frau ein Anspruch auf die Hälfte der festgesetzten Summe zu. Wurde die Morgengabe noch nicht festgesetzt, hat die Frau nach hanafitischer Lehre lediglich einen Anspruch auf eine nach den Vermögensverhältnissen des Mannes zu bestimmende Schenkung201. Der Anspruch entfällt völlig, wenn der talāq aufgrund eines ehewidrigen Verhaltens der Frau ausgesprochen wird202. Teilweise wird ferner aus Sure 2:236 die Möglichkeit einer Kompensationszahlung abgeleitet, wenn der Frau aufgrund des Nichtvollzugs der Ehe kein Anspruch auf die Morgengabe zusteht203. Daneben wird zum Teil eine Zahlung zur nachehelichen Versorgung der Ehefrau, die unabhängig von einer Brautgabe zu erfolgen hat, als verpflichtend angesehen (mut’a)204. 8. Eheverträge (taqliq) Die Eheleute können – neben oder in dem obligatorisch abzuschließenden Vertrag, der die Ehe begründet – weitere die Ehe betreffende Regelungen vereinbaren (taqliq)205. Die Rechtsschulen variieren hinsichtlich der Anerkennung von Ehe­ vereinbarungen206. Werden Regelungen als unwirksam betrachtet, so können sie 199

Mir-Hosseini, Marriage (Fn. 101), S. 35. Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 183 Rn. 7–28. 201 Rauscher, Familenrecht (Fn. 100), S. 86; Diwan, Law (Fn. 84), S. 64. 202 So Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 86; Diwan gibt an, auch in diesem Fall erhalte die Frau eine Schenkung in Höhe der Hälfte der Morgengabe, Diwan, Law (Fn. 84), S. 64. 203 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 86; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 184 Rn. 7–30 m. w. N.; Sure 2:236 lautet: „Es ist kein Vergehen für euch, wenn ihr euch von Frauen scheidet (mit denen ihr einen Heiratsvertrag geschlossen habt), bevor ihr sie berürt oder ihnen eine Morgengabe ausgesetzt habt. Doch gewährt ihnen Versorgung, der wohlhabende nach dem, was er vermag, und der Minderbemittelte nach dem, was er vermag – eine Versorgung den guten Sitten und religiös anerkannter Handhabung entsprechend, eine Pflicht für die, die bestrebt sind, Gutes zu tun und dessen gewahr, dass Gott sie sieht.“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 2:236). 204 Jones-Pauly, Marriage Contracts (Fn. 186), S. 322; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 96. 205 Nagel, Recht (Fn. 101), S. 71; zur heutigen Wirkungsweise und Anerkennung typischer Regelungen islamischer Eheverträge in verschiedenen Rechtsordnungen Quraishi/Vogel, Contract (Fn. 186), passim. 206 M. Alkhateeb, Islamic Marriage Contracts: A Resource Guide For Legal Professionals, Advocates, Imams & Communities, 2012, S. 17, abrufbar unter: http://www.peacefulfamilies.org/ wp-content/uploads/2012/10/Islamic.Marriage.Contracts.Resource.Guide_Produced.By_.PFPAPI.Institute-BWJP_2012.pdf (03.12.2015). 200

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entweder für sich alleine unwirksam sein oder zur Unwirksamkeit des gesamten Vertrages führen. Die hanafitische Rechtsschule ist in diesem Sinne die liberalste und erlaubt sehr weitgehende Regelungen. Vereinbart werden kann beispielsweise sogar ein Verbot der Polygamie oder ein Versprechen des Mannes, nicht ohne den Willen der Frau ihr Aufenthaltsrecht zu ändern. Als Folge eines Verstoßes wird meist das Recht der Frau zur Scheidung festgelegt207. Einigkeit besteht darüber, dass in einem Ehevertrag nichts vereinbart werden kann, das den grundlegenden Voraussetzungen und Bestimmungen über die Ehe widerspricht208. 9. Beendigung der Ehe Die Möglichkeiten der Beendigung der Ehe folgen im islamischen Recht ex­ plizit festgelegten Regelungen. Es wird zwischen einseitigen Scheidungsmöglichkeiten durch den Mann (ṭalāq) (a), die unter bestimmten Bedingungen auf die Frau übertragen werden können (b), einvernehmlicher Scheidung durch Vereinbarung der Ehepartner (c), richterlicher Auflösung der Ehe (d) sowie der Auflösung der Ehe durch Religionswechsel (e) oder durch Tod (f) unterschieden. a) Einseitige Scheidungsmöglichkeiten durch den Mann Die Scheidung ist im Islam zwar grundsätzlich erlaubt, soll aber nach Möglichkeit vermieden werden. Oft wird eine Prophetenüberlieferung zitiert, nach der die Scheidung unter allen durch Allah erlaubten Dingen das ihm am meisten verhasste sei209. Daher wird großer Wert auf die Möglichkeit der Versöhnung gelegt, auf die durch Vermittlungen der Angehörigen des Ehepaares, durch einen Imam oder durch andere Personen hingewirkt wird. Der Islam erlaubt Scheidungen dennoch, denn im Verhältnis zu einer unglücklichen Ehe, die womöglich außereheliche Beziehungen fördert, sei eine Scheidung das kleinere Übel210. aa) Verstoßung (ṭalāq) Die üblichste Form der Scheidung, der ṭalāq, ist in den Suren 2:229 f. und 65:1 festgeschrieben und detailliert geregelt. Das Recht die Ehe durch ṭalāq zu scheiden, steht grundsätzlich nur dem Mann zu. Der ṭalāq wird durch eine einseitige, 207 K. Ali, Marriage in classical Islamic jurisprudence: A survey of doctrines, in: Quraishi/­ Vogel, Contract (Fn. 186), S. 11–45 (21). 208 Ali, Marriage (Fn. 207), S. 21 f.; Alkhateeb, Marriage (Fn. 206), S. 17. 209 Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 27. 210 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 99; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 279 Rn. 9–02.

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nicht empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt211. Nach hanafitischer Lehre ist die Willenserklärung nicht formgebunden212. Die Anwesenheit von Zeugen ist wünschenswert, konstituiert aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung. Der ṭalāq kann mündlich oder schriftlich213, ausdrücklich oder konkludent erfolgen214. Nach schiitischer Lehre muss der ṭalāq hingegen ausdrücklich in Anwesenheit zweier Zeugen erklärt werden215. Es existieren verschiedene Formen des ṭalāq, wobei zwischen religiös gebilligten (ṭalāq al-Sunna) und religiös missbilligten, aber rechtlich erlaubten216 (ṭalāq al-Bid’a) Arten des ṭalāq unterschieden wird. Die gebilligten Formen zeichnen sich dadurch aus, dass nach dem ersten Trennungsvorstoß des Mannes noch die Möglichkeit der Versöhnung besteht, während bei den missbilligten Formen die Rechtsfolge der Beendigung der Ehe direkt eintritt217. Als gebilligte Formen des ṭalāq, also ṭalāq al-Sunna gelten aḥsan und ḥasan, wobei erstere Methode wiederum als vorzugswürdig gilt. Für eine wirksame Scheidung durch aḥsan muss der Ehemann zunächst die Verstoßung einmalig aussprechen. Die Frau muss sich zu dieser Zeit in der menstruationsfreien Phase des Zyklus befinden (thur). Ist die Verstoßung ausgesprochen, beginnt die Wartefrist (iddat), die drei Menstruationszyklen andauert. In dieser Zeit darf kein Beischlaf zwischen den Eheleuten stattfinden. Mit Ablauf der Wartefrist ist die Ehe geschieden. Während der Wartefrist steht dem Mann das Recht zur Rückkehr (rajah) zu. Dies gilt allerdings nicht, wenn der ṭalāq noch vor Vollzug der Ehe ausgesprochen wurde218. Eine Wiederheirat nach Ablauf der Wartefrist ist unproblematisch möglich219. 211 Rauscher, Familienrecht (Fn.  100), S.  97. Die Schule der Hanafiten macht bei der Er­ klärung des ṭalāq eine oft kritisierte Ausnahme von den allgemeinen Regeln über Willensmängel. So soll ein ṭalāq auch dann wirksam sein, wenn er unter Einwirkung von Drohung oder Gewalt oder unter dem Einfluss berauschender Mittel, die freiwillig eingenommen und Genusszwecken dienen, zustande gekommen ist. Die übrigen Schulen kennen diese Ausnahmeregelung teilweise nicht, so dass vorgeschlagen wird, aus Billigkeitsgründen das Recht einer anderen Schule anzuwenden (hierzu Baillie, Digest [Fn. 99], S. 208; Fyzee, Outlines [Fn. 23], S. 156). 212 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 98; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 150. 213 In diesem Fall soll die Urkunde in Gegenawart eines qādī, eines Verwandten der Ehefrau oder zweier sonstiger Zeugen ausgefertigt werden (Rauscher, Familienrecht [Fn. 100], S. 98). 214 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 98; Diwan, Law (Fn. 84), S. 72. 215 Diwan, Law (Fn. 84), S. 72. 216 Nach schiitischer Lehre ist die ṭalāq al-Bid’a allerdings nicht nur rechtlich, sondern auch religiös gebilligt (Rauscher, Familienrecht [Fn. 100], S. 106). 217 Diwan, Law (Fn. 84), S. 72; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 153. 218 Nagel, Recht (Fn. 101), S. 72. 219 Baillie, Digest (Fn. 99), S. 206; Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 449; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 22 f.; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 280 Rn. 9–06; ­Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 152; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 30; Nagel, Recht (Fn. 101), S. 69.

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Bei der zweiten gebilligten Form des ṭalāq, dem ḥasan, spricht der Ehemann drei Mal die Verstoßung in drei aufeinander folgenden menstruationsfreien Zyklusphasen aus. Eine Wiederheirat ist dann nur noch unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Die Frau muss zunächst eine Ehe mit einem anderen Mann eingehen, diese Ehe muss vollzogen und sodann geschieden werden220. Bei der Scheidung durch ḥasan ist es irrelevant, ob in der jeweiligen menstruationsfreien Phase nach Ausspruch des ṭalāq Beischlaf stattgefunden hat oder der Ehemann die Verstoßung zurückgenommen hat221. Das Verfahren ist explizit im Koran festgelegt222. Bei der ersten Form der ṭalāq al-Bid’a spricht der Ehemann die Verstoßung drei Mal hintereinander während einer menstruationsfreien Phase der Ehefrau aus. Bei der zweiten Form des ṭalāq al-Bid’a wird das Trennungsverlangen nur einmal, meist schriftlich, ausgesprochen. Dabei muss der Ehemann aber unmissverständlich zu erkennen geben, dass die Trennung endgültig sein soll. Die Verstoßung kann nicht widerrufen werden, und die Ehe gilt als sofort beendet. Eine Wieder­ heirat ist ebenfalls nur nach neuer Eheschließung der Frau, Vollzug dieser Eheschließung und Scheidung dieser Ehe möglich223. Die verschiedenen Formen des ṭalāq wirken sich unterschiedlich auf das Erbrecht der Ehefrau aus. Stirbt ein Ehegatte während der Zeit der ‘idda, die auf eine widerrufliche Scheidung folgt, so bleibt das Ehegattenerbrecht bestehen. Es erlischt, wenn die Scheidung unwiderruflich war224. 220

Baillie, Digest (Fn. 99), S. 206; Kamali, Personal Law (Fn. 104), S. 449; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 23; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 281 Rn. 9–07; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 153; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 30 f.; Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 4), S. 335. 221 Fyzee veranschaulicht dies anhand des folgenden Beispiels: „(i) The husband (H) pronounces ṭalāq on his wife (W) for the first time during a period when W is free from her menstrual courses. The husband and wife had not come together during this period of purity. This is the first ṭalāq. (ii) H resumes cohabitation or revokes this first ṭalāq in this period of purity. Thereafter, in the following period of purity, at a time when no intercourse has taken place, H pronounces the second ṭalāq. (iii) This ṭalāq is again revoked by express words or by conduct, and the third period of purity is entered into. In this period, no intercourse having taken place, H for the third time pronounces the formula of divorce. This third announcement operates in law as a final and irrevocable dissolution of the marital tie.“ (Fyzee, Outlines [Fn. 23], S. 153). 222 Sure 2:230 lautet: „Und wenn er sich (unwiderruflich zum dritten Mal) von ihr scheidet, dann ist sie ihm nicht mehr (als Gattin) erlaubt, ehe sie nicht einen anderen Gatten (nach ihrem eigenen Wunsch) geheiratet hat. (Wenn sie und ihr neuer Ehemann sich nicht gut vertragen und) wenn er sich von ihr scheidet, ist es kein Vergehen für beide (die Frau und den ersten Ehemann, sofern sie sich einig sind), wenn sie zueinander zurückkehren, vorausgesetzt sie sind sich sicher, dass sie die von Gott gesetzten Schranken einhalten können. Das sind die von Gott gesetzten Schranken. Er macht sie denen klar, die wissen (um die Weisheit und den Nutzen, der in den ihnen von ihrem Schöpfer gesetzten Schranken liegt).“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 2:230). 223 Baillie, Digest (Fn. 99), S. 207; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 281 Rn. 9–08;­ Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 154 f.; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 31. 224 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 103; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 155 f.

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bb) Schwur der Enthaltsamkeit (īlā) Bei Ausübung der īlā schwört der Ehemann, vier Monate keinen Verkehr mit der Frau zu haben. Hält er sich an den Schwur, gilt die Ehe als geschieden225. Der Sinn dieser Regelung ist, dass die Frau nicht „gleichsam beiseite gestellt“226 wird, indem der Ehemann ihr die Zuneigung entzieht, aber die Ehe nicht auflöst227. Da die īlā aber nach der hanafitischen Lehre immer von dem Schwur des Mannes abhängt, erscheint fraglich, ob sie diesen Zweck erfüllen kann. Lediglich die­ Malikiten und Hanbaliten dehnen die īlā auf Fälle einer mehr als viermonatigen Trennung ohne Schwur des Mannes aus. Nach den Schafiten und Schiiten endet nach Ablauf der viermonatigen Frist die Ehe nicht zwingend, sondern nur, wenn die Frau bei einem qādi die Auflösung der Ehe beantragt228. cc) Vergleich mit einer Frau, zu der ein verwandtschaftliches Eheverbot besteht (ẓihār) Bei der Eheauflösung durch ẓihār vergleicht der Mann seine Ehefrau mit einer Frau, zu der aufgrund eines Verwandtschaftsverhältnisses ein absolutes Eheverbot besteht. Die üblicherweise ausgesprochene Formel lautet: „Du bist wie der Rücken meiner Mutter“229. Will der Ehemann seine Erklärung zurücknehmen, so muss er ein Sühnegeld bezahlen oder eine Zeit fasten. Tut er dies nicht, kann die Ehefrau gerichtlich die Eheauflösung verlangen230. b) Scheidungsvollmacht der Frau (ṭalāq-e tafwīḍ) Der Ehemann kann das Recht, den ṭalāq auszuüben, auf eine dritte Person oder auf die Ehefrau übertragen231. Die rechtsgeschäftliche Übertragung auf die Frau wird meist in einem Ehevertrag vereinbart, kann aber auch nach der Eheschließung vorgenommen werden232. Eine Übertragung des Ausübungsrechts kann allerdings nicht unbegrenzt erfolgen. Es müssen immer konkrete Ausübungsgründe vereinbart werden233.

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Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 162. Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 104. 227 Diwan, Law (Fn. 84), S. 75. 228 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 107. 229 Juynboll, Handbuch (Fn.  61), S.  225; Diwan, Law (Fn.  84), S.  76; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 162; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 93. 230 Diwan, Law (Fn. 84), S. 76; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 162. 231 Diwan, Law (Fn. 84), S. 74; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 158. 232 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 108; Diwan, Law (Fn. 84), S. 75. 233 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 109. 226

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c) Einvernehmliche Scheidung durch Vereinbarung der Ehepartner Die Ehe kann auch im Einvernehmen der Eheleute beendet werden. Hier ist­ zwischen der einvernehmlichen Scheidung auf Wunsch der Frau (khul) und der Scheidung aufgrund gegenseitiger Ablehnung (mubāra’a) zu unterscheiden. Eine einverständliche Scheidung kann auf Wunsch der Frau unter zwei Voraussetzungen zur Auflösung der Ehe führen. Zum einen muss eine Einigung unter den Eheleuten darüber stattfinden, dass die Ehe beendet werden soll, und zum anderen muss die Ehefrau grundsätzlich eine Abstandszahlung leisten234. Auf letztere Voraussetzung kann jedoch verzichtet werden235. Üblicherweise wird die Rückzahlung der bzw. der Verzicht auf die mahr vereinbart236. Die einverständliche Eheauflösung in Form der mubāra’a unterschiedet sich von der Eheauflösung durch khul lediglich durch die Tatsache, dass in diesem Fall beide Ehepartner die Ehe beenden wollen. Umstritten ist auch hier, ob die Frau ihren Anspruch auf die mahr verliert. Es liegt nahe, dies zu verneinen, da der Trennungswille von beiden Parteien ausgeht237. d) Richterliche Auflösung der Ehe Bei der Eheauflösung durch ein Gericht ist zwischen zwei verschiedenen Verfahren zu unterscheiden. Zum einen kann die Ehefrau von sich aus einen Antrag auf Auflösung der Ehe stellen (faskh)238. Zum anderen kann sie, nachdem der Ehemann sie des Ehebruchs beschuldigt hat, ein richterliches Verfahren auf Be­ endigung der Ehe anstrengen (li’ān). Stellt die Frau eigenständig einen Antrag auf Beendigung der Ehe, ist zwischen den Rechtsschulen umstritten, unter welchen Voraussetzungen das Gericht einem solchen Antrag stattgeben muss. Als anzuerkennende Gründe für eine richterliche Auflösung der Ehe werden je nach Rechtsschule die Impotenz des Mannes oder andere schwere Gesundheitsmängel, die üble Behandlung der Frau durch den Mann sowie die Unfähigkeit oder Weigerung des Mannes, den Unterhalt zu

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Diwan, Law (Fn. 84), S. 79; Fyzee, Outlines (Fn. 23) S. 163. Diwan, Law (Fn. 84), S. 80; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 164 f. 236 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 163. Umstritten ist hier insbesondere, wie zu verfahren ist, wenn eine khul vereinbart wurde, aber über die mahr keine Vereinbarung getroffen wurde. Hier kommt es im Ergebnis auf eine Einzelfallentscheidung durch Auslegung der Willenserklärungen der Parteien an (Rauscher, Familienrecht [Fn. 100], S. 113; Fyzee, Outlines [Fn. 23], S. 165). 237 So zutreffend Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 114. 238 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn.  105), S.  29; Pearl/Menski, Family Law (Fn.  101), S. 285 Rn. 9–21. 235

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bezahlen, anerkannt239. Ferner ist umstritten, ob dem Gericht tatsächlich das Recht zukommt, die Ehe zu beenden, oder ob die Richter nur als Vermittlungspersonen zwischen den Parteien auftreten dürfen. Die Hanafiten, die hier die restriktivste Auslegung vertreten, sprechen dem Richter grundsätzlich keine Befugnis zu, die Ehe zu beenden. Sie erkennen einzig bei Impotenz des Mannes eine gerichtlich durchzusetzende Auflösungsmöglichkeit der Ehe an, die allerdings einem strengen Verfahren folgt. Kann die Ehefrau die Impotenz des Mannes nicht beweisen und bestreitet dieser das Vorbringen der Frau, so wird dem Mann eine Frist von einem Jahr gesetzt. In dieser Zeit muss die Frau entweder beweisen, dass sie noch Jungfrau ist oder ihre Aussage beeiden240. Die Malikiten räumen der Frau die weitestgehenden Rechte ein. Die Ehefrau kann eine Auflösung der Ehe beantragen, wenn der Ehemann an einer schweren Krankheit leidet, seiner Frau keinen Unterhalt gewähren kann, sie grausam behandelt oder lange Zeit abwesend ist241. Das gerichtliche Verfahren, das die Frau aufgrund einer Bezichtigung der Unzucht anstrengen kann, ist in den Suren 24:6 bis 24:9 niedergelegt242. Dem Ehemann stehen zunächst zwei Möglichkeiten offen. Zum einen kann er die Anschuldigungen zurückziehen. Damit verliert die Frau das Recht, die Scheidung zu beantragen. Zieht er die Anschuldigung nicht zurück, so muss er diese beschwören. Die Frau muss ebenfalls beschwören, dass sie unschuldig ist. Daraufhin wird die Ehe aufgelöst243. e) Eheauflösung durch Religionswechsel Sagen sich beide Eheleute vom islamischen Glauben los oder fällt entweder der Ehemann oder die Ehefrau vom islamischen Glauben ab, so gilt nach hana­ fitischem Recht die Ehe ipso iure als beendet244. Konvertiert die Frau zum Islam, 239 El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 29; Pearl/Menski, Family Law (Fn.), S. 285 Rn. 9–21. 240 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 111; El Alami/Hinchcliffe, Marriage (Fn. 105), S. 30. 241 M. H. Kamali, Divorce and Women’s rights: Some muslim interretations of S. 2:228, in: The Muslim World, (74) 1984, S. 85–99 (85). 242 Suren 24:6 bis 24:9 lauten: „Was diejenigen angeht, die ihre eigenen Ehefrauen des Ehebruchs bezichtigen, aber keine Zeugen beibringen, außer sich selbst, so muss ein solcher viermal Zeugnis ablegen, indem er bei jedem Eid bei Gott schwört, dass er ganz gewiss die Wahrheit sagt. Und beim fünften Mal, dass Gottes Fluch über ihn kommen möge, falls er eine Lüge aussprechen sollte. Doch die Strafe soll von der Frau abgewendet werden, wenn sie viermal Zeugnis ablegt und bei jedem Eid bei Gott schwört, dass der Mann fürwahr eine Lüge ausspricht. Und beim fünften Mal, dass der Zorn Gottes über sie kommen möge, wenn der Mann die Wahrheit sagt.“ (Ünal, Koran [Fn. 7], Suren 24:6 bis 24:9). 243 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 167. 244 Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 34, so auch Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 108. Da der Abfall vom Glauben allerdings von Frauen oft vorgeschoben wird, um sich von ihren Ehemännern zu trennen, bestimmt beispielsweise der indische Muslim Marriage Act 1939, dass das Lossagen der Ehefrau alleine nicht ausreicht, um die Ehe zu beenden. Vielmehr

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so löst dies eine bestehende Ehe mit einem Nichtmuslim auf, wenn dieser nicht während der Wartezeit selbst zum Islam konvertiert. Die Ehe bleibt hingegen bestehen, wenn der Mann zum Islam konvertiert und die Frau einer der Buchreligionen angehört245. f) Beendigung durch Tod Wenn die Ehe durch den Tod des Ehemannes beendet wird, darf die Frau bis zum Ablauf einer Wartefrist von vier Monaten und zehn Tagen keine neue Ehe eingehen. 10. Sorgerecht Das islamische Recht unterscheidet zwischen drei Arten der Kindessorge. In der frühkindlichen Entwicklungsphase ist die Mutter für die Betreuung des Kindes zuständig (wilayah hadhana)246. Die Betreuung erschöpft sich regelmäßig im schlichten „Großziehen“247. Die eigentliche Erziehung beginnt erst, wenn die Phase der hadhana endet. Wann dies der Fall ist, ist zwischen den Rechtsschulen umstritten248. Die Hanbaliten und Schāfiiten unterscheiden hierbei nicht zwischen Söhnen und Töchtern. Nach den Hanbaliten soll bei beiden Geschlechtern die ­hadhana im Alter von sieben Jahren enden. Nach den Schāfiiten soll sie enden, wenn das Kind eigene Wünsche und Meinungen ausdrücken kann. Es darf dann selbst entscheiden, wer das Sorgerecht ausüben soll249. Nach malikitischer Lehre soll die Mutter das Betreuungsrecht bei Söhnen bis zur Pubertät und bei Töchtern bis zur Heirat ausüben dürfen250. Unter den Hanafiten ist die Frage umstritten. Die Mehrheit knüpft an den Zeitpunkt an, in dem ein Sohn sich selbst waschen und ­ernähren kann. Die herrschende Meinung vermutet diesen Zeitpunkt im Alter von grundsätzlich sieben, in Einzelfällen im Alter von bis zu neun Jahren. Bei Töchtern stellt die hanafitische Lehre teilweise auf das Erreichen der Pubertät, teilweise auf die Heiratsfähigkeit ab251. Mit einer Wiederverheiratung verliert die Mutter grundsätzlich das Sorgerecht für Kinder aus der vorangegangenen Ehe252.

gilt die Ehe nur als beendet, wenn die Ehefrau ursprünglich einem anderen Glauben angehörte, zum Islam konvertiert ist und sodann wieder zu ihrem alten Glauben konvertiert (Fyzee, Out­ lines [Fn. 23], S. 180). 245 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 108. 246 Diwan, Law (Fn. 84), S. 116, Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 152. 247 Rauscher, Familienrecht (Fn. 100), S. 126 f.; Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 65. 248 Diwan, Law (Fn. 84), S. 116 f.; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 153. 249 Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 67; Diwan, Law (Fn. 84), S. 117; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 153. 250 Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 67; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 153. 251 Diwan, Law (Fn. 84), S. 116 f.; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 153 f. 252 Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 68; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 97.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Mit dem Ende der hadhana beginnt die dem Vater obliegende Ausbildung und Erziehung des Kindes (wilayah at-tarbiyyah)253. Dem Vater steht mit der wilayah das Sorgerecht sowie die gesetzliche Vertretungsmacht für das Kind zu254. 11. Erbrecht Im Folgenden sollen lediglich die Grundzüge des islamischen Erbrechts dargelegt werden. Auf eine ausführliche Darstellung kann an dieser Stelle verzichtet werden, da sie für den Zweck der vorliegenden Untersuchung entbehrlich ist. a) Festgelegte Erbfolge Das islamische Erbrecht erschließt sich aus zwei Quellen. Zum einen finden sich im Koran detaillierte erbrechtliche Regelungen255, zum anderen wird als Grundlage eine subsidiär geltende vorislamische Erbfolgeordnung vorausgesetzt256. Diese vorislamische Erbfolgeordnung, die möglicherweise dem Recht von Medina entstammte, war streng agnatisch ausgerichtet. Erbfähig waren nur durch Männer mit dem Erblasser verbundene waffenfähige Männer. Frauen waren von der Erbfolge gänzlich ausgeschlossen257. Deszendenten erbten vor Aszendenten und Aszendenten vor Angehörigen der Seitenlinie. Im Übrigen galten das Parentelsystem und das System der Gradesnähe. Es erbten also zunächst die Deszendenten (Söhne, Sohnessöhne usw.), sodann die Aszendenten (Vater, Vater des Vaters usw.), danach die Deszendenten des Vaters (Brüder, Brüdersöhne etc.), sodann die Deszendenten des Großvaters väterlicherseits (Söhne des Großvaters, 253

Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 69; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 145. Pauli, Familien- und Erbrecht (Fn. 32), S. 68. 255 Die relevanten Koranstellen finden sich in den Suren 4:7 bis 4:12, 4:33, 4:176, 2:180 bis 2:182 sowie 5:106. Exemplarisch zur detailreichen Regelung sei Sure 4:12 zitert: „Und euch gehört eine Hälfte von dem, was eure Frauen hinterlassen, wenn sie kein Kind haben; doch wenn sie ein Kind haben, dann gehört euch ein Viertel von ihrer Hinterlassenschaft  – nach Abzug (aller) Vermächtnisse, die ihr festgelegt habt und der Schulden (die ihr gemacht habt). Und wenn ein Mann oder eine Frau keine unmittelbaren Erben haben, und er (oder sie) haben einen Bruder oder eine Schwester (mütterlicherseits), dann gehört jedem von ihnen ein Sechstel. Sind es jedoch zwei oder mehr, dann teilen sie sich (alle) ein Drittel – nach Abzug (aller) Vermächtnisse, die sie festgelegt haben, und der Schulden; wobei (durch die Vermächtnisse oder Schulden) kein Nachteil beabsichtigt ist (für die Rechte der Erben, indem unzulässige Schulden oder Vermächtnisse in Höhe von mehr als einem Drittel des Besitzes festgelegt werden). […]“. (Ünal, Koran [Fn. 7], Sure 4:12). 256 Diwan, Law (Fn.  84), S.  182; Fyzee, Outlines (Fn.  23), S.  388; Esposito/DeLong-Bas,­ Women (Fn. 164), S. 38 f. 257 O. Spies/E. Pritsch, Klassisches islamisches Recht, in: B. Spuler (Hrsg.), Handbuch der Orientalistik, Erste Abteilung, Der nahe und der mittlere Osten, Ergänzungsband III, Orientalisches Recht, 1964, S. 220–343 (231); Diwan, Law (Fn. 84), S. 186; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 38; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 186. 254

A. Das islamische Recht

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Söhne der Söhne des Großvaters usw.) und letztlich die Deszendenten des Vaters des väterlichen Großvaters (Söhne des Urgroßvaters, Söhne der Söhne des Urgroßvaters usw.)258. Eine Repräsentation der Abkömmlinge eines Erben im Falle dessen Vorversterbens kannte das Erbsystem nicht259. Durch den Koran wurde dieses streng nach agnatischen Grundsätzen ausgerichtete Erbrecht aufgelockert, indem für solche Personen, die in vorislamischer Zeit nicht oder allenfalls sekundär erbberechtigt waren, feste Erbquoten eingeführt wurden260. Unter diesen Quotenerben sind auch weibliche Angehörige vertreten, die somit zum ersten Mal ein eigenes Erbrecht erhielten261. Zudem wurde auch die vorislamische agnatische Erbfolge durch den Koran modifiziert262. So gehören nun zu den agnatischen Erben neben den männlichen Agnaten (Resterben aus eigenem Recht, asabah bi-nafsihi) weibliche Erben, die ihr Erbrecht aus ­fremdem Recht ableiten (asabah bi-nafsihi und asabah maa ghayriha)263. Der Koran enthält in Sure 4:12 die Regel, dass, abgesehen von einigen Ausnahmen, Frauen grundsätzlich nur die Hälfte der männlichen Erbquote erben. Dies wird bei den Quotenerben streng berücksichtigt. Beispielsweise ist die Ehefrau bei Abwesenheit erbberechtigter Nachkömmlinge Quotenerbin zu 1/8 des Nachlasses264, während der Ehemann 1/4 des Nachlasses erhält265. Auch der Anteil eines Sohnes ist immer doppelt so hoch wie der Anteil einer Tochter. Diese offensichtliche Ungleichbehandlung zwischen weiblichen und männlichen Erben ist nach Ansicht vieler islamischer Rechtswissenschaftler dadurch gerechtfertigt, dass im islamischen Unterhaltsrecht ausschließlich die Männer zu Unterhaltsleistungen verpflichtet sind. Für diese Benachteiligung der Männer sollen die doppelten Erbquoten einen Ausgleich bilden266. Das sunnitische Erbrecht übernimmt nun das vorislamische Erbsystem und ergänzt es um die im Koran niedergelegten Regeln. Dabei gehen die Quotenerbrechte 258 Spies/Pritsch, Recht (Fn.  256), S.  231; Diwan, Law (Fn.  84), S.  186; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 389, 421; Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 224; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 100. 259 Spies/Pritsch, Recht (Fn. 256), S. 231; Syed, Principles (Fn. 5), S. 25; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 100; kritisch hierzu Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 392 f. 260 Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 223; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 186. 261 Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 186. 262 Zu dem System der agnatischen Erbfolge instruktiv Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 418 ff. 263 Diwan, Law (Fn. 84), S. 183; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 419; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 41. 264 Syed, Principles (Fn. 5), S. 32; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 454 Rn. 11–42; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 405; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 39 f. 265 Spies/Pritsch, Recht (Fn. 256), S. 232; Syed, Principles (Fn. 5), S. 32; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 454 Rn. 11–41; Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 405; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 39. 266 Ausführlich hierzu Z. Chaudhry, The Myth of Misogyny: A Reanalysis of Women’s Inheritance in Islamic Law, in: The Journal of Islamic Law (3) 1998, S. 41–98 (81 ff.); ferner auch Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn.  164), S.  46; Ünal, Koran (Fn.  7), Sure 4 Anmerkung 5, S. 219 ff.; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 192 f.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

der agnatisch ausgerichteten Erbfolge vor. Die agnatischen Erben erhalten daher lediglich das, was nach der Verteilung an die Quotenerben übrig bleibt. Aus diesem Grund werden sie auch als Resterben bezeichnet267. In den meisten Fällen ist dies allerdings der größte Teil des Nachlasses268. Zuletzt sind nach hanafitischer Lehre die sogenannten Kognaten erbberechtigt. Diese sind über eine oder mehrere Frauen mit dem Erblasser verwandt. Die malikitische Lehre erachtet sie für erbunwürdig269. Erschöpfen die Anteile der Quotenerben den Nachlass nicht gänzlich und sind keine Resterben vorhanden, wächst der übrige Nachlass den Quotenerben anteilig zu (radd). Wenn die Quoten die Summe des Nachlasses übersteigen, werden sie gekürzt270. Bevor die Quoten verteilt werden, sind aus dem Nachlass zunächst die Beerdigungskosten und sodann sämtliche Schulden des Erblassers zu begleichen271. Die mahr wird im Zuge der Schuldenbegleichung ebenfalls berücksichtigt. Eine Universalsukzession kennt das islamische Recht nicht272. b) Gewillkürte Erbfolge Das Recht des Erblassers zur gewillkürten Erbfolge ist in der Summe beschränkt. Vermächtnisse dürfen ein Drittel des Nachlasses nicht überschreiten273. Von dieser Regel kann nur abgewichen werden, wenn die durch den Koran bestimmten Erben zustimmen. Nach der hanafitischen Lehre ist das Einverständnis erst nach dem Tod des Erblassers einzuholen, während dieses nach der schiitischen Lehre auch schon zu Lebzeiten des Erblassers eingeholt werden kann274. Zum anderen verbieten die Malikiten, Hanbaliten und Schāfiiten ein Vermächtnis zugunsten eines gesetzlichen Erben275. Stimmen jedoch die übrigen Erben zu, soll das Vermächtnis wirksam sein. Teile der Schiiten akzeptieren ein solches Ver 267 Juynboll, Handbuch (Fn. 61), S. 244; Spies/Pritsch, Recht (Fn. 256), S. 232; Coulson, History (Fn. 8), S. 22; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 41; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 100. 268 Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 398; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 39. 269 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 468 Rn. 11–77; Ebert, Tendenzen (Fn. 43), S. 224. 270 Spies/Pritsch, Recht (Fn. 256), S. 233. 271 Baillie, Digest (Fn. 99), S. 693; Syed, Principles (Fn. 5), S. 26; Chaudhry, Myth (Fn. 266), S. 65; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 440 Rn. 11–05; Esposito/DeLong-Bas, Women (Fn. 164), S. 39; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 99. 272 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 440 Rn. 11–05. 273 Juynboll, Handbuch (Fn.  61), S.  255; Baillie, Digest (Fn.  99), S.  694; Syed, Principles (Fn. 5), S. 26; Chaudhry, Myth (Fn. 266), S. 65; Coulson, History (Fn. 8), S. 22; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 100. 274 Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 449 Fn. 11–26. 275 Chaudhry, Myth (Fn. 266), S. 65; Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 449 Rn. 11–25; Coulson, History (Fn. 8), S. 22.

A. Das islamische Recht

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mächtnis auch ohne das Einverständnis der übrigen Erben, solange die Summe nicht ein Drittel des Nachlasses übersteigt276. c) Kognatische Erbfolge der Schiiten Die Erbfolgeregelungen der Zwölfer-Schiiten unterscheiden sich in wesentlichen Punkten von den Regelungen der Sunniten. Die Differenzen zwischen den Rechtsschulen sind darauf zurückzuführen, dass die Sunniten das vorislamisch existente Erbrecht lediglich als durch den Koran modifiziert ansahen, während die Schiiten aus den koranischen Prinzipien allgemeine Regelungen ableiteten und diese zur alleinigen Grundlage einer neuen Erbrechtsordnung machten277. Das schiitische Erbfolgesystem hat also nicht die vorislamische Tradition des agnatischen Erbrechts übernommen, sondern ist streng nach kognatischen Prinzipien ausgerichtet. Die schiitische Lehre unterscheidet zwischen Erben kraft Bluts­ verwandtschaft (nasab)  und Erben aus besonderem Grunde (sabad). Die Erben kraft Blutsverwandtschaft werden in drei Konkurrenzklassen eingeteilt: –– Aszendenten ersten Grades (Eltern) und Deszendenten des Erblassers nebeneinander, –– entferntere Aszendenten und Geschwister sowie deren Abkömmlinge, –– sonstige Seitenverwandte nach Gradesnähe278. Erben aus besonderem Grunde sind ursprünglich der Ehegatte, der Imam und der Patron eines Freigelassenen279. 12. Der Zeugenbeweis Abschließend sollen die Grundsätze des islamischen Zeugenbeweises umrissen werden. Frauen sind nach verbreiteter Meinung in strafrechtlich relevanten Sachverhalten gar nicht und in anderen Fällen überwiegend nicht alleine als Zeugen zugelassen280. Begründet wird dies mit der verstärkten Emotionalität und Gefühls­leitung der Frauen im Vergleich zu männlichen Zeugen281. Als Grundlage für diese Annahme wird Sure 2:282 herangezogen: 276

Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 449 f. Rn. 11–28. Diwan, Law (Fn.  84), S.  182; Fyzee, Outlines (Fn.  23), S.  466; Arshad, Family Law (Fn. 137), S. 186. 278 Spies/Pritsch, Recht (Fn. 256), S. 233; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 102; vertiefend zur schi­ itischen Erbfolge Fyzee, Outlines (Fn. 23), S. 414–464 – für einen Vergleich des sunnitischen und des schiitischen Systems vgl. S. 464–467; eine kürzere Zusammenfassung findet sich bei Pearl/Menski, Family Law (Fn. 101), S. 469–473. 279 Spies/Pritsch, Recht (Fn. 256), S. 233. 280 Anwarullah, The Islamic Law of Evidence, 2000, S. 22; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 40. 281 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 40. 277

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht  „Wenn ihr eine Anleihe gewährt oder aufnehmt auf eine festgesetzte Frist, dann schreibt es nieder. […] Und lasst zwei Zeugen unter euren (muslimischen) Männern (es) bezeugen. Und wenn es keine zwei Männer gibt, dann einen Mann und zwei Frauen von denen, die euch als Zeugen geeignet erscheinen, damit, wenn sich eine der beiden Frauen (aus Vergesslichkeit) irrt, die andere von ihnen sie erinnern kann.“282

Die Sure regelt allerdings lediglich das vertragliche Schuldanerkenntnis. Daher vertreten reformorientierte Islamwissenschaftler teilweise die Ansicht, die Sure sei eine Spezialvorschrift, der kein allgemeiner Grundsatz entnommen werden könne. Sie weisen darauf hin, dass die Regelung auf der mangelnden Erfahrung von Frauen in geschäftlichen Dingen beruhte. Dieser Grundsatz könne aber keinesfalls pauschal auf andere Rechtsgebiete übertragen werden283. Tatsächlich finden sich im Koran weitere Regelungen über den Zeugnisbeweis, die keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern erkennen lassen284. Beispielsweise wird in den Suren 65:2 und 4:15 das arabische Wort „minkum“ benutzt, das sich grammatikalisch auf beide Geschlechter beziehen kann285. Dennoch halten die meisten islamischen Rechtsgelehrten bis heute an dem Grundsatz fest, dass weibliche Zeugen weniger Beweiskraft haben als männliche Zeugen286.

B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller bzw. religiöser Schlichtungen Im Folgenden wird geprüft, ob religiöse bzw. traditionell motivierte Streitschlichtung und Entscheidung grundrechtlich geschützt ist. Eingriffe müssten dann den nach dem jeweiligen Grundrecht geforderten besonderen Anforderungen entsprechen. Zunächst ist zwingend der Schutzbereich des Art. 4 GG ins Auge zu fassen (I.). Außerdem ist jedenfalls – auch wenn eine Schlichtung ausschließlich auf Tradition und Brauchtum beruht – die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG einschlägig (II.).

I. Religionsfreiheit, Art. 4 GG Fraglich ist zunächst, ob die Durchführung außergerichtlicher Streitbeilegung und Streitentscheidung nach religiösen Maßstäben dem Schutzbereich des Art. 4 GG unterfällt. Der Bundesgerichtshof hat im Jahre 1979 betont, dass die deutsche 282

Ünal, Koran (Fn. 7), Sure 2:282. In diesem Sinne etwa Ṭ. Al-‘Alwānī, The testimony of Women in Islamic Law, in: The American Journal of Islamic social sciences, 13/2 (1996), S. 173–196; A. A. Engineer, The rights of women in Islam, 2. Aufl. 2004, S. 72 ff.; N. Ahmad, Women’s Testimony in Islamic Law and Misconceptions: A Critical Analysis, in: Religion and Human Rights 6 (2011), S. 13–23. 284 Anwarullah, Evidence (Fn. 280), S. 25; Engineer, rights (Fn. 283), S. 76. 285 Engineer, rights (Fn. 283), S. 77. 286 Anwarullah, Evidence (Fn. 280), S. 23; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 40. 283

B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller Schlichtungen

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Rechtsordnung einen Anspruch von Religionsgemeinschaften, das Personen-, Familien- und Erbrecht ihrer Mitglieder autonom zu regeln, nicht anerkennt. Die Vorschrift des Art.  4 Abs.  1, 2 GG umfasst demnach nicht das Recht auf eine an religiösen Maßstäben ausgerichtete Privatrechtsordnung287. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Recht und Religion steht im säkularen Rechtsstaat dem Staat als rechtssetzendem Souverän und nicht der einzelnen Religionsgemeinschaft zu288. Religiöse Rechtssätze sind daher von deutschen Gerichten und Behörden nur dann anzuwenden, wenn das deutsche Kollisionsrecht das Recht eines Staates für anwendbar erklärt, der das religiöse Recht auch im staatlichen Bereich als verbindlich anerkennt289. Damit ist jedoch noch keine Aussage über private Streitschlichtung und Streitentscheidung getroffen. Daher wird im Folgenden zuerst die Reichweite des Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG bestimmt (1.) und sodann geprüft, ob die Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten nach religiösen Maßstäben in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt (2.). Sodann wird untersucht, unter welchen Umständen Eingriffe (3.) in die Religionsfreiheit gerechtfertigt sein können (4.). 1. Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit Die Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit bereitet naturgemäß deshalb Schwierigkeiten, weil der Staat sich aufgrund seiner Neutralität und Parität jeglicher Wertung in Religionsfragen zu enthalten hat. Dennoch haben die Herausbildung neuartiger Glaubensgruppierungen, aber auch „das Erstarken des Islam als historisch kulturkreisfremde Erscheinung“290 zu Versuchen geführt, unter den Religionsbegriff nur noch historisch überkommene Erscheinungsformen zu subsumieren291. Ein Ansatz, den das Bundesverfassungsgericht in seiner „Kulturvölkerformel“ ebenfalls andeutete: „Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des ­Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der ­geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat.“292 287 BGH NJW 1980, 1221; dem zustimmend A. Funke, Parallelwelten des Rechts? Die Anerkennung des Rechts und der Gerichtsbarkeit von Religionsgemeinschaften durch den Staat, in: A. Bettenworth u. a. (Hrsg.), Herausforderung Islam, 2011, S.  42–72 (46); Rohe, Recht (Fn. 1), S. 341; F. Hötte, Religiöse Schiedsgerichtsbarkeit. Angloamerikanische Rechtspraxis, Perspektiven für Deutschland, 2013, S. 191. 288 So zutreffend Rohe, Recht (Fn. 1), S. 341. 289 BGH NJW 1980,1221. 290 S.  Muckel/R. Tillmanns, Die religionsverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Islam, in: S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 234–272 (235). 291 Hierzu Muckel/Tillmanns, Rahmenbedingungen (Fn. 290), S. 235. 292 BVerfGE 12, 1 (4).

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Auffassung jedoch später nicht mehr gefolgt und hat betont, dass der Staat seine religiöse und weltanschauliche Neu­ tralität nur bewahren könne, wenn er gegenüber dem Religionspluralismus der Gesellschaft offen sei293. Das Grundgesetz möge zwar vom „Leitbild der im christlichen Kulturkreis etablierten Formen religiöser Betätigung ausgehen“294, eine Beschränkung in dieser Hinsicht anzunehmen widerspreche jedoch dem „ethischen Standard des Grundgesetzes“295. Konsens besteht aber mittlerweile296 – unabhängig von der konkreten Bestimmung des Religionsbegriffs – darüber, dass der Islam eine Religion im Sinne des Art. 4 GG ist297. Bei der konkreten Bestimmung des Schutzbereichs ist sodann problematisch, ob zwischen der Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses aus Art.  4 Abs.  1 GG und dem Recht der ungestörten Religionsausübung aus Art.  4 Abs.  2 GG zu differenzieren ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in vier zentralen Entscheidungen298 ein Konzept entwickelt, nach dem die Schutzgehalte des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG als einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit zu verstehen sind299. Die besondere Erwähnung der ungestörten Religionsausübung erkläre sich historisch aus der Vorstellung eines besonde 293

BVerfGE 41, 29 (50). S. Muckel, Schutz von Religion und Weltanschauung, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 4: Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte I, 2011, § 96 Rn. 78. 295 BVerfGE 41, 29 (50). Gegen eine derartige Begrenzung des Schutzbereichs in der Literatur siehe etwa H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 4 Rn. 9; J. Kokott, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 4 Rn. 30. 296 Eine andere Ansicht wurde früher noch angedeutet von W. Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, in: K. A. Bettermann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte  – Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. 4/1, 1960, S. 37–110 (79). Diese Auffassung wird aber heute wohl nicht mehr vertreten, so Muckel/Tillmanns, Rahmenbedingungen (Fn. 290), S. 235 Fn. 5. 297 C. Hillgruber, Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport, in: JZ 1999, S.  538–547 (540); A. Uhle, Staat  – Kirche  – Kultur, 2004, S.  156 f.; P. Janßen, Islam und­ Sozialrecht, in: S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 340–439 (402); Muckel/Tillmanns, Rahmenbedingungen (Fn. 290), S. 235. 298 BVerfGE 24, 236 (Lumpensammler); E 32, 98 (Gesundbeter); E 33, 23 (Eidesverweigerung); E 35, 366 (Kreuz im Gerichtssaal). 299 Etwa BVerfGE 24, 236 (245 f.). Auf S. 245 heißt es hierzu: „Das Grundrecht der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) ist an sich im Begriff der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) enthalten. Dieser Begriff umfaßt nämlich – gleichgültig, ob es sich um ein religiöses Bekenntnis oder religionsfremde oder religionsfreie Weltanschauung handelt – nicht nur die innere Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben, d. h. einen Glauben zu bekennen, zu verschweigen, sich von dem bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, sondern ebenso die Freiheit des kultischen Handelns, des Werbens, der Propaganda (BVerfGE 12, 1 [3 f.]). Insofern ist die ungestörte Religionsausübung nur ein Bestandteil der dem Einzelnen wie der religösen oder weltanschaulichen Vereinigung (BVerfGE 19, 129 [132]) zustehenden Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Mindestens seit der Weimarer Verfassung geht die Freiheit der Religionsausübung inhaltlich in der Bekenntnisfreiheit auf.“ 294

B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller Schlichtungen

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ren exercitium religionis, insbesondere aber aus der Abwehrhaltung gegenüber den Störungen der Religionsausübung durch die Nationalsozialisten300. Die Literatur ist dieser Ansicht überwiegend gefolgt301. Das einheitliche Verständnis hat den Vorteil, dass – anders als bei einem engen, an den Verfassungstext angelegten Verständnis der Religionsfreiheit – keine Schutzlücken auftreten. Als aktives Handeln wird dem Wortlaut nach nur die Religionsausübung von Art.  4 Abs.  2 GG geschützt, nicht etwa Handlungen, die aufgrund einer bestimmten Weltanschauung ausgeübt werden (mit Ausnahme der Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 GG). Diese scheinbare Bevorzugung der Religionsfreiheit vor anderen als zwingend empfundenen Wertmaßstäben widerspricht den Regelungen in Art. 33 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 137 Abs. 2 und Abs. 7 WRV302. Ein differenziertes Verständnis der einzelnen Schutzgehalte birgt außerdem erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten303. Zur Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs stellt das Bundesverfassungsgericht im konkreten Fall auf das Selbstverständnis desjenigen ab, der sich auf die Religionsfreiheit beruft304. Die Religionsfreiheit umfasse „auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“305. Dieser Ansatz wird jedoch regelmäßig kritisiert. Nahezu jegliches Alltagsverhalten könne aus einer religiösen oder weltanschaulichen Motivation heraus begründet werden. Es bestehe die Gefahr, dass die Religionsfreiheit in ein allgemeines F ­ reiheitsrecht 300

BVerfGE 24, 236 (245). M. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2005, S. 373 ff.; A. Frhr. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7: Freiheitsrechte, 3. Aufl. 2009, § 157 (S. 597–662), Rn. 51; M. Morlok in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 4 Rn. 58; F. Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, 4. Aufl. 2014, § 22 Rn. 4; Jarass (Fn.  295), Art.  4 Rn.  1. Kritik an dieser Ansicht: S.  Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung: die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen,1997, S. 126 ff.; W. Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, in: NJW 2001, S. 1–10 (4); G. Czermak, Religionsund Weltanschauungsrecht, 2008, § 7 Rn.  112; eine ausführliche Darstellung und Kritik der­ Argumente der Gegenauffassung bei Borowski, Gewissensfreiheit (ebda.), S. 373 ff. 302 Borowski, Gewissensfreiheit (Fn.  301), S.  378; Morlok (Fn.  301), Rn.  58; B. Pieroth/ B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 31. Aufl. 2015, Rn. 569. 303 So zutreffend Borowski, Gewissensfreiheit (Fn. 301), S. 376; Kokott, (Fn. 295), Art. 4 Rn 14; Morlok, (Fn. 301), Art. 4 Rn. 54; P. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 3. Aufl. 2015, § 4 Rn.  79. Dagegen Mückl: „Ab- und mitunter auch Aus-Grenzen (Definieren) ist das tägliche Brot des Juristen. Daß der Vorgang seine Tücken und Schwierigkeiten aufweist, ist unbestritten. Dennoch wäre es nur eine Scheinlösung, als Konsequenz auf ihn zu verzichten: Nur was sich bestimmen läßt, läßt sich auch schützen.“ (S. Mückl, in: W. Kahl/C. Waldhoff/C. Walter [Hrsg.], Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4 [2008] Rn. 57). 304 BVerfGE 24, 236 (247 f.); zum Kriterium des Selbstverständnisses: M. Morlok, Selbst­ verständnis als Rechtskriterium, 1992 sowie A. Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, 1994. 305 BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 41, 29 (49); in diesem Sinne auch C. Starck, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd.  1, 6. Aufl. 2010, Art.  4 Rn. 37; Morlok (Fn. 301), Art. 4 Rn. 79. 301

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

verkehrt werde, dessen Anwendungsbereich sich kaum noch von dem der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG abgrenzen ließe306. Diese Befürchtung bezieht sich gerade auf Religionen wie den Islam, deren Regeln weite Lebensbereiche der Gläubigen bestimmen. Der Kritik am subjektiven Ansatz des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch entgegenzuhalten, dass jede andere Bestimmung des Schutzbereichs diesen unzulässig verkürzen würde307. Der Inhalt des Glaubens kann nur aus dem „Sinn­hori­zont“308 des Gläubigen selbst bestimmt werden. Insofern herrscht auf Schutzbereichsebene ein „Rationalisierungsverbot“309. Einer Ausuferung des Schutzbereichs kann dadurch entgegengewirkt werden, dass die bloße Behauptung der Glaubensgeleitetheit einer Handlung nicht ausreicht310. Es muss vielmehr plausibel dargelegt und begründet werden, dass die Handlung religiös motiviert ist311. Erforderlich ist, dass der Betroffene nicht ohne innere Not von dem betreffenden Handeln ab­sehen kann312. Es muss sich tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um ein religiös motiviertes Verhalten handeln313. Hierbei können die Lehren der jeweiligen Religionsgemeinschaft als Maßstab dienen314. Gleichzeitig werden aber nicht nur offizielle Glaubensbekundungen religiöser Autoritäten, sondern auch individuelles religiöses Empfinden und die dadurch als zwingend empfundenen Verhaltensweisen geschützt315. Den Betroffenen trifft aber insofern eine „Darlegungslast“316. Weicht er von den Maßstäben der Religionsgemeinschaft ab, muss er die Gründe darlegen, die ihn hierzu bewegt haben317. 306 R. Herzog, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 4 (1988) Rn.  15 f; K.-H. Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit?, in: JZ 1998, S.  974–982 (980); N. Janz/S.  Rademacher, Islam und Religionsfreiheit  – Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates auf dem Prüfstand, in: NVwZ 1999, S. 706–713 (709); Muckel/Tillmanns, Rahmenbedingungen (Fn. 290), S. 243. 307 So zutreffend etwa BVerfGE 32, 98 (107). 308 Morlok (Fn. 301), Art. 4 Rn. 60. 309 F. Wittreck, Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot. Anmerkungen aus Anlaß der Schächtentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Der Staat 42 (2003), S. 519–555 (550). 310 BVerfGE 83, 341 (353). 311 Muckel, Schutz (Fn. 294), § 96 Rn. 79; Morlok (Fn. 301), Art. 4 Rn. 80; Hufen, Staatsrecht II (Fn. 301), § 22 Rn. 9; ausschließlich auf die Lehren der jeweiligen Religion im Rahmen der Plausibilitätskontrolle stellt ab C. D. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung: Zur besonderen Bedeutung der religionsverfassungsrechtlichen Garantien im Lichte der allgemeinen Grundrechtsdogmatik, 2003, S. 54 ff. 312 BVerwGE 112, 227 (235); Isak, Selbstverständnis (Fn. 304), S. 160 ff.; T. Barczak, „Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“  – zur religionsverfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Burka-Verbots unter dem Grundgesetz, in: DÖV 2011, S. 54–61 (56); Jarass (Fn. 295), Art. 4 Rn. 13. 313 BVerfGE 83, 341 (353). 314 BVerwGE 42,128 (132); Mückl, (Fn. 303), Art. 4 Rn. 89; Morlok, (Fn. 301), Art. 4 Rn. 80. 315 A. Bleckmann, Staatsrecht II: Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, § 22 Rn. 14; Hufen, Staatsrecht II (Fn. 301), § 22 Rn. 8. 316 BVerwGE 94, 82 (87); Morlok, (Fn. 301), Art. 4 Rn. 80; Jarass (Fn. 295), Art. 4 Rn. 13. 317 Wittreck, Religionsfreiheit (Fn. 309), S. 529.

B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller Schlichtungen

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Daneben sind Fälle vorstellbar, in denen nicht Individualpersonen religiöse Streitschlichtung betreiben, sondern ein Zusammenschluss von Gläubigen, beispielsweise ein Moscheegemeindeverein, diese anbietet. Fraglich ist dann, wann eine Religionsgemeinschaft im Sinne des Art.  4 Abs.  1 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 und Abs. 4 WRV vorliegt und der Zusammenschluss sich somit unmittelbar auf die Religionsfreiheit berufen kann. Literatur und Rechtsprechung haben sich dem von Gerhard Anschütz entwickelten Begriff angeschlossen, wonach eine Religionsgemeinschaft ein Verband ist, der die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses – oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse – für ein Gebiet zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgabe zusammenfasst318. Merkmale wie soziale Relevanz, zahlenmäßige Stärke oder die Art der Organisationsform sind nicht ausschlaggebend319. Bezogen auf islamische Verbände320 erscheint zunächst problematisch, dass oft viele Gemeindemitglieder gar nicht Mitglieder des jeweiligen Gemeindevereins sind. Im Islam ist die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft keine zwingende Voraussetzung zur Teilnahme am Gemeindeleben. Größere Bedeutung kommt im Islam dem Konzept der umma, der Gemeinschaft aller Gläubigen, zu. Die Zugehörigkeit zum Islam als solche, nicht zu einer bestimmten Gemeinde, stellt daher das für Muslime bedeutende Element der Verbindung zu anderen Gläubigen dar321. Dementsprechend findet auch ein der christlichen Taufe vergleichbarer Initiationsakt als formelle Aufnahme in die Gemeinde nicht statt322. Eine den christlichen Kirchen ähnliche Organisation ist dem Islam somit fremd323. Vor allem existiert keine der katholischen Kirche vergleichbare Hierarchie mit einem kirchlichen Oberhaupt. Im Hinblick auf die Neutralität des Staates in Glaubensfragen muss daher die Eigenschaft einer Religionsgemeinschaft auch dann zuerkannt werden, wenn ein Zusammenschluss lediglich faktisch die aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. In der Regel fraglich ist hingegen die Qualifizierung islamischer Dachverbände als Religionsgemeinschaften. Ihnen fehlt oft das Merkmal des Zusammenschlusses natürlicher Personen, die Homogenität des Glaubensinhalts sowie die gelebte

318 G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 137 Rn. 2 (S. 633); in diesem Sinne auch etwa BVerwGE 99, 1 (3); 123, 49 (54) sowie aus der Literatur S. Korioth, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. VII, Art. 137 WRV (2003) Rn. 14; N. Coumont, Islam und Schule, in: S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440–580 (557); A. v. Campenhausen/P. Unruh, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 137 WRV Rn. 20. 319 BVerwGE 123, 49 (55); Korioth (Fn. 318), Art. 137 WRV Rn. 14. 320 Näher zu Gründung und Struktur islamischer Vereine T. Lemmen, Muslimische Spitzenorganisationen in Deutschland: Der Islamrat und der Zentralrat, 1999. 321 B. Schmitz/L. Seifert/I. Wunn, Die religiöse Organisation im Islam, in: I. Wunn (Hrsg.), Muslimische Gruppierungen in Deutschland, 2007, S. 13–25 (15 f.); W. Hennig, Muslimische Gemenischaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, S. 27. 322 Hennig, Gemeinschaften (Fn. 321), S. 27. 323 Schmitz/Seifert/Wunn, Organisation (Fn. 321), S. 15.

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Gemeinschaft auf der Ebene des Dachverbandes324. Liegen die erforderlichen Merkmale jedoch vor, so kann grundsätzlich auch ein Dachverband eine Religionsgemeinschaft sein325. Bisher scheint allerdings noch kein Fall bekannt geworden zu sein, in dem ein islamischer Dachverband religiöse Streitschlichtungs- und -entscheidungsverfahren angeboten hat. Daneben ist zu beachten, dass in Fällen, in denen eine Religionsgemeinschaft Schlichtungsverfahren anbietet, in der Regel auch die individuelle Religionsfreiheit der an den Verfahren teilnehmenden Personen betroffen ist. Somit müsste eine staatliche Maßnahme im Ergebnis ohnehin den strengeren Anforderungen der individuellen Religionsausübungsfreiheit genügen. 2. Anwendung der festgestellten Grundsätze auf religiöse Paralleljustiz Die Glaubensfreiheit umfasst demnach grundsätzlich das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Da hierbei nach dem subjektiven Ansatz grundsätzlich auf den Einzelnen abzustellen ist, sind die nachstehenden Ausführungen, die objektiv auf den Islam als solchen abstellen, lediglich als Anhaltspunkte zu verstehen. Muslime könnten zunächst geltend machen, dass die Unterordnung unter ein staatliches, nicht islamisches Gericht ihrem Glauben widerspricht. Allerdings genügt die bloße Behauptung nicht, sondern es muss eine Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden. Fragen darüber, welche Handlungen nach islamischem Selbstverständnis zwingend zur Religionsausübung gehören, sind jedoch regelmäßig schwer zu beantworten. Denn im Islam existiert keine monokratische Instanz, welche die Lehre allgemeinverbindlich festlegen kann326. Die zwingende Anwendung der Scharia auch in der Diaspora ist jedoch unter islamischen Rechtsgelehrten seit jeher eine viel erörterte Thematik327. Es stellt sich die Frage, ob Muslime überhaupt unter nichtmuslimischer Herrschaft verweilen dürfen, und wenn ja, ob sie auf die Anwendung islamischen Rechts in der Diaspora verzichten können. Schon der Koran gibt an mehreren Stellen die Anweisung, dass Gläubige möglichst in Gebiete auswandern sollen, in denen sie ihren Glauben frei ausüben können. Bereits zu Beginn seines Wirkens folgten seine Anhänger Muhammad 324 Hierzu BVerwGE 123, 49; T. Anger, Islam in der Schule, 2003, S. 354 ff.; B. Pieroth, Muslimische Gemeinschaften als Religionsgesellschaften nach deutschem Recht, in: J. Oebbecke (Hrsg.), Muslimische Gemeinschaften im deutschen Recht, 2003, S. 108–120; Coumont, Islam (Fn. 318), S. 560 ff. 325 Wie hier etwa Coumont, Islam (Fn. 318), S. 561; M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 137 WRV Rn. 28. 326 So zutreffend Janz/Rademacher, Islam (Fn. 306), S. 710. 327 Hierzu K. A. El Fadl, Islamic Law and Muslim Minorities: The jurisdictional discourse on muslim minorities from the 2nd/8th to the 11/17th Centuries, in: Islamic Law and Society (1) 1994, S. 141–187.

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aus Mekka nach Medina, um den muslimischen Glauben ungehindert ausüben zu können (hiğra). In Sure 4:97 heißt es: „Was jene angeht, deren Seelen die Engel (die damit beauftragt sind, die Seelen der Menschen hinweg zu nehmen) abberufen, während sie sich selbst Unrecht tun (indem sie weiterhin im Unglauben leben und es nicht auf sich nehmen, in ein Land auszuwandern, wo sie zum Glauben würden finden können), so fragen (die Engel) sie: ‚In welchen Schwierigkeiten wart ihr denn (dass ihr euch nicht den Gläubigen angeschlossen habt)?‘ Sie sagen: ‚Wir waren so sehr unterdrückt in diesem Land, dass wir keinen Zugang zum Glauben finden konnten.‘ (Da) fragen (die Engel) sie: ‚War denn die Erde Gottes nicht weit genug, dass ihr hättet auswandern können?‘ Doch ihre Heimstatt wird die Hölle sein. Was für ein übles Ende!“328

Da sich die genannte Koranstelle jedoch auf eine Situation der Unterdrückung bezieht, ist fraglich, ob aus ihr generelle Schlüsse gezogen werden können. Jedenfalls wurde im Mittelalter nach islamischem Gesellschaftsverständnis die Welt in Gebiete des Islam (dar al-Islam) und Gebiete der Nicht-Muslime, damals auch Gebiete des Krieges (dar al-harb) genannt, eingeteilt329. Nach der klassischen Theorie musste es Ziel jedes Muslims sein, entweder das Gebiet des Krieges zum muslimischen Glauben zu bekehren oder in das Gebiet des Islams auszuwandern330. Allerdings herrschte unter den Rechtsgelehrten Uneinigkeit darüber, unter welchen Voraussetzungen es sich um ein Gebiet des Islam bzw. des Krieges handelt. Es war also umstritten, welche Voraussetzungen konkret erfüllt sein mussten, damit es einem Muslim erlaubt war, in einem bestimmten Staat zu leben331. Einige Gelehrte verlangten eine Herrschaft der muslimischen Mehrheit332. Nach anderer Ansicht sollte es genügen, dass das islamische Recht durch die dort lebenden Muslime ausgeübt werden kann333. Wieder andere ließen es sogar schon ausreichen, wenn Muslime in einem Gebiet, in dem die Freiheit der Religion garantiert ist, leben und ihre wichtigsten Rituale ausführen konnten334. Letztlich wurde die Meinung vertreten, dass ein Muslim in andersgläubigen Gebieten leben darf, wenn er sich sicher sei, dass er die Ungläubigen vom islamischen Glauben überzeugen könne335. 328

Ünal, Koran (Fn. 7), Sure 4:97. Ähnlichen Inhaltes sind die Suren 4:89, 4:100 und 8:72. A. R. Doi, Duties and Responsibilities of Muslims in Non-Muslim States: A Point of View, in: Journal of the Institute of Muslim Minority Affairs (8) 1987, S. 42–61 (44); A. T. Khoury, Muslime und Nicht-Muslime (Teil VI), Kapitel XXXIII: In einem nicht-islamischen Land leben?, in: ders./P. Heine/J. Oebbecke (Hrsg.), Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, 2000, S. 276–284 (282 f.); U. Matyssek, Zum Problem der Trennung von Religion und Politik im Islam, in: S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 158–233 (181). 330 Matyssek, Problem (Fn. 329), S. 181; Schlabach, Scharia (Fn. 38), S. 35 ff. 331 Khoury, Muslime (Fn. 329), S. 283. Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Ansätze in der islamischen Geschichte findet sich bei El Fadl, Islamic Law (Fn. 327). 332 El Fadl, Islamic Law (Fn. 327), S. 145; Khoury, Muslime (Fn. Fn. 329), S. 283. 333 Khoury, Muslime (Fn. 329), S. 283 f. 334 B. Johansen, Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam – Können Muslime einen religionsneutralen Staat aktzeptieren?, in: H. Marré/J. Stüting (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 20 (1986), S. 70; U. Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland. Informationen und Klärungen 2002, S. 304; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 160. 335 El Fadl, Islamic Law (Fn. 327), S. 149. 329

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Hadithe mit widersprüchlichem Inhalt sorgen für weitere Unklarheiten. So finden sich zum einen Hadithe, die jedes Zusammenleben mit Ungläubigen streng verbieten oder die Aussage treffen, die Pflicht zur hiğra würde andauern, bis alle Ungläubigen besiegt seien. Andere Hadithe wiederum sagen aus, die hiğra sei mit der Eroberung Mekkas beendet worden336. Ursprünglich lag die überwiegende Auffassung wohl darin, dass Muslime in nicht islamischen Gebieten leben können und sich auch den Gesetzen des Aufenthaltsstaates unterwerfen sollen, solange sie dort sichere Aufenthaltsbedingungen erhalten337. Diese Auffassung wird bis heute unter anderem mit der Auswanderung einer Gruppe von Muslimen zu Lebzeiten Muhammads aus dem vorislamischen Mekka in das christliche Äthiopien begründet, die ein „Vorbild für den Aufenthalt in einer nicht-islamischen aber gerechten Umwelt“ gewesen sei338. Das Meinungsbild ist jedoch noch immer uneinheitlich339. Nach der hanafi­ tischen Rechtsschule, der die meisten in Europa lebenden Muslime folgen, sind die Muslime in der Diaspora den muslimischen Rechtsvorschriften, vor allem den Strafvorschriften, nicht vollständig unterworfen. Sie sollen grundsätzlich das Recht des Aufenthaltsstaates anerkennen340. Allerdings ist es ihre Pflicht, untereinander das islamische Recht soweit wie möglich anzuwenden341. Nach malikitischer und schafitischer Ansicht soll das islamische Recht sogar unabhängig von jeglicher territorialer Beschränkung auf Muslime angewendet werden342. Je nach Rechtsschule und Prägung kann es daher für den Einzelnen nach seinem Selbstverständnis zwingend sein, sein Leben (so weit wie möglich) nach islamischem Recht zu gestalten. Somit besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass gläubige Muslime plausibel darlegen können, dass außergerichtliche Streitschlichtung und Streit­ entscheidung nach religiösem Recht auch in der Diaspora „individueller Ausdruck einer als unmittelbar bindend empfundenen religiösen Pflicht“343 ist. Die infor­ mellen Verfahren können somit grundsätzlich dem Schutzbereich des Art. 4 GG unterfallen.

336

El Fadl, Islamic Law (Fn. 327), S. 144 m. w. N. Rohe, Recht (Fn. 1), S. 160. 338 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 160, ähnlich El Fadl, Islamic Law (Fn. 327), S. 143. 339 Zu den verschiedenen Ansichten von Muslimen zur staatlichen Rechtsordnung in der westlichen Diaspora siehe Doi, Duties (Fn.  329), passim sowie M. Rohe, Der Islam  – Alltagskonflikte und Lösungen: Rechtliche Perspektiven 2001, S. 84 ff. und ders. Recht (Fn. 1), S. 385 ff. 340 Matyssek, Problem (Fn. 329), S. 183; Rohe, Recht (Fn. 1), S. 160 ff. 341 Matyssek, Problem (Fn. 329), S. 183. 342 Rohe, Recht (Fn. 1), S. 161 f. 343 Barczak, Zulässigkeit (Fn.  312), S.  56; für dieses Ergebnis auch: F. Wittreck, Parallel­ justiz in ethnischen Minderheiten? – Die bundesdeutsche Perspektive –, in: A. Deixler-Hübner/ M. Schauer (Hrsg.), Migration, Familie und Vermögen, Wien 2014, S. 91–119 (114) und ähnlich J. Witte Jr./J. A. Nichols, The Frontiers of Marital Pluralism, in: ders. (Hrsg.), Marriage and­ divorce in a multicultural context: multi-tiered marriage and the boundaries of civil law and religion, 2012, S. 356–377 (366 f.). 337

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3. Eingriff Nach dem modernen Eingriffsbegriff hat ein staatliches Handeln Eingriffscharakter, wenn es dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht344. Nach diesem Verständnis schützen Grundrechte demnach auch vor Realakten, mittelbaren und faktischen staatlichen Eingriffen345. Neben Verboten oder Beschränkungen der informellen Verfahren stellt also beispielsweise auch eine staatliche Warnung vor einem bestimmten Imam, der Streitschlichtungen und -entscheidungen anbietet, einen Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich dar. 4. Schranken des Art. 4 GG Art. 4 GG enthält bezogen auf die individuelle Glaubensfreiheit keinen Gesetzesvorbehalt346. Eine „Schrankenleihe“, von Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 5 Abs. 2 GG scheidet aus und wird auch nur noch vereinzelt vertreten347. Eine starke Meinung im Schrifttum möchte jedoch eine Schranke aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV entnehmen und die Religionsfreiheit durch die dort genannten bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten begrenzen348. Art.  136 Abs. 1 WRV bestimme, dass glaubensgeleitetes Verhalten grundsätzlich nicht besser behandelt werden dürfe als nicht glaubensgeleitetes Verhalten349. Das Bundesverfassungsgericht widerspreche sich, indem es auf der einen Seite feststelle, die Weimarer Kirchenartikel seien vollgültiges Verfassungsrecht, diese aber dann nicht als solches anwenden wolle350. Die Schranke des Art. 136 Abs. 1 GG sei auch 344

BVerfGE 105, 279 (300 f.); 113, 63 (76 f.). Kritisch hierzu D. Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe – Zu der Glykol- und der Osho-Entscheidung vom 26.06.2002, in: NVwZ 2003, S. 1–8; instruktiv außerdem F.-J. Peine, Der Grundrechtseingriff, in: D. Merten/ H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.  3: Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren II, 2009, § 57, S. 87–112. 346 Eine Einschränkung der Religionsfreiheit bildet aber nach allgemeiner Ansicht Art. 136 Abs. 3 S. 2 WRV: BVerfGE 30, 415 (426); 46, 266 (267); 49, 375 (376); aus der Literatur statt vieler Morlok (Fn. 301), Art. 4 Rn. 125 m. w. N. 347 Die Schranken wurden jeweils speziell für das zugehörige Grundrecht entwickelt („Schrankenspezialität“). Hierzu BVerfGE 32, 98 (107); 52, 223 (246); und aus der Literatur instruktiv H.-J. Papier, Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, in: ders/D. Merten (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 3: Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren, 2009, § 64 Rn. 13 ff.; a. A. Herzog (Fn. 306), Art. 4 Rn. 114. 348 So auch BVerwGE 112, 227 (232), anders jedoch bereits einen Monat später BVerwGE 112, 314 (318); aus der Literatur etwa Starck (Fn. 305), Art. 4 Rn. 88 f.; Jarass (Fn. 295), Art. 4 Rn. 28; Kokott (Fn. 295), Art. 4 Rn. 129 ff. 349 Jarass (Fn. 295), Art. 4 Rn. 28. 350 Siehe etwa BVerfGE 19, 206 (219) (st. Rspr.); diesen Widerspruch aufzeigend etwa­ Kästner, Hypertrophie (Fn. 306), S. 981; auch Befürworter der Gegenansicht bemängeln diese Inkonsequenz: etwa Wittreck, Religionsfreiheit (Fn. 309), S. 553. 345

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

gerade deshalb entscheidend, da in einer religionspluralistischen Gesellschaft Verhaltensweisen auftreten könnten, die von den bisher üblichen Verhaltensweisen erheblich abweichen351. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Herleitung einer Schranke aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1 WRV jedoch mit der Vorbehaltlosigkeit der Glaubensfreiheit nicht vereinbar352. Aufgrund des hohen Rangs der Religionsfreiheit werde Art. 136 WRV durch Art. 4 GG „überlagert“353. Die Religionsfreiheit stehe daher nicht unter einem Einschränkungsvorbehalt; ihre Grenzen könnten nur durch die Verfassung selbst gezogen werden354. Für die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts spricht der genetische Befund: die Religionsausübungsfreiheit sollte nach dem Willen des Parlamentarischen Rates vorbehaltlos gewährleistet sein. Die Bestimmung des Art. 136 WRV wurde bewusst nicht in das Grundgesetz übernommen355. Da somit kein Gesetzesvorbehalt vorliegt, sind „nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte […] mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Rechtsordnung“356 ausnahmsweise geeignet, die Religionsfreiheit zu begrenzen. Soweit es um Individualpersonen geht, ist daher in der folgenden Untersuchung zu beachten, dass Eingriffe in die informellen Verfahren nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts stattfinden dürfen. Dabei sind die Religionsfreiheit der Betroffenen und die widerstreitenden Verfassungsgüter im Wege einer „praktischen Konkordanz“ so auszugleichen, dass beide ihre Wirksamkeit optimal entfalten können357. In Fällen, in denen nicht (oder nicht nur) Individualpersonen, sondern ein Kollektiv betroffen ist, sind die Schranken allerdings weiter. Zum Beispiel könnte ein Ein 351

In diesem Sinne etwa Starck (Fn. 305), Art. 4 Rn. 88. So etwa BVerfGE 33, 23 (31); BVerfG (K) NJW 2002, 206 (207). 353 BVerfGE 33, 23 (31): Art.  136 WRV „wird nach Bedeutung und innerem Gewicht im­ Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung von Art. 4 Abs. 1 GG überlagert“. 354 BVerfGE 32, 98 (107 f.); 33, 23 (29); 52, 223 (247 f.) – aus der Lit. etwa K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 381; Wittreck, Religionsfreiheit (Fn.  309), S.  553; v. Campenhausen, Religionsfreiheit (Fn.  301), § 157 Rn. 111; H. Hofmann, in: ders./B. Schmidt-Bleibtreu/H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 4 Rn. 5; Jarass (Fn. 295), Art. 4 Rn. 28. 355 Siehe hierzu die Nachweise bei K.-B. Doemming/R. W. Füsslein/W. Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, 1 (1951), S. 73–79 (75); sowie die Anmerkungen von H. Maurer, Die Schranken der Religionsfreiheit, in: ZevKR 49 (2004), S. 311–332 (316 ff.). 356 So für vorbehaltlose Grundrechte st. Rspr. seit BVerfGE 28, 243 (261); 33, 130 (139); aus jüngerer Zeit E 81, 278 (292 ff.); (K) NJW 2003, 3111 (3112).; aus der Literatur: F. E. Schnapp, Grenzen der Grundrechte, in: JuS 1978, S. 729–735 (732 ff.); M. Kriele, Vorbehaltlose Grundrechte und die Rechte anderer, in: JA 1984, S. 629–638; C. Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, 1999; H.  Dreier, in: ders.  (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 139 f. 357 Papier, Grundrechte (Fn. 347), § 64 Rn. 17. 352

B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller Schlichtungen

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griff in das religiöse Selbstverwaltungsrecht eines Moscheegemeindevereins nicht nur auf kollidierendes Verfassungsrecht gestützt werden, sondern gemäß Art. 137 Abs. 3 WRV auch auf allgemeine Gesetze358. Auch hier muss jedoch eine Güterabwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft und dem durch die Schranke geschützten Rechtsgut vorgenommen werden359. Nach dem Bundesverfassungsgericht soll der Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes in rein internen Angelegenheiten allerdings nicht anwendbar sein (Bereichslehre)360. Das Schrifttum vertritt hingegen überwiegend, dass der Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes in allen Bereichen gilt, in rein innerkirchlichen Bereichen die Abwägung aber tendenziell eher zu Gunsten der Religionsgemeinschaft ausfallen wird (Wechselwirkungsoder Abwägungslehre)361. Vorliegend handelt es sich jedoch ohnehin nicht nur um religiöse Selbstverwaltung, sondern es ist auch die in Art. 4 GG verankerte362 korporative Religionsfreiheit des Moscheegemeindevereins betroffen. Der Moscheegemeindeverein könnte ebenso wie die Individualperson plausibel darlegen, dass das Anbieten religiös islamischer Streitschlichtung Teil seiner Religionsausübungsfreiheit ist. Das Verhältnis der Weimarer Kirchenartikel zu Art. 4 GG ist im Einzelnen sehr umstritten363. Sofern aber die Betätigung von Religionsgesellschaften auch unter Art. 4 Abs. 1 und 2 GG fällt, wird man diese Betätigungen konsequenterweise auch nur durch verfassungsimmanente Schranken begrenzen können364.­ 358 Die Bedeutung der Schrankenklausel wird seit langem ausgiebig diskutiert, siehe hierzu Borowski, Glaubens- und Gewissensfreiheit (Fn. 301), S. 599 ff. 359 BVerfGE 53, 366 (404); 70, 138 (167); 72, 278 (289). 360 BVerfGE 42, 312 (334); 66, 1 (20). Zu den rein innerkirchlichen Angelegenheiten zählen bspw. Verfassungs- und Organisationsfragen (E 18, 385 [388]) und das kirchliche Amts-und Dienstrecht, soweit nicht ausschließlich vermögensrechtliche Fragen betroffen sind (E 42, 312 [335 ff., 342 ff.]). 361 Siehe etwa v. Campenhausen/P. Unruh, (Fn.  318), Art.  137 WRV Rn.  123; Morlok, (Fn. 325), Art. 137 WRV Rn. 62 f.; Jarass, (Fn. 295), Art. 140 Rn. 13 (jeweils m. w. N.). 362 Je nach Ansicht wird die korporative Religionsfreiheit entweder als direkt in Art. 4 GG verankert angesehen („These vom Doppelgrundrecht“) oder es wird Art.  19 Abs.  3 GG herangezogen. Für die These vom Doppelgrundrecht J. Listl, Glaubens- Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: ders./D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 14, S. 439–479 (461); dagegen B. Jeand’Heur/S. Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrecht, 2000, § 7 Rn. 84. 363 Zum komplexen Verhältnis grundrechtlicher Rechte und staatskirchenrechtlicher Rechte insgesamt Borowski, Gewissensfreiheit (Fn. 301), S. 298 ff.; zum Verhältnis von Art. 4 GG und Art.  137 Abs.  3 WRV P. M. Huber, Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach Art.  137 Abs.  3 WRV einschließlich ihrer Schranken, in: H. M. Heinig/ C. Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, 2007, S.  155–184; M. Morlok, Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV einschließlich ihrer Schranken, in: ebda. S. 185–210. 364 Wie hier etwa J. Lücke, Zur Dogmatik der kollektiven Glaubensfreiheit, in: EuGRZ 1995, S. 651–660 (660); Kokott (Fn. 295), Art. 4 Rn. 4; und wohl auch Starck (Fn. 305), Art. 4 Rn. 49; a. A. wohl BVerfGE 42, 312 (322, 334); Morlok, Religionsfreiheit (Fn. 363), S. 203 ff. („Schrankenspezialität“); einen „Mittelweg“, nach welchem das allgemeine Gestz bei der Abwägung desto eher zurücktreten müsse, je stärker die korporative Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 2 GG betroffen wäre, vertritt: Huber, Religionsfreiheit (Fn. 363), S. 174.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Somit findet der Gesetzesvorbehalt des allgemeinen Gesetzes vorliegend ohnehin keine Anwendung. Liegt allerdings einschränkendes kollidierendes Verfassungsrecht vor, so müsste dieses wiederum mit der korporativen Religionsfreiheit im Wege einer „praktischen Konkordanz“ in einen schonenden Ausgleich gebracht werden. Hinsichtlich der Abwägung kollidierenden Verfassungsrechts und der individuellen bzw. kollektiven Religionsfreiheit ist hervorzuheben, dass  – wie oben in Abschnitt B. I. 2.  herausgearbeitet wurde  – außergerichtliche Streitschlichtung und -entscheidung unter Muslimen nach religiösen Regeln zwar grundsätzlich vom Schutzbereich der Religionsfreiheit umfasst sein kann, dass diese aber auch – je nach Rechtsschule und Gelehrtenmeinung – nicht elementares Erfordernis der Religionsausübung ist365. Maßstab für die Beurteilung der Intensität eines Eingriffes in die Religionsfreiheit ist, „ob der Gläubige durch die ihm auferlegten Einschränkungen […] in eine Notsituation gerät, in der ein religiös ausgerichtetes Leben und damit ein vom Glauben geprägtes ‚Personsein‘ nicht einmal mehr im Sinne eines ‚religiösen Existenzminimums‘ möglich ist.“366 Beispiele hierfür sind Eingriffe in die häusliche Andacht und die Möglichkeit des gemeinsamen Gebets und des ­Gottesdienstes mit anderen Gläubigen367. Wie gezeigt, können Muslime jedoch unter bestimmten Umständen auf die Anwendung der Scharia verzichten. Insbesondere, wenn sich der Gläubige in einer Diasporasituation befindet und die ­Anwendung islamischen Rechts mit der Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates unvereinbar ist, wird ein diesbezüglicher staatlicher Eingriff jedenfalls regelmäßig nicht das „religiöse Existenzminimum“ der Adressaten treffen.

II. Allgemeine Handlungsfreiheit Die Ausübung informeller religiöser Streitschlichtung und -entscheidung fällt zudem in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Der Schutzbereich des Art.  2 Abs.  1 GG wird weit ausgelegt. Grundsätzlich ist jedes Tun und Lassen nach dem eigenen Willen erfasst368. Hinsichtlich eines potentiellen Eingriffs gelten die obigen Ausführungen369. Die allgemeine Handlungs 365

So für religiöse Schiedsgerichtsbarkeit ebenfalls zutreffend Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 287), S. 233 („nicht eine schlechthin unverzichtbare Voraussetzung für die Religionsausübung“). Als besonders schweren Eingriff in die Religionsfreiheit ordnet das BVerfG bspw. Maßnahmen ein, die die Religionsausübung im häuslichen, aber auch im nachbarschaftlichkommunikativen Bereich betreffen, oder die das Gebet und den Gottesdienst mit anderen Gläubigen, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, erschweren oder unmöglich machen. Das Gericht spricht hier vom „religiösen Existenzminimum“ (BVerfGE 76, 143 [159]). 366 BVerwGE 74, 31 (38). 367 BVerwGE 74, 31 (38); die Begrifflichkeiten übernimmt BVerfGE 76, 143 (159); Jarass (Fn. 295). 368 Grundlegend BVerfGE 6, 32 (Elfes); aus der jüngeren Rspr. BVerfGE 111, 54 (81). 369 Angesichts der Weite des Schutzbereichs ist allerdings streitig, ob der Eingriffsbegriff so weit wie bei den übrigen Grundrechten gefasst werden soll – siehe hierzu H. Lang, in: V. Epping/ C. Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 (2015) Rn. 23.

B. Grundrechtlicher Schutz traditioneller Schlichtungen

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freiheit kann durch Rechte anderer, das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung eingeschränkt werden („Schrankentrias“). Unter dem Terminus der verfassungsmäßigen Ordnung, dem aufgrund der Positivierung der anderen beiden Schranken allein praktische Bedeutung zukommt370, versteht das Bundesverfassungsgericht alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen371. Der weite Schutzbereich wird somit durch weite Beschränkungsmöglichkeiten relativiert372. Überragende Bedeutung kommt im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu, insbesondere der Frage nach einem zur Verfügung stehenden milderen Mittel373. Als „Abwägungsdirektive“374 im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit gilt: „Je mehr dabei der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfältiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden.“375

III. Zwischenergebnis Die Prüfung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit hat ein uneinheitliches Bild ergeben. Je nach Rechtsschule und persönlicher Anschauung kann es für einen Muslim sowohl relativ unbedeutend oder aber faktisch zwingend sein, seine Streitigkeiten auch in der Diaspora nach islamischen Vorschriften von einem islamischen Gericht entscheiden zu lassen. Festzuhalten bleibt daher, dass jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass Muslime religiöse Streitschlichtung und Streitentscheidung als unmittelbar bindende Pflicht empfinden können. Die informellen Verfahren können somit grundsätzlich dem Schutzbereich des Art.  4 GG unterfallen. Staatliche Eingriffe dürfen insoweit nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts stattfinden. Bei der vorzunehmenden Abwägung im Rahmen der praktischen Konkordanz ist dann aber die vergleichsweise geringe Bedeutung, die viele Muslime der vollständigen Anwendung der islamischen Rechtsvorschriften in der Diaspora beimessen, zu beachten. Werden die Verfahren durch muslimische Gemeinschaften durchgeführt, handelt es sich nicht um Selbstverwaltung, die auch durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden könnte. Es wäre vielmehr die in Art. 4 GG verankerte korporative Religionsfreiheit betroffen, die nur durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden kann.

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Lang (Fn. 369), Art. 2 Rn. 24. Ständige Rspr. seit BVerfGE 6, 32; siehe auch etwa E 90, 145 (172) sowie aus der jüngeren Rspr. etwa E (K) NJW 2008, 3698. 372 Zum Schutzniveau H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 2 I Rn. 47 ff. 373 Dreier (Fn. 372), Art. 2 I Rn. 61. 374 Dreier (Fn. 372), Art. 2 I Rn. 61. 375 BVerfGE 17, 306 (314); 20, 150 (159). 371

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder existierender Gerichtspluralismus? Garantie und Grenzen privater Rechtsprechung Auch wenn die Beteiligten rechtlich nicht an die Entscheidungen der Schlichtungen gebunden sind, so geht doch aus den bisher bekannt gewordenen Fällen hervor, dass sie diese grundsätzlich anerkennen und sie befolgen. Dies kann dazu führen, dass staatliche Gerichte mit vielen Rechtsstreitigkeiten unter Muslimen, vor allem im familienrechtlichen Bereich, gar nicht mehr befasst werden. Das wirft die Frage auf, ob es nicht ein originäres Recht (oder sogar eine Pflicht) des Staates ist, gegen ein  – wenn auch informelles  – Äquivalent zur staatlichen Rechtsprechung vorzugehen. Die Frage stellt sich umso mehr, wenn Streitigkeiten nicht nach dem geltenden Recht, sondern primär nach religiös oder traditionell geprägten Maßstäben entschieden werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass in Deutschland ein „Gerichtspluralismus“ längst existent ist. Schieds-, Vereins-, Verbands- und Kirchengerichte operieren unter begrenzten staatlichen Kontrollmöglichkeiten neben der staatlichen Gerichtsbarkeit. Hinzu kommen die Erscheinungen der Betriebs- und Warenhausjustiz, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit nicht unumstritten ist. Im Folgenden sollen  – nach dem Versuch einer Begriffsbestimmung privater Rechtsprechung (I.) – anhand der Frage, ob und inwieweit Art. 92 GG ein staatliches Rechtsprechungsmonopol normiert, Garantie und Grenzen privater Rechtsprechung diskutiert werden (II.). Zur Veranschaulichung des existenten „Gerichtspluralismus“ folgt sodann eine kurze Beschreibung der verschiedenen Erscheinungsformen außerstaatlicher Rechtsprechung (III.). Letztlich sollen aus der Bewertung des existenten Gerichtspluralismus in Deutschland Rückschlüsse auf den Untersuchungsgegenstand der informellen religiösen Streitentscheidung gezogen werden (IV.).

I. Staatliche Rechtsprechung und private Gerichtsbarkeiten – Begriffsklärung Da im Folgenden die Begriffe der staatlichen Rechtsprechung und der privaten Rechtsprechung eine tragende Rolle einnehmen werden, ist es zwingend, diese zunächst zu definieren und vor allem zu klären, welche Arten von Entscheidungskörpern in der verfassungsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung gemeinhin als private Gerichtsbarkeiten376 bezeichnet werden. Eine Definition oder Umschreibung privater Gerichtsbarkeit lässt sich in Literatur und Rechtsprechung kaum finden. Einige Autoren verstehen darunter solche Tätigkeiten im gesellschaftlichen Bereich, die bei Wahrnehmung durch staatliche 376 Die Begriffe private Rechtsprechung und private Gerichtsbarkeit werden im Folgenden synonym verwendet.

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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Organe als Ausübung rechtsprechender Gewalt zu bezeichnen wären377. Von diesem Definitionsansatz ausgehend, ist daher in einem ersten Schritt zu klären, was unter rechtsprechender Gewalt zu verstehen ist. Der Begriff der rechtsprechenden Gewalt ist im Grundgesetz nicht definiert, sondern wird als vorkonstitutionell feststehender Begriff vorausgesetzt378. Eine allgemeingültige Definition des Rechtsprechungsbegriffs hat sich jedoch in Literatur und Rechtsprechung bislang nicht herausgebildet379. Es existiert vielmehr ein nahezu unüberschaubares Angebot von Definitionsvorschlägen380. Ein wiederkehrender Ansatz ist allerdings darin erkennbar, dass eine Annäherung an den Rechtsprechungsbegriff aus einem formalen, einem materiellen oder einem funktionalen Blickwinkel erfolgen kann. Dabei werden jedoch teilweise nicht alle drei Herangehensweisen anerkannt und außerdem unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet, die aber im Ergebnis dieselbe Bedeutung haben381. 377 S. Stommel, Die Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung der Berufsverbände, 2002; R. Wassermann, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2001 Art. 92 Rn. 51. 378 N. Achterberg, Rechtsprechung als Staatsfunktion, Rechtsprechungslehre als Wissenschaftsdisziplin, in: DVBl. 1984, S. 1093–1101 (1094); H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 92 Rn. 25; C. Hillgruber, in: T. Maunz/ G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. VI, Art. 92 (2007) Rn. 18; S. Detterbeck, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 92 Rn. 4. 379 So bezeichnet von Bargen das Tatbestandsmerkmal der rechtsprechenden Gewalt zutreffend als „weitgehend noch ungeklärten Begriff“ (J. von Bargen, Mediation im Verwaltungsprozess – Eine neue Form konsensualer Konfliktlösung vor Gericht, in: DVBl. 2004, S. 468–477 [474]); mit Verweis auf diesen so auch S. Eisenmenger, Privatisierung der Justiz, 2012, S. 93. 380 So beispielsweise bei E. Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der Staatsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz und den westdeutschen Landesverfassungen, in: Festschrift für Richard Thoma zum 75. Geburtstag am 19. Dezember 1949, 1950, S. 1–69; H. J. Schleicher, Staatliches Rechtsprechungsmonopol und kirchliche Gerichtsbarkeit – Ein Beitrag zur Auslegung des Art. 92 GG, 1968, S. 31 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, 1980, S. 889 ff.; Achterberg, Rechtsprechung (Fn. 378), S.  1094 ff.; Schulze-Fielitz (Fn.  378), Art.  92 Rn.  25 ff.; C. D. Classen, in: H.  v. Mangoldt/ F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 92 Rn. 10 ff.; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 45 ff.; W. Meyer, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 92 Rn. 5 ff.; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 4 ff. 381 Kritisch zu diesem Ansatz insgesamt Meyer (Fn. 380), Art. 92 Rn. 15. Daneben existiert eine Fülle weiterer Definitionsansätze. Etwa bei Stern, Staatsrecht Bd. 2 (Fn. 380), S. 898: „die in besonders geregelten Verfahren zu letztverbindlicher Entscheidung führende rechtliche Be­urtei­ lung von Sachverhalten in Anwendung des geltenden Rechts durch ein unbeteiligtes (Staats-)Organ, den Richter.; bei M. Wolf, Gerichtsverfassungsrecht aller Verfahrenszweige, 6. Aufl. 1987, S. 13: „Rechtsprechung kann in diesem funktional-organisatorischen Sinn umschrieben werden als verbindliche Rechtskontrolle unter höchstmöglichen Richtigkeitsgarantien im Interesse der Effektivität des Rechts.“ (Hervorhebung i. O., K. B.); ähnlich bei E. Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. 2007 Rn. 54: „[…] letztverbindliche Entscheidung in Angelegenheiten der Rechtsanwendung durch einen unbeteiligten Dritten unter notwendig besonderen Richtigkeitsgarantien.“; außerdem bei Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 10: „Die verbindliche Entscheidung eines Streites allein am Maßstab des Rechts (Hervorhebung i. O., K. B.)“.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Rechtsprechung umfasst in einem formalen Sinne zunächst all das, was ihr durch einfaches Gesetz oder durch die Verfassung zugewiesen ist, also vor allem grundgesetzliche Rechtsweggarantien und Richtervorbehalte382. Der Versuch der Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffs „im Sinne einer bloßen begrifflichen Zusammenfassung de constitutione lata bestehender Rechtsweggarantien und Richtervorbehalte“383 ist allerdings zu Recht wiederholt kritisiert worden, da auf diese Weise Art. 92 GG eine eigenständige Bedeutung versagt und der Vorschrift lediglich klarstellender Charakter zugewiesen wird384. Außerdem spricht die Aufzählung der verschiedenen Gerichtszweige in Art. 95 und Art. 96 GG gegen ein solches Verständnis. Die Vorschriften verpflichten den Staat zur Errichtung oberster Gerichtshöfe für die Gebiete der Arbeitsgerichtsbarkeit und des gewerblichen Rechtsschutzes385. Letztlich würde die Definition dessen, was Rechtsprechung ist, in das Belieben des Gesetzgebers gestellt386. Ferner zeichnet sich die Rechtsprechung im materiellen Sinne durch die Entscheidungskompetenz über die traditionellen Kernbereiche richterlicher Tätigkeit aus387. Hierzu gehören die Entscheidung bürgerlich-rechtlicher Streitigkeiten sowie die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen388. Der Kernbereich der Strafgerichtsbarkeit umfasst die Verhängung von Kriminalstrafen, wozu auch das 382 BVerfGE 22, 49 (76 f.), das Gericht fasst dies allerdings unter die Kategorie „materielle Rechtsprechung“; W. Ruwe, Schließt Art. 92 GG die Zuweisung von echten Streitsachen an den Rechtspfleger aus?,1975, S.  22; R. Stober, Staatsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit, in: NJW 1979, S. 2001–2008 (2003); W. Heyde, Rechtsprechung, in: E. Benda/W. Maihofer/ H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 33 Rn. 14; A. Stumpf, Alternative Streitbeilegung im Verwaltungsrecht, 2006, S. 29; F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 6; Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 30 ff.; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 5. 383 Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 40. 384 So etwa Wittreck, Verwaltung (Fn. 382), S. 6; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 6. 385 BVerfGE 22, 49 (78); Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2003. 386 Wie hier BVerfGE 22, 49 (73 ff.); Ruwe, Zuweisung (Fn.  382), S.  22 ff., insbes.  S.  26;­ Achterberg, Rechtsprechung (Fn. 378), S. 1094; Wittreck, Verwaltung (Fn. 382), S. 6; SchulzeFielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 25; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 6; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 40; Stumpf, Streitbeilegung, (Fn. 382), S. 29; A. Hopfauf, in: B. Schmidt-Bleibtreu/H. Hofmann/H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 92 Rn. 9. 387 Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2003; Stumpf, Streitbeilegung (Fn. 382), S. 29; Wittreck, Verwaltung (Fn. 382), S. 6; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 6; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 40. 388 Grundlegend bezüglich strafrechtlicher Sanktionen BVerfGE 22, 49 (73 ff.); darauf verweisend E 103, 111 (137); siehe auch etwa E 27, 8 (28) sowie BGHZ 82, 34 (40); aus der­ Literatur: Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 92, Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 33 ff.; G. Morgenthaler, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 (2015) Rn. 10; Detterbeck, (Fn. 378), Art. 92 Rn. 9; Pieroth, in: Jarass/ ders., Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 92 Rn. 3; kritisch zur Bestimmung des Rechtsprechungsbegriffs durch den Verweis auf traditionelle Kernbereiche A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter: Zur Integration der Dritten Gewalt in das verfassungsrechtliche Kontrollsystem vor dem Hintergrund des Art.  19 Abs. 4 GG, 1993, S. 84; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 8.

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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Festsetzen von Geldstrafen gehört. Die Verhängung dieser Strafen greift besonders intensiv in die Rechtsstellung des Bürgers ein389. Zum Kernbereich der bürgerlichen Gerichtsbarkeit gehören beispielsweise Rechtsstreitigkeiten vermögensrechtlicher Art390. Daneben liegt nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts rechtsprechende Gewalt im Sinne des Art. 92 GG aus einem funktionalen Blickwinkel auch dann vor, „wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich, der nicht schon materiell dem Rechtsprechungsbegriff unterfällt, eine Ausgestaltung wählt, die bei funktioneller Betrachtung nur der rechtsprechenden Gewalt zukommen kann. In funktioneller Hinsicht handelt es sich – ungeachtet des jeweiligen sachlichen Gegenstandes – um Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbei­ führen können. Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der Rechtsprechung in diesem Sinne gehört das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist.“391

Eine zusammenfassende Aufstellung der dargestellten Merkmale des Rechtspre­ chungsbegriffs, über die weitgehender Konsens herrscht, findet sich bei ­Fabian Wittreck: „Als solche wenigstens semifesten Bestandteile des Rechtsprechungsbegriffs dürfen zählen: (1) die Entscheidung eines Einzelfalls in einem rechtlich geregelten Verfahren, die (2) von einem Richter getroffen wird, der sich (3) durch Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten auszeichnet, und die (4) Verbindlichkeit beanspruchen kann. Materialiter kommt schließlich (5) die ausschließliche Bindung der Entscheidung an Recht und Gesetz hinzu. […] [Eine Ergänzung, Anm. d. Verfasserin] hat das Bundesverfassungsgericht […] vorgenommen, indem es zwei weitere Kompetenzkomplexe zur Rechtsprechung im materiellen Sinne gezählt hat […]: zum einen solche Aufgaben, die vom Grundgesetz ausdrücklich Richtern zugewiesen werden, zum anderen die ‚traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung – bürgerliche Rechtspflege und Strafgerichtsbarkeit‘.“392

Nach dem obigen Ansatz – private Rechtsprechung seien alle Tätigkeiten im gesellschaftlichen Bereich, die bei Wahrnehmung durch staatliche Organe als rechtsprechende Gewalt zu bezeichnen wären – müsste nach der Bestimmung dessen, was rechtsprechende Gewalt bedeutet, somit Klarheit über den Begriff der privaten Rechtsprechung bestehen. Betrachtet man Erscheinungen privater Gerichtsbarkeiten und fragt sich, ob diese rechtsprechende Gewalt darstellen würden, würden sie 389

Siehe hierzu etwa BVerfGE 22, 49 (79); 27, 18 (29 f.); 27, 36 (40); Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 34; Meyer (Fn. 380), Art. 92 Rn. 14; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 16; Pieroth (Fn. 388), Art. 92 Rn. 3. 390 BVerfGE 14, 56 (66); 22, 49 (78); Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 35; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 4, 47, 55; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 9. 391 BVerfGE 103, 111 (137); ähnlich Detterbeck (Fn.  378), Art.  92 Rn.  21a sowie Pieroth (Fn. 388), Art. 92 Rn. 4; kritisch zum funktionalen Ansatz Schulze-Fielitz (Fn. 378) Art. 92 Rn. 29 sowie Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 9. 392 Wittreck, Verwaltung (Fn. 382), S. 6 f.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

von staatlichen Organen ausgeübt, so wird man dies wohl auch regelmäßig bejahen können. Da eine Bestimmung dessen, was private Rechtsprechung auszeichnet, auf diese Weise jedoch wenig greifbar und umständlich erscheint, soll der Versuch einer eigenständigen Definition privater Rechtsprechung unternommen werden. Die Begriffsbestimmung der rechtsprechenden Gewalt kann hierbei nur begrenzt als Orientierung dienen. Denn zum einen knüpfen einige Merkmale des staatlichen Rechtsprechungsbegriffs an spezifische Funktionen an, die nur der Staat ausführen kann. Zum anderen erfolgen die meisten Versuche, den staatlichen Rechtsprechungsbegriff zu bestimmen, mit dem Ziel der Abgrenzung der Judikative von Legislative und Exekutive. Es geht also bei der Begriffsbestimmung der rechtsprechenden Gewalt regelmäßig um eine Aufgabenzuordnung im Verhältnis zu den anderen Staatsgewalten. Dementsprechend gibt es keine privaten Entscheidungskörper, denen Richtervorbehalte oder Rechtsweggarantien zugeschrieben sind. Auch kann einem privaten Entscheidungskörper aufgrund des staatlichen Strafmonopols schon keine Entscheidungskompetenz über strafrechtliche Kernbereiche zukommen393. Es bleibt also lediglich der funktionale Ansatz, der sich möglicherweise auf private Gerichte übertragen lässt. An die Stelle des staatlichen Richters tritt bei der privaten Rechtsprechung allerdings eine Privatperson oder -institution. Ein rechtlich geregeltes Verfahren ist, sofern man hierunter ein gesetzlich festgeschriebenes Verfahren versteht, für die Erscheinungsformen, die üblicherweise unter privater Gerichtsbarkeit verstanden werden, ebenfalls nicht zwingend. Die Parteien eines Schiedsverfahrens können beispielsweise die Verfahrensregeln weitgehend frei bestimmen394. Auch das Merkmal der Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten kann nicht ohne weiteres übernommen werden. Dass es Eingang in die Begriffsbestimmung der rechtsprechenden Gewalt gefunden hat, rührt wiederum daher, dass diese regelmäßig versucht, Rechtsprechung von den anderen Staatsgewalten, vor allem der Verwaltung, abzugrenzen. Verwaltung handelt immer im staatlichen Interesse, ist also selbst „Partei“ oder gleichsam „Richter in eigener Sache“, während Rechtsprechung den alleinigen Zweck verfolgt, zwischen den Parteien ohne Eigeninteresse einen streitigen Sachverhalt zu entscheiden395. Die Verwaltung muss vorgegebene oder selbstgesetzte Ziele erreichen. Sie orientiert sich daher an Zweckmäßigkeitserwägungen und Effizienzgesichtspunkten396. Die Rechtsprechung orientiert sich hingegen nur am geltenden Recht, ist also neutral in dem Sinne, als dass sie keine eigenen Interessen verfolgt397. Es geht also nicht etwa darum, dass es dem Richter an Neutralität fehlt, weil er hinsichtlich einer der 393

Zum staatlichen Strafmonopol siehe unten Dritter Teil D. II. 5. a). Zur Schiedsgerichtsbarkeit siehe unten Zweiter Teil C. III. 1. 395 S.  Smid, Rechtsprechung  – Zur Unterscheidung von Rechtsfürsorge und Prozeß, 1990, S. 637. 396 Smid, Rechtsprechung (Fn. 395), S. 637. 397 Smid, Rechtsprechung (Fn. 395), S. 637. 394

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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Parteien befangen ist, sondern, dass er keine „eigenen“ Interessen, das heißt Interessen des Staates, verfolgt. Die richterliche Neutralität ist umso wichtiger, wenn der Staat selbst Prozesspartei ist398. Diese Problematik stellt sich bei vom Staat unabhängiger Rechtsprechung zwischen Privaten von vornherein jedoch nicht. Neutralität des Entscheidenden gegenüber den Parteien scheidet daher jedenfalls als zwingendes Merkmal der privaten Rechtsprechung aus.  Denn private (und auch staatliche) Rechtsprechung kann auch dann vorliegen, wenn der Entscheidungsträger befangen ist. Privaten Gerichtsentscheidungen kommt ferner keine endgültige Verbindlichkeit zu. Es besteht immer eine (wenn auch teilweise beschränkte) Kontrollmöglichkeit durch staatliche Gerichte399. Auch das Merkmal der ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz kann für eine Definition privater Gerichte nur eingeschränkt beibehalten werden. Denn unter den Begriff „Recht“ müsste dann jedenfalls auch die Entscheidung ausschließlich nach Billigkeitsgründen400, also als amicable compositeur, wie es im Schiedsverfahren durchaus üblich ist, oder nach beliebigen anderen materiellen Maßstäben gefasst werden. Im Schiedsverfahren steht es den Parteien im Grundsatz frei, zu bestimmen, nach welchen materiellen Regelungen ihr Streit entschieden werden soll. Im Hinblick auf diese Erkenntnisse soll daher private Gerichtsbarkeit definiert werden als eine durch einen privaten Entscheidungsträger getroffene Entscheidung über einen Einzelfall (1) in einem entweder durch Gesetz, durch die Parteien oder durch den Entscheidungsträger selbst geregelten Verfahren (2). Der Entscheidungsträger ist dabei an das geltende Recht oder andere durch die Parteien ver­ einbarte Regeln gebunden oder entscheidet frei nach seinem Ermessen (3). Die getroffene Entscheidung unterliegt schließlich einer (begrenzten) Kontrolle durch die staatlichen Gerichte (4). Die Schwierigkeiten einer einheitlichen Definition privater Gerichtsbarkeiten werden allerdings dadurch entschärft, dass weitgehende Einigkeit darüber besteht, welche Erscheinungsformen privater Entscheidungskörper als private Rechtsprechung zu qualifizieren sind. Dies sind die Schieds-, Vereins- und Verbandsgerichte sowie die Parteischiedsgerichte und letztlich die Kirchengerichtsbarkeit401. Hinzu kommen die Erscheinungsformen der Betriebs- und Warenhausjustiz. Alle diese Formen privater Rechtsprechung lassen sich jedoch unter die soeben entwickelte Definition subsumieren. Ebenso lässt sich informelle Streitschlichtung und -entscheidung unter diese Definition subsumieren, soweit man auf 398

K. A. Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetzlichen Richter, in: ders./H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte  – Handbuch der Theorie und­ Praxis der Grundrechte, Bd. 3/2, 1959, S. 523–642 (529). 399 Hierzu noch unten Zweiter Teil C. II. 400 Vertiefend hierzu P. Riedberg, Der amiable Compositeur im internationalen privaten Schiedsgerichtsverfahren, 1962. 401 H. Bethge, in: T. Maunz u. a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, § 90 (2010) Rn. 240; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 28; Meyer (Fn. 380), Art. 92 Rn. 11; Pieroth (Fn. 388), Art. 92 Rn. 6.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

die bisher gewonnenen Erkenntnisse vertraut: Eine von den Parteien aus religiösen oder gesellschaftlichen Gründen anerkannte Autoritätsperson fungiert als privater Entscheidungsträger (1) in einem durch die Parteien oder den Entscheidungsträger selbst geregelten Verfahren (2). Der Entscheidungsträger mag dabei an bestimmte Grundsätze des islamischen Rechts gebunden sein oder auch alleine nach seinem Ermessen entscheiden (3). Als privatrechtliche Vereinbarung unterliegt die Entscheidung schließlich der staatsgerichtlichen Kontrolle (4).

II. Grenzen privater Gerichtsbarkeiten – Das staatliche Rechtsprechungsmonopol als irreführende Begrifflichkeit Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, ob der Staat ein Rechtsprechungsmonopol innehat, dem eine sich bildende religiöse oder traditionelle Paralleljustiz zuwiderläuft. Zur Annäherung an diese Frage muss zunächst der Begriff des Rechtsprechungsmonopols bestimmt werden (1.). Sodan soll untersucht werden, ob ein Rechtsprechungsmonopol in der Verfassung verankert ist und welche Grenzen es privaten Gerichtsbarkeiten setzt (2.). Anschließend wird dargestellt, wie sich diese Grenzen im faktischen „Gerichtspluralismus“ verhalten (3.). Letztlich sollen die Ergebnisse auf die religiöse Paralleljustiz übertragen werden (4.). 1. Rechtsprechungsmonopol: Vom Wortlaut ausgehende Eingangsüberlegung Der Begriff Monopol wird vom griechischen Wort monopolion mit der ursprünglichen Bedeutung „(Recht auf) Alleinverkauf“ abgeleitet. Monopol meint also ein Vorrecht oder einen alleinigen Anspruch insbesondere auf die Herstellung und den Verkauf eines bestimmten Produktes402. Befreit vom wirtschaftlichen Kontext und übertragen auf den Begriff des Rechtsprechungsmonopols bedeutet dies: Der alleinige Anspruch auf Ausübung rechtsprechender Tätigkeit. Der Begriff des Rechtsprechungsmonopols wird in der verfassungsrechtlichen Literatur vor allem im Zusammenhang mit Art. 92 GG erörtert, der den Anspruch auf die Ausübung rechtsprechender Tätigkeit den Richtern zuweist: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.“

Ausgehend von der soeben vorgenommenen Definition statuiert Art. 92 GG also ein Rechtssprechungsmonopol der Richter, das durch das Bundesverfassungs 402 Munzinger Online/Duden − Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 4. Auflage, CD-ROM, 2012, abgerufen von Universitätsbibliothek Düsseldorf am 8.11.2013.

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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gericht sowie durch Bundes- und Landesgerichte ausgeübt wird. Mit dieser Erkenntnis ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, ob und inwiefern private Gerichtsbarkeit zulässig ist. Eine Aussage über private Rechtsprechung würde die Vorschrift vielmehr nur treffen, wenn von dem Begriff der „Rechtsprechung“ in Art.  92  GG auch private Gerichte erfasst wären und ein Rechtsprechungsmonopol somit auch gegenüber Privaten bestehen würde. Würde „Rechtsprechung“ in Art. 92 GG hingegen nur genuin staatliche Rechtsprechung meinen, so würde die soeben definierte, durch private Entscheidungsträger ausgeübte Rechtsprechung – jedenfalls durch Art. 92 GG – nicht beschränkt. 2. Art. 92 GG als verfassungsrechtliche Grundlage eines staatlichen Rechtsprechungsmonopols? Mit der Interpretation des Art.  92 GG, den Sven Eisenmenger zu „den wohl schwierigsten und in ihrem Aussagegehalt umstrittensten verfassungsrechtlichen Vorgaben“403 zählt, hat sich Hans-Jürgen Schleicher in seiner Arbeit „Staatliches Rechtsprechungsmonopol und kirchliche Gerichtsbarkeit  – ein Beitrag zur Auslegung des Art.  92 GG“404 eingehend beschäftigt. Da dies die soweit ersichtlich einzige Abhandlung zu dieser Thematik ist, wird auf sie umfassender einzugehen sein. Schleicher differenziert zwischen vier möglichen Interpretationsansätzen des Art. 92 GG, die auch hier fruchtbar gemacht werden sollen. Die Vorschrift könne im Sinne eines absoluten, eines quasi-absoluten, eines relativ-formalen oder eines relativ-modalen Rechtsprechungsmonopols interpretiert werden405. a) Absolutes Rechtsprechungsmonopol So lässt sich Art. 92 GG zunächst als umfassendes, absolutes Rechtsprechungsmonopol verstehen. In diesem Fall dürfte jegliche Form der Rechtsprechung nur durch den Staat und hierbei wiederum unter Beachtung des Gewaltenteilungsgrundsatzes nur durch Gerichte und Richter ausgeübt werden. Adressaten der Vorschrift wären somit alle der Staatsgewalt unterworfenen Personen, Gruppen oder Institutionen. Ein konsequent verwirklichtes, absolutes Rechtsprechungsmonopol dürfte weder durch Gesetz noch kraft Autonomie oder kraft Gewohnheitsrecht durchbrochen werden. Sämtliche Erscheinungen privater Gerichtsbarkeit, seien es Schieds-, Verbands-, Vereins-, oder Betriebsjustiz, wären nach diesem Verständnis unzulässig. Im Folgenden sollen zunächst die Ausführungen Schleichers dargestellt werden, bevor diese in einem nächsten Schritt bewertet werden. 403

Eisenmenger, Privatisierung (Fn. 379), S. 93. Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 48 ff. 405 Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 48 ff. 404

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Schleicher betont, dass für eine absolute Interpretation des Art. 92 GG die rechtsgeschichtliche Entwicklung des staatlichen Gerichtswesens spreche. Er meint, die Überwindung der nichtstaatlichen Gerichtsbarkeit und die weitgehende staatliche Monopolisierung der Rechtsprechungs- und Zwangsgewalt hätten maßgeblich zur Entstehung des modernen Staates beigetragen und sich als ein konstituierendes und stabilisierendes Element der Staatswerdung erwiesen. Der moderne Staat sei somit nicht zuletzt durch die Überwindung der nichtstaatlichen Gerichtsbarkeit sowie die weitgehende Monopolisierung der Rechtsprechungs- und Zwangsgewalt entstanden. Zur Erläuterung dieser These geht er zunächst auf das bis ins 16. Jahrhundert hinein bestehende Selbsthilferecht ein, das mit zunehmender Normierung des menschlichen Zusammenlebens im Staatsverband abgeschafft worden sei. Ferner zieht er die Situation der zersplitterten Gerichtsbarkeiten im Mittelalter heran, in der Gerichtsbarkeit von Hofgerichten der Grundherren, geistigen Gerichten, Volksgerichten, Standesgerichten oder dem Königsgericht ausgeübt wurde406. Außerdem führt er an, die „Einheit der Rechtsordnung als eine wesentliche Voraussetzung für den Bestand des Staates“ spreche ebenfalls dafür, jegliche Rechtsprechung beim Staat zu monopolisieren. Die Duldung einer nicht der staatlichen Kontrolle unterliegenden Gerichtsbarkeit gefährde die innere Souveränität und führe zur Bildung von Gruppen- oder Standesrecht, welches das staatliche Recht aushöhle und dessen einheitlichen Geltungsanspruch in Frage stelle. Verbandsund Vereinsgerichtsbarkeit seien nicht zwingend am Gemeinwohl, sondern an Gruppeninteressen orientiert. Die allgemeine Gleichheit der Bürger sei auf dieser Ebene der Gefahr ausgesetzt, unverwirklicht zu bleiben407. Schleicher stellt sich letztlich gegen das Argument, die Stellung der Vorschrift im organisatorischen Teil  der Verfassung spreche gegen ein absolutes Verständnis.  Er begründet dies damit, dass sich die Grundrechte historisch zwar als Abwehrrechte des Bürgers gegen die Staatsgewalt entwickelt hätten und so auch die Vorschriften des organisatorischen Teils der Verfassung primär der Kompetenzabgrenzung und damit der Gewaltentrennung und -hemmung der Staatsorgane dienten. Heute bedrohe aber nicht nur die Staatsgewalt, sondern auch die Macht der Verbände die Freiheit des Einzelnen. Daher verlange der Bürger, der einst die Staatsgewalt mit Mitteln der Verfassung abzuwehren versuchte, nun von dieser Staatsgewalt, dass sie auch die Macht der ihn bedrohenden Verbandsgewalten begrenze. Diese Erkenntnis dargestellt, betont Schleicher die Funktion der Grundrechte als materielle und objektive Werteordnung. Dem Grundgesetz komme nicht lediglich der Stellenwert einer begrenzenden Staatsordnung, sondern einer umfassenden Lebensordnung der Bürger zu. Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, sei nicht 406

Zum Ganzen Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 55 ff. Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn.  380), S.  59 f. Schleicher verweist hierzu auf Meyer-Cording, der anführt, es bestehe die Gefahr, dass das „Eigenleben der Gruppen den staatlichen Verband bei der Wahrnehmung der ihm notwendig verbleibenden Aufgaben stört oder seine Kohäsion sprengt“ (U. Meyer-Cording, Betriebsstrafe und Vereinsstrafe im Rechtsstaat, in: NJW 1966, S. 225 [226 ff.]).

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C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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nur die Drittwirkung der Grundrechte, sondern auch eine extensive Auslegung der Verfassungsnormen des organisatorischen Teils des Grundgesetzes. Daher sei verfassungsdogmatisch nicht ausgeschlossen, dass sich das staatliche Rechtsprechungsmonopol auch gegen den Bürger und dessen Verbände richte408. Trotz der angeführten Erwägungen spricht sich Schleicher schließlich gegen ein absolutes Rechtsprechungsmonopol aus. Als Grund nennt er die weitreichenden Konsequenzen, nämlich die absolute Unzulässigkeit der bestehenden nichtstaatlichen Gerichtsbarkeit. Dass die private Gerichtsbarkeit vom Verfassunggeber vollständig aufgehoben werden sollte, sei angesichts des überkommenen Bestandes privater Gerichtsbarkeit kaum anzunehmen409. Schleicher führt zur Unterstützung dieser Aussage Art. 103 WRV an, dort heißt es: „Die ordentliche Gerichtsbarkeit wird durch das Reichsgericht und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.“ Auch dieser Vorschrift sei jedenfalls kein Verbot privater Schiedsgerichtsbarkeit entnommen worden410. Die Interpretation des Art. 92 GG im Sinne eines absoluten Rechtsprechungsmonopols lehnt Schleicher zu Recht ab. Sie wird (und wurde), soweit ersichtlich, bisher auch von niemandem vertreten. Zwar werden teilweise Autoren aus der älteren Literatur als vermeintliche Vertreter eines absoluten Rechtsprechungsmonopols angeführt411. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass auch in der älteren Literatur niemand ein Rechtsprechungsmonopol im wirklich absoluten Sinne angenommen hat. Die Vertreter, die für diese Ansicht teilweise ins Feld geführt werden, sprechen sich meist zwar für die Verfassungswidrigkeit einzelner Erscheinungen privater Rechtsprechung gemäß Art. 92 GG aus; dies allerdings nicht per se, sondern weil sie den konkreten modus operandi dieser Rechtsprechungskörper oder die Kontrolldichte der staatlichen Gerichte für bedenklich erachten412. 408

Zum Ganzen Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 60 ff. So auch Hillgruber (Fn.  378), Art.  92 Rn.  87; hierzu auch Heyde, Rechtsprechung (Fn. 382), § 33 Rn. 37. 410 E. Kern, Rechtspflege. Grundsätzliches und Übersicht, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd.  2, 1932, S.  475–495 (479); Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn.  380), S.  63; gegen eine historische Auslegung Ruwe, Zuweisung (Fn.  382), S.  16. Zur Gerichtsorganisation der Weimarer Reichsverfassung E. R. Huber, Die Gerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung, 1981, S. 525–577; C. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 194 ff. 411 So bei Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 54 in Fn. 1. 412 So zum Beispie A. Arndt, Umwelt und Recht. 1. Private „Betriebs- Justiz“? (GG Art. 92; BGB §§ 138, 242; BetrVG § 56), in: NJW 1965, S. 26–27 (27); F. Baur, Betriebsjustiz, in: JZ 1965, S.  163–167 passim; Hans-W. Alberts, Der bestechliche Fußballspieler, in: JuS 1972, S. 590–594 (591); H. P. Westermann, Die Verbandsstrafgewalt und das allgemeine Recht. Zugleich ein Beitrag zur Bewältigung des „Bundesliga-Skandals“, 1972, S. 52 ff.; bezogen auf die Parteigerichtsbarkeit: N. Heimann, Die Schiedsgerichtsbarkeit der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 1977, S. 151; schon vor Erlass des Grundgesetzes Kern, Rechtspflege (Fn. 410), S. 479; gegenwärtig soweit ersichtlich nur noch H. A. Wolff, in: D. C. Umbach/ T. Clemens (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2002, Art. 92 Rn. 45. 409

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Beispielhaft angeführt seien hier Fritz Baur und Harm Peter Westermann, die zuweilen als Vertreter eines absoluten Rechtsprechungsmonopols genannt werden. Baur, der sich mit der Betriebsjustiz auseinandergesetzt hat, führt zwar zum einen aus: „Nimmt man Art. 92 GG bei seinem Wortlaut, so enthält er sicher ein umfassendes Rechtsprechungsmonopol, nicht nur gegen den Staat gerichtet, sondern gegen jeden, der sich Rechtsprechungsbefugnisse – sei es auch nur tatsächlich – anmaßen will. […] Art. 92 GG muß so verstanden und angewendet werden, wie er zu lesen ist, nämlich als umfassendes Rechtsprechungsmonopol des Staates, und zwar mit Verfassungskraft jedem gegenüber, der rechtsprechende Gewalt für sich in Anspruch nehmen will.“413

Baur geht also zunächst scheinbar von einem absoluten Rechtsprechungsmonopol aus. Er schränkt dies aber im Fortgang dadurch ein, dass er die Schiedsgerichtsbarkeit aufgrund der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Privatautonomie für zulässig hält. Und auch Betriebs-, Verbands- und Vereinsjustiz seien dann insoweit zulässig, als sie entweder als Schiedsgerichtsbarkeit oder, sofern sie als Vertragsstrafe qualifiziert werden können, durch eine mit der Festsetzung von Vertragsstrafen betraute Stelle ausgeführt werden414. Strafsachen seien aber der Betriebsjustiz jedenfalls entzogen, da dies gegen das staatliche Strafmonopol verstoßen würde415. Ähnlich stellt Westermann zunächst fest: „In vorsichtiger Fortbildung des Art. 92 GG ist in Bezug auf schwerwiegende Eingriffe in private Interessen ein staatliches Rechtsprechungsmonopol anzuerkennen und eine private Gerichtsbarkeit für unzulässig zu erachten.“416

Westermann bezieht sich hier jedoch explizit nur auf die Verbandsstrafgewalt (im konkreten Fall derjenigen des Deutschen Fußball-Bundes) und erachtet ebenso wie Baur Vereins- und Schiedsgerichtsbarkeit nicht per se als unzulässig. b) Eigene Stellungnahme zu einem absoluten Rechtsprechungsmonopol Eine absolute Interpretation des Art. 92 GG ist abzulehnen. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, dass eine solche Interpretation nicht mit der grundrechtlich garantierten Privatautonomie zu vereinbaren ist (aa). Auch die Gesetzgebungshistorie spricht gegen die Annahme eines absoluten Rechtsprechungsmonopols (bb). Schließlich folgt eine Stellungnahme zu den von Schleicher vorgebrachten Argumenten (cc). 413

Baur, Betriebsjustiz (Fn. 412), S. 164. Baur, Betriebsjustiz (Fn. 412), S. 166. 415 Baur, Betriebsjustiz (Fn. 412), S. 164 f.; zum staatlichen Strafmonopol siehe unten Dritter Teil D II 5. a). 416 Westermann, Verbandsstrafgewalt (Fn. 412), S. 77. 414

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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aa) Die Privatautonomie als zwingender Garant privater Gerichte Ein absolutes Rechtsprechungsmonopol ist schon aufgrund der in Art.  2 Abs. 1 GG gewährleisteten Privatautonomie bzw. der in Art. 9 Abs. 1 GG gewährleisteten Vereinsautonomie abzulehnen417. Denn die Errichtung privater Streitentscheidungs- und Streitschlichtungsinstanzen ist als „Ausfluss einer auch verfahrensrechtlich verstandenen“418 individuellen sowie kollektiven Privatautonomie grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt419. So umfasst die Vertragsfreiheit die Befugnis, Abreden über die „streitweise Erledigung des Vertragsverhältnisses bei Auslegungs- und Durchführungsschwierigkeiten zu treffen und die Rechtsschutzbedingungen festzulegen“420. Wenn es nach Art. 2 Abs. 1 GG grundsätzlich erlaubt ist, auf ein bestimmtes Recht vollständig zu verzichten, muss es auch im Falle einer Rechtsgefährdung zulässig sein, persönlich darüber zu befinden, ob Rechtsschutz beansprucht werden soll und wer eine Entscheidung über das in Frage stehende Recht treffen soll421. Die Verfassung erlaubt somit nicht lediglich die Existenz privater Rechtsprechung, sondern verpflichtet den Staat sogar, diese zuzulassen422. Für Religionsgemeinschaften lässt sich aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV ferner eine verfassungsrechtliche Gewährleistung 417

Wie hier die soweit ersichtlich einheitliche Meinung, etwa bei Arndt, Betriebs-„Justiz“ (Fn. 412), S. 26; Heimann, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 412), S. 125; L. Vollmer, Unternehmensverfassungsrechtliche Schiedsgerichte, in: ZGR 1982, S. 15–44 (26); F. Ebbing, Private Zivilgerichte. Möglichkeiten und Grenzen privater (schiedsgerichtlicher) Zivilrechtsprechung, 2003, S. 22 ff.; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 41;; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 28; O. Kissel/ H. Meyer, Kommentar zum Gerichtsverfassungsgesetz, 8. Aufl. 2015, § 13 Rn. 235; in Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit a. A. ist Rehm, der die Grundlge des Schiedsspruches als prägendes Moment der Schiedsgerichtsbarkeit nicht in der Privatautonomie, sondern in einem verfassungrechtlich verbürgten Anspruch auf Anerkennung privater Urteile sieht. Demnach sei zwischen dem Anspruch auf Anerkennung privatrechtswirksamer Verhaltensweisen, der auf die Rechtsbegründung abzielt, und zwischen dem Anspruch auf Anerkennung privater Urteile, der auf Rechtserkenntnisse ausgerichtet ist, zu unterscheiden (N. Rehm, Die Schiedsgerichtbarkeit im Rechtssystem, 2009, Rn. 472). 418 Hillgruber (Fn.  378), Art.  92 Rn.  88; ähnlich Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn.  382), S. 2005. 419 Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 41; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 87. 420 Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2005. 421 P. Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozess, 1968, S. 66; ders., Vereinsund Verbandsgerichtsbarkeit, 1972, S.  122; Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn.  382), S.  2005; ähnlich auch W. J. Habscheid, Zur Frage der Kompetenz-Kompetenz der Schiedsgerichte, in: W. Grunsky u. a. (Hrsg.), Festschrift für Fritz Baur, 1981, S. 425–442 (438). 422 W. J. Habscheid, Schiedsgerichtsbarkeit und Staatsaufsicht, in: KTS 1959, 113–120 (114) U. Kornblum, Probleme der schiedsrichterlichen Unabhängigkeit, 1968, S. 118; Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn.  382), S.  2005; Ebbing, Zivilgerichte (Fn.  417), S.  24; R. A. Schütze, Schiedsgericht und Schiedsverfahren, 5. Aufl. 2012, Rn. 7. Einen instruktiven Überblick, wie sich die Schiedsgerichtsbarkeit zu den diesbezüglich relevanten Verfassungsvorschriften verhält gibt B.-J. Kiesow, Die Vereinbarkeit des Schiedsgerichtswesens mit dem Grundgesetz, KTS 1962, S. 224–233.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

der historisch gewachsenen kirchlichen Gerichtsbarkeit, zumindest für den innerkirchlichen Bereich, ableiten423. Außerdem ergibt sich die Zulässigkeit bzw. die verfassungsrechtliche Garantie der Parteischiedsgerichtsbarkeit aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG. Danach muss die Ordnung politischer Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen. Die Parteischiedsgerichte sichern die durch das Grundgesetz verlangte demokratische Ordnung, indem sie als Schutzvorkehrung für die einzelnen Parteimitglieder gegen eine Übermacht der Parteiorgane agieren424. Schon aufgrund der dargelegten verfassungsrechtlichen Gewährleistung privater Recht­ sprechungstätigkeiten kann Art.  92 GG also kein absolutes Rechtsprechungsmonopol statuieren. bb) Rückschluss aus den Gesetzgebungsmaterialien Schließlich gibt (als wohl schwächstes, aber dennoch nicht zu vernachlässigendes Argument) auch ein Blick auf die Gesetzgebungsmaterialien Aufschluss: Im stenographischen Protokoll der 3. Sitzung des Rechtspflegeausschusses425 heißt es in einem Beitrag des Abgeordneten Paul de Chapeaurouge: „Wir können unseren Staatsangehörigen die freie Wahl des Schiedsgerichtsverfahrens, wenn sie zu den staatlichen Gerichten nicht gehen wollen, unsererseits nicht verbauen.“426 cc) Kritsche Würdigung der für ein absolutes Rechtsprechungsmonopol vorgebrachten Argumentation Die von Schleicher für ein absolutes Rechtsprechungsmonopol angeführten Argumente bringen zwar zutreffende Bedenken auf den Punkt, können aber schon aufgrund der verfassungsrechtlich verbürgten Garantie privater Rechtsprechung nicht durchschlagen. Ferner sprechen sie auch aus sich heraus nicht zwingend für ein absolutes Rechtsprechungsmonopol.

423 Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2007; Stern, Staatsrecht Bd. 2 (Fn. 380), S. 925; Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 50; A. v. Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 101; zur innerkirchlichen Gerichtsbarkeit der evangelischen und katholischen Kirche siehe noch unten Zweiter Teil C III 5. 424 Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 196; Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 24 f.; ähnlich auch Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2007. 425 Rechtspflegeausschuss, Stenographisches Protokoll der 3. Sitzung v. 22. Oktober 1948, abgedruckt in: H.-P. Schneider (Hrsg.), Das Grundgesetz, Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 23, Teilbd. 1, 1999, Dok. 28, S. 252. 426 Beitrag des Abgeordneten Paul de Chapeaurouge (CDU), Stenographisches Protokoll der 3. Sitzung v. 22.10.1948 abgedruckt in: H.-P. Schneider (Hrsg.), Das Grundgesetz: Dokumentation seiner Entstehung Bd. 23, Teilbd. 1, 1999, Dok. 28, S. 252 ff.

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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(1) Die geschichtliche Entwicklung des Justizwesens Zunächst ist es zwar zutreffend, dass die geschichtliche Entwicklung des Justizwesens dadurch gekennzeichnet ist, dass intermediären Gewalten nach und nach Rechtsprechungsbefugnisse entzogen wurden und der Staat eine umfassende Justizhoheit erlangte427. Da Deutschland über viele Jahrhunderte von einer Mitregierung des Adels geprägt war, wies auch die deutsche Gerichtsverfassung lange eine partikularistische Prägung auf428. Das Mittelalter zeichnete sich durch ein Nebeneinander von landesherrlichen, städtischen und (grund-) adligen Gerichtsbarkeiten aus, die die Heterogenität der Machtverhältnisse im Ständestaat abbildeten429. Die Entwicklung hin zu einer einheitlichen Staatsgerichtsbarkeit stärkte die Macht des Staates und drängte säkulare Mächte zurück. Die Gerichtszersplitterung im Mittelalter, in der zahlreiche Gerichtsbarkeiten vor allem aus Finanznot der Landes­herren in den Machtbereich privater Gewalten gelangten430, ist jedoch nicht mit einem System vergleichbar, in dem zwar pluralistische Gerichtsbarkeiten bestehen, die letzte Entscheidung jedoch immer beim Staat liegt. Die Gefahr einer unkontrollierten Gerichtszersplitterung besteht solange nicht, wie sich der Staat eine Missbrauchskontrolle sowie die Durchsetzung privater Entscheidungen, die durch ein funktionierendes Justizsystem ausgeübt wird, vorbehält. Um also der Gefahr einer Gerichtszersplitterung entgegenzuwirken, bedarf es nicht zwingend eines absoluten Rechtsprechungsmonopols. (2) Der Topos der Einheit der Rechtsordnung Schleicher führt ferner an, die „Einheit der Rechtsordnung als eine wesentliche Voraussetzung für den Bestand des Staates“431 spreche ebenfalls dafür, jegliche Rechtsprechung beim Staat zu monopolisieren. Die Duldung einer nicht der staatlichen Kontrolle unterliegenden Gerichtsbarkeit führe zur Bildung von Gruppen- oder Standesrecht, welches das staatliche Recht aushöhle und dessen einheitlichen Geltungsanspruch in Frage stelle432. Auch Kritiker offizieller wie

427 Hierzu C. F. Menger, Moderner Staat und Rechtsprechung, 1968, S.  6 ff.; D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7, Aufl. 2013, §§ 17 II 3, 22 II 3. Zu Zuständigkeitskonflikten geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit: P. Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge, 2012. 428 G. Buchda, Gerichtsverfassung, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1971, Spalten 1563–1576 (1563); hierzu in der neuen Auflage H. Lück, Gerichtsverfassung, in: A. Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, Spalten 192–219 (200 ff.). 429 U. Müßig, Recht und Justizhoheit, 2. Aufl. 2009, S. 218. 430 F. Ebel/G. Thielmann, Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2003, Rn. 271. 431 Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 60. 432 Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 59.

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inoffizieller islamischer Schiedsgerichte bedienen sich zuweilen des Arguments der Einheit der Rechtsordnung433. Der Topos der Einheit der Rechtsordnung434 ist – wie die Begrifflichkeit schon andeutet – kein festgeschriebener Rechtssatz. Tatsächlich kann man die Einheit der Rechtsordnung nicht einmal als feststehendes theoretisches Konzept bezeichnen. Am ehesten trifft wohl eine Qualifizierung als Formel zu, die in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit teilweise divergierenden Bedeutungsgehalten verwendet wird. Die Unklarheit, die über den Bedeutungsinhalt der Formel besteht, verdeutlicht Manfred Baldus: „Die verwirrende Vielfalt der Bedeutungsvarianten reicht von der Forderung nach Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit über das Gebot der Gleichbehandlung bis hin zur Deutung als rechtslogisches, axiologisches oder moralisches Postulat. Gelegentlich wird in ihr auch die theoretische Dimension der ‚Rechtseinheit‘ gesehen oder gar beides ‚Rechtseinheit‘ und ‚Einheit der Rechtsordnung‘ miteinander identifiziert.“435

Führt Schleicher an, dass aufgrund der Anwendung unterschiedlicher Rechte durch die privaten Gerichte die Gefahr bestehe, das staatliche Recht werde ausgehöhlt, so versteht er unter dem Topos der Einheit der Rechtsordnung, dass neben dem staatlichen Recht möglichst kein anderes Recht gelten soll. In ähnlicher Weise verwenden Kritiker außerstaatlicher Streitentscheidung die Begrifflichkeit436. Nach überwiegendem Verständnis, das auf eine Heidelberger Antrittsvorlesung des Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Karl Engisch im Jahre 1935 zurückgeht,437 meint der Topos der Einheit der Rechtsordnung allerdings nicht, dass neben dem staatlichen Recht keine anderen Rechtsordnungen zur Anwendung gelangen dürfen. Gemeint ist vielmehr eine Art Wertungseinheit innerhalb der staatlichen Rechtsordnung, in dem Sinne, dass Normzwecke konsistent und widerspruchsfrei sein sollen438. Der Topos wird jedoch regelmäßig dahingehend kritisiert, dass

433 So zum Beispiel D. McEoin, Sharia Law or „One Law For All?“, Bericht für das Civitas Institute for the Study of Civil Society London, 2009, Introduction, abrufbar unter: http://www. civitas.org.uk/pdf/ShariaLawOrOneLawForAll.pdf. (03.12.2015). 434 Zur Einheit der Rechtsordnung K. Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität? Aufgabe? Illusion?, in: ders.  (Hrsg.), Vielfalt des Rechts  – Einheit der Rechtsordnung? 1994, S.  9–29; M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung: Bedeutung einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19.  und 20.  Jahrhunderts, 1995; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung: Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998. Im Hinblick auf reliigiöse Paralleljustiz Wittreck, Paralleljustiz (Fn. 343), S. 107 ff. 435 Baldus, Einheit (Fn. 434), S. 14 (mit entsprechenden Nachweisen). 436 Etwa McEoin, Sharia (Fn. 433), Introduction. 437 K. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935 (Nachdruck mit Geleitwort von A. Kaufmann [Hrsg.], 1987). 438 BVerfGE 13, 331 (340); BGHZ 39, 333 (339); H. D. Jarass, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, in: VVDStRL 50 (1991), S. 238–274 (260); B. Rüthers/C. Fischer/ A. Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 8. Aufl. 2015, Rn. 145.

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die „Vorstellung eines einheitlichen Wertungsplans des Gesetzgebers (…) eine ideale Wunschvision“439 sei. Dagmar Felix kommt zudem nach eingehender Untersuchung der Argumentationsfigur zu dem Ergebnis, dass ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz, der den Gesetzgeber zur Rücksichtnahme auf die Zielsetzungen anderer Teilrechtsordnungen verpflichten würde, nicht nachweisbar sei440. Es liegt daher regelmäßig am Rechtsanwender, alle auf einen Sachverhalt anwendbaren Normen einer wertungskonsistenten Interpretation zuzuführen441. Der Topos der Einheit der Rechtsordnung wird also vor allem als Auslegungsargument bei Normkollisionen benutzt. Erst der Rechtsanwender stellt somit die real nicht existierende Einheit der Rechtsordnung im konkreten Fall her, indem er einer der widerstreitenden Normen den Anwendungsvorrang einräumt und der anderen derogiert442. Praktisch veranschaulicht liegt ein Normwiderspruch vor, wenn zwei Normen auf denselben Sachverhalt anwendbar sind und unvereinbare Rechtsfolgen enthalten443. Ein viel zitiertes Beispiel ist der Befehlsnotstand und damit die Frage, ob die Befolgung eines rechtswidrigen Schießbefehls gleichzeitig geboten und verboten sein kann444. Gleich, ob sich der Untergebene für die Befolgung oder Nichtbefolgung des Befehls entscheidet, er handelt rechtswidrig. Das Beispiel hat allerdings dadurch an Aktualität verloren, dass heute Soldaten- und Polizeigesetze Bestimmungen enthalten, wonach Befehle, die eine Straftat oder Menschenrechtsverletzung zum Gegenstand haben, unverbindlich sind445. Misst man dem Topos der Einheit der Rechtsordnung letztere Bedeutung bei, also eine Werteeinheit und Widerspruchsfreiheit innerhalb der staatlichen Rechtsordnung, so ist schon im Grundsatz nicht ersichtlich, wieso der Topos als Argument gegen religiöse außerstaatliche Streitentscheidungs- und Streitbeilegungsmechanismen herangezogen werden könnte. Denn es geht nicht um die Unvereinbarkeit verschiedener in sich geschlossener Rechtssysteme, die offiziell oder inoffiziell nebeneinander zur Anwendung gelangen, sondern um die Wertungs­ einheit innerhalb eines geschlossenen Systems.  Aber auch, wenn man den Topos der Einheit der Rechtsordnung in der Weise Schleichers sowie einiger Kritiker religiöser außerstaatlicher Streitentscheidung und Streitbeilegung versteht, kann er nicht als Argument gegen außerstaatliche Gerichtsbarkeit angeführt werden. Das staatliche Privatrecht besitzt keinen allgemeinen Geltungsanspruch. Im Gegenteil, die Vertragsfreiheit ist als Teil der­

439

Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 438), Rn. 145; ähnlich Schmidt, Einheit (Fn. 434), S. 28; Honsell, Einheit (Fn. 434), S. 11, 28. 440 Felix, Einheit (Fn. 434), S. 397. 441 So zutreffend Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 438), Rn. 145. 442 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 438), Rn. 278; ähnlich Schmidt, Einheit (Fn. 434). S. 25. 443 Honsell, Einheit (Fn. 434), S. 24. 444 Siehe nur Schmidt, Einheit (Fn. 434), S. 27; Honsell, Einheit (Fn. 434), S. 25. 445 So in § 22 Abs. 1 WStG; § 11 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 SoldG; § 38 Abs, 2, 2. HS BRRG.

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Privatautonomie446 grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG garantiert. Diese Garantie umfasst das Recht des Einzelnen, seine Rechtsverhältnisse nach eigenem Willen selbst und eigenverantwortlich gestalten zu können447. Den Grundrechtsträgern gebührt das Recht, den Ausgleich gegenläufiger Interessen ohne staatliche Einmischung oder Bevormundung, selbst zu regeln448. So wäre es „ein Missverständnis der verfassungsrechtlich garantierten Privatautonomie, insbesondere der Vertragsfreiheit, ihr nur im Rahmen des jeweils geltenden Zivilrechts Wirkung zuzusprechen“449. Das Ziel einer einheitlichen Anwendung des Privatrechts kann also keinesfalls dazu führen, die private Regelung von Streitigkeiten zu unterbinden. (3) Extensive Auslegung der Vorschriften des organisatorischen Teils Eine extensive Auslegung der Verfassungsnormen des organisatorischen Teils, wie Schleicher sie vorschlägt450, ist ebenfalls abzulehnen. Den Organisationsnormen des Grundgesetzes eine der Drittwirkung der Grundrechte ähnliche Bedeutung für Private beizumessen, ist systematisch fragwürdig und außerdem auch nicht nötig. Der neunte Abschnitt des Grundgesetzes, in dem auch Art.  92 GG verortet ist, regelt die Organisation der staatlichen Gerichte. Die Verortung des Art. 92 GG in diesem Abschnitt spricht dafür, dass die Vorschrift sich ausschließlich auf staatliche Rechtsprechung bezieht und zur Zulässigkeit privater Rechtsprechung keine Aussagen trifft451. Außerdem besteht für eine solch extensive Auslegung, die weder vom Wortlaut noch von der Intention der Norm getragenen wird, keine Notwendigkeit. Denn über das Instrument der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte wird der Einzelne – auch im Falle der privaten Gerichtsbarkeit – ausreichend geschützt. c) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass eine absolute Interpretation des Art.  92 GG zwingend abzulehnen ist. Das Grundgesetz garantiert, insbesondere durch die in ihm verankerte Privatautonomie, ein Recht auf Ausübung privater Rechtsprechung. Die für ein absolutes Rechtsprechungsmonopol angeführten Argumente erweisen sich bei näherer Betrachtung zudem als nicht tragfähig.

446 U. Di Fabio, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 2 (2001) Rn. 101. 447 Di Fabio (Fn. 446), Art. 2 Rn. 101; hierzu auch BVerfGE 89, 214 (231). 448 Di Fabio (Fn. 446), Art. 2 Rn. 101; hierzu auch BVerfGE 81, 242 (254). 449 Starck (Fn. 305), Art. 2 Rn. 145. 450 Zum Ganzen Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 60 ff. 451 Stommel, Vereinsgerichtsbarkeit (Fn. 377), S. 53.

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d) Quasi-absolutes Rechtsprechungsmonopol Schleicher legt sich im Ergebnis auf eine quasi-absolute Interpretation des in Art.  92  GG verankerten Rechtsprechungsmonopols fest. Nach dieser Interpretation sei die Gerichtsbarkeit zwar ein unabdingbares konstituierendes Element der Staatsgewalt, dennoch sei eine vorläufige Jurisdiktion nichtstaatlicher Rechtsprechungsorgane und Spruchkörper privater Gruppen zulässig. Dabei müsse aber ­immer der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten zur Überprüfung einer nichtstaatlichen Entscheidung offenstehen. Unterwerfe sich der Bürger allerdings freiwillig dem Spruch der pluralistischen Gerichtsbarkeit, so sei diese Entscheidung rechtswirksam. Die private Gerichtsbarkeit werde also nicht verdrängt, sondern der staatlichen Gerichtsbarkeit lediglich vorgeschaltet452. e) Eigene Stellungnahme zu einem quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopol Eine Herleitung eines quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopols aus Art. 92 GG ist jedoch schon mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu vereinbaren. Zieht man allein den Wortlaut der Vorschrift heran, so kommen lediglich zwei mögliche Bedeutungen in Betracht: entweder der Rechtsprechungsbegriff des Art. 92 GG bezieht sich ausschließlich auf staatliche Rechtsprechung (dann begrenzt die Vorschrift private Rechtsprechung nicht, sondern trifft vielmehr keine Aussage zu Zulässigkeit und Grenzen privater Rechtsprechung), oder die Vorschrift bezieht sich auf staatliche und private Rechtsprechung (dann begründet die Vorschrift ein absolutes Rechtsprechungsmonopol). Eine Regelung, wonach private Rechtsprechung grundsätzlich zulässig ist, aber einer Missbrauchskontrolle unterzogen werden kann, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen. Interpretationsansätze, welche der Vorschrift des Art.  92 GG eine wie auch immer geartete Begrenzung der privaten Rechtsprechung entnehmen wollen453, sind somit abzulehnen. Der Wortlaut gibt ein solches Verständnis (abgesehen von einem absoluten Verbot, das aber wie dargestellt ebenfalls zwingend abzulehnen ist) schlicht nicht her. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Versuche, in Art. 92 GG eine Begrenzung privater Rechtsprechung hineinzulesen, sich oft als schwer handhabbar erweisen. Beispielhaft ist der Ansatz von Norbert Heimann, nach dem Art. 92 GG „nicht nur ein Verbot gegen den Staat, nichtstaatliche Rechtsprechungsinstanzen zu errichten, sondern auch ein gegenüber privaten Gewalten geltendes Verbot, die 452

Zum Ganzen Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 64. So neben Schleicher zum Beispiel Arndt, Betriebs-„Justiz“ (Fn.  412), passim; Baur, Betriebsjustiz (Fn.  412), S.  164; Westermann, Verbandsstrafgewalt (Fn.), S.  77; Heimann, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 412), S. 130; Habscheid, Kompetenz-Kompetenz (Fn. 421), S. 438.

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Privatrechtsautonomie auszunutzen“454, beinhaltet. Ferner stellt er fest, dass „die Art. 92, 101 Abs. 1 S. 2 GG eine private Schiedsgerichtsbarkeit dann nicht tangieren, wenn diese freiwillig errichtet wurde, und der Ausfluss dieser privaten Gerichtsbarkeit die Rechtsgüter der Art. 92 und 101 GG nicht beeinträchtigt.“455 Und weiter, dass „bei einer Kollision von Privatautonomie und staatlichem Rechtsschutz zur rechtsstaatlichen Sicherung des Einzelnen und der Gemeinschaft den Werten der Art. 92 und 101 Abs. 1 S. 2 GG der Vorzug zu geben“ sei456. Unter anderem Fritz Baur und Walther Habscheid werden hier jedoch konkreter und meinen, dass private Gerichte (in diesem Fall Schiedsgerichte) gemessen an Art. 92 GG nur zulässig seien, wenn eine freiwillige Vereinbarung und ein der Parteidisposition unterliegender Streitgegenstand vorlägen457. Der Vorschrift des Art.  92 GG diese Anforderungen zu entnehmen, wäre zwar praktisch handhabbar. Ob der Wortlaut des Art. 92 GG sie tatsächlich hergibt, erscheint jedoch fraglich. Ein solcher Balanceakt ist vor allem aber auch nicht notwendig, denn wie sogleich erörtert wird, ergibt sich dieses Ergebnis schon aus der unabdingbaren Justiz­gewährungspflicht sowie den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates. f) Relativ-formales und relativ-modales Rechtsprechungsmonopol Schleicher führt neben den beiden absoluten Interpretationsansätzen zwei rela­ tive Interpretationsansätze an. Zunächst könne Art. 92 GG demnach im Sinne eines relativ-formalen Rechtsprechungsmonopols lediglich als Konkretisierung des Gewaltenteilungsgrundsatzes des Art. 20 Abs. 2 GG verstanden werden, indem die Vorschrift festlege, durch welche Organe Rechtsprechung ausgeübt werden muss, wenn sie durch den Staat ausgeübt wird. Die Vorschrift bezöge sich damit nur auf staatliche Rechtsprechung und Adressat wäre lediglich die Staatsgewalt. Diese dürfte Rechtsprechung ausschließlich durch Richter ausüben. Private Rechtsprechung wäre somit uneingeschränkt zulässig. Das bedeutet auch, dass private (Schieds)verfahren in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zulässig wären458. Im Sinne eines relativ-modalen Rechtsprechungsmonopols könne Art.  92 GG sodann dahingehend verstanden werden, dass die Rechtsprechung lediglich unter Ausübung staatlicher Gewalt ausschließlich den staatlichen Richtern und Gerichten anvertraut sei. Adressaten wären sodann nicht nur die Legislative und Exekutive, sondern alle Spruchkörper, die nicht staatliche Gerichte sind, bei ihrer Recht 454

Heimann, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 412), S. 130. Heimann, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 412), S. 132. 456 Heimann, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 412), S. 132. 457 Baur, Betriebsjustiz (Fn.  412), S.  164; Habscheid, Kompetenz-Kompetenz (Fn.  421), S. 438. Nach § 1030 Abs. 1 ZPO kann heute im Übrigen jeder vermögensrechtliche Anspruch Gegenstand einer Schiedsvereinbarung sein. Die Voraussetzung, dass der Anspruch der Parteidisposition unterliegen muss, stellt das Gesetz nicht mehr auf. 458 Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 49. 455

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sprechung aber öffentlich-rechtliche Gewalt ausüben oder sich die Ausübung einer solchen anmaßen. Jede Form privater Gerichtsbarkeit fällt nach diesem Interpretationsansatz nicht in den Regelungsbereich des Art.  92 GG, soweit diese keine staatlich-obrigkeitliche Rechtsprechungsgewalt für sich behauptet. Schleicher kritisiert an den relativen Ansätzen vor allem, dass Verbände und Vereine unter Anwendung eines möglicherweise von staatlichen Normen erheblich abweichenden Rechts entscheiden würden, ohne dass eine wirksame staatsgerichtliche Kontrolle nachfolge459. g) Eigene Stellungnahme zu den formalen Interpretationsansätzen Entgegen Schleichers Ansicht ist einer relativen Interpretation des Art. 92 GG jedoch zuzustimmen. Die Vorschrift des Art. 92 GG trifft keinerlei Aussage darüber, inwieweit private Rechtsprechung zulässig ist, sie betrifft lediglich das Verhältnis der Rechtsprechung zu den übrigen Trägern öffentlicher Gewalt460. Die Vorschrift bildet eine Konkretisierung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, indem sie den Richtern die staatliche Rechtsprechungsbefugnis zuweist. Sie bezieht sich daher nur auf staatliche Rechtsprechung. Sie setzt die Zuständigkeit des Staates voraus und ordnet die Rechtsprechungsaufgabe nur für diesen Fall einer der drei Staatsgewalten zu461. Die Konsequenz dieser Sichtweise ist jedoch nicht  – entgegen Schleichers Argumentation, ein relativer Ansatz ließe eine unkontrollierte pluralistische Gerichtsbarkeit zu –, dass privater Rechtsprechung keine Grenzen gesetzt sind. Mit den Vertretern des relativen Interpretationsansatzes sind diese nur nicht Art. 92 GG, sondern anderen Verfassungsbestimmungen, namentlich der­ Justizgewährungspflicht sowie den Grundrechten, zu entnehmen. 459

Schleicher, Rechtsprechungsmonopol (Fn. 380), S. 51. Wie hier BGHZ 29, 353 (354); 65, 59 (61); BAG NJW 1964, 268 (269); Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2003 f.; H. Sonnauer, Die Kontrolle der Schiedsgerichte durch die staatlichen Gerichte, 1992, S. 21 f.; R. Rapsch, Konfliktbewältigung mit verfassungswidrigen Mitteln? Wasserverbandliches Schiedswesen zwischen Wunsch und Realität, in: NVwZ 1993, S.  534–539 (536 f.); Ebbing, Zivilgerichte (Fn.  417), S.  20; D. Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen, 3. Aufl. 2007, § 112 (S. 633–680), Rn. 90; Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 50; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 41; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 87; Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 28; Meyer (Fn. 380), Art. 92 Rn. 3; Pieroth (Fn. 388), Art. 92 Rn. 6; grundsätzlich so auch Hopfauf, der aber in diesem Kontext islamische Friedensgerichte als „verfassungs- wie strafrechtlich höchst problematisch“ einstuft; sie bürgen „die Gefahr in sich, unser Rechtssystem auszuhebeln sowie das Strafmonopol des Staates zu umgehen“ (H. Hopfauf, [Fn. 386], Vorb. v. Art. 92 Rn. 105, 109). 461 Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 20; nach Eisenmenger lässt Art. 92 GG grundsätzlich sogar eine Privatisierung staatlicher Rechtsprechung zu. Freilich nur unter einschränkenden Bedingungen, wie vor allem der Sicherstellung einer effektiven Aufsicht über private Richter, um der Schutzpflichtendimension der Grundrechte nachzukommen und das Demokratiedefizit zu kompensieren (Eisenmenger, Privatisierung [Fn. 379], S. 116 f.). 460

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Ob die Vertreter der relativen Ansichten einen relativ-formalen oder relativ-modalen Ansatz vertreten, ist meist nicht festzustellen, da zu dieser Differenzierung regelmäßig keine Aussage getroffen wird. Der Unterschied zwischen einer relativ-­ formalen und einer relativ-modalen Interpretation liegt darin, dass bei letzterer keine privaten Gerichtsbarkeiten in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten entscheiden dürften. Das Schweigen zu dieser Thematik lässt sich daraus erklären, dass private öffentlich-rechtliche Gerichtsverfahren, also vor allem öffentlich-rechtliche Schiedsverfahren, in Deutschland (noch) eine Seltenheit sind. Sie haben daher bisher in der verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Diskussion entsprechend wenig Beachtung gefunden462. Anerkannt sind sie jedoch seit langem. Die Verfahren richten sich in diesen Fällen aufgrund der Verweisung in § 173 VwGO nach den Regeln des 10. Buches der Zivilprozessordnung463. Die verfassungsrechtliche Problematik öffentlich-rechtlicher Schiedsverfahren soll hier jedoch nicht erörtert werden464. Aufgrund der generellen Anerkennung öffentlich-rechtlicher Schiedsgerichtsbarkeit und der Tatsache, dass Art. 92 GG nach der hier vertretenen Auffassung keine Aussage zur Zulässigkeit privater Rechtsprechung trifft, ist von einer relativformalen Interpretation des Art. 92 GG auszugehen. Die Differenzierung zwischen den beiden Ansätzen kann im Übrigen jedoch für die vorliegende Untersuchung dahinstehen. Für die Beurteilung der informellen religiösen Streitschlichtung und -entscheidung ist lediglich die Frage der Zulässigkeit und der Grenzen privater Gerichtsbarkeit in privatrechtlichen Streitigkeiten relevant. 462

So S. Schill, Erodierung des öffentlichen Rechts durch öffentlich-rechtliche Schiedsverfahren?, in: J. Scharrer u. a. (Hrsg.), Risiko im Recht – Recht im Risiko, 50. Assistententagung Öffentliches Recht, 2011, S.  265–285 (266); aus der neueren Literatur hierzu noch Stumpf, Streitbeilegung (Fn.  382). Aus der älteren Literatur: F. Haueisen, Die Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten durch Schiedsgerichte, in: NJW 1962, S. 2129–2132; H. Müller, Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten durch Schiedsgerichte, in: NJW 1963, S. 282–285; R. Woltereck, Die Erledigung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten durch Schiedsgerichte, 1965; H. Weidemann, Schiedsgerichtsbarkeit in verwaltungsrechtlichen Streitsachen, 1968; P. Schlosser, Schiedsgerichtsbarkeit und öffentlich-rechtlich beeinflußte Streitgegenstände, in: Festschrift für Arthur Bülow zum 80.Geburtstag, 1981, S. 189–197; C. Loos, Die Schiedsgerichtsbakeit in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1984. 463 So BVerwG NJW 1959, 1985 (1986); Schill, Erodierung (Fn. 462), S. 271; kritisch hierzu mit Verweis auf die Privatautonomie als Grundlage des privatrechtlichen Schiedsverfahrens W. Spannowsky, Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, 1994, S. 256 ff. 464 Im Überblick hierzu Schill, Erodierung (Fn. 462), S. 277 m.w. N.: „Als Grenzen öffentlich-rechtlicher Schiedsverfahren diskutiert werden dabei insbesondere die Rechtsschutzgarantie in Art. 19 IV 1 GG, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Art. 20 III GG, das Rechtsprechungsmonopol in Art. 92 GG, das Prinzip des gesetzlichen Richters in Art. 101 I 2 GG und das Demokratieprinzip in Art. 20 II GG. […] Soweit es jedoch nicht um einen Komplettverzicht auf jegliche Kontrolle behördlichen Handelns durch staatliche Gerichte geht, sondern lediglich um ein Zurückfahren des Prüfungsmaßstabes des nach einem Prüfungsverfahren anrufbaren Verwaltungsgerichts, so ist der verfassungsrechtliche Rahmen weiter. […] Schwerer wiegt hingegen ein anderer Aspekt, nämlich die Gefahr, dass durch die Übertragung von Streitbeilegungsfunktionen auf Schiedsgerichte die Kontrolle von Behördenhandeln abnimmt, und damit die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in nicht ausreichender Weise sichergestellt ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Schiedsverfahren vertraulich sind.“

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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3. Herleitung eines quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopols aus grundrechtlichen Schutzpflichten und dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch Somit ist zwar die Herleitung eines quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopols aus Art.  92 GG abzulehnen. Ein quasi-absolutes Rechtsprechungsmonopol, also die Verpflichtung des Staats, keinen abgeschirmten Raum privater Rechtsprechung zuzulassen und sich zu diesem Zweck eine Missbrauchskontrolle privater Entscheidungen vorzubehalten, ist aber dennoch in der Verfassung verankert. Nur ist dies eben nicht Art.  92 GG zu entnehmen, sondern ergibt sich vielmehr aus den Grundrechten der Beteiligten (a) sowie dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch (b). Aus dem in Art. 101 GG verfassungsrechtlich garantierten Recht auf den gesetzlichen Richter lässt sich indes keine Begrenzung privater Rechtsprechung entnehmen (c). a) Grundrechtliche Grenzen privater Gerichtsbarkeit Grenzen privater Gerichtsbarkeit können zunächst den Grundrechten der Beteiligten entnommen werden. Dem Staat obliegt es aufgrund seiner grundrechtlichen Schutzpflichten465 sicherzustellen, dass Einzelpersonen oder Gruppen das ihnen durch die Möglichkeit der Ausübung privater Rechtsprechung gegebene Machtpotential nicht missbrauchen. Ist die private Gerichtsbarkeit durch die Privatautonomie garantiert, so muss sie sich auch in deren Grenzen halten466. Der Staat muss daher vor allem dafür sorgen, dass der Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit auf einer freien und selbstbestimmten Entscheidung des Einzelnen beruht467, und dass das private Verfahren weder Rechte Dritter noch die verfassungsmäßige Ordnung, noch das Sittengesetz verletzt. Zur verfassungsmäßigen Ordnung zählen dabei vor allem „einzelne Verfahrensgarantien, wie die Entscheidung durch einen unbeteiligten und unabhängigen Dritten […], die Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), aber auch inhaltliche Kriterien, wie die Beachtung grundrechtlicher und sozialstaatlicher Werte“468. Die Überprüfung der Einhaltung dieser Grenzen darf nicht ausgeschlossen werden. Der Staat muss sich daher jedenfalls eine Missbrauchskontrolle privater Entscheidungen offen halten469. 465 So zutreffend Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 88; ähnlich Stommel, Vereinsgerichtsbarkeit (Fn. 377), S. 55. 466 Wassermann (Fn.), Art.  92 Rn.  54; Schulze-Fielitz (Fn.  378), Art.  92 Rn.  52; Meyer (Fn. 380), Art. 92 Rn. 3. 467 Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2005; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (Fn. 381), S. 26; Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 88. 468 Wolf, Gerichtsverfassungsrecht (Fn. 381), S. 26; ähnlich auch Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2005. 469 Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 52; Rehm, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 417), Rn. 451; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 22 ff.; Meyer (Fn. 380), Art. 92 Rn. 3.

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In Bereichen, in denen eine verstärkte Gefahr der Grundrechtsverletzung besteht, hat der Staat die Schiedsgerichtsbarkeit, bei der nur eine begrenzte Kontrollmöglichkeit durch staatliche Gerichte besteht470, ausgeschlossen, um seiner Schutzpflicht nachzukommen. Dies hat er beispielsweise durch die §§ 4, 101 ArbGG getan. Die Vorschriften schließen die Anwendung des Schiedsverfahrensrechts der Zivilprozessordnung auf Arbeitsrechtsstreitigkeiten aus, § 101 Abs. 3 ArbGG. Die materiell-rechtlichen Vorschriften des Arbeitsrechts wollen die schwächere Partei (regelmäßig der Arbeitnehmer) vor Übervorteilung durch die stärkere Partei (regelmäßig der Arbeitgeber) schützen. Dieser Schutz soll nicht „durch prozessuale Gestaltungen unterlaufen werden“471. Ebenso verbietet § 1030 Abs. 2 ZPO Schiedsvereinbarungen über Rechtsstreitigkeiten, die den Bestand eines Mietverhältnisses über Wohnraum im Inland betreffen472. Auch hier ist der Zweck der Regelung, dass der durch die §§ 556a ff. BGB gewährleistete Mieterschutz tatsächlich zur Anwendung gelangt473. Ehescheidungen, der gesetzliche Versorgungsausgleich und Kindschaftssachen sind gemäß § 1030 ZPO ebenfalls nicht schiedsfähig. Bei einer Verletzung der Rechte der beteiligten Parteien muss der Staat der Entscheidung die rechtliche Geltung versagen. Entscheidungen von privaten Gerichten dürfen nur vollstreckt werden, wenn hierbei keine Grundrechtsverletzungen zu befürchten sind. Dies ergibt sich schon aus Art. 1 Abs. 3 GG, durch den das staatliche Vollstreckungsorgan unmittelbar an die Grundrechte gebunden wird und es dem Gesetzgeber verboten wird, Privaten grundrechtswidrige Zwangsgewalt zu verschaffen474. b) Justizgewährungsanspruch Auch dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch ist das Erfordernis einer Missbrauchskontrolle zu entnehmen. Das Grundgesetz enthält in Art.  19 Abs.  4 eine explizite Regelung, die den Rechtsschutz des Bürgers sichert475. Die Vorschrift erfasst jedoch nur gerichtlichen Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Sie trifft also keine Aussage zu Zulässigkeit oder Grenzen privater Rechtsprechung476. Aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG lässt sich jedoch nach gefestigter Ansicht darüber hinaus eine

470

Hierzu noch unten Zweiter Teil C. III. 1. G. Wagner, Prozessverträge: Privatautonomie im Verfahrensrecht, 1998, S. 98 f. 472 Dies gilt gem. § 1030 Abs. 2 S. 2 ZPO allerdings nicht, soweit es sich um Wohnraum der in § 549 Abs. 2 Nr. 1–3 BGB bestimmten Art handelt. 473 So zutreffend Wagner, Prozessvertäge (Fn. 471) m. w. N. 474 Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 88. 475 Weitere spezielle Rechtsschutzgarantien sind in Art. 14 Abs. 3 S. 4 sowie Art. 34 S. 3 GG festgeschrieben. 476 So auch Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 178 f. 471

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allgemeine Justizgewährungspflicht entnehmen477. Ferner garantiert auch Art.  6 Abs. 1 EMRK eine allgemeine Justizgewährungspflicht. Die staatliche Justizgewährungspflicht ist eine Konsequenz des staatlichen Gewaltmonopols, des Selbsthilfeverbots und der allgemeinen Friedenspflicht der Bürger. Sie soll insbesondere einen wirkungsvollen Rechtsschutz bei der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gewährleisten478. Umfasst ist die Gewährleistung des allgemeinen Zugangs zu den Gerichten sowie grundsätzlich eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung nach Maßgabe des jeweiligen Prozessrechts und eine verbindliche gerichtliche Entscheidung durch den Richter479. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch besteht aber nicht grenzenlos, auch er muss vielmehr mit anderen Verfassungsgarantien in einen schonenden Ausgleich gebracht werden. Vor allem verlangt er nicht, dass Streitverfahren ausschließlich vor staatlichen Gerichten ausgetragen werden. Als Anspruch gegen den Staat kann auf ihn grundsätzlich verzichtet werden480. Bezogen auf die verschiedenen Erscheinungsformen der privaten Gerichtsbarkeit wird der Justizgewährungsanspruch durch den Staat wiederum dadurch erfüllt, dass die staatlichen Gerichte eine Missbrauchs- und Evidenzkontrolle ausüben481, die in Umfang und Tiefe je nach der Ausgestaltung des privaten Verfahrens variieren kann. Auch der Justizgewährungsanspruch lässt insofern „einen von staatlicher Gerichtsbarkeit völlig freien und gegen staatliche Ingerenz völlig abgeschirmten Raum privater Gerichtsbarkeit“482 nicht zu. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch sowie die Grundrechte der Beteiligten führen somit zu der gleichen Rechtsfolge, die Schleicher über die Interpretation des Art. 92 als quasi-absolutes Rechtsprechungsmonopol erreicht: Private Rechtsprechungs- und Streitschlichtungsmechanismen sind unter der Bedingung zulässig, dass der Staat sich eine Missbrauchskontrolle und eine Letztentscheidungskompetenz jedenfalls im Hinblick auf zwingende rechtsstaatliche Vorgaben vorbehält. 477 Siehe nur BVerfGE 88, 118, (123); aus der Literatur: E. Schmidt-Jortzig, Effektiver Rechtsschutz als Kernstück des Rechtsstaatsprinzips nach dem Grundgesetz, in: NJW 1994, S. 2569–2573 (2571 f.); Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 17; Wittreck, Verwaltung (Fn. 382), S. 203; P. M. Huber, in: C. Starck u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 352. 478 BVerfGE 85, 337 (345); 88, 118 (123); 107, 395 (406 f.); W. Herbst, Die Bedeutung des Rechtsschutzanspruchs für die modern Zivilprozessrechtslehre, 1973, S. 204; Ebbing, Zivilgerichte (Fn.  417), S.  21; Rn.  16; C. Dorn, Justizgewähranspruch und Grundgesetz, 2005, S.  15 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006, S.  130; E. Schmidt-­ Aßmann, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, Art. 19 IV (2014). 479 BVerfGE 85, 337 (345); 107, 395 (401); Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 20 Rn. 211; Jarass (Fn. 295), Art. 20 Rn. 91. 480 So etwa schon OLG Hamburg ZZP 50 (1926), 312; aus der Literatur: G. Baumgärtel, Die Unverwirkbarkeit der Klagebefugnis, in: ZZP 75 (1962), S. 385–407 (394); Ebbing, Zivil­ gerichte (Fn. 417), S. 21. 481 Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 212; Hillgruber (Fn. 378), Art 92 Rn. 88; Meyer (Fn.  380), Art.  92 Rn.  11; Rehm, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  417), Rn.  450 f.; Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 22 ff. 482 Hillgruber (Fn. 378), Art. 92 Rn. 88.

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c) Keine Begrenzung durch Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG Der Vollständigkeit halber soll noch darauf hingewiesen werden, dass nach – soweit ersichtlich – allgemeiner Ansicht Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG private Rechtsprechungsmechanismen grundsätzlich nicht beschränkt483. Dies ist zutreffend und kann ohne großen Begründungsaufwand jedenfalls für eine freiwillige Unterwerfung unter nichtstaatliche Rechtsprechungsmechanismen festgestellt werden. Denn sofern die Zuständigkeit des privaten Entscheidungsträgers durch private Vereinbarung der beteiligten Parteien begründet wird, kann schon kein staatlicher Eingriff in Form eines „Entzugs“ vorliegen484. Aber auch wenn man von einer de facto unfreiwilligen Inanspruchnahme nichtstaatlicher Verfahren durch gesellschaftliche Zwänge ausgeht, wird Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG seinem Sinn und Zweck nach nicht berührt. Die Vorschrift soll die Handlungsfreiheit der Organe des Staates einschränken. Insbesondere sollen Judikative und Exekutive daran gehindert werden, den Ausgang eines Verfahrens dadurch beeinflussen zu können, dass sie den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt gezielt einem bestimmten Entscheidungsträger zuweisen485. Als grundrechtsgleiches Recht richtet sich Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG demnach ausschließlich an staatliche Organe486.

III. Zwischenergebnis Es kann demnach festgehalten werden, dass private Entscheidungs- oder Schlichtungsmechanismen durch die Verfassung nicht alleine deshalb beschränkt oder gar verboten werden können, weil sie ihrer Funktion nach rechtsprechungsähnliche Erscheinungen sind. Private Rechtsprechung ist zulässig und wird durch die Verfassung sogar vorausgesetzt. Einzig auf die Art und Weise der Durchführung muss der Staat Einfluss nehmen, wenn nicht gewährleistet ist, dass diese rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen. Dem Staat obliegt also eine Schutzpflicht, die allerdings nicht aus Art. 92 GG hergeleitet werden kann, der sich nach hier vertretener Auffassung lediglich auf die staatliche Gerichtsbarkeit bezieht, sondern die sich aus den Grundrechten der Beteiligten sowie der allgemeinen Justizgewährungspflicht ergibt. 483 Siehe nur BGHZ 29, 352 (354); W. J. Habscheid, Die Zivilrechtspflege im Spannungsfeld verfassungsrechtlicher Grundsätze, in: JR 1958, S. 361–367 (363); Achterberg (Fn. 377), Art.  92 Rn.  180; Habscheid, Kompetenz-Kompetenz (Fn.  421), S.  439 ff.; für die Schiedsgerichtsbarkeit: Arndt, Betriebs-„Justiz“ (Fn.  412), S.  26; Baur, Betriebsjustiz (Fn.  412), S. 164; W. Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 238; Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 20 f. 484 So auch Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 180; siehe auch BAG NJW 1964, 268 (269): Das Gericht stellt richtigerweise fest, der Wortlaut „Entzogenwerden“ setze einen Eingriff von außen voraus. Wer sich aber freiwillig unterwerfe, handele aktiv und falle nicht unter die Passivform der Verfassungsvorschrift; ähnlich Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 21. 485 Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 21. 486 Zu der Problematik der Grundrechte als Eingriffsgrundlage siehe unten Zweiter Teil D. II.

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IV. Die praktische Umsetzung des quasi-absoluten Rechtsprechungsmonopols im deutschen Gerichtspluralismus Private Rechtsprechung darf also nicht in einem von staatlicher Gerichtsbarkeit völlig abgeschirmten Raum agieren. Der Staat muss sich eine Missbrauchskontrolle privater Rechtsprechungs- und Streitschlichtungsmechanismen vorbehalten. Wie dies in der Rechtswirklichkeit des deutschen Gerichtspluralismus umgesetzt wird, soll im Folgenden kurz für die einzelnen Formen privater Rechtsprechung umschrieben werden. Hier sind die Schiedsgerichte (1.), die Vereins- und Verbandsgerichte (2.), die Betriebsjustiz (3.), die Parteischiedsgerichte (4.) und die Kirchengerichte (5.) zu nennen. 1. Schiedsgerichte Schiedsgerichte487 im Sinne des 10. Buches der Zivilprozessordnung sind aus einem oder mehreren Schiedsrichtern zusammengesetzte Privatgerichte, denen die Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten durch private Willenserklärung übertragen ist488. Ihre Bedeutung als Institution zur zivilrechtlichen Streiterledigung steigt zunehmend489. Mit dem Schiedsverfahrens-Neuregelungsgesetz vom 22.12.1997490 ist das Schiedsverfahrensrecht mit dem Ziel, einen der staatlichen Gerichtsbarkeit gleichwertigen Rechtsschutz zu garantieren, neu geregelt worden491. Schiedsgerichte sind als funktionale Äquivalente zur herkömmlichen staatlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich anerkannt. Mehr noch, die Schiedsgerichtsbarkeit 487

Aus der Fülle der zur Schiedsgerichtsbarkeit erschienenden Literatur: J. Kessler, Die Bindung des Schiedsgerichts an das materielle Recht, 1964; J. H. Granzow, Das UNCITRAL Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit von 1985; K.-H. Böckstiegel (Hrsg.), Schiedsgerichtsbarkeit im Umfeld von Politik, Wirtschaft und Gerichtsbarkeit, 1992; S. Albers, Der parteibestellte Schiedsrichter im schiedsgerichtlichen Verfahren der ZPO und das Gebot überparteilicher Rechtspflege, 1995; W. Voit, Privatisierung der Gerichtsbarkeit, in: JZ 1997, S.  120–125; K. P. Berger, Das neue Recht der Schiedsgerichtsbarkeit, 1998; M. Aden, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit. Kommentar zu den Schiedsverfahrensordnungen ICC  – DIS  – Wiener Regeln  – UNCITRAL  – LCIA, 2.  Aufl. 2003; Ebbing, Zivilgerichte (Fn.  417); F.  Hesselbarth, Schiedsgerichtsbarkeit und Grundgesetz, 2004, S. 21 ff.; K. Lionnet/A. Lionnet, Handbuch der internationalen und nationalen Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. 2005; F. Harder, Das Schiedsverfahren im Erbrecht, 2007; J.-P. Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl. 2008; F.-B. Weigand, Practitioner’s Handbook of International Commercial Arbitration, 2.  Aufl. 2009; Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422). 488 Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 487), Kap. 1 Rn. 1; Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), Rn. 1; Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 184; Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 6; Lachmann, Handbuch (Fn. 487), Rn. 2; Kissel/Meyer (Fn. 417), § 13 Rn. 235. 489 Kissel/Meyer (Fn. 417), § 13 Rn. 235. 490 BGBl. I S. 3224. 491 Kissel/Meyer (Fn. 417), § 13 Rn. 235.

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wird als ein der staatlichen Zivilgerichtsbarkeit gleichwertiges Rechtsschutzsystem angesehen492. Exemplarisch stellt der Bundesgerichtshof fest: „Der Schiedsrichter ist wie der staatliche Richter zur Entscheidung eines Rechtsstreits berufen, er hat wie dieser endgültig und bindend auszusprechen, was rechtens ist. Das Schieds­ gericht tritt dabei an die Stelle des staatlichen Gerichts, ist diesem nicht bloß vorgeschaltet.“493

Verfassungsrechtlich ergibt sich nach überwiegender Auffassung nicht nur die oben erörterte Pflicht, private Gerichtsbarkeit überhaupt zuzulassen, sondern auch die Pflicht, private Urteile anzuerkennen und einen verbindlichen staatlichen Durchsetzungsmechanismus zur Verfügung zu stellen494. Das Schiedsgericht ersetzt das staatliche Gericht nahezu vollständig. Die staatlichen Gerichte können grundsätzlich keine sachliche Nachprüfung des Schiedsspruchs vornehmen. Das Verbot einer révision au fond verbietet eine Überprüfung sowohl des materiellen als auch des prozessualen Rechts495. Seiner sich aus dem Justizgewährungsanspruch sowie aus den Grundrechten ergebenden Schutzpflicht kommt der Staat jedoch nach, indem er sich in besonderen Fällen ein Prüfungsrecht vorbehalten hat496. Dieses Prüfungsrecht üben die staatlichen Gerichte im Voll­ streckungs- und im Aufhebungsverfahren aus. Ein vollständiger Verzicht auf den Aufhebungsantrag schon im Voraus ist unwirksam, da sonst die zwingend gebotene Nachprüfung durch ein staatliches Gericht nicht mehr gewährleistet wäre497. Die Aufhebungsgründe, die gem. § 1060 Abs. 2 ZPO auch im Voll­streckungsverfahren geprüft werden, sind in § 1059 Abs.  2 ZPO erschöpfend geregelt498. Durch den 492 Gesetzesbegründung zum Schiedsverfahrensgesetz, BT-Drucks. 13/5274, S. 34; abschwächend BGHZ 160, 127 (133) („im Prinzip gleichwertige Rechtschutzmöglichkeit“)  – dazu­ Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn.  382), S.  2008; W. Timm, Beschlußanfechtungsklage und Schiedsfähigkeit im Recht der personalistisch strukturierten Gesellschaften, in: R. Goer­deler u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Fleck, 1988, S. 365–381 (376 f.); Ebbing, Zivil­gerichte (Fn. 417), S. 57; Hesselbarth, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 487), S. 21 ff.; Rehm, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 417), Rn. 199; J. Münch in: T. Rauscher/P. Wax/J. Wenzel (Hrsg.) Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, Vorb. zu §§ 1025 ff. Rn. 5. 493 BGHZ 65, 59 (61). 494 Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn.  382), S.  2005; J. Habscheid, Internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz und in Deutschland, in: E. Aderhold (Hrsg.), Festschrift für Hans Hanisch, 1994, S. 109–124 (110: im intenationalen Handel sei ein effektiver Rechtsschutz nur durch Schiedsgerichte möglich); Hesselbarth, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 487), S. 107; Rehm, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  417), Rn.  156, 171 (der Anspruch des Einzelnen auf Anerkennung privater Entscheidungen durch den Staat ergebe sich aus der „subjektiven Dimension des Rechtsstaatsprinzips“). 495 BGH SchiedsVZ 2008, 40 (42); H. Raschke-Kessler, in: H. Prütting/M. Gehrlein (Hrsg.), Zivilprozessordnung Kommentar, 3.  Aufl. 2011, § 1059 Rn.  11; Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), Rn. 526; Münch (Fn. 492), § 1059 Rn. 7; hierzu auch R. Altenmüller, Zur materiellrechtlichen Überprüfung von Schiedssprüchen, in: KTS 1974, S. 150–160. 496 BGHZ 6, 335 (340): „[…] Sicherung der Parteien gegen Willkür und unvertretbare Übergriffe […]“; Rehm, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 417), Rn. 158. 497 BGHZ 96, 40 (42); OLG Frankfurt NJW 1984, 2768; P. Schlosser, in: F. Stein/M. Jonas (Hrsg.), Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl. 2002, § 1059 Rn. 2. 498 BT-Drucks. 13/5274, S. 58.

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„konturenschwachen“499 ordre public-Vorbehalt in § 1059 Abs. 2 Nr. 2 b ZPO wird dies jedoch relativiert. Die Aufhebungsgründe des § 1059 Abs. 2 Nr. 1 ZPO müssen durch die die Aufhebung begehrende Partei geltend gemacht werden. Die Aufhebungsgründe des § 1059 Abs. 2 Nr. 2 ZPO prüft das Gericht von Amts wegen. Einen Aufhebungsgrund stellt zunächst gem. § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. a ZPO die Unwirksamkeit der Schiedsvereinbarung dar. Das staatliche Gericht ist hierbei nicht an die Entscheidung des Schiedsgerichts gebunden500. Diese Kontrolle sorgt dafür, dass der Staat seiner oben beschriebenen Pflicht nachkommt, sicherzustellen, dass die Parteien sich freiwillig dem privaten Gericht unterworfen haben. Der Aufhebungsgrund des § 1059 Abs.  2 Nr.  1 lit.  a ZPO ist einschlägig, wenn ent­ weder schon gar keine Schiedsvereinbarung vereinbart wurde oder wenn die vereinbarte Schiedsklausel unwirksam oder erloschen ist501. Eine Schiedsvereinbarung kann allerdings auch durch rügelose sachliche Verhandlung der Parteien gem. § 1031 VI ZPO zustande kommen502. Ein weiterer Aufhebungsgrund liegt gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b ZPO vor, wenn eine Partei von der Bestellung eines Schiedsrichters nicht gehörig in Kenntnis gesetzt wurde oder aus einem anderen Grund ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht hat geltend machen können. Die Vorschrift normiert somit einen Unterfall der Versagung rechtlichen Gehörs503. Im Übrigen stellt auch jede hierüber hinausgehende Versagung rechtlichen Gehörs einen Aufhebungsgrund dar, den man entweder unter § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. b ZPO oder unter die ordre publicKlausel des § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO fassen kann504. Die sich auf den Aufhebungsgrund berufende Partei muss darlegen, was sie bei Gewährung des verweigerten rechtlichen Gehörs vorgebracht hätte und inwiefern sich dies auf den Schiedsspruch ausgewirkt hätte505. Ein Schiedsspruch kann ebenfalls gemäß § 1059 Abs.  2 Nr.  1 lit.  c  ZPO aufgehoben werden, wenn er eine Streitigkeit betrifft, die die Schiedsvereinbarung gar nicht erfasst, oder wenn er die Grenzen der Schiedsvereinbarung überschreitet. Auch schwere Verfahrensverstöße stellen gemäß § 1059 Abs. 2 Nr. 1 lit. d ZPO einen Aufhebungsgrund dar. Der Schiedsspruch kann demnach aufgehoben werden 499 S. Kröll, Schiedsrechtliche Rechtsprechung 2003, in: SchiedsVZ 2004, S. 113–123 (118); R. Geimer, in: R. Zöller (Hrsg.), Komentar zur Zivilprozessordnung, 30. Aufl. 2014, § 1059 Rn. 30. 500 BGHZ 68, 356; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 487), Kap. 24 Rn. 9; Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), Rn. 606. 501 Schlosser (Fn.  497), § 1059 Rn.  16; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  487), Kap. 24 Rn. 7. 502 BGH NJW-RR 2005, 1659; Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  487), Kap.  24 Rn. 7; a. A. I. Saenger, ZPO Handkommentar, 6. Aufl. 2015, § 1059 Rn. 9. 503 Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), Rn. 608. 504 Schlosser (Fn. 497), § 1059 Rn. 81. 505 BGH SchiedsVZ 2009, 127; Kröll, Rechtsprechung (Fn. 499), S. 118; Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 40.

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bzw. ihm kann die Vollstreckbarkeit versagt werden, wenn die Bildung des Schiedsgerichts oder das schiedsrichterliche Verfahren einer Bestimmung des 10. Buches der ZPO oder einer parteilichen Vereinbarung widersprochen hat und sich dies auf den Schiedsspruch ausgewirkt hat. Die Geltendmachung des Aufhebungsgrundes setzt gemäß § 1027 ZPO voraus, dass der die Aufhebung des Schiedsspruchs Begehrende rechtzeitig eine entsprechende Verfahrensrüge erhoben hat506. Der erste Aufhebungsgrund des § 1059 Abs.  2 Nr.  2  ZPO ist die objektive Schiedsunfähigkeit des Streitgegenstandes nach deutschem Recht. Gemäß § 1030 Abs. 1 ZPO kann grundsätzlich jeder vermögensrechtliche Anspruch Gegenstand einer Schiedsvereinbarung sein. Nichtvermögensrechtliche Ansprüche sind gemäß § 1030 Abs. 1 ZPO schiedsfähig, wenn die Parteien berechtigt sind, über den Gegenstand des Streites einen Vergleich zu schließen. Gemäß § 1030 Abs. 3 ZPO bleiben jedoch die Schiedsfähigkeit einschränkende Vorschriften außerhalb der ZPO unberührt. Gemäß § 1030 Abs. 2 ZPO sind, wie oben schon angesprochen, außerdem Schiedsvereinbarungen über Rechtsstreitigkeiten, die den Bestand eines Mietverhältnisses über Wohnraum im Inland betreffen, unwirksam507. Eine ausdrückliche Einschränkung der objektiven Schiedsfähigkeit vermögensrechtlicher Streitigkeiten findet sich nur in § 14 Abs. 6 WahrnG sowie §§ 101 ff. ArbGG508. Im nichtvermögensrechtlichen Bereich sind Statusfragen wie Abstammungsfeststellungen (§ 169 FamFG), Ehescheidungen509 mit Ausnahme von Scheidungsfolgesachen510, Lebenspartnerschaftssachen (§ 269 Abs.  1 Nr.1–4 FamFG) und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit mit Ausnahme der echten Streitsachen511 nicht schiedsfähig. Der zweite, von Amts wegen zu beachtende, Aufhebungsgrund ist die ordre­ public-Widrigkeit des Schiedsspruches512. Ein ordre public-Verstoß kann verfahrensrechtlicher oder materiell rechtlicher Natur sein513. Nach dem Bundesgerichtshof setzt die Aufhebung eines Schiedsspruches wegen Verstoßes gegen den inländischen ordre public voraus, dass 506

BT-Drucks. 13/5274, S. 79; Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), Rn. 614; Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 43; Saenger (Fn. 502), § 1059 Rn. 13. 507 Ausgenommen hiervon ist gem. § 1030 Abs. 2 S. 2 Wohnraum der in § 549 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BGB bestimmten Art.  508 Geimer, ZPO (Fn. 499), § 1030 Rn. 1 a. 509 Geimer, ZPO (Fn. 499), § 1030 Rn. 6. 510 P. Huber, Schiedsvereinbarungen im Scheidungsrecht, in: SchiedsVZ 2004, S. 280–288. 511 Hierzu P. Schlosser, Schiedsgerichtsbarkeit und Freiwillige Gerichtsbarkeit, in: K.-H. Böckstiegel (Hrsg.), Schiedsgerichtsbarkeit in gesellschaftsrechtlichen und erbrechtlichen Angelegenheiten, 1996, S. 97–111; Geimer, ZPO (Fn. 499), § 1030 Rn. 6. 512 Hierzu etwa A. von Winterfeld, Noch einmal: Der deutsche ordre public in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, in: NJW 1987, S. 3059–3060; R. Harbst, Korruption und andere ordre-public Verstöße im Schiedsverfahren. Inwieweit sind staatliche Gerichte an Sachverhaltsfeststellungen des Schiedsgerichts gebunden?, in: SchiedsVZ 2007, S. 22–30; N. Horn, Zwingendes Recht in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, in: SchiedsVZ 2008, S. 209–222. 513 Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), Rn. 617.

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„die Entscheidung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechtes offensichtlich unvereinbar ist, das heißt, wenn der Schiedsspruch eine Norm verletzt, die die Grundlagen des staatlichen oder wirtschaftlichen Lebens regelt, oder wenn er zu deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in einem untragbaren Widerspruch steht; der Schiedsspruch muss mithin die elementaren Grundlagen der Rechtsordnung verletzen.“514

Der Bundesgerichtshof nimmt demnach zur Umschreibung des ordre public eine Zweiteilung in eine Machterhaltungs- und eine Gerechtigkeitsfunktion vor515. Die Machterhaltungsfunktion steht dabei im Vordergrund. Der Staat kann Verletzungen der durch ihn gesetzten Normen nicht hinnehmen, wenn dadurch seine Macht in Frage gestellt wird516. Ein machtpolitisches Interesse hat der Staat vorwiegend an öffentlich-rechtlichen Normen. Hierzu zählen vor allem Strafvorschriften und wirtschaftslenkende Gesetze517. Die Gerechtigkeitsfunktion rührt daher, dass dem Staat – wie oben dargestellt – die Aufgabe zukommt, den Einzelnen vor einem Missbrauch der Schiedsgerichtsbarkeit zu schützen518. Hier muss allerdings ein eklatanter Verstoß vorliegen, denn der Einzelne hat sich freiwillig dem Rechtschutzsystem des Staates entzogen519. Nicht jeder Widerspruch zu zwingenden Vorschriften stellt einen Verstoß gegen den ordre public dar. Es muss sich vielmehr um eine unabdingbare Vorschrift handeln, die Ausdruck einer grundlegenden Wertentscheidung des Gesetzgebers ist520. Verstöße gegen den ordre public sind beispielsweise eine Verurteilung zur Zahlung von Spiel- und Wettschulden521, ein durch Betrug erwirkter Schiedsspruch522, ein Schiedsspruch, der sich gegen einen nicht beteiligten Dritten richtet523, ein durch einen Verstoß gegen § 826 BGB erwirkter Schiedsspruch524 oder ein Schiedsspruch, der gegen das Gebot einer ordnungsgemäßen Vertretung verstößt525. Wird dem Aufhebungsantrag stattgegeben, bewirkt dieser rechtsgestaltend und rückwirkend die Aufhebung des Schiedsspruchs526. Gemäß § 1059 Abs. 5 ZPO lebt die Schiedsvereinbarung für den Streitgegenstand aber wieder auf, so dass erneut ein Schiedsgericht zur Entscheidung berufen ist. 514

BGH SchiedsVZ 2009, 66–67 (67). So zutreffend Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 57; vorher auch bereits anschaulich G. Kegel, Begriffs- und Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht, in: M. Gerwig/A. Simonius/ K. Spiro u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Lewald, 1953, S. 259 (277 ff.). 516 Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 58. 517 Geimer (Fn.  499), § 1059 Rn.  59; zur Nichtbeachtung zwingenden Wirtschaftsrechts Schlosser, ZPO (Fn. 497), Anhang § 1061 Rn. 145 ff. 518 Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 62. 519 Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 62. 520 Geimer (Fn. 499), § 1059 Rn. 57. 521 OLG Hamburg NJW 1955, 390 (390). 522 BGH NJW 2001, 373 (374). 523 OLG München, NJW 2007, 2129 (2130). 524 BGH NJW 2001, 373 (374). 525 BGH NJW 2009, 1747 (1748). 526 Saenger (Fn.  502), § 1059 Rn.  41; Schütze, Schiedsgericht (Fn.  422), Rn.  620 jeweils m. w. N. 515

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2. Vereins- und Verbandsgerichte Im Vereins- und Verbandswesen existiert ebenfalls ein anerkanntes nichtstaatliches Gerichtswesen527. Der Gesetzgeber ermächtigt in § 25 BGB den Verein zur eigenen Rechtssetzung. Darin liegt zugleich die Befugnis, durch vereinsinterne Gerichte die Durchsetzung der erlassenen Vorschriften vorzunehmen528. Die Zulässigkeit der Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit zur Regelung von Streitigkeiten vereinsrechtlicher Natur zwischen Mitgliedern oder zwischen Mitglied(ern) und Verein wurzelt in der Vereinsautonomie529, die durch Art. 9 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützt ist. Nach dem Bundesverfassungsgericht schützt Art. 9 Abs. 1 GG die „Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte530, also das „Entstehen und Bestehen“531 des Vereins. Aus der Vereinsautonomie leitet sich eine Ordnungsstrafgewalt des Vereins gegenüber seinen Mitgliedern ab. Der Verein ist kraft seines Selbstverwaltungsrechts befugt, Vereinsgerichte zur Verhängung von Vereinsstrafen zu bilden532. Einen Eingriff in die staatliche Strafgewalt stellt dies nicht dar, weil sich die Vereinsmit­ glieder durch ihren Beitritt freiwillig der Strafgewalt des Vereins unterworfen haben und durch die Strafe kein ethischer Schuldvorwurf der staatlichen Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht wird533. 527

Aus der Füllen der zu dieser Thematik erschienenen Literatur: U. Meyer-Cording, Die Vereinsstrafe, 1957; Westermann, Verbandsstrafgewalt (Fn. 412); ders., Zur Legitimität einer Verbandsgerichtsbarkeit. Bemerkungen zu den Urteilen des Deutschen Fußballbundes, in: JZ 1972, S. 537–543; K. Larenz, Zur Rechtmäßigkeit einer Vereinsstrafe, in: G. Hueck/R. Richardi (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Rolf Dietz, 1973, S.  45–59; W. Baecker, Grenzen der Vereinsautonomie im deutschen Sportverbandswesen, 1985; F. G. Bär, Die Schranken der inneren Vereinsautonomie  – historisch-dogmatische Überlegungen zu einem Vereinsgesetz, 1996; S ­ tommel, Verbandsgerichtsbarkeit (Fn. 377); E. Sauter/G.Schweyer/W. Waldner, Der eingetragene Verein, 18. Aufl. 2006, S.  187; J. Janßen, Rechtsschutz gegen vereins- und verbandsrechtliche Sanktionen, 2004; J. Adolphsen, Internationale Dopingstrafen, 2003. 528 Wie hier etwa BGHZ 29, 352 (355); Stern, Staatsrecht (Fn.  380), S.  922; B. Reichert, Handbuch Vereins- und Verbandsrecht, 12. Aufl. 2010, Rn. 3013. 529 Wie hier etwa Stern, Staatsrecht (Fn. 380), S. 922; Schöpflin, in: G. Bamberger/H. Roth (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 25 Rn. 51 (2014). 530 BVerfGE 50, 290 (354). 531 BVerfGE 13, 174 (175); 30, 227 (241). 532 RGZ 140, 23 (24); BGHZ 21, 370 (337); 87, 337 (344); Schöpflin (Fn. 529), § 25 Rn. 42. 533 BGHZ 21, 370 (374 f.); Schöpflin (Fn.  529), § 25 Rn.  42; D. Reuter, in: F. J. Säcker/ R. Rixecker/D. Schwab (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 25 Rn. 40 f; a. A. ist Westermann, der feststellt: „Das bisherige Zwischenergebnis der Untersuchungen zur verfassungsrechtlichen Legitimität der Verbandsgerichtsbarkeit lautet jedenfalls wie folgt: Der DFB straft wenigstens in Teilgebieten seiner Gerichtsbarkeit, wo und wie sonst nur staatliche Gerichte urteilen könnten.“ (Westermann, Verbandsstrafgewalt [Fn. 412], S. 77). Zum staatlichen Strafmonopol siehe noch unten Dritter Teil D. II. 5.

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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Das Ausmaß der staatsgerichtlich möglichen Kontrolle richtet sich danach, wie das Vereins- bzw. Verbandsgericht organisiert ist. Vereinsgerichte können als „gewöhnliche“ Vereins- bzw. Verbandsgerichte oder als Vereins- bzw. Verbandsschiedsgerichte agieren. Gewöhnliche Vereins- und Verbandsgerichte sind Vereinsorgane, denen vereinsinterne Verwaltungs- und Disziplinarmaßnahmen übertragen werden. Der staatsgerichtliche Prüfungsumfang ihrer Entscheidungen wurde mit der Zeit intensiviert. Zwar sind die Feststellung des Sachverhalts sowie die Anwendung der Satzungsbestimmungen über die Vereinsstrafen Maßnahmen, die der Verein grundsätzlich kraft seiner Autonomie selbstständig ausführen darf. Dennoch unterliegt das (Straf-)Urteil aufgrund des Justizgewährungsanspruches einer (wenn auch beschränkten) gerichtlichen Kontrolle. Zunächst fand die grundsätzliche „Gerichts­freiheit der Vereinsstrafgewalt“534 allerdings in der Rechtsprechung nahezu uneingeschränkte Anerkennung. Es wurde lediglich geprüft, ob das Vereinsstrafverfahren der Satzung entsprochen hat. Noch durch das Reichsgericht wurde jedoch eine materielle staatsgerichtliche Prüfung eingeführt. Soweit die Vereinszugehörigkeit „geradezu eine Lebensfrage für die Mitglieder“ war, prüfte das Reichsgericht nun, ob die Strafmaßnahme gesetzeswidrig oder offenbar unbillig oder sittenwidrig war535. Später wurde dieser Prüfungsmaßstab auch auf Vereine mit sozialer, wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung im gesamten Volk oder einem nicht unerheblichen Volksteil ausgedehnt, wenn der Ausschluss das Mitglied in wichtigen Lebensbeziehungen traf536. Der Bundesgerichtshof hat die­ Prüfung auf sämtliche Vereine ausgedehnt537 und unterwirft auch die Tatsachenfeststellung einer staatsgerichtlichen Kontrolle538. Zuletzt entschied das Gericht, dass die staatlichen Gerichte „bei Monopolverbänden sowie Vereinigungen mit einer überragenden Machtstellung im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich, bei denen die Mitgliedschaft für den Einzelnen aus beruflichen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von erheblicher Bedeutung ist“539, prüfen können, ob ein als Vereinsstrafe verhängter Ausschluss durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Im Schrifttum wird häufig vertreten, nur eine volle Rechtmäßigkeitskontrolle, die sich auf die Überprüfung eines ordnungsgemäßen Verfahrens, die Richtigkeit der zugrunde gelegten Tatsachen und sogar – allerdings unter dem Vorbehalt eines Beurteilungsspielraums des Verbands oder Vereins – auf die Angemessenheit der Strafe beziehe, entspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen540. 534

Reuter (Fn. 533), § 25 Rn. 38. RGZ 107, 386; hierzu Reuter (Fn. 533), § 25 Rn. 38. 536 RGZ 140, 23; 147, 11; hierzu Reuter (Fn. 533), § 25 Rn. 38. 537 BGHZ 47, 381 (385: Ausschluss aus Tennisclub); hierzu Reuter (Fn. 533), § 25 Rn. 38. 538 BGHZ 83, 337; hierzu Reuter (Fn. 533), § 25 Rn. 38. 539 BGHZ 102, 265. 540 So beispielsweise Westermann, Verbandsstrafgewalt (Fn. 412), S. 77; P. Schlosser, Vereinsund Verbandsgerichtsbarkeit, 1972, S. 99 ff.; Larenz, Rechtmäßigkeit (Fn. 527), S. 59. Die dogmatische Herleitung des weiten Prüfungsmaßstabs ist umstritten. Hierzu Reuter, BGB (Fn. 533), § 25 Rn. 39 m. w. N. 535

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Wird hingegen ein echtes Schiedsgericht für auf das Mitgliedschaftsverhältnis bezogene Entscheidungen in der Satzung für zuständig erklärt, so ist die staatsgerichtliche Kontrolle weniger umfassend. Nach herrschender Meinung handelt es sich dann um ein außervertragliches Schiedsgericht, für das gem. § 1066 ZPO die §§ 1025 ff.  ZPO entsprechend gelten541. Für den Umfang der staatsgerichtlichen Überprüfung kann somit auf die Darstellungen zur Schiedsgerichtsbarkeit verwiesen werden542. Ein Vereinsgericht wird jedoch lediglich dann als Schiedsgericht anerkannt, wenn die jeweilige Streitigkeit unter Ausschluss des ordentlichen Rechtswegs einer unabhängigen und unparteilichen Instanz zur Entscheidung unterworfen wird543. Satzungshandlungen, die auf ein Richten des Vereins in eigener Sache hinauslaufen, können demnach keine Schiedsgerichtsbarkeit darstellen, sondern sind als Organhandeln zu qualifizieren544. 3. Betriebsjustiz Unter der Betriebsjustiz545 wird ein betriebsinternes Sanktionensystem verstanden, durch das Verstöße von Arbeitnehmern gegen die Betriebsordnung im Rahmen eines gerichtsähnlichen Verfahrens geahndet werden546. Betriebsbußen werden zum Beispiel bei zu spätem Erscheinen am Arbeitsplatz oder bei kleineren Diebstählen verhängt547. 541

BGHZ 159, 207 (211); siehe auch die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts, BT-Drucks. 13/5274, S. 66; instruktiv hierzu Münch (Fn. 492), § 1066 Rn. 8 ff.; abweichend Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 487), Kap. 32 Rn. 3 ff. 542 Siehe oben Zweiter Teil C. III. 1. 543 Vgl. BGHZ 159, 207 (211 f.); Schlosser (Fn. 497), Vor § 1025 Rn. 5, § 1066 Rn. 15; Schwab/ Walter, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 487), Kap. 32 Rn. 17; J. Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 75. Aufl. 2016, § 25 Rn. 21; Münch (Fn. 492), § 1066 Rn. 11. 544 H. Fenn, Zur Abgrenzung von Verbandsgerichtsbarkeit und statutarischer Schiedsgerichtsbarkeit, in: W. Gerhardt u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wolfram Henckel zum 70. Geburtstag, 1995, S. 173–198 (189), dem folgend BGHZ 159, 207 (212). 545 Auszugsweise aus der zur Betriebsgerichtsbarkeit erschienenen Literatur: W. Harbeck, Probleme der Betriebsgerichtsbarkeit – Eine Untersuchung über deren Zulässigkeit, Umfang und das zu beachtende Verfahren, 1969; M. v. Lentzke, Betriebsjustiz, 1972; U. Luhmann, Betriebsjustiz und Rechtsstaat. Vertragsrechtliche Sanktionen und betriebliche Strafgewalt bei Ordnungsverstößen im Arbeitsverhältnis, 1975; G. Kaiser/G. Metzger-Pregizer (Hrsg.), Betriebsjustiz: Untersuchungen über die soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben, 1976; Arndt, Betriebs-„Justiz“ (Fn. 412); Baur, Betriebsjustiz, (Fn. 412); D. Dengler, Betriebsstrafe bei innerbetrieblichen Verstößen?, 1968; Zöllner, Betriebsjustiz, in: ZZP 83 (1970), S. 365–393; R.-D. Prüfer, Betriebsjustiz: Die betrieblichen Sanktionen gegenüber den Arbeitnehmern nach deutschem Recht, 1972; R. Richardi (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz mit Wahlordnung-Kommentar, 14. Aufl. 2014, § 87 Rn. 213 ff.; G. Wiese, in: ders. u. a. (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 10. Aufl. 2014, Bd. 2, § 87 Rn. 235 ff. 546 Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 199; I. Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht. Von der Renaissance der Privatstrafe im deutschen Recht, 2004. 547 Worzalla (Fn. 546), § 87 Rn. 157.

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Sowohl Rechtsnatur als auch Rechtsgrundlage der Betriebsjustiz sind noch immer umstritten. Während die wohl herrschende Meinung die Betriebsbußen als Satzungs- oder Disziplinarstrafe einordnet548, wird ebenfalls vertreten, dass es sich um Vertragsstrafen handelt549. Das Bundesarbeitsgericht sieht die Rechtsgrundlage der Betriebsbußen in § 87 I BetrVG sowie § 1 TVG550. Die herrschende Literaturansicht leitet die Betriebsstrafgewalt aus der sozialen Autonomie des Betriebes551 ab, die zu einer „satzungsmäßigen Aufstellung einer Betriebsbußenordnung durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag berechtigen soll“552. Diese Uneinigkeiten rühren vor allem daher, dass das Rechtsinstitut der Betriebsstrafe keinerlei ausdrückliche Erwähnung im Gesetz findet553. Aus dem Umstand, dass das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 das Institut der Betriebsjustiz nicht erwähnt, kann jedoch nicht auf dessen Unzulässigkeit geschlossen werden. Die Kurzprotokolle des Gesetzgebungsprozesses des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 zeigen, dass man wie selbstverständlich von der weiteren Zulässigkeit des Betriebsbußenwesens ausging554. Der Erlass einer Betriebsbuße ist nach dem Bundesarbeitsgericht allerdings nur zulässig, wenn: „a) die Bußordnung wirksam geschaffen und bekanntgemacht ist, b) in ihr die die Verhängung von Bußen bedingten Tatbestände festgelegt und zulässige Bußen normiert sind, c) ein rechtsstaatliches, ordnungsgemäßes Verfahren vorgesehen ist und eingehalten wird,

548 Meyer-Cording, Betriebstrafe (Fn. 407), S. 227; Wiese (Fn. 545), § 87 Rn. 240; R. Linck, in: G. Schaub (Hrsg.), Arbeitsrechts-Handbuch, 15. Aufl. 2015, Betriebsbußen (5. Buch, 5. Abschnitt, § 58), Rn. 2. 549 So noch W. Zöllner, Betriebsjustiz (Fn. 545), S. 387 ff.; Luhmann, Betriebsjustiz (Fn. 545), S. 105 ff.; Richardi (Fn. 545), § 87 Rn. 221. 550 BAG AP Nr. 12 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße (1989). 551 Richardi (Fn. 545), § 87 Rn. 220 m. w. N. 552 D. Neumann, Die Rechtsgrundlage von Betriebsstrafenordnungen, in: RdA 1968, S. 250– 254 (252 f.); so ebenfalls Meyer-Cording, Betriebsstrafe (Fn. 407), S. 226 ff.; auch das Bundesarbeitsgericht stellt allerdings fest, dass es sich bei Betriebsbußen um einen „Ausfluß der autonomen Gewalt der Betriebspartner im Bereich des insoweit autonomen Betreibsverbandes“ handelt (BAG AP Nr. 1 zu § 56 BetrVG Betriebsbuße [1967]); hierzu auch W. Herschel, Betriebsbußen. Ihre Voraussetzungen und Grenzen, 1967, S. 21 ff. 553 So zutreffend Ebert, Elemente (Fn. 546), S. 298 ff., die instruktiv nachzeichnet, dass es stets an einer Rechtsgrundlage für die Betriebsjustiz fehlte, einschlägige Gesetze, wie das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 die Betriebsjustiz aber implizit anerkannten. 554 Auf das Kurzprotokoll der 11. Sitzung des Arbeitskreises der Ausschüsse für Arbeit und für Wirtschaftspolitik des Deutschen Bundestages vom 19.1.1951 verweist insofern H. G. Isele, Anmerkung zu BAG Urteil vom 12.9.1967, in: JZ 1968, S.  338–340 (339); so auch BAGE 20, 79 (83); Luhmann, Betriebsjustiz (Fn. 545), S. 63 f.; Ebert, Elemente (Fn. 546), S. 300.

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d) rechtliches Gehör gewährt und eine Vertretung zugelassen wird, e) auch bei Verhängung der einzelnen Buße der Betriebsrat im Sinne der Mitbestimmung eingeschaltet wird.“555

Die Verhängung einer Betriebsbuße ist ferner nur bei einem kollektivrechtlichen Bezug der Pflichtverletzung zulässig556. Als Bußen kommen beispielsweise mündliche Verwarnungen oder schriftliche Verweise, aber auch Geldbußen557 und (nach umstrittener Auffassung) letztlich eine Entlassung558 in Betracht. Die staatlichen Gerichte können die ordnungsgemäße Verhängung einer Betriebs­ buße in vollem Umfang prüfen. Sie prüfen dabei die Wirksamkeit der Bußordnung an sich, die Einhaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrens, und auch, ob der Bußtatbestand verwirklicht und die im Einzelfall verhängte Buße angemessen ist559. 4. Parteischiedsgerichte Gemäß § 14 PartG sind zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten einer Partei oder eines Gebietsverbandes mit einzelnen Mitgliedern und von Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung der Satzung zumindest bei der Partei und den Gebietsverbänden der höchsten Stufe Schiedsgerichte zu bilden560. Parteigerichte sind entweder als echte Schiedsgerichte oder als Verbandsgerichte ohne Rechtsprechungsqualität ausgestaltet561. Meist sind die Voraussetzungen eines echten Schiedsgerichts im Sinne der §§ 1025 ff. ZPO jedoch nicht erfüllt, da es 555 BAG, 20, 79; BAG AP Nr. 1 zu § 56 BetrVG Betriebsbuße (1967); hierzu auch W. Kohte, in: F. J. Düwell (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz-Handkommentar, 4. Aufl. 2014, § 87 Rn. 39. 556 BAG AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße (1975); BAG AP Nr. 2 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße (1979); BAG AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße (1979); Ebert, Elemente (Fn. 546), S. 292; s. Richardi (Fn.545) § 87 Rn. 225. 557 Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 199; Ebert, Elemente (Fn. 546), S. 293; Linck, Betriebsbußen (Fn. 548), Rn. 4. 558 Unzulässig: BAG AP Nr. 4 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße (1982); zulässig: BVerwG AP Nr. 2 zu § 66 PersVG; hierzu Linck, Betriebsbußen (Fn. 548), Rn. 8. 559 So die ganz herrschende Meinung, siehe nur BAGE 20, 79 (80); Richardi (Fn. 545), § 87 Rn. 246; Wiese (Fn. 545), § 87 Rn. 266; Linck, Betriebsbußen (Fn. 548), Rn. 15.; a. A. K. F. Fitting u. a. (Hrsg.), Betriebsverfassungsgesetz-Handkommentar, 27. Aufl. 2014, § 87 Rn. 94 (die gerichtliche Nachprüfung beschränke sich ähnlich wie bei der Vereinsgerichtsbarkeit darauf, ob eine wirksame Bußordnung vorliegt, die Mindestverfahrensgrundsätze eingehalten seien, der Verstoß gegen die Betriebsordnung begangen wurde, und schließlich, die betriebliche Disziplinarmaßnahme willkürlich festgesetzt wurde und auch nicht unangemessen ist). 560 Zur Parteigerichtsbarkeit H. Schlicht, Die Schiedsgerichtsbarkeit der politischen Parteien, 1974; D. Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, 1998; A. Scherff, Der Verfassungsauftrag der innerparteilichen Demokratie im Lichte von Parteigerichtsverfahren und staatlicher Gerichtsbarkeit, untersucht anhand von internen Parteistreitigkeiten der im Abgeordnetenhaus von Berlin vertretenen Parteien, 1993. 561 So Münch (Fn. 492), § 1066 Rn. 22, der anmerkt, dass der Gesetzgeber durch § 14 PartG den Parteien hier „jegliche Ausgestaltungsmöglichkeit belassen“ wollte; ferner Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 198.

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an konstitutiven Voraussetzungen wie dem teilweisen Ausschluss der Anrufung staatlicher Gerichte, der Möglichkeit, einen Schiedsrichter abzulehnen oder der Schiedsfähigkeit des Streitgegenstandes fehlt562. Der Grad der Überprüfbarkeit parteischiedsgerichtlicher Entscheidungen hängt von der Qualifizierung des Gerichts als Verbands- oder Schiedsgericht ab563. Entscheidet das Parteischiedsgericht als echtes Schiedsgericht, so gilt das oben zur Schiedsgerichtsbarkeit Gesagte. Erfüllt das Gericht nicht die Voraussetzungen eines Schiedsgerichts, so ist zwar zunächst der innerparteiliche Rechtsweg auszuschöpfen, die Parteientscheidung kann aber durch das staatliche Gericht bezüglich der Tatsachenbasis und der Einhaltung von Verfahrensvorschriften uneingeschränkt überprüft werden564. Allerdings kann, soweit die Tendenzfreiheit der Partei betroffen ist, die Auslegung materieller Rechtsvorschriften durch die Partei nur einer Willkürkontrolle durch die staatlichen Gerichte unterzogen werden565. 5. Kirchengerichte Eine Sonderrolle im deutschen Gerichtspluralismus nimmt schließlich die Kirchengerichtsbarkeit ein, die ihre Grundlage in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV findet566. Insbesondere die großen christlichen Kirchen haben von ihrem Recht auf Einrichtung einer eigenen Gerichtsbarkeit Gebrauch gemacht, indem sie eine ausdifferenzierte und sich über mehrere Instanzen erstreckende Kirchengerichtsbarkeit geschaffen haben567. Im Jahre 2003 hat die Evangelische Kirche die Rechtspflege durch das Kirchengesetz über die Errichtung, die Organisation und das Verfahren der Kirchengerichte vom 6. November 2003 neu geordnet. Seitdem bestehen als Kirchengerichte der Verfassungsgerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland, das Kirchengericht der Evangelischen Kirche in Deutschland als Kirchengericht erster Instanz sowie der Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland als Kirchengericht zweiter Instanz568. In der evangelischen Kirche haben sich vier 562

M. Morlok, Kommentar zum Parteiengesetz, 2. Aufl. 2013, § 14 Rn. 1. Morlok, Parteiengesetz (Fn. 562), § 14 Rn. 14; Achterberg (Fn. 377), Art. 92 Rn. 197. 564 Morlok, Parteiengesetz (Fn. 562), § 14 Rn. 14. 565 Morlok, Parteiengesetz (Fn. 562), § 14 Rn. 14. 566 Zum Verhältnis staatlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit etwa K. Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich. Zugleich ein Beitrag zur Frage des rechtlichen Verhältnisses von Kirche und Staat in der Gegenwart, 1956; K.-H. Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit: Über die Frage nach der staatlichen Kompetenz zur Rechtsschutzgewährung im Wirkungsbereich der Kirchen und Religionsgemeinschaften, 1991; J. Listl, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, in: ders. Kirche im freiheitlichen Staat. Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, Halbbd. 2, 1996, S. 788–812 (788 ff.). 567 Unruh, Religionsverfassungsrecht (Fn. 303), § 6 Rn. 210. 568 J. Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 2008, S. 214; Einzelheiten bei H. Claessen, Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland: Kommentar und Geschichte, 2007. 563

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Gerichtszweige, nämlich die Verfassungs-, Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit sowie die Gerichtsbarkeit in mitarbeitervertretungsrechtlichen Angelegenheiten herausgebildet569. Das umfassende Rechtsschutzsystem der römisch-katholischen Kirche umfasst Zivil-, Disziplinar- und Strafverfahren570. Der Gerichtsaufbau der römisch-katholischen Kirche gliedert sich in Bischöfliche Gerichte, Metropolitangerichte und Gesamtkirchliche Gerichte571. Es hat sich außerdem ein differenziertes Prozessrecht entwickelt, das das Gerichtswesen im Allgemeinen, das Streitverfahren, besondere Arten von Verfahren (zum Beispiel Ehenichtigkeitsverfahren), den Strafprozess sowie das Verfahren zur Amtsenthebung oder Versetzung von Pfarrern behandelt. Der Zentralrat der Juden hat schließlich ein jüdisches Schiedsgericht für jüdische Religionsgemeinschaften eingerichtet572. Das Verhältnis der staatlichen zur religionsgemeinschaftlichen Gerichtsbarkeit, vor allem das Ausmaß der Zuständigkeit und die Kontrollbefugnis der staatlichen Gerichte, ist bis heute umstritten und nicht endgültig geklärt573. Die Grundlage der Rechtsprechung bildet traditionell die zu Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV entwickelte Bereichslehre. Nach dieser ist zwischen Innenund Außenbereich religionsgemeinschaftlicher Angelegenheiten zu unterscheiden. Zum innerkirchlichen Bereich gehört demnach „was materiell, der Natur der Sache oder Zweckbestimmung nach als eigene Angelegenheit der Kirche“574 anzusehen ist575. Später stellte das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang auf das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften ab576. Die Rechtsprechung hält bis heute grundsätzlich an der Bereichslehre fest, dehnt die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte aber neuerdings teilweise auf Fragen des Innenverhältnisses zwischen der Religionsgemeinschaft und ihren Mitarbeitern und Mitgliedern 569

Unruh, Religionsverfassungsrecht (Fn. 303), § 6 Rn. 210. Unruh, Religionsverfassungsrecht (Fn. 303), § 6 Rn. 210. 571 Winter, Staatskirchenrecht (Fn. 568), S. 215; instruktiv zur Organisation der Gerichtsbarkeit der römisch-katholischen Kirche Wittreck, Verwaltung (Fn. 382), S. 255 ff. sowie eingehend K. E. Schlief, Die Organisationsstruktur der katholischen Kirche, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 11, S. 347–382. 572 Unruh, Religionsverfassungsrecht (Fn. 303), § 6 Rn. 210. 573 Winter, Staatskirchenrecht (Fn. 568), S. 221; Unruh, Religionsverfassungsrecht (Fn. 303), § 6 Rn. 209; zu dem Verhältnis staatlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit eingehend W. Rüfner, Zuständigkeit staatlicher Gerichte in kirchlichen Angelegenheiten, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. 2, 2. Aufl.1995, § 73, S. 1081–1116; siehe auch Hesse, Rechtsschutz (Fn. 566); Kästner, Justizhoheit (Fn. 566); Listl, Gerichtsbarkeit (Fn. 566), S. 788 ff. Instruktive Beispiele zu Kompetenzkonflikten zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und den verschiedenen Ausprägungen religiöser Rechtsregime zeigt auf Wittreck, Paralleljustiz (Fn. 343), S. 102 f. 574 So noch BVerfGE 18, 385 (387). Dieses Verständnis geht auf G. J. Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930, S. 258 ff. zurück (Korioth [Fn. 318], Art. 137 WRV Rn. 27, Fn. 1). 575 Ebers, Staat (Fn. 574), S. 261. 576 Korioth (Fn. 318), Art. 137 WRV Rn. 28. 570

C. Rechtsprechungsmonopol des Staates oder Gerichtspluralismus?

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aus577. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2000 führt der Bundesgerichtshof gar aus: „Die Pflicht des Staates zur Justizgewährung hat deshalb sowohl gegen als auch zugunsten der Religionsgemeinschaften in gleicher Weise wie für und gegen alle Rechtssubjekte auf dem Staatsgebiet selbst dann zu gelten, wenn bei der Anwendung staatlicher Rechtssätze religionsgemeinschaftliche Vorfragen zu klären sind.“578 Eine von der geistlichen Grundordnung oder dem kirchlichen Selbstverständnis getragene Maßnahme könne allerdings nur auf ihre Wirksamkeit, nicht auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Diese Kontrolle sei „darauf beschränkt, ob die Maßnahme gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung verstößt, wie sie in dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie in dem Begriff der guten Sitten (§ 138 BGB) und in dem ordre public (Art. 6 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben.“579 Die Literatur verweist regelmäßig auf den Justizgewährungsanspruch, der den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten zunächst grundsätzlich eröffne580. Lediglich der Prüfungsumfang solle durch das Selbstbestimmungsrecht im Wege einer „Abstufung in der Kontrollintensität“581 begrenzt werden können582. Es handelt sich insofern um einen materiell-rechtlichen Ansatz, der auf ein „grundrechtliches Abwägungsmodell“583 hinausläuft.

V. Rückschlüsse für den Untersuchungsgegenstand und Ergebnis Es ist also herausgearbeitet worden, dass private Rechtsprechungs- und Streitschlichtungsinstanzen grundsätzlich erlaubt, ja sogar als Ausdruck der Privatautonomie durch das Grundgesetz garantiert werden. Der Staat hält kein Rechtsprechungsmonopol und kann seine Bürger nicht zwingen, ihre Streitigkeiten vor staatlichen Gerichten auszutragen584. Das würde selbst dann gelten, wenn die­ 577

E. Reimer, in: H. Posser/H. A. Wolff (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar VwGO, § 40 (2013) Rn. 28. 578 BGH NJW 2000, S. 1555 (1556). 579 BGHZ 154, 306 (313); zusammenfassender Überblick der Rechtssprechung bei Winter, Staatskirchenrecht (Fn. 568), S. 215 ff. 580 Siehe nur C. Fuchs, Das Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, 1999, S. 147; v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht (Fn.  423), S.  313; Czermak, Weltanschauungsrecht (Fn. 301), S. 119; Jarass (Fn. 295), Art. 137 WRV Rn. 17; Unruh, Reigionsverfassungsrecht (Fn. 303), § 6 Rn. 214. 581 Morlok (Fn. 325), Art. 137 WRV Rn. 73. 582 C. Fuchs, Das Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, 1999, S. 147; Korioth (Fn. 318), Art. 137 WRV Rn. 56 ff.; Morlok (Fn. 325), Art. 137 WRV Rn. 73; Hofman (Fn. 354), Art. 140 (137 WRV), Rn. 22; Jarass (Fn. 295), Art. 137 WRV Rn. 17. 583 C. Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, S. 541. 584 So zutreffend Schütze, Schiedsgericht (Fn. 422), S. 3 sowie Rehm, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn. 417), Rn. 168.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

staatliche Gerichtsbarkeit bei bestimmten Arten von Streitigkeiten kaum noch bemüht würde und daher „auszutrocknen“585 drohte. Der Staat besitzt kein Alleinrecht auf Prozesse586. Er ist vielmehr verpflichtet, dem Bürger größtmögliche Freiheit einzuräumen, privatautonom Konflikte beizulegen. Private Gerichtsbarkeit kann also nicht lediglich deshalb begrenzt werden, weil sie eine Alternative oder ein Äquivalent zur staatlichen Rechtsprechung darstellt. Will man verfassungsrechtliche Grenzen privater Rechtsprechung bestimmen, so kann es also niemals um die Frage des „Ob“ gehen, sondern immer nur darum, inwiefern der Staat in die Art und Weise, wie private Gerichtsbarkeit ausgeübt wird, eingreifen kann bzw. muss. Dem Staat obliegt eine Schutzpflicht, die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards zu gewährleisten. Diese ergibt sich allerdings nicht aus Art. 92 GG, der sich nach hier vertretener Auffassung lediglich auf die staatliche Gerichtsbarkeit bezieht, sondern aus den Grundrechten der Beteiligten sowie der allgemeinen Justizgewährungspflicht. Überträgt man diesen Befund auf informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung, so gilt, dass – argumentum a fortiori – gegen diese keine verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art.  92 GG bestehen. Sind schon die Erscheinungsformen, die man gemeinhin unter den Begriff der privaten Gerichtsbarkeit fasst, verfassungsrechtlich unbedenklich, so können erst recht Entscheidungen oder Vereinbarungen, die Ergebnis der informellen religiösen Streitschlichtung sind, nicht (jedenfalls nicht per se) gegen die oben angesprochenen Verfassungsnormen verstoßen. Denn die informellen Absprachen und Entscheidungen sind als zivilrechtliche Vereinbarungen voll gerichtlich überprüfbar. Demgegenüber können Entscheidungen von Schieds-, Vereins-, Verbands-, Betriebsund Kirchengerichten nur eingeschränkt überprüft werden. Vergleicht man die Möglichkeit vollumfänglicher staatsgerichtlicher Kontrolle der in informellen Verfahren geschlossenen Vereinbarungen, in der vor allem die §§ 315 f. BGB sowie § 138 BGB eine Rolle spielen werden, beispielsweise mit den in § 1059 Abs.  2 ZPO geregelten Aufhebungsgründen, so ist festzustellen, dass letztere eher den in §§ 579, 580 ZPO niedergelegten Restitutionsgründen ähneln, die gegen ein rechtskräftiges staatliches Urteil vorgebracht werden können587. Im Vergleich zu den überkommenen Erscheinungen privater Rechtsprechung besteht somit, jedenfalls rein rechtlich, nicht nur ein vergleichbares, sondern sogar ein deutlich höheres Schutzniveau588.

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So zur Privatisierungstendenz aufgrund der Zunahme von Schiedsverfahren zutreffend Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2005. 586 So zutreffend Stober, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 382), S. 2005. 587 Ebbing, Zivilgerichte (Fn. 417), S. 19. 588 Allgemein so wohl auch Detterbeck (Fn. 378), Art. 92 Rn. 29: „Anders verhält es sich freilich bei solchen Schlichtungsentscheidungen privater Einrichtungen, die zwar auf Verbindlichkeit zielen, aber vor dem staatlichen Richter uneingeschränkt angefochten werden können.“ Und Schulze-Fielitz (Fn. 378), Art. 92 Rn. 52: „Erst Recht sind private Gerichte zulässig, deren Entscheidungen vor staatlichen Gerichten uneingeschränkt angefochten werden können.“

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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Dennoch bleiben im Hinblick auf die informelle religiöse Gerichtsbarkeit Bedenken. Denn hier scheint es gerade so zu sein, dass die Beteiligten eben nicht das staatliche Justizsystem in Anspruch nehmen. Eine nachträgliche Kontrolle findet demnach faktisch nicht statt. Es stellt sich also die Frage, ob der Staat seiner Pflicht, einen von staatlicher Kontrolle abgeschirmten Raum privater Rechtsprechung zu verhindern, nachkommt, wenn er zwar Schutzmechanismen bereitstellt, diese aber nicht genutzt werden. Diese Verfahrensweise scheint bei den überkommenen privaten Rechtsprechungsmechanismen zu funktionieren, bei dem Phänomen der informellen religiösen Schiedsgerichtsbarkeit aber leerzulaufen. Dies könnte vor allem dann bedenklich sein, wenn bei informellen religiösen Verfahren eine erhöhte Gefahr bestehen würde, dass rechtsstaatliche Mindestanforderungen nicht eingehalten und Rechte der Beteiligten verletzt werden. Dieses Problem kann jedoch nicht pauschal über Art. 92 GG gelöst werden. Rechtsverletzungen muss im Einzelfall über einen Eingriff zum Schutz von Individualrechten entgegengetreten werden. Dies ist jedenfalls dann problemlos möglich, wenn die betroffenen Individualrechtsgüter einfachgesetzlich, beispielsweise durch Strafvorschriften, geschützt sind. Ein Eingriff kann dann grundsätzlich nicht nur repressiv, sondern auch präventiv unter Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel stattfinden. Bei Anwendung des islamischen Rechts besteht jedoch vor allem die Gefahr, dass Frauen und Männer ungleich behandelt werden. Eine einfachgesetzliche Pflicht zur Gleich­ behandlung im Privatrecht sieht das deutsche Recht jedoch – von Ausnahmen abgesehen589 – nicht vor. Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob der Staat insbesondere aufgrund des grundrechtlichen Gleichheitssatzes gegen die informellen Verfahren vorgehen könnte.

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes Die Schlechterstellung des weiblichen Geschlechts im islamischen Recht ist immer wieder Gegenstand lauter Kritik590. Im Hinblick auf die informellen Verfahren ist die Frage aufzuwerfen, ob eine Eingriffsmöglichkeit des Staates besteht, wenn dort Frauen in verfahrensrechtlichen Fragen oder materiell-rechtlichen Entscheidungen aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden591. Zu beachten ist­ 589 Hier ist vor allem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu nennen, hierzu noch unten Zweiter Teil D. I. 2. und Zweiter Teil D. II. 3. b. 590 Zur Kritik der Ungleichbehandlung der Geschlechter im Islam etwa N. Selim, Nehmt den Männern den Koran: Für eine weibliche Interpretation des Islam, 2. Aufl. 2009; N. Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, 7. Aufl. 2006; S. Ateş, Der Multikulti-Irrtum, 3. Aufl. 2007, S. 41 ff., 161 ff.; B. Udynk. Allah und Eva: Der Islam und die Frauen, 2009. 591 Die folgenden Ausführungen stehen unter der Prämisse, dass in den informellen Verfahren Entscheidungen nach der Scharia getroffen werden. Es soll jedoch noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Anhaltspunkte dahingehend bestehen, dass viele Entscheidungen in den informellen Verfahren nicht nach der Scharia, sondern nach tradierten G ­ erechtigkeitsvorstellungen

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

hierbei jedoch, dass es sich bei den informellen Verfahren im Ergebnis um die Verhandlung oder Entscheidung privatrechtlicher Sachverhalte handelt. Private sind aber nicht an die Grundrechte gebunden. Nach Art. 1 Abs. 3 GG richten sich die Grundrechte unmittelbar nur an den Staat, indem sie Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehende Gewalt binden. Lediglich über die sogenannte mittelbare Drittwirkung wirken die Grundrechte über die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln in das Privatrecht hinein. Eklatante Grundrechtsverstöße können auf diese Weise zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts gemäß § 138 BGB führen592. Im Folgenden soll daher zunächst geprüft werden, in welchen Fällen ein Gericht Vereinbarungen, die unter Anwendung islamischen Rechts geschlossen werden, aufgrund grundrechtlicher Wertungen als sittenwidrig einstufen würde (I.). Sodann soll geprüft werden, ob der Staat initiativ präventive Maßnahmen gegen informelle Verfahren ergreifen kann, in denen Frauen diskriminiert werden (II.).

I. Die Sittenwidrigkeit von auf islamischem Recht beruhenden Rechtsgeschäften Der Inhalt der guten Sitten wird nach Rechtsprechung und herrschender Lehre durch das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ bestimmt593, wobei die in der Gesellschaft herrschende Rechts- und Sozialmoral maßgeblich sein soll594. Es ist ein objektiver Maßstab anzulegen, bei dem besonders strenge oder freizügige Moralvorstellungen Einzelner außer Betracht bleiben müssen595. Neben den sozialethischen Wertvorstellungen sind von dem Begriff der guten Sitten auch rechtsethische Werte und Prinzipien umfasst, die der Rechtsordnung als Leitideen zugrunde liegen596. Dies sind in erster Linie die Wertungen der Verfasder Beteiligten getroffen werden. So wird angenommen, dass in vielen Fällen nicht schematisch unter das islamische Recht subsumiert wird, sondern dass versucht wird, pragmatische Einzelfalllösungen zu finden. Dass diese jedenfalls aber oft an das islamische Recht und dessen allgemeine Wertgrundsätze angelehnt sein werden, wird ebenfalls vermutet. 592 BVerfGE 73, 261 (269); R. Sack/M.Seibl, in: J. v. Staudinger (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 1, Allgemeiner Teil, § 134 Rn. 41 (2011); C. Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 134 Rn. 34. 593 RGZ 120, 142 (148); BGHZ 10, 282 (232); 17, 327 (332 f.); 67, 119 (121); ausführlich hierzu H. Haberstumpf, Die Formel vom Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs: eine Untersuchung über juristische Argumentationsweisen, 1976 sowie R. Sack, Das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden und die Moral als Bestimmungsfaktor der guten Sitten, in: NJW 1985, S. 761–769. 594 H. Wendtland, in: G. Bamberger/H. Roth (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 1, § 138 (2015) Rn. 16. Kritisch hierzu, da Mehrheitsmeinungen nicht unbedingt identisch mit dem seien, was ein billig und gerecht Denkender für anständig hält: R. Sack/P. S. Fischinger, in: J. v. Staudinger (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 1, Allgemeiner Teil, § 138 Rn. 16 (2011). 595 Wendtland, BGB (Fn. 594), § 138 Rn. 16. 596 In diesem Sinne BVerfGE 7, 198 (206); 89, 214 (229); BGHZ 80, 153 (158); Sack/ Fischin­ger (Fn. 594), § 138 Rn. 52; Wendtland, BGB (Fn. 594), § 138 Rn. 17.

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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sung, vor allem die objektive Werteordnung der Grundrechte597. Aufgrund des Prinzips der ­Privatautonomie kann jedoch nicht jeder Vertrag, der mit grundrechtlichen Wertungen in Konflikt steht, sittenwidrig sein. Es ist vielmehr grundsätzlich zu vermuten, dass der durch einen Vertragsabschluss zum Ausdruck kommende Wille der Parteien einen angemessenen Interessenausgleich abbildet598. Diese Vermutung kann jedoch nur dann durchgreifen, wenn sich die Parteien in freier Selbstbestimmung auf den Abschluss des Rechtsgeschäfts geeinigt haben. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung nicht der Fall, wenn zwischen den Parteien kein an­ nähernd ausgewogenes Kräfteverhältnis besteht. Ein unausgewogenes Kräfteverhältnis wird dabei in der Regel immer dann angenommen, wenn eine Partei ein solches Übergewicht hat, dass sie den Vertragsinhalt de facto einseitig bestimmen kann599. Allerdings darf nicht schon jedes Ungleichgewicht zur Sittenwidrigkeit des Ver­trages führen600. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss eine erhebliche strukturelle Unterlegenheit eines Vertragspartners vorliegen und die Folgen des Vertragsschlusses müssen ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen sein601. Die Intensität der Ausstrahlungswirkung ist umso geringer, „je mehr die Belastung dem Betroffenen als eigene Entscheidung real zugerechnet werden kann“602. Umso größer ist sie hingegen, wenn es „um den Schutz personaler Freiheit gegenüber wirtschaftlicher und sozialer Macht“603 geht oder strukturell ungleiche Verhandlungsstärken aufeinander stoßen604. Eine solche strukturelle Unterlegenheit hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel im Eherecht beim Abschluss einer Unterhaltsvereinbarung mit einer nichtverheirateten schwangeren Frau vor Eheschluss angenommen, wenn sie vor der Alternative steht, in Zukunft allein die Verantwortung für das gemeinsame Kind tragen zu müssen oder den Kindesvater unter den Bedingungen der Unterhaltsvereinbarung zu heiraten605. Im Folgenden soll nun herausgearbeitet werden, ob erb-, ehe- oder familienrechtliche Vereinbarungen, die typischerweise im Rahmen informeller Schlichtungen unter Anwendung islamischer Rechtsgrundsätze geschlossen werden, nach deutschem Recht aufgrund verfassungsrechtlicher Wertungen als sittenwidrig­ qualifiziert werden müssten.

597 BVerfGE 7, 198 (205 f.); BGH NJW 2001, 2248 ff.; Sack/Fischinger (Fn.  594), § 138 Rn. 53. 598 BVerfGE 81, 242 (254); Sack/Fischinger (Fn. 594), § 138 Rn. 53. 599 Hierzu eingehend BVerfGE 89, 214 (233); Sack/Fischinger (Fn. 594), § 138 Rn. 53. 600 Sack/Fischinger (Fn. 594), § 138 Rn. 53. 601 Hierzu BVerfGE 89, 214 (232 ff.). 602 Jarass (Fn. 295), Art. 1 Rn. 58. 603 Jarass (Fn. 295), Art. 1 Rn. 58. 604 BVerfGE 89, 214 (234); Jarass (Fn. 295), Art. 1 Rn. 58. 605 BVerfG NJW 2001, 957; zur gerichtlichen Kontrolle von Unterhaltsvereinbarungen T. Krause, Vereinbarungen über den nachehelichen Unterhalt, in: FPR 2013, S. 295–299.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

1. Ehevereinbarungen Aufgrund der im Ersten Teil in Kap. A beschriebenen Erkenntnisse ist zu vermuten, dass hauptsächlich nacheheliche Eigentums- und Vermögensfragen in den informellen Verfahren verhandelt werden. Es ist jedoch zu beachten, dass die gesetzlichen Regelungen über nachehelichen Unterhalt, Zugewinn und Versorgungsausgleich grundsätzlich der freien Disposition der Ehegatten unterliegen und das geltende Recht gerade keinen unverzichtbaren Mindestgehalt an Scheidungsfolgen zu Gunsten des berechtigten Ehegatten kennt606. Dies ist schon verfassungsrechtlich durch Art. 6 GG vorgegeben, der das Recht der Ehegatten verbürgt, ihre eheliche Lebensgemeinschaft frei nach ihren individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen eigenverantwortlich zu regeln607. Der Bundesgerichtshof zieht allerdings der Dispositionsfreiheit der Ehegatten eine Grenze, wenn eine evident einseitige und durch die individuelle Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse nicht gerechtfertigte Lastenverteilung entsteht, die unter der Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen der Ehegatten für den belasteten Ehegatten unzumutbar erscheint608. Die Unzumutbarkeit ist umso eher zu bejahen, je unmittelbarer die vertragliche Abbedingung gesetzlicher Regelungen in den Kernbereich des Scheidungsfolgenrechts eingreift. Zu diesem Kernbereich gehört insbesondere der­ Betreuungsunterhalt gemäß § 1570 BGB, der zwar ebenfalls nicht jeglicher Modifikation entzogen ist, der aber im Hinblick auf seine Ausrichtung am Kindes­ interesse auch nicht der völlig freien Disposition der Ehegatten unterliegt609. Ferner werden Ehevereinbarungen von der Rechtsprechung als sittenwidrig qualifiziert, wenn sie zu einer Belastung der Allgemeinheit, also des Sozialhilfeträgers, führen. Dies wird in der Regel angenommen, wenn die Ehevereinbarung dazu führt, dass einer bedürftigen Partei die Sicherung des Lebensunterhalts genommen wird, obwohl die andere Partei nach der gesetzlichen Regelung leistungsverpflichtet und leistungsfähig ist610. Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass die Ehegatten einen weiten Dispositionsrahmen haben und Ehevereinbarungen nur ganz ausnahmsweise als sittenwidrig zu qualifizieren sind. Eine Gesamtschau des in Kapitel A. III. 6. dargestellten Unterhaltsrechts ergibt unter Zugrundelegung dieser Kriterien, dass Eheverträge, die auf islamischem Recht beruhen, selten als sittenwidrig einzustufen sein dürften. Teilweise wird sogar betont, die Vereinbarung einer hohen mahr könne dazu führen, dass die Frau nach islamischem Recht finanziell besser stehe als nach deutschem Recht611. Eine Entscheidung des OLG Bamberg zeigt, dass solche Verein 606

BGHZ 158, 81 (94). BGHZ 158, 81 (94). 608 BGHZ 158, 81 (96). 609 BGHZ 158, 81 (97). 610 M. Schultz, Zivilgerichtliche Vertragskontrolle im Eherecht, 2008, S. 60. 611 Siehe hierzu Jones-Pauly, Marriage Contracts (Fn. 186), S. 322; Hötte, Schiedsgerichtsbarkeit (Fn.  287), S.  219. Zu dem gleichen Ergebnis kommt für Großbritannien: M. Malik, 607

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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barungen sogar zu einer unangemessenen Belastung des Ehemannes führen können. Das Gericht entschied in einem Fall, dem eine Vereinbarung einer mahr über 150.000 US-Dollar zugrunde lag, dass eine solche Vereinbarung nicht mit dem deutschen ordre public vereinbar ist, wenn sie zum „finanziellen Ruin des Ehemannes führen oder ihn auf längere Zeit durch unzumutbare finanzielle Lasten derart binden könnte, dass ihm die Möglichkeit einer Scheidung und einer anschließenden Wiederverheiratung entgegen dem Grundrecht der Eheschließungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG) genommen wäre“612. Anders verhält es sich, wenn sich die Ehefrau beispielsweise auf eine Vereinbarung mit finanziellen Zugeständnissen einlässt, weil sie hofft, auf diese Weise ein religiöses Scheidungszertifikat leichter erlangen zu können oder auf andere Weise unter Druck gesetzt wird. In einer solchen Situation wird die für die Sittenwidrigkeit erforderliche strukturelle Unterlegenheit der Ehefrau regelmäßig vorliegen. Lässt sich die Ehefrau dann auf eine ungewöhnlich belastende und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessene Regelung ein, so ist die Vereinbarung gemäß § 138 BGB nichtig. 2. Erbrecht Auch letztwillige Verfügungen oder erbrechtliche Vereinbarungen, die die männlichen Nachkommen nach den Grundsätzen des islamischen Rechts bevorzugen, könnten auf Grund der Wertung des Art. 3 Abs. 2 GG als sittenwidrig eingestuft werden. Die auf den ersten Blick mit Art. 3 GG in direktem Widerspruch stehenden erbrechtlichen Regelungen, die der Frau nur die Hälfte des Erbteils des Mannes zusprechen, sind bei näherem Hinsehen jedoch differenziert zu bewerten. Zwar verstieße nach deutschem Recht eine gesetzliche Regelung, die festlegt, dass eine Frau allein aufgrund ihres Geschlechts weniger erbt, als ein Mann in gleicher Lage erben würde, gegen den grundrechtlich garantierten Gleichheitssatz613. Der Inhalt letztwilliger Verfügungen ist jedoch Ausdruck der aus der Erbrechtsgarantie des Art.  14 Abs.  1 S.  1 GG hergeleiteten Testierfreiheit614. Aus dieser folgt, dass grundsätzlich die Überzeugungen des Erblassers für die Vermögensübertragung und Verteilung maßgeblich sind615. Somit kann ein Erblasser durchaus auch aus reli­giöser Überzeugung seinen männlichen Erben einen größeren Erbteil­ Muslim Legal Norms and the Integration of European Muslims, EUI Working Papers RSCAs 2009/29, S.  2, abrufbar unter: http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/11653/RSCAS%20 2009_29.pdf?sequence=1 (03.12.2015). 612 OLG Bamberg NJOZ 2011, 577 (578). 613 So auch OLG Frankfurt ZEV 2011, 135 (136). 614 G. Otte, Die Nichtigkeit letztwilliger Verfügungen wegen Gesetzes- oder Sittenwidrigkeit, in: JZ 1985, S. 192–201 (195); B. Ambrosius/A. Klose/A. Braunroth, in: W. Däubler/M. Bertzbach (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. Handkommentar, 3.  Aufl. 2013, § 19 Rn. 57. 615 L. Dittrich, Verfassunsgrechtliche Vorgaben des Erbrechts, in: ZEV 2013, S. 14–20 (18).

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vermachen als seinen weiblichen Erben616. Über seine Beweggründe muss der Erblasser keine Rechenschaft ablegen617. Lediglich in begrenzten Einzelfällen, die aus besonderen Gründen als anstößig empfunden werden, kann eine letztwillige Verfügung gemäß § 138 BGB sittenwidrig sein618. Der Wille des Gesetzgebers, die Testierfreiheit darüber hinaus nicht durch den Gleichheitssatz einzuschränken, spiegelt sich auch in § 19 Abs. 4 AGG wieder. Die Vorschrift bestimmt, dass das AGG keine Anwendung auf familien- und erbrechtliche Schuldverhältnisse findet. Erbrecht im Sinne der Vorschrift meint alle privatrechtlichen Vorschriften, die die Weitergabe des Vermögens eines Menschen nach seinem Tod regeln619. Im Erbrecht gibt es demnach bewusst keinen absoluten Diskriminierungsschutz. Somit kann festgestellt werden, dass auch letztwillige Verfügungen, die nach den erbrechtlichen Grundsätzen des islamischen Rechts ausgestaltet sind, von der Rechtsprechung nicht zwingend als sittenwidrig angesehen würden620. Etwas anderes kann lediglich dann gelten, wenn kein Testament vorliegt und über das internationale­ Privatrecht eine islamisch geprägte Rechtsordnung zur Anwendung gelangt, die unabhängig vom Willen des Erblassers Frauen automatisch einen geringeren Erbteil zuspricht als Männern621.

616 Otte, Nichtigkeit (Fn.  614), S.  194; J. Neuner, Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, in: JZ 2003, S. 57–66 (59); S. Bittner, in: U. Rust/J. Falke (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz mit weiterführenden Vorschriften, 2007, § 19 Rn. 128; a. A. C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), S. 201–246 (236); siehe auch Suelmann, der eine direkte Wirkung des Art. 3 Abs. 2 GG zwischen Privaten annimmt und somit eine Differenzierung nach dem Geschlecht durch den Erblasser als Verstoß gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz ansieht (H.-G. Suelmann, Die Horizontalwirkung des Art.  3 II GG, 1994, S. 132 f.). 617 Bittner (Fn. 616), § 19 Rn. 128; Otte, Nichtigkeit (Fn. 614), S. 193. 618 BGHZ 70, 313 (325); 140, 118 (128 f.); D. Leipold, Testierfreiheit und Sittenwidrigkeit in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: C.-W. Canaris/A. Heldrich (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft Bd. 1 Bürgerliches Recht, 2000, S.  1011–1045 (1041). Eine Übersicht des Meinungsstandes zu möglichen Kriterien findet sich bei Otte, Nichtigkeit (Fn. 614), S. 194. Nach dem Bundesverfassungsgericht können insbesondere Ebenbürtigkeitsklauseln in Erbverträgen gemäß § 138 BGB sittenwidrig sein, da sie dazu geeignet sein können, die Eheschließungsfreiheit des als Nacherben eingesetzten Abkömmlings des Erblassers mittelbar zu beeinflussen (BVerfG NJW 2004, 2008–2011 [2010]). 619 J. Mohr, in: ders./K. Adomeit (Hrsg.), Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz: Kommentar zum AGG und zu anderen Diskrimminierungsverboten, 2. Aufl. 2011, § 19 Rn. 51. 620 Hierzu instruktiv OLG Hamm, ZEV 2005, 436. Das Gericht differenziert richtig zwischen der nicht zulässigen automatischen Anwendbarkeit ägyptischen Erbrechts über das internationale Privatrecht und der dennoch zulässigen Anwendbarkeit, wenn dies dem Willen des Erb­ lassers entsprach. 621 Eine Erörterung dieser Fallgestaltungen würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Hierzu sei verwiesen auf die akribisch recherchierte Arbeit von A. K. Pattar, Islamisch inspiriertes Erbrecht und deutscher Ordre public: Die Erbrechtsordnungen von Ägypten, Tunesien und Marokko und ihre Anwendbarkeit im Inland, 2007.

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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3. Scheidungsrecht Bedenken in Bezug auf das Gleichberechtigungsgebot wirft ferner das islamische Scheidungsrecht auf. Das Scheidungsrecht ist maßgeblich durch das einseitige Verstoßungsrecht des Mannes gekennzeichnet, das als diskriminierend zu qualifizieren ist und der Wertung des Art. 3 Abs. 2 GG zuwiderläuft622. Es ist Ausdruck eines Geschlechterverständnisses, das Frau und Mann nicht als gleichwertige Partner ansieht, sondern vielmehr die Frau als ein dem Mann untergeordnetes Wesen qualifiziert623. Allerdings wird im internationalen Privatrecht von deutschen Gerichten eine ordre public-Widrigkeit aufgrund eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz nur noch angenommen, wenn die Ehefrau mit der Ehescheidung nicht einverstanden ist624 und die Ehe auch nicht nach deutschem Recht geschieden werden könnte625. Dies liegt jedoch daran, dass Prüfungsgegenstand der ordre public-Prüfung nicht die abstrakte ausländische Norm ist626, sondern das Ergebnis ihrer Anwendung im konkreten Fall627, so dass die Entscheidungen keinesfalls implizit die diskriminierende Wirkung der islamischen Scheidungs­ regelungen in Frage stellen.

622 So auch AG Frankfurt NJW 1989, 1434; OLG Zweibrücken NJW-RR 2002, 581 (581); OLG Rostock NJOZ 2006, 3153 (3154); P. Winkler v. Mohrenfels, in: F. J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 10, 6. Aufl. 2015, Art. 1 Rom III–VO Rn. 12 f.; W. Bock, Der Islam in der Entscheidungspraxis der Familiengerichte, in: NJW 2012, S. 122–127 (125); bezogen auf das englische Recht sowie die Europäische Menschenrechtskonvention und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte der UN Freeland/Lau, Shari’a (Fn. 154), S. 342. 623 AG Frankfurt NJW 1989, 1434. Das Gericht bejaht sogar einen Verstoß gegen die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG. 624 BGHZ 160, 332 (344); OLG Hamm IPRax 1995, 174 (175); M. Bolz, Verstoßung der Ehefrau nach islamischem Recht und deutscher ordre public, in: NJW 1990, S. 620–622 (621 f.); Pauli, Erbrecht (Fn. 32), S. 38; a. A. noch AG Frankfurt NJW 1989, 1434, das ausführte: „Der im talaq liegende Verstoß gegen den ordre public kann nicht abhängig davon beurteilt werden, ob die verstoßene Ehefrau diesem Verfahren zustimmt. Bereits in dem Vorgang der Verstoßung selbst liegt ein die Ehefrau herabsetzender und entwürdigender Akt, dessen Grundrechtswidrigkeit noch dadurch verdeutlicht wird, daß er lediglich durch die Anwesenheit männlicher Zeugen wirksam wird. Die Zustimmung zu diesem Verfahren kann daher die Grundgesetzwidrigkeit des Vorganges nicht aufheben.“ Das Gericht begründet seine Auffassung auch damit, dass deutsche Gerichte aufgrund ihrer Aufklärungspflichten ggf. darauf hinweisen müssten, dass der Ausspruch des talaq schlüssig vorzutragen ist. Sie würden so indirekt zur Vollziehung des talaq und damit zu einem grundgesetzwidrigen Verhalten aufforden. 625 BGHZ 160, 333 (344); OLG München IPRax 1989, 238 (241); OLG Hamm IPRAX 2008, 353; Bolz, Verstoßung (Fn. 624), S. 621 f.; Pauli, Erbrecht (Fn. 32), S. 38. 626 J. v. Hein, in: F. J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 10, 6. Aufl. 2015, Art. 6 EGBGB Rn. 117. 627 Dies ergibt sich schon aus der Formulierung des Art. 6 S. 1 EGBGB: „Eine Rechtsnorm eines anderen Staates ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offentsichtlich unvereinbar ist.“ (Hervorhebung durch Verf.). Siehe auch BGHZ 120, 29; Bolz, Verstoßung (Fn. 624), S. 621; v. Hein (Fn. 626), Art. 6 EGBGB Rn. 117.

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Die in den informellen Verfahren durchgeführten religiösen Scheidungen entfalten jedoch wegen der in Deutschland geltenden obligatorischen Zivilehe628 und des verfassungsrechtlich wegen des Schutzes der Ehe gebotenen Scheidungsmonopols der Gerichte629 keine rechtliche Wirkung. Somit wird eine Beschäftigung der Gerichte mit der Frage, ob eine talāq Scheidung dem ordre public widerspricht oder sittenwidrig ist, außerhalb des internationalen Privatrechts praktisch nicht stattfinden. 4. Sorgerecht Auch die je nach Rechtsschule variierenden strikten Regelungen, die das Sorgerecht ab einem bestimmten Alter ausschließlich dem Mann zusprechen, sind mit der Wertung des Art. 3 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren630. Gleiches gilt für den Grundsatz, dass die Frau bei einer Wiederheirat in jedem Fall das Sorgerecht verliert. Im Hinblick auf Sorgerechtsfragen haben die Gerichte sich allerdings ohnehin maßgeblich am Kindeswohl zu orientieren. Nach § 1626 Abs. 1 BGB steht die elterliche Sorge grundsätzlich beiden Elternteilen zu. Gemäß § 1671 I BGB kann im Falle des Getrenntlebens, wenn ihnen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht, jeder Elternteil beantragen, dass ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein überträgt. Dem Antrag ist jedoch nur stattzugeben, soweit der andere Teil zustimmt oder zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entsprechen. Steht die elterliche Sorge im Falle des Getrenntlebens der Mutter zu, so ist dem Antrag des Vaters auf Übertragung des Sorgerechts gemäß § 1671 II BGB selbst bei Zustimmung der Mutter nur stattzugeben, wenn eine Übertragung nicht dem Wohl des Kindes widerspricht. Und auch wenn sich die Eltern über Sorgerechtsfragen einig sind, kann ein Vergleich gemäß § 157 Abs. 2 FamFG nur Wirksamkeit erlangen, wenn er dem Kindeswohl nicht widerspricht und gerichtlich gebilligt wird. Somit wird es auch hier nicht zu einer Überprüfung der Sittenwidrigkeit privatrechtlicher Sorgerechtsvereinbarungen kommen. Wenn ein Gericht überhaupt mit derartigen Sorgerechtsfragen befasst wird, trifft es seine Entscheidung nach dem Kindeswohl.

628

Hierzu instruktiv E. Koch, in: F.-J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 7 Familienrecht I, 6. Aufl. 2013, Einleitung Rn. 1 ff. 629 BVerfGE 53, 225; 55, 134; BGH NJW-RR 2008, 1169 (1172); G. Ey, in: F.-J. Säcker/ R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 7 Familienrecht I, 6. Aufl. 2013, Vorb. § 1564–1568 Rn. 29. 630 So auch Kammergericht NJW 1968, 361 (362); OLG Neustadt, FamRZ 1963, 51; einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 S. 2 bejaht OLG München NJW 1960, 1771.

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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5. Gewichtung männlicher und weiblicher Zeugenaussagen Schließlich ist an dieser Stelle der prozessrechtliche Grundsatz des islamischen Rechts zu nennen, nach dem dem Zeugnis eines männlichen Zeugen doppelt so viel Beweiskraft zugemessen wird wie dem Zeugnis einer weiblichen Zeugin631. Aufgrund der Wertung des Art. 3 Abs. 2 GG werden Vereinbarungen, die aufgrund einer solchen Verfahrensweise zustande kommen, regelmäßig sittenwidrig sein. Es wird jedoch immer zu prüfen sein, ob die Beteiligten sich freiwillig oder aufgrund eines wie auch immer gearteten faktischen Zwangs auf eine solche Vorgehensweise, an deren Ende eine vertragliche Vereinbarung steht, eingelassen haben. Nur im letzteren Fall kann von einer gestörten Verhandlungsparität der Vertragspartner ausgegangen und im Ergebnis eine Sittenwidrigkeit des jeweiligen Rechtsgeschäfts bejaht werden.

II. Zwischenergebnis Somit ist im Ergebnis festzustellen, dass viele auf islamischem Recht fußende letztwillige Verfügungen sowie erb- und eherechtliche Vereinbarungen im Hinblick auf die weite Dispositionsfreiheit, die das deutsche Recht hier gewährt, zumindest aufgrund ihres materiellen Inhalts nicht zu beanstanden wären. Die Sittenwidrigkeit von solchen Vereinbarungen kann sich jedoch aus der schon beschriebenen sozialen Zwanglage der Frauen ergeben, die sich de facto dem in der Gemeinde geltenden Recht unterordnen müssen. Islamische Regelungen des Scheidungs-, Sorge-, und Prozessrechts verstoßen allerdings gegen Art. 3 Abs. 2 GG. Zwar sind privat vereinbarte Scheidungen nicht rechtswirksam, und Sorgerechtsfragen werden von Gerichten ohnehin nach dem Kindeswohl beurteilt. Durch gesellschaftlichen oder familiären Druck kann der Einzelne jedoch an der Inanspruchnahme staatlicher Gerichte faktisch gehindert sein. Auch sind im Extremfall Situationen denkbar, in denen Frauen sich ihrer Rechte gar nicht bewusst sind, weil sie gegebenenfalls kein Deutsch sprechen, erst kurze Zeit in Deutschland leben oder an einem öffentlichen Leben außerhalb ihrer muslimischen Gemeinde nicht teilnehmen. So kann ein „gelebtes Recht“ entstehen, das den betroffenen Frauen in sensiblen rechtlichen Bereichen eine den Männern untergeordnete Rolle zuweist632. Im Folgenden soll untersucht werden, ob dem Staat Eingriffsmöglichkeiten gegeben sind, aufgrund derer er ein „gelebtes Recht“ unterbinden kann, das Frauen systematisch benachteiligt. 631

Siehe hierzu bereits oben Zweiter Teil A. III. 11. Siehe hierzu insbesondere Bayerisches Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hrsg.), „Paralleljustiz“ – Abschlussbericht auf der Grundlage der „Stoffsammlung“ vom 13. März 2012 und unter Einbeziehung der Ergebnisse des vom Bayerischen Staatsministerium für Justiz und für Verbraucherschutz einberufenen Runden Tisches „Paralleljustiz“ mit einer Anlage „Paralleljustiz“ – Maßnahmen der Vertrauensbildung und zur Sensibilisierung der Justizpraxis (Stand: November 2012) sowie das Interview mit Nazan Simsek im Anhang der Arbeit. 632

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

III. Eingriffsmöglichkeiten der Exekutive zur Durchsetzung der Gleichberechtigung In Frage kommt zunächst ein Eingriff der Ordnungsbehörde aufgrund der ordnungsrechtlichen Generalklausel in Verbindung mit Art.  3 Abs.  2 GG. Als Anknüpfungspunkt eines staatlichen Eingriffs durch die Exekutive erweist sich eine Verletzung des Art. 3 Abs. 2 GG jedoch in gleich mehrfacher Hinsicht als problematisch. Dies soll in den folgenden drei Schritten dargelegt werden: Da Grundrechte Private nicht verpflichten, scheidet die ordnungsbehördliche Generalklausel in Verbindung mit Art.  3 Abs.  2 GG als Eingriffsgrundlage aus (1.). Daneben könnte man auf die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates aus Art. 3 Abs. 2 GG abstellen. Ein Rückgriff auf grundrechtliche Schutzpflichten als Ermächtigungsgrundlage der Exekutive begegnet jedoch kompetenzrechtlichen Bedenken und ist daher grundsätzlich abzulehnen (2.) Schließlich kann Art. 3 Abs. 2 GG nicht unter das Teilschutzgut der Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen subsumiert werden (3.). 1. Keine Eingriffsbefugnis aus der ordnungsrechtlichen Generalklausel in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG Da keine spezialgesetzlichen Eingriffsgrundlagen in Betracht kommen, ist zu untersuchen, ob ein Eingriff über die ordnungsbehördliche Generalklausel in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG möglich wäre. Nach den Generalklauseln können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren633. Die öffentliche Sicherheit umfasst die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen, sowie der Ein­ richtungen und Veranstaltungen des Staates und der sonstigen Träger von Hoheitsgewalt634. Zunächst könnte Art. 3 Abs. 2 GG unter das Teilschutzgut der objektiven Rechtsordnung subsumiert werden. Unzweifelhaft ist die Verfassung als Spitze der Rechtsnormenhierarchie Teil der objektiven Rechtsordnung. Geschützt ist jedoch nicht die objektive Rechtsordnung an sich, sondern deren Unverletzlichkeit635. Damit der 633

Siehe beispielsweise § 14 OBG NW; § 1 PolG BW. Siehe nur W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 8.  Aufl. 2013, § 3 II 1 Rn.  53; F. Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: E. Schmidt Aßmann/ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 2. Kap., S. 125–308 Rn. 10; B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel/ T. Kingreen/R. Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2014, § 8 Rn. 3 ff.; H. Tegtmeyer/ J. Vahle, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen-Kommentar, 11. Aufl. 2014, § 1 Rn. 13.; W. Erbguth/ T. Mann/M. Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2015, Rn. 437 ff. 635 Legaldefinition zum Beispiel in § 2 Nr. 2 BremPolG. 634

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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Staat aufgrund der Generalklausel ermächtigt ist einzugreifen, muss also eine Verletzung der Rechtsordnung vorliegen. Durch Art. 1 Abs. 3 GG werden aber unmittelbar nur Träger öffentlicher Gewalt an die Grundrechte gebunden. Privatpersonen sind hingegen keine Grundrechtsadressaten, so dass Grundrechte nicht durch sie verletzt werden können636. Zu einem anderen Ergebnis könnte man hier nur gelangen, wenn man eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte auch zwischen Privaten annehmen würde637. Unmittelbare Drittwirkung wird jedoch nach allgemeiner Auffassung lediglich dem Schutz der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG zugesprochen638, um auf diese Weise eine Eingriffsmöglichkeit über die Generalklausel zu generieren639. Die grundsätzliche Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung würde allerdings „die vom Grundgesetz im allgemeinen und den Grundrechten im besonderen gewollte Privatautonomie im Kern zerstören und die grundrechtlichen Freiheiten zu einer umfassenden Pflichtenordnung denaturieren“640. Somit bleibt es dabei, dass Private Art. 3 Abs. 2 GG nicht „verletzen“ können. 2. Keine Eingriffsbefugnis aus der Schutzpflicht des Art. 3 Abs. 2 GG Fraglich ist, ob sich aus einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates eine Eingriffsbefugnis ergeben kann. Grundsätzlich leitet das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte 636 H. Klein, Zur Auslegung des Rechtsbegriffs der ‚öffentlichen Sicherheit und Ordnung‘, in: DVBl. 1971, S.  233–243 (237); G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht: Aspekte der­ Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion, 1987, S. 236; Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 3 II 1 Rn. 59 a. 637 Hauptvertreter der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung sind Hans Carl Nipperdey und Walter Leisner: L. Enneccerus/C. Nipperdey, Allgemeiner Teil  des Bürgerlichen Rechts § 15 II 5; ders., Boykott und freie Meinungsäußerung, in: DVBl. 1958, S, 445–452 (447); W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 285 ff. Das Bundesarbeitsgericht folgte der Lehre bis in die 1980er Jahre: BAGE 1, 185 (193); 13, 168 (174 f.); 31, 67 (71 f.). Die Vertreter der Lehre der unmittelbaren Drittwirkung stützten sich primär auf drei Argumente: Erstens auf die Durchsetzung der Grundrechte im gesellschaftflichen Leben und damit die Sicherung ihrer effektiven Geltung, zweitens darauf, dass soziale Gewalten den Einzelnen in seinen Rechtspositionen genauso gefährden können wie der Staat, drittens auf das historische Argument der Entstehung der Grundrechte als allseitige Rechte (M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, 2001, S. 12 f.). 638 BAGE 38, 69 (80 f.); C. Herdegen, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 1 Abs. 1 (2009) Rn. 74; C. Hillgruber, in: ders./V. Epping (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, Art. 1 (2015) Rn. 8. 639 BVerwGE 115, 189 (199); siehe hierzu instruktiv T. Aubel, Das Menschenwürde-­Argument im Polizei- und Ordnungsrecht, in: Die Verwaltung 37 (2004), S. 229–253 (238 f.). Art. 9 Abs. 3 S. 1 i. V. m. Abs. 1 entfaltet ebenfalls unmittelbare Drittwirkung, was sich schon aus dem Wortlaut der Norm ergibt. 640 Dreier (Fn. 356), Vorb. Rn. 98 m. w. N. zur ganz herrschenden Ansicht in Fn. 468 und 470, auch zur Entstehung des Drittwirkungsbegriffs.

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eine staatliche Schutzpflicht her, grundrechtlich geschützte Freiheiten und Güter vor rechtswidrigen Übergriffen nichtstaatlicher Dritter zu schützen641. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hierzu betreffen überwiegend das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG642. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darüber, dass grundsätzlich alle Freiheitsrechte eine Schutzpflichtendimension aufweisen643. Dem Gleichheitssatz werden hingegen teilweise überhaupt keine Schutzpflichten entnommen644. Dem ist in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG ohne Einschränkungen zuzustimmen. Schon der Wortlaut, nach dem alle Menschen „vor dem Gesetz“ gleich sind, schließt die Anwendung auf Private aus, denn ihnen ist die Handlungsform des Gesetzes verschlossen645. Ob Art. 3 Abs. 3 GG eine staatliche Schutzpflicht entnommen werden kann, ist weniger einfach zu beantworten und dementsprechend umstritten646. Jedenfalls kann aber – und nur darauf kommt es hier im Ergebnis an – gerade Art. 3 Abs. 2 GG eine objektive Wertentscheidung des Verfassunggebers entnommen werden, aus der sich eine Schutzpflicht des Staates ableiten lässt647. Art.  3 Abs.  2 GG stellt gleichsam ein Gleichberechtigungsgebot für die gesellschaftliche Wirklichkeit auf, 641

BVerfGE 39, 1 ff.; 46, 160 (164 f.); 49, 24 (53); 49, 89 (142); 66, 39 (61); 85, 191 (212); 87, 363 (386); 125, 39 (78); zu den Schutzpflichten aus der Literatur etwa: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  3/1, Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, S. 931 ff.; E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, in: NJW 1989, S. 1633–1640; C. Calliess, Schutzplichten, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, Grundrechte in Deutschland: Allgemeine Lehren I, 2006, § 44, jeweils m. w. N. 642 Schutz des werdenden Lebens (BVerfGE 39, 1, 42; 88, 203 [251]); Schutz vor terroris­ tischen Anschlägen (BVerfGE 46, 160 [164]); Schutz vor atomaren Gefahren (BVerfGE 53, 30 [57 ff.]); Schutz vor Gefahren aus Nachtarbeit (BVerfGE 85, 191 [212]). 643 Hierzu etwa H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR (110) 1985, S. 363–397; Stern, Staatsrecht Bd. 3/1 (Fn. 641), S. 943 f.; Dreier (Fn. 356), Vorb. Rn. 104; jeweils m. w. N. 644 G. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche: Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der grundrechtlichen Schutzpflichten und ihre Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Fundierung des Verbrauchervertragsrechts, 2003, S. 186; ebenso J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. IV: Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, § 191 (S. 413–568), Rn. 222, nach dem sich aber Maßstäbe für soziale Schuztpflichten ergeben können; die Frage offenlassend: U. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: Eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes, 2. Aufl. 1996, S. 201. 645 Krings, Grund (Fn. 644), S. 186. 646 Schutzpflicht verneint: Krings, Grund (Fn. 644), S. 186; Schutzpflicht bejahen: T. Bezzen­ berger, Ethnische Diskriminierung, Gleichheit und Sittenordenung, in: AcP 196 (1996), S. 395–434 (410); J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 84; I. Schmidt, in: R. Müller-Glöge/U. Preis (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016, Einl. GG Rn. 41. 647 BVerfGE 89, 276 (286); 97, 332 (348); Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 646), S. 84; Starck (Fn. 305), Art. 3 Abs. 1 Rn. 295; Dieterich/Schmidt, Arbeitsrecht (Fn. 646), Einl. GG Rn. 41; W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 67.

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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in der die Gleichberechtigung der Geschlechter durchgesetzt werden soll648. Aus dieser objektiven Wertentscheidung kann die Rechtspflicht des Staates abgeleitet werden, Frauen vor einer faktischen Diskriminierung durch nichtstaatliche Dritte zu schützen649. Fraglich ist jedoch, ob der grundrechtliche Schutzauftrag eine Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe der Exekutive in Freiheitsrechte darstellt. Im Folgenden sollen zwei Entscheidungen umrissen werden, in denen Eingriffsbefugnisse unmittelbar aus der Schutzaufgabe des Staates abgeleitet wurden. Zum einen ist dies eine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes, in der das Gericht aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 GG ein Verbot der Einrichtung und des Betriebes gentechnischer Verfahren und Anlagen herleitete650. Zum anderen ist in diesem Zusammengang die Schleyer-Entscheidung651 des Bundesverfassungsgerichts zu nennen. Hier nahm das Bundesverfassungsgericht  – wenn auch nur hypothetisch – ebenfalls eine Eingriffsbefugnis der Exekutive aus der sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebenden staatlichen Schutzpflicht an. a) Das Gentechnik-Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 GG ein generelles Verbot des Betreibens von Anlagen, in denen mit gentechnischen Methoden gearbeitet wird, hergeleitet. Zwar wird in der Entscheidung anerkannt, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, im Rahmen seiner Kompetenz die von ihm für zweckmäßig erachtete Entscheidung zu treffen. Es könne nicht Aufgabe der anderen Staatsgewalten sein, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten652. Das Gericht wirft dann jedoch die Frage auf, wie zu verfahren sei, wenn ein die Schutzpflicht konkretisierendes Gesetz fehlt653. Es kommt zu dem Ergebnis, dass sich in diesem ­ ewerbefreiheit Fall das Verhältnis von prinzipieller Forschungs-, Berufs-, und G

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BVerfGE 89, 276 (285). Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 646), S. 85. 650 VGH Kassel JZ 1990, 88 mit Anm. H. H. Rupp; NJW 1990, 336; Vorinstanz VG Frankfurt NVwZ 1989, 1097. Hierzu kritisch: H. Sendler, Gesetzes- und Richtervorbehalt im Gentechnikrecht, in: NVwZ 1990, S. 231–236 passim; M. Rose, Gentechnik und Vorbehalt des Gesetzes, in: DVBl. 1990, S. 279–282 (280 ff.). 651 BVerfGE 46, 160. 652 VGH Kassel JZ 1990, 88 (91). 653 Ob hier tatsächlich ein die Schutzpflicht konkretisierendes Gesetz fehlt, wie es der Hes­ sische Verwaltungsgerichtshof annimmt, ist jedoch zu bezweifeln. Denn Leben und körperliche Unversehrtheit sind über das Teilschutzgut ‚subjektive Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen‘ in der polizeilichen bzw. ordnungsbehördlichen Generalklausel geschützt. Im Ergebnis wäre das Vorliegen einer konkreten Gefahr allerdings wohl zu verneinen gewesen. Dies ändert aber nichts daran, dass grundsätzlich ein die Schutzpflicht konkretisierendes Gesetz sehr wohl vorlag. 649

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und damit einhergehender besonders begründungsbedürftiger Beschränkung angesichts der überragenden Bedeutung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit mit der Folge umkehre, dass die Nutzung einer Technologie wegen i­hrer weitreichenden Auswirkungen auf die Menschen einer besonderen Zulassung durch den Gesetzgeber bedürfe654. Die Konsequenz dieser Aussage ist, dass die Schutzdimension der Grundrechte die grundrechtlichen Freiheiten anderer verfassungsunmittelbar einschränken kann655. Einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf es demnach nicht, vielmehr kann beispielsweise das Fachgericht die direkte Einschränkung grundrechtlicher Freiheitsrechte feststellen656. In dogmatischer Konsequenz wäre demnach auch ein Eingriff der Verwaltung zuzulassen, der sich ausschließlich auf die Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 GG stützt. b) Das Schleyer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Auch in der Schleyer-Entscheidung scheint das Bundesverfassungsgericht implizit eine direkte Eingriffsbefugnis der Judikative bzw. Exekutive aus der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates anzunehmen657. Hanns Martin Schleyer, damaliger westdeutscher Arbeitgeberpräsident, wurde im Jahr 1977 durch die Rote Armee Fraktion entführt. Mit seiner Entführung sollte die Freilassung inhaftierter Mitglieder der Terrororganisation erpresst werden. Der Sohn des Entführten beantragte beim Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung gegen die Bundesregierung und die betroffenen Landesregierungen, die Freilassungen der inhaftierten RAF-Mitglieder zu veranlassen. Im Ergebnis wurde der Antrag aufgrund des weiten Gestaltungsspielraumes, der bei Schutzpflichten nur durch das Untermaßverbot begrenzt ist, verneint. Den „zuständigen staatlichen Organen“ könne keine Entschließung vorgeschrieben werden658. Da das Gericht die Art der vorzunehmenden Maßnahme diskutiert, scheint es vorauszusetzen, dass die Exekutive grundsätzlich befugt gewesen wäre zu handeln, auch wenn ein dementsprechendes Gesetz fehlte. Zu beachten ist hier allerdings, dass der Staat, hätte er den Forderungen entsprochen und die Terroristen freigelassen, nicht in Abwehrrechte Dritter eingegriffen hätte. Denn die durch die Freilassung geschaffene, abstrakte Gefahr, dass die Freigelassenen wieder terroristischer Aktivität nachgehen würden, hätte noch keinen Eingriff dargestellt659. Daher unterscheidet sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erheblich von dem soeben beschriebenen Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs. Insbesondere greifen hier auch nicht die im Folgenden darzustellenden Bedenken gegen eine un-

654

VGH Kassel JZ 1990, 88 (89). R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553–563 (555). 656 Wahl/Masing, Schutz (Fn. 655), S. 555. 657 Wie hier Stern, Staatsrecht Bd. 3/1 (Fn. 641), S. 952. 658 BVerfGE 46, 160 (165). 659 So zutreffend auch Krings, Grund (Fn. 644), S. 265. 655

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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mittelbar aus Schutzpflichten hergeleitete Eingriffsbefugnis. Das Vorgehen gegen informelle religiöse Verfahren würde hingegen immer Abwehrrechte Dritter beschränken. So würde der Staat beispielsweise durch eine Untersagungsverfügung jedenfalls bei allen Beteiligten die allgemeine Handlungsfreiheit und gegebenenfalls das Recht auf Religionsfreiheit beschränken. c) Kritik an grundrechtlichen Schutzpflichten als unmittelbarer Eingriffsgrundlage Die Ableitung von unmittelbaren Eingriffsbefugnissen aus grundrechtlichen Schutzpflichten ist  – jedenfalls soweit durch den Eingriff Abwehrrechte Dritter beschränkt werden – problematisch. Die Möglichkeit eines verfassungsunmittelbaren Eingriffs der Exekutive würde zu einer de facto-unmittelbaren Dritt­wirkung der Grundrechte führen. Außerdem verbietet es der Vorbehalt des Gesetzes, dass die Exekutive anstelle der Legislative über die Möglichkeit von Eingriffen in grundrechtliche Abwehrrechte entscheidet660. Neben der Drittwirkungsproblematik sind es also vor allem kompetenzrechtliche Bedenken, die gegen einen durch grundrechtliche Schutzpflichten legitimierten Eingriff der Exekutive in Freiheitsrechte Dritter sprechen. Denn die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten fällt primär dem Gesetzgeber zu. Dieser muss entscheiden, in welchen Konstellationen er Grundrechtsgüter auch in privatrechtlichen Beziehungen schützen will. Wird bei der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten in Grundrechtspositionen Dritter eingegriffen, muss der Gesetzgeber eine dementsprechende Norm erlassen661. Zwar hat die Rechtsprechung Pflichten zum Tätigwerden der Exekutive gegenüber rechtswidrigen Störungen durch Privatpersonen begründet662. Die Grundrechte waren hierbei aber nicht die alleinige Rechtsgrundlage, sondern wurden nur bestärkend herangezogen663. Die aus den Grundrechten abzuleitenden Schutzpflichten sind grundsätzlich durch die Gesetzgebung zu konkretisieren664. Sie sind „gesetzesmediatisiert“665. Wann bei Grundrechtskonflikten zwischen Bürgern eine 660 Zu dieser Argumentationslinie Krings, Grund (Fn. 644), S. 284 f., der von einem „doppelten rechtsstaatlichen Sündenfall“ spricht, sowie Wahl/Masing, Schutz (Fn. 655), S. 555. Horn sieht den Bezug auf den Vorbehalt des Gesetzes hier als deplatziert an, das Schutzverhältnis zwischen Staat und Opfer dürfe nicht fälschlicherweise mit dem Eingriffsverhältnis zwischen Staat und Störer vermengt werden (H.-D. Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung: Zur Dogmatik des Verhältnisses zwischen Gesetz, Verwaltung und Individuum unter dem Grundgesetz, 1999, S. 155 [160]). 661 BVerfGE 39, 1 (44); Klein, Schutzpflicht (Fn.  641), S.  1640; Wahl/Masing, Schutz (Fn.  655), S.  559; R. Störmer, Renaissance der öffentlichen Ordnung?, in: Die Verwaltung 30 (1997), S. 233–257 (233); Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn. 639), S. 235; Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 646), S. 67; Isensee: Grundrecht (Fn. 644), § 111 Rn. 281 ff. 662 BVerwGE 11, 95 (97); 37, 112 (112). 663 So zutreffend Stern, Staatsrecht Bd. 3/1 (Fn. 641), S. 944 f. 664 Stern, Staatsrecht Bd. 3/1 (Fn. 641), S. 951. 665 Isensee, Grundrecht (Fn. 644), § 111 Rn. 284; Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 646), S. 67.

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rechtswidrige Verletzung vorliegt, richtet sich nach dem einfachen Recht. Die Grundrechte ermächtigen den Gesetzgeber, „konflikt- und kollisionsregelnd“ Gesetze zu erlassen, aufgrund derer Grundrechtseingriffe stattfinden können666. Nicht per se ausgeschlossen werden soll jedoch, dass in Einzelfällen eine Art „Notbefugnis“ bestehen mag, weil grundrechtlichen Gütern eine solche Gefahr droht, dass ohne staatliches Eingreifen private Notwehr legitim wäre, jedwede gesetzliche Grundlage aber fehlt und dem Staat daher nur noch die Möglichkeit bleibt, entweder die grundrechtliche Schutzpflicht zu verletzen oder grundrechtlich legitim, aber ohne legale Befugnis zu handeln667. Eine solche Notbefugnis wird sich jedoch vor allem dann ergeben, wenn die Gefahr erheblicher irreversible Schädigungen besonders hoher Rechtsgüter, beispielsweise des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit, besteht668. Auch die oben beschriebenen Urteile betrafen die Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG. Darüber hinaus besteht grundsätzlich kein Spielraum für einen Rückgriff auf das Grundgesetz669. Grundrechtliche Schutzpflichten sind Aufgabennormen, die grundsätzlich nicht eingriffsbezogenen Befugnisnormen gleichgestellt werden dürfen670. Insbesondere im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 GG ist eine unmittelbare Eingriffsbefugnis der Exekutive grundsätzlich zu verneinen. Im Rahmen der Gleichheitsrechte tritt besonders deutlich zu Tage, dass Private nicht an Grundrechte gebunden sind671. Jedes Rechtsgeschäft unter Lebenden und jede letztwillige Verfügung von Todes wegen, die gleiche Sachverhalte ohne sachlichen Grund ungleich behandelt, wäre ansonsten unwirksam. Damit wären sowohl Vertrags- als auch Testierfreiheit beseitigt672. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass Art. 3 GG auch in der Drittwirkungsdiskussion seit jeher eine besondere Rolle eingenommen

666 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 8 Rn. 17. Grundlegend zu dem Konflikt zwischen dem in der demokratischen Legitimationsvermittlung durch Gesetzesbindung begründeten Entscheidungsanspruch des parlamentarischen Gesetzgebers und der aus der Grundrechtsbindung der Verwaltung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG folgenden un­ mittelbar-materiellen Rechtspflicht der vollziehenden Gewalt: Horn, Verwaltung (Fn.  660), passim. 667 Diese Voraussetzungen stellt Isensee für eine Eingriffsbefugnis aus grundrechtlichen Schutzpflichten auf (Isensee, Grundrecht [Fn. 644], § 191 Rn. 308); ähnlich auch Horn, Verwaltung (Fn. 660), S. 270 f. 668 Ähnlich wie hier Krings, Grund (Fn. 644), S. 290. 669 Wie hier Aubel, Laserdrome (Fn. 678), S. 259; Pieroth/Schlink/Kniese/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  634), § 8 Rn.  17. Für eine Differenzierung zulässiger staatlicher Maßnahmen aus Schutzpflichten je nach betroffenem Schutzgut auch Stern, Staatsrecht Bd.  3/1 (Fn. 641), S. 952. 670 So zutreffend Dietlein, Schutzpflichten (Fn. 646), S. 68. 671 Wie hier Bezzenberger, Diskriminierung (Fn.  646), S.  404; zur besonderen Bedeutung des Art. 3 GG im Rahmen der Drittwirkungsproblematik: Stern, Staatsrecht Bd. 3/1 (Fn. 641), S. 1580 ff. 672 So zutreffend Bezzenberger, Diskriminierung (Fn. 646), S. 403.

D. Eingriff aufgrund der Verletzung des Gleichheitssatzes

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hat673. Die grundrechtliche Werteordnung geht grundsätzlich von einer „Präpon­ xekutive deranz der Freiheit“674 aus.  Die Annahme einer Eingriffsbefugnis der E aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Art. 3 Abs. 2 GG würde (freilich überspitzt formuliert) dazu führen, dass die Ordnungsbehörde es beispielsweise einem Vermieter untersagen könnte, eine Wohnung an eine von ihm ausgesuchte weibliche Person zu vermieten, sofern nur nachzuweisen ist, dass er prinzipiell Frauen als Mieterinnen bevorzugt. Ebenso könnte es einem Frisör untersagt werden, für einen Damenhaarschnitt einen höheren Preis zu verlangen als für denselben Herrenhaarschnitt. Da Art. 3 Abs. 2 GG ein absolutes Differenzierungsverbot begründet, könnte die Exekutive bei jedem Verstoß gegen den Gleichheitssatz durch Private eingreifen. Man könnte nun meinen, dieser uferlosen Eingriffsbefugnis durch eine Begrenzung auf erhebliche oder besonders folgenschwere Eingriffe entgegenwirken zu können. Auch dies würde jedoch zu einer der Exekutive nicht zustehenden Entscheidungsbefugnis führen. Heinz-Gerd Suelmann stellt in seiner Begründung zu einer unmittelbaren Drittwirkung des Art. 3 Abs. 2 GG die These auf, ein Abgrenzungsproblem zwischen erheblichen und unerheblichen Eingriffen ergebe sich erst gar nicht, da sich im Privatrechtsverkehr jeweils grundrechtsberechtigte Private gegenüberstünden. Die Grundrechtskonkurrenz löse sich dann durch die Herstellung eines schonenden Ausgleichs im Wege praktischer Kon­ kordanz675. Gerade im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 GG werden sich hier jedoch oft keine zwingenden Ergebnisse in den Kategorien richtig oder falsch finden lassen. Inwiefern der Privatautonomie oder wie in den hier zu untersuchenden Konstellationen auch der Religionsfreiheit der Vorrang vor einem absoluten Gleichbehandlungsgebot gegeben werden muss, ist immer auch eine Wertungsfrage. Nach der hier vertretenen Ansicht ist diese Frage aber nicht durch die Exekutive, also beispielsweise durch die Ordnungsbehörden zu beantworten. Will der Staat, dass das Verbot der Geschlechterdiskriminierung in bestimmten Bereichen auch zwischen Privaten gilt, so muss er dies gesetzlich festschreiben. Im Allgemeinen Gleich­ behandlungsgesetz hat sich der Gesetzgeber bereits ausdrücklich für eine Geltung des Art. 3 GG zwischen Privaten in verschiedenen Bereichen des Zivilrechts entschieden. Das Gesetz verbietet die Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität im Arbeitsrecht sowie in bestimmten Bereichen des allgemeinen Zivilrechts.  Im allgemeinen Zivilrecht gilt das AGG gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 8 in Sachverhalten, die den Zugang und die Versorgung mit der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Gütern und Dienstleistungen betreffen. Gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG fallen hierunter jedoch nur solche 673 So Stern, Staatsrecht Bd. 3/1 (Fn. 641), S. 1580; hierzu: W. Böckenförde, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgabe des Richters. Ein Beitrag zur Frage der Justitiabilität von Art. 3 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes 1957, S. 18 ff. sowie G. Hueck, Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Privatrecht, 1958, S. 95 ff. 674 G. Dürig/R. Scholz, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, Art. 3 Abs. 1 (1996) Rn. 135. 675 Suelmann, Horizontalwirkung (Fn. 616), S. 129.

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Geschäfte, die „typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen“. Außerdem fallen gemäß § 19 I Nr. 2 AGG Rechtsgeschäfte, die „eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben“ in den Anwendungsbereich des Gesetzes. Der Gesetzgeber hat also bewusst Individualgeschäfte vom Anwendungsbereich des AGG ausgenommen. Darüber hinaus bestimmt das Gesetz in § 19 IV AGG klarstellend, dass das AGG keine Anwendung auf familien- und erbrechtliche Schuldverhältnisse findet. Das Familienrecht im Sinne des AGG umfasst alle Rechtsverhältnisse der durch Ehe und Verwandtschaft miteinander verbundenen Personen. Erbrecht im Sinne des AGG meint alle privatrechtlichen Vorschriften, die die Weitergabe des Vermögens eines Menschen nach seinem Tod regeln676. Im Ehe- und Partnerschaftsrecht gibt es daher nach einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers keinen über die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte hinausreichenden Diskriminierungsschutz677. d) Keine Eingriffsbefugnis aus der ordnungsrechtlichen Generalklausel in Verbindung mit einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 2 GG Auch ein Rückgriff auf die ordnungsrechtliche Generalklausel löst die darge­ stellte Kompetenzproblematik nicht auf. Die Generalklausel ist keine die Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 2 GG konkretisierende Eingriffsnorm. Die Generalklausel verlangt vielmehr eine weitere Rechtsnorm im Sinne einer Gebots- oder Verbotsnorm, die sich an Private richtet und durch diese verletzt werden kann. Dies kann aber wiederum nicht die grundrechtliche Schutzpflicht für sich genommen sein, genauso wenig, wie dies ein Grundrecht für sich genommen sein kann. Grundrechte sprechen implizit ein Eingriffsverbot in den jeweiligen Schutzbereich aus, das sich unmittelbar nur an die staatliche Gewalt richtet. Die grundrechtlichen Schutzpflichten begründen hierzu spiegelbildlich ein Gebot, die Unverletzlichkeit des jeweiligen Schutzbereiches sicherzustellen. Dieses Gebot richtet sich aber ebenfalls direkt und unmittelbar ausschließlich an die staatliche Gewalt, so dass Schutzpflichten nur durch staatliche Gewalt verletzt werden können. Private können hingegen nicht gegen grundrechtliche Schutzpflichten verstoßen678. 676

Mohr (Fn. 619), § 19 Rn. 51. Hierzu auch bereits oben Zweiter Teil D. I. 2. Mohr (Fn. 619), § 19 Rn 50. 678 So ausdrücklich auch Aubel, Das menschenunwürdige Laserdrome, in: Jura 2004, S. 255–260 (258) sowie Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  634), § 8 Rn.  17 und Schenke, der zwar feststellt, dass die Grundrechte Teil der öffentlichen Sicherheit seien, als solche aber ebenso wie die grundrechtlichen Schutzpflichten nur durch den Staat verletzt werden können, Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 638), § 3 Rn. 59a; siehe hierzu auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl. 1996, S. 412. Schutzpflichten werden oft missverständlich mit der 677

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In der Terminologie des Ordnungsrechts könnte man auch formulieren, dass der Staat „Störer“ ist, wenn er seiner Schutzpflicht nicht nachkommt, nicht beispielsweise der Imam, der informelle diskriminierende Verfahren abhält. Damit die Generalklausel aber als taugliche Eingriffsgrundlage herangezogen werden könnte, müssten die betroffenen Privatpersonen eine Pflicht verletzen, die nicht lediglich an den Staat gerichtet ist. Es müsste also ein Gesetz erlassen werden, an das die Generalklausel im Rahmen der öffentlichen Sicherheit anknüpfen könnte. Es bleibt daher dabei, dass grundsätzlich nur Rechtsnormen durch die Generalklausel erfasst werden, die durch nichtstaatliche Dritte verletzt werden können679. Ein Rückgriff auf eine grundrechtliche Schutzpflicht im Rahmen des Teilschutzgutes der öffentlichen Sicherheit scheidet somit aus680. e) Mögliche Maßnahmen zur Erfüllung der Schutzpflicht ohne Eingriffe in Rechte Dritter Als Zwischenergebnis kann also festgestellt werden, dass Art.  3 Abs.  2  GG durchaus einen Schutzauftrag an den Staat ausspricht, der aber nicht zu gesetzeslosen Eingriffen der Exekutive in Rechte Dritter legitimiert. Dennoch muss der Staat seiner Schutzpflicht nachkommen. In der Wahl der Mittel ist ihm hier ein weiter Ermessensspielraum gelassen, der lediglich durch das sogenannte Übermaßverbot begrenzt ist681. Zum einen wird der Schutz betroffener Frauen bereits durch die Gerichte, die die unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht zu beachten haben, gewährt. Problematisch ist jedoch wiederum, dass viele Beteiligte gerichtlichen Schutz – sei es aus Unkenntnis oder Angst, den sozialen Anschluss an die Gemeinde zu verlieren – nicht in Anspruch nehmen. Hier könnte der Staat vor allem in Form von Aufklärung und Beratung seiner Schutzpflicht nachkommen, ohne dabei in Freiheitsrechte Dritter einzugreifen. In diese Kategorie sind die bereits erwähnten, vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz entwickelten Maßnahmen zur „Vertrauensbildung und zur Sensibilisierung der Justizpraxis“ einzuordnen. Im Rahmen der Veranstaltung „Runder Tisch Paralleljustiz“ haben sich verschiedene Arbeitsgruppen zum einen mit der Frage objektiven Wertentscheidung des Grundgesetzes gleichgesetzt und daher teilweise unter das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gefasst, siehe zum Beispiel C. Gröpl/C. Brandt, „Tötungsspiele“ und öffentlich-rechtliche Möglichkeiten zu ihrer Verhinderung, in: Verwaltungsarchiv 94 (2004), S. 223–256 (235). 679 K. Habermehl, Ordnungsrecht, 2. Aufl. 1993, Rn. 98; Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn.  639), S.  234; Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  634), § 8 Rn. 15, 17. 680 So ebenfalls Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn. 639), S. 234. 681 BVerfGE 77, 170 (215); 77, 381 (405); Klein, Schutzpflicht (Fn. 641), S. 1637; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.  3/2, Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1994, S. 1771; Jarass (Fn. 295), Vorb. Art. 1 Rn. 6.

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beschäftigt, wie durch Aufklärungsinitiativen und vertrauensbildende Maßnahmen die Entstehung einer Paralleljustiz präventiv verhindert werden kann. Zum anderen wurde erarbeitet, wie die Justizpraxis mit der Problematik Paralleljustiz vertraut gemacht werden kann682. Im Rahmen des Treffens hat sich wiederum gezeigt, dass Informations- und Vertrauensdefizite die maßgeblichen Ursachen des Ent­ stehens rechtlicher Parallelstrukturen sind683. Durch die Vermittlung von Kenntnissen über das deutsche Rechtssystem und die deutsche Rechtsordnung sowie über die Grenzen zulässiger außergerichtlicher Konfliktlösung und Gefahren einer Parallel­justiz soll „ein Beitrag dazu geleistet werden, dass die Schwelle zu den staatlichen Rechtsinstanzen leichter überschritten und Parallelstrukturen erst gar nicht in Anspruch genommen werden“. Im besten Fall könne, so der Abschlussbericht, „in den betreffenden Milieus die Überzeugung hergestellt werden, dass die deutsche Rechtsordnung den Interessen aller Beteiligten besser gerecht wird als das Normen- und Wertesystem, das ‚Friedensrichter‘ ihren Schlichtungsvereinbarungen zu Grunde legen“684. Zur Erarbeitung der Maßnahmen ist das Ministerium in Kontakt zu Vertretern verschiedenster Kulturkreise getreten. Die Maßnahmen sollen sich vor allem an Angehörige integrationsferner Migrantenmilieus und hier insbesondere an junge Menschen und deren Eltern sowie Autoritätspersonen der entsprechenden Milieus, beispielsweise Imame, richten685. Das Staatsministerium hat die geplanten Maßnahmen schon teilweise umgesetzt. Bei allen drei bayerischen Generalstaatsanwälten wurden bereits zentrale Ansprechpartner eingerichtet, um Informationen und Fachwissen zu bündeln686. Im August 2013 erschien eine mehrsprachige Informationsbroschüre mit dem Titel „So funktioniert die deutsche Rechtsordnung“, in der Hinweise zum deutschen Justizsystem gegeben und die Grenzen außergerichtlicher Konfliktlösung aufgezeigt werden687. Die Broschüren sollen über verschiedenste Einrichtungen verteilt werden, zum Beispiel über die Migrationsberatungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege, Imamweiterbildungsstätten, das Staatsinstitut für Schulqualität, Lehrerfortbildungsstätten, Schulen oder Integrationskurse688. Zur Sensibilisierung der Justiz wurde ferner ein Informationspapier an die Justizpraxis übermittelt, das sich in erster Linie an Staatsanwälte, Straf-, Ermittlungs- und Familienrichter richtet und Informationen zu dem ­Problemfeld Paralleljustiz sowie praktische Hinweise, wie der Paralleljustiz mit Hilfe der derzeitigen Gesetzesgrundlagen begegnet werden kann, ent 682

StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), S. 2. StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), S. 19; dieses Fazit zieht auch Schmied aus ihren Befragungen muslimischer Gemeindemitglieder in Österreich: M. Schmied, Familien­ konflikte zwischen Scharia und Bürgerlichem Recht. Konfliktlösungsmodell im Vorfeld der Justiz am Beispiel Österreichs, 1999, S. 191. 684 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), S. 20. 685 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), S. 20. 686 So der im Internet abrufbare Bericht des Ministeriums zur Fachtagung Paralleljustiz: http://www.justiz.bayern.de/ministerium/veranstaltungen/paralleljustiz/ (03.12.2015). 687 Die Broschüre ist abrufbar unter: http://www.justiz.bayern.de/media/pdf/paralleljustiz.pdf (03.12.2015). 688 StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), S. 21 Anlage S. 2. 683

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hält689. Außerdem sollen durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz „intensive Aufklärungsinitiativen, die gezielt auf junge Menschen setzen, um die Weitervermittlung patriarchalisch geprägter Wertvorstellungen empfindlich zu stören bzw. aufzubrechen“690 durchgeführt werden. Derartige Maßnahmen sind zu begrüßen. Sie setzen an den Ursachen an, die Parallelstrukturen entstehen lassen: mangelnde Kenntnis des deutschen Rechtssystems und der deutschen Rechtsordnung sowie mangelndes Vertrauen in das staatliche System. Daher können sie vor allem auf lange Sicht parallele Rechtsstrukturen wirksamer beseitigen als Verbotsmaßnahmen. Denn letztere werden mehrheitlich schon deshalb wirkungslos bleiben, weil religiöse Paralleljustiz im Verborgenen weiter agieren kann. Maßnahmen der Information und Vertrauensbildung wenden sich hingegen gegen die Ursachen und versuchen Paralleljustiz schon präventiv zu verhindern.  3. Einordnung des Gleichheitssatzes unter das Teilschutzgut der Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen – Problematik der Subsidiaritätsklausel Letztlich könnte die Möglichkeit bestehen, den Gleichheitssatz als Individualrecht unter das Teilschutzgut der öffentlichen Sicherheit zu fassen. Der individualschützende Bereich der öffentlichen Sicherheit umfasst nach seiner ursprünglichen Definition, die auf die Begründung zu § 14 PreußPVG zurückgeht, lediglich die Rechtsgüter Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen691. Teilweise wird der Bereich der geschützten Individualrechtsgüter weiterhin auf die genannten Rechtsgüter beschränkt692. Größtenteils wird jedoch vertreten, dass sich der Individualschutz heute auch auf Grundrechte bezieht693. Geschützt seien solche Grundrechte, „die ihrer Art nach gegen Beeinträchtigungen durch Dritte geschützt sind“694. Genannt werden hier meist das Grundrecht auf ungestörte ­Religionsausübung (Art. 4 II GG)695­ 689

StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), S. 22. StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 632), Anlage S. 6 f. 691 Die Gesetzesbegründung ist abgedruckt bei W. Franzen, Lehrkommentar zum Polizeiverwaltungsgesetz, 1932, S. 81. 692 W. Frotscher, Der Schutz der Allgemeinheit und der individuellen Rechte im Polizei- und Ordnungsrecht, in: DVBl. 1976, S. 695–705 (696); Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 3 II 1 Rn. 53. 693 Habermehl, Ordnungsrecht (Fn. 679), Rn. 94; E. Wagner/K.-H. Ruder, Polizeirecht, 1999, S. 138; G. Erbel, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, in: DVBl. 2001, S. 1714–1724 (1720); K. Reitzig, Die polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdach­ loser, 2004, S. 38; D. Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, Kap. 5 Rn. 59; V. Götz, Allgemeines Poizei- und Ordnugsrecht, 15. Aufl. 2013, § 4 Rn. 19; zur Sicherung des ungehinderten Vorlesungsbesuches bei Blockaden von Lehrveranstaltungen OVG Hamburg NJW 1977, 1254; Robbers, Sicherheit (Fn. 636), S. 236. 694 Götz, Ordnungsrecht (Fn. 693),§ 4 Rn. 18. 695 Reitzig, Beschlagnahme (Fn. 693), S. 38; Götz, Poizei- und Ordnugsrecht (Fn. 693), § 4 Rn. 19. 690

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sowie die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)696, vereinzelt aber auch das allgemeine Wahlrecht697 und das Recht auf Meinungsfreiheit698. Das Recht auf Gleichbehandlung wird hingegen regelmäßig nicht als Individualrechtsgut genannt. Der entscheidende Unterschied zu den genannten Grundrechten besteht darin, dass der Gleichheitssatz zwischen Privaten nur in privaten vertraglichen Beziehungen zum Tragen kommen kann. An dieser Stelle wird die grundsätzliche Problematik, die sich hinter der Frage eines initiativen staatlichen Eingriffs aufgrund einer Ungleich­ behandlung der Geschlechter zwischen Privaten stellt offenbar: Für den Schutz privater Rechte sind primär die Gerichte zuständig699. Demgemäß bestimmen auch die in den Ordnungs- und Polizeigesetzen niedergelegten Privatrechtsklauseln, dass der Schutz privater Rechte den Polizei- und Ordnungsbehörden nur dann obliegt, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist und wenn ohne polizeiliche bzw. ordnungsbehördliche Hilfe die Verwirklichung des Rechts Gefahr liefe, vereitelt oder wesentlich erschwert zu werden700. Bei den informellen religiösen Verfahren liegen die Sachverhalte doch gerade so, dass die Parteien, sofern sie die Vereinbarungen überprüfen lassen wollten, die Gerichte in Anspruch nehmen können. Gerichtlicher Schutz wird auch regelmäßig rechtzeitig zu erlangen sein, und eine Vereitelungsgefahr wird in den meisten Fällen nicht vorliegen. Die Privatrechtsklauseln sind ferner nur dann einschlägig, wenn ausschließlich der Schutz privater Rechte betroffen ist. Bei Individualrechtsgütern wie Leib, Leben, Freiheit, Ehre und Eigentum sind Angriffe regelmäßig auch strafrechtlich oder sonst öffentlich-rechtlich sanktioniert, so dass ein Eingriff der Polizeioder Ordnungsbehörden schon aufgrund einer Verletzung der straf- oder öffentlich-rechtlichen Rechtsordnung möglich ist701. Hingegen kann es  – im Einklang mit dem oben schon Gesagten – nicht ausreichen, dass sich alle privaten Rechte im Ergebnis den Grundrechten zuordnen lassen und sich aus allen Grundrechten auch Schutzpflichten ergeben702. Die grundrechtlichen Schutzpflichten können nicht die einfach-rechtliche Rechtsordnung und somit die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht außer Kraft setzen703. Eine Einordnung des Gleichheitssatzes als Individualrechtsgut würde somit leerlaufen, da eine 696 Habermehl, Ordnungsrecht (Fn. 679), Rn. 94; Reitzig, Beschlagnahme (Fn. 693), S. 38; Götz, Poizei- und Ordnugsrecht (Fn. 693), § 4 Rn. 19. 697 Götz, Poizei- und Ordnugsrecht (Fn. 693), § 4 Rn. 19. 698 Habermehl, Ordnungsrecht (Fn. 679), Rn. 94. 699 Frotscher, Schutz (Fn.  692), S.  699; Habermehl, Ordnungsrecht (Fn.  679), Rn.  95; H.-M. Wolffgang/M. Hendricks/M. Merz, Polizei- und Ordnungsrecht Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl. 2011, Rn. 56. 700 Siehe beispielsweise § 1 Abs.  2 PolG NW. Dort, wo die Privatrechtsklausel nur für die Polizei festgeschrieben ist, gilt sie dennoch für die Ordnungsbehörden ebenso (Pieroth/Schlink/ Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht [Fn. 634], § 5 Rn. 42). 701 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 5 Rn. 43. 702 So zutreffend Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  634), § 5 Rn. 43. 703 So zutreffend Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  634), § 5 Rn. 43.

E. Eingriff aufgrund einer Verletzung der öffentlichen Ordnung

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Verletzung durch Private ausschließlich innerhalb vertraglicher Beziehungen geschehen kann, zu deren Kontrolle jedoch die Gerichte und nicht die Polizei- oder Ordnungsbehörden berufen sind. 4. Ergebnis Im Ergebnis kann somit keine initiative Eingriffsmöglichkeit der Polizei- oder Ordnungsbehörden in Rechte Dritter aus Art. 3 Abs. 2 GG hergeleitet werden, wenn sich Frauen in informellen Schlichtungen auf diskriminierende privatrechtliche Vereinbarungen einlassen. Sowohl die Grundrechtsvorschrift selbst als auch eine aus ihr abzuleitende grundrechtliche Schutzpflicht kann nicht durch Private verletzt werden. Daher scheidet insoweit eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit aus. Ein direkter Rückgriff auf die grundrechtliche Schutzpflicht begegnet kompetenzrechtlichen Bedenken und würde zu einer de facto-unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte führen. Letztlich liegt auch keine Verletzung subjektiver Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen vor. Ohnehin sind „Verletzungen“ des Gleichheitssatzes durch Private ausschließlich in vertraglichen Beziehungen vorstellbar, zu deren Kontrolle aber die Gerichte und nicht die Polizei- und Ordnungsbehörden berufen sind. Möglich und ohnehin effektiver sind Information und Aufklärung von Angehörigen der betroffenen Migrantenmilieus sowie die Sensibilisierung der Justiz.

E. Eingriff aufgrund einer Verletzung der öffentlichen Ordnung Durch die informellen Verfahren könnten die Beteiligten jedoch gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Rechtsprechung, Literatur sowie einige neuere Polizeigesetze knüpfen an die durch die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vorgenommene Konkretisierung des Begriffs an und verstehen unter der öffentlichen Ordnung „die Gesamtheit der im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung liegenden ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens ist“704. Die öffentliche Ordnung schützt demnach nicht die Unverletzlichkeit von Rechtsnormen, sondern von Sozialnormen705. Die öffentliche Ordnung wird geprägt 704 PrOVGE 91, 139 (140) „Damenboxkämpfe“. Siehe auch bereits die Gesetzesbegründung zum Polizeiverwaltungsgesetz von 1931, abgedruckt bei Franzen (Fn. 691), S. 81 f. sowie aus der neueren Rechtsprechung etwa OVG NW NWVBl. 1995, 473 (474). Legaldefinitionen finden sich in § 3 Nr. 2 SOG LSA sowie § 54 Nr. 2 thürOBG. Lediglich die Bremer und die ­Schleswig-­Holsteinischen Polizei- und Ordnungsgesetze nennen die öffentliche Ordnung nicht als Schutzgut. 705 F. Fechner, „Öffentliche Ordnung“ – Renaissance eines Begriffs?, in: JuS 2003, S. 734– 739 (734); M. Thiel, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2014, § 8 Rn. 38.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

durch Vorstellungen, die im moralisch-ethischen, religiösen bzw. weltanschaulichen oder sittlichen Bereich wurzeln. Um eine Verletzung dieses Schutzgutes anzunehmen, muss ein Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit vorliegen (Öffentlichkeitsbezug). Die Handlung muss „Sozialrelevanz“ aufweisen und von Außenstehenden überhaupt wahrgenommen werden können. Verhalten, das nur die Privatsphäre des Einzelnen betrifft, kann keine Verletzung der öffentlichen Ordnung darstellen706.

I. Verfassungs- und rechtspolitische Kritik am Begriff der öffentlichen Ordnung Der Begriff der öffentlichen Ordnung wird seit jeher aus rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen707 Gründen kritisiert. Eine vertiefte Darstellung des Problemkreises soll hier zwar nicht erfolgen; da die Problematik des Begriffs jedoch nicht völlig ausgeblendet werden kann, wird im Folgenden knapp auf die wesentlichen Bedenken, die das Schutzgut der öffentlichen Ordnung aufwirft, eingegangen. Im Hinblick auf das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG werden zunächst kompetenzrechtliche Bedenken ins Feld geführt. Verbindliche Normen seien im demokratischen Rechtsstaat von dem hierzu legitimierten Gesetzgeber zu erlassen und nicht aus ungeschriebenen Sozialnormen durch die Exekutive abzuleiten708. Dagegen wird regelmäßig vorgebracht, der Gesetzgeber knüpfe vielfach, beispielsweise in den zivilrechtlichen Generalklauseln der §§ 138, 242 BGB und sogar im Grundgesetz in den Art. 13 Abs. 7, Art. 35 Abs. 2 S. 1 GG, an gesellschaftliche Anschauungen an709. Ferner wird vorgebracht, der Begriff sei ohnehin angesichts der zunehmenden Verrechtlichung sämtlicher Lebensbereiche bedeutungslos geworden710. Dagegen wird allerdings eingewandt, dass es eine vollständige Verrechtlichung niemals geben könne und die Beibehaltung der öffentlichen Ordnung daher als Reservefunktion unabdingbar sei711. Auch sei es fraglich, wie die „herrschende Anschauung“ überhaupt im Einzel­ fall festgestellt werden könne, also wer die Sozialnormen auf welche Art und Weise und auf welchem Gebiet ermitteln soll712. 706

Zum Ganzen statt vieler Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 705), § 8 Rn. 41 f. m. w. N. Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 233. 708 Störmer, Renaissance (Fn.  661), S.  234; E. Denninger, Gefahrenabwehr (Kap.  D), in: ders./F. Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, S. 184–283 Rn. 36; Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 705), § 8 Rn. 43. 709 Erbel, Sicherheit (Fn. 693), S. 1718; Fechner, Renaissance (Fn. 705), S. 735; Reitzig, Beschlagnahme (Fn. 693), S. 33; Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 3 II 2 Rn. 65. 710 K. Waechter, Die Schutzgüter des Polizeirechts, in: NVwZ 1997, S.  729–737 (736);­ Denninger, Gefahrenabwehr (Fn.  708), Rn.  37; Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 8 Rn. 51. 711 Erbel, Sicherheit (Fn. 693), S. 1718; Fechner, Renaissance (Fn. 705), S. 735. 712 Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 233; Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 705), § 8 Rn. 43. 707

E. Eingriff aufgrund einer Verletzung der öffentlichen Ordnung

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Aus dieser Unsicherheit folgt ein weiterer verfassungsrechtlicher Einwand713. Für den Einzelnen sei es kaum vorhersehbar, welche Verhaltensweisen unter den Begriff der öffentlichen Ordnung fallen. Das verfassungsrechtlich garantierte Bestimmtheitsgebot verpflichte den Staat aber zu einer hinreichend genauen Formulierung jeglicher Eingriffe in Bürgerrechte714. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1980 diesbezügliche Zweifel allerdings verworfen. Die öffentliche Ordnung sei „in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt“715. Letztlich wird die öffentliche Ordnung im Hinblick auf den Minderheitenschutz kritisiert. Die Mehrheit könne über den Begriff der öffentlichen Ordnung ihre­ ethischen Wertvorstellungen außerhalb der durch den Gesetzgeber erlassenen Gesetze durchsetzen und sie der Minderheit damit de facto aufzwingen. Dies wird umso kritischer unter dem Aspekt einer säkularisierten demokratischen Gesellschaft gesehen, die gerade auch durch ihre kulturelle, ethische und religiöse Pluralität geprägt wird716. Trotz dieser Bedenken findet die öffentliche Ordnung weiterhin Unterstützung in Literatur und Rechtsprechung, die Verankerung im Polizei- und Ordnungsrecht wird als verfassungsgemäß eingeordnet717. Jedenfalls sollten Eingriffe, die auf eine Verletzung der öffentlichen Ordnung gestützt werden, sehr restriktiv gehandhabt werden. Erhard Denninger formuliert mit einem Verweis auf Otto Mayer treffend: „Gleichviel ob man glaubt, auf den Begriff der ‚öffentlichen Ordnung‘ verzichten zu können oder nicht, sollte sich die Polizei doch in allen Fragen der Religion, Kunst und Sittlichkeit oder gar des ‚patriotischen Empfindens‘ größte Zurückhaltung auferlegen und sich der Mahnung Otto Mayers erinnern, ‚dass [sic] in diesen Dingen mit täppischem Dreinfahren viel geschadet werden kann‘“718.

713

Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 234. F.-J. Peine, Öffentliche Ordnung als polizeirechtliches Schutzgut, in: Die Verwaltung 12 (1979), S. 25–50; H. Hill, Abschied von der öffentlichen Ordnung im Polizei- und Ordnungsrecht?, in: DVBl. 1985, S. 88–96 (91 ff.); H. Bäumler, Neues schleswig-holsteinisches Polizeirecht, in: NVwZ 1992, S. 638–642. 715 BVerfGE 54, 143 (144 f.). 716 Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 233; Denninger, Gefahrenabwehr (Fn. 708), Rn. 36. 717 Reitzig, Beschlagnahme (Fn.  693), S.  33; F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2007, Rn.  104; Schenke, Ordnungsrecht (Fn.  634), Rn.  65; Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 705), Rn. 44. Bemerkenswert ist auch, dass sich in den neuen Bundesländern die Möglichkeit geboten hatte, den Begriff nicht mehr in die Gesetze aufzunehmen. Jedoch hat keiner der Gesetzgeber der neuen Bundesländer diesen Weg eingeschlagen. Auch bei Gesetzesänderungen in den neuen Bundesländern wurde der Begriff nicht gestrichen, im Saarland wurde der Begriff im Jahre 2001 wieder neu in das Gesetz eingefügt (Fechner, Renaissance [Fn. 705], S. 735). 718 Denninger, Gefahrenabwehr (Fn. 708), Rn. 38. Die zitierte Aussage Otto Mayers ist zu finden in: O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924, S. 215. 714

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Im Folgenden wird daher ungeachtet der validen verfassungsrechtlichen Bedenken die öffentliche Ordnung als Eingriffsgrundlage für präventive Eingriffe gegen religiöse Paralleljustiz geprüft.

II. Verletzung der öffentlichen Ordnung durch informelle religiöse Verfahren? Bei der Anwendung des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung müsste nach der traditionellen Lehre zunächst kognitiv anhand empirischer Mittel die in der Bevölkerung herrschende Wertvorstellung erhoben werden. Ist eine Mehrheitsauffassung bezüglich eines bestimmten Verhaltens in der Öffentlichkeit ermittelt, so schließt sich die Frage an, ob die Einhaltung dieser sozialethischen Norm für ein geordnetes menschliches Zusammenleben unerlässlich ist719. Erst darauf aufbauend folgt ein normativer Filter: Rechtlich verbindlich soll die Sozialnorm nur dann sein, wenn sie mit der Verfassung und dem übrigen geschriebenen Recht in Einklang steht720. Um zu entscheiden, ob religiöse Paralleljustiz gegen die öffentliche Ordnung verstößt, müsste daher zunächst eine Tatsachenerforschung mittels einer demoskopischen Erhebung stattfinden. Hier wird die Problematik der Gebietsabgrenzung offenbar. Würde man eine solche Erhebung in einem Gebiet durchführen, in dem die Mehrzahl der Einwohner muslimischer Konfession ist, so wird sich wohl kaum eine herrschende Auffassung dahingehend feststellen lassen, dass die Verfahren mit den unerlässlichen Voraussetzungen des Gemeinschaftslebens nicht vereinbar sind. Würde man hingegen einen Durchschnitt der Gesamtbevölkerung danach befragen, ob ein „gelebtes islamisches Recht“ mit seinen sozialethischen Vorstellungen zu vereinbaren ist, so könnte das Ergebnis schon gänzlich anders aussehen. Ohnehin finden jedoch in der Praxis keine demoskopischen Erhebungen zur Konkretisierung des Begriffs der öffentlichen Ordnung statt721. Stattdessen vermuten die rechtsanwendenden Organe anhand ihrer eigenen Anschauungen, ob eine Sozialnorm von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannt wird und ob diese für ein geordnetes Zusammenleben unentbehrlich ist722.

719

Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 240. E. Franßen, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf die Auslegung der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel, in: O. Bachof/L. Heigl/K. Redeker (Hrsg.), Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, 1978, S. 201–216 (203); Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 240. 721 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 8 Rn. 48; Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 253. 722 Erbel, Sicherheit (Fn. 693), S. 1719; Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 634), § 8 Rn. 48; A. Dickersbach, Sittenwidrigkeit im Gewerberecht, in: WuV 1986, S. 1–21 (21) und ins LitVZ. Aus der Rechtsanwendung siehe hierzu statt vieler nur OVG Münster NJW 2001, 2113 und 2114 (Entscheidung aufgehoben durch BVerfG NJW 2001, 269) sowie 720

E. Eingriff aufgrund einer Verletzung der öffentlichen Ordnung

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Hierbei verweisen die Gerichte in jüngerer Zeit zunehmend auf die Verfassung, durch deren Wertmaßstäbe die herrschende Anschauung der Bevölkerung geprägt werde723. In einer der Entscheidungen über die sogenannten Laserdromes724 stellt das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen dementsprechend fest: „Die herrschenden Anschauungen über die unerlässlichen Voraussetzungen eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens werden geprägt durch die Wertmaßstäbe des Grundgesetzes.“725 Das Gericht zieht sodann die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und das staatliche Gewaltmonopol, das es aus Art. 20 GG herleitet, als Wertmaßstäbe heran, denen das Laserspiel widerspreche. Ähnlich gehen die Gerichte im Versammlungsrecht726 und bei der Konkretisierung des Begriffs der guten Sitten des § 33a Abs. 2 Nr. 2 GewO vor727. Gegen diesen Ansatz sprechen aber gewichtige Argumente. Er verwischt die begrifflichen Grenzen zwischen Rechtsnormen und Sozialnormen728. Die Unverletzlichkeit von Rechtsnormen ist alleine über das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit geschützt. Die Einbeziehung der Grundrechte in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung könnte systematisch allenfalls dadurch gerechtfertigt sein, dass diese – sofern sie nicht als subjektives Recht oder Rechtsgut geschützt sind – aus dem Anwendungsbereich der öffentlichen Sicherheit herausfallen729. Wie oben dargestellt, fallen sie aber aus validen Gründen nicht unter das Schutzgut der ö­ ffentlichen Sicherheit. Diese Wertung würde leerlaufen, wenn Grundrechte im Rahmen der öffentlichen Ordnung Berücksichtigung fänden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Rechtsprechung zum Versammlungsrecht dagegen ausgesprochen, Wertentscheidungen der Verfassung über das Schutzgut der öffentlichen Ordnung in Eingriffsbefugnisse umzudeuten730. Die Verwischung der Begrifflichkeiten das viel zitierte Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, das bisher erlaubte Damenboxkämpfe mit Hinweis auf den Wandel der Vorstellung der Deutschen zum Wesen der Frau verbot (PrOVGE 91, 139 [140]). 723 In der Rechtsprechung zuerst LVG von Rheinland-Pfalz (OVG Koblenz) DÖV 1952, 664 ff.; später dann OVG NW NWVBl. 1995, 473 (474); OVG Münster NJW 2001, 2111; VG Dresden NVwZ-RR 2003, 848 (850); OVG RhPf NVwZ-RR 1995, 30 (31). Vorher in diesem Sinne schon Hill, Abschied (Fn. 714), S. 96; Franßen, Einfluß (Fn. 720), S. 204 ff. Auch die spätere Literatur ist diesem Ansatz teilweise gefolgt, so etwa Dickersbach, Sittenwidrigkeit (Fn. 722), S. 14; H. Rossen-Stadtfeld, Öffentliche Ordnung, bürgerliches Vertrauen und die neo-nationalsozialistische Versammlung, in: BayVBl. 2009, S. 41–46 (45 f.). Zum Ganzen eingehend Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 241 ff. 724 In Laserdromes wird ein Kriegsspiel simuliert, bei dem sich die Teilnehmer mit Laserstrahlen aus hierfür vorgesehenen Pistolen beschießen, hierzu BVerwGE 115, 189. 725 OVG NW NWVBl. 1995, 473 (474). 726 Etwa VG Halle NVwZ 1994, 719 (720). 727 BVerwGE 64, 274 (276 f.). 728 So zutreffend Störmer, Renaissance (Fn.  661), S.  244 ff.; Erbel, Sicherheit (Fn.  693), S. 1718 f.; Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn. 639), S. 232. 729 So zutreffend Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn. 639), S. 232 in Fn. 14. 730 DVBl. 2004, 1230 (1232).

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

verlagert die Wertung von der Gesellschaft auf den Rechtsanwender und läuft Gefahr, der Bevölkerung idealisierte Wertvorstellungen zu unterstellen731. Außerdem ist das Abstellen auf eine grundrechtliche Wertentscheidung proble­ matisch, da die Begrifflichkeit viel zu unbestimmt und nicht fassbar ist732. Werte der Grundrechtsnormen können vermutet oder behauptet, aber nicht mit einem nachvollziehbaren Verfahren ermittelt werden. Würde man der Exekutive die Kompetenz zur Ableitung von Verhaltensnormen aus Wertvorstellungen des Grundgesetzes einräumen, so würde man ihr eine Normsetzungsbefugnis losgelöst vom Parlamentsgesetz zugestehen. Auch hier gilt aber wieder: sind Verhaltensgebote nicht in Gesetzen, Verordnungen oder Satzungen zu finden, kann sich die Exekutive nicht stattdessen direkt auf das Grundgesetz berufen733. Somit bleibt es dabei, dass zur Feststellung, inwieweit informelle religiöse Verfahren unter Anwendung islamischen Rechts gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, eine gründliche und zuverlässige Tatsachenerforschung734 stattzufinden hätte. Im Folgenden werden daher nur Vermutungen dargestellt, die die rechtsanwendenden Organe so oder ähnlich anstellen könnten, um einen Eingriff zu rechtfertigen, die aber nach der hier vertretenen Ansicht durch Nachforschungen in der Bevölkerung verifiziert werden müssten. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich zumindest in Extremfällen für die Unvereinbarkeit solcher Verfahren mit dem Schutzgut der öffentlichen Ordnung aussprechen würde. Dies wird vor allem dann anzunehmen sein, wenn Frauen unfreiwillig durch soziale und finanzielle Zwänge und Abhängigkeit in sie von vornherein diskriminierende Verfahren gezwungen werden. Zu vermuten ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht wäre, dass die Geschlechterparität missachtende Verfahren, auf die sich Frauen aus Unwissen, Zwang oder Angst vor dem Verlust sozialer Anbindung unfreiwillig ein­ lassen, den sozialethischen Grundregeln widersprechen, die unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens sind. Vorstellbar sind ferner Fälle, in denen ein Imam oder eine sonstige Autoritätsperson gezielt zu polygamen (religiösen) Ehen aufruft. Auch hier wird ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung anzunehmen sein. Die Einehe ist in § 1306 BGB geschützt, in § 172 StGB ist die Doppelehe strafrechtlich sanktioniert. Den verfassungsrechtlichen Schutz des Art.  6 GG genießt nach allgemeiner Auffassung ebenso nur die Einehe735. Nach weit verbreiteter Auffassung gehört das Prinzip 731

Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 244 ff.; Erbel, Sicherheit (Fn. 693), S. 1718 f.; Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn. 639), S. 232. 732 Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 248 f.; Aubel, Menschenwürde-Argument (Fn. 639), S. 232. 733 So zutreffend Störmer, Renaissance (Fn. 661), S. 250. 734 Erbel, Sicherheit (Fn. 693), S. 1719. 735 BVerfGE 29, 166 (176); 31, 58 (69); A. Uhle, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Grundgesetz, Art. 6 (2015), Rn. 3. Der Familienschutz des Art. 6 GG erfasst hingegen das Verhältnis zwischen Eltern und Kind auch im Falle einer Mehrehe (BVerwG NVwZ 1985, 658).

E. Eingriff aufgrund einer Verletzung der öffentlichen Ordnung

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der Einehe zu den grundlegenden kulturellen Wertvorstellungen in der Bundes­ republik Deutschland736. Im internationalen Privatrecht werden allerdings Mehrehen, die im Ausland eingegangen worden sind, anerkannt, wenn sie unter dem jeweiligen Heimatrecht wirksam geschlossen wurden737. Die Anerkennung bezweckt jedoch den Schutz der betroffenen Frauen und die Sicherung der aus der Ehe entstandenen Rechtsansprüche. Soweit beispielsweise über Unterhaltsansprüche der Ehefrau entschieden werden soll, werden daher unter dem Heimatrecht wirksam geschlossene poly­game Ehen anerkannt738. Der umfassenden Anerkennung stehen jedoch der Gleichberechtigungsgrundsatz und die staatliche Eheordnung entgegen739. Zwar ist die klassische Ehe zwischen Mann und Frau schon lange nicht mehr die einzige gesellschaftlich anerkannte Art des Zusammenlebens740. Dementsprechend hat der Staat es zu dulden, wenn Ehegatten entsprechend ihres im Ausland rechtmäßig eingegangenen polygamen Ehestatuts freiwillig „in ihren vier Wänden“ eine faktisch polygame Ehe leben741. Ein öffentliches Propagieren polygamer Ehen hätte jedoch Öffentlichkeitsbezug und müsste daher anders bewertet werden. Dies gilt unabhängig davon, dass die religiösen Ehen keine Rechtsfolgen nach sich ziehen. Der Verstoß gegen die öffentliche Ordnung ergibt sich schon daraus, dass ein frauendiskriminierendes Lebens- und Familienbild öffentlich propagiert wird. Ebenso könnte beispielsweise ein öffentliches Propagieren der Minderwertigkeit einer weiblichen Zeugenaussage gegenüber einer männlichen Zeugenaussage gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Zu beachten ist jedoch, dass die Religionsfreiheit der Beteiligten bei Eingriffen betroffen wäre. Somit wäre auch ein Eingriff gestützt auf die öffentliche Ordnung nur unter der Prämisse möglich, dass kollidierendes Verfassungsrecht verletzt und bei einer Prüfung der praktischen Konkordanz im jeweiligen Einzelfall überwiegen würde. Gerade in den letztgenannten Fällen wäre ferner zu bedenken, dass auch die Meinungsfreiheit der Beteiligten betroffen wäre. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gesteht das Bundesverfassungsgericht aber als tragenden Pfeiler 736

BVerfGE 76, 1 (42); dies wird auch deutlich in: BT-Drucks. 11–6321, Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 27.1.1990, S. 60; hierzu auch VG Augsburg, Urteil v. 8.3.2005 – Au 1 K 04.697 = BeckRS 2005, 37042. 737 BVerwG NJW 1985, 1097 (2098); R. Voppel, in: J. v. Staudinger (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 4, Familienrecht, § 1353 Rn. 30 (2012). 738 BT-Drucks. 10/504; BVerwG NJW 1985, 1097 (2098). 739 M. Coester, in: F.-J. Säcker/R. Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 10, 6. Aufl. 2015, Art. 13 EGBGB Rn. 66 ff.; Voppel (Fn. 737), § 1353 Rn. 30. 740 Zu den Auswirkungen der Veränderung der allgemeinen Anschauungen auf den Begriff der öffentlichen Ordnung W. Martens, Wandlungen im Recht der Gefahrenabwehr, in: DÖV 1982, S. 89–98 (91 f.); B. Drews/G. Wacke/K. Vogel/W. Martens, Gefahrenabwehr: Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Aufl. 1986, S. 253 ff. 741 So zutreffend BVerwG NJW 1985, S.  2097–2099 (2098); P. Cullmann, Anerkennung poly­gamer Ehen in der Bundesrepublik Deutschland, in: FamRZ 1976, S. 313–315 (314).

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

der demokratischen Grundordnung regelmäßig selbst denen zu, die diese Grundordnung beseitigen wollen742. Grundsätzlich ist daher ein Verbot von Meinungsäußerungen allein wegen ihres Inhalts unter Rückgriff auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung ausgeschlossen743. Das Grundgesetz erzwingt keine Werteloyalität, Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen ist grundsätzlich zulässig744. Auch wenn Meinungen verfassungswidrig und in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich sind, rechtfertigt dies für sich keinen Eingriff in die Meinungsfreiheit745. Der Verwaltungsgerichtshof Kassel hat dies jüngst in einer Entscheidung bekräftigt, in der er die Aufhebung einer Verbotsverfügung durch das Verwaltungsgericht Frankfurt bestätigte746. Der Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt hatte eine Salafistenversammlung, auf der als Hauptredner der radikal islamistische Konvertit Pierre Vogel auftrat, mit der Begründung untersagt, die „salafistische Ideologie sei als verfassungsfeindlich einzustufen, sie wende sich gegen das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Volkssouveränität und verstoße gegen den Gedanken der Völkerverständigung und des Gleichheitsgrundsatzes. Das politische Ziel der Salafisten sei die Einführung und Umsetzung des islamischen Rechts und nach der vertretenen Ideologie führe dies zu einer Benachteiligung von Frauen, Homosexuellen und Andersgläubigen sowie zu einer Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit und zur Außerkraftsetzung grundlegender Menschenrechte. Ein Teil der Salafisten sei davon überzeugt, dass die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates im Sinne ihrer Ideologie nur durch den bewaffneten Kampf möglich sei. Bei Durchführung der angemeldeten Versammlung müsse davon ausgegangen werden, dass es zu einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch zweifelsfrei verfassungsfeindliche Äußerungen in Form von Werbung für den radikalen Salafismus komme.“747 Der Verwaltungsgerichtshof führte hierzu aus, ein Verbot bloßer verfassungsfeindlicher Meinungskundgaben bei Demonstrationen komme erst in Betracht, wenn durch die Meinungskundgabe zugleich strafrechtliche Normen verletzt werden. Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Bestandteilen sei ebenso erlaubt wie die Äußerung der Forderung, tragende Bestandteile der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu ändern. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus 742 Dies betont das Bundesverfassungsgericht regelmäßig im Hinblick auf rechtsextremistisches Gedankengut, etwa BVerfGE 124, 300; BVerfG (K) NVwZ 2004, 90; BVerfG (K) NVwZ 2008, 671. Diesem Grundsatz zuwiderlaufend hatte das Oberverwaltungsgericht Münster wiederholt rechtsextremistische Versammlungen untersagt; die Entscheidungen wurden aber durch das Bundesverfassungsgericht regelmäßig aufgehoben, BVerfG (K) NJW 2001, 2069; BVerfG NJW (K) 2001, 2076; OVG Münster NJW 2001, 2114. 743 BVerfG (K) NJW 2001, 2072; BVerfG (K) NJW 2001, 2075. 744 BVerfGE 124, 300 (320); BVerfG (K) NVwZ 2008, 672 (673). 745 BVerfGE 124, 300 (334). 746 VGH Kassel, Beschluss v. 5.9.2013, Az. 2 B 1903/13; vorausgehend VG Frankfurt, Beschluss v. 4.9.2013; Az. 5 L 3277/13.F. 747 So die Wiedergabe der Verbotsverfügung durch das VG Frankfurt, Beschluss v. 4.9.2013, Az. 5 L 3277/13.F.

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung

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Art. 5 Abs. 1 GG sei ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten und dürfe deshalb nicht unter den Vorbehalt gestellt werden, dass die geäußerten Meinungsinhalte den herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen entsprechen. Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit habe der Gesetzgeber in den Strafgesetzen, etwa in der Norm des § 111 StGB über die öffentliche Aufforderung zu Straftaten vorgesehen und dementsprechend könnten Versammlungen unter Bezugnahme auf § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz verboten werden, wenn die konkrete Erwartung bestehe, dass auf ihnen zu Straftaten, öffentlich aufgerufen werde748. Von den dargestellten Grundsätzen hat das Bundesverfassungsgericht allerdings Ausnahmen zugelassen, wenn die Art und Weise der Meinungsäußerung den öffentlichen Frieden stört, etwa durch ein aggressives, insbesondere andere Bürger einschüchterndes Auftreten749. Somit ließe sich ein Eingriff allenfalls rechtfertigen, wenn das Propagieren islamisch rechtlicher Vorstellungen ein aggressives, den öffentlichen Frieden störendes Maß annehmen würde. Die Anforderungen an ein solches Verhalten sind jedoch hoch. Das Bundesverfassungsgericht betont zudem im Hinblick auf nationalsozialistische Versammlungen regelmäßig, dass selbst eine aggressiv kämpferische Art der Meinungsäußerung grundsätzlich kein Versammlungsverbot rechtfertigt. Vielmehr sei der geplanten Art der Meinungskundgebung mit Auflagen entgegenzuwirken750.

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz Handlungen, die von islamischen Friedensrichtern, Imamen oder anderen Personen im Zusammenhang mit informellen religiösen Verfahren vorgenommen werden, könnten schließlich als unzulässige außergerichtliche Rechtsdienstleistungen nach dem Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (RDG) zu qualifizieren sein. Dies kommt dann in Betracht, wenn der Fokus eines informellen Verfahrens nicht auf einer Entscheidung durch einen Friedensrichter liegt, sondern wenn dieser aufgesucht wird, um den Betroffenen die Rechtslage zu erläutern751. Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick über die Entwicklung der Reglementierung des Rechtsberatungsmarktes erfolgen (I.). Sodann wird die Komplementärfunktion des RDG erläutert (II.) und die Tauglichkeit des RDG als Eingriffsgrundlage geprüft (III.). Anschließend erfolgt eine Darstellung der mit dem RDG verfolgten Schutzzwecke, die für die Auslegung des Gesetzes von Bedeutung sind (IV.). Schließlich wird geprüft, ob religiöse bzw. traditionelle informelle Schlichtungen erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistungen im Sinne des RDG darstellen (V.). 748

VGH Kassel, Beschluss v. 5.9.2013, Az. 2 B 1903/13. BVerfG (K) NJW 2001, 2069 (2071); NJW 2001, 2072 (2074); NvWZ 2004, 90 (91). 750 Etwa BVerfG (K), NJW 2001, 2069 (2071); NJW 2001, 2072 (2075). 751 Zu diesem Aspekt noch ausführlich Punkt 4. in diesem Abschnitt. 749

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

I. Entwicklung der Reglementierung des Rechtsberatungsmarktes in Deutschland Die Besorgung von Rechtsangelegenheiten war vor dem Erlass des Rechtsberatungsgesetzes lediglich durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 reglementiert752. Nach dieser musste weder ein Leistungsnachweis erbracht werden, um rechtsberatende Tätigkeiten wahrzunehmen, noch fand eine Qualitätskontrolle statt. Die Erlaubnis zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen konnte nur bei persönlicher Unzuverlässigkeit untersagt werden753. Weitere Beschränkungsmöglichkeiten bestanden aufgrund des damals sehr weitgehenden Verständnisses der Gewerbefreiheit nicht754. Diesem liberalen Ansatz wurde erstmals durch das im Jahr 1935 auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes erlassene „Gesetz zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung“, das die Möglichkeit der Erbringung von Rechtsdienstleistungen an strengere Voraussetzungen knüpfte, eine Grenze gesetzt755. Primäres Ziel des Gesetzes war es allerdings, Juden aus dem Rechtsberatungsmarkt zu verdrängen. Nachdem man diesen ihre Rechtsanwaltszulassungen systematisch entzogen hatte, sollte ihnen auch ein Ausweichen in die nichtanwaltliche Rechtsberatung unmöglich gemacht werden756. Im Jahr 1958 wurde das Gesetz ohne die nationalsozialistisch geprägten Vorschriften in Bundesrecht überführt757. Das Rechtsberatungsmonopol wurde

752

M. Kleine-Cosack, Rechtsdienstleistungsgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2014, Allgemeiner Teil Rn. 1. 753 V. Römermann, in: B. Grunewald/V. Römerman (Hrsg.), Rechtsdienstleistungsgesetz. Kommentar, 2008, § 1 Rn. 4. 754 S. Hermanns, Grenzen zulässiger Rechtsberatung durch die öffentliche Hand und den privaten Unternehmer, 2000, S. 28. 755 Kleine-Cosack (Fn. 752), AT Rn. 2. 756 Die erste Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung vom 13.12.1935, RGBI 1, S.  1481, legte schlicht fest:­ „Juden wird die Erlaubnis nicht erteilt.“ In einer Allgemeinverfügung des Reichsjustizministers vom 23. März 1935 über die Zulassung von Prozessagenten heißt es in § 6: „Zulassungsgesuche, denen ein handschriftlich abgefaßter Lebenslauf, Nachweisungen über die bisherige Tätigkeit, über deutsche Staatsangehörigkeit und arische Abstammung beizufügen sind, sind bei dem Vorstand des Amtsgerichts einzureichen (…).“ Schließlich wurden im Jahre 1938 im Zuge der Durchführung der Nürnberger Gesetze auch sämtliche bis dahin noch geltenden Ausnahmebestimmungen für sog. Altjuden, also Frontkämpfer und altgediente Anwälte aufgehoben. Die 5. VO zum Reichsbürgergesetz bestimmte dementsprechend, dass die Zulassung aller jüdischen Anwälte bis zum 1.12.1938 zwingend zurückzunehmen sei. Hierzu insbesondere D. Majer, „Fremdvölkische im Dritten Reich“: Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, 1993, S.  223 ff. (230 f.) sowie S. Rücker, Rechtsberatung. Das Rechtsberatungswesen von 1919–1945 und die Entstehung des Rechtsberatungsmissbrauchsgesetzes, 2007 jeweils m. w. N.; ferner V. Römermann/W.Hartung, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2008, 1. Kapitel, § 1 Rn. 12; Kleine-Cosack, RDG (Fn. 752), AT Rn. 3 ff. 757 BGBl. I 1958, 437.

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung

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durch die Abschaffung des Vollrechtsbeistandes im Jahre 1980758 sowie durch eine sehr weite Auslegung des Gesetzes durch die Rechtsprechung gestärkt759. Erst in den neunziger Jahren begann eine Auflockerung der Monopolstellung der Anwälte; richtungsweisend war die aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs760 erlassene Masterpatententscheidung des Bundesverfassungsgerichts761. Weitere liberalisierende Entscheidungen waren die Erbenermittlerentscheidung762 sowie die Entscheidungen Inkasso I und II763. Die Korrekturen durch die Rechtsprechung sowie systematische Unzulänglichkeiten machten eine Neuregelung des Rechtsberatungsmarktes erforderlich764. Das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts vom 12.12.2007765, das in Art. 1 das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) enthält, wurde schließlich nach vierjähriger Gesetzgebungsarbeit am 17.12.2007 verkündet766.

II. Komplementärfunktion des Rechtsdienstleistungsgesetzes Um die Systematik des RDG zu begreifen, muss das Gesetz im Zusammenhang mit der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) betrachtet werden, mit dem es regelungstechnisch eine Einheit bildet767. Die BRAO erlaubt eine Tätigkeit als Rechtsanwalt, wenn man als solcher zugelassen wurde, § 4 BRAO. Die Zulassung ist als Personalkonzession ausgestaltet. Der zugelassene Rechtsanwalt unterliegt Berufspflichten und steht unter der Aufsicht der für ihn zuständigen Rechtsanwaltskammer. Die Überwachungs- und Sanktionsinstrumentarien der BRAO gingen jedoch 758

BGBl. I 1980, 1503. Exemplarisch: BGHZ 18, 337 (Rechtsberatung in der Presse); BGH NJW 1961, 1113 (Rechtsberatung durch Rechtsschutzversicherungen); hierzu auch Kleine-Cosack, RDG (Fn. 752), AT Rn. 5. 760 EuGH NJW 1991, 2693: „Art. 59 EWGV steht einer nationalen Regelung entgegen, die es einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen deshalb verbietet, für Patentinhaber im Inland Dienstleistungen zur Überwachung und zur Aufrechterhaltung ihrer Patente durch Entrichtung der vorgesehenen Gebühren zu erbringen, weil diese Tätigkeit nach der nationalen Regelung Personen vorbehalten ist, die über eine besondere berufliche Qualifikation wie die des Patentanwalts verfügen.“ 761 BVerfG NJW 1998, 3481 entschied, dass die Patentgebührenüberwachung keine Rechtsberatung ist. 762 BVerfG NJW 2002, 3531 entschied, dass die Ermittlung von Informationen und Tat­sachen für die Durchsetzung von Rückübertragungsansprüchen im Rahmen einer Erbenermittlung nicht gegen das RBerG verstößt. 763 BVerfG NJW 2002, 1190. 764 J. Teubel, in: M. Krenzler (Hrsg.), Rechtsdienstleistungsgesetz Handkommentar, 2010, § 1 Rn. 2. 765 BGBl. 2007, 2840. 766 J. Unseld/T. A. Degen, Rechtsdienstleistungsgesetz Kommentar, 2009, Einleitung Rn. 1. 767 C. Wolf, in: R. Gaier/C. Wolf/S. Göcken (Hrsg.), Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, Einleitung vor § 1 RDG Rn. 4. 759

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

ins Leere, wenn Rechtsberatung von jedermann ausgeübt werden könnte, gleichgültig, ob er nach § 4 BRAO als Rechtsanwalt zugelassen ist oder nicht768. Daher wurde durch das RDG die BRAO „zu Ende gedacht“769 und ein Verbot der außergerichtlichen Rechtsberatung normiert. Nach § 3 RDG ist die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch das RDG oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird. Es handelt sich also um ein Verbot mit abschließend geregelten Erlaubnisvorbehalten. Explizite Untersagungsmöglichkeiten im Falle des Verstoßes gegen § 3 RDG enthält das Gesetz nicht. Als Rechtsgrundlage für eine Untersagungsverfügung ist daher die polizei- bzw. ordnungsbehördliche Generalklausel heranzuziehen und § 3 RDG im Rahmen des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit zu prüfen770. Da § 3 RDG ein Verbotsgesetz ist, sind Verträge, die gegen das RDG verstoßen, nach § 134 BGB nichtig.

III. Das Rechtsdienstleistungsgesetz als Eingriffsgrundlage Handlungen, die im Zusammenhang mit informellen muslimischen Streitschlichtungsmechanismen vorgenommen werden, können – wie oben beschrieben – vom Schutzbereich des Art.  4 Abs.  1 GG umfasst sein und fallen jedenfalls in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG. Da es sich also um grundrechtlich geschütztes Verhalten handelt, müsste das RDG als Eingriffsgrundlage die Einschränkungsvoraussetzungen der betroffenen Grundrechte erfüllen. Ist die konkret zu prüfende Handlung lediglich vom Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG umfasst, so bildet das RDG  – die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes vorausgesetzt – grundsätzlich eine taugliche Eingriffsgrundlage. Nimmt man hingegen einen Schutz durch Art. 4 GG an, so muss differenziert werden: Ist Art. 136 Abs. 1 WRV anwendbar, so bilden die Vorschriften des RDG als allgemeines Gesetz unproblematisch eine taugliche Eingriffsgrundlage. Sie richten sich nicht gegen ein bestimmtes religiöses Verhalten, sondern erfassen vielmehr jegliche Art von Rechtsdienstleistungen, so dass glaubensgeleitetes und nicht glaubensgeleitetes Verhalten gleich behandelt werden. Ist hingegen die individuelle Religionsfreiheit betroffen und versteht man Art. 4 GG als vorbehaltloses Grundrecht, so müsste das RDG dem Schutz eines kollidierenden Verfassungsgutes dienen. Das RDG dient gemäß der in § 1 Abs. 1 768

Wolf, Berufsrecht (Fn. 767), Einleitung vor § 1 RDG Rn. 4. Wolf, Berufsrecht (Fn. 767), Einleitung vor § 1 RDG Rn. 4. 770 Das RDG enthält in § 9 lediglich Vorschriften für die Untersagung der Erbringung von Rechtsdienstleistungen von nicht registrierten Personen und Vereinigungen wie beispielsweise Berufs- und Interessenvereinigungen, Genossenschaften, Verbraucherzentralen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege sowie für unentgeltliche Rechtsdienstleistungen. 769

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S. 2 festgelegten Schutzzweckbestimmung dem Schutz der Rechtssuchenden, dem Schutz des Rechtsverkehrs und dem Schutz der Rechtsordnung. Explizit finden sich diese Schutzgüter nicht im Grundgesetz. Ihr Schutz lässt sich jedoch mittelbar aus diesem ableiten. Rechtssuchende Personen sollen davor bewahrt werden, dass materielle und­ immaterielle Ansprüche durch unqualifizierte Rechtsberatung vereitelt werden. Der Schutz vor Vereitelung materieller Ansprüche wurzelt in Art.  14 GG, denn dieser schützt grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, „die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, daß er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf“771. Das Bundesverfassungsgericht erkennt den Schutz der Eigentumsgarantie nicht nur für dingliche oder andere absolut wirkende Rechtspositionen, sondern auch für Forderungen an772. Familienrechtliche Ansprüche wie beispielsweise der Anspruch auf das Sorgerecht werden durch Art.  6  GG geschützt773. Der Schutz des Rechtsverkehrs lässt sich auf das Rechtsstaatsprinzip des Art.  20  GG stützen. Nach dem Bundesverfassungsgericht misst „das Grundgesetz – insbesondere das unter anderem in Art. 20 Abs. 3 verankerte Rechtsstaatsprinzip – […] dem Erfordernis einer wirksamen Rechtspflege eine besondere Bedeutung bei“774. Ebenso ist der Schutz der Rechtsordnung als im Rechtsstaatsprinzip verankert anzusehen. Das RDG schützt somit gleich mehrere Güter von Verfassungsrang, so dass auch ein Eingriff in den Schutzbereich der individuellen Religionsfreiheit zum Schutz dieser Güter grundsätzlich möglich ist.

IV. Schutzzwecke des Rechtsdienstleistungsgesetzes als vorrangiges Auslegungskriterium Durch die explizite Normierung der Schutzzwecke im Gesetz kommt der Schutzzweckbestimmung eine besondere Bedeutung für die Auslegung des RDG zu775. Sie gibt dem Richter einen „verlässlichen und zugleich bindenden Maßstab für die teleologische Auslegung und Fortbildung“776 des Gesetzes.  Neben der europa- und verfassungsrechtskonformen Auslegung sind daher stets auch die 771

BVerfGE 83, 201 (208 f.). BVerfGE 83, 201 (208 f.). 773 Pieroth (Fn. 388), Art. 6 Rn. 50. 774 BVerfGE 106, 28 (49). 775 Römermann (Fn. 753), § 1 Rn. 5; Kleine-Cosack (Fn. 752), § 1 Rn. 1. 776 Wolf, Berufsrecht (Fn. 767), § 1 Rn. 4. 772

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

im Gesetz festgeschriebenen Schutzzwecke zu beachten777. Ausdrücklich festgeschrieben sind der Schutz der Rechtssuchenden (1.), der Schutz des Rechtsverkehrs (2.) und der Schutz der Rechtsordnung (3.). Letztlich wird untersucht, ob als ungeschriebenes Schutzgut der Schutz der Anwaltschaft hinzutritt (4.). 1. Schutz der Rechtssuchenden Ziel des RDG ist zunächst der umfassende Schutz der Rechtssuchenden vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen. Die Notwendigkeit des Schutzes der Rechtssuchenden ergibt sich aus den weitreichenden Folgen, die unqualifizierter Rechtsrat verursachen kann778. Der Rechtssuchende soll vor Nachteilen und Schäden bewahrt werden, die daraus folgen, dass er aus Unkenntnis die Erledigung seiner Rechtsangelegenheit in die Hände von Personen legt, die nicht die erforderliche Sachkenntnis oder Zuverlässigkeit besitzen und daher keine Gewähr für eine ordnungsgemäße Erledigung der Rechtsangelegenheit bieten779. Im Rechtsdienstleistungsbereich geht es oft um sensible Fragen, beispielsweise im Familien- oder Arbeitsrecht. Unrichtiger, unreglementierter Rechtsrat kann hier existenzgefährdend wirken. Daher muss der Bürger im Rechtsbereich besonders vor unqualifizierten Dienstleistern geschützt werden. Der Grundgedanke dieser Zielsetzung liegt laut der Gesetzesbegründung darin, dass ein Staat, der eine komplizierte Rechtsordnung zur Regelung des Zusammenlebens seiner Bürger geschaffen habe, zwangsläufig auch verpflichtet sei, dafür Sorge zu tragen, dass Rechtspositionen seiner Bürger nicht aufgrund einer Rechtsberatung durch unqualifizierte Personen beeinträchtigt werden780. Je komplexer und umfangreicher die Gesetzgebung wird, umso größer wird auch das Informationsgefälle zwischen Rechtssuchendem und Rechtsberater781. Der Rechtssuchende ist eigenständig daher kaum in der Lage zu beurteilen, von welcher Qualität der angebotene Rechtsrat ist. Aufgrund dieser „asymmetrischen Informationsverteilung“782 ist der Schutz durch das RDG notwendig. Daneben verfolgt das RDG aber auch das Ziel, vor Personen zu schützen, die aus Gründen persönlicher Unzuverlässigkeit nicht in der Lage sind, die Gewähr für eine ordnungsgemäße Erledigung der Rechtsangelegenheiten zu bieten.

777

Kleine-Cosack (Fn. 752), § 1 Rn. 11. Römermann (Fn. 753), § 1 Rn. 40. 779 Römermann (Fn. 753), § 1 Rn. 7. 780 Römermann (Fn. 753), § 1 Rn. 7. 781 Wolf, Berufsrecht (Fn. 767), § 1 RDG, Rn. 5. 782 Vgl. XVI. Hauptgutachten der Monopolkommission, BT-Drucks. 16/2460, S. 393. 778

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2. Schutz des Rechtsverkehrs Bei rechtlichen Auseinandersetzungen sind regelmäßig nicht nur der Rechtssuchende, sondern auch Dritte wie der Vertragspartner oder Behörden betroffen783. Die Rechtspflege ist eine Struktureinrichtung, die nicht durch eine Zwischenschaltung unqualifizierter Personen oder Verbände gestört werden sollte784. Das RDG will also zum einen den schonenden Umgang mit den Ressourcen Justiz und Verwaltung sicherstellen und zum anderen den Einzelnen vor einer unberechtigten Inanspruchnahme schützen785. 3. Schutz der Rechtsordnung Der Schutz der Rechtsordnung wird als letzter Schutzzweck angeführt. Nicht nur durch anwaltliche Tätigkeit vor Gericht, sondern auch schon durch rechts­ beratende Tätigkeit im außergerichtlichen Bereich wird die Rechtsordnung maßgeblich beeinflusst. Denn in der dem Verfahren regelmäßig vorausgehenden Auseinandersetzung und Vorbereitung des Prozesses werden oft Weichen gestellt, die durch das Gericht nicht mehr rückgängig gemacht werden können786. Berücksichtigt man weiterhin, dass die Mehrzahl aller rechtlichen Auseinandersetzungen außergerichtlich beigelegt wird, so gilt umso mehr, dass Rechtsberatung nur von qualifizierten Personen durchgeführt werden sollte787. Die Reglementierung des Rechtsdienstleistungssektors ist somit essentiell für die Bewahrung und Fortentwicklung der Rechtsordnung. 4. Schutz der Anwaltschaft als ungeschriebenes Schutzgut? Dem Rechtsberatungsgesetz (RBerG) wurde als Schutzzweck auch der Schutz der Anwaltschaft vor Wettbewerb mit anderen Rechtsberatern, die nicht den berufsrechtlichen und gebührenrechtlichen Vorschriften der Anwaltschaft unterliegen, zugeschrieben. Der Wortlaut des RDG, der diesen Zweck gerade nicht als Schutzzweck aufnimmt, spricht gegen einen Wettbewerbsschutz durch das Gesetz788. Eine kategorische Ablehnung dieses Schutzzweckes greift jedoch zu kurz. Das RBerG hat die Exklusivität der Anwaltschaft gesichert, um sie im Gegensatz dazu verpflichten zu können, an einem effektiven Rechtsschutz für die Bevölkerung mitzuwirken. Die Quersubventionierung durch das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG), die Verpflichtung zur Prozessvertretung gem. § 48 BRAO 783

Teubel (Fn. 764), § 1 Rn. 47. Römermann, RDG (Fn. 753), § 1 Rn. 10. 785 Wolf, Berufsrecht (Fn. 767), Einleitung vor § 1 RDG Rn. 4. 786 Teubel (Fn. 764), § 1 Rn. 51. 787 Teubel (Fn. 764), § 1 Rn. 52. 788 Kleine-Cosack (Fn. 752), § 1 Rn. 40. 784

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

sowie die Beratungshilfe gem. § 49a BRAO sind Mechanismen, durch die die Anwaltschaft gezwungen wird, einen effektiven Zugang zum Recht zu ermöglichen, denn der Justizgewährungsanspruch setzt neben dem tatsächlichen Zugang zum Gericht auch eine effektive Rechtsberatung voraus789. Allerdings ist zu beachten, dass nach zutreffender Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ein Konkurrenzschutz solange nicht stattfindet, wie eine fühlbare Beeinträchtigung der für eine ordnungsgemäße Rechtspflege benötigten Anwaltschaft nicht zu besorgen ist. Danach ist ein verfassungsrechtlich umfassender Schutz gegen Wettbewerb mit solchen Personen, die vergleichbaren Bindungen nicht unterworfen sind, grundsätzlich nicht erforderlich. Er kann aber geboten sein, wenn sonst die Gemeinwohlbelange gefährdet werden, denen die Zugangsschranken oder Berufsausübungsregelungen eines Berufes gerade zu dienen bestimmt sind790. Das RDG dient also nicht einem generellen Wettbewerbsschutz der Anwaltschaft. Dennoch ist zu beachten, dass die dem Schutz der Rechtssuchenden dienenden Reglementierungen, denen die Rechtsanwälte unterliegen, nicht leerlaufen dürfen.

V. Informelle religiöse Rechtsberatung als erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung? Das RDG wäre auf religiöse Streitschlichtung anwendbar, wenn bestimmte Handlungen, die im Zusammenhang mit informellen religiösen Verfahren vorgenommen werden, als außergerichtliche (1.) Rechtsdienstleistungen (2.) im Sinne des RDG qualifiziert werden können. Ferner dürfte kein Ausschlusstatbestand einschlägig sein (3.), und es dürfte keine Erlaubnisfreiheit aufgrund eines Ausnahmetatbestandes vorliegen (4.). 1. Außergerichtlichkeit, § 1 Abs. 1 S. 1 RDG Der Anwendungsbereich des RDG ist auf außergerichtliche Rechtsdienstleistungen beschränkt. Der Begriff der Außergerichtlichkeit wird im Gesetz nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung sind Handlungen als außergerichtlich zu qualifizieren, wenn sie nicht an ein Gericht adressiert sind791. Im Gegensatz dazu ist unter gerichtlicher Rechtsdienstleistung somit eine Dienstleistung zu verstehen, die sich an ein Gericht richtet und in den gerichtlichen Verfahrensordnungen geregelt ist792. Die informellen Verfahren setzen sich gerade das Ziel, die staatlichen Gerichte außen vor zu lassen, so dass das Merkmal der Außergerichtlichkeit regelmäßig erfüllt sein wird. 789

Wolf, Berufsrecht (Fn. 767), § 1 Rn. 14. BVerfG NJW 1998, 3481–3483 (3483). 791 Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts, BT-Drucks. 16/3655, S. 45. 792 Teubel (Fn. 764), § 1 Rn. 21. 790

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2. Rechtsdienstleistung, § 2 Abs. 1 RDG Gemäß § 2 Abs. 1 RDG ist eine Rechtsdienstleistung jede Tätigkeit in konkreten (a) fremden (b) Angelegenheiten, sobald sie eine rechtliche Prüfung (c) des Einzelfalls (d) erfordert. a) Konkrete Angelegenheit Konkret ist eine Angelegenheit wenn sie einen bestimmten, abgrenzbaren Sachverhalt betrifft. Die oben beschriebenen Handlungen, die von Muslimen im Zusammenhang mit informellen religiösen Verfahren vorgenommen werden, also beispielsweise eine Beratung darüber, wie das „Sorgerecht“ nach einer Ehescheidung im islamischen Recht zu regeln ist, betreffen konkrete Einzelfälle. Das Merkmal der konkreten Angelegenheit wird daher ebenfalls regelmäßig erfüllt sein. b) Fremde Angelegenheit Es müsste sich weiterhin um eine Beratung in fremden Angelegenheiten handeln. Fremd im Sinne des Gesetzes sind solche Angelegenheiten, die nicht die eigene Rechtsposition des Beratenden betreffen und daher an sich der Sorge eines anderen obliegen793. Die früher stark umstrittene Frage, ob das Merkmal der Fremdheit bei Tätigkeit in enger verwandtschaftlicher oder sonstiger persönlicher Beziehung vorliegt794, hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des § 6 Abs.  1 RDG entschieden. Nach dieser Vorschrift ist die unentgeltliche Rechtsdienstleistung innerhalb von Näheverhältnissen erlaubnisfrei. Dieser Vorschrift hätte es aber nicht bedurft, wenn eine Tätigkeit im Näheverhältnis schon nicht fremd im Sinne des § 2 Abs. 1 RDG und damit schon gar keine Rechtsdienstleistung wäre795. Daher ist auch eine Tätigkeit im Näheverhältnis grundsätzlich als „fremd“ im Sinne der Vorschrift zu qualifizieren. In den informellen Verfahren beschäftigen sich die zur Beratung oder Entscheidung berufenen Personen nicht mit ihren eigenen, sondern mit fremden Rechtskreisen der Konfliktparteien. c) Rechtliche Prüfung Letztlich müsste die jeweilige Tätigkeit eine rechtliche Prüfung erfordern. Die Regierungsbegründung führt zu dem Merkmal der rechtlichen Prüfung lediglich aus, dass jede spezifische Einzelfrage, deren Beantwortung eine juristische Sub 793

Kleine-Cosack (Fn. 752), § 2 Rn. 10. Römermann (Fn. 753), § 2 Rn. 18. 795 So auch Römerman (Fn. 753), § 2 Rn. 18. 794

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sumtion und besondere Rechtskenntnisse – wenn auch nur in einem kleinen Teilbereich  – erfordere, eine solche Rechtsprüfung enthalte und den Anwendungsbereich des RDG eröffne796. Für die vorliegenden Konstellationen stellt sich hier ein zentrales Problem. Es betrifft die Frage, ob das RDG nur Rechtsberatung unter Anwendung staatlichen Rechts – also Recht in positivistischem Sinne als Ergebnis staatlicher Satzung, das in einem staatlich organisierten Zwangsverfahren durchgesetzt werden kann797 – umfasst oder ob auch eine Beratung nach religionsrechtlichen Vorschriften in den Anwendungsbereich des Gesetzes fällt. Um diese Frage zu beantworten, ist zwischen drei möglichen Konstellationen zu differenzieren: aa) Konstellation 1 Zunächst ist es möglich, dass ein Friedensrichter die Beteiligten nach einer staatlichen Rechtsordnung berät, der die Scharia zu Grunde liegt, also beispielsweise nach iranischem Recht. Es erscheint durchaus vorstellbar, dass Konflikte in der muslimischen Bevölkerung in Deutschland  – vor allem, wenn alle Beteiligten aus demselben Staat stammen – nicht „nur“ unter Anwendung der Scharia, also dem traditionellen islamischen Recht oder sonstiger Traditionen gelöst werden, sondern unter Anwendung des Rechts des Herkunftslandes der Parteien. Dieses Recht kann dann, wie beispielsweise im Iran oder in Saudi Arabien, auf der Scharia beruhen. Diese Konstellation unterfällt dem Anwendungsbereich des RDG. Die Beratung in einem ausländischen Recht ist in § 12 RDG explizit geregelt. Unter welchen­ Bedingungen eine solche Rechtsberatung erlaubnisfrei ist, wird im Folgenden noch erläutert. bb) Konstellation 2 Davon zu unterscheiden sind Situationen, in denen der aufgesuchte Friedensrichter die „Rechtslage“ nicht nach einem staatlichen Recht, sondern auf Wunsch der Parteien lediglich nach der Scharia, also dem traditionellen islamischen Recht erläutert und die Parteien dies wissen. Diese Konstellation wirft die oben bereits genannte Problematik auf, ob das RDG lediglich Rechtsdienstleistungen, die die Beratung im staatlichen Recht zum Gegenstand haben, regelt oder ob auch­ Beratungen nach rein religiösen Vorschriften vom Anwendungsbereich des Gesetzes umfasst sind.

796

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 47. Hierzu statt vieler: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 438), Rn. 71.

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Die Scharia ist kein staatliches Recht; sie muss, um Teil des Rechts eines Staates zu werden, erst durch Regierungsakte umgesetzt werden. Selbst in Staaten, deren Rechtsordnungen als islamisch bezeichnet werden, ist nicht die Scharia an sich geltendes Recht, sondern sie bildet nur den Rahmen der Rechtsordnung und wahrt die kulturelle Identität des Staates. Meist ist in den Verfassungen dieser Staaten zwar die Bindung an das islamische Recht festgelegt. Dennoch sind die staatlichen Gerichte überwiegend ermächtigt zu bestimmen, welche Regelungen des islamischen Rechts angewendet werden sollen. In Ägypten werden beispielsweise verfassungsgerichtlich nur die der idschtihad-Interpretation entzogenen­ Bestimmungen anerkannt798. Somit ist die Scharia an sich, also das traditionelle islamische Recht, kein staatliches Recht. Ob die Scharia aufgrund einer faktischen Geltung und Anerkennung durch bestimmte Personengruppen in einem funktionalen Sinn dennoch als Recht bezeichnet werden kann, kann dahinstehen, wenn, wie im Folgenden begründet wird, das RDG lediglich Rechtsdienstleistungen im staatlichen Recht regeln will. Das RDG soll den Schutz des Rechtssuchenden vor unqualifizierter Rechtsberatung gewährleisten. Aufgrund des oben bereits angesprochenen Informationsgefälles zwischen Rechtssuchendem und Rechtsberatendem fällt es rechtssuchenden Personen schwer, zu erkennen wer ausreichend qualifiziert ist, kompetenten Rechtsrat zu erteilen. Um solche Situationen von vornherein zu verhindern, regelt das RDG, dass unqualifizierte Personen keine Rechtsdienstleistungen an­bieten dürfen. Wollen jedoch die Beteiligten explizit einen Rat darüber einholen, wie bestimmte Dinge nach den Vorschriften ihrer Religion zu regeln sind, so stellt dies grundsätzlich keine unqualifizierte Rechtsberatung dar. Denn der Beratende gibt keinerlei Auskunft über die geltende Rechtslage, und die Beteiligten sind sich­ darüber bewusst. Er teilt den Ratsuchenden lediglich mit, wie ihr Konflikt nach religiösen oder traditionellen Regeln zu lösen ist. Auf die Frage, ob der Friedensrichter im islamischen Recht ausgebildet, also in der Materie, in der er berät, qualifiziert ist, kann es hierbei nicht ankommen. Die Qualifikation von Imamen oder anderen religiösen Beratern zu regeln, ist erkennbar nicht Regelungsmaterie des RDG. Zwar ließe sich argumentieren, dass die Beteiligten den Rat eines Imams oder einer anderen religiösen Autorität genauso befolgen wie den Rat eines „normalen“ Rechtsdienstleisters. Sind sich aber alle im Klaren darüber, dass die aufgesuchte Person lediglich religiösen Rat erteilt – mag sich dieser auch faktisch auf die rechtlichen Beziehungen zwischen den Personen auswirken – so wissen alle Beteiligten, dass sie keine rechtliche Prüfung nach der geltenden Rechtslage erwartet, son 798

K. Bälz, The Reconstruction of Islamic Law, in: B. Dupret/M. Berger/L. al-Zawani (Hrsg.), Legal Pluralism in the Arab World, 1999, S. 229–243 (243); J. Adolphsen/F. Schmalenberg, Islamisches Recht als materielles Recht in der Schiedsgerichtsbarkeit?, in: SchiedsVZ 2007, S. 57–64 (63).

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dern lediglich eine nach staatlichem Recht unverbindliche religiöse Lösung ihrer Probleme. Da die ratsuchenden Personen wissen, dass die Beratung nicht der geltenden Rechtslage entspricht, besteht auch kein Schutzbedürfnis der Beteiligten vor unqualifiziertem Rechtsrat. Auch die Schutzzwecke des Schutzes des Rechtsverkehrs und der Rechtsordnung sind nicht betroffen. Da die Rechtsordnung gar nicht angewendet wird, kann diese auch nicht durch falsche Beratung gefährdet werden. Die Problematik, dass sich in muslimischen Bevölkerungskreisen eine Art Parallelrechtsordnung entwickeln kann, wenn die Beteiligten ihre Rechtsbeziehungen fast ausschließlich nach religiösen Vorschriften ausrichten, mag eine valide Gefahr für die faktische Geltung der Rechtsordnung darstellen, die jedoch durch das RDG nicht unterbunden werden kann. Das „gelebte Recht“ kann sich in muslimischen Kreisen zwar deutlich von der deutschen Rechtsordnung unterscheiden, die staatliche Rechtsordnung an sich wird durch Beratung nach religiösem „Recht“ aber weder verändert noch in irgendeiner Weise geprägt. Auch der Rechtsverkehr wird grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Beteiligten, die religiösen Rechtsrat bei einem Imam oder einer anderen Person suchen, die staatlichen Behörden und Gerichte ja gerade meiden wollen. Die These, dass sich das RDG auf die Regulierung von Rechtsdienstleistungen im staatlichen Recht beschränkt, wird auch durch die Regierungsbegründung des Gesetzes gestützt. Aus ihr ergibt sich zwar nicht explizit, inwieweit religiöse Rechtsberatung vom Anwendungsbereich des RDG erfasst wird, dennoch wird aus Formulierungen wie der Folgenden deutlich, dass das RDG nur Rechtsdienstleistungen nach staatlichem Recht erfassen soll: „Die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre, die den Ruf nach einer grundlegenden Reform des Rechtsberatungsgesetzes haben laut werden lassen, sind zutreffend mit dem Stichwort der ‚Verrechtlichung‘ im Sinn einer rechtlichen Durchdringung nahezu aller Lebensbereiche beschrieben worden. Diese Verrechtlichung betrifft vor allem wirtschaftliche, aber auch medizinische, psychologische oder technische Tätigkeiten mit der Folge, dass kaum eine berufliche Betätigung ohne rechtliches Handeln und entsprechende Rechtskenntnisse möglich ist oder ohne rechtliche Wirkung bleibt.“799

Die angesprochene Verrechtlichung vieler Lebensbereiche meint eine Verrechtlichung durch staatliches Recht. Religiöse Vorschriften, an die sich Gläubige gebunden fühlen und die nicht durch den Staat erlassen wurden, sind hiervon nicht erfasst. Auch Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts verdeutlichen dies, wenn sich das Gericht auf den Sinn und Zweck der Regulierung des Rechtsdienstleistungssektors bezieht: 799

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 30.

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„Die Anhebung der Qualifikation für die bislang von Vollrechtsbeiständen vorgenommene Rechtsbesorgung dient einem hochwertigen Gemeinschaftsgut, nämlich dem Schutz der recht­suchenden Bevölkerung und der in der Rechtspflege Tätigen vor ungeeigneten Rechtsberatern. Wie der Bundesminister der Justiz in seiner Stellungnahme überzeugend ausgeführt hat, legt die zunehmende Komplizierung des Rechtswesens im Zusammenhang mit der wachsenden Verrechtlichung der Lebensverhältnisse es nahe, als Grundlage für eine umfassende Rechtsberatungsbefugnis die Vertrautheit mit der Rechtsordnung insgesamt und das Verständnis übergreifender rechtlicher Zusammenhänge, so wie es in der juristischen Ausbildung vermittelt wird, zu fordern.“800

Auch aus dieser Formulierung lässt sich ablesen, dass die strengen Anforderungen des RDG lediglich für Personen gelten sollen, die eine Rechtsberatung nach der geltenden Rechtslage anbieten. Für eine Beratung nach religiösem oder traditionellem Recht ist es nicht notwendig, dass der Beratende im staatlichen Recht ausgebildet ist und eine umfassende Rechtsberatungsbefugnis erlangt. Anzumerken bleibt noch, dass auch §§ 10 Abs. 1 Nr. 3, 12 RDG, die die Erlaubnis der Beratung in einem ausländischen Recht regeln, nicht auf eine Beratung nach religiösem Recht anwendbar sind. Auch hier gilt wieder, dass das traditionelle islamische Recht kein staatliches und somit „ausländisches“ Recht ist. Die­ Vorschrift veranschaulicht im Übrigen ebenfalls, dass das RDG auf islamische Rechtsberatung keine Anwendung findet. Denn die Regulierung der Beratung in einem ausländischen Recht rechtfertigt sich dadurch, dass ausländisches Recht über das Internationale Privatrecht in unsere Rechtsordnung einstrahlen kann und somit zu in Deutschland anwendbarem Recht wird. Schon aus der amtlichen Begründung zur Änderung des Rechtsberatungsgesetzes, das erstmalig den Erlaubnistatbestand der Rechtsberatung in einem ausländischen Recht enthielt, geht hervor, dass dieser im Hinblick auf die vielen ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland sowie aufgrund der wachsenden wirtschaftlichen Verflechtung eingeführt wurde. Aus diesen Umständen folge, so die Regierungsbegründung, ein gesteigertes Bedürfnis nach Rechtsberatung im ausländischen Recht801. Diese Notwendigkeit ergibt sich aber bei Anwendung der Scharia als solcher, ohne Bezug zu einem ausländischen staatlichen Recht, nicht. Denn die Scharia an sich hat keinen Einfluss auf den vom Staat anerkannten rechtlichen Status von Personen oder auf sonstige Rechtsverhältnisse oder gar auf „wirtschaftliche Verflechtungen“. Solche Verflechtungen können sich nur ergeben, wenn aufgrund des internationalen Privatrechtes die Rechtsordnung eines anderen Staates anwendbar ist. Die Scharia allein als Religionsrecht kann aber keine relevanten „Verflechtungen“ in diesem Sinne verursachen. Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen einer Beratung in rein religiösen, vom staatlichen Recht abgekoppelten Vorschriften und einem ausländischen staatlichen Recht, das auf dem islamischen Recht beruht. 800

BVerfGE 75, 246 (267 f.). Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, BT-Drucks. 8/4277, S. 22. 801

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Auch die notwendigen Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, um eine Rechtsdienstleistungserlaubnis zu erlangen, wie beispielsweise der Abschluss einer Haftpflichtversicherung mit einer Mindestversicherungssumme von 250.000 Euro je Versicherungsfall sowie der Nachweis theoretischer und praktischer Sachkunde, verdeutlichen, dass eine Beratung nach religiösen Vorschriften nicht von der Regelung erfasst werden sollte. Der Begriff der rechtlichen Prüfung umfasst daher nur die Subsumtion unter staatliches Recht. Eine Beratung im Hinblick auf religiöse oder traditionelle Vorschriften hatte der Gesetzgeber nicht im Auge. Das RDG verfolgt den Zweck, die Rechtssuchenden vor unqualifizierter Beratung zu schützen. Damit ist jedoch eine unqualifizierte Beratung im staatlichen Recht gemeint. Ist allen Beteiligten bewusst, dass es sich bei den Ratschlägen der aufgesuchten Person nur um eine Anweisung handelt, wie nach den religiösen Regeln die konkrete Problematik zu lösen ist, so liegt keine Rechtsdienstleistung im Sinne des RDG vor und der Anwendungsbereich des Gesetzes ist nicht eröffnet. cc) Konstellation 3 Daneben sind allerdings Konstellationen denkbar, in denen ein Beteiligter seine Rechte nach den deutschen Gesetzen nicht kennt und annimmt, dass diese der Scharia oder den traditionellen Regeln, wie sie der Imam oder eine andere von den Parteien aufgesuchte Person erklärt, wenigstens ähnlich sind. Diese Gefahr könnte vor allem Frauen betreffen, die kein Deutsch sprechen, abgeschottet leben und nur in sehr geringem Maße oder gar nicht in die deutsche Gesellschaft integriert sind. Obwohl in diesen Konstellationen ebenfalls eine Beratung lediglich nach religiösem Recht stattfindet, kann hier eine Anwendung des RDG nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Der Schutz des RDG wäre unzulänglich, würde man lediglich objektiv beurteilen, ob im konkreten Fall eine Rechtsberatung vorliegt. Denn für die rechtssuchende Person kann es keinen Unterschied machen, ob sie tatsächlich rechtlich beraten wird oder lediglich die Vorstellung hat, sie werde in der geltenden Rechtslage beraten. Auch die Regierungsbegründung spricht für diesen Befund. Danach kann eine rechtliche Prüfung „entweder objektiv, nämlich nach der maßgeblichen Verkehrsanschauung, oder subjektiv, also aufgrund eines vom Rechtssuchenden zum Ausdruck gebrachten Wunsches, Bestandteil der Dienstleistung“802 sein. Für das Vorliegen einer rechtlichen Prüfung kann also der explizit oder konkludent zum Ausdruck gebrachte Wille der Parteien, der Inhalt des Auftrags sprechen803. Es kommt daher vor allem darauf an, ob der Wunsch 802

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 46. Römermann (Fn. 753), § 2 Rn. 42; zu der Maßgeblichkeit objektiver und subjektiver Kriterien eingehend Kleine-Cosack (Fn. 752),§ 2 Rn. 46 ff.

803

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung

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nach einer Rechtsberatung für den Beratenden erkennbar war. Aufgrund dieses subjektiven Ansatzes, der erforderlich ist, um den Schutzzweck des Schutzes der Rechtssuchenden effektiv sicherzustellen, kann es in diesen Konstellationen zu einer Anwendung des RDG kommen. 3. Ausschlusstatbestände § 2 Abs. 3 RDG enthält Ausschlusstatbestände; ist ein solcher einschlägig, liegt keine Rechtsdienstleistung vor. a) Ausschluss des Vorliegens einer Rechtsdienstleistung nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 RDG: Schiedsrichter Keine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung ist gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 RDG die Tätigkeit von Schiedsrichtern. Unter schiedsrichterlicher Tätigkeit ist die förmliche Schiedsgerichtsbarkeit gemäß §§ 1025 ff. ZPO zu verstehen804. Die informellen Verfahren sind aber schon mangels Schiedsabrede keine Schiedsverfahren. Sinn und Zweck des Ausschlusstatbestandes könnten jedoch zu der Schluss­folge­ rung führen, dass auch die informellen Verfahren grundsätzlich nicht vom Regelungsbereich des RDG erfasst sind. Bereits unter der Geltung des Rechtsberatungsgesetzes war umstritten, ob eine schiedsrichterliche Tätigkeit überhaupt unter den Begriff der Rechtsberatung fällt805, da keine Beratung, sondern eine Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten stattfindet. Teilweise wird jedenfalls vertreten, dass die Vorschrift lediglich der Klarstellung diene und schiedsrichterliche Tätigkeit auch ohne explizite Nennung keine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung darstelle806. Soweit es in den informellen Verfahren schwerpunktmäßig nicht um eine Beratung, sondern um eine Entscheidung der Streitigkeit geht, könnte d­ aher grundsätzlich das Vorliegen einer erlaubnispflichtigen Rechtsdienstleistung zu verneinen sein. Hier muss jedoch differenziert werden. Keine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung wird zwar vorliegen, sofern es ausschließlich um eine Entscheidung geht und keinerlei beratende oder erörternde Gespräche mit dem zur Entscheidung Berufenen stattfinden. Regelmäßig werden, wie sich auch aus der eingangs dargestellten Praxis in Großbritannien ergibt807, die Grenzen zwischen Beratung und Entscheidung in den informellen Verfahren jedoch verwischen. Es mag beispielsweise vorkommen, dass eine Partei davon ausgeht, zunächst einmal mit dem Imam oder einer 804

Römermann (Fn. 753), § 2 Rn. 121; S. Offermann-Burckart, in: M. Krenzler (Hrsg.), Rechtsdienstleistungsgesetz Handkommentar, 2010, § 2 Rn. 201; Kleine-Cosack (Fn. 752), § 2 Rn. 147. 805 G. Rennen/G. Caliebe, Rechtsberatungsgesetz mit Ausführungsverordnung Kommentar, 1986, RBerG Art. 1 § 2 Rn. 8. 806 So ausdrücklich Kleine-Cosack (Fn. 752), § 2 Rn. 147; vorsichtiger Römermann (Fn. 753), § 2 Rn. 121. 807 Hierzu oben Erster Teil B.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

anderen Autoritätsperson die Streitigkeit zu erörtern, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Findet sich die Person dann aber unerwartet in einer Situation wieder, in der (vermeintlich) verbindliche Entscheidungen getroffen werden, ist sie besonders schutzwürdig. Das RDG will daher gerade auch ­informelle Verhandlungssituationen erfassen, die unerwartet in eine Entscheidungssituation mit möglicherweise verbindlichen Rechtsfolgen u­ mschwenken. Dies ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 3 Nr. 4 RDG. Nach § 2 Abs. 3 RDG liegt eine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung nicht vor, wenn es sich bei der in Frage stehenden Tätigkeit um Mediation handelt. Die Gesetzesbegründung hebt hier ausdrücklich hervor, dass sobald der Mediator durch Lösungsvorschläge in die Gespräche der Beteiligten eingreift, keine Mediation, sondern eine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung vorliegt. Die informellen Verfahren werden häufig genau in dieser Grauzone liegen, auf die daher im ­folgenden Punkt eingegangen wird. b) Ausschluss des Vorliegens einer Rechtsdienstleistung nach § 2 Abs. 3 Nr. 4 RDG: Mediation Eine erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung liegt also auch nicht vor, wenn es sich bei der in Frage stehenden Tätigkeit um Mediation808 nach § 2 Abs. 3 Nr. 4 RDG handelt. Der Begriff der Mediation ist mittlerweile gesetzlich im Mediationsgesetz geregelt, das am 26. Juli 2012 in Kraft getreten ist809. In § 1 MedG heißt es: (1) Mediation ist ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien mithilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Regelung ihres Konflikts anstreben. (2) Ein Mediator ist eine unabhängige und neutrale Person ohne Entscheidungsbefugnis, die die Parteien durch die Mediation führt810. 808 Vgl. hierzu die neuere Literatur nach Inkrafttreten des Mediationsgesetzes: H. Eidenmüller (Hrsg.), Alternative Streitbeilegung: Neue Entwicklungen und Strategien zur frühzeitigen Konfliktbewältigung. Beiträge der Konferenz zum zehnjährigen Bestehen des Centrums für Verhandlungen und Mediation (CVM) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2011; F. H.  Schmidt/T. Lapp/H.-G. Monßen (Hrsg.), Mediation in der Praxis des Anwalts, 2012; T. Trenczek/D. Berning/C. Lenz (Hrsg.), Mediation und Konfliktmanagement, 2013; zur Entwicklungsgeschichte der Mediation und ihrer Kodifikation in Deutschland D. Pielsticker, in: R. Fritz/D. Pielsticker (Hrsg.), Mediationsgesetz: Kommentar, Handbuch, Mustertexte, 2013, Einleitung. 809 Einen guten Überblick über die Regelungsinhalte geben M. Ahrens, Mediationsgesetz und Güterichter – Neue gesetzliche Regelungen der gerichtlichen und außergerichtlichen Mediation, in: NJW 2012, S. 2465–2471 und J. Risse, Das Mediationsgesetz – eine Kommentierung, in: SchiedsVZ 2012, S. 244–254;. 810 Ähnlich definiert schon die Gesetzesbegründung zum RDG: „Der Begriff Mediation bezeichnet die Methode der außergerichtlichen Konfliktbearbeitung, in der ein neutraler Dritter (Mediator) die Beteiligten dabei unterstützt, ihren Streit im Wege eines Gesprächs beizu­ legen und selbständig eine für alle Seiten vorteilhafte Lösung zu finden, die dann evtl. in einer ­Abschlussvereinbarung protokolliert wird.“ (BT-Drucks. 16/3655 [Fn. 791] S. 50).

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung

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Besonders relevant in Bezug auf die Friedensrichter ist das Merkmal der „eigenverantwortlichen Regelung“ bzw. der „Person ohne Entscheidungsbefugnis“. Ein Mediator darf ausschließlich gesprächsleitend tätig werden, die Klärung des Rechts­streits muss er den Parteien überlassen811. Dabei ist die ausschließlich durch die Parteien herbeigeführte Konfliktbeilegung das zentrale Merkmal, das die Mediation von Streitbeilegungsmechanismen unterscheidet, in denen ein Dritter durch Entscheidung den Konflikt beendet812. Sobald ein Mediator durch rechtliche Regelungsvorschläge gestaltend in die Gespräche der Beteiligten eingreift, kann dies als erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung zu qualifizieren sein813. Ein „Eingreifen“ in diesem Sinne wird auch nicht erst dann vorliegen, wenn ein Vorschlag des Mediators von den Parteien angenommen wird, sondern bereits mit der Unter­breitung eines konkreten Vorschlags.  Denn bereits das Unterbreiten einer Lösungsmöglichkeit birgt die Gefahr der Beeinflussung814. Diese strengen Regelungen sind damit zu erklären, dass die Parteien in einer Mediationssituation besonders schutzwürdig sind815. Die Medianten sehen sich aufgrund der besonderen Gesprächssituation häufig in die Lage versetzt, ad hoc rechtlich bindende Erklärungen abzugeben, deren Tragweite sie in diesem Moment schwer überblicken können816. Die Gesetzesbegründung des Rechtsdienstleistungsgesetzes stellt ferner klar, dass auch schon eine über eine bloße Protokollierung des erzielten Mediationsergebnisses hinausgehende Abfassung einer Abschlussvereinbarung den Tatbestand der Rechtsdienstleistung erfüllen kann817. Aus der Gesetzesbegründung geht demnach hervor, dass gerade informelle Verhandlungen, die Gefahr laufen, in eine „Entscheidung“ überzugehen, vom Rechtsdienstleistungsgesetz erfasst werden sollten. Wird in muslimischen Kreisen informell zwischen streitenden Parteien „vermittelt“, so ist daher in jedem Einzelfall zu prüfen, ob tatsächlich eine bloß mediative Tätigkeit vorliegt. Vor allem in Eherechtsstreitigkeiten mag dies oft der Fall sein, da es nach islamischem Recht oberstes Ziel ist, die Ehe durch Versöhnung zu erhalten. Ebenso wird aber die Grenze zur Rechtsberatung nicht selten überschritten sein, wie es beispielsweise aus Wagners Recherchen hervorgeht. Ein Berliner Friedensrichter, den der Autor befragte, gab an, den Inhalt von Einigungen nicht zu kennen818. Eine Person aus der einschlägigen Szene sagt je 811

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791) S. 50. R. Fritz, in: ders./D. Pielsticker (Hrsg.), Mediationsgesetz: Kommentar, Handbuch, Muster­ texte, 2013, § 1 Rn. 15. 813 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791) S. 50. 814 Römermann (Fn. 753), § 2 Rn. 137. 815 Römermann (Fn. 753), § 2 Rn. 137. 816 Auf diese der Mediation spezifisch innewohnende Gefahr weisen etwa hin: Classen (Fn. 380), Art. 92 Rn. 27; Offermann-Burckart (Fn. 804), § 2 Rn. 220. 817 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 50. 818 J. Wagner, Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 2011, 2. Aufl. 2012 mit der Ergänzung im Titel „Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat – Wie Imame in Deutschland die Scharia anwenden, S. 111. 812

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

doch über genau diesen „Schlichter“: „Wenn es Ärger gibt, holt man ihn, und er entscheidet. Er schlichtet den Streit und sagt dann, was richtig ist.“819 Oktroyiert der „Schlichter“ den Parteien de facto eine Lösung, ist die Grenze zur Mediation jedenfalls überschritten. Abschließend bleibt noch festzuhalten, dass, auch wenn sich die religiösen Schlichtungen grundsätzlich unter die im Mediationsgesetz festgelegten Merkmale subsumieren lassen, der Gesetzgeber solche Schlichtungen bei Erlass des Mediationsgesetzes nicht vor Augen hatte. Zwar sollte das Mediationsgesetz außergerichtliche Konfliktlösung fördern.  Außergerichtliche Konfliktlösung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit staatsfernen rechtlichen Parallelstrukturen. Der Gesetzgeber, der anlässlich des Erlasses des Mediationsgesetzes auch auf das­ Gesetz abgestimmte Änderungen der Zivilprozessordnung vornahm820, geht davon aus, dass die Mediation eine Vorstufe zum staatlichen Gerichtsverfahren ist, durch die den Parteien die Möglichkeit gegeben wird, den Konflikt einvernehmlich beizulegen. Gelingt dies den Parteien nicht, greifen sie auf ein staatliches Gerichtsverfahren zurück. Bei den religiösen Verfahren besteht nach den derzeitigen Erkenntnissen insofern der gravierende Unterschied, dass diese anstelle des staatlichen Verfahrens stattfinden. Die Parteien akzeptieren die Ergebnisse meist als endgültig, auch wenn sie keinen beide Parteien zufriedenstellenden Kompromiss gefunden haben. 4. Erlaubnisfreiheit aufgrund eines Ausnahmetatbestandes? Selbst wenn man zu dem Ergebnis gelangt, dass bestimmte Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit informellen muslimischen Streitschlichtungsmechanismen vorgenommen werden, die Voraussetzungen einer Rechtsdienstleistung grundsätzlich erfüllen, können diese Handlungen dennoch ausnahmsweise erlaubnisfrei sein, wenn einer der Ausnahmetatbestände des RDG erfüllt ist. Im Zusammenhang mit den informellen Verfahren werden vor allem die Tatbestände der Beratung in einem ausländischen Recht (a) sowie die unentgeltliche Rechtsberatung (b), besonders im sogenannten Nahbereich, in Betracht kommen.

819

Wagner, Richter (Fn. 818), S. 111. Hier ist vor allem der neu eingefügte § 278a ZPO zu nennen, nach dem das Gericht den Parteien eine Mediation oder ein anderes Verfahren der außergerichtlichen Konfliktregelung vorschlagen und bei positiver Entscheidung der Parteien das Ruhen des Verfahrens anordnen kann. Nach § 253 Abs. 3 ZPO soll nun ferner die Klageschrift die Angabe enthalten, ob der Klageerhebung der Versuch einer Mediation oder einer anderen außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorausgegangen ist. Zu den übrigen Änderungen siehe das Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung, abgedruckt in: R. Fritz/D. Pielsticker (Hrsg.), Mediationsgesetz: Kommentar, Handbuch, Mustertexte, 2013, Gesetzestext, Artikel 2 Änderung der Zivilprozessordnung (S. 6). 820

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung

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a) Rechtsdienstleistung aufgrund besonderer Sachkunde in einem ausländischen Recht, §§ 10 Abs. 1 Nr. 3, 12 RDG Die Vorschrift des § 10 RDG zählt abschließend Rechtsdienstleistungen auf, die nach einer Registrierung erlaubnisfrei sind821. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 RDG ist die Erbringung von Rechtsdienstleistung aufgrund besonderer Sachkunde in einem ausländischen Recht nach erfolgter Registrierung erlaubt. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass die Vorschrift lediglich Beratungen erfasst, die tatsächlich ein ausländisches staatliches Recht zum Gegenstand haben. Grundsätzlich können alle natürlichen und juristischen Personen sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit registriert werden822. Die Registrierung ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG823. Als konstitutive Voraussetzung für die Berufsausübung ist die Eintragung in das Rechtsdienstleistungsregister normiert824. Die Registrierung erstreckt sich der Regierungsbegründung zufolge grundsätzlich auf eine einzelne, in dem Antrag genau zu bezeichnende Rechtsordnung825. Nimmt eine Person, die sich unter Erfüllung der Voraussetzungen des § 12 RDG registriert hat, Rechtsdienstleistungen in diesem Sinne vor, so ist eine solche Beratung nach dem RDG grundsätzlich zulässig. Dies gilt auch, wenn die aus­ländische Rechtsordnung auf der Scharia beruht. In § 12 RDG wird als Voraussetzung für eine Registrierung zunächst die persönliche Zuverlässigkeit und Eignung vorausgesetzt. Im Regelfall fehlt diese nach der Vorschrift, wenn die Person in den letzten drei Jahren vor Antragstellung wegen eines Verbrechens oder eines die Berufsausübung betreffenden Vergehens rechtskräftig verurteilt worden ist, wenn die Vermögensverhältnisse der Person ungeordnet sind oder wenn in den letzten drei Jahren vor Antragsstellung eine Registrierung nach § 14 BRAO oder eine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 und 7 bis 9 BRAO widerrufen wurde, die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft nach § 14 Abs. 1 BRAO zurückgenommen wurde oder nach § 7 BRAO versagt wurde oder ein Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft erfolgt ist. Weitere Voraussetzung ist der Nachweis theoretischer und praktischer Sachkunde in dem Bereich, in dem die Rechtsdienstleistung erbracht werden soll. Die theoretische Sachkunde ist gegenüber der zuständigen Behörde durch Zeugnisse nachzuweisen. Praktische Sachkunde setzt in der Regel eine mindestens zwei Jahre unter Anleitung erfolgte Berufsausübung oder praktische Berufsausbildung voraus. Außerdem ist eine Berufshaftpflichtversicherung mit einer Mindestversicherungssumme von 250.000 Euro für jeden Versicherungsfall abzuschließen. 821

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 63. BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 63. 823 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 63. 824 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 63. 825 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 65. 822

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Diese Voraussetzungen zeigen, dass die Registrierung von Personen, die informelle religiös oder traditionell orientierte Rechtsdienstleistung betreiben, zwar theoretisch möglich ist, aber schon allein aufgrund der Voraussetzung des Abschlusses einer Berufshaftpflichtversicherung praktisch wohl nicht stattfinden wird. Auch ist zu vermuten, dass Personen, die informelle islamische Rechtsdienstleistung betreiben, sich aller Wahrscheinlichkeit nach tendenziell nicht registrieren wollen. Denn dies würde zu einer unerwünschten Kontrolle durch den Staat führen. Aufgrund des bewusst informellen Charakters ist eine Erlaubnis der infor­ mellen islamischen Streitbeilegung nach § 12 RDG daher wohl eher theoretischer Natur. Dennoch besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass Personen aus Ländern islamisch geprägter Rechtsordnungen unter den Voraussetzungen des § 12 RDG zulässigerweise Rechtsdienstleistungen erbringen können. b) Unentgeltlichkeit, § 6 RDG Gemäß § 6 Abs. 1 RDG sind außerdem Rechtsdienstleistungen erlaubt, die nicht im Zusammenhang mit einer entgeltlichen Tätigkeit stehen (unentgeltliche Rechtsdienstleistungen). Allerdings wird diese Erlaubnis durch die in § 6 Abs.  2 RDG niedergelegten Voraussetzungen erheblich eingeschränkt. Nach der Regierungsbegründung liegt keine Unentgeltlichkeit vor, „wenn die Rechtsdienstleistung nach dem Willen des Dienstleistenden und des Rechtssuchenden von einer Gegenleistung des Rechtssuchenden abhängig sein soll“826. Als Gegenleistung kommt dabei laut der Begründung nicht nur eine Geldzahlung, sondern jeder andere Vermögensvorteil in Betracht, den der Rechtsdienstleistende für seine Leistung erhalten soll. Aufwandsentschädigungen lassen die Rechtsdienstleistung nicht zu einer entgeltlichen werden, solange sie sich auf die tatsächlich entstandenen Kosten beschränken und nicht etwa die Arbeitszeit des Dienstleisters honorieren827. Erlaubt sind nur uneigennützige Rechtsdienstleistungen. Sobald auch nur eine mittelbare Gewinnerzielungsabsicht besteht, liegt eine entgeltliche Rechtsdienstleistung vor828. Ein Geschenk als Dank, beispielsweise im Familienkreis, lässt die Rechtsdienstleistung aber nicht zu einer entgeltlichen werden829. Darüber, ob die Friedensrichter ihre Tätigkeiten unentgeltlich oder entgeltlich anbieten, bestehen bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Zwar ist zu vermuten, dass die informellen Verfahren aufgrund ihrer traditionellen oder religiösen Prägung oft unentgeltlich stattfinden. Dies lässt sich jedoch sicherlich nicht ver­ 826

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 57. A. Piekenbrock, in: R. Gaier/C. Wolf/S. Göcken (Hrsg.), Anwaltliches Berufsrecht, 2010, § 6 Rn. 9. 828 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 57. 829 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 57. 827

F. Unzulässige Rechtsdienstleistung

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allgemeinern. Laut Wagners Recherchen erklärte ein Friedensrichter, dass Schlichter für kleinere Streitigkeiten teilweise 1000 bis 3000 Euro „kassieren“. Und auch er selbst, der laut Wagner vorgab, keinerlei Gegenleistungen zu verlangen, räumte ein, ihm sei von einem Gemüsehändler, dessen Streit mit einem Lieferanten er erfolgreich geschlichtet habe, als „Geste der Dankbarkeit“ ein BMW „geliehen“ worden. Trennscharfe Abgrenzungen zwischen freundschaftlichen Aufmerksamkeiten und entgeltlichen Gegenleistungen sind in solchen Fällen schwierig zu treffen. Nach § 6 Abs. 2 S. 1 RDG sind unentgeltliche Rechtsdienstleistungen allerdings nur im familiären, nachbarschaftlichen oder ähnlich engen persönlichen Beziehungen einschränkungslos erlaubt. Dies erklärt sich laut der Regierungsbegründung aus folgender Überlegung: „Personen, die unentgeltliche Rechtsdienstleistungen nur im Kreis der Familie, Nachbarn und Freunde erbringen, brauchen eine besondere juristische Qualifikation nicht aufzu­ weisen, da derjenige, der bei einem Familienangehörigen, einem Freund oder Nachbarn unentgeltlichen Rechtsrat einholt, sich über die Risiken eines unentgeltlichen, aus persönlicher Verbundenheit erteilten Rechtsrats im Klaren sein muss und daher nicht schutzbedürftig ist.“830

Das RDG will insoweit den privaten Lebensbereich grundsätzlich unreguliert lassen831. Laut Regierungsbegründung dürfen außergerichtliche Rechtsdienstleistungen „nicht nur im engsten Bekanntenkreis, sondern in allen Fällen näherer persönlicher Bekanntschaft ohne Einschränkungen erbracht werden, wie sich aus der ausdrücklichen Nennung der nachbarschaftlichen Beziehung ergibt. Ähnliche soziale Beziehungen bestehen etwa unter Arbeitskollegen oder Vereinsmitgliedern, soweit diese sich gegenseitig Hilfe leisten.“832

Damit ist der unregulierte Nähebereich extrem weit gefasst. Eine ähnlich enge persönliche Beziehung kann schon zu bloßen Freizeitbekanntschaften bestehen, soweit zwischen den Beteiligten nur eine über einen bloß einmaligen Kontakt hinausgehende persönliche Beziehung gleich welcher Art besteht. Stellt man sich beispielsweise eine Rechtsdienstleistung in der Weise vor, dass ein Familienangehöriger einem sich trennen wollenden Ehepaar eine Einigung­ bezüglich der Scheidungsfolgen vorschlägt, so ist gem. § 6 Abs. 1 RDG eine solche Rechtsdienstleistung selbst dann erlaubt, wenn sie über eine bloße Mediation­ hinausgeht; sie muss lediglich unentgeltlich sein und im Nähebereich erfolgen. Die Vorschrift erfasst sämtliche Rechtsdienstleistungen, die von Familienangehörigen oder nahen Bekannten vorgenommen werden.

830

BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 58. BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 63. 832 BT-Drucks. 16/3655 (Fn. 791), S. 58. 831

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

Fraglich erscheint nun, ob der Ausnahmetatbestand ebenfalls greift, wenn – was oft der Fall sein wird – ein Imam eine solche Rechtsdienstleistung vornimmt. Hier wird es immer auf den konkreten Einzelfall ankommen. Ist der Imam gleichzeitig ein guter Bekannter der Familie, wird der Ausnahmetatbestand anzuwenden sein. Ist er für die Familie jedoch „nur“ der religiöse Vorsteher der Gemeinde und wird er mehr als religiöse Autorität denn als Freund oder Verbundener der Familie angesehen, so wird man die Anwendbarkeit der Vorschrift verneinen müssen. Hinzu kommt, dass die Aufgabe der Konfliktregelung in muslimischen Gemeinden zum Arbeitsalltag der meisten Imame gehört833. Da der Imam aber für seine Arbeit grundsätzlich bezahlt wird834, dürfte schon das Merkmal der Unentgeltlichkeit nicht mehr als erfüllt angesehen werden.

VI. Ergebnis Im Ergebnis ist festzuhalten, dass schon die Anwendbarkeit des RDG auf informelle muslimische Streitschlichtungsmechanismen einige Schwierigkeiten bereitet und nur in den dargelegten eng umgrenzten Fällen möglich sein wird. Viele Tätigkeiten, die die Friedensrichter vornehmen, stellen schon keine Rechtsdienstleistung dar. Auch wird eine Abgrenzung zur Mediation oft Schwierigkeiten be­reiten. Soweit das RDG anwendbar ist, können informelle muslimische Rechtsdienstleistungen allerdings dem Grunde nach teilweise unterbunden werden. Jedoch wird vor allem der Erlaubnistatbestand der unentgeltlichen Rechtsdienstleistung im Nähebereich zu beachten sein.

G. Eingriffe bei strafrechtlich relevantem Verhalten im Rahmen der religiösen Paralleljustiz im familienrechtlichen Bereich Letztlich soll noch angemerkt werden, dass der Staat ohne weiteres immer dann eingreifen kann, wenn strafrechtliche Normen verletzt werden. Neben der Möglichkeit repressiver Maßnahmen kann ein präventiver Eingriff dann auf die polizeiliche Generalklausel der Landesgesetze gestützt werden835. Wird im Rahmen der informellen Verfahren gegen Strafnormen verstoßen, so stellt dies eine Verletzung der Rechtsordnung sowie gegebenenfalls eine Verletzung der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen dar.

833 R. Ceylan, Die Prediger des Islam. Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen, 2010, S. 38. 834 Eine anschauliche Übersicht zu den Aufenthalts- und Beschäftigungsverhältnissen der in Deutschland tätigen Imame gibt Ceylan, Prediger (Fn. 833), S. 41. 835 Vgl. bspw. § 14 Abs. 1 OBG NRW.

G. Eingriffe bei strafrechtlich relevantem Verhalten

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Im Folgenden werden mögliche strafrechtlich relevante Gefahren der von Bano untersuchten, oben schon beschriebenen religiösen Scheidungsverfahren aufge­ zeigt. Die typische Konstellation soll hier noch einmal kurz umrissen werden: Muslimische Frauen wenden sich an die informellen Institutionen, um eine religiöse Scheidung zu erwirken. Diese ist für ihr gesellschaftliches Leben von sehr viel größerer Bedeutung als die zivilrechtliche Scheidung. Solange sie nicht religiös geschieden sind, gelten sie in der Gemeinde als verheiratet und können faktisch keine neue Ehe eingehen. Bano kritisiert an den Scheidungsverfahren vor allem, dass sich die Frau oft in einer schwächeren Position befindet, da sie das Scheidungszertifikat dringend brauche. Nicht selten würden die Schlichtungssitzungen dazu benutzt, Unterhalt und Sorgerechtsfragen zu verhandeln, in denen die Frauen erhebliche Zugeständnisse machen würden, um das Scheidungszertifikat schließlich zu erhalten836. Fänden solche Verfahren auch in Deutschland statt, könnte die Grenze zur Nötigung gemäß § 240 StGB oder sogar zur Erpressung gemäß § 253 StGB schnell überschritten sein. Der Tatbestand des § 240 StGB ist verwirklicht, wenn ein Mensch rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt wird. Eine Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, auf dessen Eintritt der Drohende Einfluss zu haben vorgibt837. Empfindlich ist das Übel, wenn es bei objektiver Betrachtung dazu geeignet ist, einen besonnenen Menschen in der konkreten Situation zu dem damit erstrebten Verhalten zu bestimmen838. Das Inaussichtstellen der Verweigerung einer religiösen Scheidung ist aufgrund der besondere Bedeutung, die die religiöse Scheidung für die betroffenen Frauen hat, geeignet, einen besonnenen Menschen zu Zugeständnissen in Verhandlungen, beispielsweise über Sorgerechts- oder Unterhaltsfragen, zu veranlassen. Nach § 240 Abs. 2 StGB ist eine Nötigung nur strafbar, wenn die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist (Mittel-Zweck-Relation). Die Rechtsprechung hat bisher darauf abgestellt, ob die Nötigung so verwerflich, also sittlich so miss­billigenswert ist, dass sie ein gesteigertes, als Vergehen strafwürdiges Unrecht­ darstellt839. Das Schrifttum und Teile der Rechtsprechung stellen hingegen darauf 836 Bano, Family Arbitration (Fn. 55), S. 20; von ähnlichen persönlichen Erfahrungen berichtet die Frauenrechtlerin Khan auf der Auftaktveranstaltung der One Law for All-Kampagne im House of Lords am 10. März 2008, eine Aufzeichnung der Rede ist abrufbar unter: http://www. youtube.com/watch?v=J6mvv2ZCTKs&feature=channel_page&hl=de&gl=DE (03.12.2015); Lorraine E. Weinrib schildert einen Fall in Kanada, in dem die Ehefrau sich aufgrund einer Zweitheirat des Ehemannes zivilrechtlich scheiden ließ. Da der Ehemann ihr keine religiöse Scheidung gewähren wollte, zog sie sämtlich Unterhalts- und Sorgerechtsklagen zurück und zahlte dem Mann eine hohe Geldsumme (L. E. Weinrib, Ontario’s Sharia Debate, in: R. Moon [Hrsg.], Law and Religious Pluralism in Canada, 2008, S. 239–263 [254]). 837 Statt vieler etwa BGHSt 16, 386 (387); J. Wessels/M. Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil I, 39. Aufl. 2015, Rn. 380. 838 Statt vieler etwa BGH NStZ 1982, 287. 839 So etwa BGHSt 17, 328; 19, 263.

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2. Teil: Religiöse Paralleljustiz im Familien- und Erbrecht 

ab, ob die Nötigung sozialwidrig oder sozial unerträglich ist840. Die verwerfliche Mittel-Zweck-Relation würde jedenfalls vorliegen, wenn beispielsweise Imame oder Ehemänner die gesellschaftliche oder auch religiöse Zwangslage der betroffenen Frauen ausnutzen, um in sensiblen Bereichen wie Sorgerechtsfragen oder­ finanziellen Vereinbarungen Zugeständnisse zu erreichen. Lebenssachverhalte, wie die von Bano beschriebenen, würden somit den Tatbestand der Nötigung verwirklichen. Erleiden die Frauen durch die Nötigung einen finanziellen Nachteil, beispielsweise durch Verzicht auf Unterhaltszahlungen, und wird dadurch ein anderer bereichert, beispielsweise der Ehemann, so wäre sogar der Tatbestand der Erpressung gemäß § 253 StGB verwirklicht. In diesen Fällen wäre neben der Strafverfolgung auch ein präventiver Eingriff der Ordnungsbehörden, zum Beispiel durch Untersagung der religiösen Scheidungsverfahren möglich. Letztlich bleibt anzumerken, dass das Verbot der Doppelehe in Deutschland auch strafrechtlich in § 172 StGB sanktioniert ist. Bei der zweiten Eheschließung muss es sich allerdings um eine säkulare, formell gültige Eheschließung handeln. Eine rein religiöse Trauung zwischen bereits anderweitig verheirateten Personen erfüllt den gesetzlichen Tatbestand hingegen nicht841.

840

So etwa BayOBLG NJW 1995, 269 (270); Heger, StGB (Fn. 838), § 240 Rn. 18 f.; C. Roxin, Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, in: JuS 1964, S. 373–381 (375); T. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 62. Aufl. 2015, § 240 Rn. 41. 841 C. Ritscher, in: W. Joecks/K. Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 172 Rn. 12.

Dritter Teil

Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten Im dritten Teil werden nun die informellen Schlichtungen strafrechtlich relevanter Sachverhalte untersucht. Hierzu sei noch einmal umrissen, von welchen Situationen nach den bisherigen Erkenntnissen auszugehen ist1: Sogenannte Friedensrichter werden vor allem in Essen, Berlin und Bremen bei Vermittlungen zwischen arabischen Clans tätig. Als Friedensrichter agieren meist Familienälteste oder Clanchefs, teilweise aber auch Personen, die keinen besonderen Bezug zu den­ Beteiligten haben, sich aber auf die Vornahme von Schlichtungen „spezialisiert“ haben und in der einschlägigen Szene regelmäßig zur Lösung von Konflikten eingeschaltet werden. Die Friedensrichter bringen sich vorwiegend bei gewalttätigen Konflikten ein, aber auch im Zusammenhang mit anderen Delikten wie beispielsweise Diebstählen versuchen sie, zwischen Täter und Opfer zu vermitteln. Die Schlichtungen verfolgen regelmäßig den Zweck, das Opfer gegen die Zahlung eines Geldbetrages von einer Anzeige abzubringen. Ist ein Strafverfahren schon angelaufen, soll das Opfer die Aussage verweigern oder zurücknehmen. Oft sagen die Opfer kurz nach der Tat zunächst bei der Polizei aus; nachdem dann jedoch ein Schlichter eingreift und vermittelt, ändert das Opfer sein Aussageverhalten. Regelmäßig soll also durch die Absprachen die Beweisführung zugunsten der Tatverdächtigen beeinflusst werden. Aufgrund dieser systematischen Absprachen zwischen Tätern und Opfern ist es daher oft unmöglich, die Taten nachzuweisen. Wegen des der Beweisaufnahme zugrundeliegenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes, der in § 250 StPO verankert ist, und des darauf beruhenden Verbots der Verlesung früherer Vernehmungsprotokolle für den Fall, dass sich ein Zeuge in der Hauptverhandlung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft (§ 252 StPO), werden früher getätigte Aussagen für die Beweiswürdigung oft wertlos2. 1 Siehe zum Folgenden: Bayerisches Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hrsg.), „Paralleljustiz“ – Abschlussbericht auf der Grundlage der „Stoffsammlung“ vom 13. März 2012 und unter Einbeziehung der Ergebnisse des vom Bayerischen Staatsministeriums für Justiz und für Verbraucherschutz einberufenen Runden Tisches „Paralleljustiz“ mit einer Anlage „Paralleljustiz“ – Maßnahmen der Vertrauensbildung und zur Sensibilisierung der Justizpraxis (Stand: November 2012), S. V; J. Wagner, Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat, 2011; 2. Aufl. 2012 mit der Ergänzung im Titel „Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat – Wie Imame in Deutschland die Scharia anwenden“. 2 Zum Unmittelbarkeitsgrundsatz instruktiv P. Velten, in: J. Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 250 sowie vertiefend K. Geppert, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren, 1979.

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

Im Folgenden werden zunächst die Grundzüge des islamischen Strafrechts herausgearbeitet (A.), die sodann dem Offizialprinzip gegenübergestellt werden (B.). Sodann sollen einige Gedanken zu der häufig vorgebrachten These, die Friedensrichter übten eine Befriedungsfunktion aus, gefasst werden (C.). Schließlich wird geprüft, welche Maßnahmen nach der gegenwärtigen Rechtslage gegen die traditionelle Schlichtung strafrechtlich relevanter Konflikte ergriffen werden können (D.).

A. Religiös-kulturelle Motive der Beteiligten – Das islamische Strafrechtsverständnis Die Motive der Beteiligten, die staatliche Justiz in strafrechtlichen Konflikten soweit wie nur möglich zu meiden, sind sicherlich vielgestaltig und werden vermutlich zu einem Großteil von eigenem Vorteilsstreben getragen. Auf Opferseite liegt hier ein monetäres Interesse an einer Entschädigungszahlung nahe, auf Täterseite der Wunsch, einer Strafe zu entgehen. Auch sollte nicht verkannt werden, dass das Phänomen, Straftaten nicht anzuzeigen sondern im privaten Bereich zu regeln, in kriminellen Kreisen, vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität, ohnehin weit verbreitet ist3. Nach den (wenigen) bisherigen Erkenntnissen kann jedoch jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die religiös-­kulturelle Prägung der Beteiligten zumindest ein weiterer Aspekt ist, durch den die Beteiligten motiviert werden, den staatlichen Justizapparat zu meiden4. Zu dem Zweck eines Erklärungsversuchs soll daher an dieser Stelle auf das islamische Strafrechtsverständnis5 eingegangen werden.

I. Kategorisierung der Straftatbestände In Koran und Sunna finden sich kaum konkrete Strafvorschriften, so dass es Aufgabe der Fiqh-Gelehrten war, die Lücken zu einem System zu verdichten6. Straftaten lassen sich im islamischen Recht in drei Kategorien aufteilen: Grenzvergehen (hadd), Talionsdelikte (qiṣāṣ) und Züchtigungstatbestände (taᶜzīr)7. Dabei 3

So auch StMVJ, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 1), S. 6 f. So auch Wagner, Richter (Fn. 1), S. 18 ff.; StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 1), S. 8 f. 5 Zu beachten ist, dass in den meisten islamisch geprägten Staaten heute Strafgesetze gelten, die das traditionelle Strafrecht nicht oder nur teilweise berücksichtigen. Vor allem die haddStrafen werden mit Ausnahme von Saudi-Arabien, Iran, Sudan, Somalia und Teilen Nigerias und Pakistans nicht mehr angewendet, hierzu P. Bleisch Bouzar, Islamisches Recht, in: R. Pahud de Mortanges u. a. (Hrsg.), Religionsrecht. Eine Einführung in das jüdische, christliche und islamische Recht, 2010, S. 253–349. 6 S. Agerer, Das Recht des Koran. Islamisches Strafrecht in der Gegenwart, 2006, S. 14. 7 T. W. Juynboll, Handbuch des islamischen Gesetzes nach der Lehre der schāfiᶜitischen Schule nebst einer allgemeinen Einleitung, 1910, S. 290; G. Benmelha, Ta‘azir crimes, in: 4

A. Religiös-kulturelle Motive der Beteiligten

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liegt dem islamischen Recht eine „Zweiteilung von Rechten“ zugrunde8. So kann ein strafbares Verhalten Rechte Gottes (haqq allah), Rechte der Menschen (haqq alibad) oder beide Rechtskategorien verletzen9. Die Folgen einer Verletzung von „Gottesrecht“ unterscheiden sich grundlegend von den Folgen einer Verletzung von „Menschenrecht“. Ein Verstoß gegen das Recht Gottes muss in jedem Fall durch den Staat, der in diesem Fall als „Gottes Vertreter“10 die Strafe vollstreckt, verfolgt werden11. Die Verfolgung und Bestrafung einer Tat, die Rechte der Menschen verletzt, liegt hingegen primär in der Hand des Opfers12. 1. Grenzvergehen (hadd) Straftaten, die das Recht Gottes verletzen, sind die sogenannten Grenzvergehen (hadd)13. Hadd-Verbrechen finden ihre Grundlage unmittelbar in koranischen Vorschriften14, die durch die Sunna präzisiert werden15. Grenzvergehen sind der außereheliche Geschlechtsverkehr (Suren 24:2–3, 17:32, 4:15), die fälschliche Bezichtigung der Unzucht (Sure 24:4), der Genuss berauschender Getränke (Suren 2:219, 4:43, 5:90–91), der Diebstahl werthaltiger Gegenstände (Sure 5:38) sowie der Straßenraub (Sure 5:33)16. Oft werden auch Aufruhr gegen die Staatsgewalt und Abfall vom islamischen Glauben als solche gewertet17. Die drakonischen Strafen

M. C. Bassiouni (Hrsg.), The Islamic Criminal Justice System, 1982, S.  211–225 (212); S. Tellen­bach, Strafgesetze der Islamischen Republik Iran, 1996, Einl. S. 5; Agerer, Recht (Fn. 6), S. 14; M. Rohe, Das Islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 2011, S. 122. 8 Hierzu instruktiv A. El Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, Grundlagenprobleme der islamischen Strafrechtslehre, 1983, S. 175 ff. 9 Näher hierzu El Baradie, Gottes-Recht (Fn. 8), S. 96 ff.; ferner Benmelha, Ta‘azir crimes (Fn. 7), S. 212; Tellenbach, Strafgesetze (Fn. 7), Einl. S. 6; H.-G. Ebert, Tendenzen der Rechtsentwicklung, in: W. Ende/U. Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, 5. Aufl. 2005, S. 199–228 (208); Rohe, Recht (Fn. 7), S. 123; C. Zehetgruber, Islamisches Strafrecht versus europäische Werteordnung, 2010, S. 66. 10 M. Lippman/S. McConville/M. Yerushalmi, Islamic Criminal Law and Procedure, 1988, S. 41. 11 Benmelha, Ta‘azir crimes (Fn. 7), S. 212; Zehetgruber, Strafrecht (Fn. 9), S. 66. 12 El Baradie, Gottes-Recht (Fn. 8), S. 176. 13 Lippman/McConville/Yerushalmi, Criminal Law (Fn. 10), S. 41; Ebert, Tendenzen (Fn. 9), S.  208; Agerer, Recht (Fn.  6), S.  14; Rohe, Recht (Fn.  7), S.  123; Zehetgruber, Strafrecht (Fn. 9), S. 69. 14 Benmelha, Ta’azir crimes (Fn. 7), S. 212; Lippman/McConville/Yerushalmi, Criminal Law (Fn. 10), S. 38. 15 Ebert, Tendenzen (Fn. 9), S. 208. 16 Zu den Delikten im Einzelnen Juynboll, Handbuch (Fn. 7), S. 300 ff. 17 H.-H. Jescheck, Islamisches und westliches Strafrecht – Gemeinsames und Gegensätze, in: R. D. Herzberg (Hrsg.), Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, 1985, S. 543–557 (553); Lippman/McConville/Yerushalmi, Criminal Law (Fn.  10), S.  44; Ebert, Tendenzen (Fn. 9), S. 209 f.; Zehetgruber, Strafrecht (Fn. 9), S. 66.

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

für Grenzvergehen (beispielsweise Steinigung, Peitschenhiebe, Abhacken der Hand) variieren je nach Delikt18. Prozessual werden allerdings hohe Anforderungen an den Beweis eines hadd-Verbrechens gestellt19. 2. Talionsdelikte (qiṣāṣ) Von den Grenzvergehen sind die privatrechtlich geprägtenTalionsdelikte (qiṣāṣ) zu unterscheiden20. Talionsdelikte sind vorsätzliche Straftaten gegen Leib und Leben, also vorsätzliche Körperverletzung und Tötung21. Die Talio ist seit Beginn der Menschheitsgeschichte bekannt22. Entsprechende Regelungen des auch aus der Bibel bekannten Prinzips „Auge um Auge, Zahn um Zahn“23 fanden sich bereits im Codex Hammurapi24 sowie im römischen Recht der Zwölf Tafeln25. Im Stammes- und Nomadenleben der vorislamischen Zeit, in dem es keine staatliche Institution gab, die die Strafverfolgung übernehmen konnte, sorgte das Praktizieren der Talion für eine gewisse Stabilität zwischen den verschiedenen Stämmen26. Durch das Wirken Muhammads wurde das Talionsprinzip jedoch bedeutend abgeändert. Durch die Gemeindeordnung von Medina, deren Einzelheiten in der Forschung umstritten sind27, befriedete Muhammad die verschiedenen Stämme in Medina. Das gesamte Volk der Gläubigen sollte eine Gemeinde (umma) bilden. Die Befriedung der Stämme gemeinsam mit der Lehre des jüngsten Tages (yaum al-din) führte zur Abkehr von der Vergeltungstradition hin zu der Akzeptanz der Institution des Blutgeldes28. So wird dem Opfer bzw. dessen Erben zwar zum einen im Koran ein Wiedervergeltungsrecht eingeräumt, zum anderen aber der Verzicht des Opfers bzw. der Erben auf die Wiedervergeltung gut­ge­heißen29. Es besteht also 18

Siehe hierzu die Übersicht bei Ebert, Tendenzen (Fn. 9), S. 209. Bleisch Bouzar, Recht (Fn. 5), S. 324. 20 Vgl. zu den Qiṣāṣ-Strafen instruktiv El Baradie, Gottes-Recht (Fn. 8), S. 129 ff.; Juynboll, Handbuch (Fn. 7), S. 294 ff. 21 Tellenbach, Strafgesetze (Fn. 7), S. 5 f.; M. E. S. Nateri, Formal and informal means of conflict resolution in murder cases in Iran, in: H.-J. Albrecht u. a. (Hrsg.), Conflicts and conflict resolution in Middle Eastern societies – between tradition and modernity, 2006, S. 401–410 (402). 22 U. Ebert, Talion und Spiegelung im Strafrecht, in: W. Küper u. a. (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987, S. 399–422 (403); Zehetgruber, Strafrecht (Fn. 9), S. 129. Zur historischen Entwicklung der Vergeltung als Strafzweck P. Hoffmann, Zum Verhältnis der Strafzwecke Vergeltung und Generalprävention in ihrer Entwicklung und im heutigen Strafrecht, 1992. 23 Exodus 21:23 ff., Levitikus 24:17 ff., Deuteronomium 19:21. 24 W. Gast, Gerechtigkeit mit dem Spiegel. Ius talionis im Alten Orient und in Dantes Commedia, in: F. Graf v. Westphalen/O. Sandrock (Hrsg.), Lebendiges Recht: von den Sumerern bis zur Gegenwart, Festschrift für Reinhold Trinkner zum 65. Geburtstag, 1995, S. 29–38. 25 Ebert, Talion (Fn.), S. 404 m. w. N. in Fn. 32; Zehetgruber, Strafrecht (Fn. 9), S. 129. 26 Lippman/McConville/Yerushalmi, Criminal Law (Fn. 10), S. 78. 27 Ebert, Tendenzen (Fn. 9), S. 25. 28 Lippman/McConville/Yerushalmi, Criminal Law (Fn. 10), S. 78. 29 A. Ünal, Der Koran und seine Übersetzung mit Kommentar und Anmerkungen, 2009, Sure 2:178: „O die ihr glaubt! Vorgeschrieben ist euch die Vergeltung bei (absichtlichem, un 19

B. Islamisches Strafrechtsverständnis und Offizialprinzip

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die Möglichkeit, auf die Wiedervergeltung gegen die Zahlung eines Blutgeldes (diya) oder ganz ohne Gegenleistung zu verzichten. Dies führte nach der Überlieferung seit jeher dazu, dass die Wiedervergeltung sehr selten vollstreckt wurde30. Diese Vorgehensweise, also der Versuch, durch Vermittlung zwischen Opfer und Täter eine Vergeltung zu verhindern und diese durch eine Blutgeldzahlung zu ersetzen, wird teilweise auch heute noch in Staaten, deren Strafrecht sich an den koranischen Vorschriften orientiert, praktiziert. So wurde im Iran im Jahre 2003 durch den Justizminister eine Direktive erlassen, nach der in sämtlichen Justizbezirken Schlichtungsstellen eingerichtet wurden, denen die Aufgabe zukommt, den Opfern bzw. deren Familien anzuraten, dem Täter gegen oder ohne die Zahlung eines Blutgeldes zu vergeben. Die Schlichtungsstellen werden nach der Urteilsverkündung durch das Gericht tätig. Ist die Schlichtungsstelle nicht erfolgreich, so versucht später noch einmal der Richter, der für die Vollstreckung der Vergeltungsstrafe zuständig ist, das Opfer zu einer Vergebung zu bewegen31. Die Umwandlung der Vergeltungsstrafe in die Zahlung eines Blutgeldes ist also bis heute tief im ­Islam verwurzelt32.

B. Islamisches Strafrechtsverständnis und Offizialprinzip Der Geschichte des deutschen Strafrechts sind die beschriebenen Grundzüge des islamischen Strafrechtsverständnisses keinesfalls fremd. Das römische Recht machte die Strafverfolgung überwiegend von der Privatklage abhängig. Im germanischen Strafrecht war sogar jede gerichtliche Entscheidung von einer Klage des Verletzten oder seiner Sippe abhängig. Ebenso wie im islamischen Recht war der Einzelne über den Strafanspruch verfügungsberechtigt. Wie im islamischen Recht gerechtfertigtem) Töten: der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, die Frau für die Frau. Doch wenn ihm (dem Mörder) von seinem Bruder (einem der Erben des Getöteten) etwas vergeben wird, so soll die Verfolgung (der Ansprüche) auf geziemende Art und die Leistung ihm gegenüber auf wohltätige Weise geschehen. Dies ist eine Erleichterung von eurem Herrn und eine Barmherzigkeit. Wer nun nach diesem Übertretung begeht, dem wird eine schmerzliche Strafe zuteil.“ 30 Nateri, Conflict resolution (Fn. 21), S. 404. 31 Nateri, Conflict resolution (Fn. 21), S. 406 f. 32 Im iranischen Strafgesetzbuch finden sich in den §§ 294–301 explizite Regelungen das Blutgeld betreffend, so Tellenbach (Fn. 7), Strafgesetze, S. 95 ff. Aus Gründen der Vollständigkeit seien noch kurz die Züchtigungstatbestände genannt (taᶜzīr). Diese durch die Rechtsgelehrten entwickelten Delikte fungieren als Auffangtatbestände für solche Straftaten, die in Koran und Sunna keine Erwähnung finden, die ein Staat aber dennoch als strafwürdig erachtet. Die Entscheidung über die Strafe ist dem Herrscher oder Richter anvertraut. So soll dem Staat zum einen die Anpassung des Strafrechts an sich verändernde Lebensumstände möglich sein. Zum anderen greifen die taᶜzīr-Strafen aber auch bei mangelnder Beweislage in Fällen von hadd- bzw. qiṣāṣ -Straftaten (hierzu Zehetgruber, Strafrecht [Fn. 9], S. 156 ff.; zur Rolle des Richters Benmelha, Ta‘azir crimes [Fn. 7], S. 219 f.).

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

waren daher auch Verträge über Bußgelder üblich33. Ein Gerichtsverfahren wurde demnach ebenfalls erst eingeleitet, wenn sich Täter und Opfer bzw. deren Sippen nicht außergerichtlich einigen konnten.

I. Verankerung des Offizialprinzips im deutschen Recht Erst durch die Adaption kanonischen Gedankenguts fand das Offizialverfahren – zunächst noch in der extremen Form des Inquisitionsprozesses – Eingang in das deutsche Recht34. In der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 war das Offizialprinzip bereits vorhanden. Daneben existierten jedoch Tatbestände wie­ Ehebruch, Diebstahl unter Eheleuten oder Entführung, bei denen die Strafverfolgung nur auf Antrag des Verletzten möglich war35. Schließlich erhielt im 19. Jahrhundert die Staatsanwaltschaft die ausschließliche Anklagebefugnis36. Heute ist das Offizialprinzip in § 152 Abs.  1 StPO verankert. Der materielle Strafanspruch soll durch den Staat verwirklicht werden37. Dieser muss die Durchsetzung des Strafanspruchs unabhängig von der Fähigkeit und Bereitschaft des Verletzten garantieren38. Nach heutigem Verständnis steht der Strafanspruch also grundsätzlich dem Staat zu, nicht dem Opfer39.

II. Durchbrechungen des Offizialprinzips Das Offizialprinzip kennt allerdings auch im deutschen Recht Durchbrechungen. Ein näherer Blick soll im Folgenden auf die Antragsdelikte (1.), die Privatklage (2.) sowie den Täter-Opferausgleich (3.) geworfen werden.

33 H. Zipf, Strafantrag, Privatklage und staatlicher Strafanspruch, in: GA 116 (1969), S. 234–246 (234). 34 Zipf, Strafantrag (Fn.  33), S.  235; zur Geschichte des „Übergangs“ des Strafanspruchs vom Opfer auf den Staat K. Lüderssen, Historische Erkenntnisse moderner Kriminalpolitik, in: ders. (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs. Systematisierung der Fragestellung, 2002, S. 25–37. 35 Zipf, Strafantrag (Fn. 33), S. 235. 36 H. Stöckel, in: B. v. Heintschel-Heinegg/H. Stöckel (Hrsg.), KMR-Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 5, Vor § 374 (1998) Rn. 20 ff. 37 J. M. Plöd in: B. v. Heintschel-Heineg/H. Stöckel (Hrsg.), KMR-Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd 3 § 152 (2009) Rn. 1; E. Weßlau, in: J. Wolter (Hrsg.), SK-Systema­tischer Kommentar zur Strafprozessordnung, 4. Aufl. 2010, Bd. 3, § 152 Rn. 1; T. Fischer, in: R. Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7.  Aufl. 2013, Einl. Rn.  6; L. Meyer-Großner, Strafprozessordnung, 58. Aufl. 2015, § 152 Rn. 1. 38 H. Schöch, in: R. Wassermann (Hrsg.), Reihe Alternativkommentare.Kommentar zur Strafprozessordnung Bd. 2/1, 1992, § 152 Rn. 2. 39 So ausdrücklich etwa BVerfG NStZ 1982, 430.

B. Islamisches Strafrechtsverständnis und Offizialprinzip

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1. Antragsdelikte Zunächst sind hier die Antragsdelikte zu nennen. Dies sind Straftaten, die ausnahmsweise einen Strafantrag (§§ 77 ff. StGB) verlangen. Der jeweils ausdrücklich im Gesetz angeordnete Strafantrag ist in diesen Fällen Prozessvoraussetzung. Es lassen sich drei Gruppen von Antragsdelikten unterscheiden40. Bei absoluten Antragsdelikten ist die Strafverfolgung nur möglich, wenn ein Strafantrag gestellt wurde. Gemäß § 205 Abs. 1 S. 1 StGB gilt dies beispielsweise für die Verletzung des Briefgeheimnisses gemäß § 202 StGB und die Verletzung des Privatgeheimnisses gemäß § 203 StGB. Relative Antragsdelikte können grundsätzlich ohne Antrag, in bestimmten Fällen allerdings nur mit einem Strafantrag verfolgt werden. Durch relative Antragsdelikte sollen insbesondere persönliche Beziehungen geschützt werden. Hierzu gehört der Haus- und Familiendiebstahl gemäß § 247 StGB. Bedingte Antragsdelikte sind schließlich solche, bei denen der Strafantrag durch die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft ersetzt werden kann. Zu dieser Gruppe gehören gemäß § 230 StGB beispielsweise die einfache vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB) und die einfache fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) sowie gemäß § 303c StGB die Sachbeschädigung (§ 303 StGB). Bei den Antragsdelikten handelt es sich also um einen­ typologisch inhomogenen Bereich von Delikten41, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, dass besondere Interessen ausnahmsweise das Strafverfolgungsinteresse überwiegen. Teilweise sind dies berechtigte Interessen des Tatopfers, wie der Schutz verwandtschaftlicher Beziehungen. Teilweise kommt Antragsdelikten aber auch eine Abschichtungsfunktion im Hinblick auf Bagatelldelinquenz zu42. Auf diese Weise wird informellen Konfliktregelungsmöglichkeiten gezielt Raum gegeben. In diesen Bereichen befürwortet das Gesetz demnach außergerichtliche Einigungen43. Sofern ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, sieht das Gesetz allerdings Rückausnahmen vor. Dann ist die Strafverfolgung auch ohne Antrag wieder zulässig44.

40 Zum Folgenden B. von Heintschel-Heinegg, in: ders.  (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Strafgesetzbuch, Deliktstypen und ihre spezifischen Eigenheiten (2015), Rn. 4–7; W. Mitsch, in: W. Joecks/K. Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, Vorb. §§ 77 ff. Rn. 2. 41 Mitsch (Fn. 40), Vorb. §§ 77 ff. Rn. 1. 42 Weßlau (Fn. 45), § 152 Rn. 5. 43 So auch F. Wittreck, Paralleljustiz in ethnischen Minderheiten? – Die bundesdeutsche Perspektive, in: A. Deixler-Hübner/M. Schauer (Hrsg.), Migration, Familie und Vermögen, Wien 2014, S. 91–119 (115). 44 Weßlau (Fn. 45), § 152 Rn. 4.

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

2. Privatklage Das Offizialprinzip wird außerdem durch das Institut der Privatklage durchbrochen. Die Privatklage45 ist gemäß § 374 Abs. 1 StPO bei gesetzlich bestimmten, die Allgemeinheit wenig berührenden, leichten Vergehen zulässig46. Sie ist die stärkste Form der Beteiligung des Opfers am Strafverfahren47. Durch im Verfahren auszuhandelnde Vergleiche wird die unwiderrufliche Beendigung des Verfahrens durch die Zurücknahme der Privatklage gemäß § 391 Abs.  1 StPO und­ gegebenenfalls eines Strafantrags gemäß § 77d StGB vereinbart. Dafür erklärt sich der Angeklagte bereit, eine öffentliche Ehrenerklärung abzugeben oder Schadensersatz oder einen Geldbetrag an eine gemeinnützige Institution zu leisten48. Privat­ klagedelikte sind beispielsweise der Hausfriedensbruch gemäß § 123 StGB, die Bestechlichkeit oder Bestechung im geschäftlichen Verkehr gemäß § 299 StGB, die Nachstellung gemäß § 238 Abs.  1 StGB oder die Bedrohung gemäß § 241 StGB. Gemäß § 380 StPO ist die Privatklage bei einzelnen Delikten erst nach einem Sühneverfahren vor einer Vergleichsbehörde zulässig. Das Institut der Privatklage ist in der strafrechtlichen Praxis unbedeutend und teilweise starker Kritik ausgesetzt49. Die Privatklage begünstige Querulantentum und stelle eine unnötige Arbeitsbelastung für die Gerichte dar50. Zudem seien die Prozessdauer unverhältnismäßig lang, die Auswirkungen des Urteils gering und das Kostenrisiko zu hoch51. Dementsprechend oft werden Privatklageverfahren gemäß § 383 Abs. 2 StPO durch das Gericht eingestellt52. Daher wird auch dafür plädiert, dass Rechtsanwälte auf eine außergerichtliche Einigung der Beteiligten hinwirken sollen53. Auch hier zeigt sich also wieder das geringe Interesse des Staates an der Verfolgung von Bagatelldelinquenz54. 45

Instruktiv zum Institut der Privatklage K. Schroth, Die Rechte des Opfers im Strafprozess, 2005, Rn. 372 ff.; zur Privatklage im System der Strafverfolgung P. Velten, in: J. Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung (SK-StPO), Bd.  8, 4.  Aufl. 2013, Vor § 374 Rn. 6 ff. 46 Schroth, Rechte (Fn. 45), Rn. 372; Meyer-Großner (Fn. 37), Vor § 374 Rn. 1a. 47 Schroth, Rechte (Fn. 45), Rn. 372. 48 Meyer-Großner (Fn. 37), Vor § 374 Rn. 9. 49 Der 55. Deutsche Juristentag im Jahre 1984 sprach sich für eine Abschaffung der Privatklage zugunsten eines allgemeinen Sühneverfahrens aus, siehe hierzu Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Fünfundfünfzigsten Deutschen Juristentages Hamburg 1982, 1984, Bd. 2, S. 189 f.; außerdem H. Schöch, Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren, in: NStZ 1984, S. 385–391 (389); G. Grebing, Abschaffung oder Reform der Privatklage?, in: GA 131 (1984), S. 1–20; Stöckel (Fn. 36), Vor § 374 Rn. 20 ff. 50 Schroth, Rechte (Fn. 45), Rn. 372. 51 H. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 8. Aufl. 2015, Rn. 1031. 52 Schroth, Rechte (Fn. 45), Rn. 372. 53 Schroth, Rechte (Fn. 45), Rn. 373; bezeichnend auch Dahs, Handbuch (Fn. 51), Rn. 1031: „Der Hauptleitsatz für die anwaltliche Tätigkeit sollte nicht darauf ausgerichtet sein, wie Privatklageverfahren zu führen, sondern wie sie zu verhindern sind. Ist der Prozeß im Gange, sollte es weniger darum gehen, ihn zu ‚gewinnen‘, sondern ihn gut zu beenden.“ (Hervorhebung i. O.). 54 So auch Wittreck, Paralleljustiz (Fn. 43), S. 115.

B. Islamisches Strafrechtsverständnis und Offizialprinzip

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3. Täter-Opferausgleich Das Opferinteresse wird letztlich auch durch das Institut des Täter-Opferausgleichs berücksichtigt, das materiell-rechtlich in § 46a StGB und prozessual in §§ 155a, 155b StPO geregelt ist55. Der Täter-Opfer-Ausgleich dient im Wesentlichen der Zurückdrängung repressiver Bestrafung leichter bis mittelschwerer Kriminalität56. Grundsätzlich ist das Institut aber nicht auf bestimmte Deliktsgruppen beschränkt57. Es wird sowohl dem Beschuldigten als auch dem Verletzten die Möglichkeit gegeben, den Konflikt über einen Vermittler beizulegen. Auf strafrechtliche Sanktionen wird dann in der Regel verzichtet oder sie werden gemildert. Im Gegenzug verpflichtet sich der Täter zu einer „Wiedergutmachung“58 des entstandenen Schadens. Der Täter-Opfer-Ausgleich hat somit viele Gemeinsamkeiten mit den Verhandlungen der Friedensrichter. Daraus sollte jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in den Bereichen, in denen der Täter-Opfer-Ausgleich in einem gerichtlichen Verfahren zur Anwendung kommen könnte, keine Bedenken gegen die Tätigkeit der Friedensrichter bestehen. Denn der Täter-Opfer-­ Ausgleich ist in das staatliche Strafverfahren eingebettet und erfolgt nach gesetzlich festgelegten Regeln. Die letzte Entscheidung über eine Milderung oder ein Absehen von Strafe liegt immer im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Hierbei können zum Beispiel die Schwere der Tat oder die Intensität der Bemühungen des Täters um eine Wiedergutmachung berücksichtigt werden59. Von Strafe ab­ehen kann das Gericht ferner nur, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe verwirkt ist. Dies verdeutlicht, dass auch hier der staatliche Strafanspruch nicht etwa hinter den Opferinteressen zurücksteht, sondern das Opferinteresse vielmehr im Zuge der Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs Berücksichtigung findet.

55 Zum Täter-Opfer-Ausgleich im Überblick D. Dölling, Der Täter-Opfer-Ausgleich, Möglichkeiten und Grenzen einer neuen kriminalrechtlichen Reaktionsform, in: JZ 1992, S. 493–499; V. Zirn, Mediation im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, 2006, S.  35 ff.; M. Kubink, Neue Konzepte des Täter-Opfer-Ausgleichs im Zeichen eines aufgewerteten Opferschutzes, in: DRiZ 2008, S.  345–347; W. Stree/J. Kinzig, in: A. Schönke/H. Schröder (Hrsg.), Straf­ gesetzbuch-Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 46a Rn.  2 ff.; vertiefend ferner M. Janke, Der Täter-Opfer-Ausgleich im Strafverfahren: Zugleich ein Beitrag zu einer kritischen Strafverfahrensrechtstheorie, 2005; H. C. Kespe, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung: Ein Beitrag zur Dogmatik von § 46a StGB unter besonderer Berücksichtigung steuerstrafrechtlicher Fragestellungen, 2011. 56 H. Hilger, in: V. Erb u. a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg: Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz Großkommentar, Bd. 8, 26. Aufl. 2009, Vor §§ 374 ff. Rn. 21. 57 BGH NStZ 1995, 492. 58 Zur Schadenswiedergutmachung im deutschen Strafrecht U. Brauns, Die Wiedergut­ machung der Folgen der Straftat durch den Täter: Ein Beitrag zur Neubewertung eines Strafzumessungsfaktors de lege lata und de lege ferenda,1996; J. Kaspar, Wiedergutmachung und Mediation im Strafracht, 2004; Kespe, Schadenswiedergutmachung (Fn. 55). 59 B. v. Heintschel-Heinegg, in: ders. (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Straf­gesetz­ buch, § 46a (2012) Rn. 28.

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

Dementsprechend kritisch wäre es daher etwa zu sehen, außerhalb der Antragsund Privatklagedelikte eine durch einen Friedensrichter verhandelte Ausgleichszahlung an das Opfer im Sinne eines informellen Täter-Opfer-Ausgleichs als strafmildernd zu berücksichtigen60. Da der Täter-Opfer-Ausgleich eine strafrechtliche Kontrolle außerstrafrechtlicher Konfliktregelung ist, muss der Beschuldigte zeigen, dass er akzeptiert, dass er für das durch ihn verübte Unrecht einzustehen hat. Der Täter steht aber gerade dann nicht für seine Tat ein, wenn er versucht, strafrechtlichen Konsequenzen durch eine außergerichtliche Ausgleichszahlung zu entgehen. Die informellen Absprachen werden in der Regel eher ein Zeichen dafür sein, dass der Täter den staatlichen Strafanspruch nicht anerkennt. Darüber­ hinaus kann der Rechtsstaat grundsätzlich kein Interesse daran haben, dass der verhandlungsgeschickte Täter eine vergleichsweise milde „Strafe“ mit seinem Opfer aushandelt. Eine strafmildernde Berücksichtigung informeller Absprachen würde diese aber im Nachhinein staatlich „absegnen“. Zur zukünftigen Eindämmung der informellen Abreden könnte sogar in Erwägung gezogen werden, diese – je nach den Umständen des Einzelfalls und außerhalb von Antragsdelikten  – strafschärfend zu berücksichtigen.

III. Ergebnis Insgesamt ist festzuhalten, dass das deutsche Recht grundsätzlich vom Offi­ zialprinzip ausgeht und die Interessen des Opfers lediglich vereinzelt und vor allem bei weniger schweren Delikten berücksichtigt. Die Durchbrechungen des Offizialprinzips zeigen jedoch, dass es auch Bereiche gibt, in denen nach der gesetzgeberischen Wertung das Hinwirken auf einvernehmliche außergerichtliche Lösungen nicht als problematisch angesehen, sondern sogar gefördert wird. Außerhalb der Antrags- und Privatklagedelikte sollte jedoch grundsätzlich keine strafmildernde Berücksichtigung der Absprachen stattfinden.

C. Friedensstiftende Funktion der Schlichter? In den meisten Fällen scheinen Täter und Opfer die Ergebnisse der Verhandlungen mit den Friedensrichtern zu akzeptieren. Daher wird teilweise vorgebracht, von den Friedensrichtern gehe eine Art Befriedungsfunktion aus61.

60 Dieser Gedanke wurde soweit ersichtlich bislang nur aufgeworfen von Wittreck, Paralleljustiz (Fn. 43), S. 116, Fn. 149. 61 Siehe insbesondere das Interview mit H. Allouche, geführt von A. Kaminski und F. Nolte, am 22.9.2011 in: Betrift JUSTIZ Nr. 108 (2011), S. 173–177 sowie A. Kaminski, Islamische Paralleljustiz? Innerkultureller Interessenausgleich? Patriarchalischer Druck?, in: Betrifft J­ USTIZ, Nr. 108 (2011), S. 170–172.

C. Friedensstiftende Funktion der Schlichter?

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I. Präventivwirkung Hassan Allouche, der als Friedensrichter hauptsächlich in Berlin tätig ist, betont, er arbeite in vielen Fällen eng mit der Polizei zusammen. Auf diese Weise werde eine weitere Eskalation des Streits oft verhindert: „Es gab einen nächtlichen Anruf einer Familie, der Neffe sei mit einem Hammer zusammengeschlagen worden, er sei im Krankenhaus.  Ich bin da gleich hingefahren und habe dann herausbekommen, dass der Junge die Familie, die ihn zusammengeschlagen hat, um 130.000 DM betrogen hat. Am nächsten Tag habe ich mit der Polizei telefoniert und mit­ geteilt, dass ich in dieser Sache unterwegs bin und weitere Gewalt verhindern will. Wir müssen die Sache stoppen, bevor die Familien sich weiter gegenseitig angreifen. Jeden Schritt habe ich mit dem zuständigen Kommissar besprochen.“62

Zu einem anderen Schlichtungsfall merkt er an: „Ich war schnell unten auf der Straße, die Polizei griff schnell ein, und dann haben ich und die Polizei zusammen gearbeitet und diesen Fall schnell erledigt und Ruhe hergestellt.“63

Wirken die Friedensrichter aber deeskalierend, so stellt sich die Frage, ob der Staat dennoch gegen ihr Wirken vorgehen sollte. Denn gerade bei Taten, in denen hinter Täter und Opfer große Familienclans stehen, die sich weitgehend von Ehrund Racheerwägungen leiten lassen, könnte die Tätigkeit der Friedensrichter bedeutsam für die Prävention weiterer Straftaten sein. So führte auch der ehemalige Chef des Landeskriminalamtes Berlin, Peter-Michael Haeber im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses am 6. Dezember 2010 aus: „Aus präventiver Sicht ist auch fraglich, ob der regelgerechte Einsatz von Friedensrichtern überhaupt bekämpft werden sollte, da diese wie beschrieben deeskalierend wirken und eine Ausweitung der Konflikte möglicherweise verhindern können.“64

Werden die Friedensrichter tatsächlich nur schlichtend tätig und unterstützen sie im Idealfall sogar die Strafverfolgungsbehörden bei ihren Ermittlungen, so ist nicht auszuschließen, dass sie in Einzelfällen zur Prävention weiterer Straftaten beitragen können. Von diesen Konstellationen geht Haeber wohl auch aus, wenn er von einem „regelgerechten Einsatz“ spricht.

62

Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 61), S. 176 f. Kaminski/Nolte, Interview (Fn. 61), S. 176. 64 P.-M. Haeber, Straftaten von Angehörigen arabischer Großfamilien in Berlin, Rede des ehemaligen Leiters des Landeskriminalamtes Berlin im Rahmen der Sitzung des Innen­ ausschusses am 6.12.2011, S. 4, abrufbar unter: http://www.scribd.com/doc/72531939/RedeDes-Leiter-Lka-Im-Rahmen-Der-Sitzung-Des-Isoa-Am-06-12-10 (03.12.2015). 63

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

II. Behinderung repressiver Polizeiarbeit Die möglichen Vorteile der präventiven Wirkung von Paralleljustiz müssen jedoch dann kritisch hinterfragt werden, wenn gleichzeitig die repressive Polizeiarbeit behindert wird. Deutlich in diese Richtung weisen auch die weiteren Ausführungen Haebers: „In der repressiven Arbeit der Polizei wird der Friedensrichter eher mit Skepsis betrachtet, da er eine zusätzliche, außerhalb hiesiger Rechtsordnung agierende Instanz darstellt, die in der Regel nicht die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden sucht und insofern zur Entwicklung von Parallelgesellschaften beiträgt.“65

Das Wirken der Friedensrichter ist somit ambivalent. Es kann daher nicht Ziel sein, ihre Tätigkeit generell zu unterbinden, sondern es muss differenziert werden. Helfen die Friedensrichter, durch deeskalierende Gespräche weitere Konflikte zu verhindern, ist dies zu begrüßen. Davon abzugrenzen sind jedoch die oben beschriebenen Vereinbarungen zwischen Tätern und Opfern. Können sich Straftäter immer wieder durch eine Geldzahlung von ihrer Strafe „loskaufen“, so laufen jedenfalls die Strafzwecke der Spezial- und Generalprävention, die die Strafrechtspflege erfüllen sollte, weitgehend leer66. Die negative Spezialprävention soll durch Strafe den Täter davon abhalten, zukünftig weitere Straftaten zu begehen67. In den angesprochenen Konstellationen können die Täter jedoch regelmäßig mangels einer Anzeige oder nötiger Beweise strafrechtlichen Konsequenzen entgehen. Daneben wird auch der Zweck der positiven Generalprävention nicht erfüllt, der darauf abzielt, durch Anwendung des Strafrechts im konkreten Fall eine „Stärkung des Normvertrauens der rechtstreuen Rechtsgemeinschaft“68 herbeizuführen69. Die negative Generalprävention soll die Allgemeinheit dadurch, dass ihr vor Augen geführt wird, welche Folgen eine Straftat nach sich ziehen kann, von der Begehung von Straftaten abhalten70. Werden 65

Haeber, Straftaten (Fn. 64), S. 4. Zu den Begrifflichkeiten der negativen und positiven Spezial- sowie Generalprävention und zu den Strafzwecktheorien im allgemeinen instruktiv H.-H. Jescheck/T. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 S. 60 ff.; C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3. 67 Hierzu H.  Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, S.  22 ff.; H.  Radtke, in: W. Joecks/K.Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB Bd. 2, 2. Aufl. 2012, Vorb. §§ 38 ff. Rn. 41 ff.; B. Villmow, in: U. Kindhäuser/U. Neumann/H.-U. Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Vorb. §§ 38 ff. Rn. 63 ff. 68 Radtke (Fn. 67), Vorb. §§ 38 ff. Rn. 35. 69 Hierzu vertiefend K. F. Schumann, Positive Generalprävention: Ergebnisse und Chancen der Forschung, 1989; kurz und instruktiv auch Frister, Strafrecht AT (Fn. 67), S. 24 ff. sowie im Überblick W. Hassemer/U. Neumann, in: U. Kindhäuser/U. Neuman/H.-U. Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Vorb. §§ 38 ff. Rn. 41 ff. 70 Grundlegend P. J. A. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, abgedruckt in: T. Vormbaum (Hrsg.), Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit, Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert, 1993, § 13 f. (S. 30–40); kurz und instruktiv Frister, Strafrecht AT (Fn. 67), S. 20 ff.; Radtke (Fn. 67), Vorb. §§ 38 ff. Rn. 35; Villmow (Fn. 67), Vorb. §§ 38 ff. Rn. 63 ff. 66

D. Freiheitsrechte und Wahrheitsermittlungspflicht

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andere soziale Gruppen auf die „Effektivität“ der Umgehung von Strafe durch private Schlichtungen und Vereinbarungen sowie die scheinbar mangelnde Verfolgungsmöglichkeit oder -bereitschaft der Strafverfolgungsbehörden aufmerksam, so birgt dies eine erhebliche Nachahmungsgefahr71. Ist das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung erschüttert, weil in bestimmten sozialen Gruppen Straftaten teilweise nicht aufgeklärt und Täter nicht bestraft werden, so ist das Ziel der Strafrechtspflege, nämlich Sicherung und Akzeptanz der Rechtsordnung und die subjektive Gewissheit eines jeden Rechtsunterworfenen, dass diese Rechtsordnung von den Mitgliedern der Gemeinschaft eingehalten wird, nicht mehr gewährleistet72.

D. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsrechten und Wahrheitsermittlungspflicht – Möglichkeiten der Unterbindung von Schlichtungen im strafrechtlich relevanten Bereich D. Freiheitsrechte und Wahrheitsermittlungspflicht

Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob dem Staat rechtliche Möglichkeiten gegeben sind, gegen die informellen Absprachen in strafrechtlich relevanten Sachverhalten vorzugehen. Hierbei muss zwischen repressiven Maßnahmen (I.) und präventiven Maßnahmen (II.) differenziert werden.

I. Repressive Maßnahmen – Strafrechtliche Konsequenzen Zunächst kommt aus repressiver Sicht eine Strafbarkeit der Beteiligten in Frage. In Betracht kommt die Verwirklichung der Tatbestände der Nichtanzeige geplanter Straftaten gemäß § 138 StGB (1.), der Strafvereitelung gemäß § 258 StGB (2.) und der Aussagedelikte gemäß §§ 153–162 StGB (3.). 1. Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB) Da es das Ziel der Verhandlungen ist, Straftaten nicht zur Anzeige bzw. Aufklärung zu bringen, kommt zunächst eine Strafbarkeit der Beteiligten gemäß § 138 StGB wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten in Betracht. Der Straftatbestand ist von vornherein nur einschlägig, wenn eine Straftat aus dem Katalog des § 138 StGB 71 Eine ähnliche Gefahr im Zusammenhang mit „Schülergerichten“, durch die unter Jugendlichen die Einstellung gefördert werde, es sei besser, Konflikte staatsfern unter sich zu regeln sieht M. Löhnig, Schariatische „Friedensrichter“, „Schülergerichte“ und Strukturmerkmale des Rechtsstaats, in: C. Althammer u. a. (Hrsg.), Grundfragen und Grenzen der Mediation, 2012, S. 65–76 (71 f.). 72 H. Landau, Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, in: NStZ 2007, S. 121–129 (126).

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

erst geplant ist und noch nicht ausgeführt wurde. Der Katalog des § 138 StGB enthält (mit Ausnahme der §§ 129a Abs.  5, 310 Abs.  1 Nr.  2 StGB) ausschließlich schwere Verbrechen, an denen der Staat ein erhöhtes Aufklärungsinteresse hat. Inwiefern die Absprachen überhaupt die dort aufgelistete Schwerstkriminalität betreffen, kann hier nicht abschließend beurteilt werden73. Jedenfalls werden die Friedensrichter nach den bisherigen Erkenntnissen jedoch regelmäßig erst tätig, nachdem schon eine Straftat begangen wurde. Es besteht aber weder eine Anzeigepflicht hinsichtlich begangener Taten, noch eine Pflicht zur Mitwirkung bei der Aufklärung bereits begangener Straftaten74. Daher dürfte der Straftatbestand der Nichtanzeige geplanter Straftaten im Hinblick auf die Friedensrichter kaum relevant werden. In § 139 Abs.  2 StGB sind außerdem weitere Ausnahmen normiert, in denen weder eine Anzeige an die Behörden, noch an den Betroffenen erfolgen muss. Insbesondere wird gemäß § 139 Abs.  3 StGB die Anzeigepflicht für Angehörige ausgenommen. Die auf den ersten Blick für die Friedensrichter scheinbar relevante Fallgruppe des Geistlichen gemäß § 139 Abs.  2 StGB, dem die Planung einer Straftat in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut wurde, wäre jedoch in den vorliegend zu untersuchenden Fällen nicht einschlägig. Geistliche im Sinne der Vorschrift sind ausschließlich Angehörige staatlich anerkannter Religionsgemeinschaften, die den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft innehaben75. Imame fallen demnach nicht unter diese – im Hinblick auf Art. 4 GG problematische76 – Vorschrift. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass eine Strafbarkeit nach § 138 StGB für die Friedensrichter keine besondere Relevanz haben wird. Zum einen kommt eine Strafbarkeit nur bei den im Katalog des § 138 StGB aufgeführten Delikten in Betracht. Zum anderen werden die Friedensrichter wohl regelmäßig erst nach Begehung einer Straftat tätig; dann ist eine Strafbarkeit nach § 138 StGB aber von vornherein ausgeschlossen.

73

Jedenfalls Wagner berichtet auch bspw. von Tötungsdelikten, die Gegenstand informeller Verhandlungen waren, Wagner, Richter (Fn. 1), etwa S. 54, 59, 67 ff. 74 R. Griesbaum, in: R. Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 158 Rn. 25; F. Jeßberger, in: H. Satzger/B. Schmitt/G. Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2014, § 138 Rn. 2. 75 E.-W. Hanack, in: H. W. Laufhütte/R. Rissig-van Saan/K. Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 12. Aufl. 2009, § 139 Rn. 6; O. Hohmann, in: W. ­Joecks/ K. Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 139 Rn. 6. 76 So zutreffend K. Peters, Seelsorge und Strafvollzug, in: JR 1975, S. 402–407 (406); hierzu G. Haas, Zeugnisverweigerungsrecht des Geistlichen, in: NJW 1990, S. 3253–3254.

D. Freiheitsrechte und Wahrheitsermittlungspflicht

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2. Strafvereitelung (§ 258 StGB) Weiterhin könnte der Tatbestand der Strafvereitelung gemäß § 258 StGB77 im Hinblick auf die informellen Absprachen relevant sein. Die Vorschrift schützt die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und somit die staatliche Strafrechtspflege78. Die tatbestandsmäßige Handlung besteht darin, dass die Bestrafung des Vortäters oder eine gegen diesen zu treffende Maßnahme ganz oder zum Teil vereitelt wird. Der Täter muss folglich durch die Vereitelungshandlung den Eintritt eines bestimmten Vereitelungserfolgs herbeigeführt haben. Dies setzt eine tatsächliche Besserstellung des Vortäters im Hinblick auf die Strafverfolgung voraus79. Dabei kommt es nicht darauf an, ob Strafverfolgungsmaßnahmen bereits ein­geleitet wurden80. Es muss aber in jedem Fall ein materieller Strafanspruch des Staates bestehen. Der Täter der Vortat muss also den äußeren und inneren Tatbestand einer Straftat verwirklicht und rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben. Es dürfen keine Strafausschließungs- oder -aufhebungsgründe eingreifen81. Im Hinblick auf die Strafgeneigtheit des Verhaltens von Friedensrichtern dürften diesbezüglich insbesondere folgende Konstellationen von Bedeutung sein: Die erste Konstellation betrifft den Fall, dass es bereits zu einem Strafverfahren gekommen ist. Sodann vereinbart ein Friedensrichter mit dem Opfer oder einem anderen Zeugen eine Zuwendung für eine den Täter entlastende falsche Aussage. Hier werden sich die Beteiligten regelmäßig einer (Anstiftung zur) Strafvereitelung strafbar machen. Begünstigende Falschaussagen, die in der Absicht, die Bestrafung des Täters zu verhindern, getätigt werden, erfüllen den Tatbestand des § 258 StGB82. Auch die wahrheitswidrige Angabe, nichts zu wissen, kann tatbestandsmäßig im Sinne des § 258 StGB sein83. Bestimmt ein Dritter den Täter zu

77 Hierzu im Überblick U. Kindhäuser, Strafgesetzbuch Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 258; vertiefend statt vieler U. Günther, Das Unrecht der Strafvereitelung (§ 258 StGB), 1998. 78 BGHSt 30, 77, (78); 43, 82 (84); 45, 97 (101); K. Altenhain, in: U. Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Bd. 2, § 258, Rn. 4; K. Kühl, in K. Lackner/ders., Strafgesetzbuch Kommentar, 28.  Aufl. 2014, § 258 Rn.  1; J. Wessels/ M. Hettin­ger, Strafrecht Besonderer Teil 1, 39. Aufl. 2015, Rn. 719. 79 F. Ruhmannseder, in: Beck’scher Online Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 258 (2013) Rn. 9; W. Stree/B. Hecker, in: A. Schönke/H. Schröder (Hrsg.), 29. Aufl. 2014, § 258 Rn. 14. 80 T. Walter, in: H.-W. Laufhütte/R. Rising-van Saan/K. Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd.  8, 12. Aufl. 2010, § 258 Rn.  21; S.  Cramer/F. Pascal, in: G. M. Sander (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 258 Rn. 9. 81 Walter (Fn. 80), § 258 Rn. 20; Cramer/Pascal (Fn. 80), § 258 Rn. 8. 82 BGH NJW 1986, 2121 (2122). 83 So schon RGSt 54, 41; ferner etwa BayOBLG NJW 1966, 2177; M. Jahn, in: H. Satzger/ B. Schmitt/G. Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar 2. Aufl. 2014, § 258 Rn.  17; Stree/Hecker (Fn. 78), § 258 Rn. 15; Rn. 725; T. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 62. Aufl. 2015, § 258 Rn. 10.

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

einem solchen Verhalten, macht er sich der Anstiftung zur Strafvereitelung strafbar, §§ 258, 26 StGB84. Denn eine Anstiftung zur Strafvereitelung liegt nach dem Bundesgerichtshof grundsätzlich auch vor, wenn einem Zeugen für eine erfolg­ reiche Falschaussage die Zahlung eines Geldbetrags versprochen wird85. Die Strafbarkeit einer Zuwendung an einen Zeugen, um diesen zu einer Falschaussage zu bewegen, wird regelmäßig im Hinblick auf Strafverteidiger diskutiert und dort für unzulässig erachtet. Wenn diese Grundsätze aber sogar für Strafverteidiger gelten, die sich aufgrund ihrer Doppelrolle in einem Spannungsverhältnis zwischen Organstellung und Beistandsfunktion86 befinden, kann für nicht am Strafverfahren Beteiligte nichts anderes gelten. Die zweite – für die hier zu untersuchenden Fälle typische – Konstellation betrifft den Fall, dass es noch zu keinem Strafverfahren gekommen ist. Ob ein Strafverfahren eingeleitet wird, hängt davon ab, ob das Opfer die Tat anzeigt, oder ggf. einen Strafantrag stellt87. Das Opfer soll nun durch eine Geldzahlung davon überzeugt werden, von einer Anzeige und ggf. der Stellung des Strafantrags abzusehen. Die Frage der Strafbarkeit ist in diesem Fall schwieriger zu beantworten als im erstgenannten Beispiel. Denn zunächst ist zu beachten, dass das Absehen von einer Anzeige oder einem Strafantrag ein gesetzlich zugesichertes Recht darstellt. Eine Tatbeteiligung im Hinblick auf § 258 StGB entfällt daher jedenfalls mangels einer vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat88. Es bleibt daher nur die Möglichkeit einer täterschaftlichen Begehung des § 258 StGB durch den Einfluss nehmenden 84 RGSt 54, 41 hatte in dieser Konstellation täterschaftliche Begünstigung angenommen; indes liegt sowohl nach der in der Literatur anerkannten Tatherrschaftslehre als auch nach der durch die Rechtsprechung vertretene modifizierte Subjektstheorie nach den geltenden Regeln eine Teilnahme in Form der Anstiftung vor, hierzu m. w. N. etwa Walter (Fn. 80), § 258 Rn. 167. 85 BGHSt 46, 53 (57) (mit Anmerkung S. Cramer/J. Papadopoulos, NStZ 2001, S. 148–149 und hierzu H. E. Müller, Rechtsprechungsüberblick zu den Rechtspflegedelikten (1997–2001) (§§ 153 ff., 164, 258, 339, 356 StGB), in: NStZ 2002, S.  356–364 (358 ff.) sowie W. Beulke, Zwickmühle des Verteidigers: Strafverteidigung und Strafvereitelung im demokratischen Rechtsstaat, in: B. Schünemann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 1173–1194 (1191 ff.); aus der Literatur etwa Altenhain (Fn. 78), § 258 Rn. 41. Walter (Fn. 80), § 258 Rn. 168. 86 BGHSt 46, 53 (54). 87 Antragsdelikte sind in § 77 StGB geregelt und verlangen für ihre Verfolgung als Prozessvoraussetzungen einen Strafantrag. Das Erfordernis eines Strafantrags ist jeweils ausdrücklich angeordnet. Es sind drei Gruppen von Antragsdelikten zu unterscheiden: Bei absoluten Antragsdelikten ist eine Strafverfolgung ausschließlich nur dann möglich, wenn ein Strafantrag gestellt wurde (z. B. § 205 Abs. 1 BGB). Relative Antragsdelikte können zwar grundsätzlich ohne, in bestimmten Fällen aber, vor allem bei persönlichen Beziehungen zwischen Täter und Opfer, nur mit einem Strafantrag verfolgt werden. Letztlich sieht das Gesetz bedingte Antragsdelikte vor, bei denen der Strafantrag durch die Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft ersetzt werden kann (z. B. § 230 Abs. 1 StGB) (hierzu etwa v. Heintschel-Heinegg, Deliktstypen; (Fn.  40), Rn.  5; Mitsch, (Fn.  40), Vorb. §§ 77 ff. Rn. 2). 88 Hierzu Stree/Hecker (Fn. 79), § 258 Rn. 16 m. w. N.

D. Freiheitsrechte und Wahrheitsermittlungspflicht

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Friedensrichter. Eine täterschaftliche Begehung wird in diesen Fällen grundsätzlich jedoch nur bejaht, wenn sich der Täter unlauterer Mittel, also vor allem Täuschung, Drohung oder Gewalt bedient, um auf die andere Person einzuwirken89. Denn nur dann liegt eine Einwirkung auf die Willensentschließungsfreiheit der anderen Person vor, und es kann eine Tatherrschaft auf Seiten des Einflussnehmenden begründet werden90. Die Willensentschließungsfreiheit wird jedoch durch das Anbieten einer Geldleistung nicht unmittelbar eingeschränkt91. Der Bundesgerichtshof hat allerdings  – wohl aber bezüglich § 257 a. F. StGB und im Hinblick auf das Zeugnisverweigerungsrecht  – angenommen, dass eine Geldzahlung durch einen Strafverteidiger an einen Zeugen mit dem Ziel, dessen Aussage zu verhindern, ein unerlaubtes Mittel darstellen kann. Das Gericht verweist zur Begründung auf § 136a Abs. 1 StPO, der entsprechend anzuwenden sei92. Dieser Argumentation des Bundesgerichtshofs wird jedoch entgegengehalten, dass sich der Regelungsgehalt des § 136a Abs. 1 StPO darin erschöpfe, Verhaltensregeln für die Strafverfolgungsorgane bei der Vernehmung des Beschuldigten aufzustellen. Zudem könne das Inaussichtstellen einer Belohnung für ein gesetzlich erlaubtes Verhalten von der Vorschrift nicht erfasst werden. Denn hierdurch werde lediglich in rechtlich zulässiger Weise eine zusätzliche Motivation dafür geboten, sich für ein rechtlich erlaubtes Verhalten zu entscheiden93. Ob der Bundesgerichtshof bei den hier zu untersuchenden Absprachen auf der dargestellten Linie entscheiden und eine Strafbarkeit annehmen würde, bleibt fraglich. Denn eine Einwirkung, die ein erlaubtes Verhalten hervorrufen soll, sei es auch unter Zuhilfenahme eines finanziellen Anreizes, kann kaum strafrechtlich relevant sein.94

89 BGHSt 10, 393 und dazu Günther, Strafvereitelung (Fn. 77), S. 48, 151; Walter (Fn. 80), § 258 Rn. 25 jeweils mit weiteren Nachweisen; a. A. Rodenhäuser, der selbst in diesen Fällen eine Strafvereitelung verneint und ausschließlich den Nötigungstatbestand als erfüllt ansieht (W. Rodenhäuser, Die Strafvereitelung. Ein Beitrag zur Kriminologie und zur strafrechtlichen Problematik dieser Deliktstypen, 1970, S. 85). 90 Stree/Hecker (Fn. 79), § 258 Rn. 16. 91 W. Krekeler, Strafrechtliche Grenzen der Verteidigung, in: NStZ 1989, S. 146–153 (150); Stree/Hecker (Fn. 79), § 258 Rn. 16. 92 BGHSt 10, 393 (394): „Unzulässig beeinträchtigt wird in beiden Fällen die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten bezw. des Zeugen nur dann, wenn Mittel angewendet werden, wie sie in § 136 a StPO aufgezählt sind, vor allem also Täuschung, Drohung, Bestechung.“ Zustimmend bezogen auf den Strafverteidiger F. Haft/E. Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil I: Vermögensdelikte, 9. Aufl. 2009, S. 59. Der Wortlaut des § 136a Abs 1 StPO lautet: „Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht be­ einträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten.“ 93 Günther, Strafvereitelung (Fn. 77), S. 153 f. 94 So auch Stree/Hecker (Fn. 79), § 258 Rn. 16 („Dagegen entspricht die Bestechung dem bloßen Überreden.“).

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

Subjektiv setzt die Verfolgungsvereitelung schließlich Absicht oder Wissen hinsichtlich des Erfolgseintritts voraus. Hinsichtlich der Vortat genügt bedingter Vorsatz95. Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass der Straftatbestand des § 258 StGB im Hinblick auf die Friedensrichter vor allem dann relevant wird, wenn ein Strafverfahren bereits anhängig ist und auf Zeugen durch Geldzahlungen eingewirkt wird, Falschaussagen zu tätigen. In diesen Fällen dürfte eine Anstiftung zur Strafvereitelung regelmäßig in Betracht kommen. Ob die Zahlung eines Geldbetrags, die in der Absicht vorgenommen wird, die Vornahme einer Anzeige oder die Stellung eines Strafantrags zu verhindern, eine täterschaftlich begangene Strafvereitelung darstellt, erscheint hingegen fraglich. Zwar liegt das angesprochene Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2000 auf dieser Linie. Dogmatisch erscheint es aber jedenfalls fragwürdig, ein „Überreden“ zu einem erlaubten Verhalten unter Strafe zu stellen. 3. Aussagedelikte (§§ 153–162 StGB) Letztlich werden die in den §§ 153–162 StGB geregelten Aussagedelikte regelmäßig von besonderer Relevanz sein. Schutzgut der Aussagedelikte ist die staatliche Rechtspflege96. Die Vorschriften schützen das öffentliche Interesse an einer wahrheitsgemäßen Tatsachenfeststellung97. Auf den unmittelbaren Schutz von Individualinteressen sind sie hingegen nicht gerichtet98. Nach dem Grundtatbestand des § 153 StGB macht sich strafbar, „wer vor Gericht oder vor einer anderen zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen zuständigen Stelle als Zeuge oder Sachverständiger uneidlich falsch aussagt“. Die Wahrheitspflicht erstreckt sich im Strafverfahren auf den Gegenstand der Untersuchung. Die Falschaussage muss nicht erheblich für den Ausgang des Verfahrens sein99. Eine täterschaftliche Begehung von Aussagedelikten kommt im Hinblick auf die informellen Absprachen vor allem durch die Opfer und andere Zeugen der Straftaten in Betracht, wenn diese vor Gericht falsch aussagen, um im Gegenzug einen finanziellen Ausgleich zu erhalten.

95

Statt aller Jahn (Fn. 83), § 258 Rn. 28; Cramer/Pascal (Fn. 80), § 258 Rn. 36 ff. BGHSt 8, 301 (309); 10, 142 (143); aus der Literatur etwa T. Vormbaum, in: U. Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, Vor § 153 ff. Rn. 1; Fischer (Fn. 83), Vor § 153 ff. Rn. 2. 97 T. Lenckner/N. Bosch, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch-Kommentar, 29. Aufl. 2014, Vorbem. §§ 153 ff. Rn. 2. 98 Lenckner/Bosch (Fn. 97), Vorbem. §§ 153 ff. Rn. 2 m. w. N. 99 H. Kudlich, in: B. v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 153 (2013) Rn. 9, 11. 96

D. Freiheitsrechte und Wahrheitsermittlungspflicht

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Allerdings fallen Konstellationen aus dem Tatbestand heraus, in denen bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft falsch ausgesagt wird. Denn die Falschaussage muss nach dem Tatbestand bei einer zur eidlichen Vernehmung zuständigen Stelle gemacht werden. Weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft haben jedoch diese Eigenschaft100. Wird also bereits bei der Polizei bzw. bei der Staatsanwaltschaft falsch oder gar nicht ausgesagt und kommt es dann nicht mehr zu einer richterlichen Vernehmung, scheidet eine Strafbarkeit nach den §§ 153 ff. StGB aus. Eine Strafbarkeit scheidet ebenfalls aus, wenn bei der polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren zunächst die Wahrheit gesagt wird, die Aussage in der Hauptverhandlung mit Verweis auf ein Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) oder ein Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO) sodann aber verweigert wird. Gerade diese Konstellation dürfte im Zusammenhang mit den informellen Ab­ sprachen typisch sein, wenn die Friedensrichter nach einer belastenden Aussage an den Zeugen herantreten und ihn durch eine Geldzahlung dazu bringen, seine Aussage in der Hauptverhandlung nicht zu wiederholen101. Aus diesem Grund wurde im Abschlussbericht Paralleljustiz des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz gefordert, dass bei Verdachtsmomenten auf informelle Absprachen umgehend eine richterliche Vernehmung des Geschädigten angeordnet werden sollte102. Für diejenigen, die die falsche Aussage als „Gegenleistung“ für einen Geldbetrag aushandeln, also beispielsweise Friedensrichter, Familienangehörige oder sonstige Autoritätspersonen, sind Teilnahmehandlungen in Form der Anstiftung (§ 26 StGB) relevant. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Konstellationen, in denen durch eine Geldzahlung lediglich ein erlaubtes Verhalten erreicht werden soll, nämlich die Nichtanzeige einer Straftat oder das Unterlassen des Stellens eines Strafantrags, liegt in Konstellationen, in denen die Friedensrichter durch die Geldzahlung eine Falschaussage erreichen wollen, eine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat vor. Daher liegt eine Teilnahmehandlung in Form der Anstiftung auch schon bei einem „bloßen Überreden“ (insbesondere unter Zuhilfenahme von finanziellen Gegenleistungen) vor, wenn hierdurch der Tatentschluss zur Falschaussage hervorgerufen wird. Anzumerken sei noch die Besonderheit, dass auch schon der Versuch der Anstiftung zu einer falschen uneidlichen Aussage (§ 153 StGB) sowie der Versuch der Anstiftung zu einer falschen Versicherung an Eides Statt (§ 156 StGB) gemäß § 159 StGB unter Strafe gestellt ist103.

100

Fischer (Fn. 83), § 153 Rn. 8. StMJV, Abschlussbericht (Fn. 1), S. 22. 102 StMJV, Abschlussbericht (Fn. 1), S. 22; hierzu noch sogleich im Dritten Teil D. II. 1. 103 Die Bestrafung des Versuchs der Anstiftung zu einem Vergehen, dessen Versuch selbst nicht strafbar ist, hat ihren Grund in der besonderen Bedeutung des Schutzes der Zeugenaussage vor unlauteren Einflüssen (hierzu K. Geppert, Grundfragen der Aussagedelikte, in: Jura 2002, S. 173–181 [179]; Fischer [Fn. 83], § 159 Rn. 2 m. w. N.). 101

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass die vorliegenden Konstellationen im Hinblick auf Aussagedelikte eine erhöhte Strafgeneigtheit aufweisen. Die Opfer bzw. Zeugen, die zur Erfüllung der Absprachen vor Gericht falsch aussagen, machen sich als Täter von Aussagedelikten strafbar. Aber auch die Friedensrichter, die durch eine Geldleistung erst den Entschluss zur Falschaussage hervorrufen, stiften zu Aussagedelikten an. Problematisch bleibt der Umstand, dass selten sofortige richterliche Vernehmungen angeordnet werden. Dies sollte bei Verdachtsfällen auf informelle Absprachen konsequenter geschehen.

II. Präventive Maßnahmen Die Repression kann naturgemäß immer nur reagieren, die Rechtsgutsverletzung als solche aber nicht wieder rückgängig machen. Wirksame präventive Maßnahmen führen daher grundsätzlich zu einer effizienteren Sicherheitsgewährleistung104. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, geeignete präventive Maßnahmen zu ermitteln, aufgrund derer gegen die an den Absprachen Beteiligten vorgegangen werden kann. Zunächst bieten sich Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Sensibilisierung der Justiz an (1.). Aufgrund der hohen Eingriffsvoraussetzungen der in den Standardbefugnissen festgeschriebenen Vorfeldmaßnahmen werden diese überwiegend als Eingriffsgrundlagen ausscheiden. Lediglich die Voraussetzungen für eine kurzfristige Observation dürften vorliegen (2.). Gestützt auf die Generalklausel kommen Untersagungsverfügungen, Gefährderansprachen und Gefährderanschreiben (3.) sowie Kontaktverbote (4.) in Betracht. Da für die Maßnahmen der Observation, der Gefährderansprache bzw. des Gefährderanschreibens und des Kontaktverbots die Voraussetzungen der polizeilichen Generalklausel vorliegen müssen, erfolgt deren Prüfung im Anschluss gemeinsam (5.). 1. Allgemeine Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Sensibilisierung der Justiz Auch bezüglich der Schlichtungen strafrechtlich relevanter Konflikte ist zunächst auf die „Maßnahmen zur Vertrauensbildung und zur Sensibilisierung der Justizpraxis“ hinzuweisen, die der Runde Tisch „Paralleljustiz“ des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz entwickelt hat105. Der Ab-

104 Dementsprechend zu verstehen ist der Leitgedanke des Bundesverfassungsgerichts „Prävention vor Repression“, hierzu BVerfGE 30 336 (350); 39, 1 (44); vertiefend: M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat und in der Europäischen Union, 2002, S. 152 ff. 105 Siehe hierzu ausführlich schon oben Zweiter Teil D. II. 3. c).

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schlussbericht des Runden Tisches kommt zu dem Ergebnis, dass informelle Paralleljustiz auch in strafrechtlich relevanten Konflikten auf Dauer nur erfolgreich unterbunden werden könne, wenn in den betreffenden Milieus die Überzeugung hergestellt wird, dass die deutsche Rechtsordnung den Interessen aller Beteiligten besser gerecht würde als das „Urteil“ eines Friedensrichters. Hierzu sei ein Dialog mit Vertretern der betroffenen Kulturkreise notwendig. Durch Information müsse Vertrauen in die deutsche Rechtsordnung geschaffen und müssten Zugangshemmungen abgebaut werden106. Staatsanwälte sowie Straf- und Ermittlungsrichter sollen für das Phänomen der Paralleljustiz sensibilisiert werden, damit sie dieses in der Praxis erkennen und dementsprechende Maßnahmen ergreifen können. In einem Informationspapier sollen sie daher auf sinnvolle prozessuale Instrumente, wie beispielsweise eine umgehende richterliche Vernehmung des Opfers, Maßnahmen zum Schutz von Opfern und Zeugen, Maßnahmen zur Erhöhung der Aussagebereitschaft oder die sorgfältige Prüfung des (besonderen) öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung hingewiesen werden107.

III. Vorfeldmaßnahmen Sodann ist zu untersuchen, ob sich Eingriffsmöglichkeiten aus den in den Standardbefugnissen niedergelegten Vorfeldmaßnahmen ergeben108. Dabei muss zum einen festgestellt werden, welche Maßnahmen überhaupt erfolgversprechend erscheinen, um die Schlichtungen im strafrechtlichen Bereich zu verhindern und zum anderen, welche Maßnahmen die Polizei, gemessen an den erforderlichen Voraussetzungen, überhaupt ergreifen dürfte. Da offensichtlich ein erhebliches Informationsdefizit auf Seiten der Behörden über die konkrete Verwicklung der Friedensrichter in die Absprachen und deren mögliche Strafbarkeit besteht, erscheint die Vornahme informationeller Maßnahmen sinnvoll. Um Kenntnisse über die informellen Absprachen zu erlangen, könnte sich zunächst die verdeckte Datenerhebung durch besondere Mittel anbieten, also die Observation, der verdeckte Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen und zum Abhören und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes sowie der Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckten Ermittlern. Maßnahmen zur verdeckten Datenerhebung sind jedoch nur zur Bekämpfung von Gefahren für­

106

StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 1), S. 20. StMJV, Abschlussbericht Paralleljustiz (Fn. 1), S. 22. 108 Die Standardbefugnisse werden in aktionelle und informationelle Maßnahmen unterteilt. Aktionelle Maßnahmen werden unmittelbar zur Abwehr einer Gefahr vorgenommen, während informationelle Maßnahmen der Erhebung und Verarbeitung von Informationen dienen. Zur Verhütung von Straftaten dürfen sowohl informationelle als auch aktionelle Maßnahmen getroffen werden, während zur Vorbereitung auf künftige Gefahrenabwehr allein informationelle Maßnahmen getroffen werden können. (Hierzu B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel/ T. Kingreen/R. Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2014, § 12 Rn. 6 ff.; § 4 Rn. 13 f.). 107

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

besonders wichtige Teilschutzgüter der öffentlichen Sicherheit109 und zur vorbeugenden Bekämpfung erheblicher Straftaten110 zulässig. Die vergleichsweise hohen Eingriffsvoraussetzungen werden in den vorliegend zu untersuchenden Konstellationen jedoch selten vorliegen. Die Gefahr einer Begehung von Aussagedelikten oder des Strafvereitelungstatbestandes genügt der hohen Eingriffsschwelle jedenfalls nicht. Eine Ausnahme hinsichtlich der Eingriffsanforderungen stellt die kurzfristige Observation dar, die in einigen Landesgesetzen explizit geregelt ist111 und in anderen auf die Datenerhebungsgeneralklausel gestützt wird112. Eine Observation ist „die systematische und in aller Regel heimliche Beobachtung einer Person mit dem Ziel, einen umfassenden Einblick in ihre Lebensumstände und eine möglichst 109 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  108), § 14 Rn.  115. Als Schutzgüter werden genannt: Gefahr für Leib oder Leben (§ 28 Abs.  1 S.  1 Nr.  1 rpPOG); Gefahr für Leib, Leben und Freiheit (Art. 33 Abs. 3 Nr. 1 bayPAG; §§ 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 33 Abs. 1 S. 1, 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 35 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bbgPolG; § 25 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 berl­ ASOG; § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BPolG; §§ 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 33 Abs. 1 S. 1; 34 Abs. 1 S. 1, 35 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bremPolG; § 22 Abs. 3 bwPolG; §§ 9 Abs. 1 S. 1, 10 Abs. 1 S. 1, 11 Abs. 1 S. 1, 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 hambGDatPol; §§ 16 Abs. 1 S. 2 u. Abs. 2 hessSOG; §§ 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 35 Abs. 1 S. 1, 36 Abs. 1 S. 1, 36a Abs. 1 S. 1 ndsSOG; §§ 16a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 nwPolG; § 39 Abs. 1 Nr. 1 sächsPolG; § 17 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 saSOG; § 34 Abs. 3 Nr. 1 thürPAG), Sachen von erheblichem Wert (§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BPolG; § 185 Abs. 2 S. 1 shLVwG), Sachen, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint (Art. 33 Abs. 3 Nr. 1 bayPAG; § 34 Abs. 3 Nr. 1 thürPAG), bedeutende Sach- und Vermögenswerte (§ 22 Abs. 3 bwPolG; § 39 Abs. 1 Nr. 1 sächsPolG), Tiere (§ 34 Abs. 3 Nr. 1 thürPAG), Sicherheit des Bundes oder eines Landes (§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BPolG; § 22 Abs. 3 bwPolG; § 34 Abs. 3 Nr. 1 thürPAG; § 39 Abs. 1 Nr. 1 sächsPolG), Umwelt (§ 185 Abs. 2 S. 1 shLVwG). 110 Meist wird die Gefahr der Begehung von Straftaten von erheblicher Bedeutung gefordert (Art. 33 Abs. 3 Nr. 2 S. 1 bayPAG; §§ 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 33 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 35 Abs. 1 Nr. 1 bbgPolG; §§ 25 Abs. 1 S. 1, 26 Abs. 1 berlASOG; §§ 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 33 Abs. 1 S. 1, 34 Abs. 1 S. 1 bremPolG; §§ 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 10 Abs. 1 S. 2, 11 Abs. 1 S. 1 hambGDatPol; §§ 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 16 Abs. 2 hessSOG; § 33 Abs. 2 S. 1 u. 2 mvSOG; § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 35 Abs. 1 S. 1, 36 Abs. 1 S. 1, 36a Abs. 1 S. 1 ndsSOG; §§ 16a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 rpPOG; § 39 Abs. 1 Nr. 2 sächsPolG; §§ 17 Abs. 2 S. 1 u. 2, 18 Abs. 1 S. 1 saSOG). Einige Gesetze benennen bestimmte Straftaten in Katalogen (§ 35 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 bremPolG; § 34 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 thürPAG) oder verlangen, dass die Gefahr der Begehung gewerbs-, gewohnheits-, bandenmäßiger bzw. organisierter Kriminalität vorliegt (§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BPolG). Vereinzelt wird die längerfristige Observation (Art 33 Abs. 2 bayPAG) und der verdeckte Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen oder -aufzeichnungen (Art 33 Abs. 2 bayPAG, § 22 Abs. 2 bwPolG) schon zugelassen, wenn die Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe auf andere Weise gefährdet oder erheblich erschwert würde. 111 So in § 32 Abs. 4 S. 1 bbgPolG; § 32 Abs. 3 bremPolG; § 9 Abs. 4 hambGDatPol; § 16 Abs. 4 nwPolG; § 17 Abs. 6a saSOG. 112 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 14, Rn. 101; T. Petri, Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafrecht, in: E. Denninger/F. Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. G, S. 710–913 (229); M. Thiel, Polizei- und Ordnungsrecht, 2013, § 10 Rn. 51.

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vollständige Kenntnis ihrer Lebensäußerungen zu bekommen“113. Das Merkmal der Dauer, das die kurzfristige von der längerfristigen Observation abgrenzt und ausschlaggebendes Kriterium für das Eingreifen einer höheren Eingriffsschwelle ist, wird durch einige Polizeigesetze anhand der Durchgängigkeit der Beobachtung, durch andere Polizeigesetze anhand der Gesamtdauer der Beobachtung gemessen. So liegt nach einigen Polizeigesetzen eine längerfristige Observation bei einer durchgehenden Dauer von mehr als 24 Stunden, oder wenn sie über mehr als zwei Tage oder eine Woche hinausreicht, vor114. Nach anderen Gesetzen muss eine Dauer von mehr als einer Woche115 oder einem Monat gegeben sein116. Obwohl auch durch die kurzfristige Observation erhebliche Ausforschungen vorgenommen werden können, legen die Polizeigesetze diesbezüglich relativ niedrige Eingriffsschwellen fest. Ist die kurzfristige Observation explizit geregelt, so wird sie für zulässig erklärt, „soweit dies zum Zwecke der Gefahrenabwehr erforderlich ist und ohne diese Maßnahme die Erfüllung der polizeilichen Aufgabe gefährdet wird.“117 Eine kurzfristige Observation dürfte daher zur Bekämpfung der Absprachen in strafrechtlich relevanten Konflikten grundsätzlich zulässig sein, da sie die einzige geeignete Maßnahme zur Bekämpfung des Informations­defizits der Behörden darstellt118. So erscheint es vorstellbar, dass durch die Beobachtung eines Friedensrichters nähere Informationen über sein Umfeld und Hinweise auf eine möglicherweise bevorstehende Begehung der oben genannten Straftaten gewonnen werden können. Allerdings ist auch zu bedenken, dass durch eine Observation das gesprochene Wort des Observierten nicht zur Kenntnis der Behörden gelangt, was eine Beweisführung dahingehend, dass Straftaten tatsächlich geplant sind, erschwert. 1. Untersagungsverfügung, Gefährderansprache und Gefährderanschreiben Letztlich könnten die Polizei- und Ordnungsbehörden weitere Maßnahmen ergreifen, die sich auf die landesgesetzlichen Generalklauseln stützen lassen. Nach diesen darf die Ordnungsbehörde die notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr 113 F. Rachor, Das Polizeihandeln, in: E. Denninger/F. Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizei­ rechts, 5. Aufl. 2012, Kap. E, S. 284–601 Rn. 275; in diesem Sinne etwa auch die Begriffsbestimmungen bei Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  108), § 14 Rn. 100; Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 112), § 10 Rn. 51. 114 Art. 33 Abs. 1 Nr. 1 bayPAG; § 32 Abs. 1 S. 1 bbgPolG; § 25 Abs. 1 Nr. 1 berlASOG; § 28 Abs. 2 Nr. 1 BPolG; § 9 Abs. 1 S. 1 hambGDatPol; § 16a Abs. 1 S. 1 nwPolG; § 28 Abs. 2 Nr. 1 rpPOG; § 34 Abs. 1 Nr. 1 thürPAG. 115 § 22 Abs. 1 bwPolG; § 15 Abs. 1 Nr. 1 hessSOG; § 33 Abs. 1 Nr. 1 mvSOG; § 34 Abs. 1 S. 1 ndsSOG; § 17 Abs. 1 Nr. 1 saSOG; § 185 Abs. 1 Nr. 1 shLVwG. 116 § 36 Abs. 2 Nr. 1 sächsPolG. 117 § 32 Abs. 4 S. 2 bbgPolG; § 32 Abs. 3 S. 2 bremPolG; § 17Abs. 6a saSOG. 118 Zu den Eingriffsvoraussetzungen im Einzelnen siehe unten Dritter Teil D. II. 5.

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treffen. Fraglich ist jedoch, wie Maßnahmen aussehen könnten, die ein effizientes Vorgehen gegen die informellen Absprachen ermöglichen. Zunächst wäre an eine Untersagungsverfügung zu denken, die ihrem Adressaten aufgibt, sich nicht an Opfer bzw. Täter von Gewalttaten zu wenden und auf Schlichtungen hinzuwirken, die dazu führen, dass eigentlich zu verhängende Strafen vereitelt werden119. Fraglich ist jedoch, ob eine solche Untersagungsverfügung zielführend wäre. Da davon auszugehen ist, dass die Friedensrichter um die schwierige Beweisbarkeit der Absprachen wissen, könnten Zweifel bestehen, ob sie sich von Untersagungsverfügungen beeinflussen lassen würden. Allerdings lässt sich eine gewisse „Abschreckungswirkung“ solcher Maßnahme auch nicht generell ausschließen, denn der Staat setzt das Mittel der Abschreckung im Rahmen von Gefahrenabwehrmaßnahmen erfolgreich ein. In diesem Zusammenhang sei auf das Institut der Gefährderansprache120 hingewiesen, das in der Literatur als „die in einem konkreten Fall an einen potenziellen Gefahrenverursacher gerichtete Ermahnung, Störungen zu unterlassen“, bezeichnet wird121. Die Gefährderansprache findet in der Praxis vor allem gegenüber gewaltbereiten Demonstrationsteilnehmern und Fußballanhängern122 sowie Gewalttätern im sozialen Nahbereich, aber auch gegenüber vergleichsweise harmloseren Graffitisprayern Anwendung123. Dabei sucht die Polizei die betreffenden Personen meist zu Hause oder am Arbeitsplatz auf, um mit ihnen zielgerichtet Gespräche über potenziell von ihnen ausgehende Gefahren zu führen124. Die Gefährderansprache ist mangels Regelungsgehalt kein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 VwVfG, sondern ein Realakt125. Sie gibt kein Tun, Dulden oder Unterlassen rechtsverbindlich auf und ist daher nach ihrem objektiven Gehalt nicht darauf gerichtet, eine verbindliche Rechtsfolge festzusetzen. Ihr Inhalt erstreckt sich auf hinweisende, empfehlende und warnende Elemente. Die Behörde weist auf ihren Kenntnisstand über den Adressaten hin, empfiehlt bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen und stellt im Falle der Zuwiderhandlung bestimmte behördliche Maßnahmen in Aussicht126. 119

Zum Problem der Bestimmtheit einer solchen Verfügung siehe noch unten 3. Teil II. 5. f.). Die Maßnahme kann auch schriftlich als „Gefährderanschreiben“ erfolgen. Da aus rechtlicher Sicht keine Unterschiede bestehen, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit im Folgenden jeweils nur die Gefährderansprache genannt. 121 Rachor, Polizeihandeln (Fn. 113), Rn. 820. 122 OVG Lüneburg NJW 2006, 391; T. Hebeler, Die Gefährderansprache, in: NVwZ 2001, S.  1364–1366 (1364); Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  108), § 21 Rn. 46; W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2013, § 12 I Rn. 652. 123 Rachor, Polizeihandeln (Fn. 113), Rn. 820. 124 C. Arzt, Gefährderansprache und Meldeauflage bei Sport-Großereignissen, zugleich eine Besprechung von OVG Lüneburg, Urteil vom 22.9.2005, in: Die Polizei 2006, S.  156–161 (156). 125 OVG Lüneburg NJW 2006, 391 (Demonstrationsteilnehmer); Hebeler, Gefährderansprache (Fn. 122), S. 1365; Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 122), § 3 II 1, Rn. 50; W. Erbguth/T. Mann/ M. Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2015, Rn. 765. 126 Hebeler, Gefährderansprache (Fn. 122), S. 1365. 120

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Die Gefährderansprache ist also die Information eines Bürgers durch die Polizei, die aber – weil es sich nicht um eine vom Betroffenen erbetene Information im Sinne einer Auskunft handelt – einen appellativen Charakter hat127. Da der Betroffene die Gefährderansprache im Einzelfall als Empfehlung oder Rat, aber auch als Warnung oder gar Drohung auffassen kann128, besitzt die Maßnahme in den meisten Fällen dennoch Eingriffsqualität129. So stellt jedes sozialethische Unwerturteil, in dem die Polizei zum Ausdruck bringt, sie halte den Adressaten für einen potenziellen Rechtsbrecher, schon einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG dar130. Daher bedarf die Maßnahme einer gesetzlichen Grundlage131. Da die Gefährderansprache nicht ausdrücklich geregelt ist und auch keine Standardbefugnisse einschlägig sind, ist sie nach überwiegender Ansicht auf die Generalklausel zu stützen132. Dem ist auch dann zuzustimmen, wenn man annimmt, dass die Gefährderansprache mittlerweile vertypt ist, also eine seit langem bekannte, regelmäßig angewendete Maßnahme darstellt133. Denn die Heranziehung der Generalklausel bei vertypten Maßnahmen ist lediglich dann problematisch, wenn entweder in ein Grundrecht mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt eingegriffen wird, die Maßnahme eine bestimmte Eingriffsintensität überschreitet oder von einer schwächeren gleichgerichteten Standardmaßnahme eine Sperrwirkung ausgeht134. Diese Fälle sind jedoch im Hinblick auf das Wirken der Friedensrichter regelmäßig nicht einschlägig, so dass ein Rückgriff auf die Generalklausel möglich ist135. Praktisch würde sich der Einsatz von Gefährderansprachen so darstellen, dass Polizeibeamte Personen, von denen sie vermuten, dass diese regelmäßig wortführend bei den Absprachen mitwirken, aufsuchen und sie auf die mögliche Begehung 127

Rachor, Polizeihandeln (Fn. 113), Rn. 822. Rachor, Polizeihandeln (Fn. 113), Rn. 823. 129 Hebeler, Gefährderansprache (Fn.  122), S.  1365; Rachor, Polizeihandeln (Fn.  113), Rn. 823; Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 122), § 12 II Rn. 652. 130 Rachor, Polizeihandeln (Fn. 113), Rn. 823; in diesem Sinne auch Arzt, Gefährderansprache (Fn. 124), S. 157. 131 OVG Lüneburg NJW 2006, 391; Arzt, Gefährderansprache (Fn. 124), S. 158. 132 OVG Lüneburg NJW 2006, 391; Hebeler, Gefährderansprache, (Fn. 122) S. 1366; Rachor, Polizeihandeln (Fn. 113), Rn. 825; Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  108), § 7 Rn.  13, § 21 Rn.  46; Erbguth/Mann/Schubert, Verwaltungsrecht (Fn.  125), Rn. 766. 133 Anderer Ansicht ist Arzt, Gefährderansprache (Fn. 124), S. 158. 134 C. Schucht, Die polizei- und ordnungsrechtliche Meldeauflage: Standortbestimmung und dogmatische Neuausrichtung, in: NVwZ 2011, S. 709–713 (713); zum Ganzen auch Pieroth/ Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 7 Rn. 11 ff.; Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 112), § 6 Rn. 15 ff. 135 Die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Generalklauseln auf atypische Maßnahmen wird ohnehin teilweise grundsätzlich abgelehnt: siehe hierzu etwa Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 122), § 3 II 1 Rn. 49; Thiel, Ordnungsrecht (Fn. 112), § 6 Rn. 15 ff.; a. A. jedenfalls bei intensiven Grundrechtseingriffen BVerwGE 115, 189 (194 ff.); Pieroth/Schlink/Kniesel/ Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 8 Rn. 20. 128

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von Straftaten hinweisen. So würde der Staat zum einen ein Signal setzen, dass er sich durchaus bewusst ist, dass die betroffene Person an informellen Absprachen beteiligt ist. Zum anderen kann auf diese Weise an das Unrechtsbewusstsein der Betroffenen, die sich möglicherweise gar keine Gedanken über die strafrechtliche Relevanz ihres Verhaltens machen, appelliert werden. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass neben direkten Untersagungsverfügungen auch der Einsatz von Gefährderansprachen ein adäquates Mittel zur Bekämpfung von Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Bereichen darstellen könnte. Dies gilt vor allem deshalb, weil eine solche Ansprache eine verhältnismäßig geringe Eingriffsqualität aufweist. Ob Friedensrichter sich im Ergebnis tatsächlich durch Gefährderansprachen beeinflussen lassen, kann freilich nur die Erprobung in der Praxis zeigen. Das Bewusstsein der Friedensrichter dafür, dass ihre Schlichtungen gegen die Rechtsordnung verstoßen, würde aber jedenfalls geschärft. 2. Kontaktverbot Als weiterer, zweifellos schärferer Eingriff könnte die Verhängung eines Kontaktverbots zwischen dem Opfer der Straftat und dem Friedensrichter in Betracht kommen. Denn eine beliebte Vorgehensweise der Friedensrichter ist es, die Opfer auf Veranlassung der Täter möglichst im Frühstadium des Ermittlungsverfahrens aufzusuchen, um ihnen die Verhandlungsbereitschaft des Täters mitzuteilen136. Unterbände man den Kontakt zwischen Friedensrichter und Opfer, könnten Absprachen jedenfalls erschwert, vielleicht in einigen Fällen sogar verhindert werden. Das Kontaktverbot ist nicht in den Standardbefugnissen der Polizeigesetze geregelt137 und könnte demnach grundsätzlich auf die Generalklausel gestützt werden138. Zu beachten ist jedoch, dass ein Kontaktverbot sich für den Betroffenen gegebenenfalls wie ein Aufenthaltsverbot auswirken kann. Unter anderem darf ein Aufenthaltsverbot nach den Polizeigesetzen in Konkretisierung des Art.  11 Abs. 2 GG ausgesprochen werden, wenn die Gefahr besteht, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen wird oder zur Begehung einer Straftat beiträgt. Auch diese Voraussetzung wird im Einzelfall nach dem oben Dargelegten jedoch regelmäßig erfüllt sein. 136

So Wagner, Richter (Fn. 1), S. 31 f. Ein Kontaktverbot ist lediglich in § 13 Abs. 4 rpPolG geregelt und dort nur für den Bereich der Gewalt in engen sozialen Beziehungen: „Die Polizei kann insbesondere bei Fällen von Gewalt in engen sozialen Beziehungen zur Abwehr einer dringenden Gefahr anordnen, dass der Verantwortliche es unterlässt, 1. sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung der betroffenen Person aufzuhalten, 2. Verbindung zur betroffenen Person, auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln aufzunehmen, 3.  Zusammentreffen mit der betroffenen Person herbeizuführen, soweit dies nicht zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich ist. Die Anordnungen sind zu befristen; die Frist kann verlängert werden.“ 138 So auch Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 16 Rn. 12. 137

D. Freiheitsrechte und Wahrheitsermittlungspflicht

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3. Eingriffsvoraussetzungen Da für die Maßnahmen der Observation, der Untersagungsverfügung, der Gefährderansprache und des Kontaktverbots die Voraussetzungen der polizeilichen Generalklausel vorliegen müssen, erfolgt deren Prüfung an dieser Stelle gemeinsam. Zunächst werden im Folgenden Schutzgüter ermittelt und aufgezeigt, die möglicherweise durch die Absprachen verletzt werden. Auch in präventiver Hinsicht ist zunächst auf die Gefahr der Begehung von Straftaten abzustellen (a). Die Absprachen behindern außerdem die Funktionsfähigkeit der staatlichen Strafrechtspflege (b). Eine Verletzung des staatlichen Strafmonopols scheidet jedoch aus (c). Im Einzelfall dürfte auch eine konkrete Gefahr für die genannten Schutzgüter vorliegen (d). Weiterhin wäre bei einem Eingriff das Übermaßverbot zu beachten (e). Schließlich wäre insbesondere im Hinblick auf Untersagungsverfügungen und Gefährderansprachen das Bestimmtheitsgebot zu berücksichtigen (f). a) Schutzgut: Strafrechtliche Vorschriften Im Hinblick auf das Teilschutzgut der öffentlichen Sicherheit kommt zunächst die Gefahr der Verletzung strafrechtlicher Vorschriften in Betracht, also insbesondere die Begehung von Aussagedelikten oder der Strafvereitelung. Hierzu kann an dieser Stelle auf oben verwiesen werden139. b) Schutzgut: Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege Die Tätigkeit der Friedensrichter könnte außerdem die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege beeinträchtigen140. Das Bundesverfassungsgericht verweist in unterschiedlichen Zusammenhängen auf den Topos der funktionstüchtigen Strafrechtspflege. Herangezogen wurde er beispielsweise bei der Beschränkung des Prozesszeugnisverweigerungsrechts auf den redaktionellen Teil von Tageszeitungen141, dessen Nichtgeltung für selbstrecherchiertes Material142 und bei der Entscheidung darüber, ob die grundsätzliche Unzulässigkeit der Beschlagnahme und Verwendung privater Tonaufzeichnungen Einschränkungen unterliegen kann143. Auch das Schrifttum erkennt die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege als selbstständiges verfassungsrechtliches Postulat weitgehend an144. Teilweise wird 139

Hierzu Dritter Teil D. I. Zur Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege im Zusammenhang mit islamischen Friedenrichtern auch Löhnig, Strukturmerkmale (Fn. 71), S. 67 f. 141 BVerfGE 64, 108 (116). 142 BVerfGE 77, 65 (83). 143 BVerfGE 34, 238 (243). 144 Siehe nur Roxin, AT I (Fn. 66), § 1 Rn. 7; Pfeiffer/Hannich (Fn. 37), Einl. Rn. 23; W. Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2015, Rn. 3; Meyer-Großner (Fn. 37), Einl. Rn. 18. 140

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dieser Rückgriff aber auch kritisiert. So wird angeführt, das Verfolgungs- und Aufklärungsinteresse des Staates werde mit einem inhaltsleeren und damit beliebig ausfüllbaren Begriff überbetont, was der Grundtendenz der Grundrechtsgewährleistung, nämlich Abwehrrechte gegen die Übermacht der Staatsgewalt zu schaffen, widerspreche. Dies berge die Gefahr, mithilfe des Topos der funktionstüchtigen Strafrechtspflege ausdrücklich verankerte Prozessrechte zu relativieren und zu beschränken145. Dem ist zuzugeben, dass das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass die Wahrheitsermittlungspflicht die Freiheitsrechte des Einzelnen nicht über Gebühr beschränkt146. Daraus ergibt sich, dass das Rechtsstaatsprinzip weder die Aufklärung sämtlicher Straftaten noch die ausnahmslose Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände, die die Verhängung höchstmöglicher Strafen erlaubten, gebietet. Eine „Wahrheitsermittlung um jeden Preis“ verbietet sich in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen147. Jedoch besteht auch eine freiheitsbeschränkende verfassungsrechtliche Pflicht, eine funktionsfähige Strafrechtspflege bei der Abwägung mit Individualrechten und Grundrechtsverbürgungen als Gegeninteresse zu würdigen148. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung dieses Gegeninteresses für die Verwirklichung des Rechtsstaates wiederholt betont. Exemplarisch ist folgende Passage aus dem 46. Entscheidungsband: „Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege hervorgehoben, ohne die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden kann. […] Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. […] Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen und der Anspruch aller im Strafverfahren Beschuldigter auf Gleichbehandlung erfordern vielmehr grundsätzlich, daß der Strafanspruch durchgesetzt, also auch eingeleitete Verfahren fortgesetzt und rechtskräftig verhängte Strafen vollstreckt werden.“149

Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist damit als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips anzuerkennen. 145 Kritisch etwa E. Riehle, Funktionstüchtige Strafrechtspflege contra strafprozessuale Garantien, in: Kritische Justiz 13 (1980), S. 316–324; W. Hassemer, Die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ – ein neuer Rechtsbegriff?, in: Strafverteidiger 1982, S. 275–280; M. Patz, Die Effektivität der Strafrechtspflege, 2009. 146 So zutreffend Landau, Pflicht (Fn. 72), S. 121. 147 So der BGH in ständiger Rechtsprechung: BGHSt 14, 350 (365); 31, 304 (309); 38, 214 (220). 148 J. Wolter, in ders. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, 4. Aufl. 2010, Vor § 151, Rn. 28. 149 BVerfGE 46, 214 (222 f.). In diesem Sinne außerdem BVerfGE 33, 23 (32); 33, 367 (383); 38, 312 (321); 39, 156 (163); 41, 246 (250).

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Im Rahmen der Generalklausel wäre die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege unter das Teilschutzgut des „Bestandes des Staates und der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstiger Träger der Hoheitsgewalt“ zu subsumieren, soweit es keine einfachgesetzliche Ausprägung gefunden hat (und dann unter das Teilschutzgut der öffentlichen Sicherheit zu fassen wäre). Ob dies zulässig ist, ist streitig. Teilweise wird vertreten, Beeinträchtigungen des Funktionierens von staatlichen Einrichtungen durch Private seien erst dann polizei- und ordnungsbehördlich abzuwehren, wenn sie die Rechtsordnung verletzen. Die Grenze polizei- und ordnungsbehördlichen Einschreitens dürfe nicht „dadurch eingeebnet werden, daß eine unbestimmte und unbestimmbare Funktionsfähigkeit zu einem Aspekt des Schutzguts der öffentlichen Sicherheit erhoben und die Belästigung des Funk­ tionierens zur Verletzung der Funktionsfähigkeit stilisiert wird“150. Andererseits wird jedoch konstatiert, der Schutz des Staates und seiner Einrichtungen reiche über den Schutz der Rechtsordnung hinaus. Staatliche Organe und Einrichtungen seien auch dann geschützt, wenn keine speziellen Normverstöße vorlägen. Dies gelte unabhängig davon, welcher staatlichen Gewalt die Einrichtungen zuzuordnen seien und ob sie unmittelbare oder mittelbare staatliche Gewalt ausübten151. Die Kontroverse lässt sich an den informellen Absprachen veranschaulichen. Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege findet ihre einfachgesetzliche Ausprägung beispielsweise in den oben angesprochenen Straftatbeständen der Strafvereitelung und den Aussagedelikten. Es lässt sich daher durchaus der Standpunkt vertreten, dass der Gesetzgeber dort, wo er einen spezifischen Schutz der Strafrechtspflege vor Beeinträchtigung Privater für nötig hält, diesen gesetzlich explizit festschreibt. Andererseits ist das Schutzgut der Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen in Literatur und Rechtsprechung anerkannt. Darüber hinaus wird es teilweise explizit in einigen neueren Polizei- und Ordnungsgesetzen als Teilschutzgut der öffentlichen Sicherheit genannt152. Würde man die Abwehr von Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen erst dann zulassen, wenn diese die Rechtsordnung verletzen, wäre das Tatbestandsmerkmal aber bedeutungslos. Der Tatsache, dass Störungen mit Bagatellcharakter erfasst werden, kann (und muss) sodann auf Rechtsfolgenebene im Rahmen der Verhältnismäßigkeit begegnet 150 So Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  108), § 8 Rn.  41; in diesem Sinne auch D. Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012 Kap. 5 Rn. 46. 151 So etwa E. Denninger, Gefahrenabwehr (Kap. D), in: ders./F. Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Rn.  22; Schenke, Ordnungsrecht (Fn.  122), § 3 II 5 Rn.  60 (2013); K. Habermehl, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 1993, Rn. 92. 152 § 2 Nr. 2 bremPolG (ohne „Bestand des Staates“); § 3 Nr. 1 saSOG; § 54 Nr. 1 thürOBG.

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3. Teil: Religiöse Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Sachverhalten 

werden. So ist beispielsweise (auch scharfe) öffentliche Kritik an Einrichtungen des Staates im Rahmen der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit selbst dann erlaubt, wenn hierdurch ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird153. Im Rahmen der informellen Absprachen könnte eine Abwägung zwischen der Freiheit, strafrechtlich relevante Konflikte privat zu regeln, und der im Rechtsstaatsprinzip verankerten Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege jedoch durchaus zu Gunsten der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege ausfallen, auch wenn die Gefahr der Begehung von Straftaten noch nicht konkret bevorsteht. Denn die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege ist von fundamentaler Bedeutung für den Rechtsstaat, während Handlungs- bzw. Religionsfreiheit der Beteiligten im Rahmen der informellen Absprachen lediglich peripher und nicht in ihrem Kern betroffen sind154. c) Schutzgut: Das Strafmonopol des Staates Die Tätigkeit der Friedensrichter könnte außerdem das staatliche Strafmonopol verletzen. Das staatliche Strafmonopol wird aus Art.  92 GG abgeleitet155. Es schützt den Einzelnen vor einer außerstaatlichen Strafverhängung, die wesensmäßig der Verhängung von Kriminalstrafen gleicht156. Die Kriminalstrafe ist gekennzeichnet durch das mit ihrer Verhängung verbundene „autoritative Unwerturteil“157, das die Auflehnung gegen die Rechtsordnung rügt und dem somit eine ethische Komponente zukommt158. Einen ethischen Schuldvorwurf in diesem Sinne kann jedoch nur eine staatliche Instanz erheben, da es sich hierbei um eine Feststellung handelt, die für die Gesamtgemeinschaft rechtliche Geltung beansprucht.159 „Verurteilt“ eine Person eine andere in einem privaten Verfahren eine Wiedergutmachungszahlung zu leisten, stellt dies keine Kriminalstrafe im Sinne des staatlichen Strafrechts dar. Denn es wird kein ethischer Schuldvorwurf der staatlichen Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht160. Einen solchen kann eine Privatperson oder ein privater Träger mangels demokratischer Legitimation nicht im Namen der 153 Zu diesem Beispiel Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 8 Rn 42. 154 Zum Grundrechtsschutz privater religiöser Mediation bzw. Gerichtsbarkeit ausführlich oben Zweiter Teil B. 155 BVerfG (K) NJW 1967, 1219. 156 U. Luhmann, Betriebsjustiz und Rechtsstaat – Vertragliche Sanktionen und betriebliche Strafgewalt bei Ordnungsverstößen im Arbeitsverhältnis, 1975, S. 181. 157 BVerfGE 22, 49 (80). 158 BVerfGE 22, 49 (80); M. Wolf, Gerichtsverfassungsrecht aller Verfahrenszweige, 6. Aufl. 1987, S.  23; C. D. Classen, in: H.  v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 92 Rn. 45; O. Kissel/H. Meyer, Kommentar zum Gerichtsverfassungsgesetz, 8. Aufl. 2015, § 13 Rn. 232. 159 D. Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 215. 160 Lorenz, Rechtsschutz (Fn.  159), S.  215; C. Hillgruber, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. VI, Art. 92 (2007) Rn. 89.

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Allgemeinheit, sondern allenfalls im Namen der jeweiligen Institution erheben161. Eine Verletzung des staatlichen Strafmonopols scheidet somit aus. d) Vorliegen einer konkreten Gefahr Im Einzelfall wäre sodann zu prüfen, ob eine konkrete Gefahr für eines der­ genannten Schutzgüter besteht. Diese Prüfung kann nicht verallgemeinernd vorgenommen werden. Auf einige den informellen Schlichtungen immanente Probleme soll jedoch im Folgenden hingewiesen werden. Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts besteht. Dabei ist immer eine Gefahrenprognose anzustellen, da eine vollständige Vorhersehbarkeit eines Gefahreneintritts nicht gewährleistet werden kann. Ein Urteil über die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts ist regelmäßig mit Unsicherheiten behaftet162. Die Feststellung der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erfolgt unter Rückgriff auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das durch den Grundsatz der umgekehrten Proportionalität von Schadenshöhe und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts im Polizeiund Ordnungsrecht spezifiziert wird163. Demnach sind an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer der drohende Schaden ist (differenzierter Wahrscheinlichkeitsmaßstab)164. In den beschriebenen Konstellationen wird aufgrund des bestehenden Informationsdefizits und der schwierigen Beweisbarkeit eher selten eine positive Gefahrenprognose gestellt werden können. Allerdings sind die Polizei- und Ordnungsbehörden grundsätzlich befugt, auch im Falle eines bloßen Gefahrenverdachts einzuschreiten. Der Begriff des Gefahrenverdachts ist zwar nur teilweise gesetzlich geregelt  – so sind Durchsuchungen von Personen, Sachen und Wohnungen auch dann zulässig, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass bei der Durchsuchung eine gefährliche oder gefährdete Person oder Sache gefunden wird165 –, in Rechtsprechung und Literatur 161 Classen (Fn. 158), Art. 92 Rn. 45; ähnlich auch Hillgruber (Fn. 160), Art. 92 Rn. 89; ähnlich für die Schiedsgerichtsbarkeit R. Stober, Staatsgerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit, NJW 1979, S. 2001–2008 (2002). 162 Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 122), Rn. 77; Schoch, Ordnungsrecht (Fn. 125), 2. Kap. II 1 c bb Rn. 87; Erbguth/Mann/Schubert, Verwaltungsrecht (Fn. 125), Rn. 464. 163 Kugelmann, Ordnungsrecht (Fn. 150), Kap. 5 Rn. 115. 164 BVerwGE 47, 31 (40); 62, 36 (39); Denninger, Gefahrenabwehr (Fn.  151) Rn.  52; Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 4 Rn. 7; Erbguth/Mann/ Schubert, Verwaltungsrecht (Fn. 125), Rn. 465; Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 122), Rn. 77. 165 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn.  108), § 4 Rn.  52. So regelt beispielsweise § 40 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW, dass die Polizei eine Sache durchsuchen kann, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihr eine Person befindet, die a) in Gewahrsam genommen werden darf, b) widerrechtlich festgehalten wird oder c) hilflos ist“.

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aber weitgehend anerkannt166. Ein Gefahrenverdacht liegt vor, wenn zwar Anhaltspunkte für eine Gefahr bestehen, der Behörde aber bewusst ist, dass die Sachlage mit Unsicherheiten behaftet ist und eine sichere Prognose des Schadenseintritts nicht angestellt werden kann167. In diesen Fällen darf die Behörde sogenannte Gefahrerforschungseingriffe vornehmen, die bereits durch das Preußische Ober­ verwaltungsgericht für zulässig erachtet wurden168. Danach „greift die Polizei nur vorläufig und nur insoweit ein, als dies nötig ist, um die pflichtgemäße Aufklärung eines zweifelhaften Tatbestandes herbeizuführen“169. In den Fällen der informellen Absprachen wird es vorkommen, dass keine Gewissheit darüber besteht, ob zeitgleich zu einem Ermittlungsverfahren ein Friedensrichter tätig wird und vor allem, ob dieser Friedensrichter auf eine Vereinbarung hinwirkt, die gegen die Rechtsordnung verstößt. Dann wird es für die Annahme eines Gefahrenverdachts darauf ankommen, ob sich diesbezügliche H ­ inweise während des Ermittlungsverfahrens verdichten. Denkbare Hinweise auf informelle Ab­sprachen könnten sich beispielsweise daraus ergeben, dass ein bekannter Friedensrichter schon Kontakt zu einem Opfer aufgenommen hat. Auch auffälliges Aussageverhalten der Beteiligten, vor allem die plötzliche Zurücknahme von belastenden Aussagen, könnten im Einzelfall als Indizien gewertet werden. e) Beschränkung durch das Übermaßverbot Als staatliche Eingriffshandlungen sind die oben genannten Maßnahmen durch das Übermaßverbot beschränkt. Es ist deklaratorisch in allen Polizei- und Ordnungsgesetzen niedergelegt, gilt aber davon unabhängig als ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips kraft Verfassungsrechts170. Das Übermaßverbot erfordert, dass ein staatlicher Eingriff zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist171. Ob die beschriebenen Maßnahmen der Bindung des behördlichen Handelns an das Übermaßverbot gerecht werden, kann wiederum nur im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden. Dennoch lassen sich auch hier einige allgemeine Aussagen treffen. 166

Hierzu etwa OVG NRW NVwZ 1982, 46; R. Poscher, Der Gefahrverdacht, in: NVwZ 2001, S. 141–147; Erbguth/Mann/Schubert, Verwaltungsrecht (Fn. 125), Rn. 478. 167 Kugelmann, Ordnungsrecht (Fn. 150), Kap. 5 Rn. 125; Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/ Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 4 Rn. 50; Schoch, Ordnungsrecht (Fn. 125), 2. Kap. II 1 c dd Rn. 95; Erbguth/Mann/Schubert, Verwaltungsrecht (Fn. 125), Rn. 478. 168 Pieroth/Schlink/Kniesel/Kingreen/Poscher, Ordnungsrecht (Fn. 108), § 4 Rn. 59. 169 PrOVG 77, 333. 170 Schenke, Ordnungsrecht (Fn. 122), § 6 Rn. 331; zum Übermaßverbot etwa P. Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, in: DÖV 1968, S. 817–825 sowie P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999. 171 BVerfGE 67, 157 (173); 79, 278 (286); 117, 163 (182); B. Grzeszick, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, Art. 20 (2006) Rn. 110; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 146; H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 83 ff.

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Zunächst sind nur solche Mittel zulässig, die zur Gefahrenbekämpfung geeignet sind. Aufgrund der schwierigen Nachvollziehbarkeit informeller Absprachen fällt es schwer, geeignete Mittel zu ihrer Unterbindung zu finden. Ob die oben angesprochenen Handlungsmöglichkeiten sich tatsächlich als geeignete Maßnahmen herausstellen, wird jeweils im konkreten Einzelfall erst im Nachhinein sicher festgestellt werden können. Da sich die Tauglichkeit des Mittels jedoch aus der ex ante Sicht der handelnden Behörde bemisst, berührt die spätere Feststellung der Untauglichkeit die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nicht, solange die Behörde zum Zeitpunkt des Handelns bei verständiger Würdigung der Sachlage von der Tauglichkeit des gewählten Mittels ausgehen durfte172. Der Grundsatz der Erforderlichkeit verpflichtet die Behörde, zur Bekämpfung einer Gefahr unter mehreren gleichermaßen geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt173. Hier wird insbesondere die Möglichkeit der Gefährderansprache zu bedenken sein, die weniger einschneidend ist als beispielsweise ein Kontaktverbot oder sogar ein generelles Verbot, Schlichtungen vorzunehmen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert, dass durch die Maßnahme kein Nachteil herbeigeführt wird, der erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht174. Untersagungsverfügungen und Gefährderansprachen stellen im Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg, nämlich der Sicherung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege und Verhinderung der möglichen Begehung von Aussagedelikten und Strafvereitelung, einen gering einzustufenden Eingriff in die Rechte der Betroffenen dar, so dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip grundsätzlich gewahrt sein wird. Lässt sich im Einzelfall tatsächlich eine konkrete Gefahr nachweisen, so könnte auch ein Kontaktverbot noch verhältnismäßig sein. Hier wird es aber darauf ankommen, in welcher Beziehung der Friedensrichter zu der Person steht, zu der das Kontaktverbot verhängt werden soll. Die Verhältnismäßigkeit wird wohl nur dann zu bejahen sein, wenn die Personen normalerweise keinen sozialen Kontakt miteinander pflegen und eine Kontaktaufnahme nur zum Zweck der Verhandlung über die Straftat erfolgen würde. Die kurzfristige Observation stellt einen erheblichen Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungs 172 Schenke, Ordnungsrecht (Fn.  122), § 6 Rn.  333; Schoch, Ordnungsrecht (Fn.  125), Rn. 138; Erbguth/Mann/Schubert, Verwaltungsrecht (Fn. 125), Rn. 474. 173 Vgl. Art. 4 Abs. 1 BayPAG; Art. 8 Abs. 1 Bay LstVG; § 11 Abs: 1 BerlASOG; § 14 Abs. 1 BrandOBG; § 3 BrandPolG; § 3 Abs. 1 BremPolG § 5 Abs. 1 BW PolG; § 4 Abs. 2 HambSOG; § 4 Abs.  1 HessSOG; § 15 Abs.  1 MVSOG; § 4 Abs.  1 NdsSOG; § 2 Abs.  1 NWPolG; § 15 Abs. 1 NWOBG; § 2 Abs. 1 RhPfPOG; § 2 Abs. 1 SaarlPolG; § 5 Abs. 1 SachsAnhSOG; § 3 Abs. 2 SächsPolG; § 9 Abs. 2 SächsSWG; § 73 Abs. 3 SchlHVwG; § 6 Abs. 1 ThürOBG; § 4 Abs. 1 ThürPAG; § 2 Abs. 1 MEPolG; § 15 Abs. 1 BPolG. 174 Vgl. Art. 4 Abs. 2 BayPAG; Art. 8 Abs. 2 BayLStVG; § 11 Abs. 2 BerlASOG; § 15 Abs. 2 BPolG; § 14 Abs. 2 BrandOBG; § 3 Abs. 2 BrandPolG; § 3 Abs. 2 BremPolG; § 5 Abs. 2 BWPolG; § 4 Abs. 3 HambSOG; § 4 Abs. 2 HessSOG; § 2 Abs. 2 MEPolG; § 15 Abs. 2 NWOBG; § 2 Abs. 2 RhPfPOG; § 2 Abs. 2 SaarlPolG; § 5 Abs. 2 SachsAnhSOG; § 3 Abs. 3 SächsPolG; § 9 Abs. 3 SächsSWG; § 73 Abs. 2 SchlHVwG; § 6 Abs. 2 ThürOBG; § 4 Abs. 2 ThürPAG.

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recht (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) der Betroffenen dar, so dass an die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall hohe Voraussetzungen zu stellen sein werden. f) Bestimmtheitsgrundsatz Letztlich ist auf das Bestimmtheitsgebot hinzuweisen, dem polizei- und ordnungsrechtliche Verfügungen gemäß § 37 Abs.  1 VwVfG genügen müssen. Der Bestimmtheitsgrundsatz ist als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips zwingend zu beachten. Der Adressat muss demnach eindeutig und zweifelsfrei erkennen können, welches Verhalten von ihm gefordert wird175. Der Bestimmtheitsgrundsatz dürfte insbesondere im Hinblick auf Gefährderansprachen und Untersagungsverfügungen relevant werden, die ihrem Adressaten aufgeben, sich nicht an Opfer bzw. Täter von Gewalttaten zu wenden, um auf Schlichtungen hinzuwirken, die dazu führen, dass eigentlich zu verhängende Strafen vereitelt werden. Da wie aufgezeigt nicht jede Einmischung und jedes Schlichten strafrechtlich relevanter Konflikte die Rechtsordnung verletzt, wird die Behörde bei der Formulierung einer Untersagungsverfügung deutlich zwischen noch erlaubtem und solchem Verhalten, das eine Gefahr für die aufgezeigten Rechtsgüter darstellt, differenzieren müssen.

E. Ergebnis Im Ergebnis ist festzustellen, dass sowohl repressiv als auch präventiv wirkende Eingriffsgrundlagen vorhanden sind, die es ermöglichen, gegen informelle Schlichtungen im Bereich des Strafrechts vorzugehen. Wirklich geeignete staatliche Maßnahmen im präventiven Bereich sind jedoch schwer auszumachen. Ob eine Sensibilisierung der Betroffenen durch Untersagungsverfügungen oder Gefährderansprachen tatsächlich dazu führt, dass die Absprachen unterbleiben, ist schwer einzuschätzen und müsste in der Praxis erprobt werden. Ein Kontaktverbot und auch eine kurzfristige Observation stellen schwerwiegende Eingriffe in die Rechte der Adressaten dar. Hier sind hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung der Maßnahmen zu stellen. Insbesondere im Rahmen von Untersagungsverfügungen und Gefährderansprachen müsste die Behörde aufgrund des Bestimmtheitsgrundsatzes sauber zwischen noch erlaubtem und solchem Verhalten differenzieren, das eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Überdies besteht grundsätzlich das praktische Problem der mangelnden Beweis- und Nachvollziehbarkeit der Absprachen. 175 Thiel, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn.  112),§ 8 Rn.  186; instruktiv zur Bestimmtheit (nicht nur) bauordnungsrechtlicher Verfügungen F. Dirnberger, in: J. Busse/A. Simon (Hrsg.), Bayerische Bauordnung 2008 Kommentar, Art. 54 (2008) Rn. 71; zur Unbestimmtheit einer Verordnung, die es verboten hatte „sich nach Art eines Land- oder Stadtstreichers herumzutreiben“ VGH Mannheim NJW 1984, 507.

Ergebnisse der Arbeit in Thesen (1) Religiöse bzw. traditionelle Paralleljustiz ist ein Phänomen, das in Deutschland existiert und dem sich in zunehmendem Maße auch Politik und Justiz widmen. Verlässliche Erhebungen darüber, wie verbreitet informelle religiöse Streitschlichtung und -entscheidung ist, gibt es bisher jedoch nicht. Die zur Verfügung stehenden Informationen beruhen auf Aussagen einzelner milieunaher Personen. (2) Die Beteiligten orientieren sich bei der Beilegung der Streitigkeiten nicht ausschließlich am islamischen Recht, sondern auch an allgemeinen Rechts- und Moralvorstellungen des jeweiligen Kulturkreises. Das Phänomen „Paralleljustiz“ scheint kein islamspezifisches, sondern ein kulturspezifisches Problem zu sein, wobei jedoch jedenfalls grundlegende Wertentscheidungen des islamischen Rechts einfließen. (3)  In den entsprechenden Milieus kann ein faktischer Zwang entstehen, das staatliche Justizsystem zu meiden und stattdessen Streitigkeiten durch in der Familie oder der Gemeinde anerkannte Autoritäten entscheiden zu lassen. Hier können religiöse Erwägungen, ein stark ausgeprägtes Ehrgefühl, aber auch schlicht die Angst, die Anbindung an die Gemeinde zu verlieren, eine Rolle spielen. Zudem können Informations- und Vertrauensdefizite zur Meidung des staatlichen Systems führen. Aus diesen Gründen werden die Ergebnisse informeller Streitschlichtung und -entscheidung grundsätzlich akzeptiert und das staatliche Justizsystem wird auch im Nachhinein nicht in Anspruch genommen. (4) Informelle Schlichtungs- und Entscheidungsmechanismen werden vor allem in familienrechtlichen Streitigkeiten und in strafrechtlich relevanten Konflikten eingesetzt. (5) Bei der informellen Lösung familienrechtlicher Konflikte besteht vor allem die Gefahr, dass Frauen bei der Anwendung islamischen Rechts oder patriarchalisch geprägter Rechts- und Moralvorstellungen unter dem Druck der Familie oder Gemeinde für sie benachteiligende Vereinbarungen eingehen. (6) Für Schlichtungen strafrechtlich relevanter Konflikte ergibt sich folgendes Bild: Nachdem eine Straftat begangen wird, nimmt üblicherweise der Täter, die Familie des Täters oder direkt ein sogenannter Friedensrichter Kontakt zu dem Opfer oder dessen Familie auf und bittet darum, von einer Anzeige abzu­sehen oder eine schon gestellte Anzeige zurückzunehmen. Als Friedensrichter fungieren Clanälteste, Imame oder auch Personen, die in keinerlei Verbindung zu den Beteiligten stehen, sich aber auf Schlichtungen spezialisiert haben und daher im Milieu bekannt sind. Es finden Vermittlungen zwischen Täter und Opfer statt, die meistens

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darauf hinauslaufen, dass der Täter dem Opfer einen Geldbetrag als Wiedergut­ machung zahlt und das Opfer dem Täter im Gegenzug die Tat vergibt und nicht mehr zur Anzeige bringt. Die Absprachen führen zu einer erheblichen Behinderung der Justiz, da Straftaten ohne Aussage des Opfers oft nicht aufgeklärt werden können. (7) In Großbritannien wird schon seit einigen Jahren eine Debatte über religiöse Gerichte geführt. Dort haben sich sogenannte Sharia-Councils als feste Institutionen herausgebildet. Versuche der Unterbindung dieser Gerichte oder eine Implementierung des islamischen Rechts oder gar einer islamischen Gerichtsbarkeit in das britische Justizsystem gab es bisher nicht. Derartige Gerichte erteilen vor allem religiöse Scheidungszertifikate. Die Einschätzung dieser Institutionen durch englische Wissenschaftler ist ambivalent. Zum einen wird konstatiert, dass vor allem muslimische Frauen auf die religiösen Scheidungen angewiesen sind, denn auch nach einer zivilrechtlichen Scheidung gelten sie in der Gemeinde noch als verheiratet. Zum anderen besteht aber die Gefahr, dass Frauen in diesen Verfahren aufgrund ihrer schwächeren Position Zugeständnisse machen, in die sie unter anderen Umständen nicht eingewilligt hätten. (8) In Kanada entbrannte bereits im Jahre 2003 eine Debatte über islamische Schiedsgerichte. Diese waren zwar zum damaligen Zeitpunkt zulässig; erst als das Islamic Institute of Civil Justice jedoch ankündigte, solche offiziell etablieren zu wollen, wurde die Öffentlichkeit auf die Thematik aufmerksam. Im Zuge der Debatte verfasste die damalige Justizministerin Ontarios ein umfangreiches Gutachten, in dem sie die Einrichtung islamischer Schiedsgerichte empfahl. Ihre Empfehlung stellte sie jedoch unter die Einschränkung, dass Schutzmechanismen für schwache Parteien, insbesondere für Frauen, geschaffen werden sollten. Beispielsweise sollten Schiedsvereinbarungen im familienrechtlichen Bereich nur Bindung entfalten, wenn sie nach Entstehung der Streitigkeit und vor Beginn des Schiedsverfahrens geschlossen werden. Beratende Anwälte sollten dazu verpflichtet werden, die Parteien vor einem religiösen Verfahren über ihre Rechte nach staatlichem Recht aufzuklären. Auch sollten die Verfahren dokumentiert und der Regierung zur Verfügung gestellt werden. Die Regierung entschied sich jedoch schließlich gegen die Etablierung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit. Im Februar des Jahres 2006 wurde der Family Statute Law Amendment Act erlassen, der Schiedsverfahren im Familienrecht nur unter Zugrundelegung kanadischen Rechts zulässt. Damit war den Schariagerichten ihr Hauptanwendungsbereich genommen und eine Etablierung islamischer Schiedsgerichte in Kanada faktisch gescheitert. (9) Rechtssoziologisch ist das Phänomen religiöser bzw. traditioneller Paralleljustiz in das Forschungsfeld des Rechtspluralismus einzuordnen. Rechtspluralismusforschung ist zu einem Großteil rechtsanthropologisch geprägt und beschäftigt sich zumeist mit kolonialisierten Volksgruppen. Mittlerweile rücken jedoch auch Rechtssysteme verschiedener ethnischer, kultureller und religiöser Gruppen innerhalb komplexer Gesellschaften, moderne Industriegesellschaften eingeschlossen, in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang wird auch die Immigrations-

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entwicklung moderner Gesellschaften und die damit zusammenhängende Generierung von Subkulturen von Interesse, die sich auch im Einwanderungsland an ihrem traditionellen oder religiösen Recht orientieren. (10)  Moderne Gesellschaften sind faktisch von einem gelebten Rechtspluralismus geprägt. Der Staat hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf diese Entwicklung zu reagieren. Zum einen können Maßnahmen zu dessen Eindämmung ergriffen werden. Zum anderen besteht die Möglichkeit, die informellen Erscheinungsformen paralleler Rechtsordnungen und Verfahren zu formalisieren und zu institutionalisieren. Letzteres kann durch eine gespaltene Zivilrechtsordnung oder durch die Etablierung religiöser Schiedsverfahren geschehen. (11) Eine religiöse Rechtsspaltung ist nicht zu empfehlen. Zunächst scheint in Deutschland schon kein diesbezüglicher Bedarf zu bestehen. Daneben sprechen aber auch rechts- und migrationspolitische Bedenken gegen die Implementierung des islamischen Rechts in die deutsche Zivilrechtsordnung. Eine religiöse Rechtsspaltung im materiellen Recht würde eine Spaltung des Gerichtswesens mit sich bringen. Rechtsethnologische Forschungen zeigen, dass hierdurch Ethnizität und die Abgrenzung der verschiedenen Gruppen gefördert wird. Die Einrichtung unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten kann zu einem Identifikationsverlust mit der Gesamtgesellschaft und dadurch zu einer Fragmentierung der Gemeinschaft führen. Zudem besteht die Gefahr, dass Freiheitsrechte schwacher Gruppenmitglieder eingeschränkt werden. Konflikte zwischen individueller Freiheit und kollektiver Gruppenzugehörigkeit lassen sich kaum vermeiden. Überdies findet in Sachverhalten mit hinreichendem Auslandsbezug das islamische Recht auch jetzt schon über das internationale Privatrecht Anwendung, sofern es Teil der zur Anwendung berufenen ausländischen Rechtsordnung ist. Und auch außerhalb des internationalen Privatrechts bietet die Dispositionsfreiheit einen weiten Rahmen für auf das­ islamische Recht abgestimmte Rechtsgestaltung. Dort, wo der Dispositionsfreiheit durch verfassungsrechtliche Wertungen Grenzen gesetzt sind, dürfte aber auch eine gespaltene Zivilrechtsordnung keine weitergehenden Gestaltungsmöglich­ keiten einräumen. Was verfassungsrechtlich unzulässige Rechtsgestaltung nach geltendem Recht ist, würde demnach nicht durch die Implementierung einer gespaltenen Zivilrechtsordnung zulässig. Praktische Probleme ergeben sich letztlich aus der Uneinheitlichkeit des islamischen Rechts sowie der Notwendigkeit eines interreligiösen Kollisionsrechts. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen im Hinblick auf die negative Religionsfreiheit, wenn dem Einzelnen die Wahl­ freiheit zwischen religiösen und nicht religiösen oder zwischen verschiedenen religiösen Gerichten genommen wird. (12) Religiöse Schiedsgerichte werden oft aus migrationspolitischen Gründen für sinnvoll erachtet. Durch die Implementierung der religiösen Verfahren in das offizielle System könne dem unerwünschten Autonomiegewinn informeller religiöser Gerichte entgegengewirkt werden. Tatsächlich können Muslime durch religiöse Schiedsverfahren ihre Autonomie weitestgehend wahren, während ­gleichzeitig Kontrollmöglichkeiten des Staates bestehen. Doch auch hier gilt: wo eklatante

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Grundrechtsverletzungen der Gestaltungsfreiheit Grenzen setzen, begrenzen sie auch einen Schiedsspruch. Letztlich ist zu vermuten, dass Muslime, die sich informeller religiöser Verfahren bedienen, religiöse Schiedsgerichte nicht in Anspruch nehmen würden. Denn sofern eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit in Familienund Erbrechtsstreitigkeiten befürwortet wird, wird dies mit der Forderung nach der Implementierung von bisher nicht vorhandenen Schutzmechanismen verknüpft. Muslime könnten sich durch solche Vorschriften wiederum in ihren religiösen Vorstellungen verletzt sehen und auf inoffizielle Verfahren ausweichen, um die gesteckten Grenzen zu umgehen. (13) Religiöse Streitschlichtung und -entscheidung fällt in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit. (14) Religiöse Streitschlichtung und -entscheidung kann in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fallen. Das einheitliche Grundrecht der Religionsfreiheit umfasst grundsätzlich das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Nach dem subjektiven Ansatz des Bundesverfassungsgerichts ist hierbei auf das Selbstverständnis des Einzelnen abzustellen. Daher können abstrakte Überlegungen darüber, ob religiöse Streitschlichtung und -entscheidung für Muslime in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt, grundsätzlich nur Anhaltspunkte geben, die im Einzelfall auf ihre Geltung überprüft werden müssen. Die zwingende Anwendung der Scharia auch in der Diaspora ist unter islamischen Rechtsgelehrten seit jeher eine viel diskutierte Thematik. Die Meinungen dies­ bezüglich variieren jedoch stark. Unterschiedliche Interpretationen einschlägiger Koranstellen sowie Hadithe mit widersprüchlichen Inhalten tragen zu einem uneinheitlichen Bild bei. Im Ergebnis besteht jedoch jedenfalls die Möglichkeit, dass gläubige Muslime plausibel darlegen können, dass außergerichtliche Streitschlichtung und -entscheidung auch in der Diaspora eine für sie als bindend empfundene Pflicht darstellt. (15) Soweit Individualpersonen betroffen sind, dürfen Eingriffe zur Unterbindung informeller religiöser Streitschlichtung daher nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts stattfinden. In Fällen, in denen ein Kollektiv betroffen ist, kann ein Eingriff gemäß Art. 137 Abs. 3 WRV grundsätzlich auch auf allgemeine Gesetze gestützt werden. Bietet jedoch beispielsweise ein Moscheegemeindeverein religiöse Streitschlichtung an, handelt es sich nicht nur um religiöse Selbstverwaltung, sondern es ist auch die in Art. 4 GG verankerte korporative Religionsfreiheit des Moscheegemeindevereins betroffen, so dass diesbezügliche Handlungen ebenfalls nur durch verfassungsimmanente Schranken begrenzt werden können. (16) Das Phänomen der religiösen Paralleljustiz ist als eine Form privater Gerichtsbarkeit zu qualifizieren. (17) Private Gerichtsbarkeit ist nach der in dieser Arbeit entwickelten Definition eine durch einen privaten Entscheidungsträger getroffene Entscheidung über einen Einzelfall in einem entweder durch Gesetz, durch die Parteien oder durch

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den Entscheidungsträger selbst geregelten Verfahren. Der Entscheidungsträger ist dabei an das geltende Recht oder andere durch die Parteien vereinbarte Regeln gebunden oder entscheidet frei nach seinem Ermessen. Die getroffene Entscheidung unterliegt schließlich einer (begrenzten) Kontrolle durch die staatlichen Gerichte. (18) Art. 92 GG trifft keine Aussage über die Zulässigkeit privater Rechtsprechung. Die Vorschrift bezieht sich ausschließlich auf das Verhältnis der Rechtsprechung zu den übrigen Trägern öffentlicher Gewalt. Sie konkretisiert den Gewaltenteilungsgrundsatz, indem sie den Richtern die staatliche Rechtsprechungsbefugnis zuweist. Hierbei setzt sie die Zuständigkeit des Staates voraus und ordnet die Aufgabe der Rechtsprechung nur für diesen Fall der dritten Staatsgewalt zu. Diese Interpretation ergibt sich vor allem aus dem Wortlaut der Vorschrift. Zudem erweisen sich Versuche, in Art.  92 GG eine Begrenzung privater Rechtsprechung­ hineinzulesen, oft als ungenau und nicht praktikabel. Die geschichtliche Entwicklung des Justizwesens rechtfertigt genauso wenig eine gegenteilige Interpretation der Vorschrift wie der Topos der Einheit der Rechtsordnung. (19) Private Rechtsprechung wird durch die im Grundgesetz verankerte Privatautonomie garantiert. Es gibt kein absolutes Rechtsprechungsmonopol des Staates. Private Rechtsprechung kann nicht alleine deshalb begrenzt werden, weil sie eine Alternative oder ein Äquivalent zur staatlichen Rechtsprechung darstellt. Der Staat ist verpflichtet, dem Bürger zunächst einmal größtmögliche Freiheit einzuräumen, seine Konflikte privatautonom beizulegen. (20)  Lediglich auf die Art und Weise der Durchführung privater Rechtsprechung muss der Staat Einfluss nehmen, wenn nicht gewährleistet ist, dass diese rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechen. Der Staat darf keinen abgeschirmten Raum privater Rechtsprechung zulassen, sondern muss sich immer eine Missbrauchskontrolle privater Entscheidungen vorbehalten. Dem Staat kommt insofern eine Schutzpflicht zu, die sich aus den Grundrechten der Beteiligten sowie dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch ergibt. (21) In Deutschland existiert ein privater Gerichtspluralismus. Schieds-, Vereins-, Verbands- und Kirchengerichte operieren unter begrenzten staatlichen Kontrollmöglichkeiten neben der staatlichen Gerichtsbarkeit. Seiner Schutzpflicht kommt der Staat hierbei nach, indem die staatlichen Gerichte eine Missbrauchs- und Evidenzkontrolle privater Rechtsprechung ausüben, die in Umfang und Tiefe je nach der Ausgestaltung des privaten Verfahrens variieren kann. Aufgrund der Autonomierechte von Einzelpersonen, Vereinen, Parteien und Kirchen ist der Kontrollumfang grundsätzlich begrenzt. Im Hinblick auf religiöse Paralleljustiz ist insofern zu beachten, dass privatrechtliche Vereinbarungen geschlossen werden, die vollständig durch staatliche Gerichte auf ihre Wirksamkeit überprüft werden können. Im Vergleich zu den überkommenen Erscheinungen privater Recht­ sprechung besteht somit nicht nur ein vergleichbares, sondern sogar ein deutlich höheres Schutzniveau. Dass diese Schutzmechanismen von Muslimen oft nicht genutzt werden, sondern das private Urteil als bindend angesehen wird, kann nicht

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zu einem pauschalen Verbot religiöser Paralleljustiz führen. Rechtsverletzungen muss im Einzelfall über einen Eingriff zum Schutz von Individualrechten entgegengewirkt werden. (22)  Ein Eingriff zum Schutz von Individualrechtsgütern ist jedenfalls dann möglich, wenn diese einfachgesetzlich, beispielsweise durch Strafvorschriften geschützt sind. Ein Eingriff kann dann grundsätzlich nicht nur repressiv, sondern auch präventiv unter Rückgriff auf die polizeirechtliche Generalklausel erfolgen. In Betracht kommen bei Schlichtungen zivilrechtlicher Streitigkeiten insbesondere die Verwirklichung des Nötigungstatbestands gemäß § 240 StGB und des Er­ pressungstatbestands gemäß § 253 StGB, wenn Friedensrichter gesellschaftliche oder religiöse Zwangslagen ausnutzen, um in sensiblen rechtlichen Bereichen wie Sorgerechtsfragen oder finanziellen nachehelichen Vereinbarungen Zugeständnisse zu erreichen. (23) Bei der Anwendung islamischen Rechts besteht die Gefahr der Diskriminierung beteiligter Frauen. Zwar verstoßen am islamischen Recht ausgerichtete letztwillige Verfügungen sowie erb- und eherechtliche Vereinbarungen im Hinblick auf die weite Dispositionsfreiheit, die das deutsche Recht diesbezüglich vorsieht, nicht per se gegen das deutsche Recht. Die Sittenwidrigkeit von solchen Vereinbarungen kann sich jedoch aus einer sozialen Zwanglage der Frauen ergeben, die sich de facto dem in der Gemeinde geltenden Recht unterordnen müssen. Vor allem Regelungen des Scheidungs-, Sorge- und Prozessrechts des klassischen islamischen Rechts verstoßen jedoch gegen Art.  3 Abs.  2 GG. Zwar sind privat vereinbarte Scheidungen nicht rechtswirksam, und Sorgerechtsfragen werden von Gerichten ohnehin nach dem Kindeswohl beurteilt. Werden Gerichte zur Kontrolle entsprechender familienrechtlicher Vereinbarungen berufen, erklären sie diese im Falle eklatanter Grundrechtsverletzungen aufgrund der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte für unwirksam. Durch gesellschaftlichen oder familiären Druck kann der Einzelne jedoch an der Inanspruchnahme staatlicher Gerichte faktisch gehindert sein. Auf diese Weise kann ein „gelebtes Recht“ entstehen, das den betroffenen Frauen in sensiblen rechtlichen Bereichen eine den Männern untergeordnete Rolle zuweist. Daher sollte der Staat wenn möglich initiativ, und nicht erst, wenn er möglicherweise durch die Beteiligten dazu berufen wird, gegen die Schlichtungen vorgehen. (24) Dabei hat die vorliegende Arbeit jedoch herausgearbeitet, dass es grundsätzlich unzulässig ist, wenn die Polizei- oder Ordnungsbehörden präventiv in Rechte Dritter eingreifen, um Frauen im Zuge informeller Schlichtungen vor Diskriminierungen im privatrechtlichen Bereich zu schützen. Die polizei- bzw. ordnungsbehördlichen Generalklauseln können nicht in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 GG herangezogen werden. Eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit scheidet aus, denn sowohl das Gleichberechtigungsgebot als auch eine aus diesem abzuleitende Schutzpflicht können nicht durch Private verletzt werden. Gegen einen direkten Rückgriff auf die grundrechtliche Schutzpflicht sprechen kompetenzrechtliche

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Bedenken. Ein solcher Rückgriff birgt außerdem die Gefahr einer de facto unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Eine Verletzung subjektiver Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen liegt ebenfalls nicht vor. Zudem sind für die Überprüfung privatrechtlicher vertraglicher Vereinbarungen primär die Gerichte, nicht aber die Polizei- und Ordnungsbehörden zuständig. (25) Unabhängig von verfassungs- und rechtspolitischen Bedenken gegen den Begriff der öffentlichen Ordnung, die die Verfasserin teilt, ist ein Eingriff in informelle am islamischen Recht ausgerichtete Streitschlichtung und -entscheidung in Extremfällen denkbar, wenn Frauen sich de facto unfreiwillig durch soziale oder finanzielle Zwänge oder Abhängigkeiten diskriminierenden Verfahren fügen. Denn es erscheint jedenfalls möglich, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht wäre, dass die Geschlechterparität missachtenden Verfahren, auf die sich Frauen aus Unwissen, Zwang oder Angst vor dem Verlust sozialer Anbindung einlassen, den sozialethischen Grundregeln widersprechen, die unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens sind. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Religionsfreiheit der Beteiligten bei einem Eingriff betroffen wäre. Somit ist auch ein Eingriff gestützt auf die öffentliche Ordnung nur unter der Prämisse möglich, dass kollidierendes Verfassungsrecht verletzt ist und bei einer Prüfung der praktischen Konkordanz im jeweiligen Einzelfall überwiegt. (26) Auch ein Propagieren polygamer (religiöser) Ehen oder der Minderwertigkeit des weiblichen Zeugnisses könnte gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Bei einem Propagieren wäre jedoch insbesondere die Meinungsfreiheit der Betroffenen zu berücksichtigen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit steht als tragenden Pfeiler der demokratischen Grundordnung regelmäßig selbst denen zu, die diese Grundordnung beseitigen wollen. Grundsätzlich ist daher ein Verbot von Meinungsäußerungen allein wegen ihres Inhalts unter Rückgriff auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung ausgeschlossen. Auch wenn Meinungen verfassungswidrig und in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich sind, rechtfertigt dies für sich keinen Eingriff in die Meinungsfreiheit. Ein Eingriff kann aber ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn die Art und Weise der Meinungsäußerung den­ öffentlichen Frieden stört, etwa durch ein aggressives, insbesondere andere Bürger einschüchterndes Auftreten. Die Anforderungen, die die Rechtsprechung diesbezüglich stellt, sind jedoch hoch. (27)  Die Anwendung des Rechtsdienstleistungsgesetzes in Fällen islamischer Paralleljustiz ist nur eingeschränkt möglich. Zwar ist ein Eingriff auf Grundlage des Rechtsdienstleistungsgesetzes grundsätzlich auch zulässig, wenn dieser einen Eingriff in das Grundrecht der Religionsausübungsfreiheit der Beteiligten darstellt. Denn die Schutzzwecke des Rechtsdienstleistungsgesetztes – der Schutz der Rechtssuchenden, des Rechtsverkehrs und der Rechtsordnung – wurzeln in verfassungsimmanenten Schranken, die grundsätzlich geeignet sind, die Religions­ freiheit einzuschränken (Art. 6 GG, Art. 14 GG, Art. 20 Abs. 3 GG). Meist wird jedoch schon keine Rechtsdienstleistung im Sinne des Gesetzes vorliegen, da diese

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eine rechtliche Prüfung erfordert. Ausgehend vom Wortlaut, den Schutzzwecken des Gesetzes und Anhaltspunkten in der Gesetzesbegründung bezieht sich das Rechtsdienstleistungsgesetz jedoch nur auf Rechtsberatung unter Anwendung staatlichen Rechts, also auf Recht in positivistischem Sinne als Ergebnis staatlicher Satzung, das in einem staatlich organisierten Zwangsverfahren durchgesetzt werden kann. Eine Beratung nach religiösen Rechtsvorschriften erfasst das Gesetz nicht. Dies kann allerdings dann anders sein, wenn der Ratsuchende zwar im islamischen Recht beraten wird, aber davon ausgeht, er erhalte einen Rechtsrat nach deutschem Recht. Auch findet das Rechtsdienstleistungsgesetz Anwendung, wenn Rechtsrat in einer ausländischen Rechtsordnung erteilt wird, die sich am islamischen Recht orientiert. Kann im konkreten Fall eine Rechtsdienstleistung bejaht werden, wird eine Abgrenzung zu erlaubnisfreier Mediation regelmäßig Schwierigkeiten bereiten. Sobald ein Mediator jedoch gestaltend in Gespräche der Beteiligten eingreift, kann dies als erlaubnispflichtige Rechtsdienstleistung zu qualifizieren sein. Das Rechtsdienstleistungsgesetz will gerade auch informelle Verhandlungssituationen erfassen, die unerwartet in eine Entscheidungssituation mit möglicherweise verbindlichen Rechtsfolgen umschwenken. Letztlich wird auch der Erlaubnistatbestand der unentgeltlichen Rechtsdienstleistung im Nähebereich oft einschlägig sein. (28) Die Art und Weise der privatrechtlichen Schlichtung strafrechtlicher Konflikte, in denen eine Strafverfolgung durch den Staat durch Zahlung eines Geldbetrags an das Opfer verhindert wird, entspricht dem islamischen Strafrechts­ verständnis, dem das Prinzip der Talion zugrunde liegt. Gleichzeitig steht es dem in Deutschland geltenden Offizialprinzip diametral entgegen. (29) Es besteht die Möglichkeit, dass (islamische) „Friedensrichter“ in Einzelfällen zur Straftatenprävention beitragen könnten. Auf der anderen Seite behindern sie jedoch die repressive Polizeiarbeit. (30) Strafbar sind die Schlichtungen auch in strafrechtlich relevanten Sachverhalten nur selten. Die Friedensrichter werden regelmäßig erst tätig, wenn bereits eine Straftat begangen wurde. Es besteht aber weder eine Anzeigepflicht begangener Straftaten, noch eine Pflicht zur Mitwirkung bei der Aufklärung begangener Straftaten. Daher wird § 138 StGB im Zusammenhang mit islamischer Parallel­ justiz eine untergeordnete Rolle spielen. Im Einzelfall besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich Friedensrichter einer Strafvereitelung gemäß § 258 StGB strafbar machen. Denn die Verfolgungsvereitelung erfasst beispielsweise auch den Fall, dass durch die Einwirkung auf einen Strafantragsberechtigten die Stellung des Strafantrags und damit die Verurteilung des Täters verhindert wird. Relevante Tathandlungen können hier beispielsweise begünstigende Falschaussagen sein, die in der Absicht, die Bestrafung des Täters zu verhindern, getätigt werden. Insbesondere kann eine Strafvereitelung auch darin liegen, dass einem Zeugen für ein bestimmtes Aussageverhalten die Zahlung eines Geldbetrages versprochen wird. Letztlich kommt die Verwirklichung von Aussagedelikten gemäß §§ 153–162 StGB in Betracht.

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(31) Präventiv kann die Polizei Eingriffe auf die Generalklausel stützen. Durch informelle Paralleljustiz in strafrechtlich relevanten Bereichen wird der Erhalt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege gefährdet. Eine Gefährdung des Strafmonopols des Staates liegt hingegen nicht vor. (32) Polizeiliche Vorfeldmaßnahmen, die sich aus den Standardbefugnissen der Polizeigesetze ergeben, können aufgrund der hohen Eingriffsschwellen nur sehr begrenzt vorgenommen werden. Mit Ausnahme der kurzfristigen Observation werden informationelle Maßnahmen daher regelmäßig ausscheiden. Auch ein Kontaktverbot zwischen Opfer und Friedensrichter könnte nur verhängt werden, wenn die Gefahr der Begehung von Straftaten besteht. (33)  Auf die Generalklausel können Untersagungsverfügungen, Gefährderansprachen und Gefährderanschreiben getützt werden. Ob sich die Beteiligten hierdurch beeindrucken lassen, müsste die Erprobung in der Praxis zeigen. Gefährderansprachen und Gefährderanschreiben bieten sich vor allem aufgrund ihrer schwachen Eingriffsintensität an. Im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz muss die Behörde bei Untersagungsverfügungen sauber zwischen noch erlaubtem, und solchem Verhalten, das die öffentliche Sicherheit gefährdet, differenzieren. (34) Islamischer Paralleljustiz muss grundsätzlich durch Maßnahmen zur Vertrauensbildung bei den Betroffenen entgegengewirkt werden. Auf Dauer kann informelle Paralleljustiz nur unterbunden werden, wenn in den betroffenen Milieus die Überzeugung hergestellt wird, dass die deutsche Rechtsordnung den Interessen aller Beteiligten besser gerecht wird als das Urteil eines Friedensrichters. Dies wird aber nur durch entsprechende Information und Aufklärung möglich sein. Daneben muss die Justiz für das gesellschaftliche Phänomen der Paralleljustiz sensibilisiert werden, damit sie Anzeichen für Paralleljustiz erkennen und dement­ sprechende Maßnahmen ergreifen kann. In beide Richtungen zielt das Programm des Bayerischen Ministeriums für Justiz und Verbraucherschutz. Einwanderer werden durch entsprechende Informationsbroschüren mit dem deutschen Justizsystem vertraut gemacht. Staatsanwälte sowie Straf- und Ermittlungsrichter werden in einem Informationspapier auf sinnvolle prozessuale Elemente, wie beispielsweise eine umgehende richterliche Vernehmung des Opfers, Maßnahmen zur Erhöhung der Aussagebereitschaft, Maßnahmen zum Schutz von Opfern und Zeugen oder die sorgfältige Überprüfung des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung hingewiesen. Derartige Maßnahmen sollten bundesweit durchgeführt werden.

Anhang: Interview mit Frau Rechtsanwältin Nazan Simsek aus Augsburg vom 3. Dezember 2013 über ihre Erfahrungen mit religiöser Paralleljustiz Frage: Begegnet Ihnen in Ihrer täglichen Arbeit das Phänomen Paralleljustiz? Wie stellt es sich konkret dar? Frau Simsek: Ich erlebe Paralleljustiz vor allem unter Muslimen im familienrechtlichen Bereich, in dem ich auch als Fachanwältin tätig bin. Schlichtungstendenzen nehmen auf eine Art und Weise zu, wo ich sagen muss, das hat mit einer gütlichen Einigung nichts mehr zu tun. Bei einer gütlichen Einigung haben Sie zwei Beteiligte, die auf gleicher Augenhöhe kommunizieren, das heißt mein ­Gegenüber hat immer die Chance zu sagen, dass er sich nicht einigen will. Bei der Parallel­ justiz ist das gerade nicht so. Vor allem im familienrechtlichen Bereich geht es oft um eine Einigung zu Lasten des Opfers. Frage: Bestehen für muslimische Frauen in Einwanderermillieus faktische Grenzen, die sie davon abhalten, Anwälte oder Gericht in Anspruch zu nehmen? Frau Simsek: Ich erlebe es, dass es eine ganz große Hürde für betroffene Frauen darstellt, aus ihrer Gemeinde auszubrechen und den Weg zu staatlichen Institutionen oder Anwälten zu suchen. Die Frauen leben meistens in einem Abhängigkeitsverhältnis, da sie nicht arbeiten und wenig deutsch sprechen. Damit ist ihnen schon das notwendigste Mittel, Rechtsschutz zu bekommen, versagt. Zu mir kommen sie, weil ich türkisch spreche. Bei der ersten Beratung stelle ich oft fest, dass die betroffenen Frauen sehr viel Angst haben und fürchten, es könnten ihnen Konsequenzen drohen. Im Verlauf der Bearbeitung der Akte merke ich dann, dass oft zunehmend Druck aufgebaut wird. Da werden dann Bekannte hinzugezogen, die schlichten sollen. Die Frau soll dann mit möglicherweise auch fremden Leuten in einem Raum zu einer Schlichtung zusammenkommen. Diese Schlichter können aus dem privaten Umfeld kommen, also Freunde oder Familie. Daneben gibt es Schlichter im religiösen Umfeld aus dem Kreis von Moscheen, also insbesondere Vorbeter. Da kommt dann zu dem ohnehin schon bestehenden Abhängigkeitsverhältnis auch noch hinzu, dass religiöser Druck aufgebaut wird und die Frau meist einer Schlichtung zustimmt. Frage: In Großbritannien und Kanada sind vor allem Schlichtungen bekannt geworden, in denen es darum ging, dass muslimische Frauen ein religiöses Scheidungszertifikat erwirken wollten, da sie nur mit einem solchen in der Gemeinde als legitim geschieden gelten. Um das Scheidungszertifikat zu bekommen, stimmen sie oft nachteiligen Vereinbarungen zu. Sind Ihnen aus Deutschland ähnliche Fälle bekannt?

Interview mit Frau Rechtsanwältin Nazan Simsek

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Frau Simsek: Ja, mir fällt insbesondere der Fall eines iranischen Ehepaares ein, das ich im Scheidungsverfahren betreut habe. Wir hatten die Scheidung vor Gericht schon erwirkt. Die Frau wollte jedoch unbedingt ein Scheidungszertifikat haben, so dass wir einen Vorbeter aus Frankfurt mit in das Verfahren hineinziehen mussten. Die Frau hat dann Nachteile hingenommen, damit sie in der Gemeinde als geschieden gilt. Es war nicht einfach, an dieses Zertifikat heranzukommen. Um an ein solches Zertifikat zu gelangen, schließen Frauen schon oft faule Kompromisse. Überhaupt werden sie, wenn die Trennung durch einen Friedensrichter durchgeführt wird, oft benachteiligt. Ein Beispiel ist die Morgengabe. Ich habe noch keinen Fall gehabt, in dem die Frau die Morgengabe tatsächlich bekommen hat. Frage: Machen sich die Beteiligten Ihrer Ansicht nach im Rahmen solcher Schlichtungen oft strafbar? Frau Simsek: Ja, da geht es oft um strafrechtlich relevantes Verhalten, vor allem Nötigungen und Drohungen kommen häufig vor. Frage: Was glauben Sie, wären sinnvolle Maßnahmen zur Bekämpfung religiöser Paralleljustiz? Frau Simsek: Eine andere Chance, als die Sache präventiv anzugehen, gibt es meiner Meinung nach nicht. Die Debatte müssen wir zunehmend führen und wenn nichts passiert, werden wir mit Paralleljustiz ein massives Problem bekommen. Vor allem die Vorbeter müssen in die Präventionsarbeit einbezogen werden. Ein wichtiger Punkt ist auch, den Jugendlichen das übersteigerte Ehrgefühl zu nehmen. Ich glaube, Verbote bringen nicht viel, sondern führen nur dazu, dass sich­ Paralleljustiz noch mehr im verdeckten Bereich agiert. Frage: Wie stark ist der Einfluss des islamischen Rechts bei den Schlichtungen? Frau Simsek: Ich glaube, das islamische Recht spielt eine große Rolle. Die Entscheidungen sind an den Islam angelegt. Das Problem ist, dass sich der Koran beliebig auslegen lässt. Vor allem die untergeordnete Stellung der Frau spielt hier eine Rolle. Gerade im Familienrecht sind die islamischen Vorschriften bedeutend. Aber natürlich kann man nicht immer scharf abgrenzen, ob das Verhalten islamisch oder traditionell motiviert ist.

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Sachverzeichnis Abwägungslehre 101 Allgemeine Handlungsfreiheit  102, 157 Arbitration  31, 38, 39 Bereichslehre  101, 140 Bestimmtheitsgrundsatz  230, 239 Betriebsjustiz  111, 114, 136 Community leader  27 Diaspora  96, 98, 102 f. Diskriminierung  25, 31, 33, 40, 55, 143, 148, 149, 155, 159, 160, 165, 170 , 171 Divorce Religious Marriages Act  28 Drittwirkung der Grundrechte  53, 113, 120, 144, 153, 157 ff., 165 Fatawa  27, 33 Friedensrichter 18, 22, 26, 40, 162, 173, 182 f., 188 f., 192 ff., 197, 205 ff., 213 ff., 219 ff., 226, 228 f. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege  223 Gefährderanschreiben 219 Gefährderansprache 219 Generalklausel 160 Gleichheitssatz  143, 163 Gottesrecht 199 Grenzvergehen  198, 199, 200 Großbritannien  19, 27, 48 Gruppenautonomie 52 Internationales Privatrecht  52 Islamisches Recht –– Analogie 65 –– Beweisrecht 89 –– Brautgabe 76 –– Ehefähigkeit 67 –– Ehehindernisse 69 –– Eheschließung 69

–– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––

Ehevertrag 78 Ehewirkungen 73 Erbrecht 86 Geschichte 57 Güterrecht 74 Idschtihad 66 Konsens 65 Koran 63 Rechtsquellenlehre 62 Rechtsschulen 61 Scheidungsrecht 79 Scheidungszertifikat  27 ff., 147, 195 Sorgerecht 85 Strafrecht  199, 200, 201 Sunna 64 Unterhalt 77 Zeuge  69, 80, 89, 151, 171, 197, 211, 212, 214 ff., 238 f.

Kanada  19, 26, 35 Kindeswohl  32, 150 f., 236 Kirchengerichte 139 Kontaktverbot 222 Legal pluralism siehe Rechtspluralismus Limping Marriages  28 Migrationspolitik  50, 51 Muslim Arbitration Tribunal  31 Öffentliche Ordnung  165, 168 –– Kritik 166 Offizialprinzip  201, 202 –– Antragsdelikte 203 –– Durchbrechungen 202 –– Privatklage 204 –– Täter-Opferausgleich 205 Parteischiedsgerichte 138 Praktische Konkordanz  100, 102 f., 159, 171 Prävention  216, 217

Sachverzeichnis Privatautonomie  35, 42, 53, 114, 115, 120, 122, 125, 141, 145, 153 Rechtsdienstleistungsgesetz 173 –– als Eingriffsgrundlage  176 –– Geschichte 174 –– Komplementärfunktion 175 –– Schutzzwecke 177 –– und Paralleljustiz  180 Rechtspluralismus 43 Rechtsprechung –– Definition 105 –– Gerichtspluralismus 104 –– private 104 –– staatliche 104 Rechtsprechungsmonopol  104, 110, 111 –– absolut 111 –– Art. 92 GG  111 –– Art. 101 Abs. 1 GG  128 –– Einheit der Rechtsordnung  117 –– Grenzen privater Gerichtsbarkeit  125 –– Justizgewährungsanspruch 126 –– Privatautonomie 115 –– quasi-absolutes  121, 125 –– relativ-formales 122 –– relativ-modales 122 Rechtsspaltung  48, 51 Religionsfreiheit –– Eingriff 99 –– Schranken 99 –– Schutzbereich 91

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Religiöse Schiedsgerichte  48, 54 Schiedsfähigkeit  32, 36, 126, 132, 139 Schiedsgerichte 129 Schutzpflicht  153, 157, 160, 161 Sittenwidrigkeit –– Begriff 144 –– Beweisrecht 151 –– Durchsetzung 152 –– Ehevereinbarungen 146 –– Erbrecht 147 –– Scheidungsrecht 149 –– Sorgerecht 150 Staatlicher Strafanspruch 201 f., 205 f., 211, 224 Strafmonopol 226 Strafrecht  194, 197, 209 –– § 138 StGB  209 –– §§ 153–162 StGB  214 –– § 258 StGB  211 –– als Teilschutzgut der öffentlichen Sicherheit 223 Subsidiaritätsklausel 163 Übermaßverbot 228 Untersagungsverfügung 219 Verbandsstrafbarkeit 114 Vereins- und Verbandsgerichte  134 Vorfeldmaßnahmen siehe Prävention Zentralrat der Muslime  50