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German Pages 532 [534] Year 2015
Friedemann Walldorf
Migration und interreligiöses Zeugnis in Deutschland Die missionarische Begegnung zwischen Christen und Muslimen in den 1950er bis 1970er Jahren als transkultureller Prozess
Geschichte Franz Steiner Verlag
Missionsgeschichtliches Archiv – 24
Friedemann Walldorf Migration und interreligiöses Zeugnis in Deutschland
Missionsgeschichtliches archiv Studien der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte
Herausgegeben im Auftrag des Vorstandes von Andreas Feldtkeller, Irving Hexham, Ulrich van der Heyden, Gunther Pakendorf und Werner Ustorf Band 24
Friedemann Walldorf
Migration und interreligiöses Zeugnis in Deutschland Die missionarische Begegnung zwischen Christen und Muslimen in den 1950er bis 1970er Jahren als transkultureller Prozess
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW), der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Union Evangelischer Kirchen (UEK), dem Forschungsfonds der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH) sowie dem Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11293-2 (Print) ISBN 978-3-515-11294-9 (E-Book)
GELEITWORT Der hier vorgelegte neue Band ist die erste Studie innerhalb der Reihe Missionsgeschichtliches Archiv, die sich einem Aspekt christlicher Missionsgeschichte im Deutschland des 20. Jahrhunderts widmet. Friedemann Walldorf untersucht protestantische missionarische Bemühungen unter muslimischen Arbeits- und Bildungsmigranten. Ausgangspunkt seines Forschungsinteresses ist die Arbeit des Orientdienstes in Wiesbaden und seines Begründers Willi Höpfner (1904–1991) in den 1960er und 70er Jahren, d. h. zwischen dem Beginn der türkischen Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland und den Veränderungen, die durch die islamische Revolution im Iran und den iranischen Flüchtlingsstrom nach Deutschland 1979 eintraten. Der Orientdienst stellt für die missionsgeschichtliche Forschung eine Besonderheit dar, nicht nur weil er die erste Missionsorganisation in Deutschland ist, die sich ganz auf die Arbeit unter muslimischen Migrantinnen und Migranten in der eigenen Heimat spezialisiert hat, sondern auch wegen der ziemlich einzigartigen Konstruktion einer Zusammenarbeit zwischen landeskirchlichen, pietistischen und freikirchlichen Missionskreisen, die zur Zeit seiner Gründung in der Konsequenz der Integration des Internationalen Missionsrates in den Ökumenischen Rat der Kirchen (1961) und des damit verbundenen Programms einer „Integration von Kirche und Mission“ lag. Unter anderem ist ein spannender Aspekt der hier erstmals aus den Quellen beschriebenen Geschichte die Entwicklung der innerchristlichen Diskussion darüber, wie weit und in welchen Grenzen christliche Mission, Zeugnis und Evangelisation gegenüber Muslimen in der gegenwärtigen Situation (noch) angebracht oder zulässig sind. Die Grenzlinien in diesem Diskurs verliefen zunächst zwischen den verschiedenen evangelisch-landeskirchlichen Einrichtungen, die am Orientdienst beteiligt waren: während das Kirchliche Außenamt und diakonische Einrichtungen eine Beschränkung auf sozialdiakonische Dienste gegenüber Ausländern forderten, stellte sich der Deutsche Evangelische Missionsrat immer wieder klar hinter die Arbeit des Orientdienstes und befürwortete ein Zeugnis, das gemäß der theologischen Konsequenzen aus der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 („Missio Dei“) ohne jegliches christliches Überheblichkeitsgebaren auftreten sollte. Insbesondere der Mainzer Religions- und Missionswissenschaftler Walter Holsten spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Er war theologisch durch die existentiale Interpretation Rudolf Bultmanns geprägt und für ihn war es selbstverständlich, dass ein existential interpretiertes Kerygma auch gegenüber muslimischen Migrantinnen und Migranten zu bezeugen sei. Aus seiner umfangreichen Kenntnis postkolonialer Theoriebildung und Kritik heraus zeichnet Friedemann Walldorf schlüssig nach, wie eine postkoloniale Denkweise den weltweiten Diskurs um das christliche Zeugnis gegenüber Musli-
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Geleitwort
men bereits geprägt hat, lange bevor postkoloniale Theorie als solche programmatisch entwickelt wurde, und wie die davon inspirierte Haltung für die Arbeit des Orientdienstes von grundlegender Bedeutung war. So wäre diese Arbeit grundsätzlich missdeutet, wenn sie als Ausnutzung der Schwäche von Personen ohne eigene Handlungsmacht interpretiert würde. Aus der Analyse der Interviews mit Konvertiten vermag Walldorf plausibel zu erweisen, dass es sich durchgängig um selbstbestimmte Entscheidungen zum religiösen Selbstverständnis im Sinne des postkolonialen Verständnisses von „Agency“ handelte, die sich der Fremdbestimmung durch ein stilisiertes Bekehrungsverständnis seitens christlicher Organisationen entzogen. Es ist dieser bedeutenden und jenseits aller gängigen Stereotypen argumentierenden Studie zu wünschen, dass sie viele interessierte Lesende findet, und dass ihre Aufnahme in die Reihe Missionsgeschichtliches Archiv dazu beiträgt, die jüngere Geschichte christlicher Mission in Deutschland nicht losgelöst wahrzunehmen von ihrem größeren Zusammenhang in der Geschichte weltweiter christlicher Mission und weltweiter Mission auch anderer Religionen – u. a. des Islam – die zur selben Zeit in Deutschland verstärkt aufgetreten ist. Potsdam, im April 2015 Andreas Feldtkeller
DANKSAGUNG Die vorliegende missionsgeschichtliche Untersuchung wurde im Juli 2013 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde der Text – vor allem in den dokumentierenden Teilen – gekürzt und überarbeitet. Ich danke Prof. Dr. Andreas Feldtkeller, der dem Plan für diese Forschungsarbeit mit Aufgeschlossenheit begegnet ist, ihre Entstehung mit Interesse begleitet und das Erstgutachten für die Habilitation erstellt hat. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Dr. Heinrich Balz sowie Prof. Dr. Dieter Becker für die weiteren Gutachten. Der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte (BGMG) und den Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe Missionsgeschichtliches Archiv (MGAr). Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW), der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Union Evangelischer Kirchen (UEK), dem Forschungsfonds der Freien Theologischen Hochschule Gießen (FTH) sowie dem Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT). Zeitgeschichtliche Forschung ist auf unveröffentlichtes Quellenmaterial sowie auf Erinnerungen von Zeitzeugen angewiesen. Ich danke allen, die mir den Zugang zu Archiven ermöglicht haben und die bereit waren, Erinnerungen in Interviews und Briefen mitzuteilen (siehe Bibliographie A. und B.). Besonders danke ich Jürg Heusser vom Orientdienst, der keine Mühen gescheut hat, mir in einem langen Interview, Telefonaten und Briefen persönliche Erinnerungen und wichtiges Material zugänglich zu machen; Reinhard Born (Orientdienst) für die Zurverfügungstellung von Archivmaterial und schwer zugänglichen gedruckten Quellen; Pfarrer Burkhard Weber für die Zusammenstellung der Auszüge aus der HöpfnerKorrespondenz im Archiv des Johanneums in Wuppertal; Pfarrer Eberhard Troeger und Thomas Cosmades (1924–2010) für ausführliche Interviews. Ein besonderer Dank gilt Cordula, meiner Frau, die mich auf der langen Strecke des Forschens und Schreibens als kompetente Gesprächspartnerin begleitet und einige Teile der Arbeit Korrektur gelesen hat. Pohlheim, im Dezember 2015 Friedemann Walldorf
INHALTSVERZEICHNIS GELEITWORT ................................................................................................. 5 DANKSAGUNG .............................................................................................. 7 EINLEITUNG ................................................................................................ 15 A. Christliches Zeugnis unter muslimischen Migranten? Thematische Annäherung .................................................................. 15 B. Missionsgeschichte in der Zeitgeschichte: zum Ansatz der Arbeit ....... 20 1. Forschungsüberblick ...................................................................... 20 2. Ansatz und Methode ...................................................................... 24 3. Quellen, Eingrenzung und methodische Struktur .......................... 29 I. MUSLIMISCHE MIGRATION: KONZEPT UND EREIGNIS ................ 32 A. Muslimische Migration: missionarische Konzeptionalisierung ............ 32 B. Die Ahmadiyya-Mission ....................................................................... 35 1. Die Ahmadiyya-Bewegung ............................................................ 36 2. Die Ahmadiyya-Mission in Deutschland ....................................... 37 3. Protestantische Reaktionen auf die Ahmadiyya ............................. 39 C. Die afroasiatische Bildungsmigration ................................................... 41 1. Bildungsmigration zwischen Bonn und Bandung .......................... 41 2. Transnationale Perspektiven: Iran, Türkei, Ägypten, Irak ............. 43 3. Gesellschaftliche Erfahrungen und Betreuungstrukturen .............. 48 4. Islamische Initiativen im Umfeld der Bildungsmigration .............. 51 D. Die türkische Arbeitsmigration ............................................................. 55 1. Entwicklungen und Zahlen im Überblick ...................................... 55 2. Transnationale Hintergründe.......................................................... 56 3. Islamische Erfahrungen und Strukturen ......................................... 59 4. Gesellschaftliche Begleitung: Türk-Daniş ..................................... 67 II. MISSIONSTHEOLOGISCHE MODELLE DER ISLAMBEGEGNUNG IM INTERNATIONALEN KONTEXT .................................................... 70 A. Der sympathetic approach im spätkolonialen Kontext ......................... 71 1. Samuel M. Zwemer ........................................................................ 71 2. William H. Temple Gairdner ......................................................... 74 3. Louis Massignon ............................................................................ 76 4. Die Islammissionskonferenzen von 1924 ...................................... 77 5. Julius Richter und Jakob Enderlin ................................................. 79
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B. Der evangelistic approach im Umbruch postkolonialer Perspektiven ....................................................................................... 84 1. Re-Thinking Missions: William E. Hocking ................................. 85 2. Bekehrung ohne Bruch: Near East Christian Council................... 88 3. Evangelistic Approach: Hendrik Kraemer ..................................... 89 4. Differenz und Zeugnis: Hartenstein, Kellerhals, Freytag .............. 96 C. Dialogische Mission im Kontext islamischer und arabischer Renaissance ...................................................................................... 106 1. Von der heils- zur verheißungsgeschichtlichen Sicht .................. 106 2. Christologische Interpretation: Kenneth A. Cragg ...................... 108 3. Verzicht auf Beurteilung: Willem A. Bijlefeld ............................ 114 4. Neue Begegnung: Bethel 1959 und Thomas Ohm....................... 117 5. Weiträumige Begegnung: Das 2. Vatikanische Konzil ............... 121 D. Gegenseitiges Zeugnis im christlich-islamischen Dialog im ÖRK ..... 124 1. Mission als Dialog: der Beitrag von Wilfred Cantwell Smith ..... 125 2. Muslimische und christliche Perspektiven im Widerspruch ........ 130 3. Community of Communities: Zeugnis oder Proselytismus? ........ 134 E. Kontextuelle Evangelisation unter Muslimen in der Lausanner Bewegung......................................................................................... 136 1. Das ökumenische und glaubensmissionarische Erbe ................... 137 2. Kulturelle Wende: der Beitrag von Charles Kraft ....................... 139 3. Islammissiologie in der Lausanner Bewegung ............................ 143 III. BILDUNGSMIGRATION UND STUDENTENMISSION: DIE 1950ER UND 1960ER JAHRE ........................................................ 151 A. Der Missionsrat und die Konferenz für Ausländerfragen .................. 152 1. Der DEMR und die Entstehung der KfA 1956–1957 .................. 152 2. Das Ringen um das Profil der KfA 1957–1959 ........................... 155 3. Jan Hermelink: Das Wesen des Auftrags ..................................... 159 4. Neun Punkte für die Begegnung mit Ausländern in Deutschland (1958) ........................................................... 163 5. Rezeption und Revision: Vicedom und Pörksen.......................... 166 B. Die Mission der Evangelischen Studentengemeinden ........................ 169 1. Margull, Kreyssig, Buttler: Horizonterweiterung ........................ 169 2. Transnationale Mission: der Studentenpfarrer Bolaij Idowu ....... 173 3. Ökumenische Wohnheime als missionarische Räume................. 174 4. Kontroversen und Umbrüche in der Wohnheimarbeit ................. 175 C. Die Studentenmission in Deutschland (SMD) .................................... 178 1. Idealisierte Bilder: Die Konversion eines Marokkaners .............. 179 2. Transnationale Unterstützung: Der Evangelist Mehdi Ksara ...... 182 3. Die Ausländerarbeit im Arbeitskreis für Weltmission (AfW) ..... 187 4. Die Internationalen Studententreffen (IST) ................................. 193 5. Weil Gott Ausländerarbeit treibt: Missionstheologie im AfW .... 201
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IV. ARBEITSMIGRATION UND ORIENTDIENST: DIE 1960ER UND 1970ER JAHRE ........................................................ 208 A. Entstehung und Entwicklung des Orientdienstes ................................ 208 1. Der Orientdienst als Arbeitszweig der EMO ............................... 208 2. Die Freie Arbeitsgemeinschaft Orientdienst ................................ 214 3. Der Orientdienst als eigenes Missionswerk ................................. 225 B. Zusammenarbeit: Protestantisches Mosaik ......................................... 231 1. Die Orientdienst-Tagungen als protestantisches Netzwerk ......... 231 2. Der Orientdienst und der Deutsche Evangelische Missionsrat .... 238 3. Die Missionswerke im Umfeld der Evangelischen Allianz ......... 242 4. Transnationale Kontakte: Orientdienst und American Board...... 245 C. Missionarische Praxis: Medien und Menschen ................................... 250 1. Stille Präsenz: Der missionarische Kalender ............................... 250 2. Wunderbare Geschichten: Missionarische Literatur .................... 256 3. Saz und Handtrommel: Türkische Tonbänder ............................. 260 4. Kaffee und Kuchen: Einladung für türkische Gäste .................... 262 5. Sozialmissionarische Begegnungs- und Familienarbeit .............. 267 D. Missiologische Islamkunde: Islamkurse am Rhein ............................. 270 1. Das Seminar für Islammission in Wiesbaden 1966 ..................... 271 2. Der Islamkurs in Bad Boll 1968 .................................................. 273 3. Die Islamkurse in Kaub am Rhein ab 1970 ................................. 275 V. WILLI HÖPFNER: BIOGRAPHIE UND THEOLOGIE ZWISCHEN KAIRO UND WIESBADEN ............................................. 284 A. Seminarist in Wuppertal und Basel 1929–1932 .................................. 284 B. Missionar der EMM in Kairo und Assuan 1933–1939 ....................... 287 1. Sprachstudium in Kairo und Jerusalem ....................................... 287 2. Missionarische Klubarbeit in Kairo ............................................. 290 3. Assuan und Wiesbaden ................................................................ 291 4. Wieder in Kairo ............................................................................ 292 5. Höpfners Missionstheologie in den 1930er Jahren ...................... 294 C. Auslandspfarrer in Kairo 1951–1959 .................................................. 300 1. Kriegsdienst, Gefangenschaft und Pfarramt 1940–1950 ............. 300 2. Neue Partnerschaft: Wiesbadener Mission und Kirchliches Außenamt .............................................................................. 301 3. Politische und missionarische Entwicklungen in Ägypten .......... 303 4. Auslandspfarramt und Missionsdienst in Kairo ........................... 305 5. Höpfners Missionstheologie in den 1950er Jahren ...................... 309 D. Pfarrer und Missionsleiter in Wiesbaden 1959–1975 ......................... 314 1. Inspektor der EMO und Leiter des Orientdienstes ....................... 314 2. Höpfners Missionstheologie im Kontext des Orientdienstes ....... 317
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VI. GASTFREUNDSCHAFT ODER HAUSFRIEDENSBRUCH? KONTROVERSEN UND NEUANSÄTZE ............................................ 332 A. Kontroversen in den 1960er Jahren ..................................................... 332 1. Beschwerde der türkischen Botschaft beim Auswärtigen Amt ... 332 2. Missionskritik in der Konferenz für Ausländerfragen ................. 334 3. Gastfreundschaft und Mission: Walter Holsten als Vermittler .... 338 B. Evangelikal oder ökumenisch? Der Orientdienst zwischen Frankfurt und Bangkok 1970–1973 ................................................. 342 1. Die Frankfurter Erklärung und die evangelikalen Missionen ..... 342 2. Die Frankfurter Erklärung und der Orientdienst ......................... 345 C. Neue Initiativen christlicher Islambegegnung ..................................... 349 1. Moslems in der Bundesrepublik: Gesellschaftspolitischer Neuansatz im Kirchlichen Außenamt ................................... 349 2. Moslems unter uns: Dialogischer Neuansatz in der EZW ........... 356 3. Moslems – unsere Nachbarn: Missionarischer Neuansatz im Umfeld des DEMR........................................................... 361 4. Katholische Islamarbeit: die ÖKNI in Köln ................................ 375 5. Sprachlos in Salzburg 1978: Missionstheologischer impasse auf dem Weg zum Islam-in-Europa-Ausschuss .................... 377 D. Exklusion des Bedrohlichen? Islamische Missionskritik .................... 382 1. Hinterhältige Methoden? Polemische Perspektiven .................... 383 2. Hausfriedensbruch? Dialog als Missionsverzicht ........................ 386 3. Dialog als islamische Da‘wa: Ahmad von Denffer ..................... 389 4. Missionsverständnisse im Widerstreit: Zwischenfazit ................. 395 VII. VIELFALT IM THIRD SPACE: KONVERSION UND GEMEINSCHAFTSBILDUNG ............................................................... 399 A. Christliche Konversion im Migrationskontext .................................... 400 1. Quantitative und theoretische Annäherungen .............................. 400 2. Ein Literat aus Kirkuk (Irak): M.B. ............................................. 403 3. Eine Schneiderin aus Ankara: Y.K. ............................................. 414 4. Ein Tänzer aus Erzurum: E.Ö. ..................................................... 419 5. Ein Musiker vom Ararat: A.Y...................................................... 421 B. Christliche Gemeinschaftsbildung im Migrationskontext ................... 426 1. Jüngerschaft und scholastische Weitergabe ................................. 426 2. Gemeinschaftsbildung in transnationaler Vision ......................... 428 3. Gemeinschaftsbildung in lokaler Verwirklichung ....................... 429 4. Überregionale Gemeinschaft: Türkische Familienfreizeiten ....... 432 C. Identität und Vielfalt im Third Space .................................................. 435 1. Aneignung und Gemeinschaftsbildung ........................................ 435 2. Identitätsbildung und interreligiöse Relationierung ..................... 436 3. Vielfalt im Third Space: Postkoloniale Perspektiven .................. 437
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SCHLUSS: MISSIONARISCHE BEGEGNUNG ALS TRANSKULTURELLER PROZESS. ERGEBNISSE............................ 441 A. Interreligiös, transkulturell, missionstheologisch: Sichtweisen einer Missionsgeschichte in der Zeitgeschichte ............................... 441 B. Transkulturation in Kirche und Mission: Strukturentwicklung .......... 444 1. Die Entwicklung im Zusammenhang ........................................... 445 2. Von der Makroebene zur Mesoebene .......................................... 448 C. Transkulturation und Missionstheologie ............................................. 449 1. Postkoloniale Erneuerung der Missionstheologie ........................ 449 2. Theologien der Gastfreundschaft und Nachbarschaft .................. 452 3. Christozentrische interreligiöse Hermeneutik .............................. 460 D. Transkulturation im Migrationskontext: Christliche Identitäten und islamische Reaktionen............................................................... 463 1. Christliche Identitätsbildung im Migrationskontext .................... 465 2. Islamische Reaktionen im Migrationskontext.............................. 466 E. Bilanz und Ausblick ............................................................................ 468 1. Missionstheologische Bilanz........................................................ 468 2. Forschungsausblick ...................................................................... 473 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................. 475 BIBLIOGRAPHIE ........................................................................................ 479 A. Archive ................................................................................................ 479 B. Interviews, Korrespondenz, Manuskripte............................................ 480 C. Gedruckte Quellen und Literatur ......................................................... 483 REGISTER DER PERSONEN UND ORGANISATIONEN ...................... 525
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VERZEICHNIS DER TABELLEN UND GRAPHIKEN Tabelle 1: Methodische Struktur............................................................................ 30 Tabelle 2: Kapitelstruktur ...................................................................................... 31 Tabelle 3: Studierende aus der islamischen Welt 1955–1957 ............................... 42 Tabelle 4: KfA 1957–1959 Themen .................................................................... 157 Tabelle 5: Teilnehmer der KfA 1957–1959 ......................................................... 159 Tabelle 6: Interreligiöse Wahrnehmungen in Göttingen 1959 ............................ 186 Tabelle 7: Entwicklung der Ausländerarbeit in der SMD ................................... 193 Tabelle 8: Themen und Referenten der IST 1961–1968...................................... 195 Tabelle 9: Herkunftsregionen ausländischer Studierender IST 1961–1968 ........ 197 Tabelle 10: Der Orientdienst als Institution im Prozess 1961–1975 ................... 230 Tabelle 11: Themen und Referate der Orientdienst-Tagungen 1963–1975 ........ 234 Tabelle 12: Islamkommission des DEMR 1965–1972 ........................................ 241 Tabelle 13: Auflagen des biblischen Abreißkalenders ab 1966 .......................... 252 Tabelle 14: Seminar für Islammission, Wiesbaden 1966 .................................... 272 Tabelle 15: Islamkurs Bad Boll 1968 .................................................................. 274 Tabelle 16: Themen der Islamkurse in Kaub am Rhein 1970–1978 ................... 279 Tabelle 17: Referenten (Auswahl) Kaub am Rhein 1970–1978 .......................... 281 Tabelle 18: Textvergleich Kirchentage 1963 und 1973....................................... 364 Tabelle 19: Konversionen im Überblick .............................................................. 426 Tabelle 20: Mission als Transkulturation: Ergebnisse im Überblick .................. 443
EINLEITUNG A. CHRISTLICHES ZEUGNIS UNTER MUSLIMISCHEN MIGRANTEN? THEMATISCHE ANNÄHERUNG Die Migrationsbewegungen der 1950er bis 1970er Jahre, vor allem die türkische Arbeitsmigration ab 1961, und die Entwicklung einer muslimischen Diaspora gehören zu den folgenreichsten Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945.1 Die damit verbundenen Herausforderungen und Chancen werden seit langem auf allen Ebenen der Gesellschaft diskutiert. Auch im wissenschaftlichen Bereich werden Themen der (vor allem muslimischen) Migration und der gesellschaftlichen und religiösen Pluralisierung seit geraumer Zeit und in wachsendem Maß aufgearbeitet. Praktisch seit Beginn der Bildungs- und Arbeitsmigration begleiteten sozialwissenschaftliche und kirchlich-theologische Studien die Entwicklungen und befassten sich mit der Situation der Migranten sowie den Haltungen und Aufgaben der Mehrheitsgesellschaft.2 Seitdem hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von Migration, Religion und Pluralisierung in Deutschland stark ausdifferenziert, interdisziplinär vernetzt und ist inzwischen kaum noch überschaubar. Dazu gehören sozialgeschichtliche Forschungen zur Ausländerpolitik, zu Migrantenorganisationen und transnationalen Entwicklungen,3 soziologische Untersuchungen,4 literaturwissenschaftliche Studien5 sowie ethnologische und religionswissenschaftliche Forschungen zu Migrantengemeinschaften und zur islamischen Diaspora in Deutschland.6 Auch theologische und missionswissenschaftliche Arbeiten widmen sich – oft in interdisziplinärer Vernetzung mit den oben genannten Forschungsbereichen – religionstheologischen, dialogischen und gesellschaftlichen Fragen im Zusammenhang der muslimischen Migration.7 Kaum Beachtung hat bislang jedoch die Geschichte der missionarischen Begegnung zwischen Christen und Muslimen im Zusammenhang der Migration der 1 2
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Vgl. Reuter, Religionen im Prozess der Migration, 2009, Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998; Sen/Hayrettin, Islam in Deutschland, 2002; Hunn, Nächstes Jahr, 2005. Einen Überblick der zwischen 1961 und 1984 erschienen Literatur bietet Boos-Nünning, Die türkische Migration in deutschsprachigen Büchern, 1990, vgl. auch: BIVS, Bibliographie zur Türkischen Migration, 1990. Vgl. Bade, Ausländer – Aussiedler – Asyl, 1994; Herbert, Ausländerpolitik, 2001. Vgl. Thomä-Venske, Islam und Integration, 1981; Kandil, Muslime in der säkularen Gesellschaft, 2002; Sackmann, Kollektive Identitäten, 2005. Vgl. Photong-Wollmann, Migrationsliteratur, 1996; Janson, Cradle, 2003; Hoffmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft, 2006; Bilan, Inszenierung, 2010. Vgl. Schiffauer, Migranten aus Subay, 1991; Schiffauer, Gottesstaat, 1993; Heimbach, Entwicklung, 2001; Bauralina, Diasporagemeinden, 2007; Reetz, Islam in Europa, 2010; Lathan, Ahmadiyya-Gemeinde, 2010. Zur theologischen und missionswissenschaftlichen Forschung siehe B.1. in dieser Einleitung.
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Einleitung
1950er bis 1970er Jahre gefunden. Das gilt auch und gerade für die Bemühungen von christlicher Seite. In den einschlägigen kirchlichen Handreichungen zu Migration und christlich-islamischer Begegnung finden sich höchstens knappe, summarische Hinweise auf „Initiativen [die sich] sehr früh der Begegnung mit den Fremden gestellt“ haben.8 Wo geschichtliche Perspektiven einbezogen werden, beginnen diese fast ausnahmslos mit dem Aufkommen kirchlicher Dialogprojekte in den 1970er Jahren.9 Zeitlich davor liegende missionarische Bemühungen zur christlichen Islambegegnung im Migrationskontext werden selten erwähnt. Diese mangelnde Wahrnehmung entspricht jedoch weder der historischen noch theologischen Bedeutung der frühen missionarischen Bemühungen, die zu Katalysatoren neuer kirchlicher und interreligiöser Entwicklungen wurden. Zwar werden die zeitgeschichtlichen Quellen zur Erforschung dieses Themas erst langsam zugänglich, doch dürfte der Hauptgrund für die bisherige Vernachlässigung der Thematik eher darin liegen, dass es sich um eine Geschichte handelt, „die noch qualmt“10. Dies bedeutet nicht nur, dass die Ereignisse erst relativ kurze Zeit zurückliegen (und viele sich noch persönlich daran erinnern), sondern vor allem, dass christliche Mission unter muslimischen Migrantinnen und Migranten theologisch und interreligiös bis heute höchst umstritten ist. Ein Beispiel dafür waren die Reaktionen auf die im Jahr 2006 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebene Handreichung Klarheit und Gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland, die das missionarische Zeugnis als wesentlichen Aspekt christlich-muslimischer Begegnung beschreibt.11 Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland zeigte sich irritiert, dass „eine Handreichung zum Dialog mit einem Hohelied auf die Mission“12 beginne, lehnte den „missionierende[n] ‚Dialog‘ der evangelischen Kirche“ ab und plädierte für ein Gespräch zu Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders, „ohne sich gegenseitig Glaubenswahrheiten entgegenzuhalten“.13 Auch evangelische Theologen kritisierten die missionarische Betonung der Handreichung und meinten, Mission in Deutschland solle sich „vor allem auf die Menschen konzentrieren, die der eigenen Religion entfremdet oder sogar ausgetreten sind. Unter abrahamischen Religionen kann auf eine aktive Missionsarbeit verzichtet werden.“14 Missionsbemü-
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EKD, Zusammenleben, 2000, 14. Die Handreichung der Evangelischen Allianz (DEA, Christlicher Glaube und Islam, 1997/2002) enthält keine geschichtlichen Hinweise, sondern bietet grundsätzliche theologische und missionspraktische Orientierungen. Vgl. EMW, Begegnung, 1988, 14f; DBK, Christen und Muslime, 1993; EKD, Zusammenleben, 2000, 14; Vöcking/Klautke 25 Jahre, 2005, 14; Görrig/ Schindehütte, Geschwister, 2008, 394. Tuchman, zit. bei Metzler, Zeitgeschichte, 2004, 18. EKD, Klarheit, 2006, 15. KRM, Profilierung, 2007, 7. Vgl. ebd. 8. Micksch, Abrahamische Kooperationen, 2008, 183. Zu weiteren kritischen Reaktionen auf die EKD-Handreichung vgl. Micksch, Evangelisch, 2007. Zum weiteren Verlauf der Auseinandersetzung vgl. Gloel, Brücke, 2007; Eißler, Identitätsbewusstsein, 2009, 32; Wrogemann, Konversionen, 2010, 75–77. Zur Diskussion missionarischer Bekehrungsintentionen im inter-
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hungen mit dem Ziel, Andersgläubige, vor allem Muslime, zum christlichen Glauben einzuladen, wurden und werden als Herabsetzung von Religion, Person und Kultur des Gegenübers verstanden. So forderte das theologische Forum Religionen und Weltverantwortung (2008) in der Evangelischen Akademie Baden eine „Abkehr von Missionspraktiken, die Andersgläubige ‚bekehren‘ sollen“. Es gelte „einem Christsein zu widerstehen, das Andersglaubende herabsetzt, verunglimpft, nötigt oder zu vereinnahmen versucht“.15 Diese Reaktionen können einerseits als Ausdruck dessen verstanden werden, was Andreas Feldtkeller in religionsgeschichtlicher Perspektive als „Tabuisierung der Mission“16 beschrieben hat: als Schutzreflex, um die Unverfügbarkeit der geistlichen „Weitergabe von Leben“ und des damit verbundenen göttlichen Geheimnisses deutlich zu machen. Andererseits könnte sich in den Reaktionen aber auch eine Tendenz, „Mission pauschal abzuwerten“17 zeigen. Dann schützt „das Tabu nicht mehr den Wert eines kostbaren Geheimnisses, sondern es wird tradiert unter der Behauptung, über den Unwert des darin weitergegebenen Lebens entscheiden zu können“.18 Zumindest jedoch dürften die scharfen theologischen und interreligiösen Kontroversen kaum dazu beigetragen haben, eine unverstellte Wahrnehmung19 missionarischer Bemühungen in der „noch qualmenden“ Vergangenheit zu erleichtern. Je nach Standort könnte eine historische Erforschung entweder als wenig relevant (missionskritischer Standpunkt) oder als zu konfliktträchtig angesehen werden (christlich-missionarischer Standpunkt). Bei der Zurückhaltung von diesem Standpunkt aus spielt auch die durchaus realistische Befürchtung sozialer Repressalien in muslimisch geprägten Migrationskontexten in Deutschland gegenüber möglicherweise bekannt werdenden Konvertiten eine Rolle.20 Nicht aus dem Blick geraten sollte bei diesen Überlegungen, dass auch islamische missionarische Bemühungen in Deutschland auf die Kritik der Mehrheitsgesellschaft stoßen, wie die vor allem 2012 erfolgte Diskussion um Koranverteilungen in Fußgängerzonen gezeigt hat.21 Zu wenig wahrgenommen wird bei den genannten Vorbehalten die Chance missionsgeschichtlicher Forschung, über negative oder positive Klischees hinaus die Entwicklungen missionarischer Begegnung in der Zeitgeschichte in ihrer interreligiösen, gesellschaftlichen, biographischen und theologischen Komplexität möglichst deutlich wahrzunehmen, besser zu verstehen und die darin enthaltenen
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religiösen Kontext vgl. Triebel/Becker, Code of Conduct, 2010; WCC/PCID/WEA, Christian Witness in a Multi-Religious World: Recommendations for Conduct, 2011. FRW, Erklärung, 2008. Feldtkeller, Thesen, 2000, 3–4. Ebd. 5. Ebd. Vgl. ebd. Obwohl dieses Problem in historischen Arbeiten geringer wird, sind in der vorliegenden Arbeit vor allem die Namen von Konvertiten aus islamischem Hintergrund anonymisiert. Vgl. Zeit Online, Friedrich verurteilt Koran-Verteilung, 2012. Zur differenzierten Beurteilung islamischer Mission in pluralistischer Gesellschaft vgl. Feldtkeller, Offen für Muslime, 2000; Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006; Ders., Aufruf, 2012 sowie C. Schirrmacher, Islam in Europa 2008 und dies., Mission im Namen des Islam, 2010.
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Motive der gegenseitigen Wahrnehmung, der Nächstenliebe, der Identitätsfindung, der Bemühungen um Verstehen und Zusammenleben, aber auch der Konflikte und Missverständnisse kritisch zu würdigen und daraus für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen in Kirche und Gesellschaft zu lernen.22 Dass die teilweise pauschal negative Bewertung christlicher missionarischer Bemühungen unter Muslimen in Deutschland in der theologischen Diskussion sowie die bisher fehlende missionsgeschichtliche Aufarbeitung sich auch auf das Bild christlicher Mission in religions- und zeitgeschichtlichen Darstellungen der muslimischen Migration niederschlägt, ist wenig überraschend. So beklagte Durán Khálid in seiner Darstellung der islamischen Diaspora in Westeuropa in Der Islam in der Gegenwart (1991), dass sich nach der anfänglichen „Hilfestellung christlicher Kreise für die Muslime“23 in den 1980er Jahren „gegensätzliche Strömungen bemerkbar“ gemacht hätten, „die das selbstlose Engagement christlicher Geistlicher für die muslimischen Mitmenschen in der europäischen Diaspora in Frage“ stellten. „Nachdem es verständnisvollen Geistlichen in zäher Aufklärungsarbeit über zwei Jahrzehnte hinweg gerade ein wenig gelungen war, Türken, Pakistaner und Nordafrikaner von ihrer Angst vor der christlichen Mission an ihren Kindern zu befreien“, sei dann „lautstark eine Wiederbelebung der ‚Mohammedanermission‘“ gefordert worden.24 Damit zeichnete Khálid nicht nur ein stereotyp negatives Bild christlicher Mission und bediente das Klischee einer „Mohammedanermission“, sondern stellte auch die zeitlichen Abläufe auf den Kopf. Auch in der ersten umfassenden Darstellung der Geschichte der türkischen ‚Gastarbeiter‘ in der Bundesrepublik von Karin Hunn (2005) werden die „christlichen Missionierungsversuche … die damals unter den türkischen Arbeitsmigranten unternommen wurden“ 25 eher negativ wahrgenommen. Immerhin werden sie überhaupt und im Sachbezug zutreffend thematisiert, allerdings am Ende einer Liste von „Problemen und Einschränkungen“, denen „die gläubigen Muslime“ damals ausgesetzt gewesen seien.26 Als Beispiel wird die Verteilung einer türkischsprachigen christlichen Broschüre der Mission für Südosteuropa (MSOE) angeführt.27 Auch die Haltung des Deutschen Evangelische Missionsrats (DEMR) wird als Negativbeitrag gewertet: „[er] sah es in den sechziger Jahren als seine Aufgabe an, die ‚nichtchristlichen Menschen in Deutschland‘ in seinem Sinne zu bekehren. Anstatt dieses Ziel angesichts der unübersehbaren Abwehrhaltung unter den Türken kritisch zu überdenken“28, habe man im Missionsrat die Kritik der türkischen Botschaft an den Missionsbemühungen mit dem Hinweis auf die Reli22 Vgl. die Einschätzung von Feldtkeller, Thesen, 2000, 5: „Die Vielschichtigkeit der Missionsgeschichte ist dort weithin unbekannt, wo pauschal negative Ansichten über sie gepflegt werden. Die Geschichte der Mission enthält sehr viel Bemühung um Gerechtigkeit – Bemühungen, die zum Teil gescheitert sind, zum Teil aber auch gelungen.“ 23 Khalid, Diaspora, 1991, 456. 24 Ebd. 25 Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 140. 26 Ebd. 139ff. 27 Siehe ausführlich unter VI.A.1. 28 Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 140.
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gionsfreiheit zurückgewiesen. Die mögliche Bedeutung „christlicher Missionierungsversuche“ für die Förderung religiöser Optionen, Vielfalt und interreligiöser Verständigung im Migrationskontext kommt in dieser Darstellung ebenso wenig in den Blick wie die positiven Reaktionen einer Minderheit türkischer Migrantinnen und Migranten29 auf die christlichen missionarischen Bemühungen. Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen hat sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe gemacht, protestantische missionarische Bemühungen unter muslimischen Migranten in Deutschland in den 1950er bis 1970er Jahren als interreligiöses Zeugnis30 im Kontext der Arbeits- und Bildungsmigration aus missionsgeschichtlicher Perspektive zu erforschen und zu beschreiben. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf ersten christlichen Wahrnehmungen der muslimischen Migration, der Entwicklung missionarischer Initiativen und Strukturen, der mitlaufenden missionstheologischen Diskussion im deutschsprachigen und internationalen Kontext sowie auf ersten christlichen Konversionen und Gemeinschaftsbildungen und islamischen Gegenreaktionen im Migrationstext. Dabei steht auch die Frage im Raum, ob missionarische Intentionen und Deutungen offenen interreligiösen Begegnungen im Wege standen, oder ob sie nicht vielmehr als Motivatoren und als Ausdruck einer „theology of the neighbor, a missiology of servanthood“31 verstanden werden können, die neue Räume religiöser Kreativität und Konvivenz eröffneten. Den Ausgangspunkt der Forschungsarbeit bildete die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Orientdienstes (OD) als wichtigster protestantischer islambezogener Missionsstruktur in den 1960er Jahren sowie mit dem Denken seines Gründers Willi Höpfner.
29 Um der Lesbarkeit des Textes willen, wird im Folgenden weitgehend auf ausgeschriebene Beidnennungen der Geschlechter verzichtet. 30 Der Begriff interreligiös wird hier zunächst im deskriptiven Sinn gebraucht und beschreibt die vielfältigen „Beziehungen zwischen den Religionen“. Lähnemann, Interreligiös, 2001, 206; vgl. Hintersteiner, Dialog, 2003, 834–835. Obwohl es vor allem um die christlich-muslimischen Begegnungen geht, waren die missionarischen Initiativen im Rahmen der Bildungsmigration nicht auf Muslime spezialisiert, sondern schlossen auch Hindus, Buddhisten und andere ein. Der Begriff des interreligiösen Zeugnisses beschreibt (im Unterschied zum intrareligiösen Zeugnis) deshalb zunächst die Ausrichtung des missionarischen christlichen Zeugnisses auf Menschen anderer Religionen (im Migrationszusammenhang oft auch anderer Kulturen). Gleichzeitig reflektiert dieser Begriff die Gegenseitigkeit des Zeugnisses im interreligiösen Zusammenhang, also die Beobachtung, dass in der hier untersuchten missionarischen Begegnung nicht nur das christliche Zeugnis an Muslime, sondern auch der Ruf zum Islam an die Christen hörbar wurde, vgl. die entsprechende komplexe Verwendung des Begriffs u.a. bei Felix Körner, Kirche im Angesicht des Islam. Theologie des interreligiösen Zeugnisses, 2008, sowie das Verständnis eines „Austausch in beide Richtungen“ bei Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 54, siehe unten B.2.b). 31 Bonk, Islam and Christianity, 2004, 3.
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B. MISSIONSGESCHICHTE IN DER ZEITGESCHICHTE: ZUM ANSATZ DER ARBEIT 1. Forschungsüberblick Die muslimische Migration und ihre Implikationen für Kirche und Gesellschaft werden schon seit längerem in Theologie und Missionswissenschaft erforscht. Während die Anfänge dieser Literatur in den 1950er bis 1970er Jahren Teil des Forschungsgegenstands der vorliegenden Arbeit sind, bilden die späteren Veröffentlichungen (nach 1980) Teil ihres sekundärliterarischen Reflexionshorizonts. Thematisch liegen die Schwerpunkte der nach 1980 veröffentlichten Literatur vor allem auf (1) der religionskundlichen Information, (2) der vergleichenden, religionstheologischen und hermeneutischen Reflexion sowie auf Fragen (3) der seelsorgerlichen und missionarischen Praxis, (4) des christlich-islamischen Dialogs sowie (5) des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Ethik.32 In der neueren Forschung zu Migrationskirchen in Deutschland spielen die relativ kleinen Gemeinschaften von Konvertiten aus dem Islam bisher noch keine besondere Rolle.33 In gebündelter Form fanden die Ergebnisse der erwähnten Literatur Eingang in die einschlägigen kirchlichen und missionarischen Handreichungen zu Migration und christlich-islamischer Begegnung in Deutschland.34 Zur missionsgeschichtlichen Fragestellung dieser Arbeit liegt bisher jedoch so gut wie keine Forschungsliteratur vor. Ein Grund dafür (neben den unter A. genannten) könnte auch in der traditionellen Aufteilung und Konzeption der am ehesten zuständigen Disziplinen, der Missionswissenschaft/Missionsgeschichte und der kirchlichen Zeitgeschichte, gesucht werden.35 Während missionsgeschichtliche Untersuchungen sich bisher meist auf die zeitliche Epoche der europäischen Expansion zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert und damit verbunden auf christentumsgeschichtliche Entwicklungen im außereuropäischen
32 Hier einige Beispiele: Brandt/Haase, Begegnung mit Türken, 1980; Micksch/Mildenberger, Christen und Muslime im Gespräch, 1982; Troeger, Mit Muslimen über Jesus reden, 1982; Elsas, Ausländerarbeit, 1982; Sundermeier, Islam in der Bundesrepublik, 1985; VELKD, Was jeder vom Islam wissen muß 1990ff; Goßmann, Zwischen Kirche und Moschee, 1994; Schumann, Arbeitsgemeinschaft ‚Interreligiöser Dialog; EMW, Was glaubst du denn, 1996; 1999; Feldtkeller, offen für Muslime, 2000; Weth, Bekenntnis zu dem einen Gott, 2000; Lemmen, Muslime, 2001; Renz, Lernprozess Christen Muslime, 2002; Troll, Christlich-islamischer Dialog, 2002; Troeger, Muslime unter uns, 2005; Pechmann/Kamlah, So weit, 2005; Gloel, Brücke, 2007; Hock, Dialogforen, 2007; Körner, Angesicht, 2008; Wrogemann, Verhältnis, 2009; EMW, Christsein angesichts des Islam, 2009. 33 Sie werden jedoch in der Typologie bei Währisch-Oblau, Migrationskirchen, 2005, 36–37 erwähnt. 34 Vgl. EMW, Begegnung, 1988ff; DBK, Christen und Muslime in Deutschland 1993 sowie 2003; EKD/DBK, Der Fremdling, 1997; DEA, Christlicher Glaube und Islam, 1997; EKD, Zusammenleben mit Muslimen, 2000; EKD, Klarheit und Gute Nachbarschaft, 2006. 35 Vgl. Feldtkellers kritische Analyse des traditionellen Zuschnitts der Missionsgeschichte, Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 51f.
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Raum beschränkt haben,36 wurden in der kirchlichen Zeitgeschichte missionsbezogene interkulturelle und interreligiöse Themen bisher noch wenig berücksichtigt,37 wenn sie auch langsam in den Fokus der Forschung rücken.38 Trotz der beschriebenen Forschungslücke zur missionarischen Begegnung zwischen Christen und Muslimen in den 1950er bis 1970er Jahren gibt es Ausnahmen, summarische Hinweise und erste Annäherungen, die im folgenden Überblick dargestellt werden. a) Annäherungen und Erwähnungen in den 1980er Jahren Eine erste bemerkenswerte Ausnahme bildet die 31-seitige Studie Mission to Muslims in Germany: A Case Study of the 'Orientdienst' - The Major Mission Organisation (1980) von Ahmad von Denffer, einem deutschen Muslim, die im Auftrag der Islamic Foundation, Leicester, in Großbritannien erschien. Die kurze Studie wertet veröffentliche Literatur des OD aus und bietet einen knappen Überblick über Entstehung und Praxis der Missionsarbeit. Dabei bleibt die Darstellung trotz der kritischen islamischen Grundperspektive weitgehend objektiv. Im Vordergrund steht das Ziel, europäische Muslime für die christliche Missionsarbeit im Migrationskontext zu sensibilisieren und herauszufordern, entsprechende Gegenmaßnahmen und eigene Strukturen aufzubauen. Die Studie wird hier als Quelle zur islamischen Reaktion auf die christliche Missionsarbeit eingeordnet und in Kapitel VI. näher betrachtet. In diesem Zusammenhang ist – außerhalb der zeitlichen Reihenfolge – auch der Aufsatz „Fifty Years of Christian-Muslim Relations: Exploring and Engaging in A New Relationship“ (2000) von Ataullah Siddiqui zu erwähnen, der ebenfalls im Umfeld der der Islamic Foundation entstand. Siddiqui erwähnt den Orientdienst positiv (s. I.A.) als frühe christliche Wahrnehmung der Migranten als Muslime, nicht nur als Gastarbeiter. Doch nun weiter in chronologischer Reihenfolge: eine kurze summarische Beschreibung des Orientdienstes findet sich in der werksgeschichtlichen Selbstdarstellung Wasser auf dürres Land: 85 Jahre Sudan-Pionier-Mission / Ev. Mission in Oberägypten (1985) von Eberhard von Dessien, Ulrich Ehrbeck und Eberhard Troeger.39 Die deutschsprachige Theologie zum Islam bis Anfang der 1980er Jahre wurde von Klaus Hock in Der Islam im Spiegel westlicher Theologie (1986) gründlich, wenn auch in missionskritischer Perspektive, aufgearbeitet, auch Höpf36 Vgl. Van der Heyden, Missionsgeschichte, 1996; Ders. Mission und Gewalt, 2000. 37 Greschat, Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland, 2010 thematisiert immerhin die „‚Dritte Welt‘ und Ökumene“ in einem Kapitel, interreligiöse Begegnung in Deutschland spielt jedoch keine Rolle. 38 Vgl. Kaminsky, Integration, 2007; Walldorf, Mission und interkulturelle Begegnung, 2010; Mittmann, Säkularisierungsvorstellungen, 2011 sowie das DFG-Projekt „Transformation der Religion in der Moderne. Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, vgl. www.fg-religion.de und Friedrich-Ebert-Stiftung, Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011). 39 Dessien, Wasser, 1985, 96–97.
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ner wird am Rande erwähnt.40 Theo Sundermeier setzte sich in dem Literaturbericht „Islam in der Bundesrepublik Deutschland“ (1985) mit der „vom Orientdienst in Wiesbaden und dessen langjährigem Missionsdirektor W. Höpfner“ herausgegebenen Serie Christentum und Islam auseinander.41 Diese und weitere kurze Erwähnungen des OD oder Willi Höpfners, von islamischer Seite vor allem bei M.S. Abdullah,42 werden an den relevanten Stellen in dieser Arbeit einbezogen. b) Erwähnungen und Einzelstudien in den 2000er Jahren Während die Erwähnungen in den 1980er Jahren als zeitnahe Reaktionen teilweise noch in den späten Quellenhorizont gehören, gibt es in den 1990er Jahren eine literarische Lücke. Die eigentliche, wenn auch sehr spärliche, sekundärliterarische Wahrnehmung der Entwicklungen beginnt erst in den 2000er Jahren. In seinem Forschungsbericht „Es ist Zeit, die Geschichte der evangelischen Mission unter Muslimen zu schreiben“ (2005) reiht Christof Sauer den Orientdienst und seinen Gründer Willi Höpfner in eine Reihe missionsgeschichtlicher Forschungsdesiderate ein: „1963 wurde auf Anregung des Deutschen Evangelischen Missionsrates von Pfarrer Willi Höpfner der Orientdienst (OD) zum christlichen Zeugnis unter muslimischen Ausländern in Deutschland gegründet und bis 1983 geleitet. Der OD konzentriert sich heutzutage auf türkischsprachige und einige andere Volksgruppen. Die Biographie und das Lebenswerk von Willi Höpfner, der auch von 1959 bis 1975 mit halbem landeskirchlichen Dienstauftrag die EMO leitete, wäre erforschenswert.“43
In seinem Buchbeitrag „Integration der Fremden. Evangelische Kirche und Diakonie und die Eingliederung von Migranten nach Deutschland 1945 bis 1974“ (2007) beschreibt Uwe Kaminsky die Eingliederung von Migranten in die Strukturen evangelischer Diakonie und erwähnt eher am Rande, dass dabei auch missionarische Anliegen eine Rolle spielten. So meinte das Evangelische Hilfswerk 1960, dass „ein längerer Aufenthalt der ... Ausländer … ihnen unter allen Umständen Gelegenheit geben“ solle „dem Evangelium von Jesus Christus direkt zu begegnen“.44 Kaminskys Studie beschränkt sich jedoch auf italienische und griechische Migranten. Eine Annäherung an die Fragestellung der Begegnung mit muslimischen Migranten findet sich in meinem zweiteiligen Überblicksaufsatz „Missionarische Bemühungen im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland von 1945–2000“.45 In der Dissertation Protestant Missionaries to the Middle East. Ambassadors of Christ or Culture (2008) beschreibt der Kanadier Peter Pikkert die protestanti40 41 42 43 44 45
Vgl. Hock, Spiegel, 1986, 211.235. Siehe IV.D.3.d). Siehe VI.D.2. Sauer, Es ist Zeit, 2005, 107. Kaminsky, Integration, 2007, 233–234. Walldorf, Missionarische Bemühungen, 2007.
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sche Mission im Nahen Osten von 1800 bis zur Gegenwart. Dabei geht er auch auf die Migration von Muslimen nach Europa ein und erwähnt: „a number of ministries like Orientdienst in Germany sought to reach these people with the gospel, in the hope that they would return to their own lands as Christians.“46 In seinem autobiographischen Rückblick Unterwegs im Dialog: Zum gelebten Miteinander von Christen und Muslimen (2008) beschreibt der evangelische Theologe Gerhard Jasper als Zeitzeuge Entwicklungen und Kontroversen missionarischer Islambegegnung in den 1970er Jahren. Jasper schildert die Entstehung der Islamarbeit der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM) und deren Entwicklung zum Islamreferat der evangelischen Kirchen im Rheinland und in Westfalen.47 Dabei geht er auf den Beitrag des Orientdienstes und Willi Höpfners als „Wegleiter“48 der evangelischen Islambegegnung in Deutschland ein.49 Kurze Einblicke in die frühe missionarische Arbeit der ESG International in Hamburg vermittelt Cornelia Göksu, Begleitung in der Fremde: 50 Jahre ESG International Hamburg (2008). In dem Überblicksaufsatz Geschwister – Gegner – Konkurrenten (2008) von Detlef Görrig und Matti Schindehütte wird die christliche Begegnung mit Muslimen in Deutschland mit dem Einsetzen kirchlicher Dialogbemühungen in den 1970er Jahren kurz in den Blick genommen. Die Arbeit des Orientdienstes wird hier nicht erwähnt. In Thomas Mittmanns Aufsatz „Säkularisierungsvorstellungen und religiöse Identitätsstiftung. Die kirchliche Wahrnehmung ‚des Islams‘ in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren“ (2011) wird immerhin die vor 1970 liegende evangelische Islamwahrnehmung in der EZW kurz thematisiert,50 die Wahrnehmung des Orientdienstes fehlt jedoch, und damit auch die Wahrnehmung seines Beitrags als Faktor „religiöse[r] Identitätsstiftung“51 als Kontrapunkt zur säkularisierenden Islamwahrnehmung in den Kirchen, die Mittmann für die 1970er Jahre feststellt. In seinem Aufsatz „Migration, Mission und christliche Glaubensverbreitung“ (2011) kündigt Klaus Hock zwar „historische … Gesichtspunkte“ an, stellt jedoch nur fest, dass „unter muslimischen Migranten und Migrantinnen in Deutschland bekanntermaßen kaum Konversionen zum Christentum zu verzeichnen“52 sind. Etwas genauer wird Henning Wrogemann in dem Beitrag „Konversionen zwischen Christentum und Islam in Mitteleuropa“ (2010), der sich zwar nicht auf eine missionsgeschichtliche Fragestellung bezieht, jedoch im Blick auf die historische Statistik erwähnt, dass es „aus der Gruppe türkischer Muslime … in den letzten 30 Jahren nach Schätzungen nur wenige Hundert gegeben [hat], die Christ/in geworden sind und noch in Deutschland leben“.53 Nicht zuletzt diese geringen Konversionszahlen dürften auch zur oben beschriebenen Zurückhaltung 46 47 48 49 50 51 52 53
Pikkert 2008, 173. Ausführlich zu Jasper und der Islamarbeit der VEM siehe VI.C.3.c). Jasper, Unterwegs, 2008, 35f. Siehe V.D.1. sowie VI.C.3.c). Mittmann, Säkularisierungsvorstellungen, 2011, 271ff. Ebd. 267. Hock, Migration, Mission, 2011, 157.162ff Wrogemann, Konversionen, 2011, 70.
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im Blick auf die missionsgeschichtliche Aufarbeitung der Entwicklungen beigetragen haben. Eine direkte Vorarbeit zu einem Teilaspekt der vorliegenden Arbeit (siehe unten III.A.) stellt mein Aufsatz „‚Die Welt kommt zu uns‘: Die Konferenz für Ausländerfragen und der missionstheologische Beitrag Jan Hermelinks (1923– 1961) im Kontext der Bildungsmigration der 1950er Jahre“ (2011) dar.54 2. Ansatz und Methode a) Missionsgeschichte in der Zeitgeschichte Methodisch soll in dieser Arbeit der Ansatz einer Missionsgeschichte in der Zeitgeschichte entwickelt werden.55 Dabei werden missionarische, interreligiöse und interkulturelle Entwicklungen und missionstheologische Deutungen als Teil der religiösen Zeitgeschichte aus der Perspektive der Missionswissenschaft/Interkulturellen Theologie erforscht und beschrieben. Missionsgeschichte als Aspekt der „Zeitgeschichte der Religionen“56 wird im Anschluss an Andreas Feldtkeller verstanden als Dimension der „ökumenische[n] Kirchen- und Religionsgeschichte“,57 das heißt: 1. als „Geschichte der ganzen Kirche unter dem Aspekt ihres Werdens und Neu-Werdens“ sowie 2. als Geschichte der Begegnung der Kirche mit religiös und kulturell Fremden – eine Geschichte, die „immer die andere, die nichtchristliche Seite mit im Blick [hat]“.58 Grundlegend dafür ist ein hermeneutischer Ansatz der Missionswissenschaft, der die interkulturelle und interreligiöse Begegnung als hermeneutischen Ort der Theologie versteht und in der Begegnung mit anderen religiösen und kulturellen Traditionen neue Einsichten und vertiefte Selbstsichten erwartet. 59 Als theologische Disziplin bringt die Missionswissenschaft dabei das eigene, am biblischen Zeugnis orientierte theologische und missiologische Verständnis ins Gespräch mit dem Selbstverständnis der religiös Anderen: „Sendung … gibt es nicht ohne den, zu dem man gesandt ist. Wie der Glaube lebt das Zeugnis deshalb aus dem Hören, dem Hören auf das Wort Gottes und auf den Anderen ... Wo der Andere in seinem Subjektsein erkannt wird, wird auch seine Situation ernstgenommen.“60 Einen wichtigen Ansatzpunkt bietet hier das fünfgliedrige religionsgeschichtliche Analysemodell zum „Weitergabe- und Ausbreitungsverhalten von Religio54 Walldorf, Welt, 2011. 55 Vgl. Walldorf, Missionarische Bemühungen, 2007; Walldorf, Mission und interkulturelle Begegnung, 2010. 56 Figl, Handbuch Religionswissenschaft, 2003, 40. Immerhin gehört die Mission zum „heutigen, dem gegenwärtigen Erscheinungsbild [der] Religionen“, ebd., vgl. Feldtkeller, Mission aus der Perspektive der Religionswissenschaft, 2001. 57 Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 51ff, vgl. Feldtkeller, Thesen, 2000. 58 Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 55. 59 Vgl. Feldtkeller, Mutter der Kirchen, 1998, 10. 60 Sundermeier, Begegnung, 1995 [1990], 83.85. Vgl. Grünschloss, Glaube, 1999, 271; Balz, Anfang des Glaubens, 2010, 364–403.
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nen“ von Andreas Feldtkeller.61 Das Modell unterscheidet fünf Grundformen der Weitergabe von Religion: die generative Weitergabe von „Generation zu Generation“ im Rahmen einer Abstammungsgemeinschaft, die imperiale Ausbreitung im Rahmen der Erweiterung von Herrschaftsgebieten über mehrere Abstammungsgemeinschaften, die missionarische Ausbreitung als Weitergabe einer „befreienden Botschaft ... an alle Menschen“,62 die scholastische Weitergabe als „eine in Lehrer-Schüler-Verhältnissen … organisierte Vermittlung religiöser Inhalte und Praktiken“63 sowie die kulturelle Aneignung, bei der „Menschen sich fremde religiöse Inhalte, Praktiken oder Ausdrucksformen aneignen, ohne dass ihnen dies von den Trägern der Religion angetragen worden wäre“.64 Diese Grundformen der Weitergabe stellt Feldtkeller in Zusammenhang mit drei Modi von Religion:65 der „Ordnung und Bewältigung von Grunderfahrungen des Menschseins“, der „Steigerung des menschlichen Potentials“ und der „Befreiung des Menschseins von sich selbst“. Wie die Weitergabeformen, so gehen auch diese Modi Verbindungen als „zyklisches Nach- und Ineinander“66 ein. Diese Kategorien erweisen sich zum Verständnis der komplexen und gelegentlich konfliktiven missionarischen Begegnung in Deutschland in den 1950er bis 1970er Jahren als hilfreich. Weitere methodische Aspekte der Untersuchung werden am besten von den Parametern der Zeitgeschichte erfasst, die von Hans Rothfels 1953 als die historische Erforschung der „Epoche der Mitlebenden“ definiert wurde.67 Da sich damit der Schwerpunkt der Zeitgeschichte kontinuierlich verschiebt, ist sie stärker als andere historische Disziplinen im Umbruch begriffen und schließt zunehmend auch die fortschreitenden Prozesse der Globalisierung und Migration in transnationaler Perspektive mit ein.68 Dabei berühren sich die Perspektiven der Zeitgeschichte mit denen der Migrationsforschung.69 Da die Zeitgeschichte „immer zugleich Erlebens- und Erfahrungsraum der gegenwärtig Lebenden“70 ist, muss zwischen zeitgenössischen schriftlichen Quellen und den späteren (interpretierten) Erinnerungen von Zeitzeugen (oral history) unterschieden werden. 71 Beide bieten wichtige, jedoch unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit, die entsprechend kritisch ausgewertet werden müssen. Obwohl die vorliegende Arbeit sich vor allem auf schriftliche Quellen bezieht, wurden auch eine Reihe von ZeitzeugenInterviews mit am Missionsgeschehen Beteiligten und Konvertiten einbezogen, um „subjektive Bewältigungs- und Gestaltungsformen“72 deutlicher in den Blick 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72
Vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 53–57. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 55. Ebd. 55–56. Ebd. 56. Ebd. 49ff. Ebd. 52. Metzler, Zeitgeschichte, 2004, 12.27. Ebd. 30ff. Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005; Bade, Migrationsforschung, 2002. Metzler, Zeitgeschichte, 2004, 12. Ebd.ff; vgl. Jarausch/Sabrow, Verletztes Gedächtnis, 2002. Murken, Oral History, 2003, 2.
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zu bekommen. Dabei zeigen sich vor allem die Perspektiven der Konvertiten gelegentlich als Korrektiv zu verallgemeinernden Interpretationen kirchlicher, missionarischer oder gesellschaftlicher Quellen. Es ist zu erwarten, dass eine Missionsgeschichte in der Zeitgeschichte in dieser Perspektive sowohl für das Verstehen der kulturellen und religiösen Pluralisierungsprozesse in Deutschland als auch für das Verständnis der Rolle christlicher Mission in diesem Prozess einen Beitrag leisten kann. In diesem Sinn stellt sie eine bislang zu wenig beachtete Aufgabe für die Interkulturelle Theologie und Missionswissenschaft in interdisziplinärer Verbindung mit der kirchlichen und religionsgeschichtlichen Zeitgeschichte dar. b) Mission als transkultureller Prozess In der vorliegenden Untersuchung verbindet sich damit die kulturwissenschaftlich orientierte Fragestellung nach der missionarischen Begegnung als transkulturellem Prozess. Transkulturation wird im Anschluss an Klaus Hock verstanden als Oberbegriff für „komplexe, vielfältige, wechselseitige und durchaus widersprüchliche Austauschprozesse“73 in der Kontaktzone missionarischer, interreligiöser und interkultureller Begegnung.74 Der Begriff der Transkulturation wurde bereits 1940 von dem kubanischen Kulturanthropologen Fernando Ortiz in seinem Essay Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (1940) in Abgrenzung vom Konzept der Akkulturation geprägt, um die Komplexität und Vielfalt kultureller Einflüsse, Aneignungen und Veränderungen in einer Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen75 und hierarchische Konstruktionen in Kulturbeziehungen zu kritisieren. In ähnlicher Weise formulierte der Philosoph Wolfgang Welsch in den 1990er Jahren das Konzept der Transkulturalität als Kritik eines homogenen Kulturbegriffs und einer differenzbetonten interkulturellen Terminologie.76 In dieser kulturwissenschaftlichen Ausrichtung wurde der Begriff durch Klaus Hock in den deutschsprachigen missionswissenschaftlichen Diskurs eingeführt.77 Hock hat die doppel73 Hock, Interkulturelle Theologie, 2011, 51; vgl. Hock, Religion als transkulturelles Phänomen, 2002, 70–71. 74 Vgl. Schultze, interdisziplinäre Ansätze, 2003, 100. 75 Vgl. Ortiz, Contrapunteo, [1940], 1983, 87.90: „Hemos escogido el vocablo transculturación para expresar los variadísimos fenónemos que se originan en Cuba por las complejísimas transmutaciones de culturas que aquí se verifican. ... Es una intensísima, complejísima e incesante transculturación de varias masas humanas, todas ellas in pasos de transición.“ 76 Vgl. Welsch, Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, 1992, vgl. Wrogemann, Interkulturelle Theologie, 2012, 338–340. 77 In die amerikanische Missionswissenschaft wurde der Begriff bereits in den 1970er Jahren durch Charles H. Kraft eingeführt, allerdings eher im Sinne der Kontextualisierung und Inkulturation verstanden. Kraft vertritt einen am Bibelübersetzungsprozess ausgerichteten Transkulturationsbegriff („The term ‚transculturate‘ is intended to signify with respect to culture what the term ‚translate‘ signifies with respect to language“), der interkulturelle Differenzen und Terminologien ernstnimmt, kulturelle Hierarchien und Dominanzen jedoch ebenso kritisiert, Kraft, Christianity in Culture, 1979, 280, vgl. Shaw, Transculturation, 1989; Balz, An-
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te Beobachtung gemacht, dass „transkulturelle Prozesse .... geradezu zur Signatur von Migration und Diasporabildung [gehören]“ und „die christliche Mission .... einen bedeutsamen Faktor transkultureller Identitätsbildung dar[stellt]“.78 Beides legt eine Betrachtung des missionsgeschichtlichen Forschungsgegenstands unter diesem Blickwinkel nahe. Im Unterschied zu Welsch und Hock wird der Begriff der Transkulturation jedoch nicht nur als Gegensatz zu differenzbeschreibenden Konzepten wie interkulturelle Kommunikation, interreligiöser Dialog, Inkulturation und Kontextualisierung verwendet. Vielmehr werden Differenzwahrnehmungen als Teil transkultureller Prozesse verstanden, wobei die von Hock beschriebene komplexe Wechselseitigkeit und Unübersichtlichkeit der Prozesse wesentlich bleibt. Der Begriff der Transkulturation und transkultureller Prozesse ersetzt also weder die Wahrnehmung kultureller und religiöser Differenzen noch damit verbundener interkultureller und interreligiöser Prozesse, sondern weist auf deren Komplexität in zunehmend unübersichtlichen lokalen, globalen und transnationalen Zusammenhängen hin. Ein wichtiger Ausgangspunkt der missionsgeschichtlichen Beschreibung transkultureller Prozesse im Zusammenhang des interreligiösen Zeugnisses zwischen Christen und Muslimen in Deutschland ist das von Andreas Feldtkeller formulierte Verständnis von Mission als Weitergabe einer „befreiende[n] Botschaft“, die sich jenseits der Bindung an Abstammungsgemeinschaften und Herrschaftsgebiete „grundsätzlich an alle Menschen“ wendet, kulturelle und religiöse Grenzen überwindet und neue Entscheidungen ermöglicht.79 Im Rahmen dieser Kontakte geschieht oft mehr als die christliche Mission intendiert hat.80 Es werden komplexe interkulturelle und interreligiöse Prozesse ausgelöst, die sich zusammenfassend mit dem dargestellten Konzept der Transkulturation beschreiben lassen. Feldtkeller hat diese Prozesse als „Austausch in beide Richtungen“ beschrieben „bei dem sich kaum vorhersagen lässt, wie das Ergebnis aussehen wird. Wo es einer missionierenden Religion tatsächlich gelingt, sich auf Kosten einer anderen Religion auszubreiten, ‚schluckt‘ sie oft nicht nur deren Anhängerschaft, sondern auch wesentliche Anteile der Religion selbst, die in den neuen Deutungshorizont integriert werden. Wo Mission gemessen an der Intention ihrer Akteure scheitert, führt sie dennoch häufig dazu, dass die bei ihrer angestammten Religion bleibenden Menschen vieles von dem Gehörten in ihre eigene Religiosität integrieren.“81
Diese Prozesse und ihre Ergebnisse lassen sich je nach Perspektive und Bezug und ohne scharfe Grenzziehungen als (a) Hybridität82 oder Creolisierung83 zwi-
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fang, 2010, 251f. Für die vorliegende Studie spielt Krafts Begriff eine wichtige Rolle im theologiegeschichtlichen Diskurs zur christlich-islamischen Begegnung, siehe II.E.2. und Schluss C.1. Hock, Religion, 2002, 72–73. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 55, vgl. Feldtkeller, Perspektive der Religionswissenschaft, 2001, 102–103. Vgl. Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 54; Feldtkeller, Thesen, 2000, 11. Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 54. Vgl. Fischer, Hybridität, 2008, 298.
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schen Kulturen, (b) Synkretismus84 zwischen Religionen, (c) Inkulturation und Kontextualisierung als Transfer und Übersetzung christlicher Inhalte in neue kulturelle Zusammenhänge sowie (d) komplexe und synthetische Identitätsbildung im Rahmen inter- oder intrareligiöser biographischer Veränderungen und Konversionen85 beschreiben und deuten.86 Dabei geht es – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – um multilaterale Veränderungsprozesse und die Verhandlung von Identität im Rahmen interkultureller und interreligiöser Begegnungen. Gerade in der missionarischen Begegnung zwischen Christen und Muslimen in Deutschland in den 1950er bis 1970er Jahren ist mit solchen transkulturellen Prozessen zu rechnen. Dabei mischen sich jeweils intrareligiöse Prozesse zwischen Säkularisierung, Liberalisierung87 einerseits und religiöser Intensivierung88 andererseits (in Islam und Christentum) mit interreligiösen Prozessen in lokalen und globalen Bezügen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Eigenleistungen sowohl der muslimischen Migrantinnen und Migranten als auch der christlichen Missionarinnen und Missionare. Die Eigenleistung der Migranten beschreibt ein Spektrum zwischen mehrheitlichem Verbleiben im Islam und der minderheitlichen Annahme und Inkulturation des christlichen Glaubens89 im Third Space der Migrationskultur (Bhabha).90 Im Bereich der Ablehnung des christlichen Glaubens zeigen sich unterschiedlich differenzierte Muster von grundlegender kognitiver Dissonanz über dialogische Konzepte bis hin zur strategisch-kontextualisierenden Übernahme einzelner Elemente.91 Eine wesentliche Eigenleistung der christlichen Missionare lag in der hermeneutischen interreligiösen Reflexion der Mission im Licht postkolonialer, säkularisierender und pluralisierender Prozesse. Die daraus entstehenden neuen Deutungshorizonte einer christozentrischen postkolonialen Hermeneutik92 werden im Rahmen der mitlaufenden missionstheologischen Fragestellung als Teil des transkulturellen Prozesses in den Blick genommen.
83 Ausgehend vom linguistischen Phänomen wird Creolisierung als kontinuierlicher kreativer kultureller Prozess beschrieben, in dem eigene kulturelle Identitäten gegenüber hegemonialen Kulturansprüchen aufrechterhalten werden, „reversing the processes of acculturation (or assimilation), deculturation, discontinuity and marginalisation“. Janson, Cradle, 2003, 41. 84 Vgl. Feldtkeller, Identität und Synkretismus, 2002. 85 Vgl. Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 38ff. 86 Vgl. Schultze, interdisziplinäre Ansätze, 2003, 100ff.; Jørgensen, Imandars, 2008, 104–108. 87 Vgl. Herbert, Liberalisierung, 2002; Ziemann, Säkularisierung und Neuformierung, 2011. 88 Vgl. Hermle, Gegenbewegung, 2007, Jenkins, Godless Europe?, 2007, 115–116. 89 Vgl. Fischer, Hybridität, 2008, 298, siehe Schluss D.1. 90 Siehe VII.C.3. 91 Siehe VI.D. und Schluss D.2. 92 Siehe Schluss C.
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3. Quellen, Eingrenzung und methodische Struktur a) Quellen Die Darstellung beruht in weiten Teilen auf der Erschließung und Auswertung von Primärquellen. Diese umfassen 1. in Zeitschriften und Büchern veröffentlichte Texte der beteiligten Institutionen (vor allem DEMR, KfA, SMD, OD) und Personen (Hermelink, Höpfner, Pörksen, Holsten, Margull, Cosmades, Jasper, Buttler u.a.), 2. unveröffentlichtes Archivmaterial der genannten Institutionen (Manuskripte, Protokolle, Programme, Notizen, Korrespondenz) sowie 3. Quellen der oral history, das heißt Gespräche und Korrespondenzen mit Missionaren, Beobachtern und Konvertiten als Zeitzeugen. Für die Darstellung größerer historischer, theologischer und religiöser Zusammenhänge und Hintergründe, vor allem zu den historischen, transnationalen und ausländerpolitischen Aspekten der türkischen Arbeitsmigration und zur Geschichte der christlichen Islam- und Missionstheologie des 20. Jahrhunderts, konnte oft auf Sekundärliteratur zurückgegriffen werden, wobei auch hier, vor allem zur Missionstheologie, die Primärquellen herangezogen wurden. In anderen Bereichen, zum Beispiel zur Bildungsmigration der 1950er Jahre, wurde aufgrund spärlicher Sekundärliteratur ebenfalls vor allem mit zeitgeschichtlichen Primärquellen gearbeitet. b) Eingrenzung und Struktur In diachroner und synchroner Perspektive wird die missionarische Begegnung in den 1950er bis 1970er Jahren im Kontext transnationaler, gesellschaftlicher, kirchlich-theologischer und interreligiöser Entwicklungen beschrieben. Während erst mit der Gründung des Orientdienstes 1963 eine ausdrücklich auf den Islam und die Begegnung mit Muslimen ausgerichtete kirchlich-missionarische Struktur entstand, der entsprechend ein zentraler Teil der Studie gewidmet ist, begannen die missionarischen Wahrnehmungen und Begegnungen bereits Anfang der 1950er Jahre. Um zu einem richtigen Verständnis der komplexen Entwicklungen zwischen dem Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR), dem Kirchlichem Außenamt der EKD und pietistischen Gruppierungen im Umfeld der Evangelischen Allianz zu gelangen, musste deswegen bereits in den 1950er Jahren angesetzt werden. In diesem Jahrzehnt bildeten die Muslime zwar den größten Anteil der Bildungsmigranten aus nichtwestlichen Ländern, die missionarischen Initiativen galten jedoch nicht nur Muslimen, sondern den sogenannten afroasiatischen Studierenden (s. I.C.) insgesamt. Während die Fragestellung auch für diese frühe Phase auf die christlich-islamische Begegnung fokussiert bleibt, wird sie stellenweise auf das interreligiöse christliche Zeugnis insgesamt erweitert, um die Gesamtentwicklungen sinnvoll in den Blick nehmen zu können. Den Anfangs- und Schlusspunkt der Studie markieren migrations- und missionsgeschichtliche Zäsuren, die sich angesichts der Komplexität der Entwicklun-
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Einleitung
gen nur ungefähr bestimmen lassen. Anfangspunkte bilden der Beginn der Ahmadiyya-Mission 1949/50, die Anfang der 1950er Jahre einsetzende Bildungsmigration und die entsprechenden kirchlich-missionarischen Wahrnehmungen und Reaktionen. Die Untersuchung schließt Ende der 1970er Jahre, nachdem missionstheologische und interreligiöse Kontroversen und Neuansätze sowie christliche Konversionen und Inkulturationen nach dem Anwerbestopp für Gastarbeiter (1973) in den Blick genommen worden sind, jedoch vor der islamischen Revolution in Iran (1979) und dem damit verbundenen Zustrom von schiitischmuslimischen Flüchtlingen nach Deutschland,93 mit dem sowohl eine neue Phase der Migration als auch der missionarischen Begegnung beginnt, die hier nicht mehr dargestellt wird. Christliche Mission Wahrnehmungen & Strukturen
Missionstheologische Modelle
(Muslimischer) Migrationskontext Konversion & Gemeinschaft
Islamische Mission & Reaktion
1. Phase: Bildungsmigration 1950er und 1960 Jahre 2. Phase: Arbeitsmigration 1961–1973 3. Phase: Entwicklungen nach dem Anwerbestopp 1973–1979
Tabelle 1: Methodische Struktur
In dieser Perspektive lassen sich drei zeitgeschichtlich-missionsgeschichtliche Phasen bestimmen (siehe Tabelle 1), die sich an der migrationsgeschichtlichen Entwicklung und der damit verbundenen Bildung neuer missionarischer Strukturen und Initiativen orientieren. Die erste Phase umfasst die 1950er und 1960er Jahre, bezieht sich auf die Wahrnehmung der Bildungsmigration durch christliche und muslimische (Ahmadiyya-Mission) Akteure in Deutschland und ist gekennzeichnet durch erste missionarische und kirchliche Strukturbildungen und Praxismodelle (KfA, ESG, SMD). Die zweite Phase umfasst den Zeitraum von 1961 bis 1973 und beschreibt die kirchlich-missionarische Islamarbeit im Umfeld der einsetzenden türkischen Arbeitsmigration. Hier stehen Gründung und Entwicklung des Orientdienstes im Mittelpunkt. Die dritte Phase konzentriert sich auf die Jahre zwischen 1973 bis 1979, die von dem wachsenden Bleibewillen der türkischen Gastarbeiter im Anschluss an den Anwerbestopp gekennzeichnet waren. In dieser Phase ereignen sich missionarische Neuansätze, inkulturierte Gemeinschaftsbildungen und vertiefte Kontroversen. Diese missionsgeschichtlichen Hauptphasen 93 Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 2003, 263ff; Jannat, Iranische Flüchtlinge, 2005; Kahla, Geschichte, o.J.
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werden in thematischer Perspektive nach (1) missionarischen Wahrnehmungen und Strukturen, (2) missionstheologischen Diskussionen und Modellen, (3) christlichen Konversionen und Gemeinschaftsbildungen im Migrationskontext sowie (4) Aktionen und Reaktionen in der islamischen Diaspora befragt. Aus dieser methodischen Struktur ergibt sich im Wesentlichen auch der Kapitelaufbau (siehe Tabelle 2), wobei die Kapitel I und II diachrone Gesamtüberblicke zur Migration und internationalen Missionstheologie bieten und alle drei Phasen umfassen, während die Kapitel VI und VII eher thematisch orientiert sind und Kontroversen und Konversionen in der 2. und 3. Phase beschreiben. Darüber hinaus reflektieren die Kapitel (in Annäherung) die verschiedenen Ebenen gesellschaftlichen Handelns und Wahrnehmens,94 die in der missionsgeschichtlichen Entwicklung miteinander verwoben waren: (1) die Makroebene als gesamtgesellschaftliche Ebene (beispielsweise durch Beteiligung bundespolitischer Institutionen), (2) die Mesoebene als Bereich der missionarischen Initiativen, der neuen kirchlichen und religiösen Struktur- und Gemeinschaftsbildungen, (3) die Mikroebene, auf der sich Begegnungen und biographische Entwicklungen vollzogen (Konvertiten- und Missionarsbiographien) sowie (4) die „vertikal laufende Säule der Glaubensinhalte“,95 die sich sowohl in der missionstheologischen Diskussion als auch in den hermeneutischen Identitätskonstruktionen der Selbstzeugnisse von Konvertiten ausdrückt. Darüber hinaus ist für alle Bereiche die (5) transnationale und globale Ebene wesentlich, die sich durch alle Kapitel zieht. Migrationsgeschichte und Missionstheologie I Muslimische Migration: Konzept und Ereignis (transnational) II Missionstheologische Modelle der Islambegegnung im internationalen Kontext (global) Im Kontext der Bildungsmigration der 1950er und 1960er Jahre III Bildungsmigration und Studentenmission (KfA, ESG und SMD) (Meso-/Makroebene) Im Kontext der Arbeitsmigration der 1960er und 1970er Jahre IV Arbeitsmigration und Orientdienst (OD, DEMR) (Mesoebene) V Willi Höpfner: Biographie und Theologie (Mikroebene) Kontroversen und Konversionen VI Gastfreundschaft oder Hausfriedensbruch? Kontroversen (Meso-/Makroebene) VII Vielfalt im Third Space: Konversionen und Gemeinschaftsbildung (Mikro-/Mesoebene) Tabelle 2: Kapitelstruktur
94 Lehmann, Migration, 2004, 36–37. 95 Ebd. 37.
I. MUSLIMISCHE MIGRATION: KONZEPT UND EREIGNIS A. MUSLIMISCHE MIGRATION: MISSIONARISCHE KONZEPTIONALISIERUNG In den fünfziger und frühen sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts stellte sich die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland im religiösen Bereich, zumindest statistisch gesehen, weitgehend homogen dar. Über neunzig Prozent der Bevölkerung gehörte den großen Volkskirchen an.1 „Interreligiöse Begegnungen erwartete man vor allem in Übersee, die Kirchen sahen sie als Sache der Äußeren Mission. Auf diesem Hintergrund nahm man in Kirche und Gesellschaft die zunehmende Bildungsmigration aus nichteuropäischen und von nichtchristlichen Religionen geprägten Kulturen als eine qualitativ neue Situation wahr,2 auch wenn die religiöse Statistik in Deutschland davon kaum beeinflusst wurde.“3 Zu den ersten, die dieser Wahrnehmung Ausdruck verliehen, gehörten die evangelischen Missionsgesellschaften, die auf ihrem jährlichen Forum, dem Deutschen Evangelischen Missionstag (DEMT) 1956 feststellten: „Es tritt … der bisher seltene Fall ein, Nichtchristen aus Asien und Afrika heute sozusagen vor der Tür zu haben.“4 Sie fügten hinzu: „Sie stammen in der Bundesrepublik vornehmlich aus folgenden Ländern: Türkei, Ägypten, Irak, Persien.“5 Dabei galt die besondere Aufmerksamkeit den sogenannten afroasiatischen Studenten6 aus Afrika und Asien, vor allem Nordafrika und dem Nahen Osten, die im Studienjahr 1957/58 mit fast 5000 1 2
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Vgl. Walldorf, Welt, 2011, 364. Pollack, Volkskirche, 1994, 271; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, 2008, 205. Ulrich Dehn weist jedoch darauf hin, dass sich „nicht so viel wie vermutet geändert [hat]“ und nennt als Beispiele die „Präsenz des Islam“ lange vor der türkischen Arbeitsmigration, „deutsche Buddhisten“, vor allem aber „mehrere Millionen Juden“, die bis zu ihrer Vernichtung durch das NS-Regime in Deutschland lebten. Dehn, Einleitung, 2008, 13. Auch die Bildungsmigration war kein neues Phänomen, siehe Mott in II.A.4. Walldorf, Welt, 2011, 364. Ein wenig wahrgenommener Teil der religiösen Pluralisierung nach 1945 waren auch die etwa 6000 muslimischen Ostflüchtlinge aus dem Einflussgebiet der damaligen Sowjetunion, die in verschiedenen Städten Süddeutschlands muslimische Gemeinden gründeten. 1951 entstand die Geistliche Verwaltung der Muslimflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 36; Heimbach, Entwicklung, 2001, 58; Abdullah, Geschichte, 1981, 36ff. DEMT, Ausländer, 1956, 183–185, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 364. DEMT, Ausländer, 1956, 185; vgl. Stichweh, Die moderne Universität, 2001. Vgl. Danckwortt, Elite, 1959, 6 oder KfA, Niederschrift über die 5. Konferenz 23.10.1958, 4. Die Rede von den „afroasiatischen Studenten“ griff das Selbstverständnis der 29 Staaten auf, die sich 1955 auf der Asian-African Conference in Bandung/Indonesien versammelt hatten und im Sinne des Non-Alignment-Movement ihr Selbstverständnis als Dritte Welt in Unabhängigkeit von der westlichen und der kommunistischen Welt formulierten. Vgl. Sasse, Bandung, 1958; Kamrava, Middle East, 2005, 94.
I. Muslimische Migration: Konzept und Ereignis
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gut ein Drittel von insgesamt circa 14.000 ausländischen Studierenden ausmachten und mehrheitlich aus islamisch geprägten Ländern kamen.7 Die Wahrnehmung und Interpretation einer muslimischen Dimension im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmigration in Deutschland ging zunächst vor allem von religiös motivierten Beobachtern – sowohl auf christlicher als auch auf muslimischer Seite – aus, die die Migration unter dem Gesichtspunkt religiöser Ausbreitung interpretierten. Diese Interpretationen standen zunächst meist im Zusammenhang mit der Ahmadiyya-Bewegung (s. I.B.). So verband der lutherische Missionswissenschaftler Georg Vicedom seine Wahrnehmung der missionarischen Bemühungen, die die pakistanischen Ahmadiyya-Muslime seit 1949 in Deutschland entfalteten, summarisch mit den Entwicklungen der Bildungs- und Arbeitsmigration aus islamisch geprägten Ländern. In Die Mission der Weltreligionen (1959) summierte er: „In den europäischen Ländern sammelt die Ahmadiyya die Mohammedaner. … Der Einfluß des Islam ist ohne Frage im Wachsen, weil durch ausländische Arbeiter und Studenten immer neue Gemeindebildungen stattfinden.“8 Dadurch hatte Vicedom die muslimische Migration als ein religiös-missionarisches Gesamtphänomen interpretiert, an dem sowohl die Ahmadiyya als auch die Bildungsmigranten partizipierten.9 Der Tübinger Kirchenhistoriker Siegfried Raeder entwickelte diese Perspektiven in seinem Beitrag „Islam im Abendland“ zu dem Sammelband Asien missioniert im Abendland (1962) weiter und lieferte dort eine frühe überblicksartige Gesamtdarstellung islamischer Präsenz in Deutschland (muslimische Studentenorganisationen und Ahmadiyya). Raeder interpretierte seine Beobachtungen heilsgeschichtlich: die Muslime seien „von Gott gesandt … daß [die Christen] an ihnen in Wort und Tat die wahre Mission erfüllen“.10 Ähnlich, aber pragmatischer formulierte Willi Höpfner, der Gründer des Orientdienstes: „Die große Zahl von Moslems, die sich in unserer Heimat befindet, … [bietet] eine Gelegenheit …, unseren Freunden in unmittelbarer Weise das Evangelium anzubieten. Wir dürfen unsere moslemischen Gäste nicht wieder in
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Vgl. Danckwortt, Anpassungsprobleme, 1958, 172ff. Siehe Tabelle 3 unter I.C.1. Vicedom, Weltreligionen, 1959, 136–137. kursiv FW. Auf der evangelischen Islamtagung in Bethel 1959 sprach Vicedom explizit von der „moslemische[n] Einwanderung“, Vicedom, Islam im Abendland, 1960, 57, s. II.C.4.a). Er eröffnete damit eine Grundwahrnehmung, die erst seit den 1990er Jahren in der Religions- und Kulturwissenschaft in unterschiedlichsten Perspektiven verstärkt aufgegriffen wurde, vgl. Schiffauer, Gottesstaat, 1993; Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998; Heimbach, Entwicklung, 2001; Şen/Aydin, Islam in Deutschland, 2002; Reuter, Religionen im Prozess der Migration, 2009. 10 Raeder, Abendland, 1962, 70–71. Während Raeder das mit der Migration verbundene Ausbreitungsverhalten des Islam beschrieb, lehnte er (im Gegensatz zu Vicedom) die Anwendung des Missionsbegriffs auf die islamische Ausbreitung aus theologischen Gründen ab. Die Anwendung des Begriffs der Mission sei sowohl vom „ursprünglichen islamischen Standpunkt aus zu verneinen“ (da Juden und Christen bereits eine Sendung empfangen hätten und der Islam deswegen keine missionarische Aufgabe mehr habe) als auch aus christlicher Sicht abzulehnen, da es nur „ein Evangelium von Christus“ und damit auch „nur eine Mission“ gebe. Ebd.
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I. Muslimische Migration: Konzept und Ereignis
ihre Heimat zurückkehren lassen, ohne dass sie Gelegenheit hatten zu einer Begegnung mit lebendigen Christen und Gemeinden.“11 Auch muslimische Autoren weisen auf den Beitrag der christlichen Interpreten für die Wahrnehmung der muslimischen Dimension der Bildungs- und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik hin. In seiner Geschichte des Islams in Deutschland (1981) beklagt M. S. Abdullah das damals mangelnde gesellschaftliche Interesse an islamischen Entwicklungen in Deutschland nach 1945 und stellt fest: „das Thema Islam wurde bis in die siebziger Jahre allenfalls von den christlichen Missionsgesellschaften diskutiert.“12 Der muslimische Autor Ataullah Siddiqui, Dozent am Markfield Institute of Higher Education der Islamic Foundation in England, würdigt sogar die Gründung einer christlichen Missionsorganisation unter muslimischen Migranten in Deutschland (Orientdienst) im Jahr 1963 in diesem Sinn. Hier habe man nicht nur die soziale, sondern auch die religiöse Dimension der Migration erkannt: „Here then, we witness an increasing need to understand not only the plight of people but also their faith.”13 Auf muslimischer Seite trugen zunächst die Perspektiven der AhmadiyyaMuslime in Deutschland zur Konzeptionalisierung einer muslimischen Migration im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmigration bei. Instrumental dafür war die Ahmadiyya-Zeitschrift Der Islam, die bereits Anfang der 1960er Jahre die türkische Arbeitsmigration in missionarischen Begriffen interpretierte und nationale und innerislamische Unterschiede zugunsten einer panislamischen da‘wa-Perspektive zurückstellte. In dem Beitrag „Sie geben leuchtendes Vorbild“ (1964) wurden die türkischen Arbeitsmigranten als ideale Botschafter des Islam in Deutschland dargestellt: „Einst zitterte das Abendland vor dem Halbmond, der von den Türken bis Wien getragen wurde. Es war ein schlechtes Zeugnis, was die Kalifen damals der Welt boten – ein Zeugnis, das nicht dem quranischen Gebot entsprach. Das Zeugnis, welches die türkischen Gastarbeiter heute ablegen, zeugt von der tiefen Verwurzelung islamischen Gedankengutes in den einfachen Menschen. Ist das nicht ein leuchtendes Vorbild?“14
Doch nicht nur im Kontext der Ahmadiyya-Bewegung wurde die Migrationssituation unter islamisch-missionarischen Aspekten interpretiert. Auch im Rahmen der Bildungsmigration zeigten sich entsprechende Selbstverständnisse. So brachten die bereits seit Mitte der 1950er Jahre aus dem Umfeld der ägyptischen Muslimbruderschaft nach Europa kommenden Studenten oft ein islamisch-missionarisches Selbstverständnis mit. Für Vertreter dieser Gruppe war die Einrichtung einer islamischen Gebetsstätte im neuen Umfeld Ausdruck einer Überzeugung und eines Lebensstils zu dem auch die da‘wa gehörte, deren Ziel das Zurückrufen ab-
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Höpfner, Protokoll EMO-Vorstandssitzung 4.8.1961, EMO-Archiv. Abdullah, Geschichte, 1981,70. Siddiqui, Fifty Years, 2000, 5, kursiv FW. Abdullah, Vorbild, 1964, 4. In der zehnteiligen Serie „Europa und der Islam: Ein Abriß der Geschichte der weltbewegenden Macht ‚Islam‘“ (Der Islam 1966–1967, vgl. Abdullah, Europa, 1966ff) wurden diese Perspektiven vertieft. Kritisch dazu: Gür, Vereinigungen, 1993, 17.
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fallender Muslime sowie von Nicht-Muslimen zum Islam war.15 Diese Dimension der da‘wa beschrieb der pakistanische islamische Theoretiker al-Maududi (1903– 1979) so: „Muslims … have no other justification to exist as a community but that they should bear witness before mankind of the Truth.“16 Auch der in den USA lebende palästinensische islamische Philosoph Ismail Al-Faruqi (1921–1986) verstand die Migration als Missionsgelegenheit für Studenten und Arbeiter, „leading him to become a dā‘ī (missionary) in his adopted country“.17 In den 1970er Jahren interpretierte der Imam des süleymanistischen Islamischen Kulturzentrums Köln (später Verband Islamischer Kulturzentren [VIKZ]), Harun Reşhit Tüylüoğlu, die türkische Arbeitsmigration dezidiert missionarisch: „Wir Türken bringen den Islam endlich überall hin in Europa, an jeden Ort.“18 Durch diese – wie auch immer intendierten – religiösen und missionarischen Interpretationen der Migrationsbewegungen in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren trugen sowohl christliche als auch muslimische Autoren zur Konzeptionalisierung einer muslimischen Migration19 im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmigration bei. Von hier aus wanderte die Wahrnehmung einer wachsenden Präsenz von Muslimen in Deutschland in gesellschaftliche und kirchliche Debatten und die kulturwissenschaftliche Forschung ein. Vor allem seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich die Beschäftigung mit dem Gesamtkomplex muslimischer Migration (Diaspora) und ihrer Geschichte in den Schnittbereichen theologischer, islamwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und migrationswissenschaftlicher Forschung.20 Nach Darlegung dieser konzeptionellen Perspektiven soll nun die historische Entwicklung der muslimischen Migration selbst als Hintergrund der darauf reagierenden und damit interagierenden christlichen missionarischen Aktivitäten und Diskussionen näher betrachtet werden. B. DIE AHMADIYYA-MISSION Die pakistanischen Ahmadiyya-Muslime begannen ihre Missionstätigkeit in Hamburg im Jahr 1949. Obwohl die Ahmadiyya-Bewegung von der sunnitischen Mehrheit nicht als islamisch anerkannt und 1974 sowohl in Mekka als auch in Pakistan (dort durch Parlamentsbeschluss!) zur nichtislamischen Gruppierung erklärt 15 Vgl. Poston, Da‘wah, 1992, 42; 78–79; Landmann, Islam in der Diaspora, 2005, 560–571; Baraulina, Ägyptische Diasporagemeinden, 2007, 6. 16 Zit. bei Poston, Da‘wah, 1992, 83. 17 Zit. ebd. 43–44. Zu ‘Al-Faruqi siehe II.D.2.a). 18 Zit. bei Jasper, Unterwegs, 2008, 47. 19 Vgl. den Begriff der „muslimische[n] Migration“ bei Reuter, Religionen im Prozess der Migration, 2009. 20 Vgl. Schiffauer, Gottesstaat, 1993; Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 1998; Heimbach, Entwicklung, 2001; Şen/Aydin, Islam in Deutschland, 2002; Reuter, Religionen im Prozess der Migration, 2009, 371ff; Reetz, Islam in Europa, 2010 sowie die in der Einleitung dieser Arbeit unter A. und B.1. genannte Literatur.
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wurde,21 verstanden sich die pakistanischen Missionare als Botschafter des einzig wahren Islam und versuchten, diese Botschaft unter christlich oder säkular geprägten Deutschen sowie unter zugewanderten Muslimen zu vermitteln. Für die frühe christlich-missionarische Wahrnehmung des Islam in Deutschland spielte die Ahmadiyya-Bewegung (heute Ahmadiyya Muslim Jamaat Deutschland)22 – wie bereits erwähnt (s. I.A.) – eine Schlüsselrolle. 1. Die Ahmadiyya-Bewegung Die Ahmadiyya-Bewegung wurde 1889 im ehemaligen indischen adian (Punjab, heute Pakistan) von dem Arztsohn M rz Ghul m Ahmad (1835-1908) begründet. Ahmad verkündete, dass er göttliche Offenbarungen empfangen habe und berechtigt sei, Anhänger um sich zu sammeln. Er verstand sich als der islamische Mahd , als Wiederverkörperung des Mas h, Jesus Christus und als avatar Krishnas. Sein Ziel war es, den Islam zu erneuern und alle Menschen zur wahren Religion des Islam zu rufen. Er unterstellte sich dem Koran, verkündete aber zugleich, dass Allah sich ihm in besonderer Weise offenbart habe und seine Worte denen des Koran gleichkämen.23 Er sah sich als „das Ebenbild Muhammeds“ und „die Erfüllung aller Propheten.“24 Obwohl sich Ahmad inhaltlich gegen die Botschaft christlicher Missionare positionierte, war er offensichtlich von deren Ansatz beeinflusst.25 Als Ahmad starb, wurde Nur-al-Din sein erster Nachfolger (Kalif). Als nach dessen Tod 1914 der Sohn Ahmads zum zweiten Kalifen eingesetzt werden sollte, spaltete sich die Bewegung. Eine Minderheit, die sich als Lahore-Gruppe konstituierte, sah in Ahmad lediglich einen Erneuerer des Islam und lehnte ein Kalifenamt ab. Die Mehrheit, als Qadian-Gruppe (Qadiani) bezeichnet, hielt am Anspruch auf das Prophetenamt durch Ahmad fest und bestätigte das Kalifat seines Sohnes Mahmud Ahmad (starb 1965).26 Dritter Kalif wurde Mahmuds Sohn Nasir Ahmad. Angeregt durch die starke Missionstätigkeit der Lahore-Gruppe verstärkten die Qadiani ab 1934 ihre Tätigkeiten und schufen die Missionsorganisation „Neuer Plan“ speziell zur Mission außerhalb Indiens. 1947 verlegte die Qadian-Ahmadiyya ihren Hauptsitz nach Rabwah, ins neu gegründete Pakistan.
21 Vgl. Lemmen, Vereine, 2002, 18; Abdullah/Mildenberger, Muslime, 1974, 39; Şen/Aydin, Islam, 2002, 26. 22 Vgl. Lathan, Ahmadiyya-Gemeinde, 2010. 23 Vgl. Schirrmacher, Islam 2, 1994, 88. 24 Vgl. Flasche, Anspruch und Wirklichkeit, 1976, 35. 25 Vgl. Raeder, Abendland, 1962, 61; Feldtkeller, Ausbreitung, 2000, 26–27. Schirrmacher, Islam 2, 1994, 90. Vgl. Flasche, Anspruch, 1976, 37: „Die Organisation und die Tätigkeitsweise … sind eindeutig dem Referenzsystem christlicher Missionsarbeit entnommen.“ 26 Lemmen, Organisationen, 2000, 71–72.
I. Muslimische Migration: Konzept und Ereignis
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2. Die Ahmadiyya-Mission in Deutschland Während die Lahore-Gruppe bereits in den 1920er Jahren eine große Moschee in Berlin-Wilmersdorf gebaut hatte, die von einer international zusammengesetzten muslimischen Gemeinde genutzt wurde,27 verlor sie nach dem 2. Weltkrieg an Bedeutung und wurde von der Qadian-Gruppe überflügelt, die 1949 ein Missionszentrum in Hamburg gründete und als die Ahmadiyya-Bewegung für den Islam in Deutschland warb.28 Der führende Ahmadiyya-Missionar in Hamburg war Abd al-Latif, der mit kulturellem Einfühlungsvermögen den Kontakt zu Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft sowie zu muslimischen Handelsmigranten und Studenten suchte.29 Auf der europäischen Ahmadiyya-Konferenz in Den Haag im August 1950 behauptete Latif, er „habe in wenigen Monaten in Hamburg sieben Menschen zur Bekehrung gebracht“.30 Das Hamburger Abendblatt erstellte ein sympathisches Portrait und bezeichnete Latif als „Mohammed an der Alster“.31 Der „Leiter der AhmadGemeinschaft in der Oderfelder Straße“ habe sein „Leben dem Islam geweiht“ und seit sieben Jahren seine Tochter nicht mehr gesehen. Latif wird beschrieben als ein „Herr mit feuriglebhaften Augen in dem schmalen, dunklen Gesicht. Sein gutes Deutsch hat er in der Schweiz gelernt. Er ist 37 Jahre alt. In seinem langen, hochgeschlossenen Rock bewegt er sich mit höflicher Würde.“ Missionarischapologetisch argumentiert Latif: „Wir sind keine mohammedanische Sekte.“ Er sei vielmehr nach Deutschland gekommen, um Menschen für den „wahren, den eigentlichen Islam“ zu gewinnen. Dazu sei er zwischen Neumünster und Frankfurt unterwegs, „um Vorträge zu halten“. Abschließend beobachtet das Abendblatt: „Der Gottesdienst seiner Freunde, zu denen einige Hamburger Kaufleute gehören, wird in seiner Wohnung abgehalten.“ Die Wohnung „sei ohne Schmuck, ein Kalender, ein Bücherschrank mit dem Koran in verschiedenen Sprachen, … ein schlichter Gebetsteppich, den der Hausherr aus Pakistan mitgebracht hat.“ Der Artikel schließt: „Mohammed, ganz nah bei der Alster, ein Turban unter Hamburgs blaßblauem Himmel.“ Bis 1969 war Latif Leiter der Ahmadiyya-Mission in Deutschland und Imam der Fazle Omar-Moschee in Hamburg. Bei seinem Abschied 1969 bezeichnete der muslimische Journalist M.S. Abdullah, der der Bewegung nahestand, Latif als „Apostel der Deutschen“: „Wenn ich dieses Prädikat nun … anwende, dann tue ich das mit tiefem Ernst: war dieser schlichte und einfache Mann es doch, der diesem Land an der Schwelle seiner größten Niederlage die urewige Botschaft des Qurans brachte, den Ruf des Heiligen Propheten Muhammed, den Ruf seines Nachfolgers, des großen Mahdi, Hazrat Mirza Ghulam von adian.“ 32
27 Vgl. Abdullah, Geschichte, 1981, 27–34; Heimbach, Entwicklung, 2001, 32ff; 28 Vgl. Flasche, Anspruch, 1976, 33–39. Lathan, Ahmadiyya-Gemeinde, 2010, 101ff. 29 Vgl. Lathan, Ahmadiyya-Gemeinde, 2010, 81 betont das generelle Bildungsinteresse der Ahmadiyya und die hohe Bereitschaft, die Sprache der Mehrheitsgesellschaft zu lernen. 30 Zit. bei Gensichen, Sterbender Islam, 1951, 2. 31 Hamburger Abendblatt, Menschlich gesehen, 21.5.1951, 1. 32 Abdullah, Apostel, 1969.
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1949 wurde eine Zweigstelle in Nürnberg eröffnet, die von dem deutschen Arzt Karl Koller (alias Muhammad Said), der „noch während des Krieges auf dem Balkan zum Islam übergetreten“ war, geleitet wurde.33 Insgesamt gehörten um 1950 etwa 27 Deutsche zur Ahmadiyya (Qadiani).34 1955 hatte die Nürnberger Gemeinde nach eigener Auskunft 30 Mitglieder und „100 Anwärter“.35 1955 erfolgte die offizielle Konstitution der Ahmadiyya Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland e.V. 1957 weihte ein prominenter Ahmadi, Sir Zafrullah Khan, Außenminister Pakistans von 1947–1954, die die Fazle Omar-Moschee in Hamburg als erste Ahmadiyya (Qadiani)-Moschee in Deutschland ein. In einer Grußbotschaft drückte Ahmadiyya-Kalif Mahmud Ahmad die missionarische Hoffnung aus, „in einigen anderen Städten Deutschlands ebenfalls Moscheen zu erbauen. … Gebe Gott, daß die deutsche Nation schnell den Islam annehme.“36 1959 wurde die Nuur-Moschee in Frankfurt am Main eingeweiht. Ihr Leiter wurde Imam Abdus-Schakoor Kunze, ein Deutscher, der 1946 zum Islam übergetreten war.37 Zum Zeitpunkt der Einweihung der Moschee zählte die Frankfurter AhmadiyyaGemeinde etwa 400 Mitglieder. 1969 verlegte die deutsche AhmadiyyaBewegung ihren Hauptsitz nach Frankfurt. Nach außen hin erweckte die Bewegung in den 1950er Jahren den Eindruck eines schnellen missionarischen Wachstums. In einem 1959 veröffentlichten Rechenschaftsbericht der Ahmadiyya, hieß es, dass der Bewegung bis zu diesem Zeitpunkt über 800 Deutsche beigetreten seien, eine Zahl, die von unabhängiger Seite jedoch in Zweifel gezogen wurde.38 Ein wichtiges Missionsinstrument der Bewegung war die Zeitschrift Der Islam, die seit 1949 zunächst von Zürich, später von Hamburg aus herausgegeben wurde. Über dem Titel der Zeitschrift stand der Anfang von Sure 1: „Im Namen Allahs, des Gnädigen und Barmherzigen“. Die Zeitschrift enthielt theologische und historische Abhandlungen über den Islam aus Ahmadiyya-Perspektive, Antworten auf Leserfragen, Leserbriefe sowie Ausschnitte aus Pressemeldungen über die Ahmadiyya. Unter Überschriften wie „Mein Weg zum Islam“ oder „Von der Kirche zur Moschee“ wurden Berichte von Deutschen, die zum Islam konvertiert 33 34 35 36 37
Raeder, Abendland, 1962, 64. Vgl. Lathan, Ahmadiyya-Gemeinde, 2010, 100. Raeder, Abendland, 1962, 64. Zit. Abdullah/Mildenberger, Moslems,1974, 37. Vgl. Raeder, Abendland, 1962, 64. Nach seiner Ausbildung in Pakistan hatte Kunze zunächst eine Ahmadiyya-Gemeinde in den USA geleitet. Zu einer Begegnung Kunzes mit Willi Höpfner vom Orientdient siehe IV.C.4.b). 38 Flasche, Anspruch und Wirklichkeit, 1976, 38 geht davon aus, dass es sich dabei eher um die Zahl der Interessierten insgesamt als um beigetretene Deutsche handelt. Für das Jahr 1976 geht er von einer Zahl von 30–50 deutschen Konvertiten aus. Den „meisten Erfolg“ habe die Ahmadiyya-Mission bisher „unzweifelhaft unter bereits islamischen“ Studenten und Gastarbeitern „aus asiatischen und teils auch afrikanischen Ländern“. Um das Jahr 2008 soll die Ahmadiyya-Bewegung in Deutschland um die 30.000 Mitglieder haben, von denen jedoch nur etwa 300 nicht-pakistanisch/indischen Hintergrund haben. Die große Mehrheit sind südasiatische Migranten, die seit den 1970er Jahren nach Deutschland kamen. Vgl. Lathan, Ahmadiyya-Gemeinde, 2010, 100.
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waren abgedruckt.39 1954 gab die Bewegung einen deutsch-arabischen Koran (Der Heilige Qur-an) heraus, dessen ausführliche apologetische Einleitung alle anderen Religionen als„vernunftwidrige“ und „barbarische“ Lehren bezeichnete, um am Ende den Koran als die religiös und wissenschaftlich vollkommene Offenbarung und Ahmad als den verheißenen Messias zu beschreiben.40 3. Protestantische Reaktionen auf die Ahmadiyya Die Ahmadiyya-Mission in Deutschland stieß vor allem in protestantischen missionarischen Kreisen auf kritische Aufmerksamkeit. So finden sich die ausführlichsten Reaktionen in den Allgemeinen Missions-Nachrichten des DEMR sowie dem Materialdienst des Religions- und Sektenkundlers Kurt Hutten (Vorgänger der späteren EZW-Veröffentlichungen). Bereits der überraschend dreiste Appell der Ahmadiyya an die Delegierten der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948, den Islam als wahre Religion der Einheit anzunehmen,41 versetzte in Alarmbereitschaft.42 1951 berichteten die Allgemeinen Missions-Nachrichten des DEMR über die „Islamische Europamission“: „In Zürich tagten Ende Juli die in England, Frankreich, Spanien, Holland und Deutschland arbeitenden Missionare der Ahmadiyya-Bewegung, einer aus Indien stammenden, islamischen Sekte, um ‚über die geistige Eroberung der europäischen Länder zu beraten‘. In der Arbeit dieser Mission, so wurde auf der Konferenz erklärt ‚liegt die Hoffnung für die Welt‘. [...] Die Eroberung Europas für die Lehre Mohammeds war das Thema ... der in Europa tätigen islamischen Missionare …. Auch der Vertreter der Hamburger Mission war anwesend. Auf der Konferenz wurde erklärt: ‚Die wechselnden Umstände der Welt bezeugen hinlänglich, dass die Welt allmählich zum Islam geführt wird‘.“43
Der spätere Heidelberger Missionswissenschaftler Hans-Werner Gensichen, damals theologischer Referent im DEMR, befürchtete, dass „die islamische Propaganda in Europa sich ständig verstärkt“.44 Die Ahmadiyya zeichne sich „durch geschickte Anpassung und auch durch Verwertung christlicher Bibelkritik aus“. Gensichen hielt es zwar für „falsch“, diese Entwicklungen „unnötig hoch zu bewerten“, sah darin aber „Zeichen der ungebrochenen Lebenskraft und Missionsentschlossenheit des Islam“, die es „nicht gestatten, die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam als abgeschlossen zu erklären“. Es genüge nicht, „die Fragen und Vorstöße mit dem trügerischen Schutzschild einer künstlichen ‚gemeinsamen Front‘ oder eines gegen den Kommunismus gerichteten Weltbun39 Zum Beispiel: Februar 1956, 4; August 1962, 5–6; Februar 1963, 3–4; Oktober 1964, 2–3. 40 Vgl. Der Heilige Qur-an. Arabisch und Deutsch. [1954], Ahmadiyya Muslim Jamaat, 1989 (5. Auflage), 15–153. Vgl. Raeder, Abendland, 1962, 66. 41 Vgl. Hutten, Nichtchristliche Religionen, 1954, 137. 42 Dieser Vorgang wurde in den folgenden Jahren wiederholt in protestantischen Veröffentlichungen zitiert, z.B. Schrupp, Blicke in die Weltmission, 1953, 82; Hutten, nichtchristliche Religionen, 1954, 138. 43 AMN 5/1951, 38 sowie AMN 6/1951, 46. 44 Gensichen, Sterbender Islam? 1951, 2.
40
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des aller Theisten abfangen zu wollen. … Der Islam lebt und stellt heute wie nur je eine unüberhörbare Frage an die Christenheit dar, … die eine erneuerte, kräftige Bezeugung der Wahrheit des Evangeliums verlangt.“45 Auch der freikirchliche Missionsleiter Ernst Schrupp (Wiedenest) sah die Ahmadiyya-Mission als Herausforderung „an unseren Glauben und unsere Liebe“. Die Muslime „kennen die Liebe des Heilands nicht und sehnen sich doch – wie alle Menschen – danach. … Drängt uns nicht die Liebe des Christus, gerade diese schwere Mission unter den Mohammedanern … zu unterstützen?“46 Kurt Hutten analysierte die Ahmadiyya 1954 in seinem Materialdienst als moderne religiöse Missionsbewegung: „Die Vorstellung, als wären die nichtchristlichen Religionen lediglich Objekte der christlichen Mission … erweist sich … als irrig.“47 Er warnt davor, das „Werben der außerchristlichen Religionen“ in seinen Auswirkungen auf die europäischen Gesellschaften zu unterschätzen: „Es haben sich also Entwicklungen angebahnt, bei denen es, auf die Dauer gesehen, um ernste und weittragende Entscheidungen geht.“48 Die Ahmadiyya sei eine akkommodierte, der europäischen Situation angepasste Form des Islam: „Die Religion des Propheten tritt hier nicht in ihrer orthodoxen Gestalt, sondern in einem modernisierten, europäisierten Gewand auf.“ Man betone „Friedfertigkeit und Toleranz“ und empfehle den Islam „als die befriedigende und befreiende Religion der Zukunft“.49 Der Basler Theologe und Islamautor Emanuel Kellerhals (s. II.B.4.b) betonte das gesellschaftliche und weltanschauliche Konfliktpotential. Auf dem Hintergrund des öffentlichen Protestes der Ahmadiyya gegen ein Schweizer RadioHörspiel, das eine Darstellung des Propheten Mohammed enthielt, wies Kellerhals auf die „tiefe Verschiedenheit … christlichen und islamischen Denkens“ hin, die an dem Zensurversuch der Ahmadiyya „sichtbar“ werde. Freiheit und Toleranz gebe es im Islam als einer „ganzheitlichen Religion“ „nur innerhalb der von der Religion gezogenen Grenzen“.50 Der oben erwähnte (I.A.) Missionswissenschaftler Georg Vicedom beschrieb die Ahmadiyya-Mission als Imitation der europäischen kirchengründenden Missionstätigkeit in Asien.51 Nun sammle die Ahmadiyya „Moslems in der Diaspora“ und schaffe „sich so überall ein lebendiges, von einer Gemeinde verkörpertes Missionszentrum“.52 Als besonders effektiv sah Vicedom die bereits 1957 ausverkaufte deutsche Koran-Übersetzung der Ahmadiyya. Die 178-seitige Einleitung sei „geschickt und eindrucksvoll“ und stelle „einen einzigen Angriff auf die Bibel und auf das Christentum dar, indem vielfältig und fortgesetzt die Überlegenheit
45 46 47 48 49 50 51 52
Ebd. 3. Schrupp, Blicke in die Weltmission, 1953, 83. Hutten, nichtchristliche Religionen, 1954, 122. Ebd. 123. Hutten, nichtchristliche Religionen, 1954, 136. Kellerhals, Ein kleiner Radiokrieg, 1954, 88–89. Vicedom, Islam im Abendland, 1960, 59. Ebd. 60.
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des Islam … nachgewiesen wird“.53 Während die Ahmadiyya-Missionare zum Auslöser protestantischer Wahrnehmung islamischer Präsenz in Deutschland wurden, ließ die Sorge um ihren missionarischen Einfluss in dem Maße nach, wie man feststellte, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit54 eine Lücke klaffte und die Ahmadiyya auch innerhalb des Islam zunehmend isoliert wurde. C. DIE AFROASIATISCHE BILDUNGSMIGRATION 1. Bildungsmigration zwischen Bonn und Bandung Die nach 1945 global ansteigende Bildungsmigration zeigte sich in der Bundesrepublik Deutschland besonders ausgeprägt. Während die weltweite Zahl der Auslandsstudenten zwischen 1950 und 1960 von 100.000 auf 240.000 anstieg und sich damit mehr als verdoppelte,55 verzehnfachte sie sich in der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum von 2000 auf 22.000.56 Ein Grund dafür war die Förderung durch die Bundesregierung unter Konrad Adenauer im Rahmen von Stipendienprogrammen und internationalen Kulturabkommen.57 Man maß der außereuropäischen Bildungsmigration hohe kulturelle, außenpolitische und wirtschaftliche Bedeutung bei. Die Öffnung für internationale Beziehungen war Teil des kulturellen Wiederaufbaus und einer weltoffenen Neuausrichtung Deutschlands nach 1945. Einerseits sah man die Bildungsmigration als Beitrag zur Entwicklungshilfe, andererseits suchte man durch die bildungsbezogene Partnerschaft mit den Nationen Asiens und Afrikas das Ansehen und die wirtschaftliche Zukunft der Bundesrepublik in der Welt zu stabilisieren. Der Bildungsaustausch sollte dazu beitragen, „die künftige Einstellung Asiens und Afrikas zum neuen Deutschland“ positiv zu beeinflussen.58 Die vom Auswärtigen Amt beauftragte Studie Die junge Elite Asiens und Afrikas als Gast und Schüler Europas aus dem Jahr 1959 formulierte: „Da sich voraussagen lässt, dass die europäischen Völker in nicht zu ferner Zeit machtpolitisch in eine Minderheiten-Situation gegenüber der Afro-Asiatischen Welt geraten werden, wird ein guter Teil unseres Schicksals bereits hier und heute entschieden.“59 Auch die Spannungen des Kalten Krieges spielten eine Rolle, da 53 54 55 56
Ebd. 61. Vgl. Flasche, Anspruch und Wirklichkeit, 1976. Budke, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, 2003, 26. Vgl. Danckwortt, Anpassungsprobleme, 172; Danckwortt, Junge Elite, 23; Ruf/ Viering, Die Mission, 170; Stichweh, Die moderne Universität. 57 Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) war 1950 (wieder) gegründet worden und vergab 1951/52 erstmals Stipendien an ausländische Studierende. Ab 1953 schloss die Bundesregierung verschiedene Kulturabkommen (z.B. 1953 mit den USA, 1957 mit der Türkei, 1959 mit Ägypten, Syrien, Pakistan). Die Zahl der Stipendien (Jahresstipendien von 3000 DM), die vom DAAD und der Bundesregierung an Ausländer vergeben wurden, verzehnfachte sich fast zwischen 1951 und 1955 (von 30 auf 279). Vgl. Alter, DAAD, 2000, 109ff.112, Heinemann, DAAD, 2000, 12f. 58 Danckwortt, Anpassungsprobleme, 1958, 1, vgl. Budke, Kulturkontakt, 2003, 26. 59 Danckwortt, Elite, 1959, 4.
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die Staaten des Ostblocks „in zunehmenden Maße ihre kulturelle Außenpolitik auf die Entwicklungsländer richteten“.60 Als Ziele der Bildungsmigration nannte die zitierte Studie die „Förderung der europäischen Exportwirtschaft, Bildung einer ideologischen Front gegen den Kommunismus, Annahme europäischer Lebensund Denkformen“.61 Die zahlenmäßig wichtigsten Herkunftsländer ausländischer Studierender in Deutschland waren im Studienjahr 1957/58 Griechenland mit 12%, der Iran mit 11% sowie die Türkei, die USA und Norwegen mit jeweils 8 % . Weitere Gruppen kamen aus Ungarn (7%), Indien (4%), Ägypten (3%), Syrien und Indonesien (je 2%). Die religiöse Herkunft ausländischer Studierender war für staatliche Statistiken von untergeordnetem Interesse, wichtiger war die Auswertung geographischer, kultureller und sozialer Daten, um die Prozesse der Integration zu fördern. Dies geschah im Rahmen einiger vom Auswärtigen Amt und der Europäischen Kulturstiftung beauftragter Studien des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg. Dazu gehört die erwähnte Studie zur junge Elite Asiens und Afrikas (1959), sowie die Vorgängerstudie Anpassungsprobleme von Studenten und Praktikanten aus Entwicklungsländern in Westdeutschland (1958). Aus den statistischen Angaben der Studien62 lässt sich ableiten (s. Tabelle 3), dass im Durchschnitt über ein Drittel der ausländischen Studierenden an bundesdeutschen Universitäten aus außereuropäischen, religiös mehrheitlich nichtchristlich geprägten Ländern kam, davon wiederum die Mehrheit aus islamisch geprägten Ländern. Studienjahr
Studierende aus der islamischen Welt
„Afroasiatische Studenten“
Ausländische Studierende insgesamt
Studierende insgesamt
1955/56
1598 (22%)63
1925 (26%)
7212
126.932
1956/57
2565 (27%)
3111 (33%)
9269
139.555
1957/58
3884 (28 %)
4874 (35 %)
13.858
155.000
Tabelle 3: Studierende aus der islamischen Welt 1955–1957
Während die Bundesrepublik die Bildungsmigration als Investition in die eigene außenpolitische und wirtschaftliche Zukunft und teilweise auch als Entwicklungsprogramm sah, war die Bildungsmigration für die Teilnehmerstaaten der AsianAfrican Conference in Bandung/Indonesien im April 1955 Teil eines postkolonialen Bewusstseinswandels globalen Beziehungen.64 Unter der Führung des indonesischen Präsidenten Sukarno und des indischen Premiers Nehru fanden sich in 60 Alter, DAAD, 2000, 115. 61 Danckwortt, Elite, 1959, 13. Kritik an diesen Zielen wurde u.a. von den Ev. Studentengemeinden geübt (s. III.B.1.). 62 Vgl. Danckwortt, Anpassungsprobleme, 1958, 172–174 (Statistik), vgl. Landmann, Der Islam in der Diaspora, 2005, 561. 63 Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gesamtzahl ausländischer Studenten. 64 Vgl. Sasse, Bandung, 1958; Kamrava, Middle East, 2005, 94.
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Bandung 29 Staaten, unter ihnen die Türkei, Indonesien, Indien, Iran, Ägypten, Libyen und weitere arabische Staaten zusammen und suchten neue politische Wege als Non-Alignment-Movement, als Dritte Welt in Unabhängigkeit sowohl vom westlichen Bündnis als auch vom kommunistischen Ostblock. Die Bandung-Staaten verurteilten den westlichen Kolonialismus (Marokko stand noch unter französischer Herrschaft, Algerien seit 1954 im Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich), die Rassendiskriminierung und suchten die Überwindung religiöser Spaltungen zugunsten nationaler Einheit in ihren Ländern. Exemplarisch für den Geist von Bandung war die panarabische Unabhängigkeitsbewegung, die vom ägyptischen Revolutionsführer Gamal ‘Abd an-Nasir (Nasser) verkörpert wurde.65 2. Transnationale Perspektiven: Iran, Türkei, Ägypten, Irak Die Aufbruchsstimmung von Bandung 1955 konnte jedoch nicht über die Heterogenität der Entwicklungen in den einzelnen Ländern hinwegtäuschen. Während die Regierungen in der Türkei, in Irak und Iran sich nach 1945 zunächst nach Westen orientierten, suchte man in Ägypten und Syrien im Zuge der panarabischen Bewegung den Anschluss an den sozialistischen Machtblock des Ostens. Innerhalb dieser unterschiedlichen politischen Tendenzen hatten wiederum die Entwicklungen der Bildungsmigration ihre eigene Dynamik, in der die Interessen der Studierenden sich oft unabhängig oder im Gegensatz zu staatlichen Vorstellungen verhielten. Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel Schah-kritischer persischer Studenten oder bei Studenten aus dem Umfeld der Muslim-Bruderschaft in Ägypten. Im Folgenden werden die Zusammenhänge an einigen Beispielen verdeutlicht. a) Iran Im Iran war das Bildungssystem bereits seit den 1920er und 1930er Jahren unter Rezah Schah nach westlichen Vorbildern modernisiert und seit 1928 das Auslandsstudium durch ein staatliches Stipendiensystem gefördert worden, wovon allerdings nur wenige profitieren konnten.66 Meist blieb ein Studium im Ausland den Angehörigen der reichen Oberschicht vorbehalten. Während Großbritannien lange ein beliebtes Ziel persischer Bildungsmigration gewesen war, orientierten sich viele Studierende nach dem gescheiterten Versuch der Verstaatlichung der britisch dominierten Ölförderung und dem (von USA und Großbritannien beeinflussten) Sturz des sozialistischen Premierministers Muhammed Mossadegh nach 65 Auch die bereits 1945 unter westlichem Einfluss begründete Arabische Liga wurde Teil des neuen Selbstbewusstseins. „Der moralische Erfolg dieser Organisation ist weitaus größer als seine politische Wirkung. ... Alle fühlen sich hineinversetzt in eine große, tragende Gemeinschaft ... im Kampf um ihre politische Selbstständigkeit und in der Abwehr gegen allen westlichen Imperialismus in einer gemeinsamen Front.“ Höpfner, Lage, 1954, 41. 66 Ghani, Iran, 2001, 399.
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Deutschland. Die Zeit kommentierte damals: „Nach dem persisch-britischen Ölkonflikt von 1953 kamen sie in Scharen aus den angelsächsischen Ländern, um ihr Studium in Deutschland fortzusetzen, einem Land, bei dem Glück und Unglück es so gefügt haben, daß es heute frei ist vom Geruch des ‚Kolonialismus‘.“67 Ein Sprecher der iranischen Studierenden sagte: „Wir glaubten, hier unterdrückt man uns nicht; wir glaubten, hier finden wir Sympathien für unsere nationalen Gefühle.“68 Dennoch war die Mehrheit der Studierenden nicht vorrangig politisch motiviert, sondern hatte akademische und wirtschaftliche Zukunftshoffnungen. Gegen Ende der 1950er Jahre weitete sich die Bildungsmigration aus dem Iran aus und erfasste neue soziale Schichten. Aufgrund der Eröffnung des Busverkehrs zwischen Iran und Europa und der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation im Iran erfasste die Bildungsmigration zunehmend auch junge Menschen aus der iranischen Mittelschicht.69 Im Kontakt mit den aufkommenden politischen Studentenbewegungen in Europa entstand Anfang der 1960er Jahre von Paris aus die Konföderation Iranischer Studenten (CIS), die Ableger in den Universitätsstädten Deutschlands bildete. Ein iranischer Student, der spätere Publizist Bahman Nirumand (geb. 1936), erinnert sich: „Ich habe die Entwicklungen im Iran von meinem Studium in Deutschland aus mitverfolgt und wir Iraner, die hier im Ausland studierten, haben schon Ende der fünfziger Jahre eine iranische Studentenopposition gegründet. Die Person, an der wir uns orientierten war Mossadegh. Es waren auch welche beeinflusst vom sowjetischen Sozialismus, vom algerischen Befreiungskampf, von lateinamerikanischen Revolutionen. Es gab in Deutschland einige tausend Iraner, mit denen ich Kontakt hatte, wir haben uns organisiert, und 1960, bevor ich nach meinem Studium wieder zurück in den Iran ging, haben wir die Konföderation Iranischer Studenten (CIS/NU) in Heidelberg gegründet.“ 70
Während der Islam für viele iranische Studenten eher im Hintergrund stand, spielte er für andere eine wichtige Rolle, nicht im politischen Sinn, sondern in einer Verbindung zwischen islamischen und intellektuellen Perspektiven. Ein Beispiel dafür war der spätere Kölner Islamwissenschaftler Abdoldjavad Falaturi (1926– 1996), der, in Isfahan geboren, 1954 als Student nach Deutschland kam. Zuvor hatte er bereits viele Jahre islamische Wissenschaften an Medresen in Isfahan, Teheran und Maschad studiert und mit dem igtihad-Grad (= selbstständige Rechtsfindung) abgeschlossen. In Deutschland studierte er Philosophie, vergleichende Religionswissenschaft und Psychologie an den Universitäten Köln, Mainz 67 68 69 70
Kingma, Persische Studenten, 1957, 15. Ebd. Milani, Eminent Persians, 2008, Bd. 2, 255. Zit. bei Röhl, Revolutionäre Romantik, 2006. Mehdi Khanbaba Tehrani, ehemaliger Leiter im CIS, sieht im Rückblick eine Verbindung zwischen politischem und islamischem Radikalismus: „I believe the student movement had fallen far afield from Iranian society’s realities. … In our mind reform and revolution could not possibly mix. … This kind of analysis drove us unconsciously to an alliance with Khomeini. … The confederation was an organisation built on absolute denial.“ zit. bei Afkhami, Life and Times, 2009, 395; vgl. Jannat, Füchtlinge, 2005, 57ff.
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und Bonn. Er wurde bekannt für seine Bemühungen um den christlich-islamischen Dialog in Deutschland.71 b) Türkei In der Türkei stand die Bildungsmigration nach 1945 zunächst im Kontext der westlichen Orientierung. Nach dem Tod Mustafa Kemals (Atatürk) (1881–1938) hatte der neue türkische Regierungschef Ismet Inönü unter dem Druck privatwirtschaftlicher Kräfte und angesichts der Verschlechterung der Beziehungen zur Sowjetunion nach 1945 das Land stärker in Richtung westlicher Demokratie und freier Marktwirtschaft gesteuert.72 Der Wahlsieg der Demokratischen Partei von Adnan Menderes 1950 und 1954 beendete das bisherige Einparteiensystem. 1952 führte Menderes das Land in die NATO.73 Mit der Ausrichtung nach Westen und der zunehmenden Industrialisierung erhielt auch die deutsch-türkische Freundschaft eine neue Dimension. Nach einer Reise von Bundeskanzler Adenauer in die Türkei entstand 1954 die Deutsch-Türkische Gesellschaft (DTG) sowie eine Reihe von Austausch-, Ausbildungs- und Studienprogrammen, in deren Rahmen türkische Ingenieure und Techniker zur Weiterbildung in die Bundesrepublik kamen.74 Auch die Zahl der türkischen Studierenden an deutschen Universitäten stieg. Ihre Studienschwerpunkte lagen in den Bereichen Medizin, Zahnmedizin, Technik, Landwirtschaft, Musik, Theaterwissenschaft. 75 Man erwartete auf beiden Seiten, „daß sie als gut ausgebildete Betriebsingenieure, Ärzte, Zahnärzte, Chemiker, Textilingenieure oder Musiker aus Deutschland heimkehren“.76 Während man aus deutscher Perspektive den Gedanken der Entwicklungshilfe und den „Bedarf“ der Türkei betonte,77 legte man in der Türkei selbst Wert darauf, dass „die Türkei zwar alle Voraussetzungen für die sorgfältige Schulung des akademischen Nachwuchses geschaffen habe“, man aber dennoch nicht darauf verzichten dürfe, „den
71 Vgl. Tworuschka, Auf dem Weg, 2009, 254. 1974 wurde Falaturi Professor für Islamwissenschaft an der Universität Köln und gründete 1978 die Islamwissenschafliche Akademie. Falaturi bemühte sich um eine koranbezogene, zeitgemäße Interpretation des Islam und setzte sich für den Dialog zwischen den Religionen ein. Vgl. Falaturi, Islam im Dialog, 1979; Weiße, Dialog, 2006; Tworuschka, Gottes ist der Orient, 1991. 72 Vgl. Steinbach, Geschichte, 2003, 41. 73 Vgl. ebd. 44. Erst der Putsch der Armee im Mai 1960 setzte dieser Phase der Öffnung ein (nur vorläufiges) Ende. Nachdem 1961 eine neue, liberalere Verfassung ausgearbeitet war, zog die Armee sich wieder zurück, allerdings nicht ohne ihren Einfluss in Form des Nationalen Sicherheitsrats, dem auch hohe Militärs angehören, zu sichern, vgl. ebd. 46; Kamrava, Middle East, 2005, 53. 74 Vgl. 90 türkische Ingenieure und Techniker, in: MDTG 6/1955, 3. 75 Bofinger, Türkische Studenten, 1956, 4. 76 Ebd. 3. 77 Ebd. 4.
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jungen Türken Gelegenheit zu geben, sich auch im Ausland zu schulen“.78 1957 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei ein Kulturabkommen. Die auch von der Türkei staatlich geförderte Bildungsmigration brachte es mit sich, dass türkische Studierende vor allem aus staatsnahen laizistisch geprägten Kreisen kamen und keine besonders ausgeprägten religiösen Tendenzen aufwiesen. Auch 1966 beobachtete Ali Sait Yüksel (AWO): „Für eine große Gruppe der türkischen Studentenschaft … spielt die Religion keine große Rolle mehr. ... Ihr einziges Ziel im Leben ist ein hoher Komfort. Ihre ‚Religion‘ ist praktischer Materialismus.“ Doch gebe es auch kleine „Gruppen der türkischen Studentenschaft, in denen die Religion noch eine Rolle spielt“.79 Erst in den 1970er Jahren entwickelte sich der politische Islam als dritte Kraft neben linken und rechten politischen Richtungen.80 c) Ägypten In Ägypten stand die Bildungsmigration in anderen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Unter Führung von Gamal ‘Abd an-Nasir (Nasser) (1918–1970) hatte sich das Land im Juli 1952 von der britischen Vorherrschaft befreit. Ein Revolutionsrat übernahm die Macht und König Faruk musste abdanken. 1953 wurde die Republik und General Muhammed Naguib zum Staatspräsidenten ausgerufen. 1954 wurde die seit den 1920er Jahren aktive Muslimbruderschaft verboten und des Attentatsversuchs auf Nasser bezichtigt. Nasser wurde Staatspräsident und entfaltete von 1956 bis 1967 sein Programm des Panarabismus, wobei die Verstaatlichung des Suez-Kanals im Juli 1956 und die Ausrufung der Vereinigten Arabische Republik (VAR Ägypten, Syrien, Jemen) 1957 als Initialzündungen verstanden werden können.81 In diesem Spannungsfeld zwischen panarabischem Säkularismus und islamischer Reform bewegte sich auch die Bildungsmigration von Ägypten nach Deutschland in den 1950er Jahren. Nassers Konflikt mit den westlichen Mächten im Rahmen der Suezkrise hinderte ihn nicht daran, „weiterhin wissenschaftlichakademische Kontakte zur Bundesrepublik Deutschland zu unterhalten“.82 Austauschbeziehungen als „Bildungshilfe“ gab es bereits seit 1953, „um den Mangel an qualifizierten Fach- und Führungskräften abzubauen“.83 Vor allem Studiengänge in Ingenieur-, Natur- und Agrarwissenschaften stießen auf Interesse, aber
78 Emin Onat, Türkische Auslandsstudenten bevorzugen deutsche Hochschulen, in: MDTG 21/1958. Nach Angaben von Professor Onat studierten zu diesem Zeitpunkt insgesamt 32 000 jungen Türken, davon 2600 im Ausland. 79 Yüksel, Reformation des Islams, 1966, 25. 80 Vgl. Steinbach, Geschichte der Türkei, 2005, 47–49, siehe auch I.D.2. 81 Vgl. Kamrava, Middle East, 2005, 88ff. 82 Alter, DAAD, 2000, 179. 83 Ebd.
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auch Germanistik war gefragt.84 Es waren „überwiegend männliche Studenten der oberen Mittelschicht“, sowohl Muslime als auch Kopten, die aus Ägypten kamen.85 Viele waren von der panarabischen Vision Nassers geprägt, die religiöse Zugehörigkeiten zugunsten des gemeinsamen nationalen Aufbaus relativierte. Für sie stellte der Islam zwar eine persönliche religiöse, aber keine politische Prägung dar. Dagegen vertraten ägyptische Studierende aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft, die nach dem Verbot der Organisation 1954 zunehmend nach Europa kamen,86 wie bereits oben erwähnt (I.A.), den Islam als umfassendes Lebens- und Gesellschaftskonzept, das auch den Ruf zum Islam unter nominellen Muslimen und Nicht-Muslimen im Migrationsumfeld einschloss. Dies trug zur Entstehung islamischer Strukturen im studentischen Umfeld in Deutschland bei. d) Irak Im Irak veranlasste nicht zuletzt die gesellschaftliche und wirtschaftliche Instabilität junge Menschen dazu, ein Studium im Ausland zu suchen. Formal war das Königreich Irak 1932 von Großbritannien unabhängig geworden, blieb aber im engen Kontakt mit dem Königreich. Auch das Erdöl des Landes wurde von der britisch dominierten Iraqi Petroleum Company gefördert und verkauft.87 1955 schloss sich König Faisal II dem pro-westlichen Bagdad-Pakt an, dem auch die Türkei, der Iran, Pakistan und Großbritannien angehörten.88 Für die panarabisch gesinnten Kräfte im Irak war der Pakt jedoch ein Dorn im Auge. Unter der Führung von Abd al-Karim Qasim (1914–1963) und mit Unterstützung der irakischen kommunistischen Partei kam es 1958 zum gewaltsamen Umsturz und zur Ausrufung der Republik Irak.89 Der Irak verließ den Bagdad-Pakt und nahm Verbindungen zur Vereinigten Arabischen Republik Nassers (Ägypten und Syrien) auf.90 84 Im Anschluss an das Kulturabkommen zwischen Deutschland und Ägypten von 1959 eröffnete der DAAD eine Außenstelle in Kairo. Ägypten wurde in den Folgejahren zum wichtigsten Partnerland im Nahen Osten. Auch Studierende aus anderen arabischen Ländern wurden ab 1960 über Kairo vermittelt. Vgl. Alter, DAAD, 2000, 178ff.180. 85 Baraulina et al, Ägyptische Diasporagemeinden, 2007, 5. 86 Vgl. Landmann, Der Islam in der Diaspora, 2005, 560–571; Baraulina et al, Ägyptische Diasporagemeinden, 2007, 6. 87 1929 hatten sich britische, niederländische, französische und amerikanische Ölfirmen zur IPC zusammengeschlossen. Nur ein geringer Prozentsatz der Einkünfte ging an den Irak. 1960 wurde in Bagdad die OPEC gegründet, doch die seit 1958 von Revolutionsführer Qasim unternommenen Versuche, die nationale Ölproduktion stärker in irakische Hände zu bekommen, scheiterten bis zur Nationalisierung 1972 unter der Baath-Partei. 88 Der Bagdad-Pakt (auch als Middle East Treaty Organization (METO) bezeichnet) war auf Initiative der USA als prowestliche diplomatische und militärische Allianz gegen den Einfluss der UdSSR im Nahen und Mittleren Osten eingerichtet worden. Später traten auch die USA mit Beobachterstatus bei. Vgl. Kamrava, Middle East, 2005, 109. 89 Vgl. Mejcher, Der arabische Osten, 2004, 448. 90 Vgl. ebd; Kamrava, Middle East, 2005, 172–173. Die Baath-Partei (baath, arab. Wiedergeburt) war in den 1940er Jahren in Syrien auf säkular-arabischer Basis von Michel Aflaq, einem syrisch-orthodoxen Christen und Salah ad-Din al-Bitar, einem sunnitischen Muslim, ge-
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Doch der folgende Demokratisierungsprozess mit Einführung von Presse- und Parteienfreiheit war nur von kurzer Dauer. Qasim entwickelte sich zum Diktator und unterdrückte andere politische und ethnische Gruppen (wie die Baath-Partei oder die Kurden). 1963 wurde Qasim von den Baathisten gestürzt, die 1968 unter Ahmad Hasan al-Bakr die Regierungsgewalt übernahmen. Dieser instabile politische Hintergrund veranlasste viele junger Iraker Studium und berufliche Zukunft im Ausland zu suchen. Eine Studie beschreibt den „Prototyp des irakischen Exilanten“ als „männlich, ledig und bei seiner Flucht Student oder Akademiker“.91 Kurz nach dem Regierungsantritt Qasims entstand in Deutschland die Qasim-freundliche Vereinigung Irakischer Studenten (VIS) mit Zweigstellen in mehreren Städten.92 Andererseits trieb gerade die QasimRegierung vom Kommunismus enttäuschte, nun eher westlich orientierte irakische Studenten ins Ausland. Ein Student, der den Irak 1960 verließ berichtet: „Die Revolution des Generell Kassem vertrieb die Engländer und mich, aber verschaffte mir ein Flugticket der britischen Firma nach Lüttich – dorthin, weil ich mit einer belgischen Familie, die in Bagdad lebte, befreundet war.“93 3. Gesellschaftliche Erfahrungen und Betreuungstrukturen a) Interkulturelle und soziale Spannungen Die Spannung zwischen überhöhten positiven Erwartungen und den realen, teilweise negativen gesellschaftlichen Erfahrungen der Bildungsmigranten wurde in den Danckwortt-Studien94 aufgegriffen: „Das auf diese Weise ‚gelobte Land‘ lässt die Erwartungen und Ansprüche in einem solchen Maße wachsen, dass die Begegnung mit den tatsächlichen Schwierigkeiten fast immer einen schweren Schock darstellt.“95 Afrikanische Bildungsmigranten waren schockiert von pauschalisierenden Portraits afrikanischer Völker als exotischer Wilder in sogenannten Kulturfilmen in den Kinos der 1950er Jahre. Viele mussten deutlich überhöhte Zimmerpreise („oft wird mehr als das Doppelte von uns verlangt“) hinnehmen96 und litten unter unverhohlenen, neugierigen Blicken auf den Straßen, bei gleichzeitiger menschlicher Distanz.97 Auch der Deutsche Evangelische Missions-Tag (DEMT) wies auf die „Mißstände“ hin, dass „die nicht an ausländische Studenten
91 92 93 94 95 96 97
gründet worden. Beide hatten in Frankreich studiert und versuchten die Schlagworte der französischen Revolution, Einheit, Freiheit, Brüderlichkeit (Sozialismus) in die arabische politische Situation zu übersetzen. Shooman, Irakisches Exil, 2007, 245. Ebd. 249. M.B., Biographischer Beitrag, 1985, 179. Ausführlich zu M.B. siehe VII.A.2. Siehe I.C.1. Danckwortt, Elite, 1959, 38. Kingma, Persische Studenten, 1957, 15. Auch der nigerianische Studentenpfarrer Bolaij Idowu beklagte „das Anstarren der Fremden“, zit. bei Buttler, Studentengemeinde, 1958, 153–154. Siehe III. B. 2.
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gewohnte Bevölkerung unserer Universitätsstädte … vielfach nicht willens [ist], ihnen Zimmer zur Verfügung zu stellen. Auch die zuständigen Universitätsstellen haben oft den Ernst der Lage nicht erkannt.“98 Danckwortt nennt das Phänomen der „colour-tax“: „Die Einstellungen der meisten Wirtinnen asiatischen und afrikanischen Studenten gegenüber sind von Angst und Vorurteilen geprägt: Die Nachbarn werden schlecht über einen reden, wenn man einen ‚Farbigen‘ aufnimmt, der gute Ruf des Hauses wird leiden. Wenn man schon gezwungen ist, solche Mieter zu nehmen, so sollen sie zumindest das Risiko des schlechten Rufs teuer bezahlen, man wird die Miete für sie erhöhen!“ 99
Andererseits fanden sich auch auf Seiten der Bildungsmigranten Fehleinschätzungen der deutschen Gesellschaft100 oder kulturelle, nationale oder politische Vorurteile gegenüber anderen ausländischen Mitstudenten, was zu einer abschottenden landsmannschaftlichen Gruppenbildung beitragen konnte. Dies und die manchmal vorhandene Ausstattung mit staatlichen oder großzügigen privaten Stipendien und der gelegentlich damit verbundene Lebensstil eines kleinen Teils der Bildungsmigranten konnten wiederum den Neid und die Ablehnung deutscher Kommilitonen auslösen. Danckwortt gibt die Vorbehalte wieder: „Der einheimische Student wiederum versteht diese Reaktion [der Gruppenbildung, FW] nicht, seine Kenntnisse über andere Kulturen sind minimal ... Ein einzelner Inder oder Araber wäre als exotische Erscheinung noch interessant, aber in grossen Gruppen sind diese Ausländer ... oft so laut und fröhlich, dass man annehmen muss, sie nähmen ihre Studien nicht ernst; manche geben viel Geld aus, fahren grosse Wagen und haben viele Freundinnen, warum kommen sie überhaupt nach Europa und nehmen uns die Studienplätze fort?“ 101
Danckwortt bilanziert ernüchtert, dass insgesamt nur eine „kleine Minderheit unter [den] Studenten“ versuche, „Zellen internationaler Zusammenarbeit zu bilden“. Als vorbildlich nennt er „die Gruppen des World University Service oder der Studentengemeinden“, die einen wichtigen Teil der gesellschaftlichen Betreuungsbemühungen darstellten.102 b) Akademische Auslandsämter und DAAD Die erste offizielle Anlaufstelle für ausländische Studierende war jedoch in der Regel das Akademische Auslandsamt (AAA) der jeweiligen Universität. Die bereits seit den 1920er Jahren existierenden akademischen Auslandsämter waren nach 1945 (wieder) gegründet worden und dienten sowohl der Vermittlung deut98 DEMT, Ausländer in Deutschland, 1956, 186. 99 Danckwortt, Elite, 1959, 55. 100 Zum Beispiel Anknüpfungen an die vom Deutschen Kaiserreich gesuchte „Waffenbruderschaft“ mit dem Osmanischen Reich oder positive Wertungen des Nationalsozialismus im arabisch-islamischen Umfeld: „Da ist der Onkel, der 1936 in Berlin studiert hat und begeistert vom Nationalsozialismus berichtet.“ Danckwortt, Elite, 1959, 38. 101 Danckwortt, Elite, 1959, 47. 102 Ebd. 48. Zum WUS siehe unten c), zu den Studentengemeinden siehe III.B. und C; zum Katholischen Akademischen Ausländerdienst (KAAD) siehe III.A.1.b).
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scher Studierender ins Ausland als auch als Kontakt- und Zugangsstelle für ausländische Studierende, vor allem im Blick auf die Überprüfung der Zugangsvoraussetzungen. Die AAA arbeiteten in enger Verbindung mit dem 1950 wiedergegründeten und vom Auswärtigen Amt finanzierten Deutschen Akademischen Austauschdienst e. V. (DAAD), der als Gemeinschaftseinrichtung der Universitäten und Studierendenschaften, Stipendien an deutsche und ausländischen Studierende vergibt. Als Teil der Selbstverwaltung der Universitäten waren die Kapazitäten der AAA zur sozialen Beratung und Begleitung ausländischer Studierender jedoch begrenzt.103 Im April 1956 forderte der DAAD in einer an die Bundesregierung, die Länder und Universitäten gerichteten Denkschrift „eine bessere Betreuung ausländischer Stipendiaten“ an den deutschen Universitäten. Man empfahl die „Einstellung von Beratern an den Akademischen Auslandsämtern, die sich um die sozialen Belange der Stipendiaten kümmern sollen“.104 Am 7. Juni 1956 griff der Bundestag die Probleme „im Rahmen einer großen Anfrage von SPD und CDU“ auf.105 Alle Parteien unterstützten die Forderungen, so dass die AAA nun auch Förderungsmittel zur Betreuung der ausländischen Studierenden durch den Bund erhielten. In einem Ausschuss der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, an dem auch die Evangelischen Studentengemeinden in Deutschland (ESG) und der World University Service (WUS) beteiligt waren, wurde 1958 der Plan zur Anstellung hauptamtlicher Betreuer in den akademischen Auslandsämtern konkretisiert Die Finanzierung sollte übergangsweise durch den Bund geleistet werden und dann in die Verantwortung der Länder übergehen.106 Das damit verbundene Konzept der Betreuung wurde so definiert: „Unter Betreuung wird hier die Summe der Hilfeleistungen verstanden, zu denen eine Gastgeber-Gruppe sich gegenüber ihren Gästen verpflichtet fühlt.“107 Da man die traditionellen Strukturen von „Gastfreundschaft“ in „der industriellen Massengesellschaft“ als nicht mehr gegeben ansah, sollten besondere Institutionen für die Betreuung geschaffen und für sie besondere Spezialisten ausgebildet werden: „Auf Seiten der europäischen Gastländer bedarf es einer Planung der Aufnahme afroasiatischer Studenten …, die der technisch-organisatorischen Aufnahmefähigkeit der Hochschulen … sowie der Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung Rechnung trägt. Da die psychologische Aufnahmebereitschaft gegenüber ‚farbigen‘ Ausländern noch relativ wenig entwickelt ist, bedarf es einer organisierten Betreuung als Ersatz für die private Gastfreundschaft. Diese Hilfeleistungen für den Gast haben … eine Koordinierung in der Hand hauptamtlicher und speziell für die Aufgabe ausgebildeter ‚Foreign Student Advisors‘ zur Voraussetzung.“108
103 104 105 106 107 108
Vgl. KIT, Akademisches Auslandsamt. DAAD, Geschichte. Heinemann, DAAD, 2000, 22. Vgl. WUS, 60 Jahre, 2010, 275; KfA, Niederschrift, 14.3.1957, S. 5. Danckwortt, Elite, 1959, 30. Ebd. 13, vgl. 30.
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c) Der World University Service (WUS) Der World University Service (WUS) war 1920 als Studentenhilfswerk des Christlichen Studenten-Weltbundes (World Student Christian Federation - WSCF) in Genf gegründet worden war. Nach 1945 erfolgte eine Neugründung als „politisch und konfessionell nicht gebundene Organisation“.109 1950 wurde ein Zweig in Deutschland gegründet, der sich zusammen mit den Studentengemeinden und anderen Gruppen bemühte, an den Universitäten Fenster in Richtung interkultureller Verständigung zu öffnen.110 Harald Ganns, seit 1959 Mitarbeiter des WUS, ab 1962 WUS-Generalsekretär, erinnert sich rückblickend an die ersten Begegnungen mit ausländischen Studierenden: „Der WUS der 50er Jahre: das war in erster Linie eine Möglichkeit der Begegnung mit ausländischen Studenten. … In den frühen Jahren wurden diese neuen Kommilitonen noch kaum als eine Chance zur Bereicherung und Internationalisierung verstaubter deutscher Hochschulen wahrgenommen, sondern eher als Fremde in der Einsamkeit, um die man sich kümmern müsse, als Objekte für ‚Betreuung‘. Sogar Vater Staat hatte diese Aufgabe für sich entdeckt und dachte über die Einsetzung ‚hauptamtlicher Betreuer‘ nach. Der WUS schwamm damals auf dieser Welle und war an über 20 Universitäten mit lokalen Komitees auf diesem Feld außerordentlich aktiv. In Freiburg gelang es dem dortigen Komitee zeitweise sogar, an jedem Tag der Woche ein Angebot zu machen: Vorträge und Diskussionen, politische Seminare und Jazzkonzerte, Firmenbesuche und Besichtigungsreisen, Freizeiten im Schwarzwald und am Bodensee, sportliche Begegnungen und Tanzveranstaltungen. Großzügig wurde dabei häufig übersehen, dass diejenigen, die dieses Angebot annahmen, in ihrer überwiegenden Mehrheit deutsche Studenten waren. Die ausländischen Kommilitonen hatten bereits begonnen, eigene Vereinigungen zu gründen, von staatlicher Seite eher argwöhnisch beäugt, von deutscher studentischer Seite erst nach langem Zögern als Chance zu intensiverer Partnerschaft erkannt.“111
4. Islamische Initiativen im Umfeld der Bildungsmigration Obwohl viele der außereuropäischen Studierenden zunächst nicht sonderlich religiös waren und eher Abstand von traditionellen religiösen Prägungen suchten, schienen die spannungsreichen Erfahrungen in der säkularen Umgebung des Migrationskontextes teilweise zu einer erneuerten Wertschätzung der eigenen religiösen und kulturellen Wurzeln beizutragen. So beobachtete die bereits mehrfach zitierte Studie Die junge Elite Asiens und Afrikas (1959): „Der eigenen Religion gegenüber distanziert man sich häufig, Religiosität scheint eng mit konservativ-politischer Einstellung verknüpft und ein Hemmschuh bei Entwicklungsprogrammen. Erst in Europa wird durch den Vergleich der eigenen mystisch-gefühlsbetonten
109 WUS, Mehr über WUS, www.wusgermany.de, 17.08.2011; vgl. WUS, 60 Jahre, 2010. 110 Die später formulierte Grundhaltung zeigte sich schon damals: Der WUS „tritt für das Menschenrecht auf Bildung“ ein und setzt sich „ausgehend von einem gesellschaftlichen Auftrag der Hochschulen … für die Entwicklung gerechter, sozialer und politischer Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene ein.“ WUS, Mehr über WUS, www.wusgermany.de 111 Ganns, Clubleben, 2010, 266–267.
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I. Muslimische Migration: Konzept und Ereignis Vorstellungswelt ... mit der auf diesem Hintergrund kalten Nüchternheit europäischen Vernunftdenkens und seiner Auswirkungen auf die Atmosphäre zwischenmenschlicher Beziehungen deutlich, welche unvermutete Bindung an die heimatliche Glaubenswelt besteht. Während also auf den ersten Blick Religion fast keine Bedeutung für das Leben der jungen Intellektuellen aus Asien und Afrika zu haben scheint, baut sich doch auf der Begegnung mit Europa eine neue Erkenntnis der Gefahren sekularisierten [sic!] Denkens auf.“ 112
Auf diesem Hintergrund boten sich für muslimische Studierende in größeren Städten wie Hamburg oder Frankfurt die Versammlungen der Ahmadiyya als mögliche erste Identifikationspunkte und Anlaufstellen an. Die Selbstbezeichnung der ersten beiden Ahmadiyya-Moscheen in Hamburg (1957) und Frankfurt (1959) als Die Moschee113 unterstrich diese gewünschte Wahrnehmung: man verstand sich als Adresse für alle Muslime in Deutschland. Dass die Versammlungen auf Deutsch stattfanden und einen intellektuell-apologetischen Charakter hatten, dürfte für muslimische Studierende kein Hinderungsgrund gewesen sein, so dass Beobachter den Zulauf von „islamischen Gläubigen aus asiatischen und teils auf afrikanischen Ländern“ feststellen konnten, „die hier eine gewisse Zeit als Studenten … verbrachten“.114 Dennoch hielt der Zuspruch sich in Grenzen, da die jeweils besondere, eigene kulturelle und religiöse Prägung hier meist nicht gefunden werden konnte. Weitere Möglichkeiten boten spezifischere Gruppen wie der schiitische Moscheeverein in Hamburg, der 1953 durch iranische Kaufleute in enger Abstimmung mit führenden schiitischen Geistlichen gegründet worden war.115 Er konstituierte sich 1962 als Islamisch-Iranische Gemeinde in Hamburg e.V. und sah seine Aufgabe in der Förderung der „Ausübung der sozialen und religiösen Pflichten der in Europa lebenden Muslime“.116 Die schiitische Imam-Ali-Moschee (blaue Moschee) an der Außenalster wurde 1963 eingeweiht. Für manche iranische Studierende wurden „die Moscheen … in den 70er Jahren immer mehr zu Zentren der Kommunikation oppositionell gestimmter Kräfte und der Vermittlung des für sie erforderlichen Informationsstandes“.117 Auch Bildungsmigranten mit sunnitischem Hintergrund entwickelten Anfang der 1960er Jahre erste eigene Strukturen, die Malik Assmann, ein zum Islam konvertierter Deutscher, 1962 in der Zeitschrift Al-Islam (München) so beschrieb: „Unsere islamischen Studentengemeinschaften und Gemeinden sind inzwischen in fast allen Universitätsstädten der Bundesrepublik und in Westberlin an der Arbeit, um den örtlichen Muslimen die Möglichkeit zu brüderlicher Begegnung und 112 Danckwortt, Elite, 1959, 73. Vgl. Yüksel, Reformation des Islams, 1966, 25. 113 So auch die Adresse auf der Zeitschrift Der Islam: „Abdul Latif, Die Moschee, HamburgStellingen“. 114 Flasche, Anspruch und Wirklichkeit, 1976, 38. 115 Vgl. Lemmen, Vereine, 2002, 65. Raeder, Abendland, 1962, 56, nennt das Jahr 1960 für die Grundsteinlegung. 116 Zit. Lemmen, Vereine, 2002, 65. 117 Jannat, Iranische Flüchtlinge, 2005, 57. Auch Lemmen weist darauf hin, dass die Hamburger Moschee „von Anbeginn ihres Bestehens ... enge Kontakte zu schiitischen Gelehrten im Iran unterhalten [hat]. Prominente Vertreter des schiitischen Islams und der heutigen Islamischen Republik waren zeitweilig Vorsitzende und Imame des IZH.“ Lemmen, Vereine, 2002, 66.
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gemeinsamem Gebet zu geben. Die Behörden und Universitäten haben sogar besondere Räume für unsere Brüder bereitgestellt.“118 Ein Faktor dieser Entwicklung waren nach Europa geflohene Muslimbrüder, die die Gründung islamischer Zentren in München und Aachen anstießen.119 Unter dem Einfluss des Muslimbruders Said Ramadan120 bildete sich 1960 in München eine Moscheebau-Kommission e.V.,121 um das „Glaubensbewußtsein der Moslems und die Bereitschaft zum Dienst am Nächsten vertiefen [zu] helfen“.122 Ramadan plante, der Moschee „einen Kindergarten, ein Studentenwohnheim und ein islamisches Kulturhaus“ anzugliedern.123 Aus diesen Anfängen entwickelte sich das Islamische Zentrum München.124 Die Gründung des Islamischen Zentrums in Aachen geht auf die Initiative von Studenten und Akademikern zurück, die aus dem Umfeld der syrischen Muslimbrüder kamen. Sie gründeten im Mai 1960 die Internationale Muslim Studenten Union Aachen mit dem Ziel des Baus einer Moschee, die 1964 fertiggestellt wurde. 1963 war dort die Union muslimischer Studenten-Organisationen als Dachverband muslimischer Studentengemeinschaften in Deutschland gegründet worden.125 Auch deutschstämmige muslimische Konvertiten reihten sich in die Initiativen ein. 1952/53 entstand in Hamburg durch ein Gruppe deutschstämmiger Muslime die Deutsche Muslim-Liga, die sich als „Brücke zwischen Deutschland und der islamischen Welt und den muslimischen Neueinwanderern“ verstand.126 Die Gruppe lehnte sich an den oben erwähnten schiitischen Moscheeverein in Hamburg an.127 Auch in der Ahmadiyya (Lahore)-Moschee in Berlin-Wilmersdorf (siehe oben, B. 2.) sammelte sich in den 1950er Jahren unter Leitung des Deutschen Mohammed Aman Hobohm, der 1938 zum Islam konvertiert war und von manchen als Leitfigur der zersplitterten Gruppe der deutschsprachigen Muslime gesehen wurde,128 wieder eine islamische Gemeinde. 118 Assmann, Mit den Wölfen heulen? in: Al-Islam 4/ 1962, 8, zit. bei Reader, Abendland, 1962, 57. 119 Vgl. Abdullah, Geschichte des Islam, 1981, 117ff; Landmann, Der Islam in der Diaspora, 2005, 560–571. 120 Der Anwalt Said Ramadan (1926–1995) war Wegbegleiter von Sayyid Qutb und in der Muslimbruderschaft für die internationalen Kontakte zuständig. Nach dem Verbot der Muslimbruderschaft in Ägypten und der Aberkennung seiner ägyptischen Staatsbürgerschaft floh Ramadan 1954 zunächst nach Damaskus (bis 1957) und schließlich 1958 ins Exil nach Genf. Vgl. Schultze, Internationalismus, 1990, 109ff.248. 121 Vgl. Lemmen, Vereine, 2002, 61. 122 Zit. Abdullah/Mildenberger, Moslems unter uns, 1974, 18. 123 Raeder, Abendland, 1962, 56, vgl. Abdullah/Mildenberger, Moslems unter uns, 1974, 18. 124 Vgl. Abdullah/Mildenberger, Moslems unter uns, 1974, 18; Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 123; Heimbach, Entwicklung, 2001, 59. Das Zentrum und die Moschee wurden allerdings erst im August 1973 eröffnet. 125 Vgl. Lemmen, Islamische Vereine, 2002, 63. 126 CIBEDO, Islam in Deutschland, www.cibedo.de, Abruf: 11.03.2008. 127 Vgl. Abdullah/Mildenberger, Moslems unter uns, 1974, 20. 128 Ebd. 21. In den 1970er Jahren entstanden im Umfeld des Islamischen Zentrums München durch Ahmad von Denffer (s.VI.D.3.) verstärkte Bemühungen um die Einheit im deutschsprachigen Islam. Ein Ergebnis davon war die Einführung regelmäßiger Treffen deutschspra-
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Islamische Initiative und Präsenz im Migrationskontext wurde jedoch auch von Muslimen selbst sehr unterschiedlich verstanden und wahrgenommen, vor allem im Blick auf mögliche missionarische Zielsetzungen und Ausprägungen. Der deutschstämmige Konvertit Abdul Karim Grimm (1933–2009), der als 21jähriger 1954 in Kamerun zum Islam übergetreten war, sah die Muslimbrüder (Ikhwan-ul-Muslimin) in Deutschland als wichtiges Kontaktnetz für Muslime.129 Grimm schreibt: „Einige dieser Aktivisten hatten sich … nach Europa absetzen können und studierten hier an den Universitäten. Da ich keinen Kontakt zu Muslimen … hatte, konnte man die Ikhwan-ulMuslimin und ihre Vertreter in Deutschland sehr gut gebrauchen, um die Brüder an anderen Orten ausfindig zu machen. Und so erstreckten sich bald meine Kontakte über alle Universitätsstädte in der Bundesrepublik.“130
Mit der Muslimbruderschaft verband Grimm der missionarische „Ehrgeiz … dem Islam in Deutschland … ein Standbein, eine Heimat zu geben“. Im deutlichen Gegensatz dazu wunderte sich der ägyptische muslimische Student und spätere Soziologe Fuad Kandil (geb. 1936) in seiner Studienzeit in Deutschland Ende der 1950er Jahre „über junge muslimische ‚Eiferer‘ in meinem Umkreis, die regelrecht von einem Drang beseelt schienen, ihre nicht-muslimischen Kameraden oder Bekannte ‚recht zu leiten‘, bzw. ihnen ‚die Wahrheit‘ zu verkünden“.131 Die Gründe für diesen Eifer hält Kandil, der für eine „weltoffene ‚islamische Religiosität in der Säkularität‘“ eintritt,132 für nicht „genuin-religiös“. Er stelle vielmehr eine Kompensation sozio-kultureller Probleme dar, die durch die Minderheitensituation noch verstärkt worden seien. So komme es zu einer „Zur Schau-Stellung der eigenen Überzeugung“.133 Die beschriebenen islamischen Entwicklungen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die große Mehrheit der muslimisch geprägten Bildungsmigranten offenbar kaum durch religiösen Aktivismus auffiel. So vermerkte die Stuttgarter Zeitung am 27.2.1962, dass die etwa 8000 muslimischen Studierenden in Deutschland „offenbar in der akuten Gefahr [stehen], sich ihrer Religion zu entfremden und sich ‚völlig kritiklos‘ ihrer europäischen Umwelt anzupassen; von missionarischen Aktivitäten kann kaum die Rede sein. Die Betreuer ihrer – nach christlichem Vorbild so genannten – ‚Studentengemeinden‘ haben alle Mühe, die Studenten an ihre islamischen religiösen Pflichten zu erinnern.“134
129 130 131 132 133 134
chiger Muslime ab 1976, vgl. von Denffer, Islam hier und heute, 1981; von Denffer, Probleme, 1977. Grimm, Islam, 1999. Ebd. Kandil, Kommunikation, 2008, 320/321. Kandil, Muslime, 2002, 29. Kandil, Kommunikation, 2008, 321. Zit. bei Abdullah, Geschichte, 1981, 71.
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D. DIE TÜRKISCHE ARBEITSMIGRATION 1. Entwicklungen und Zahlen im Überblick Neben die Bildungsmigration trat in den 1950er und 1960er Jahren die Arbeitsmigration als weiterer kultureller und religiöser Pluralisierungsfaktor. Um dem Arbeitskräftemangel und Lohnanstieg in der Bundesrepublik abzuhelfen, wurden ab 1955 Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitnehmer geschlossen: 1955 mit Italien, 1960 mit Griechenland und Spanien.135 Auch muslimische Praktikanten und Arbeitnehmer kamen seit Ende der 1950er Jahre nach Deutschland. 1960 befanden sich etwa 2700 türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik, die meisten von ihnen waren Muslime.136 Der eigentliche Ausgangspunkt der muslimisch geprägten Arbeitsmigration ist jedoch das Jahr 1961, in dem mehrere Entwicklungen zusammentrafen: 1. der Bau der deutsch-deutschen Mauer stoppte den bis dahin erfolgten Zufluss von Flüchtenden und Arbeitskräften aus der DDR; 2. die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge traten ins Arbeitsleben ein, während 3. das wirtschaftliche Wachstum – nicht zuletzt aufgrund der schon seit 1955 gezielt betriebenen Ausländerbeschäftigung – weiter zunahm.137 Auf diesem Hintergrund erfolgte am 30.10.1961 das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Weitere Abkommen erfolgten: 1963 mit Marokko, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien. Überspitzt formuliert die Religionsgeschichtlerin Ursula Spuler-Stegemann: „Tatsächlich fängt die Geschichte des Islam in Deutschland … erst mit den Gastarbeitern an, die seit den sechziger Jahren in die damalige Bundesrepublik Deutschland geholt wurden.“ 138 Über die offizielle Verbindungsstelle in Istanbul wurden von 1961 bis 1973 etwa 640 000 türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeworben. Dazu kamen etwa 270 000 weitere in diesem Zeitraum auf legalem Weg eingereiste türkische Arbeitskräfte.139 Zusammen mit illegal oder mit Touristenvisum tätigen Arbeitern, nachgezogenen Familien und in Deutschland geborenen Kindern lebten 1973 etwa 890 000 türkische Staatsangehörige in der Bundesrepublik. Neben Aleviten (etwa 20% der türkischen Arbeitsmigranten) und Angehörigen christlicher Minderheiten (vor allem syrisch-orthodoxe Aramäer sowie christliche Armenier) gehörte die Mehrheit der türkischen Arbeitsmigranten zum sunnitischen Islam.140 Anfänglich waren etwa 5% der Arbeitsmigranten Frauen, bis 1964 wuchs die Zahl auf 10%.141 Inklusive der muslimischen ausländischen Studierenden ging
135 136 137 138 139 140
Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 2001, 208; Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 29. Vgl. Abadan, Studie, 1966, 104, Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 35–47. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 2001, 207–208. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 36. Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 79. Zur religiösen und ethnischen Vielfalt der Türkei vgl. Steinbach, Türkei, 2003, 102ff; Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 208; Bickelhaupt, Orthodoxe Gemeinden, 2011, 51f. 141 Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 77.
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man für das Jahr 1972 von insgesamt 1,2 Millionen muslimischer Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik aus.142 2. Transnationale Hintergründe a) Ausgangssituation und Anwerbevereinbarung 1961–1964 Die türkische Arbeitsmigration stand im Zusammenhang komplexer nationaler und transnationaler Entwicklungen. In der Türkei hatte die Armee aufgrund wirtschaftlicher Probleme und politischer Unruhen im Mai 1960 die Regierung des religionsfreundlichen Adnan Menderes von der Demokrat Parti (DP) durch eine Putsch beendet, Menderes wurde hingerichtet und die DP verboten. Die wirtschaftliche und kulturelle Öffnung des Landes, die neben der vorsichtigen ReIslamisierung unter Menderes eingesetzt hatte, ging jedoch weiter.143 Die im Juli 1961 verabschiedete Verfassung war „ein liberales Dokument, das der regierenden Partei … zahlreiche Kontrollen und Gegenkräfte gegenüberstellte“.144 Bei den Wahlen am 15. Oktober 1961 bildete sich eine Regierungskoalition zwischen der kemalistisch-sozialdemokratisch orientierten Republikanischen Volkspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) und der populistischen AP (Adalet Partisi – Gerechtigkeitspartei), der Nachfolgeorganisation der DP unter Ismet Inönü.145 Erstmals erhielten auch rechtsnationale (MHP) und islamistische Parteien (MSP) über 27% der Stimmen. Eines der Ziele der neuen Regierung bestand in der Stabilisierung der Wirtschaft durch verstärkte staatliche Planung. Um angesichts der Unterbeschäftigung die Entwicklung der Türkei voranzutreiben, wurde „auch an eine vorübergehende Beschäftigung türkischer Arbeitnehmer im Ausland gedacht“,146 wobei man die Bundesrepublik Deutschland in den Blick nahm, die bezüglich einer offiziellen Vereinbarung jedoch zunächst ablehnend reagierte. Außenpolitische Gründe sowie das Interesse der deutschen Industrie an einer geregelten Anwerbung, führten schließlich zum Einlenken der Bundesregierung und dem Abschluss der Vereinbarung im Oktober 1961.147 Die Interpretationen der Arbeitsmigration waren unterschiedlich. Während der türkische Arbeitsminister Ecevit in einer schriftlichen Grußbotschaft an die Gastarbeiter (Juni 1963) die Arbeitsmigration als nationale Bildungsmaßnahme darstellte (diszipliniertes Arbeiten, Erwerb von Wissen und Kennenlernen der Kultur), blieb sie für die Migranten selbst ein „privates Projekt“, bei dem es um das „süße Geld der Ungläubigen“ ging, „das es im Ausland zu verdienen gäbe“.148 142 Vgl. EZW, Materialdienst 35 (23/1972) 360; Abdullah, Moslems unter uns, 1974, 26, der für 1973 „weit über eine Million“ angibt. 143 Vgl. Steinbach, Türkei, 2003, 46. 144 Steinbach, Türkei, 2003, 46. 145 Vgl. ebd. 47. 146 Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 34. 147 Vgl. ebd. 44–52. 148 Ebd. 76–77.
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Für die deutsche Wirtschaft war die Anwerbung ein essentieller Wachstumsfaktor. In einer Neufassung der Anwerbevereinbarung vom 30.9.1964 wurden die Befristung der Arbeitserlaubnis auf zwei Jahre und der Ausschluss des Familiennachzugs fallengelassen.149 b) Gegensätze verstärken sich (1965–1971) In der Türkei gingen indes die politischen Entwicklungen weiter. 1965 erreichte die AP unter Süleyman Demirel die absolute Mehrheit. Demirels kemalistische Politik setzte die von Menderes eingeschlagene Richtung der Hinwendung zur ländlichen Bevölkerung sowie die Förderung der Privatwirtschaft fort.150 Der rasche wirtschaftliche Wandel der 1960er Jahre, die damit verbundenen sozialen Umbrüche und die gleichzeitige konservative Ausrichtung der Regierung führten jedoch zu gesellschaftlichen Spannungen zwischen linken und rechten Kräften, die sich im türkischen Parteienstreit anlässlich der drohenden Entlassung türkischer Gastarbeiter aufgrund der Rezession in Deutschland 1966/1967 spiegelten.151 Der türkische Gewerkschaftsbund Türk-Is warnte davor, 200.000 zurückkehrende türkische Arbeiter reintegrieren zu müssen. Türkische Regierungsvertreter in der Bundesrepublik reagierten empfindlich auf die Entlassungen.152 Umgekehrt verstärkten sich in der deutschen Gesellschaft kritische Perspektiven. Die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt reduzierte „die Selbstverständlichkeit, mit der ‚Wirtschaftswunder‘ und ‚Gastarbeiter‘ bis dahin in Verbindung gebracht worden waren“.153 Vom Arbeitsplatzverlust bedrohte Deutsche begannen die bis dahin akzeptierten Gastarbeiter nun „als unrechtmäßige Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt“ zu betrachten, die man „nach Hause zurückgeschickt sehen“ wollte.154 Dem stand jedoch die mehrheitliche Überzeugung gegenüber, dass die Ausländerbeschäftigung wirtschaftlich und außenpolitisch weiterhin sinnvoll sei. Als sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland wieder entspannte, trat die gesellschaftliche Kritik zurück. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, die im Dezember 1969 die Regierung übernahm, machte es sich zur Aufgabe, eine Atmosphäre des sozialen Friedens und der interkulturellen Akzeptanz zu fördern. Statt von Gastarbeitern, sprach man nun von ausländischen Mitbürgern.155 Die politische Zuständigkeit wurde vom Innenministerium ins Arbeitsministerium verlegt, da es in Zukunft um die berufliche Integration der Ausländer gehen müsse. In der Türkei verschärften sich die politischen Gegensätze zwischen linken und ultranationalistischen Gruppen („Graue Wölfe“). Da Demirel nicht in der La149 150 151 152 153 154 155
Vgl. ebd. 59ff. Vgl. Steinbach, Türkei, 2003, 48. Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 190. Ebd. 200. Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik, 2001, 218–219. Vgl. Hunn, Nachstes Jahr, 2005, 188. Vgl. ebd. 287.
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ge schien, die gewaltsamen Auseinandersetzungen, die den politischen und gesellschaftlichen Alltag prägten, zu beenden, zwang die Armee ihn im März 1971 zum Rücktritt. Die folgende zweijährige Phase „militärisch gelenkter Politik“156 versuchte die Spannungen durch die Einschränkung bisheriger Freiheiten in den Griff zu bekommen. Dies erstreckte sich bis in die türkische Diaspora in der Bundesrepublik, wo man sich bemühte, linksgerichteten Aktivismus und „die Entstehung einer politischen Opposition“ unter den meist konservativ geprägten türkischen Arbeitsmigranten zu verhindern.157 Vertreter der türkischen Regierung warfen dem WDR, der AWO und den Gewerkschaften, die mit türkischen Intellektuellen und Sozialarbeitern zusammenarbeiteten vor, kommunistisch unterwandert zu sein. Das so gesäte Misstrauen gegen gewerkschaftsnahe und integrationsfreundliche Gruppen machte „gerade die religiösen und konservativen Migranten für Dienstleistungsangebote der seit Ende der sechziger Jahre entstehenden islamistischen und nationalistischen Vereine empfänglicher“.158 c) Auf dem Weg zum Anwerbestopp 1972–1973 In der Türkei brachte die Wahl im Oktober 1973 zwei Überraschungen: die Wiederkehr der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP unter Bülent Ecevit, dem ehemaligen Arbeitsminister der Inönü-Koalition (CHP-AP), der als gemäßigter Linker den Kemalismus neu interpretierte, sowie den Einzug der islamischen MSP (Milli Selamet Partisi – Nationale Heilspartei) ins Parlament als drittstärkste Gruppierung, die unter Führung Necmettin Erbakans (1926–2011) die Errichtung einer islamischen Ordnung propagierte. Diese Entwicklungen verstärkten sich noch als die Ecevit-Regierung (CHP-MSP) 1975 zerbrach und an ihre Stelle unter Demirel eine Koalition aus AP, MSP und MHP – die sogenannte „Nationalistische Front“ – trat. 159 Die Jahre der politischen Unruhen in der Türkei zwischen 1969 und 1973 waren zugleich die Jahre der stärksten Zunahme der Arbeitsmigration nach Deutschland, wo unter Willy Brandt der wirtschaftliche Optimismus wieder wuchs.160 Die Zahl der türkischen Arbeitskräfte stieg von 130 000 (1967) auf über 600 000 (1973), womit die türkische zur größten nationalen Gruppe der Gastarbeiter wurde.161 1971 führte man für langjährig beschäftigte Ausländer eine „besondere Arbeitserlaubnis“ (für weitere fünf Jahre) ein. In Teilen der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft kam die Sorge auf, dass die Ausländerbeschäftigung aufgrund der notwendigen gesellschaftliche Integration der Familien (und den damit notwendig werdenden Infrastrukturen) wirtschaftlich nicht mehr effizient sei. Der von Ar156 157 158 159 160 161
Steinbach, Türkei, 2003, 49. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 319. Ebd. 324, kursiv FW. Vgl. Steinbach, Türkei, 2003, 50–51. Vgl. Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik, 2001, 223. Vgl. ebd. 224.
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beitgeberverbänden und der türkischen Regierung162 befürwortete Vorschlag einer erzwungenen „Rotation“ konnte sich nicht durchsetzen. Dennoch schien eine Begrenzung der Ausländerbeschäftigung aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen unausweichlich. Im Januar 1973 wies Bundeskanzler Brandt darauf hin, „daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten“.163 Die sozialen und wirtschaftlichen Argumente führten am 23. November 1973 zum Anwerbestopp für Arbeitsmigranten aus „Nicht-EG-Ländern“.164 Dabei war die gleichzeitige Ölkrise ein verstärkendes Argument, vor allem aber „ein günstiger Anlass, den Zustrom ausländischer Arbeiter ohne große Widerstände von Seiten der Entsendeländer und ohne langwierige Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit über die sozialen Folgen der Maßnahme einzudämmen“.165 In der Türkei und bei türkischen Arbeitsmigranten stieß der Anwerbestopp jedoch auf Unverständnis. Während die Befürchtungen der Türkei vor einer massenhaften Rückwanderung sich bald beruhigten, blieben die Migranten verunsichert. Viele änderten ihre ursprünglichen Pläne einer Rückkehr und strebten nun einen längerfristigen Aufenthalt und den Nachzug der Familien an, da sie befürchteten, dass eine spätere Wiedereinreise nicht mehr möglich sein würde.166 „Sie holten ihre Familien nach, zogen aus den Wohnheimen in (möglichst billige) Mietwohnungen, ihre Sparquote sank, ihr Konsumanteil wurde höher, und die Verbindungen zur Heimat wurden lockerer. … Das Kalkül des Anwerbestops war nicht aufgegangen.“167 3. Islamische Erfahrungen und Strukturen Die Herausbildung islamischer Strukturen in der türkischen Arbeitsmigration ab 1961 stellt gegenüber den Strukturbildungen der Bildungsmigration (siehe oben, C. 4.) eine eigenständige Entwicklung dar. Die vorhandenen islamischen Strukturen konzentrierten sich auf wenige Großstädte und sprachen die neu ankommenden türkischen Migranten wenig an. Öffentlich erkennbare Moscheen gab es Anfang der 1960er Jahre nur in Hamburg, Berlin und Frankfurt (alle Ahmadiyya), ab 1965 auch die schiitische Moschee in Hamburg. Dazu kamen sprachliche, kulturelle, nationale und islamisch-konfessionelle Hürden.168 Im Anschluss an Werner Schiffauer können in der Strukturentwicklung drei Phasen unterschieden werden: 1. die individuelle Phase nach 1961, in der die islamische Praxis im privaten Bereich und in Kleingruppen stattfand und von der deutschen Gesellschaft freund162 Die türkische Regierung sah die dauerhafte Integration türkischer Arbeitsmigranten kritisch, da sie einen Rückgang der Geldüberweisungen ins Heimatland befürchtete. Deshalb war sie auch an einem Familiennachzug nicht interessiert, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 325. 163 Zit. bei Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik, 2001, 228. 164 Ebd. 165 Ebd. 229, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 328f. 166 Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 335. 167 Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik, 2001, 232. 168 Schiitische, sunnitische oder Ahmadiyya-Muslime, vgl. Heimbach, Entwicklung, 2001, 68.
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lich-exotistisch wahrgenommen wurde; 2. die gemeinschaftliche Phase ab 1970, die geprägt war vom Familiennachwuchs, der Bildung freier türkischer Moscheevereine und dem Beginn kritischer gesellschaftlicher Wahrnehmung aufgrund kultureller und wirtschaftlicher Probleme im Zusammenleben; 3. die politische Phase ab 1975, in der die übergreifende islamische Organisationsbildung einer gleichzeitigen religiösen und politischen Segmentierung gegenüberstand; die kritische gesellschaftliche Wahrnehmung verstärkte sich, vor allem durch als integrationsfeindlich wahrgenommene Tendenzen in einigen Koranschulen.169 a) Die individuelle Phase und die Mission der Religionsbeauftragten Von 1961 an richteten türkische Arbeitsmigranten islamische Gebetsräume in Arbeiterwohnheimen ein. Einzelne deutsche Unternehmen bemühten sich, den religiösen Bedürfnissen ihrer Arbeiter entgegenzukommen. Die Essener Steinkohlebergwerke richteten sanitäre Anlagen und Gebetsräume ein und stellten „zwei Vorbeter (Imam) firmenseitig“ ein.170 Der Direktor einer großen Zeche kündigte an, dass in der Produktion auf die beiden großen islamischen Feste, das Zuckerfest (seker bayrami) und das Opferfest (kurban bayrami) Rücksicht genommen werde.171 Selbst die Bundesbahndirektion Hannover richtete Gebetsräume, „zwei rollende Moscheen“,172 für 150 türkische Streckenarbeiter ein. Während Schiffauer feststellt, dass die jungen Arbeiter religiöse Angebote kaum vermissten,173 betont Abdulkadir Polat, Generalsekretär des Verbands Islamischer Kulturzentren, der selbst 1966 als Arbeiter nach Deutschland kam: „Damals hatten unsere Landsleute immer Heimweh nach ihren Frauen, ihren Kindern, ihren Angehörigen, und waren sehr am Gemeindeleben interessiert; sie wollten ihre arbeitsfreie Zeit in der Gemeinde verbringen, weil es ja sonst nichts anderes gab. Aber unsere Funktionäre waren noch nicht in der Lage, die Entwicklung aufzufangen und den Leuten islamischen Glauben und Nationalstolz zu vermitteln.“174
Eine türkische soziologische Umfrage aus dem Jahr 1963 ergab, dass von 500 befragten türkischen Migranten 39% das Fehlen von Moscheen in Deutschland als „äußerst bedauerlich“, weitere 29% „als spürbar“ bezeichneten.175 In der deutschen Gesellschaft wurde die muslimische Prägung der Arbeitsmigranten zu169 170 171 172 173
Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 432ff Zit. ebd. 107. Ebd. 107. Zit. bei Abdullah, Geschichte, 1981, 74. Schiffauer weist darauf hin, dass „in der ländlichen Türkei … die religiöse Praxis eng mit der Lebensphase verknüpft“ und bei jungen Männern eher wenig ausgeprägt war. Schiffauer, Weg, 1993, 470. 174 Zit. bei Gür, Vereinigungen, 1993, 50, kursiv FW. Der türkische Journalist Metin Gür schreibt: „Unsere Landsleute kamen damals mehrheitlich aus armen … ländlichen Regionen … und waren stark religiös geprägt.“, Gür, Vereinigungen, 1993, 16, vgl. zu Polat auch Seidel et al, Politik, 2001, 56. 175 Abadan, Studie [1964], 1966, 117, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 106.
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nächst positiv, mit exotischem Interesse wahrgenommen und gelegentlich sogar selbstkritisch der „Produktionsvergötzung“ in Deutschland gegenübergestellt, die „zu einer beklagenswerten Verdrängung der Religion aus dem Alltag geführt habe“.176 Die Türkei begann ab 1965 Beauftragte der staatlichen Religionsbehörde Diyanet İşerli Reisliği177 nach Deutschland zu entsenden. Bis in die 1970er Jahre wurden etwa zehn offizielle Religionsbeauftragte entsandt, die in Bonn, Berlin, Essen, Köln, Frankfurt, München, Hannover, Hamburg, Stuttgart und Nürnberg „als Mitarbeiter der Arbeitsattachés dienstlich tätig [waren]. Die Geistlichen suchten die Arbeitnehmer in ihren Wohnheimen auf und berieten sie in religiösen Fragen“.178 Als Beauftragte des türkischen Staates sollten die islamischen Funktionäre die Migrantinnen und Migranten jedoch zugleich vor unerwünschter politischer Beeinflussung und kultureller und religiöser Anpassung warnen. Mustafa Sabra Sözeri,179 der 1965 als einer der ersten Religionsbeauftragten nach Deutschland entsandt wurde, warnte seine Landsleute bei Besuchen in Gastarbeiterwohnheimen vor „linken oppositionellen Zeitungen“ und dem türkischsprachigen Programm des WDR. Vom Erlernen der deutschen Sprache riet er ab. Dagegen verteilte er eine 1966 von der türkischen Religionsbehörde herausgegebene Schrift, deren Titel (ins Deutsche übersetzt) lautete: „Antworten auf die religiösen Fragen unserer im Ausland lebenden Arbeiter“. Die Schrift warnte davor, „christliche Sitten“ anzunehmen wie z.B. sich zum Geburtstag Geschenke zu machen oder „mit Leuten am Tisch zu sitzen, die Alkohol konsumieren“.180 Für die Deutschlandbeilage der Zeitung Tercüman verfasste Sözeri die Kolumne „Religion und Welt“ (Din ve Dünya) und forderte die Leser auf, „dafür zu beten, dass die muslimischen Brüder in Deutschland ihre nationale und geistige Gesinnung weiterhin bewahren und nach Möglichkeit sogar noch kräftigen können“.181 Als besondere Gefahr sahen die Religionsbeauftragten die beginnenden Bemühungen christlicher Kirchen und Gruppen unter den Arbeitsmigranten. Dies führte im März 1965 zu einer Beschwerde der türkischen Botschaft beim Auswärtigen Amt.182 Osman Erkmen, Religionsbeauftragter beim türkischen Generalkonsulat in Essen von 1968 bis 1972183 warnte seine Landsleute vor kirchlichen Dia176 Der Rheinische Merkur am 19.6.1964, zit. bei Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 138. 177 Das „Präsidium für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet İşerli Reisliği) war unmittelbar nach Auflösung des Kalifats 1924 gegründet worden, spielte jedoch längere Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Erst 1961 wurde es „als Institution des öffentliches Rechts in die allgemeine Staatsverwaltung übernommen und in …. der neuen Verfassung verankert.“ Binswanger, Türkei, 1991, 217. 178 Gür, Vereinigungen, 1993, 25. 179 Sözeri war Mitglied in Demirels AP und Bruder von Salahaddin Sözeri, dem leitenden türkischen Mitarbeiter der Türk Danis, siehe I.D.4. Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 174. 180 Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 175. 181 Zit. ebd. 176. Obwohl Sözeris Aktivitäten auf den Widerstand stieß – 1967 verbot das Jugendsozialwerk des DRK Sözeri, in den von ihm verwalteten Unterkünften zu predigen – blieb er bis 1970 im Amt, vgl. ebd. 182 Siehe ausführlich unter VI.A.1. 183 Mildenberger, zerrütten, 1974, 301; Gür, Vereinigungen, 1993, 16.
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logbemühungen184 und missionarischen Kaffeetafeln185 gleichermaßen. Sah er doch in beidem „zerstörerische Aktivitäten“.186 Auch ein türkischer Gastarbeiter erklärte Mitte der 1970er Jahre erleichtert: „Bis zu diesem Augenblick habe ich selbst nun fünf Jahre lang, Gott sei gepriesen, an meinem Türkisch-Sein, an meinem Islam, festgehalten.“187 Gleichzeitig beschrieb Erkmen seine Aufgabe auch darin, „Nicht-Muslime, die im Begriff waren, Muslime zu werden … in ihrem Eifer und Glauben [zu] stärken“.188 „Das große Gewicht, das der Islam in Deutschland erlangt [hat]“, sah er auch als Beitrag der türkischen Arbeitsmigration. Darüber hinaus verwies er sogar auf nicht-türkische Zentren des Islam: „Zur Verbreitung des Islam in Deutschland gibt es islamische Gesellschaften in Berlin, München und Aachen. Wenn ihre Aktivitäten auch noch schwach entwickelt sind, so ist dies immerhin ein erster Anfang.“189 b) Die gemeinschaftliche Phase Vor allem das Familienwachstum führte Anfang der 1970er Jahre zu ersten türkischen Moscheegründungen, da die Migranten nun über die religiöse und kulturelle Prägung ihrer Kinder nachdachten.190 Da man damit rechnete, irgendwann in die Türkei zurückzukehren, legten manche Eltern keinen großen Wert auf die Teilnahme ihrer Kinder am deutschen Schulunterricht und griffen „auf alternative Erziehungsangebote zurück“.191 Vor allem die von der Süleyman-Bewegung geprägten Islamischen Kulturzentren (IKZ Köln seit 1973) boten Korankurse an, die gut besucht wurden.192 Mit dem Anwerbestopp von 1973 verstärkte sich diese Entwicklung. Thomas Lemmen beschreibt den Zusammenhang so: „Gab es schon vor dem Jahr 1973 vereinzelt Gebetsstätten für die muslimischen Arbeitsmigranten, so entstanden in den folgenden Jahren an vielen Orten zahlreiche Vereine als Träger von neuen Moscheen. … Die Ursache dafür ist wesentlich darin zu sehen, daß sich die meisten Arbeitsmigranten für einen dauerhaften Verbleib und für den Nachzug ihrer Ehegatten und Familienangehörigen entschieden. Damit war zwangsläufig verbunden, daß sich wichtige Aspekte der Religionsausübung von der Heimat ins Gastland verlagerten und somit neue Relevanz gewannen.“193
Die ersten türkischen Moscheegründungen gingen meist von Privatinitiativen aus, die Vereine bildeten, Gebetsräume anmieteten und als Moscheen ausstatteten.
184 185 186 187 188 189 190 191 192 193
Siehe VI.C.2.a) und b). Siehe IV.C.4.a). Mildenberger, zerrütten, 1974, 301. Zu Erkmen siehe VI.D.1. Zit. bei Schiffauer, Migranten, 1991, 138. Erkmen, Garp Hizmeti, 1974,Übersetzung, 12. Zit. bei Gür, Vereinigungen, 1993, 16. Vgl. Lemmen, Organisationen, 2000, 26. Hunn, Nächstes, 2005, 317. Abdullah, Präsenz, 1978, 14, nannte für das Jahr 1978 die Zahl von 8.300 Schülern. Lemmen, Organisationen, 2000, 26.
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Später wurden Grundstücke für den Bau von Moscheen erworben.194 Oft waren auch Angehörige religiöser Gruppierungen aus der Türkei an den Gründungen beteiligt.195 Entscheidend war jedoch, dass „die Initiative zur Schaffung religiöser Institutionen dem Bedürfnis der Muslime nach der gemeinsamen Ausübung ihrer religiösen Verpflichtungen“ entsprach.196 So formulierte das Gründungsmitglied eines Moscheevereins von 1974: „Als wir das hier gründeten, sagten wir uns: ‚Hier wird es keine Politik … geben, hier werden nur religiöse Dienstleistungen angeboten.‘“197 Das Anliegen, religiöse von politischen Fragen zu trennen, geriet jedoch zunehmend unter Druck.198 c) Die politische Phase Am Beispiel von Augsburg zeigt Werner Schiffauer, dass die auf Privatinitiative beruhende allgemeine Moschee 1974, kurz nach ihrer Gründung, von Mitgliedern der Süleymanlı-Bewegung „durch eine Art Coup übernommen“ worden sei.199 Dies habe „einen Segmentationsprozess in Gang“ gesetzt, in dessen Verlauf in Augsburg fünf weitere Moscheen entstanden. 1978 wurden eine Moschee der türkischen Religionsbehörde Diyanet sowie eine Moschee der „Nationalen Sicht“ (Milli Görüş), der Diaspora-Abteilung der Nationalen Heilspartei (MSP) Erbakans, gegründet. Die Diyanet-Moschee wurde zeitweise von den „Grauen Wölfen“, einer nationalistisch-islamischen Gruppierung dominiert,200 die schließlich ebenfalls eine eigene Moschee gründeten (1987). In der Milli-Görüş-Moschee übernahm zunehmend die Kaplan-Bewegung (Verkündigungsgemeinde), die eine islamische Revolution nach iranischem Vorbild anstrebte, die Vorherrschaft, so dass die ursprüngliche Gruppe der Nationalen Sicht schließlich eine eigene Moschee gründete (1988). Im gleichen Jahr schlossen sich Vertreter der jüngeren Generation zu einer eigenen kleinen Gemeinschaft in der Tradition der Nurcu zusammen. Vier der genannten Gruppen, die Süleymanlı, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG-Nationale Sicht), die Verkündigungsgemeinde von Cemal194 Vgl. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 156. 195 Vgl. Lemmen, Organisationen, 2000, 27. Hier wird vor allem die Süleymanlı-Bruderschaft „als erste islamische Gruppe … [die] sich der religiösen Betreuung türkischer Gastarbeiter an[nahm]“ genannt. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 139. 196 Lemmen, Organisationen, 2000, 27. 197 Zit. bei Schiffauer, Weg, 1993, 470. 198 Islamische Parteien wie die Nationale Heilspartei (MSP) betonten, dass der Islam „keine Trennung von Politik und Religion kennt“, Binswanger, Türkei, 1991, 218. 199 Schiffauer, Weg, 1993, 470. 200 Hierbei handelt es sich um die nationalistische MHP, die in Deutschland ihren Ableger in der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine (ADÜTDF) hatte. Während die Partei den Islam früher als arabischen Fremdkörper ablehnte, entwickelte sie in den 1970er Jahren das Konzept der türkisch-islamischen Synthese: „der Islam wurde als die Religion der Türken in das nationale Konzept der Bewegung integriert.“ Lemmen Islamische Vereine, 2002, 56, vgl. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 123f.
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eddin Kaplan und die Nurcu-Gemeinschaft, zählt Schiffauer zum islamischen Fundamentalismus, da sie „für die Einführung des şeriat, des islamischen Gesetzes in der Türkei eintreten“ und sich dafür einsetzen, „die Gesellschaft an den Islam anzupassen“.201 Dies tun sie auf unterschiedlichen Wegen. Während die Süleyman-Bewegung und die Nurcu mystisch geprägt, im weiteren Sinn ordensmäßig (tariqa) organisiert sind und durch politische Arrangements und Bildung Einfluss nehmen, vertreten Milli Görüş und Kaplan einen rationalen, aktivistischen Islamismus und offene (partei-) politische Einflussnahme. Schiffauer interpretiert diese Umsetzungsstrategien zusätzlich entlang der Kategorien von Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Während die Süleyman-Bewegung (mystisch und verantwortungsethisch) in der Tradition der Derwisch-Orden von einem inneren Kreis über Sympathisanten Einfluss auf die Bildung und Realpolitik zu gewinnen versucht, setzen die Nurcu (mystisch-gesinnungsethisch) auf die Sammlung kleiner Kreise Eingeweihter, die im Stillen Einfluss gewinnen.202 Für eine missionarische Entwicklung islamischer Strukturen im Kontext der türkischen Arbeitsmigration in Deutschland bis Mitte der 1970er Jahre sind vor allem die Süleyman-Bewegung und die Nurculuk von Bedeutung. Süleymanlı-Bewegung Die Süleymanlı-Bewegung steht in der Tradition des Nakschibendi-Ordens,203 eines Derwisch-Ordens, der seit dem 14. Jahrhundert eine sufische Form des Islam vertritt, lehrmäßig-meditativ orientiert ist und ein schweigendes dikr praktiziert (Gottgedenken).204 Die ordensähnliche Struktur und die geistliche Exklusivität205 führte zu einer Unterscheidung von „Binnengruppe“ und dem weiteren Kreis der Sympathisanten. Auf diesem Hintergrund begann die Süleyman-Bewegung als erste türkisch-islamische Gruppierung islamische Strukturen für die Arbeitsmigranten, vor allem für die islamische Unterweisung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland aufzubauen. Am 15. September 1973 wurde das Islamische Kulturzentrum (IKZ) Köln gegründet, das 1980 in Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) umbenannt wurde.206 An der Gründung haben nach Aussage des Verbands „Schüler des Gelehrten Süleyman Hilmi Tunahan Efendi mitgewirkt, … die 201 Schiffauer, Weg, 1993, 471–472. 202 Ebd. 481. Schiffauer beobachtet, dass in der Augsburger Gemeinde die politischen Ziele der Nurcu einem meditativ-persönlichen Interesse gewichen waren, „eher quietistisch als revolutionär“. 203 Der Nakschibendi-Orden (auch Naqschbandi, Naqschbandiyya oder Naksibendiye) wurde im 14. Jahrhundert von Baha-ud-Din Naqschband in Zentralasien gegründet und gewann über die turkmenischen Migrationen Einfluss in Antatolien. Auch in der modernen Türkei spielte der Orden durch den Nakschibendi-Scheich Mehmet Zahid Kotku (1897–1980) in den 1960er Jahre eine Rolle, vgl. Steinbach, Türkei, 2003, 101; Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 137ff. 204 Lemmen, Islamische Vereine, 2002, 52. 205 Nach Gür, Vereinigungen, 1993, 55, werden Nicht-Zugehörige als „Verlorene“ betrachtet. 206 Vgl. Lemmen, Islamische Vereine, 2002, 49ff.; Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 139f.
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den Grundstein für die religiösen Einrichtungen in Deutschland gelegt … haben“.207 Das Kölner Zentrum eröffnete bald eine Reihe von Ablegern. Bereits 1978 gab es „106 Zweigstellen im gesamten Bundesgebiet und 150 Moscheen“. Das national-religiöse Sendungsbewusstsein des von der Süleyman-Bewegung geprägten VIKZ brachte der Vorsitzende des Kölner IKZ, Harun Reşhit Tüylüoğlu, Ende der 1970er Jahre so zum Ausdruck: „Wir sind eine edle und adelige Nation, die die Fahnen des Islam tausend Jahre getragen hat. Wir sind gottseidank [sic!] Mohammedaner. Deshalb werden wir uns nicht wie damals die Polen in Deutschland assimilieren. Wir haben den Glauben und die Absicht, nicht unter die Deutschen zu verschwinden, sondern ihnen das Licht des Islams zu zeigen und ein Beispiel zu geben.“208
Nurculuk-Bewegung Einen wichtigen Einfluss auf die frühen Entwicklungen islamischer Religiosität im Rahmen der türkischen Arbeitsmigration in Deutschland übte auch die Nurculuk-Bewegung (oder kurz: Nurcu) aus, die sich auf den mystischen islamischen Reformer Said Nursi (1873–1960) und sein Hauptwerk Risale-i-Nur (Die Abhandlung vom Licht) bezieht. Die Nurcu hatten sich in den 1920er Jahren in der Türkei ähnlich wie die Süleyman-Bewegung als Gegenbewegung zur kemalistischen Säkularisierung der Republik entwickelt. Said Nursi war der Auffassung, dass „der Niedergang der Türkei nur durch eine Rückbesinnung auf … die eigene vom Islam geprägte Identität aufgehalten werden könne“.209 Den Weg zur Veränderung sah Nursi nicht im offenen politischen Widerstand, sondern in der Bildung und geistlichen Prägung von Schülern und einem evolutionären Reformprozess. Durch sein Hauptwerk, das er als Leitfaden für seine Schüler in einer Zeit der Verbannung (ab 1925) schrieb, wollte er sein Verständnis des Korans „in eine veränderte und moderne islamische Welt hineintragen, ihr religiöse Kraft verleihen und wahre Erleuchtung bringen“.210 Da Nursi und seine Anhänger in der Türkei unter Kemal verfolgt wurden, ließen sie sämtliche Schriften Nursis in Berlin drucken und wieder in die Türkei importieren.211 Das Sendungsbewusstsein der Nurcu richtete sich in erster Linie auf Muslime und wirkte sich ab Ende der 1960er Jahre auch unter den Arbeitsmigranten in Deutschland aus. Das Flugblatt einer Münchener Nurcu-Gruppe, die sich als „Schüler des Lichts in Europa“ (Nur Talebeleri) bezeichneten, rief 1971 auf: „Wir fordern euch auf: Sucht nach dem Büchlein das Lichts und lest es! Und wir rufen euch auf zum Studium des Büchleins des Lichts in der Münchener Medrese, die für euch alle eröffnet wurde, damit ihr dem Bediüzzaman Said Nursi, dem großartigen Exegeten, und dem, was er für den Islam geleistet hat, nacheifert, und das Wesen des erhabenen Klanges erfaßt,
207 208 209 210 211
Zit. bei Lemmen, Islamische Vereine, 2002, 51. Dokumentiert in einer Studie des DGB (1980), zit. bei Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 442. So Abdullah, Geschichte, 1981, 105. Spuler-Stegemann zit. bei Lemmen, Islamische Vereine, 2002, 53. Vgl. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 142.
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I. Muslimische Migration: Konzept und Ereignis den ihr allzeit hört, das Büchlein des Lichts … Kommt her, hört zu, prüft, fragt, studiert. Und dann: denkt nach und entscheidet euch.“212
Das missionarische Anliegen der Nurcu erstreckte sich auch auf die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Mehmet Emin Birinci, ein Mitglied des Leitungskreises, sagte in einem Radio-Interview am 8. Juli 1978 in der Deutschen Welle: „Unsere Arbeit ist umso wichtiger, als man davon ausgehen muß, daß die Anwesenheit des Islam in Deutschland keine vorübergehende Erscheinung ist. … [Wir] sind entschlossen, den Islam im Westen anzubieten. Jeder von uns ist geradezu verpflichtet, möglichen Interessenten den Zugang zum Koran, zum Islam einzuräumen.“213 1978 hatte die Nurcu-Bewegung bereits 24 Lehrhäuser in ganz Deutschland, die Zentrale „Medrese-i-Nuriye“ befand sich in Köln, wo 1979 der Dachverband Jama‘at un-Nur e.V. (Gemeinschaft des Lichts) gegründet wurde.214 Die Türkisch-Islamische Union (DITIB) 1984 Auch wenn die Entwicklungen nach 1980 jenseits des hier untersuchten Zeitraums liegen, sollte erwähnt werden, dass die bis dahin sporadischen Bemühungen der türkischen Religionsbehörde um die Arbeitsmigranten im Juli 1984 in die Gründung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (Diyanet Isleri Türk-Islam Birligi, kurz: DITIB) mündeten.215 Einige der bisher zur VIKZ gehörigen Gemeinden wechselten nun zur DITIB, doch auch der umgekehrte Vorgang ließ sich beobachten. Insgesamt ging die Gründung der DITIB zu Lasten der bisherigen Verbände wie der VIKZ.216 Ein Grund für das schnelle Wachstum der DITIB wird auch darin gesehen, dass zur Union gehörige Moscheegemeinden für fünf bis sechs Jahre einen in der Türkei ausgebildeten und bezahlten Imam erhielten, der als Angestellter des türkischen Staates direkt dem türkischen Konsulat unterstellt ist.217 Bis 1997 entstanden über 700 Ortsvereine mit entsprechendem Umfeld, so dass Spuler-Stegemann zu diesem Zeitpunkt davon ausging, „daß etwa die Hälfte aller türkischen Muslime allein von DITIB repräsentiert wird“. Die Türkisch-Islamische Union wurde damit zum größten islamischen Dachverband in Deutschland, der VIKZ nahm den zweiten Platz ein. 218 212 Zit. bei Gür, Vereinigungen, 1993, 79–80. 213 Zit. bei Abdullah, Geschichte, 1981, 107. 214 Seit Mitte der 1990 Jahre wurde Fethulllah Gülen zur bekanntesten Persönlichkeit im Umfeld der Nurcu-Bewegung und hat eine eigene Anhängerschaft (Fethullaci) und religiöse Infrastruktur aufgebaut, vgl. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 143. Seidel, Politik, 2001,75. 215 Die DITIB wurde zuerst 1982 als Berliner Regionalverband gegründet, vgl. Spuler-Stegemann, 1998, 111. Obwohl ihre Bezeichnung sie der türkischen Religionsbehörde zuordnet (vgl. Lemmen, Vereine, 2002, 34), legt die DITIB selbst „Wert darauf, keine Dependence der Diyanet in Ankara zu sein, ist jedoch stolz auf die gute Zusammenarbeit“. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 112. 216 Vgl. Lemmen, Vereine, 2002, 34ff; Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 111ff. 217 Vgl. Lemmen, Vereine, 2002, 36. 218 Vgl. Spuler-Stegemann, Muslime, 1998, 111ff.
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Obwohl die dargestellten Bewegungen religiöse Bedürfnisse der muslimischen Arbeitsmigranten aufgriffen, waren viele Migranten nicht aktiv in diesen Zusammenhängen engagiert, sondern konzentrierten sich auf berufliche und private Herausforderungen. Zumindest meinte die Zeitung Die Welt dies im August 1973 im Blick auf die türkischen Migranten in Berlin feststellen zu können: „Strenggläubige Moslems zumindest scheinen die wenigsten ... zu sein.“219 4. Gesellschaftliche Begleitung: Türk-Daniş Zur Beratung und sozialen Förderung der Arbeitsmigranten suchte die Bundesregierung die Mitarbeit der Kirchen und Wohlfahrtsverbände.220 Während die Kirchen die Betreuung der griechischen, italienischen und spanischen Arbeitsmigranten übernahmen,221 erklärte sich die religiös neutrale Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Mai 1962 damit einverstanden, „die Beratung und Förderung türkischer Arbeitnehmer“ zu übernehmen.222 Dabei betonte die AWO, dass man die „Aufteilung nach Nationen“ zwar aus praktischen Gründen begrüße, die „Formulierung, nach der die konfessionellen Verbände die Arbeiter christlichen Glaubens betreuen, während die Arbeiterwohlfahrt sich ausschließlich der Mohammedaner annimmt“ aber ablehne: „Unsere tolerante Haltung lässt uns nach Bekenntnissen in Glaubensfragen auch bei den ausländischen Arbeitern nicht fragen, wenngleich sie in der Praxis respektiert werden. Wir sehen keine Anlass, von diesem Grundsatz abzugehen.“223 Als grundlegenden Schritt gründete die AWO Anfang Juni 1962 in Bonn die „Zentralstelle für Beratung und Förderung türkischer Arbeitnehmer“, auf Türkisch kurz Türk-Daniş (= Türkische Beratung, hier abgekürzt TD). Da keine türkischsprachigen, ausgebildeten Sozialarbeiter zur Verfügung standen, rekrutierte die AWO die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für TD unter Türken, die schon länger in Deutschland lebten, gut Deutsch sprachen und von ihren beruflichen Erfahrungen her geeignet waren, vor allem Lehrer und Arbeitnehmer mit gewerkschaftlicher Erfahrung.224 Leiter der Zentralstelle in Köln wurde der türkische Wirt-
219 Die Welt, 28.8.1973, zit. bei Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 298. 220 Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 146. 221 Im Juli 1960 fand im Kirchlichen Außenamt, Frankfurt, ein Gespräch statt, „bei dem die Frage der seelsorgerlichen Betreuung ausländischer Arbeiter an die Hauptgeschäftsstelle der Diakonie herangetragen wurde. Hier kam es offenbar zur formlosen mündlichen Vereinbarung, wonach die Wohlfahrtsverbände … begannen, die Ausländergruppen aufzuteilen: Griechen sollten von der Diakonie, Spanier und Italiener von der Caritas betreut werden.“ Kaminsky, Integration der Fremden, 2007, 236 und Fußnote 49. Die kirchliche Diakonie spielte also in der Betreuung der türkischen Arbeitnehmer zunächst keine offizielle Rolle, siehe jedoch Kapitel IV. am Anfang sowie IV.B.1. 222 AWO, Stellungnahmen, 1979, 8, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005,146ff. 223 Haar, Soziale Betreuung, 1965, 8. 224 Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 39f. 148. Offiziell hatte die Türkei bei der Besetzung der Stellen kein Mitspracherecht, es gab jedoch eine informelle Absprache zwischen der türki-
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schaftswissenschaftler Salahaddin Sözeri.225 Ausgehend von Köln und Stuttgart entwickelte sich nun ein Netz von Beratungsstellen: 1965 gab es 21, 1967 bereits 34 TD-Büros in allen größeren Städten. In Ballungsgebieten konnte der Bedarf jedoch kaum gedeckt werden. So standen beispielsweise für die rund 4000 im Rain-Main-Gebiet lebenden Türken im Januar 1968 nur zwei Berater zur Verfügung, die bis nach Gießen und Koblenz hin tätig waren. Die Ziele der TD orientierten sich am „Gedanken, dass der Aufenthalt der ausländischen Arbeitnehmer als Entwicklungshilfe für die Entsendeländer zu begreifen sei“.226 Richard Haar, bei der AWO für den Bereich der Ausländerarbeit zuständig, betonte, dass man in der Selbstbeschreibung der TD den Begriff der „Förderung“ bewusst gewählt habe, „nicht nur … um das unzeitgemäße und nicht ins Türkische zu übersetzende Wort der Betreuung zu umgehen. Von Anfang an ging es uns darum, in die soziale Arbeit auch die berufliche Förderung … mit einzubeziehen.“ 227 In türkischer Perspektive, zumindest vertreten durch Sözeri als Leiter der TD und andere türkische Mitarbeiter, sollte die TD ihren Beitrag dazu leisten, aus der Türkei einen modernen, weltoffenen Industriestaat zu machen.228 Die vorrangige Aufgabe der TD bestand in der Beratung bei Problemen des Migrationsalltags: bei Schwierigkeiten beruflicher, rechtlicher, privater Art, Hilfe im Umgang mit Behörden, Banken und Versicherungen sowie Übersetzungshilfe. Um dem Heimweh entgegenzuwirken, organisierte man Feiern anlässlich islamischer und nationaler Feiertage. Es wurden Freizeitmöglichkeiten, sogenannte Türkenzentren (meist im Gebäude der Beratungsstelle) eingerichtet,229 die Ausgangspunkte für die Gründung von Musik-, Folklore- und Sportgruppen wurden. Ein wichtiges Anliegen Sözeris war die Bildung türkischer Arbeitnehmervereine. Im September 1962 lud der erste, in Köln gegründete Verein zu einer Großveranstaltung ein, an der neben 500 türkischen Arbeitnehmern auch deutsche Vertreter aus der Arbeits- und Wirtschaftwelt teil nahmen, so dass kulturelle Beiträge und Anliegen der Migranten ein öffentliches Forum erhielten. 1966 gab es bereits 60 Vereine, die mit 20 000 Mitgliedern zwar nur etwa 12% der türkischen Arbeitnehmer repräsentierten, aber immerhin zu einer ernsthaften Alternative „zum Freizeittreffpunkt Nr. 1 … den Bahnhöfen“ wurden.230
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226 227 228
229 230
schen Botschaft und der AWO, dass in einer Probezeit von sechs Monaten Einwände möglich waren, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 169–170. Sözeri hatte 1954 bei dem Kieler Wirtschaftswissenschaftler Fritz Baade promoviert und war von 1954–59 Mitarbeiter am Kieler Weltwirtschaftsinstitut. Danach war er bis 1962 bei den Ford-Werken in Köln für die türkischen Arbeitnehmer zuständig, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 39f. 147. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 149. Haar, Soziale Betreuung, 1965, 8. A. Sait Yüksel, Mitarbeiter der AWO und „liberaler Kemalist“, hoffte, darauf, dass „sich die Träume Atatürks bewahrheiten – die Türkei wird ein moderner Industriestaat sein“, wenn die Arbeitsmigranten „morgen wieder in die Türkei zurückkehren, wenn dann eines Tages von ihnen erbaute Fabriken ihre Arbeit auf türkischem Boden beginnen“, zit. bei Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 150–151. Vgl. ebd. 148. Ebd. 152.
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Im Sommer 1964 trat Sözeri als Leiter der TD zurück, ihm folgte Seyfi Özgen, der weniger auf die Selbstorganisation der Arbeitnehmer, dafür verstärkt auf die türkisch-deutsche, kulturelle Mittlerfunktion der TD setzte. Dabei verfolgten er und die AWO231 ein doppeltes Ziel: einerseits die „Anpassung … an das deutsche Sozial- und Wirtschaftsleben“ und die Belebung der traditionellen deutschtürkischen Freundschaft,232 andererseits die Erhaltung der „Rückkehrfähigkeit“ der Arbeitsmigranten durch die Pflege der türkischen Kultur und Sprache.233 Aufgrund der „konfessionellen Ungebundenheit der AWO“ und der überwiegend „säkularen Orientierung ihrer türkischen Mitarbeiter“ wurden die religiösen Anliegen der Arbeitsmigranten „im Rahmen der von Türk-Daniş geleisteten Arbeit kaum berücksichtigt“.234 Dies trug zu der in Abschnitt D. 3. beschriebenen Entwicklung türkischer islamischer Strukturen im Migrationskontext in Deutschland bei. Gleichzeitig zwang die zwischen 1968 und 1973 deutlich verstärkte Anwerbung und Zuwanderung türkischer Arbeitskräfte die AWO bald dazu, sich auf die „eigentlichen primären Eingliederungsbemühungen“ zu konzentrieren.235 Für die missionarische Begegnung zwischen Christen und Muslimen in den 1950er bis 1970er Jahren spielten jedoch nicht nur die beschriebenen Entwicklungen der Bildungs- und Arbeitsmigration und die damit verbundenen Ausprägungen islamischer Strukturen und Perspektiven im Migrationskontext eine wichtige Rolle, sondern auch die Entwicklung der missionstheologischen Diskussion zur christlichen Islambegegnung im 20. Jahrhundert. Dieser Entwicklung widmet sich das folgende Kapitel.
231 Richard Haar (AWO) betonte als „vordringliche Aufgabe“ der Berater „die Arbeitnehmer von der Wichtigkeit zu überzeugen, so schnell wie möglich mit Sprachen, Sitten und Gebräuchen unseres Landes vertraut zu werden“. Haar, Soziale Betreuung, 1965, 9. 232 Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 151. 233 AWO, 25 Jahre, 1987, 22. 234 Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 155. 235 Ebd. 305.
II. MISSIONSTHEOLOGISCHE MODELLE DER ISLAMBEGEGNUNG IM INTERNATIONALEN KONTEXT Die theologischen Ansätze zur Begegnung mit muslimischen Migranten in der Bundesrepublik in den 1950er bis 1970er Jahren standen in engem Zusammenhang mit der internationalen missionstheologischen Diskussion zur christlichen Islammission. Obwohl in der Begegnungsarbeit in Deutschland vor allem die Entwicklungen nach 1945 wirksam wurden, blieben auch Entwürfe der 1920er und 1930er Jahre einflussreich, wie beispielsweise die Perspektiven Samuel M. Zwemers oder Hendrik Kraemers für Willi Höpfner und die Arbeit des Orientdienstes. Um diese größeren Zusammenhänge angemessen in den Blick zu bekommen, beginnt die folgende Darstellung bereits Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei werden die Entwicklungen in fünf Abschnitten jeweils unter einem inhaltlich-historischen Fokus zusammengefasst, der als maßgeblich für die jeweilige Epoche verstanden wird, auch wenn die Entwicklungen in sich recht verschieden und auch gegensätzlich geprägt waren.1 Unter dem Begriff des (1) sympathetic approach2 werden die unterschiedlichen islambezogenen missionstheologischen Ansätze im spätkolonialen Kontext beschrieben, wie sie auf den Islamkonferenzen des Internationalen Missionsrats (IMR) 1924, der Weltmissionskonferenz des IMR in Jerusalem 1928 und in der konstruktiven Spannung zwischen Zwemers umfassenden Islam-Studien, einfühlsamer Interpretation bei Gairdner und Massignon sowie ganzheitlichen diakonischen und bildungsorientierten Programmen zum Ausdruck kamen. In den 1930er Jahren setzte sich angesichts postkolonialer Umbrüche und des Einflusses der Theologie Karl Barths der vor allem von Hendrik Kraemer vertretene (2) evangelistic approach3 durch, der die zeugnishafte Verkündigung in den Mittelpunkt interreligiöser Mission rückte, gefolgt vom (3) dialogischen Ansatz Kenneth A. Craggs, der das christliche Zeugnis in den Kontext der interreligiösen Suche nach Gemeinsamkeiten und Verstehensbrücken stellte. In diesen Zusammenhang werden auch die Islamperspektiven des 2. Vatikanischen Konzils sowie Willem Bijlefelds in den 1960er Jahren gestellt. Diese Bemühungen stellen eine der Wurzeln der (4) Dialogaktivitäten des ÖRK dar, die Anfang der 1970er Jahre um eine Er1
2 3
Eine Gesamtdarstellung zur christlichen Missionstheologie der Islambegegnung im 20. Jahrhundert liegt bisher nicht vor, vgl. jedoch die monographischen Studien wesentlicher Entwicklungen und Aspekte bei Vander Werff, Mission to Muslims, 1977; Hock, Islam im Spiegel, 1986; Sperber, Christians and Muslims, 2000; Schlorff, Models, 2006. Kürzere Überblicke bieten Moubarac/Harpigny, Islam, 1976; Kerr, Islamic Studies, 2002; Görrig/Schindehütte, Geschwister, 2008. Zum Begriff vgl. Mott, Outlook, 1924, 331; Hock, Spiegel, 1986, 76–78. Zum Begriff vgl. Kraemer, Message, 1938, 302 (Botschaft, 1940, 269f); Hallencreutz, New Approaches, 1969, 23ff, Vander Werff, Mission, 1977, 288.
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neuerung des christlichen Missionsverständnisses im christlich-islamischen Dialog als gegenseitiges Zeugnis rangen. Parallel und in kritischer Perspektive dazu entfaltete sich (5) die weniger religions- als kulturbezogene und evangelikal geprägte kontextuelle Islammissiologie in der Lausanner Bewegung, die sowohl bei Zwemer als auch bei Cragg anknüpfte. Diese Entwürfe sollen auf ihr Islambild und ihr Verständnis der Islammission, vor allem im Blick auf die Soteriologie, befragt werden. A. DER SYMPATHETIC APPROACH IM SPÄTKOLONIALEN KONTEXT Anfang des 20. Jahrhunderts stiegen die Hoffnungen der westlichen christlichen Missionen auf die Gewinnung der muslimischen Welt für den christlichen Glauben. Das Osmanische Reich hatte seine politische Machtstellung weitgehend verloren und sah in seinem Zentrum (angesichts der Revolution der national ausgerichteten Jungtürken 1908) unsicheren Zeiten entgegen. Nicht nur in Anatolien, auch in anderen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas schien der Islam als integrative religiöse, kulturelle und politische Kraft zunehmend in eine Krise zu geraten. Diese Entwicklung verstärkte sich nach dem Ende des 1. Weltkriegs (1914–1918). Doch auch das religiöse und missionarische Selbstbewusstsein der kontinental-europäischen Kirchen, vor allem im deutschsprachigen Raum, war nach dem 1. Weltkrieg tief erschüttert (s. II.B.3.). Im Unterschied dazu war man in den angelsächsischen Missionen und Kirchen optimistisch und sah neue Chancen für die Islammission. Diese optimistische Perspektive war verbunden mit dem Wunsch, durch einen kulturell und religiös einfühlsamen und ganzheitlichen Ansatz, den sympathetic approach,4 Muslimen die christliche Botschaft angemessener und verständlicher zu vermitteln. 1. Samuel M. Zwemer Der protestantische Ansatz der Islammission war in der spätkolonialen Phase bis 1930 stark von den Perspektiven des reformierten amerikanischen Missionsgelehrten Samuel Marinus Zwemer (1867–1952) geprägt.5 Nach seiner Missionstätigkeit in Basra und Kuwait (1888–1912) wurde Zwemer 1912 von der United Presbyterian Mission (Amerikanische Mission) nach Kairo gerufen, von wo aus er bis 1928 umfangreiche literarische und ökumenische Aktivitäten entfaltete. Kurz zuvor (1911) hatte Zwemer die Zeitschrift The Moslem World initiiert, die zum führenden Organ missiologischer Islamforschung im 20. Jahrhundert werden soll4
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Zum Begriff vgl. Mott, Outlook, 1924, 331; Hock, Spiegel, 1986, 76–78. Das Konzept wird hier nicht im engeren Sinne eines religionstheologischen Inklusivismus oder der FulfillmentTheology verwendet, schließt diese Perspektiven aber zum Teil ein. Zu Biographie und Werk Zwemers vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 224ff; Nickel, Zwemer, 2005; Kidd, American Christians and Islam, 2009, 58ff.
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te. Zusammen mit dem anglikanischen Missionar und Literaten W. Temple Gairdner baute Zwemer die School of Oriental Studies als Sprach- und Kulturschule für angehende Missionare an der Amerikanischen Universität in Kairo auf, entwickelte die Nile Mission Press als Literaturzentrale weiter und knüpfte die Fäden ökumenischer Zusammenarbeit im Inter-Mission Council, einem der Vorläufer des späteren Near East Christian Council (NEEC). 1929 wurde Zwemer als Professor für Religionsgeschichte und christliche Mission ans Princeton Theological Seminary in die USA berufen, von wo aus er als Redner, Schriftsteller und Herausgeber der The Moslem World weiterhin wirkte. Zwemers Sicht des Islam war einer gewissen Wandlung unterworfen. Bis in die ersten Jahre seiner Zeit in Kairo war er stärker von der im 19. Jahrhundert verwurzelten Kontrovers-Haltung geprägt, die in religiös-zivilisatorischer Perspektive Christentum und Islam als Gesamtsysteme einander gegenüberstellte. In Kairo wandelte sich Zwemers Haltung zum Islam in Richtung des sympathetic approach, wobei Elemente dieser Sicht auch vorher schon vorhanden waren.6 Zwemer interpretierte den Islam religionsgeschichtlich als Ergebnis präislamischer synkretistischer Entwicklungen auf der arabischen Halbinsel. Die „time of ignorance“ sei eine Zeit des Chaos gewesen, die auf einen religiösen starken Mann gewartet habe.7 Auf diesem Hintergrund habe Mohammed als kreativer Religionsstifter vorislamisch-arabische, jüdische und christliche Elemente zum monotheistischen Islam gestaltet: „Islam is a composite religion.“8 Im Monotheismus sieht Zwemer denn auch die Stärke des Islam „in its tremendous and fanatical grasp on the one great truth – Monotheism“.9 Doch Mohammeds Gottesbild sei deistisch. Zwar habe er Allahs Einheit und Größe zutreffend aus der natürlichen Offenbarung abgeleitet, die Liebe und Heiligkeit Gottes, die die Bibel zeige, habe er jedoch nicht erfasst.10 In diesem Sinn zeichne der Koran sich eher durch seine Auslassungen aus. Der Islam reduziere Allah auf die Kategorie des Willens: Allah sei absolut und einzig und verfüge das Schicksal aller Dinge nach der Willkür seiner Souveränität, die weder durch das biblische Verständnis des himmlischen Vaters noch durch die dort offenbarten Heilsziele Gottes abgemildert würde: „He is a despot, an Oriental despot, … He is not bound by any standard of justice.“11 Das Kreuz Christi sah Zwemer als „missing link“ im islamischen Glaubensbekenntnis, da hier die Gerechtigkeit und Menschenliebe Gottes zusammengebracht würden, so dass Menschen Versöhnung und wahre Bruderschaft fänden.12 In seinem Buch The Moslem Christ (1912) näherte sich Zwemer dem sympathetic approach als anknüpfendem Ansatz. Er schrieb „a life of Christ in the words of the Koran only“.13 In der koranischen Christologie fand Zwemer wertvolle 6 7 8 9 10 11 12 13
Vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 224ff., Hock, Spiegel, 1986, 66. Zwemer, Arabia: The Cradle of Islam (1900) zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 237. Ebd. Zwemer, The Moslem Doctrine of God (1905) zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 239. Vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 240. Zwemer, Arabia: The Cradle of Islam (1900) zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 240. Zwemer, The Moslem Doctrine of God (1905) zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 240. Zwemer, Moslem Christ, 1912, 43.
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Fragmente des neutestamentlichen Jesusbildes. Der Koran lasse offen, ob Jesus gestorben sei. Dennoch bleibe Christus im Koran und im Denken des Islam immer im Schatten Mohammads. Er hielt fest: „The general idea of His life, as we have gathered it from many Moslem sources, is, after all, vague, shadowy, and not at all clearly outlined in the mind of Moslems.“14 Besonders scharf urteilte Zwemer über die spätere islamische Tradition, in der Mohammed die Rolle Christi übernehme: „Whether the title of Messiah is given him or not, Mohammed is for all practical purposes the Moslem Christ. Islam is indeed the only anti-Christian religion. This world faith joins issue with everything that is vital in the Christian religion, because it joins issue in its attitude toward the Christ.“15 Trotz dieses kritischen theologischen Urteils verstärkte sich Zwemers Annäherung an einen sympathetic approach auf der zwischenmenschlichen und geistlichen Ebene. Er sympathisierte mit der Kritik junger muslimischer Intellektueller gegen starre Traditionen und entdeckt darin Zeichen der Spiritualisierung in der Tradition Abu Hamid al-Ghazalis (1058–1111), des aus Persien stammenden sufisch geprägten Erneuerers des sunnitischen Islam.16 In Zwemers Studie zu alGhazali17 wurde eine Haltung deutlich, die ihn von „our Muslim brethren“ sprechen ließ.18 Er gestand dem Islam einen besonderen Platz als „prodigal son … among the non-Christian religions“ zu, dem der himmlische Vater entgegenlaufe.19 In al-Ghazalis Werk sah Zwemer ein Sehnen nach der Begegnung mit Gott, das nur in Christus erfüllt werden könne: „so near and yet so far from the Kingdom, so eager to enter and yet always groping for the doorway.“ 20 Auf diesem Hintergrund widmete sich Zwemer verstärkt der empirischen Erforschung des Islam.21 Zwemer „mapped and charted Muslim societies from Africa to China“22 und legte damit den Grund einer kulturanthropologisch ausgerichteten missiologischen Islamforschung.23 Er betonte, dass das Evangelium sich nicht an religiöse Systeme, sondern an Menschen wende: „Preach to the Moslem, not as a Moslem, but as a man – as a sinner in the need of a Saviour.“24 Zwemers Forschungen schlugen sich in seinen Studien zum Volksislam The Influence of Animism on Islam (1920) und Studies in Popular Islam (1939) nieder. Hier fand er die eigentliche Lebensreligion großer Teile der muslimischen Bevölkerung: „The religion of the common people from Tangier to Teheran is mixed with hundreds of superstitions … which … still bind mind and heart with constant fear of de14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Ebd. 56. Ebd. 157. Zwemer, The Disintegration of Islam (1915) zit. in: Vander Werff, Mission, 1977, 243. Zwemer, A Moslem Seeker after God: Showing Islam at its Best in the Life and Teaching of al-Ghazali, New York 1921. Zit. in: Vander Werff, Mission, 1977, 236. Zwemer, A Moslem Seeker (1915) zit. in: Vander Werff, Mission, 1977, 246. Ebd. Vander Werff, Mission, 1977, 235. Kerr, Islamic Studies, 2002, 37. Vgl. ebd. Zit. in: Vander Werff, Mission, 1977, 250.
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mons.“25 Im Volksislam habe die christliche Mission „mit Männern und Frauen zu tun, die nach dem Licht tasten“.26 Zwemers grundlegende theologische Sicht des Islam als Gesetzesreligion blieb davon jedoch unverändert.27 Ethisch und gesellschaftlich sah er die Ergebnisse des Islam als ambivalent. Dies kam in seiner kritischen Studie The Law of Apostasy in Islam (1924) zum Ausdruck. Doch obwohl ethische Haltungen für Zwemer ein gültiges Kriterium interreligiöser Vergleiche darstellten, blieb die Glaubensperspektive der entscheidende Maßstab: „a Christian can only judge other religions by the standard of the Gospel.“28 Dieser offenbarungstheologische Maßstab werde schließlich vom Islam selber angelegt, der sich als Korrektur der christlichen Offenbarung verstehe: „We accept therefore Islam’s challenge.“29 Im Zentrum von Zwemers Missionsverständnis verbanden sich Empathie und Evangelium: „a loving and yet bold presentation … of Jesus Christ.“30 Dies, so hoffte er, werde keinen Muslim abstoßen. Seine Botschaft an Muslime war die Versöhnung mit Gott durch Christus: „the very nature of Christianity … consists in its ... belief in Jesus Christ, the son of God, …, who died on the cross for our sins.“31 Dem 1932 erschienenen Entwurf William Hockings Re-Thinking Missions setze er darum programmatisch Thinking Missions with Christ (1934) entgegen.32 2. William H. Temple Gairdner Der anglikanische Theologe und Missionar William H. Temple Gairdner (1873– 1928), der von 1899 bis zu seinem Tod mit der Church Missionary Society (CMS) in Kairo arbeitete,33 war der feinsinnigere Zeitgenosse und Kollege Zwemers, stand ihm aber theologisch nahe. Gairdners Schwerpunkt lag in der linguistischen, spirituellen und ästhetischen Begegnung mit dem Islam und der aufstrebenden jungen Intelligentsia in Ägypten. Von 1905 an gab er die zweisprachige Zeitschrift Orient and Occident heraus, die mit Bibelauszügen, evangelistischen Aufsätzen und Kommentaren zum Zeitgeschehen in Arabisch und Englisch über 3000 regelmäßige Abonnenten erreichte.34 Gairdners evangelistischer Ansatz war von 25 26 27 28
29 30 31 32 33 34
Zwemer, Animism (1920) zit. in: Vander Werff, Mission, 1977, 244. Ebd., übers. FW. Vgl. Kerr, Islamic Studies, 2002, 37. Zwemer, The Moslem Doctrine of God (1905) zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 239. Klaus Hocks Urteil, dass Zwemer die „geschichtliche Gestalt des abendländischen Christentums“ zum Maßstab seiner Sicht von Islam und Mission erhoben habe und von einer „antiislamischen Kreuzzugsmentalität“ geprägt gewesen sei (Spiegel, 1986, 67–68), scheint hier zu einseitig. Zwemer, The Moslem Doctrine of God (1905) zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 239, vgl. Nickel, Zwemer, 2005. Zwemer, The Moslem Christ (1912) bei Vander Werff, Mission, 1977, 250. Vander Werff, Mission, 1977, 256. Ebd. 257. Zu Hocking siehe unten II.B.1. Vgl. ebd. 187–199; Troeger, Alexandrien, 2013, 139–140. Vgl. C. Schirrmacher, Islam II, 1994, 344.
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der Apologetik bestimmt – zunächst stärker von polemischen Einzelwiderlegungen, dann zunehmend irenisch, differenziert und anknüpfend.35 Gairdner dachte im Rahmen christozentrischer, geistlicher Kontinuität, sprach von islamischen Werten und betonte die Einzigartigkeit von Gottes Heilshandeln in Christus: „During his whole ministry, Gairdner held, that it was only in Jesus Christ that man can enter into a right relationship with God and experience the full life for which he was created.“36 In der ersten Ausgabe von Orient und Occident thematisierte Gairdner die „Essentiality of the Cross“ (1905) gegenüber einer allgemeinen monotheistisch-ethischen Religiosität. Erst das Sterben Jesu bringe die Frucht von „morality and ethics“. Das Kreuz sei von den Jüngern zunächst abgelehnt, aber schließlich als „manifestation of divine energy“ verstanden worden: „a glorified renewal of life and power … The dynamo which created and made available a spiritual power that gave to ‚monotheism‘ a new significance and transformed ‚morality and ethics‘ from a teaching … into a life.“37 Dieser Ansatz prägte Gairdners Vorträge und Gesprächsrunden mit äyptischen Studenten sowie seine apologetische Literatur bis hin zu den evangelistischen Dramen, die er schrieb.38 Seine Zielgruppe war die bürgerliche Schicht der Efendis,39 die sich zwischen traditionellem Islam und westlicher Bildung hin- und hergerissen sahen. Obwohl Gairdner den Ansatz ganzheitlich-diakonischer Mission (comprehensive approach) befürwortete, war es ihm ein Anliegen, dass die Kirche sich nicht in medizinischen und Bildungsprojekten erschöpfte, sondern „presence and proclamation“ zuzusammenhielt.40 Die Forderung des niederländischen Orientalisten Snouck Hurgronje, die christliche Bekehrungsintention im Blick auf Muslime aufzugeben, lehnte Gairdner ab.41 Wie für Zwemer war auch für Gairdner die Begegnung mit den Werken Abu Hamid al-Ghazalis prägend.42 Seine 1924 veröffentlichte Übersetzung der mystisch orientierten Exegese al-Ghazalis zu Koranversen, die Allah als Licht beschreiben (Mishkat Al-Anwar), nannte Gairdner eine Art Bekehrungserfahrung „in the sense that it turned him from a polemical to a spiritually searching approach to Islam“.43 Doch gerade das Studium von al-Ghazalis Mishkat Al-Anwar überzeugte Gairdner davon, dass der Islam keine Antwort auf die Frage habe, wie Gott in Kontakt mit der Welt kommen könne, und bestärkte ihn „to spend his time on the proclamation of God’s bridging act in Christ“.44 In dieser missionarischen Perspektive muss auch Gairdners Betonung der Kontinuität und der Werte des Islam in seinem Vorbereitungspapier „Christianity and Islam“ für die Weltmissionskon35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 204–205. Ebd. 201. Zit. ebd. Eine Liste seiner Dramen findet sich ebd. 280. Efendi war ein Titel für mittlere Beamte und Militärs, der dem Namen nachgestellt wurde. Vander Werff, Mission, 1977, 207. Vgl. ebd. 211. Vgl. ebd. 282. Kerr, Islamic Studies, 2002, 37. Vander Werff, Mission, 1977, 212.
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ferenz des IMR in Jerusalem 1928 verstanden werden.45 Gairdner sah den Islam als praeparatio evangelica und brachte ihm Wertschätzung entgegen.46 Dies verband ihn auch mit seinem zehn Jahre jüngeren, katholische Kollegen, Louis Massignon. 3. Louis Massignon Das Werk des französischen Orientalisten Louis Massignon (1883–1962) kann als „kopernikanische Wende des Katholizismus hinsichtlich des Islams“ bezeichnet werden, so zumindest sah es sein Schüler, der libanesische maronitische Theologe und Islamwissenschaftler Youakim Moubarac (1924–1995).47 Massignon war von 1926 bis 1954 Professor für Islamwissenschaft in Paris und freundschaftlich mit Giovanni Battista Montini (1887–1978), dem späteren Papst Paul VI., verbunden. Durch ein biographisches religiöses Erlebnis im Rahmen einer archäologischen Exkursion im Irak hatte der 25-jährige Massignon 1908 zu einem vertieften persönlichen Glauben gefunden.48 Muslime hatten ihn aufgrund einer Malariaerkrankung bei sich aufgenommen und für ihn gebetet. Die folgende Gesundung erneuerte nicht nur seinen christlichen Glauben, sondern führte auch zu einer tiefen Verbundenheit mit Muslimen, die sowohl sein wissenschaftliches als auch geistliches Interesse prägte. In seiner Doktorarbeit von 1922 setzte sich Massignon mit dem Leben und Werk des Bagdader Sufis und Märtyrers Husain ibn Mansur al-Hallag (gest. 920) auseinander, den er als authentische geistliche Persönlichkeit des Islam beschrieb, die christusähnliche Merkmale besessen habe.49 Die Achtung vor einer eigenständigen islamischen Spiritualität prägte seinen Wunsch, Muslimen im geistlichen Austausch die Liebe Christi zu bezeugen. Als tertiärer Bruder der Franziskaner (er hatte den Namen „Abraham“ angenommen) gründete Massignon 1934 in Damietta, Ägypten, den Badaliyya-Orden,50 der sich dem Dienst und Gebet für Muslime widmete.51 1950 wurde er in Kairo zum Priester der melkitischen katholischen Kirchen ordiniert. Beim Ausbruch des Französisch-Algerischen Krieges (1954– 1962) gab Massignon seine islamwissenschaftliche Professur in Paris auf und widmete seine letzten Lebensjahre der Verständigung und dem friedlichen und 45 Gairdner konnte aufgrund schwerer Krankheit nicht an der Konferenz teilnehmen, vgl. ebd 200.218. 46 So deutete ihn auch seine Biographin, Constance E. Padwick (1886–1968), die Gairdners Ansatz in ihrem eigenen Werk vertiefte. Im lex credendi sah sie den besseren Weg zu einem christlichen Verständnis des Islam als im Vergleich der Glaubenslehren (Goldziher) oder in ethnologischen Zugängen (Zwemer). Das zeigte auch ihre Studie vielgebrauchter islamischer Gebetbücher Muslim Devotions (1961), vgl. Kerr, Islamic Studies, 2002, 37. 47 Moubarac, Islam, 1976, 344. 48 Vgl. A.R. Crollius, Massignon, in: BDCM, 440; Eißler, abrahamische Ökumene, 2005, 264f; Kerr, Islamic Studies, 2002, 40. 49 Vgl. Kerr, Islamic Studies, 2002, 40. 50 Arab. Badaliyya = Substitution, Stellvertretung. 51 Vgl. BDCM, Massignon, 440.
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gerechten Miteinander von Christen und Muslimen. Er besuchte algerische Gefangene und leitete christlich-muslimische Pilgerfahrten zu Marienheiligtümern, die sowohl für den katholischen als auch den islamischen Volksglauben eine Rolle spielen.52 Trotz der Hochachtung vor Muslimen stand für Massignon die „grundsätzliche, theologische und unvergleichliche Überlegenheit (supériorité) des Christentums nicht in Frage. Christus hatte sich gleichwohl aller Herrlichkeit entblößt, als er Mensch wurde. Darum geht es ihm: wie Christen gegenüber Muslimen auftreten. Da hat keine Überlegenheitsdemonstration Platz, sondern die hingebende Liebe. Massignon zweifelte nie daran, dass der große Strom der Offenbarung von Abraham über die Propheten Israels zu Christus ging.“53
Allerdings sah Massignon auch „parallele Strömungen“, wie den Segen Gottes für Ismael. In diesem Sinne verstand er den Islam als „die Bewusstwerdung dieses göttlichen Segens durch die Araber“.54 Sie hätten das unzerstörbare Erbe Abrahams an seinen Sohn Ismael „schließlich wiederentdeckt und mit eifersüchtiger Exklusivität verehrt“.55 Auch Christen sollten diesen Segen ernst nehmen, „weil er in der Bibel gelehrt wird“. 56 In diesen abrahamischen Segensbezügen sah Massignon die Basis für die Beziehung zwischen Christen und Muslimen und für seine Spiritualität der Mittlerschaft.57 Sie kam für ihn auch in gewaltlosem sozialem Engagement zum Ausdruck, das er als zivilen Einsatz für die Wahrheit verstand.58 Massignon starb 1962, im Jahr der Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils, dessen Sicht des Islam durch sein Denken maßgeblich beeinflusst werden sollte (siehe unten II.C.5.). 4. Die Islammissionskonferenzen von 1924 Deutlich zeigte sich der angelsächsische missionarische Optimismus im Blick auf die islamische Welt auf vier Regionalkonferenzen (Algerien, Ägypten, Konstantinopel, Beirut) und einer Generalkonferenz in Jerusalem (3.–7. April), die 1924 unter der Obhut des International Missionary Council (IMC) stattfanden und weithin an die Hoffnungen von Edinburgh 1910 anknüpften. John R. Mott (1865– 1955), der amerikanische Organisator der Edinburgher Weltmissionskonferenz, hatte auch diese Konferenzen angeregt und fasste die Ergebnisse im International Review of Missions in zehn Punkten zusammen.59 1. Der Niedergang des Islam. In politischer Hinsicht verdrängten nationalstaatliche Entwicklungen die Bedeutung des Islam wie das Beispiel der Türkei und die Abschaffung des Kalifats zeigte. Sozial verliere der Islam gegenüber dem Materialismus an Einfluss. 2. Zugäng52 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. Kerr, Islamic Studies, 2002, 40. Eißler, abrahamische Ökumene, 2005, 265. Ebd. Massignon, zit. Kerr, Christian Mission, 2002, 40 Übersetzung FW. Eißler, abrahamische Ökumene, 2005, 265. Vgl. ebd. 264. Kerr, Islamic Studies, 2002, 40. Mott, Outlook, 1924.
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lichkeit. Durch die Völkerbundmandate nach dem 1. Weltkrieg eröffne sich (mit Ausnahme der Türkei) „the marvellous accessibility of the Muhammedan world to friendly and constructive ministry of the Christian religion“.60 Auch die Bildungsmigration und das kulturelle Interesse am Westen wertete Mott als Faktor der neuen Zugänglichkeit: „literally thousands of Moslem students have gone from Asia and Africa to European student centres …. More Moslems yearly visit Paris than Mecca.“61 Dazu komme eine neue intellektuelle Zugänglichkeit durch die Zunahme der Lesefähigkeit in der muslimischen Bevölkerung: „This suggests the new religious hospitality or accessibility. Workers from every field testified to the new willingness to hear the gospel message.“62 3. Mangel an Missionaren. Angesichts der großen Offenheit führte man die geringe Zahl muslimischer Konvertiten vor allem auf diesen Mangel zurück. 4. Bekehrung ist möglich. Dementsprechend folgert man, dass es durchaus im Bereich des Möglichen liege, dass Muslime sich zum christlichen Glauben bekehrten („Moslems can be converted“). Beispiele von Konversionen machten deutlich, dass nun die Zeit der Ernte angebrochen sei.63 5. Sympathetic Approach. In der missionarischen Methodik habe sich nun weitgehend ein einfühlsamer Ansatz gegenüber dem früheren polemischen Verständnis durchgesetzt. Da der Islam sich sowieso selbst auflöse, sei die destruktive Polemik nicht mehr nötig, vielmehr gelte es, den Muslimen „a new and true conception of Jesus Christ“ zu vermitteln, dann würden sie zu ihm hingezogen.64 6. Bildung und Literatur. Als zukunftsweisende Missionsmethoden nannte Mott die Bildungs- und Literaturarbeit, weiterhin ergänzt durch medizinische Arbeit. 7. Islamkundliche Ausbildung. Große Bedeutung maßen die Islamkonferenzen von 1924 auf diesem Hintergrund der besseren sprachlichen und islamkundlichen Ausbildung der Missionare bei. Hier müsse eine Spezialisierung einsetzen und die Gründung neuer Schulen nach dem Vorbild der Cairo School of Oriental Studies wurde gefordert. 8. Zusammenarbeit mit orientalischen Kirchen. Da die orientalischen Kirchen weithin noch nicht bereit und in der Lage zur missionarischen Arbeit unter Muslimen seien, wollte man alle Ansätze in dieser Richtung unterstützen. 9. In diesem Zusammenhang stand auch der Beschluss der Gründung eines National Christian Council for Western Asia and Northern Africa,65 das die Zusammenarbeit der Missionen untereinander und mit den orientalischen Kirchen verstärken sollte. 10. Islammission als Nagelprobe. Abschließend erhob Mott den Erfolg der Islammission zur Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit des Christentums: „to prove the validity of our faith we must bring Christ to the 60 61 62 63 64 65
Ebd. 325. Ebd. 326. Ebd. 327. Vgl. ebd. 330. Ebd. 331. Der National Christian Council for Western Asia and Northern Africa (NCCWANA) wurde wenige Jahre später zum Near East Christian Council (NECC). 1962 ging aus dem NECC der Near East Council of Churches (NECC) hervor, der 1974 zum Middle East Council of Churches (MECC) erweitert wurde, vgl. L. Nilus, Middle East Council of Churches, DEM, 678– 79.
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entire Muslim world.“66 Wenn ein ansprechend verkündigtes Evangelium nicht auch Muslime gewinnen könne, stehe das Projekt der Weltevangelisation insgesamt auf dem Spiel: „The triumph of the Christian cause … is involved in what takes place in the Mohammedan world.“67 Obwohl diese Formulierungen einerseits den großen Optimismus der Epoche zum Ausdruck brachten, trugen sie andererseits in ihrer beschwörenden und problematischen Überspitzung bereits den Keim zukünftiger Krisen in sich. 5. Julius Richter und Jakob Enderlin Erst gut ein Jahrzehnt vorher hatte der Nestor der deutschen Missionswissenschaft, Gustav Warneck (1834–1910), argumentiert, die Zeit für eine direkte Islammission sei noch nicht gekommen.68 Warneck plädierte für ein Abwarten im Blick auf günstigere politische Entwicklungen. Bis dahin solle die Mission sich auf die Erneuerung der orientalischen Kirchen und die Evangelisierung afrikanischer Stammesreligionen konzentrieren, um der Islamisierung zuvorzukommen. Anlässlich der Edinburgher Weltmissionskonferenz 1910 unterstrich Warneck diese Position in einem Brief an John R. Mott.69 Doch bereits sein jüngerer Kollege, der Berliner Missionswissenschaftler Julius Richter, argumentierte für eine direkte Islammission, deren Erfolgschancen er moderat optimistisch einstufte.70 a) Konversion und Kontinuität: Islammission bei Julius Richter Schon in Edinburgh 1910 hatte Julius Richter (1862–1940) sich „für eine IslamMission ohne Aufschub“ ausgesprochen.71 In der 1930 erschienenen 2. Auflage seiner Mission und Evangelisation im Orient konnte er davon berichten, dass der Schwerpunkt der im Nahen Osten tätigen Missionsgesellschaften sich inzwischen deutlich „in die direkte Mohammedanermission verschoben hat“.72 Abgesehen von den Entwicklungen in der Türkei sah Richter überall Zeichen der Hoffnung und stellte fest, dass „die Stimmung dem Christentum und den Christen gegenüber nach dem Kriege günstiger geworden sei“.73 Die Konstitution einer säkularen Republik in der Türkei sah Richter als „eins der bedeutsamsten Erlebnisse in der Geschichte der islamischen Religion“.74 Angesichts des Widerspruchs zwischen formaler Religionsfreiheit und dem Verbot jeglicher religiöser Propaganda prog66 67 68 69 70 71 72 73 74
Mott, Outlook, 1924, 336. Ebd. 337. Vgl. Feldtkeller, Die Zeit, 1997, 95ff. Vgl. Warneck, Letter, 1910. Vgl. Görrig/Schindehütte, Geschwister, 2008, 384. Vgl. Feldtkeller, Die Zeit, 1997, 95ff. Ebd. 102. Richter, Orient, 1930, 44. Ebd. 142, vgl. 130. Ebd. 96, vgl. 80ff.
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nostizierte Richter der christlichen Mission in der Türkei jedoch eine unsichere Zukunft.75 Missionstheologisch hatte Richter sich auf der Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928 mit Samuel Zwemer, Hendrik Kraemer und Karl Heim gegen die radikale liberale Interpretation des sympathetic approach durch die nordamerikanische Delegation um William E. Hocking positioniert: „Evangelische Mission gründet auf dem ... absolut einzigartigen Handeln Gottes zur Erlösung der Menschheit ... [Dazu] hat es und wird es nie eine Parallele in den nichtchristlichen Religionen geben.“76 Auch in Mission und Evangelisation im Orient (1930) bewegte sich Richter in diesem Rahmen, stellte jedoch Aspekte des alten kontroversen und zivilisatorisch orientierten Missionsmodells relativ unverbunden neben moderate Perspektiven eines sympathetic approach. Er betonte den „Bruch mit dem Islam“ als Ziel der Mission, setzte die „Minderwertigkeit des Charakters Mohammeds“ als Allgemeinwissen voraus und verwies auf die „offensichtliche Überlegenheit der christlichen Kultur“.77 Andererseits bekräftigte er, der Islam enthalte „gesunde religiöse Kräfte, die einzubüßen ein schwerer Verlust für die Beteiligten wäre“.78 Diese fand er in der „schlichten Frömmigkeit, von der auch der Koran und die Sunna viele schöne Proben geben“.79 Obwohl solche „Lichtseiten im Islam wohl meist Goldkörnern [gleichen], die im Schutt einer veräußerlichten Frömmigkeitsübung vergraben sind, so wird doch der Missionar sorgfältig auf ihre Spuren achten“.80 Dazu zählte Richter „die immer wiederholte Forderung einer echten Frömmigkeit, ferner das Vertrauen auf Gottes vergebende Gnade für die Gläubigen, die Betonung persönlicher Rechtschaffenheit ... und besonders die in schönen Traditionen empfohlene Vertiefung ... durch Realisierung der Nähe Allahs“.81 Dabei bezog sich Richter auf John E. Merrill, den Präsidenten des Central Turkey College, der Kontinuitäten zwischen Islam und Christentum als „expressions [of] the inner life of the human spirit“ hervorhob und als Missionsziel die Weitergabe der „spiritual experience and dynamic offered by Jesus“ sah.82 Doch obwohl Richter einen „gemeinsamen Boden mit dem Moslem“ bestätigte, müsse der Versuch scheitern „von diesem Gemeinsamen aus die Brücke zum Verständnis des Christentums zu schlagen. ... Die Art, wie der Islam mit Umsicht alles aus dem Christentum herausgeschnitten und in das Reich der Fabel verwiesen hat, was mit der durch Christi Kreuz und Auferstehung vollbrachten Erlösung zusammenhängt, verbaut diesen Weg für das Verständnis des Moslem. Der Mis-
75 Vgl. ebd. 96–97.80ff. 76 Richter, Jerusalem, Bd. I, 1928, 353f. zit. nach Helfenstein, Grundlagen, 1998, 51. Zum Ansatz von William E. Hocking siehe unten II.B.1. 77 Richter, Orient, 1930, 38. 78 Ebd. 39. 79 Ebd. 39–40. 80 Ebd. 40. 81 Ebd. 82 Merrill, Spiritual Elements, 1926, 193, vgl. Vander Werff, Muslims, 1977, 254.
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sionar weiß, dass Islam und Christentum trotz weitgehender Übereinstimmung in der Grundstruktur verschieden sind.“83
Richter betonte zwar eine grundlegende Kontinuität im „Gottesbewußtsein“: der muslimische Konvertit „wird in der Regel ... ein lebhaftes Bewusstsein davon haben, dass der Vater unseres Herrn Jesu Christi derselbe Gott ist, den er vorher als Allah verehrt hat“.84 Doch sei der konkrete „Gottesgedanke“ in beiden Religionen grundverschieden. Im Christentum sei „Gott der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der die Welt aus Liebe erlöst, indem er der sündigen Welt von sich aus die Versöhnung bereitet“. Im Islam sei „Allah der Herr des Gerichtstags, der den sich ihm im Gehorsam Unterwerfenden ihre Sünden verzeiht, aber alle anderen voll Zorn in die Hölle verstösst. Allah bleibt der orientalische Gewalthaber, der wohl seine treuen Diener belohnt, sie aber stets in der Entfernung von Sklaven von sich hält.“85 Deshalb sei „letztlich für den Moslem wie für den Heiden eine Bekehrung, d.h. eine radikale Umstellung notwendig, um Christ zu werden“.86 Diese könne nur aus der „Erkenntnis ..., was Gott zur Erlösung der Welt getan hat“ und aus „dem Ergreifen Christi im Glauben“ hervorgehen.87 In der Praxis sieht Richter die Islammission deshalb als die bildreiche und erzählende Vermittlung der „biblische[n] Geschichten“ und des „Heilsratschluss Gottes ... zur Sendung seines Sohnes zur Erlösung der Welt“. Dies müsse „die Hauptsache [bleiben]“. Dabei solle „das Kreuz Christi entscheidend in den Mittelpunkt gestellt werden,“ da es als „geschichtliche Tatsache“ von den Muslimen geleugnet werde. „Demgegenüber kommt geradezu alles darauf an, dass das Kreuz Christi mit allem Nachdruck gepredigt wird. Es wäre gänzlich verfehlt, wie von liberaler Seite wohl erwogen worden ist, diese Lehrstücke in der Missionspredigt zurückzustellen. Sie sind Kern und Stern des Christentums. Und die Aufgabe ist, die Mosleme zum vollen Glauben an den gekreuzigten Gottessohn hinanzuführen.“ 88
b) Christozentrisch-geistliche Kontinuität: Samuel Jakob Enderlin Deutlicher als Julius Richter – wenn auch eher in missionspraktischer Perspektive – positionierte sich der Feldleiter der Sudan-Pionier-Mission (SPM),89 Samuel Jakob Enderlin (1878–1941), zugunsten eines christozentrischen sympathetic approach.90 Enderlin war Absolvent der Predigerschule St. Chrischona bei Basel, von
83 Richter, Orient, 1930, 41. Ähnlich hatte Richter auch in Jerusalem 1928 argumentiert und vor einer „wave of syncretism which is approaching all the world over“ gewarnt, zit. nach Yates, Mission, 1996, 100. 84 Richter, Orient, 1930, 44. Kursiv FW. 85 Ebd. 42. 86 Ebd. 87 Ebd. 43. 88 Ebd. 89 Ab 1928 Evangelische Muhammedaner-Mission (EMM). 90 Vgl. Dewick, Christian Attitude, 1953, 50; Hock, Spiegel, 1986,143.146–146.
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1904 bis 1939 Missionar der SPM in Ägypten91 und nach Einschätzung von Emanuel Kellerhals „vielleicht überhaupt die bedeutendste Gestalt der gegenwärtigen Mohammedaner-Mission deutscher Zunge“.92 In den ersten Jahrzehnten wirkte Enderlin als Prediger und Seelsorger in Assuan und Darau in Oberägypten, wo die SPM 1924 nach den Ereignissen des 1. Weltkriegs und der Fürsprache Zwemers und Gairdners93 ihre medizinisch-evangelistische Arbeit wieder aufgenommen hatte. Von 1932 bis 1939 lehrte Enderlin als Dozent für Arabisch und Nubisch an der School of Oriental Studies (SOS)94 in Kairo, wo er gleichzeitig eine missionarische Klubarbeit der SPM für nubische Gastarbeiter aufbaute. Enderlin stand in Verbindung mit den führenden Islammissiologen seiner Zeit und nahm an den großen Islammissionskonferenzen von Kairo 1906, Lucknow, Indien, 1911 und Jerusalem 1924 teil.95 Die ersten beiden Konferenzen standen unter der Leitung von Samuel Zwemer, die letzte wurde, wie oben gezeigt, maßgeblich von John R. Mott geprägt. Im April 1929 nahm Enderlin an der Tagung des Near East Christian Council for Missionary Cooperation in Brumana bei Beirut teil. Die Tagung unterstrich den bereits 1924 in Jerusalem betonten sympathetic approach, den auch Enderlin vertrat. In einem Bericht für die Zeitschrift der EMM fasste er das Ergebnis der Tagung und „die drei hervortretenden Grundsätze“ zusammen: „1. Der Tag für die Kontroverse ist vorbei. Die Pflugschar hat den Boden tief aufgefurcht. Ihn zu lockern ist nicht mehr nötig. In unserer Literatur, in unserer Predigt und in unserem Leben müssen wir alles vermeiden, was latenten Widerspruch hervorruft. 2. Die orientalischen Christen und die einheimischen Nationalkirchen müssen die Hauptverantwortung für die Evangeliumsverkündigung tragen. 3. Die Arbeit an Einzelnen ist fruchtbarer als die Methode an Gruppen von Muhammedanern heranzutreten.“96
Um dem letzten Punkt noch mehr Gewicht zu verleihen zitierte Enderlin seinen anglikanischen Kollegen von der Church Missionary Society (CMS) in Kairo, Stanley A. Morrison. Es gelte „zunächst ein Band der Freundschaft und des Vertrauens von Mensch zu Mensch zu knüpfen, zunächst ganz abgesehen davon, dass wir es mit Muhammedanern zu tun haben. Das kann geschehen durch sozialen oder philanthropischen Dienst: Hospital, Klubs, Säuglingspflege usw., aber auch durch Sonntagsschulen und Bildungs-Institute, auch durch Literatur … Vielfach scheinen diese Wege gangbarer zu sein, als direkte Evangelisations-Versammlungen, in denen unsere Ausdrücke so oft mißverstanden werden und Anlaß geben zu latentem Fanatismus in unserem Zuhörerkreise. Noch mehr beklage ich die Fehler, die in der Kontroverse gemacht werden und vielfach den Muhammedaner in seinem Glauben nur bestärken, statt ihn
91 Vgl. Unruh, Enderlin, 1942; Troeger, Alexandrien, 2013, 184. 92 Zit. in: Unruh, Enderlin, 1942, 76. Darüber hinaus übte er als Feldleiter Einfluss auf Höpfner aus. Zu Höpfner und Enderlin siehe V.B. und V.B.5. 93 Vgl. v. Dessien, Wasser, 1985; Unruh, 50 Jahre, 1950. 94 Die SOS war 1912 von W. Temple Gairdner und Samuel Zwemer als Cairo Study Center gegründet und 1920 als SOS der Amerikanischen Universität angegliedert worden. Vgl. Vander Werff, Mission to Muslims, 1977, 196. 95 Vgl. Unruh, Enderlin, 1942, 35.59f., Enderlin, Old Way, 1942, 112. 96 Enderlin, Tagung, 1929, 113–114.
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zu erschüttern. Durch ein Gespräch in freundschaftlicher Weise wird mehr erreicht als durch die Methoden der Diskussion kontroverser Natur.“97
Wie seine anglikanischen Kollegen98 sprach sich Enderlin deutlich für einen sympathetic approach aus, den er als inklusive christozentrische Kontinuität und Anküpfung zwischen Islam und Christentum verstand. Zu oft sei der Koran nur „for purposes of controversy“ gebraucht worden.99 Dabei sei unbeachtet geblieben, dass er Einblick in die geistliche Wanderschaft (spiritual pilgrimage) Mohammeds gebe, „a man who undoubtedly embarked upon it with sincerity and who brought about in his country a reformation which hardly anyone else has achieved“.100 Charakteristisch für seine pietistische Prägung sah Enderlin vor allem im Bereich des Gebets und des Frömmigkeitslebens islamisch-christliche Anknüpfungspunkte: „As Christians we lay the main stress on the need for a personal spiritual experience. Could we not study the Muslims more carefully to see whether in their lives they have not had similar experiences?“101 Die verbreitete christliche Meinung, dass Muslime wahres Gebet nicht kennen, hielt Enderlin für ein Vorurteil, das die Gemeinschaft mit Muslimen unmöglich mache.102 Er betonte die Erfahrung eines Konvertiten, „that his conversion to Christianity had been made much easier by the fact that as a Muslim he had led a very earnest and inward life of prayer“.103 Auch das gemeinsame Schriftstudium, das die Schlussbotschaft der Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928 empfohlen hatte,104 gehörte zu Enderlins Praxis: „I sat like the rest of them on a skin, and many a fruitful discussion of the sayings of Jesus in St. John’s Gospel took place in that way. At those times it often struck me how much the Sufis have in their writings that accords with the New Testament.“105 Die Echtheit muslimischer Frömmigkeit war für Enderlin jedoch kein Ersatz für den Glauben an Christus, sondern auf ihn hingeordnet: „If we find evidence of the testimony of the spirit in part of the Muslim doctrine and in the lives of earnest Muslims let us not forget that the spirit must in the end always lead to Christ and that no one can say that Jesus is the Lord, but by the Holy Ghost (I Cor xii, 3).“106 97 Morrison zit. bei Enderlin, Tagung, 1929, 114. Stanley A. Morrison war von 1929 bis 1949 Leiter der CMS-Arbeit in Ägypten. vgl. Troeger, Alexandrien, 2013, 137–143. 98 Neben Morrison bezog sich Enderlin in seinen Perspektiven vor allem auf die Werke des General Secretary der CMS, W. Wilson Cash (1889–1955), der bereits in Jerusalem 1928 eine vemittelnde Position eingenommen hatte, vgl. Enderlin, Old Way, 1942, 12. Zu Cash: Yates, Mission, 1996, 108; Cash, BDCM, 119. 99 Enderlin, Old Way, 1942, 115, vgl. Enderlin, Der alte und der neue Weg, 1941. 100 Ebd. 101 Ebd. 116. 102 Vgl. ebd. 115. 103 Ebd. 116. 104 Nach der Betonung gemeinsamer religiöser Werte wurde in der Jerusalemer Abschlusserklärung die Einladung an die Nichtchristen ausgesprochen, mit den Christen zusammen „Jesus Christus in der Heiligen Schrift zu studieren... aber zu ihm kommen, heißt sich selber aufzugeben.“, zit. nach Günther, Weltmissionskonferenzen, 1978, 535. 105 Enderlin, Old Way, 1942, 115–116. 106 Ebd. 116.
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Radikaleren Versionen des sympathetic approach, wie sie in Jerusalem 1928 von William E. Hocking vorgeschlagen worden waren,107 stand Enderlin distanzierter gegenüber. Ebenso kritisierte er Bestrebungen radikaler Inkulturation in Indien, wo „man aus einem Menschen einen Christen [macht], … ihn aber äußerlich noch Muhammedaner [läßt].“ Man lege in diesem Fall den Nachdruck zu sehr auf den „Inhalt der Flasche und zu wenig auf die Etikette“.108 Während Enderlin wie Julius Richter noch Ende der 1920er Jahre optimistisch auf die Möglichkeiten der Islammission schaute („Das Feld [ist] weiß zur Ernte, gerade an den Hochschulen. Warum sollte man nicht die Sichel in die Hand nehmen, um zu ernten?“),109 war er Ende der 1930er Jahre zurückhaltender, ohne die hoffnungsvolle christozentrische Perspektive aufzugeben: „We shall be satisfied if we can make our lives useful as the living grain of seed which falls into the earth and dies. We shall neither grieve because at first it produces so few conversions from Islam, nor be disturbed that men call Muhammad a prophet. We see Christ lifted up high above him as the living force which reveals itself mightily in the lives of men.“110
B. DER EVANGELISTIC APPROACH IM UMBRUCH POSTKOLONIALER PERSPEKTIVEN Im Verlauf der 1930er Jahre führten die nationalstaatlichen Entwicklungen in der Türkei und im Iran sowie die erstarkenden Unabhängigkeitsbestrebungen in der arabischen Welt zu einer Ernüchterung im Blick auf die westliche Islammission. Der niederländische Religionswissenschaftler Hendrik Kraemer stellte anlässlich der Weltmissionskonferenz von Tambaram (Indien) 1938 fest, dass „die gegenwärtige Lage der Mohammedanermission als ziemlich trübe angesehen wird“.111 1932 endete das britische Mandat im Irak unter Faisal I., 1936 sicherte Großbritannien Ägypten unter König Faruk in einem Freundschaftsvertrag weitgehende Souveränität zu.112 Der Islam erwies sich als gesellschaftlich und politisch resistent und flexibel. Auch wenn die Türkei einen säkularen Kurs einschlug und den Islam zunächst nur oberflächlich einbezog, verband er sich in Ägypten oder Nordafrika als Identifikationsfaktor mit den Bewegungen nationaler Unabhängigkeit. Daneben entwickelten sich neue Modelle eines politischen Islam wie die Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten durch Hassan al-Banna im Jahr 1928 zeigte. Christliche Mission wurde „als Werkzeug des westlichen Imperialismus“ wahrgenommen.113
107 Siehe B.1. 108 Enderlin, Tagung, 1929, 114, vgl. ähnliche Ansätze radikaler Inkulturation in der späteren Lausanner Islammissiologie unter II.E.3. 109 Enderlin, Tagung, 1929, 114. 110 Enderlin, Old Way, 1942, 116. 111 Kraemer, Botschaft, 1940, 320. 112 Vgl. Kamrava, Middle East, 2005, 35ff. 113 Kraemer, Botschaft, 1940, 318.
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In der ökumenischen Missionsbewegung wurde die veränderte postkoloniale Situation als Herausforderung zur kritischen Überarbeitung der Missionstheologie wahrgenommen, verbunden mit einer Neubewertung der nichtchristlichen Religionen. Hierbei setzte sich die Diskussion des vorangehenden Jahrzehnts unter neuen Bedingungen fort, wobei der Einfluss der Theologie Karl Barths starke neue Impulse brachte. Die fortgesetzte Diskussion zeigte drei Richtungen: 1. die Radikalisierung des sympathetic approach in Richtung der Förderung einer evolutionären und vom Vorbild Christi inspirierten interreligiösen Weltkultur, wie sie sich besonders im Ansatz des bereits mehrfach erwähnten amerikanischen Religionsphilosophen William E. Hocking in Re-Thinking Missions (1932) zeigte, aber auch vom American Board (ABCFM) auf dem Hintergrund der Erfahrungen in der Türkei vertreten wurde;114 2. die Weiterentwicklung des sympathetic approach durch Verstärkung religiös und soziologisch sensibler missionarischer Inkulturation wie sie sich im Bericht des Near East Christian Council (1938) in Beirut zeigte; 3. die Ablehnung des sympathetic approach interreligiöser Kontinuität und Anknüpfung im offenbarungstheologischen Verständnis eines evangelistic approach115 im Anschluß an Karl Barths Theologie des Wortes und der Krise, die alle Religion als Unglaube verwarf.116 Dieser Ansatz wurde auf dem Hintergrund kontinentaleuropäischer Desillusionierung gegenüber kulturreligiösen Konzepten für viele richtungsweisend,117 wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Während der Niederländer Hendrik Kraemer in seinem biblischen Realismus die Kritik des sympathetic approach mit empirisch-religionswissenschaftlichen Wahrnehmungen abmilderte, vertraten deutschsprachige Theologen wie Karl Hartenstein und der frühe Emanuel Kellerhals stärker abgrenzende theologische Perspektiven.118 1. Re-Thinking Missions: William E. Hocking Der amerikanische Theologe und Religionsphilosoph William E. Hocking (1873– 1966), der bereits auf Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928 Vordenker der nordamerikanischen Delegation gewesen war,119 gründete seine Überarbeitung christlicher Missionstheologie auf eine interreligiöse Interpretation des social 114 Das ABCFM schickte seinen Missionaren Kopien von Hockings Re-Thinking Missions, vgl. Kidd, American Christians, 2010, 76. Zur Beziehung zwischen ABCFM und Orientdienst siehe IV.B.4. 115 Zum Begriff vgl. Kraemer, Botschaft, 1940, 253ff.; Hallencreutz, New Approaches, 1969, 23ff; Vander Werff, Mission, 1977, 288. 116 Vgl. Ratschow, Religionen, 1979, 64–66. 117 Zumindest in theologischer Hinsicht wenig überraschend, schloss sich auch Zwemer den offenbarungstheologischen, kontinentalen Perspektiven ausdrücklich an, vgl. Zwemer, Herrlichkeit, 1949, 3. 118 Im International Review of Missions plädierte 1949 Hartenstein dafür, „im Blick auf den Islam nicht nur den Unterschied von Offenbarung und Religion, sondern noch mehr den von Religion und Antichrist im Auge zu behalten“, zit. nach Zwemer, Herrlichkeit, 1949, 3, kursiv FW. Zur Islammissiologie Hartensteins und Freytags siehe unten II.B.4. 119 Vgl. Bosch, Witness, 1980, 162; Bosch, Theology of Religion, 1977, 40ff.
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Gospel in der Tradition Daniel Friedrich Schleiermachers und Albrecht Ritschls, verbunden mit einer postmillenialistisch-evolutionären Geschichtsschau. In seiner neue Weichen stellenden Studie Re-Thinking Missions (1932) entfaltete Hocking seinen Vorschlag zur Neufassung christlicher Mission, deren bisherigen soteriologischen und christologischen Partikularismus er scharf kritisierte: „There was one way of salvation and one only, one name, one atonement: this plan with its particular historical center in the career of Jesus must become the point of regard for every human soul. The universal quality of Christianity lay not alone in its valid principles of truth and morals, but in an essential paradox, the universal claim of one particular historic fact: the work of Christ. General principles may be reasoned out, and perhaps proved, so that all men must accept them. But particular facts cannot be proved. … Hence, in respect to its central fact Christianity was necessarily dogmatic: it could only say Ecce Homo, Behold the Man; and it was committed to a certain intolerance.“120
Für Hocking lag die Besonderheit des Christentums nicht in der Heilsbedeutung der Person und Passion Christi, sondern in der unübertroffenen „selection“ und „simplicity“ universaler Prinzipien in der Lehre und dem Vorbild Christi. Diese von Christus hervorgebobenen und gelebten universalen Wahrheiten seien den Menschen aller Kulturen und Zeiten in ihren eigenen Glaubensweisen zugänglich: „the final truth, whatever it may be, is the New Testament of every existing faith.“121 Da das „Ewige“ und „Reale“ sich immer und überall durchsetze, müssten christliche Missionare angesichts der Begegnung und Zusammenarbeit mit den Weltreligionen nicht um einen Verlust der christlichen Botschaft besorgt sein. Hocking sah alle Religionen als Variationen über das eine Thema der „inalienable religious intuition of the human soul“.122 Er ging dabei von einer universalen Gotteserkenntnis in allen Religionen aus, wobei er implizit die jüdischchristliche Tradition als Maßstab universaler Gültigkeit verwandte. Auf dieser Basis forderte er die christliche Mission heraus, die nichtchristlichen Religionen nicht als Konkurrenten, sondern als Partner in einer gemeinsamen Aufgabe zu sehen. Er kritisierte die Kontrovers-, aber auch die Differenztheologie christlicher Islammission wie sie Samuel Zwemer als herausragender Vertreter repräsentierte: „We have in mind a missionary who defines the God of Islam as a God of power, whereas the Christian God is a God of love. He is accordingly disturbed when he finds a Moslem teaching that the compassion of Allah is the same as the love of God: he inclines to cry plagiarism! and to warn all Moslems that the idea of God as loving Father is Christian and private property!“123
Statt sich über den Niedergang nichtchristlicher Religionen zu freuen, sollten die christlichen Missionen eine tiefe Inkulturation und Neubelebung der Religionen suchen: „far from taking satisfaction in moribund or decadent conditions where they exist within other faiths, Christianity may find itself bound to aid these faiths, and frequently does aid them, to a truer interpretation of their own meaning than 120 121 122 123
Hocking, Re-Thinking Missions, 1932, 35–36, vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 287. Hocking, Re-Thinking Missions, 1932, 44. Ebd. 37. Ebd. 43.
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they had otherwise achieved.“124 Umgekehrt empfange auch die christliche Religion durch die anderen Religionen wichtige Impulse zur Weiterentwicklung: „One great reason for the presence of Christianity in the Orient is an interest in its own developing interpretation, as it could hardly grow in America alone, through free intercourse with various other types of religious experience. The relation between religions must take increasingly hereafter the form of a common search for truth.“125 Die traditionellen Ziele der Mission, Evangelisation, Bekehrung und Kirchenpflanzung sah Hocking als temporäre und überholte Zwischenstufen, die schließlich ersetzt würden durch permanente humanitäre Botschafterdienste mit dem Ziel der Entwicklung einer interreligiösen geistig-ethischen Basis für die im Entstehen begriffene Weltzivilisation.126 Diesen Austausch kulturell-spiritueller Werte formulierte Hocking heilsgeschichtlich als das Kommen des Reiches Gottes („Thy kingdom come“) und soteriologisch als Prozess der Errettung: „It means to us now, as always, saving life. It means representing to the Orient the spiritual sources of western civilization, while its other aspects, technical and material, are being represented so vigorously in other ways. It means paving the way for international friendship through a deeper understanding. It means trying more definitely to strengthen our own hold on the meaning of religion in human life. Should we try to express this conception in a more literal statement it might be this: To seek with people of other lands a true knowledge and love of God, expressing in life and word what we have learned through Jesus Christ, and endeavoring to give effect to his spirit in the life of the world.“127
In der bisherigen Praxis der christlichen Mission kritisierte Hocking den Ansatz eines radikalen Bruchs mit der religiösen Herkunft. Statt an der religiösen Tradition der Menschen anzuknüpfen, seien Missionare darauf aus „to win souls from this context to a new discipleship, and to create a church. … This clean-breach method, experience has now amply shown mistaken. Its uncompromising attitude toward local tradition, social scheme, religion, required heroism in the convert and found its heroes. But its cost in human suffering was like the cost of mediaeval surgery, and its results were mixed with failure.“128 Auch die Verbindung von sozialer und evangelistischer Arbeit in einem ganzheitlichen Ansatz lehnte Hocking ab. Stattdessen plädierte er für ein Verständnis von Evangelisation als Philanthropie, ohne Predigt: „Ministry to the secular needs of men in the spirit of Christ is evangelism. ... We believe, then, that the time has come to set the educational and other philanthropic aspects of mission work free from ... the work of conscious and direct evangelization. We must be willing to give largely without any preaching.“129 Auf diese Weise würden die Gesellschaften des Ostens viel effektiver mit dem Geist christlichen Dienstes durchdrungen
124 125 126 127 128 129
Ebd. 37. Ebd. 47. Vgl. ebd. 28; Vander Werff, Mission, 1977, 287; Hallencreutz, New Approaches, 1969, 41f. Hocking, Re-Thinking Missions, 1932, 59. Ebd. 30. Ebd. 70.
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und das letztendliche Ziel der Mission wäre erreicht: „the universal church is to arrive, but by its own mode of building, and in God's own time“.130 2. Bekehrung ohne Bruch: Near East Christian Council Obwohl Hockings Vorschläge aufgrund ihrer theologischen Radikalität von der Mehrheit der ökumenischen Missionsbewegung kritisiert wurden,131 warfen sie relevante Fragen auf, die nach Antworten verlangten. Dies zeigt auch die Inquiry on the Evangelization of Moslems des Near East Christian Council (NECC), deren Ergebnisse Henry H. Riggs (1875–1943), Missionar des American Board und Vorsitzender des NECC, auf der Weltmissionskonferenz des IMR in Tambaram vortrug.132 Während der NECC nicht alle radikalen Schlussfolgerungen Hockings teilte und an einer traditionelleren christologischen Perspektive festhielt, griff er Hockings Kritik an der Bekehrung als religiös-sozialem Bruch auf. Dieser Ansatz habe zwar einige wenige, starke Konvertiten hervorgebracht, sei aber kaum geeignet die Massen der Muslime für Christus zu gewinnen, sondern verstärke eine feindliche islamische Gruppenloyalität.133 Auf diesem Hintergrund suchte der NECC nach einem „fundamentally different approach“.134 Als Leitfrage galt: „How can the acceptance of the Jesus-way of life, and of Jesus as Saviour, be separated, in the mind of the Muslim, from the idea of a transfer of loyalty from the Muslim to the nominally Christian social-politicalreligious group?“135 Einen wesentlichen Ansatzpunkt sah man in der vorhandenen Gruppe der „secret believers“, geheimen Jesus-Gläubigen unter den Muslimen: „A fairly large number of Muslims who are trying to live for Christ while remaining in the Muslim community seems to call for definite efforts to hold and strengthen … such believers in their effort to make their new found Saviour known without being cast out.“136 Man unterschied zwischen dem Islam als religiösem und sozialem System und überlegte, wie es möglich sei, inkulturierte Gemeinschaften von Jesusgläubigen Muslimen innerhalb ihres sozialen Umfeld im christlichen Glauben zu fördern. Dabei sollten theologische Kernkonzepte nicht aufgegeben, sondern kulturell angemessen vermittelt werden. So bemühte man sich, das Verständnis von Jesus als Sohn Gottes angesichts muslimischer Vorbehalte zwar ausführlich zu erklären, hielt aber am Konzept selbst als unaufgebbarem Teil der neutestamentlichen Offenbarung fest: „Anyone who objects to this term is finding fault not with 130 Ebd. 131 “[It] brought forth a storm of protests.“ Vander Werff, Mission, 1977, 257. Zu den Kritikern gehörte neben Zwemer, Kraemer, K. S. Latourette, John A. Mackey auch Julius Richter, ebd. 132 IMC, Tambaram, 1939, 226–239, vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 262–263; Peters, Overview, 1979, 399–400. 133 Riggs, Enquiry, 1939. 134 IMC, Tambaram, 1939, 229. 135 Ebd. 136 Ebd. 230.
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Christians but with Christ and God His Father.“137 Obwohl die Studie auf aufmerksames Interesse unter christlichen Missionaren im islamischen Kontext traf, wurden die Überlegungen von vielen als unrealistisch betrachtet und konnten sich zunächst nicht durchsetzen. Dazu trug auch die eher kritische Haltung des niederländischen Sprach- und Religionswissenschaftlers Hendrik Kraemer bei. 3. Evangelistic Approach: Hendrik Kraemer Kraemer war vom IMR um eine grundlegende Studie zur Frage der christlichen Botschaft in der interreligiösen Begegnung als Vorbereitung für die Weltmissionskonferenz in Tambaram 1938 gebeten worden.138 Sein daraus resultierendes umfangreiches Werk The Christian Message in a Non-Christian World (1938)139 prägte nicht nur die Diskussion in Tambaram, sondern auch die ökumenische missionstheologische Haltung zum Islam der folgenden zwanzig Jahre. Kraemers vermittelnder offenbarungstheologischer Ansatz war sowohl vom kritischen theologischen Ruf „Zurück zu den Grundlagen“140 als auch einer respektvollen Haltung gegenüber den Anhängern nichtchristlicher Religionen geprägt. Dem oben beschriebenen Ansatz missionarischer Inkulturation des NECC-Berichts begegnete Kraemer mit Sympathie, wenn er ihn auch für zu naiv und unrealistisch hielt.141 Hockings Vorstellung einer evolutionären Verchristlichung der Welt stand Kraemer jedoch ablehnend gegenüber. Seine Sicht spiegelt vielmehr die Ernüchterung der kontinentaleuropäischen Missionstheologie und deren Kritik am nordamerikanischen social gospel: „Das Programm um das Christentum als den Herold von Aufklärung und Freiheit, als das Allheilmittel, um Völker stark zu machen … ist zunichte geworden.“142 Demgegenüber verwies Kraemer auf die Unübersichtlichkeit zukünftiger Weltentwicklungen und betonte – ähnlich wie Zwemer143 – die theologische Einzigartigkeit (sui generis) des biblischen Zeugnisses von Christus gegenüber allen Systemen menschlicher Religion: „[In der] Frage normativer Wahrheit … ist es klar, daß für einen Christen der einzige Maßstab nur die neue und unberechenbare Welt sein kann, die durch Gott in Jesus Christus, seinem Leben und Werk geoffenbart und wirklich gemacht und die nur dem Glauben zugänglich ist, d.h. die freie Zustimmung des Menschen zu ‚Gottes wunderbaren Taten‘. Christus als der
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Ebd. 237. Vgl. Yates, Mission, 1996, 108ff. Im Folgenden hauptsächlich zit. nach der deutschen Fassung, die 1940 in Zürich erschien. Kraemer, Botschaft, 1940, 57. Zu Kraemers Biographie und Werk vgl. Hoedemaker, Kraemer, 1994. 141 Kraemer, Botschaft, 1940, 282. 142 Ebd. 57–58. 143 Bereits in Jerusalem 1928 hatte sich eine Nähe der Perspektiven von Kraemer und Zwemer gezeigt: „At this time Zwemer’s christocentric-anthropological approach to Muslims was closely akin to that of Kraemer, a remarkable point considering the well-known Continental and Anglo-American tensions. ... Hence they were to find themselves as mediators between the sharp German critics and the liberal sector of American Protestantism.“ Vander Werff, Mission, 1977, 264, vgl. Yates, Mission, 1996.100.108.
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II. Missionstheologische Modelle im internationalen Kontext letzte Maßstab ist die Krisis aller Religionen, der nichtchristlichen ebenso wie des empirischen Christentums.“144
Auf diesem Hintergrund beschrieb Kraemer den Ansatz einer missionarischen bold humility,145 der die folgenden Elemente verband: 1. bescheidene geistliche Selbstwahrnehmung, 2. respektvolle interreligiöse Fremdwahrnehmung, 3. freimütige Mitteilung des Evangeliums und 4. inkulturierte Glaubensgemeinschaften als Missionsziel: „Das Evangelium [kann sich] in allen Verhältnissen ausbreiten, wenn nur in den Herzen der Menschen ein lebendiger und feuriger Glauben brennt.“146 Die vergleichende Religionswissenschaft als empirische Wissenschaft hielt Kraemer für eine realistische Selbst- und Fremdwahrnehmung für unerlässlich. Sie helfe, „den erstaunlichen Reichtum des religiösen Lebens der Menschheit im guten und schlechten Sinn zu enthüllen“ und „der empirischen Wirklichkeit der Christenheit … ehrlich ins Gesicht zu schauen“.147 Doch allein „der Glaube, daß Gott in Jesus Christus den Weg, die Wahrheit und das Leben geoffenbart hat“, könne Grund der Mission sein: „Nur eine so begründete Missionsbewegung … kann unerschüttert und unentmutigt bleiben, selbst wenn sie ohne sichtbare Erfolge ist, wie das zum Beispiel im Falle der Islam-Mission weithin zutrifft.“148 a) Kraemers Sicht des Islam Zunächst sah Kraemer den Islam in theologischer Sicht als menschliches System, das sowohl die göttliche Berufung als auch die Sünde des Menschen widerspiegele: „Unsere Haltung zu den Religionen zu bestimmen, bedeutet in Wirklichkeit, unsere Auffassung vom Menschen … auszusprechen, und unsere Mitmenschen, ihre Bestrebungen, Leistungen und Verirrungen zu beurteilen.“149 In dieser Perspektive sah Kraemer alle Menschen, so auch die Muslime, unter dem Gericht Gottes und in der Verlorenheit ohne Christus. Ohne die Verkündigung des Evangeliums und den Glauben an Christus bleibe ihnen die Erfahrung der Erlösung, der Wiedergeburt und der Sündenvergebung verschlossen. Hier ist jedoch Kraemers Eschatologie und Geschichtssicht einzubeziehen. Während er in der gegenwärtigen Heilsepoche „zwischen den Zeiten“150 die Kirche als Gemeinschaft sui generis verstand, als Gemeinschaft der Glaubenden, die „im Stande der Sündenvergebung“ leben,151 deutete Kraemer gleichzeitig eine Perspektive der umfassen144 Kraemer, Botschaft, 1940, 102. Es gibt für Kraemer „nur einen großen Unterschied zwischen dem empirischen Christentum und den andern Glaubensformen. Das empirische Christentum steht unter dem beständigen und direkten Einfluss und dem Urteil der Offenbarung in Christo.“ Kraemer, Botschaft, 1940, 132. 145 Vgl. Kraemer, Botschaft, 1940, 117; den Begriff prägte Bosch, Transforming, 1991, 489. 146 Kraemer, Botschaft, 1940, 390, vgl. Hoedemaker, Kraemer, 1994, 511. 147 Kraemer, Botschaft, 1940, 100. 148 Ebd. 99. 149 Ebd. 102. 150 Ebd. 77. 151 Ebd. 366.
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den Erlösung in Christus am Ende der Zeiten an.152 Die christliche Mission „zwischen den Zeiten“ werde motiviert „aus der Schau der triumphierenden Liebe Gottes, die im Herzen des Weltalls brennt, und die in Jesus Christus, unserem Herrn, Mensch wurde“.153 Die empirischen Religionen und alle in ihnen vorhandenen „Anknüpfungspunkte“ für die missionarische Begegnung müssen bei Kraemer deshalb „dialektisch“ aufgefasst werden. Das bedeutet, „man muß in dem offenbarenden Licht Christi das grundlegende Irregeführtsein entdecken, das alles religiöse Leben beherrscht und zugleich das tastende Suchen nach Gott fühlen, das in diesem Irregeführtsein sich regt und das in Christo eine unerwartete göttliche Lösung findet“.154 Daraus ergab sich für Kraemer in der missionarischen Begegnung „eine bemerkenswerte Mischung von gerader Unerschrockenheit und tiefster Demut“.155 Der Islam, das Judentum und das Christentum nahmen für Kraemer jedoch eine Sonderstellung ein. Zusammen zählte er sie zu den prophetischen Offenbarungsreligionen: „Die drei Offenbarungsreligionen gehören alle in den Bereich des biblischen Realismus und haben ihren Schwerpunkt ganz und gar in der Offenbarung. Das gilt speziell für das Christentum in der denkbar intensivsten Weise.“ Vom Islam könne „das alles nur in sehr eingeschränkter und verminderter Weise gesagt werden, aber es kann doch auch gesagt werden“.156 Die Größe des Islam sah er in der „schlechthinnige[n] Ergebung an Gott, den allmächtigen Herrn“.157 Doch was Kraemer als Kernbotschaft des Islam verstand, beschrieb er im Kontrast zu seinem Verständnis des biblischen Realismus: „Offenbarung im biblischen Realismus bedeutet einen stets in heiliger, souveräner Freiheit handelnden Gott, der sich schließlich in dem Menschen Jesus Christus verkörpert hat. Im Islam sind es eine Reihe unbeweglicher göttlicher Worte. … Die Grundlage des Islams ist nicht ‚Das Wort ward Fleisch‘. Es ist: ‚Das Wort ward Buch‘.“ Im Islam fehle „das ganze Drama von Sünde und Erlösung zwischen Gott und der Welt, das im biblischen Realismus … so lebendig ist“.158 Dass der Islam eine so enorme Macht über seine Anhänger hat und das „Gefühl absoluter religiöser Überlegenheit“ vermittle,159 führte Kraemer psychologisch auf das Gottesbild und soziologisch auf die Umma zurück. Durch die „extreme Theozentrizität“ verblasse Allahs Persönlichkeit so sehr,160 dass die Hingabe selbst zum entscheidenden Faktor islamischer Identität werde: „Der ideale Gläubige, der Abd ... ist sozusagen die personifizierte Hingabe und nichts sonst.“ Darüber hinaus habe das Verständnis der Umma als politischer Theokratie, das in 152 153 154 155 156 157 158 159 160
Vgl. ebd. 77, vgl. 367. Ebd. 390, vgl. 72. Kraemer, Botschaft, 1940, 127. Ebd. 117. Ebd. 129–131. Ebd. 194. Ebd. 195–196, kursiv FW. Ebd. 197. „Allah wird im Islam die weißglühende Allmacht, Majestät und Einzigkeit. Seine Persönlichkeit verdampft und verschwindet.“, ebd. 198.
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Medina entstanden sei, die Sharia zur „Regulierung und Weihe einer mittelalterlichen Gesellschaftsform auf dem Grunde der Offenbarung“ gemacht.161 b) Kraemers evangelistic approach in der Begegnung mit Muslimen Auf diesem Hintergrund entfaltete Kraemer seine Sicht christlicher Mission angesichts des Islam. Für die christliche Mission sei der Islam „zu allen Zeiten … der Lehrer der Geduld gewesen“.162 Es sei der „große Dienst“ des Islam gewesen, die christliche Missionsarbeit daran zu erinnern, dass sie „wenn sie wirklich christlich ist, d.h. wenn sie aus der apostolischen Verpflichtung gegen einen göttlichen Auftrag hervorgeht, nicht ... von Motiven geistlicher Eroberung oder des Erfolgs getrieben wird, sondern von dem Drang glaubensvollen und dankbaren Zeugnisses für Christus.“163 Genuine christliche Mission dürfe sich weder auf eine vermeintliche religiöse Überlegenheit noch die Erwartung des Zusammenbruchs politischreligiöser Strukturen berufen. Wie auch immer die Welt sich entwickle, bedeutet christliche Mission, „der Welt Zeugnis abzulegen von Christus und seinem Reiche“.164 Es gehe nicht darum, die Religionen zu überwinden oder „durch das Christentum zu ersetzen“. Die Entwicklung der großen Religionen als sozialer Systeme unterliege komplexen Faktoren. Demgegenüber sei „die Aufgabe aller Missionsarbeit in Wort und Tat der klare und anhaltende Zeuge für christliche Wahrheit und Leben zu sein und lebendige christliche Gemeinden aufzubauen“.165 Diesen Ansatz beschrieb Kraemer als evangelistic approach: „dankbar und gewinnend die Menschen zu bitten, sich Gottes Offenbarung in Christus hinzugeben“. Damit grenzte er sich sowohl gegen den polemischen Ansatz des 19. Jahrhunderts als auch gegen Ausprägungen des sympathetic approach ab, die „den völligen Unterschied zwischen dem Christentum und den anderen Religionen … übersehen“. Kraemer hielt es für unentbehrlich „Verständnis und echte Sympathie für das Beste in anderen Religionen zu zeigen“, sah jedoch in der Überzeugung, „daß das Christentum die Krone dieser Religionen sei … ein geheimes Gefühl der Überlegenheit, das mit Recht als Herablassung empfunden wird“.166 Auch die Anknüpfung an islamische Glaubensüberzeugungen kritisierte Kraemer als „Bruchstückmethode“: „alle Elemente im Koran…, die irgendwie mit dem Christentum zusammenhängen“ hätten „einen ganz anderen Charakter und Tendenz. Deshalb führt die Bruchstückmethode zu nichts“. Stattdessen solle der biblische Glaube geduldig, ausdauernd und ohne Druck erklärt werden: „Jeder Missionar und Christ, der im ‚Hause des Islam‘ das Evangelium verkündigen will, hat … nur
161 162 163 164 165 166
Ebd. 199–200. Ebd. 312. Ebd. Ebd. 57. Ebd. 256. Ebd. 268–269.
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eins zu tun: Er hat geduldig zu erklären, was diese Elemente im biblischen Realismus wirklich bedeuten und hat dann das Ergebnis abzuwarten.“167 Das Ziel des evangelistic approach sah Kraemer darin, dass „Menschen … sich mit den göttlichen Akten der Offenbarung und Erlösungstaten, die für einzelne und die Welt geschehen sind, konfrontieren, …, und daß Gemeinschaften aufgebaut werden von Leuten, die sich ganz im Glauben und liebenden Dienst an Jesus Christus hingegeben haben“.168 Die Mission solle „den Moslem einladen, in die lebendige Welt des biblischen Realismus“.169 Glaube und Bekehrung waren für Kraemer wesentliche Ziele der Mission: „die christliche Kirche [hat] … die Pflicht … Bekehrung … als Grundnotwendigkeit für die Menschheit zu verstehen.“ Bekehrung verstand Kraemer im Kontext der Reichs-Gottes-Predigt Jesu: „das Reich Gottes kann nur durch Bekehrung ergriffen werden.“170 Glaube verstand er als Vertrauen auf Gott in Gericht und Gnade: „Das menschliche Leben … kann nur erlöst und grundsätzlich erneuert werden, wenn der Mensch dies Urteil Gottes und die darin kund werdende Liebe und Treue Gottes anerkennt.“171 Sowohl Muslime als auch Christen benötigen die Bekehrung: „Sich für Christus und seine Welt zu entscheiden, bedeutet für jeden einen Bruch mit seiner religiösen Vergangenheit, ganz gleich ob diese Vergangenheit … ‚christlich‘ oder ‚unchristlich‘ war.“172 Kraemer räumte ein, dass die liberale Kritik an missionarischen Bekehrungsintentionen „manchmal berechtigt“ sei, da „ein gut Teil von dem, was unter dem Namen Evangelisation, Proselytismus und Bekehrung geht, … nicht mit apostolischem und prophetischem Gehorsam gleichgesetzt werden [kann]“. Oft fehlten die „tiefe Demut und das Zartgefühl … [in dem] Bewußtsein, daß man nur Hinweiser auf Gottes Offenbarung ist“.173 Hier betonte Kraemer auch die Notwendigkeit einer „tiefe[n] Anpassung“174 und „echten Übersetzung des Christentums“.175 Dabei gehe es nicht darum, „die Grundtatsachen der Offenbarung in Christo so eng als möglich an die religiösen Grundideen und Geschmacksrichtungen der vorchristlichen Vergangenheit anzugleichen“,176 sondern um eine „klare Ausprägung der christlichen Offenbarung“ in dem Bemühen „Brücken zu bauen“.177 Auch dem Austausch „religiöser Erfahrung“ (was später als interreligiöser Dialog bezeichnet wurde) und dem „sozialen Dienst“178 maß Kraemer Wert bei. Beide seien „als Methoden der Bewegung und 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178
Ebd. 314–315. Kraemer, Botschaft, 1940, 260–61; vgl. Lienemann-Perrin, Mission, 1999, 73. Kraemer, Botschaft, 1940, 315. Ebd. 263. Ebd. 94–95. Ebd. 260; vgl. Lienemann-Perrin, Mission, 1999, 73. Kraemer, Botschaft, 1940, 264. Ebd. 275. Ebd. 287. Ebd. 274. Ebd. 287. Ebd. 265.
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als Ausdruck des christlichen Geistes … vollgültig und sehr wertvoll“. Sie seien Ausdruck einer notwendigen und „wirklich menschliche[n] Berührung in geistlichem Geben und Nehmen“.179 Insgesamt umschloss der evangelistic approach für Kraemer drei Dimensionen: (1) die Verkündigung, (2) die Anpassung und (3) den Dienst.180 Zusammen gehörten diese zur missionarischen „Darbietung der christlichen Wahrheit auf dem Hintergrund der allgemeinen menschlichen Probleme“.181 Als missiologische Begründung dafür sah er die Inkarnation Christi: „Das Christentum ist nie und kann nie in einen religiösen, kulturellen und sozialen Leerraum fallen“.182 Der biblische Realismus sei darum „ewig fest und ewig biegsam“.183 Als Vorbild für die missionarische Praxis nannte Kraemer die Gesprächsführung Jesu: „wie er unbefangen Gebrauch von der Redeweise und den Gedanken der Leute machte …; wie er auch ihre Freuden und Sorgen einging; ... wie er im Streitgespräch in die Tiefe der Fragen eindrang.“184 Am wichtigsten sei jedoch die überzeugende Christusnachfolge des Missionars selbst. Hier liege „der entscheidende menschliche Faktor“.185 „Die christlich-missionarische Begegnung mit dem Islam“ könne deshalb nur unter zwei Grundbedingungen erfolgen: ohne „Abneigung oder Haß gegen den Islam“ und „in ganz anderem Grade als bisher mit … Gebet“.186 c) Der späte Kraemer: Evangelisation – Kommunikation – Dialog Nach Ende des 2. Weltkriegs, in seinen Jahren als Direktor am Ökumenischen Institut in Bossey in der Schweiz (1947–1955), setzte Kraemer neue Akzente. In seinen Veröffentlichungen Religion and Christian Faith (1956) und The Communication of the Christian Faith (1957) vertiefte er den bisher als „Anpassung“ beschriebenen Bereich mit den Konzepten von contact und communication. Dabei näherte er sich der Position Hockings etwas an. Stärker als früher verstand Kraemer contact im Sinne interreligiöser Beziehungen zur Linderung von Leid und Not in der Welt.187 Dennoch blieb er bei seinen bisherigen Grundlagen, die er nun vor allem im Begriff der Communication zusammenfasste. Im Unterschied zum Begriff des approach (den Kraemer jetzt kritisch sah) betone communication die Solidarität und Gemeinsamkeit mit dem Anderen.188 Kraemers Kommunikations179 Ebd. 266. 180 Ebd. 269; „evangelism, adaptation and service“, Kraemer, Message, 1938, 302; vgl. Hallencreutz, New Approaches, 1969, 23–25.49. Hallencreutz beschreibt Kraemers missionarische Methode insgesamt mit den Begriffen contact, communication, controversy und conversion. 181 Kraemer, Botschaft, 1940, 270. 182 Ebd. 278. 183 Ebd. 281. 184 Ebd. 273. 185 Ebd. 186 Ebd. 314. 187 Vgl. Hallencreutz, Approaches, 1969, 49. 188 Vgl. ebd.
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begriff war einerseits existential als „die fundamentale menschliche Tatsache“,189 andererseits war er theologisch, da wahre menschliche Kommunikation ihre Basis in der „new humanity“ in Christus habe. Kraemer unterschied zwischen communication between als der zwischenmenschlichen und communication of als der theologischen Ebene, auf der die Offenbarung Gottes in Christus bezeugte werde. In der missionarischen Begegnung gehörten beide Ebenen zusammen.190 In beiden zeige sich das heilsame, wiederherstellende Handeln Gottes. In World Cultures and World Religions: the Coming Dialogue (1960) thematisierte Kraemer die Begegnung zwischen den neu erwachenden Religionen als Rahmenbedingung für die christliche Mission.191 In seinem Aufsatz Islamic Culture and Missionary Adequacy aus dem gleichen Jahr192 wandte er dies auf die Islammission an. Durch die wachsende politische Selbstbestimmung und die Ausbreitung der säkularen Zivilisation seien westliche und islamische Welt nicht länger antagonistische Blöcke. Die damit verbundene Chance „toward cooperation, mutual understanding and taking each other seriously as partners in a common destiny“ dürfe nicht vertan werden. Den Auftrag christlicher Mission sah Kraemer theologisch zwar unverändert: „The Christian Church has the unalterable calling and obligation to transmit and offer the Message of Jesus Christ’s universal claim on the obedience and faith of all men, to whatever religion, non-religion or culture they may belong. The Muslim world therefore is included in this missionary vision. […].“193 Dieser Auftrag müsse sich jedoch an den postkolonialen Bedingungen orientieren („missionary adequacy“): „The time of Christian missions in the Muslim world, as the organized determined effort for converting Muslims and as inherited from the ninetheenth century, is, as far as I see, passed in the post-colonial era. A radical rethinking and reshaping is … demanded if we ‚discern the signs of the time‘ and are willing to walk in new ways of obedience to the Lord Jesus Christ. It is this that is implied in missionary adequacy.“194
Ausdrücklich griff Kraemer nun auch das neue Konzept des Dialogs auf: in einem „true dialogue on the basis of disinterested service and identification with the needs and problems of the Muslim World in crisis“ sah er die Chance vielleicht erstmals in der muslimischen Welt das wahre Wesen christlicher Kirche sichtbar werden zu lassen.195 Damit hatte Kraemer sich den inzwischen einflussreichen Perspektiven des anglikanischen Islammissiologen Kenneth A. Cragg angenähert,196 die unter C.2. beschrieben werden. Doch zunächst muss der Blick noch auf die Entwicklungen in der deutschsprachigen Islammissiologie fallen, die in
189 190 191 192 193 194 195 196
Ebd. 50. Vgl. ebd. 51. Vgl. ebd. 47. Vgl. Kraemer, Islamic Culture, 1960. Ebd. 248. Ebd. 250 kursiv i.O.; vgl. Hallencreutz, Approaches, 1969, 47–48. Kraemer, Islamic Culture, 1960, 251, vgl. Hallencreutz, Approaches, 1969, 55. Vgl. Cragg, Hearing, 1957.
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den Beiträgen von Karl Hartenstein, Emanuel Kellerhals und Walter Freytag eigene Akzente setzte.197 4. Differenz und Zeugnis: Hartenstein, Kellerhals, Freytag a) Karl Hartenstein: Mission in antichristlicher Zeit Der württembergische evangelische Theologe und Direktor der Basler Mission Karl Hartenstein (1894–1952)198 hatte bereits 1927 in seinem Essay „Was hat die Theologie Karl Barths der Mission zu sagen?“ der ökumenischen Missionstheologie aufrüttelnde Anstöße vermittelt.199 Sein Aufsatz „The Theology of the Word and Mission“ (1931) im International Review of Missions trug diese Impulse in die internationale Diskussion um den sympathetic approach nach der Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928.200 Hartenstein plädierte für eine radikale theologische Diskontinuität zwischen den Religionen und der biblischen Offenbarung und eine Re-Zentrierung der Mission auf das Wort Gottes: „missionary work must be nothing less than the Church of God in actu confessionis, nothing less than the proclamation of God in the world.“201 Andere Missionsziele wie „the spreading of Christianity“, „the evangelization of the world in this generation“, „the sharing of the social and cultural benefits of the West“ und „the preaching the social gospel“202 seien fragwürdig. Hartenstein kritisierte dabei vor allem die Haltung westlicher Superiorität, aber auch das theologische Konzept des fulfilment der Weltreligionen im Christentum als Krone der religiösen Entwicklung: „the whole of Christian culture stands at a period of terrible crisis ... the Church knows that the present age will pass away, and she looks for a new heaven and a new earth.“203 Das Verständnis des fulfilment müsse allein auf die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen in Christus bezogen bleiben.204 Der von Hartenstein geprägte und nach der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 einflussreiche Begriff der
197 Für den deutschsprachigen Kontext erwähnenswert ist auch das 1948 erschienene Spätwerk des Rheinischen Sumatra-Missionars Gottfried Simon (1870–1951) Die Welt des Islam und ihre Berührungen mit der Christenheit (1948). Simon hatte die dialektische Theologie „nur am Rande rezipiert“ (Hock, Spiegel, 1986, 94) und vertrat eine biblisch-apologetische Islammissiologie auf der Linie Zwemers und Richters (siehe II.A.1. und A.5.) und betonte, wie Warneck, den Wettbewerb mit dem Islam um die Stammesreligionen. Zu Simon und Höpfner vgl. V.B.5.b). 198 Hartenstein war von 1926 bis 1939 Direktor der Basler Mission und Leiter des Missionsseminars, ab 1941 Prälat in Stuttgart. Zu Hartenstein vgl. Schwarz, Hartenstein, 1980; Beyerhaus, Wort, 1996, 137–153. 199 Vgl. Schwarz, Hartenstein, 1980, 43; Yates, Mission, 1996, 105. 200 Vgl. Yates, Mission, 1996, 105.119ff; Vander Werff, Mission, 1977, 259.263.284ff. 201 Hartenstein, Theology of the Word, 1931, zit. nach Vander Werff, Mission, 1977, 284. 202 Ebd. 285. 203 Ebd. 204 Vgl. Yates, Mission, 1996, 105.
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missio Dei205 kommt hier der Sache nach bereits zum Ausdruck, wenn Hartenstein Mission beschreibt als „first and foremost an activity of God“.206 Die daran orientierte Mission der Kirche ist nicht Verwirklichung, sondern nur Zeugnis von der Heilsaktivität Gottes: „only a witness of the word of God which is always being accepted by one and rejected by another“.207 Die Religionen sah Hartenstein als Ausdruck menschlicher Sehnsucht („longing“), aber auch menschlichen Stolzes: „the religious man believes he is able to find God and stand before Him, without needing ... the revelation of God.“208 Die Religionen gingen von der irrigen Vorstellung einer „deep continuity between man and God“ aus. Die Botschaft von Christus bedeute jedoch das Gericht über alle Religionen als menschliche Irrwege. In diese Gesamtschau ordnete Hartenstein auch den Islam ein, den der jedoch – im Unterschied zu Kraemer – als antichristliche Religion theologisch vom sonstigen „Heidentum“ unterschied. Hartenstein sah den Islam als antichristlich im Blick auf Mohammed als „Gegenbild zu Christus“, die islamische Gotteslehre als „Entstellung der christlichen“ Gotteslehre209 und die islamische Umma als „antichristliche Machttheokratie“.210 Während diese Perspektiven in der protestantischen Islaminterpretation nicht außergewöhnlich waren,211 vertiefte Hartenstein sie im Rahmen seiner besonderen zeitund heilsgeschichtlichen Sicht. Er gliederte die Menschheitsgeschichte von der Schöpfung bis zur Wiederkunft Christi in die drei Hauptstadien Heidentum, Christusoffenbarung und Antichristentum.212 Als Heidentum beschrieb Hartenstein die Religion des Menschen nach dem Sündenfall und vor der Ankunft Christi: „Die Religion des Menschen vor Christus ist die Offenbarung seiner Ursünde. Der Mensch schafft sich Gott nach seinem Bilde. Von diesen Göttern ist beides zu sagen: sie tragen einen dämonischen Charakter und sie sind nichtig.“213 Gleichzeitig stehe das Heidentum unter der Geduld und Schöpferfürsorge Gottes im Warten auf Christus hin. Das zweite Stadium hat seinen Mittelpunkt in der Christusoffenbarung und beginnt in der Geschichte Israels, „wo die Gemeinde durch das Offenbarungswort Gottes aus den Völkern herausgerufen wird“.214 Obwohl das dritte, antichristliche Stadium nach Hartenstein überall dort eintritt, wo die Christusverkündigung bewusst abgelehnt wird, sah Hartenstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders 205 Hartenstein gebrauchte den Begriff missio Dei bereits in den 1930er Jahren und griff ihn im Anschluss an Willingen 1952 wieder auf, vgl. Schwarz, Hartenstein, 1980, 47ff.. 206 Hartenstein, Theology of the Word, 1931, zit. nach Vander Werff, Mission, 1977, 285. 207 Ebd. 285. 208 Ebd. 285–286. 209 Hock, Spiegel, 1986, 143. Vgl. Hartenstein, Kirche, 1940, 11–12. 210 Ebd. 134, vgl. Hartenstein, Kirche, 1940, 12. 211 Vgl. Baumann, Umkehr, 2003, 44; Hock, Spiegel, 1986, 143f; Zwemer, Moslem Christ, 1912, 157. 212 Vgl. Beyerhaus, Religionen, 1995, 68; Beyerhaus, Wort, 1996, 147; Spohn, Ende, 2000, 60. 213 Hartenstein, Religion, Religionen, in: Calwer Kirchenlexikon (1941), zit. in: Beyerhaus, Religionen, 1995, 68. 214 Beyerhaus, Wort, 1996, 147.
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unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, eine sich verdichtende antichristliche Phase. 215 „Das ist das entscheidende Zeichen dieser Zeit, in einer Welt, in der der Gegensatz zu Christus in einer so umfassenden Weise aufgebrochen ist wie nicht mehr seit den Tagen, da der Islam die Christenheit des siebten Jahrhunderts erschüttert und weitgehend vernichtet hat. Es handelt sich um eine echt antichristliche Situation, in der neue Religionsformen politischer Art, politische Bewegungen mit religiöser Zielsetzung, dem Evangelium entgegentreten, die alten Grundlagen sowohl der heidnischen Religionen wie des ‚christlichen Abendlandes‘ erschüttern.“216
Diese Epoche sei gekennzeichnet vom „Massenabfall der christlichen Völker“, von totalitären Regimen und dem Wiedererwachen der Weltreligionen. Gleichzeitig mache das Ende der konstantinischen Verbindung von Kirche und Staat die Kirche wieder zu einer neutestamentlichen Zeugnisgemeinschaft (communio) des Leidens (passio): „Wir haben es jetzt mit beiden zu tun, einer wehrlosen, gehassten und verfolgten Christuskirche und jenen werdenden großen Tiergestalten, aus denen der Antichrist geboren wird.“217 Neben anderen Entwicklungen ordnete Hartenstein auch das Erstarken des Islam als religiöse und politische Macht in dieses antichristliche Gesamtgeschehen ein, in dem die „Würde des Menschen“ und die „Freiheit des Glaubens der Kirche“ durch totalitäre Systeme in Frage gestellt wird.218 Entscheidend für die theologische Einschätzung des Islam war Hartensteins Überzeugung, dass es nach der geschichtlichen Begegnung mit der Christusoffenbarung keine Rückkehr mehr zum Heidentum gibt. Die Christusverkündigung führe zu einer Entscheidungssituation und – im Fall der Ablehnung – zu einer antichristlichen Verhärtung. In dieser Situation sah Hartenstein den Islam, der sich „nach Christus gegen Christus entschieden“ habe.219 Aufgrund dieser pauschalen heilsgeschichtlichen Einordnung beurteilte Hartenstein auch den gegenwärtigen Islam negativer als andere Religionen, die er als ambivalentes Heidentum sah: „Wir bedürfen einer klaren Sicht der Begriffe ‚heidnisch‘ und ‚antichristlich‘. Bei allen Religionen jenseits der Christusgemeinde geht es um heidnische, d.h. vor Christus und auf Christus hin lebende Religionen. Der Islam ist davon scharf zu unterscheiden als Religion nach Christus, und darum notwendig wider Christus, als Religion, die an Christus (AT und NT)
215 216 217 218
Spohn, Ende, 2000, 60. Hartenstein, Theologische Besinnung, 1952, 59. Hartenstein, Der wiederkommende Herr [1940] 1954, zit. in: Spohn, Ende, 2000, 59. So Hartenstein in einem Bericht zur IMR-Tagung in Whitby 1947, vgl. Spohn, Ende, 2000, 57. Das Aufkommen des Nationalsozialismus hatte Hartenstein anfänglich nicht als antichristliches Geschehen eingestuft, sondern die Entwicklungen zunächst begrüßt. Nach 1934 hielt er sich mit politischen Äußerungen zurück. Vgl. Witschi, Geschichte, 1970, 62–65; Spohn, Ende, 2000, 62f. 219 Hartenstein, Die Kirche und die Religionen, EMZ 1 (1940), zit. in: Beyerhaus, Religionen, 1995, 66–67.72, vgl. Hock, Spiegel, 1986, 143f.
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stark geworden ist wider Christus und den Urtypus aller falschen Prophetie, aller nachchristlichen Religion darstellt.“220
Was bedeutete diese Sicht nun für christliche Mission unter Muslimen? Hartenstein urteilte dialektisch: „Die alte Missionsszeit ist zu Ende“ – doch nun seien „neue Formen einer Mission unter dem Kreuz zu finden“221 – auch gegenüber dem Islam. Damit musste sich auch die Endgültigkeit von Hartensteins Urteil über den Islam und die Muslime missionstheologisch relativieren: „Der von der Welt verworfene Gott ist der Sieger und Erlöser eben dieser Welt. Mit dem Kreuz ist der Schlüssel zur Deutung dieser Weltlage gegeben. Gott ist Herr, aber noch verborgen. Das Reich ist da, aber noch ‚tectum sub cruce‘ (unter dem Kreuz verborgen). Es geht in der Geschichte um den Kampf zwischen dem verborgenen Reich und den offenbaren Reichen, Mächten und Geistern, die den Menschen entweder zur Verzweiflung bringen oder ihn in falsche Hoffnung stürzen.“222
Auch gegenüber Muslimen bedeutet Mission, die Botschaft vom Kreuz und der Auferstehung Jesu Christi zu bezeugen, sie zum Glauben und in die Heilsgemeinschaft Christi zu rufen. Dies impliziert in der Praxis einen „Akt der Übersetzung“, „reine Menschlichkeit“ sowie „unerschrockene Tapferkeit“223 und ist theologisch zu verstehen als Teilnahme an der missio Dei, die Hartenstein im Anschluss an die Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 so beschrieben hatte: „Mission ist nicht nur die Bekehrung der einzelnen, sie ist nicht nur Gehorsam gegen ein Wort des Herrrn, sie ist nicht nur Verpflichtung zur Sammlung der Gemeinde, sie ist Anteilhabe an der Sendung des Sohnes, der Missio Dei, mit dem umfassenden Ziel der Aufrichtung der Christusherrschaft über die ganze erlöste Schöpfung.“ 224
Obwohl Hartenstein auf der Ebene der Theologie und Glaubenspraxis von einem tiefen Gegensatz zwischen Christusgemeinde und islamischer umma überzeugt war, gingen seine eschatologischen missionstheologischen Perspektiven darüber hinaus. Einer Tradition des Pietismus folgend225 vertrat Hartenstein die Sicht einer umfassenden eschatologischen Mission an alle „die in diesem Äon nicht von seinem Wort erreicht wurden [oder] …in diesem Äon Gott widerstrebten“.226 Dies verband Hartenstein mit der Hoffnung auf die letztendliche Annahme des Evangeliums durch alle Menschen. So sehr er betonte, dass es jetzt ein „Drinnen“ und „Draußen“ gebe, ging er davon aus, dass „dieser Zustand nicht ewig sein“ werde.227 Die christliche Gemeinde war für ihn „pars pro toto des ganzen in die Got220 Hartenstein, Religion, Religionen, in: Calwer Kirchenlexikon (1941), zit. in: Beyerhaus, Religionen, 1995, 67. 221 Hartenstein, Theologische Besinnung, 1952, 57.59. 222 Ebd. 61. 223 Unter diesen drei Aspekten fasst Beyerhaus das Konzept der missionarischen Begegnung bei Hartenstein zusammen, vgl. Beyerhaus, Religionen, 1995, 74–76. 224 Hartenstein, Theologische Besinnung, 1952, 54. 225 Ähnliche Perspektiven vertraten im 18. Jahrhundert Zinzendorf, im 19. Jahrhundert Johann Tobias Beck und Carl August Auberlen, vgl. v. Zinzendorfs Zeister Reden [1746] in: Raupp, Quellentexte, 1990, 170; Spohn, Ende, 2000, 76.80.86; Schwarz, Hartenstein, 1980, 92ff. 226 Hartenstein, zit. bei Spohn, Ende, 2000, 84. 227 Ebd. 80.
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tesgemeinschaft zurückberufenen Volkes“. Eines Tages wird „die Hülle vor den Augen der Heidenvölker weggenommen“. 228 Ähnlich wie Kraemer sah Hartenstein in dieser universalen Perspektive eine starke Motivation für die Mission der Gegenwart: „Darum lieben wir die Mission. Darum bleiben wir ihr treu, auch wenn sie jetzt durch schwere Tage geht, denn sie hat dieses endzeitliche Licht, … dass im Tausendjährigen Reiche erfüllt werden wird der freie Zugang zu allen Völkern der Erde.“229 Karl Hartensteins missionstheologische Sichtweisen des Islam bilden – zusammen mit den Perspektiven Kraemers – einen wesentlichen Hintergrund für das islamkundliche Werk seines Basler Kollegen Emanuel Kellerhals. b) Emanuel Kellerhals: Islammission propädeutisches Gespräch Das 1945 erstmals erschienene Kompendium Der Islam: Seine Geschichte, seine Lehre, sein Wesen des Schweizer Pfarrers und Basler Missionslehrers Emanuel Kellerhals (1898–1973)230 wurde zum langjährigen Standardwerk evangelischer Islamkunde und prägte für Jahrzehnte „maßgeblich das Islambild deutschsprachiger Theologiestudenten“.231 Die umfangreiche Darstellung war aus Kellerhals’ Islamvorlesungen am Basler Missionsseminar erwachsen, verbarg ihr missionstheologisches Interesse nicht und verfolgte das dreifache Ziel, den Lesern zu helfen (1) den Islam besser zu verstehen, (2) in der Begegung mit Muslimen vor „verkehrtem Überlegenheitsdünkel wie vor unerlaubter Verwischung der Unterschiede“ bewahrt zu bleiben und (3) „die ihnen aufgetragene Heilsbotschaft des Evangeliums noch klarer und tapferer auszurichten“.232 Die Methode der Darstellung beschrieb Kellerhals als theologische Religionswissenschaft, die er auf Hendrik Kraemer zurückführte und im Horizont der missio Dei verstand: „Eine theologische Religionswissenschaft nimmt ihren Standpunkt mit voller Absicht auf dem Boden der Selbstoffenbarung Gottes, wie sie in Jesus Christus erschienen und in der Bibel bezeugt ist.“233 Eine vergleichende Bewertung von Religionen hielt Kellerhals unterdessen für ein „fruchtloses Unternehmen“, da jeder Religionsvertreter „unausweichlich das Bekenntnis seines Kreises als den Gipfel der Entwicklung bezeichnen“ würde. Es könnten keine 228 Beyerhaus, Religionen, 1995, 67. 229 Hartenstein, Der wiederkommende Herr, 1954, 174 zit. in: Spohn, Ende, 2000, 77. 230 Kellerhals war 1932–1948 Inspektor der Basler Mission sowie Feldleiter der Schweizer Muhammedaner Mission und der Evangelischen Muhammedaner-Mission in Wiesbaden. 1948– 1964 war er Pfarrer in Basel, vgl. Witschi, Basler Mission, 1970, 21; von Dessien, Wasser, 1985; Hock, Spiegel, 1986, 147ff. 231 Hock, Spiegel, 1986, 147, vgl. Jasper, Unterwegs, 2008, 11. Die zweite, leicht überarbeitete Auflage des umfangreichen Werks, aus der im Folgenden zitiert wird, erschien 1956. Ab 1969 erschien eine stark gekürzte und überarbeitete Taschenbuchausgabe, die bis 2002 viele Neuauflagen erlebte. 232 Kellerhals, Islam, 1956, 8. 233 Ebd. 11.
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angeblich objektiven Maßstäbe aus „irgendeinem anderen, neutralen, übergeordneten Reich entnommen“ und „an die Religionen angelegt werden“.234 Für Christen sei die Offenbarung Gottes in Christus der zentrale Maßstab, der aller Religion gegenüberstehe.235 Wesentlich für Kellerhals war darüber hinaus, ebenfalls im Anschluss an Kraemer, Religionen als Gesamtsysteme zu verstehen, deren Elemente von einer „lebendigen Mitte“ zu erfassen sind: „jede Religion [lebt] letztlich … von einem zentralen ‚Wort‘, von ihrer ‚Botschaft‘, mit der sie die Seelen an sich zu ziehen, ihnen Frieden des Herzens, Sättigung ihrer Sehnsucht und ‚Trost im Leben und im Sterben‘ zu geben sucht.“236 Um dem gerecht zu werden, lag Kellerhals daran, religionskundliche Darstellung und theologische Bewertung klar zu unterscheiden. Das zentrale „‘Wort‘ der Religionen“ sollte „ganz ernsthaft, ganz sorgsam“ erfasst werden: „zuerst einmal rein sachlich feststellend, ohne jede Bewertung oder Vergleichung.“237 Dieses Bemühen um möglichst unverstellte Fremdwahrnehmung wird schließlich wieder von einer inklusivistischen christlichen Gesamtbewertung eingeholt: „[der] an der wirklichen Offenbarung geschulte Blick [versteht] das Suchen und Sehnen, die Erzeugnisse und Schöpfungen der Religionen anders, nämlich besser … als sie selber. Er wird die vermeintlichen, die selbstgeschaffenen … ‚Offenbarungen‘ in den fremden Religionen erkennen als das, was sie sind, nämlich als menschliche Versuche, Gott für sich zu gewinnen.“238
Kellerhals’ Bemühen um eine sachgerechte Darstellung der Grundzüge des Islam trug sicherlich dazu bei, dass das Buch als theologische Einführung in den Islam weithin und dauerhaft rezipiert wurde.239 Auch der kanadische Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith bescheinigte: „the author has his facts fairly straight.“ 240 Erst am Ende des Buchs erfolgt der „Versuch einer theologischen Beurteilung des Islam“.241 Hier zeigt sich, dass der Anspruch, keine Vergleiche vorzunehmen, 234 235 236 237 238 239
Ebd. 13. Vgl. ebd. 14. Kellerhals, Islam, 1956, 15. Ebd. 16. Ebd. Dass Kellerhals’ Sichtweisen in den 1950er Jahren in der deutschsprachigen evangelischen Theologie einen Konsens vertraten, zeigt sich auch daran, dass er in der 1959 erschienen dritten Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3) den theologischen Teilartikel zum Stichwort Islam verfasste. 240 Smith, Presentation, 1960, 220. Cantwell Smith kritisierte allerdings eine zu undifferenzierte Wahrnehmung des Islam, die nicht mit der wirklichen Glaubenshaltung aller Muslime übereinstimme. Das Gottesbild der Muslime sei nicht generell „deistisch, entfernt, kalt“ (ebd. 221). Kellerhals’ religionstheologische Bewertung hindere ihn daran, den Islam „in true colours“ zu sehen und „a relationship of brotherhood and reconciliation“ aufzubauen (ebd. 224). Kellerhals nahm Aspekte dieser Kritik auf und bat 1961 Muslime um Stellungnahmen vor einer späteren Veröffentlichung, vgl. Bijlefeld, Recent, 1966, 431, siehe auch Kellerhals, Der Moslem – Unser Bruder, 1965. 241 Kellerhals, Islam, 1956, 341–387.
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nicht durchzuhalten war. Kellerhals’ Argumentation, sein gegenüberstellender Ansatz biete gegenüber älteren vergleichenden Konzepten (er nennt Gottlieb Pfanders kontroverstheologische oder W. Temple Gairdners anknüpfende Methode) etwas grundsätzlich Neues, war nicht ganz überzeugend.242 Auch Kellerhals verglich, wenn auch weniger apologetisch und philosophisch als theologisch, und kam zu dem Schluss, dass der Offenbarungsanspruch des Koran verneint werden müsse, da der „Begriffsinhalt“ der koranischen Aussagen über Jesus Christus „dem biblischen gerade entgegengesetzt“ sei.243 Die an „Mohammed ergangene ‚Offenbarung‘“ zeige zwar, dass „ein Wellenschlag von der biblischen Offenbarung sein Ufer berührt und seine Seele in Bewegung gesetzt“ habe, doch sei das „keine echte und wirkliche Gottesoffenbarung“ gewesen, da „Jesus Christus als Mitte und Ziel“ fehle.244 Im Blick auf Mohammeds Prophetentum räumt Kellerhals ein: „Zweifellos hat Mohammed, wie die biblischen Propheten, die Botschaft von dem einen, souveränen Gott vernommen. Er hat auch gehört und weitergegeben, daß Gott diese Welt richten werde, daß sein ‚Tag‘ nahe sei und daß die Menschen nur in Buße und Umkehr dieser Zukunft entgegengehen können.“245 Von hier aus hätte er sich „weiterführen lassen können“ zur vollen biblischen Offenbarung, „wenn er in der Haltung des Hörers, des Schülers, des …, des offenen Gefäßes … geblieben wäre. … Hätte Mohammed das getan, … hätte er sich von der Vorbereitung zur Erfüllung leiten lassen, dann hätte er vielleicht der Apostel der Araber werden können.“246 Über den theologisch bewertenden Vergleich hinaus unterstellte Kellerhals auch Absichten, womit er sich den spekulativen Tendenzen in Hartensteins Denken näherte: dass Mohammed den Opfertod Christi als das „Herzstück der biblischen Botschaft so leidenschaftlich bekämpft“ habe, zeige, dass es „bewußte und klare Absicht gewesen“ sei, „die Mohammed zu dieser Abwendung von der biblischen Offenbarung geführt hat“.247 Doch wie bei Hartenstein findet sich auch bei Kellerhals eine größere missionarische Hoffnung: es sei noch „nicht das letzte Wort gesagt“.248 Die missionarische Aufgabe der Kirche unter Muslimen beschrieb Kellerhals anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Charakteristisch für die damalige Missionstheologie im Schnittfeld dialektisch-theologischer und pietistischer Prägung werden institutionalisiertes Christentum (Kirche) und Religion (Islam) im differenzierten Gegenüber zur Offenbarung Gottes verstanden. Im Gleichnis steht nach Kellerhals der ältere Bruder für die Kirche, der jüngere Bruder für die Muslime. Damit sollte jedoch keine Hierarchie angedeutet werden. Das Evangelium 242 243 244 245 246 247 248
Ebd. 341. Zu Pfander vgl. Bennett, Legacy, 1996, zu Gairdner s. II.A.2. Ebd. 345. Kellerhals, Islam, 1956, 345–346. Ebd. 346. Ebd. 347. Ebd. 348–349, kursiv FW. Kellerhals, Islam, 1956, 386. Bijlefelds Einschätzung, einer „totally negative evaluation of Islam“ bei Kellerhals wird dessen religions- und missionstheologischen Sichtweisen jedoch nicht gerecht, vgl. Bijlefeld, Recent, 1966, 431
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sei eben nicht „die ‚Religion‘ des älteren Bruders“, die er „dem jüngern als die allein richtige aufdrängen dürfte“. Das Evangelium „richtet und begnadigt beide. … Für beide ist der Sohn gekommen, der für sie das Leben gelassen hat und der sie wieder zum Vaterherzen zurückführt.“249 Mission unter Muslimen verstand Kellerhals, in Abgrenzung von apologetischen oder sympathisierenden Ansätzen, als propädeutisches Unternehmen:250 in geduldiger differenztheologischer Gesprächsführung müsse die Besonderheit „des einen und entscheidenden Wortes Gottes gegenüber den vielen Worten der Religionen durch die Antithese bewußt“ gemacht werden. Mission dürfe die Glaubensüberzeugungen der Muslime zwar „nicht voll Entrüstung verdammen, aber auch nicht in falscher Nachsicht verharmlosen …, sondern mit der Barmherzigkeit der Liebe und gleichzeitig der Unbarmherzigkeit der Wahrheit den Unterschied, die Gegensätzlichkeit herausstellen“. Dort erreiche sie ihre Grenze: die Offenbarung Gottes könne nicht bewiesen, nur bezeugt werden. Das Ergebnis bleibe unverfügbar, weil nur Gott „diese Wahrheit einem Menschen ‚offenbaren‘, ihm die Augen für sie aufschließen und ihm das Ja des Glaubens zu ihr schenken [kann].“ Hier liege eine „letzte, tiefste Unmöglichkeit des Überzeugungsversuchs“, ein heiliges Reservat, „das Gott in seiner Souveränität sich selbst vorbehalten hat“.251 c) Neue Akzente: Walter Freytag Mitte der 1950er Jahre zeichnete sich in der deutschsprachigen islambezogenen Missionstheologie eine neue Entwicklung ab, die die differenztheologischen Entwürfe von Karl Hartenstein und Emanuel Kellerhals mit begegnungsorientierten Perspektiven verband. Am Übergang dieser Entwicklungen stand der Hamburger Missionsprofessor Walter Freytag (1899–1959),252 der einerseits die Linie seines 1952 verstorbenen Kollegen Hartenstein fortsetzte, andererseits als Leiter des ökumenischen Studienprojekts „The Word of God and the Living Faiths of Men“ (WGLFM)253 die Stimmen dialogorientierter junger Theologen aus der Dritten Welt aufnahm. Obwohl Freytag die dialektisch-theologische Unterscheidung zwischen Evangelium (Offenbarung) und Religion durchaus teilte,254 bezweifelte er, dass sie einer angemessenen interreligiösen Wahrnehmung gerecht wurde. Es ließ 249 250 251 252
Kellerhals, Islam, 1956, 386. Ebd. 17. Ebd. Walter Freytag (1899–1959) war seit 1929 Hanseatischer Missionsdirektor mit Lehrauftrag an den Universitäten Hamburg und Kiel – bis zum Lehrverbot 1943. Von 1946 bis 1959 Vorsitzender des DEMR / DEMT, lehrte er ab 1947 als Professor an der Universität Hamburg und der Missionsakademie. Freytag nahm an den Weltmissionskonferenzen in Tambaram 1938, Whitby 1948, Willingen 1952 und Achimota 1958 teil, zuletzt als einer der Vizepräsidenten des IMR. Zu Freytags Leben und Werk vgl. Triebel, Bekehrung, 1976, 15ff. Ustorf, Sailing, 2000, 242ff., Ahrens, Zeitansage, 2005. 253 Zum WGLFM-Studienprojekt vgl. Helfenstein, Grundlagen, 1998, 95–100. 254 Vgl. Freytag, Rätsel, 1956, 17.
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ihm „keine Ruhe“, dass sie die „scheinbare Konsequenz“ habe, dass „die Religionen verteufelt werden, daß man sie schwarz in schwarz sieht …, daß hier kein menschliches Wort über die Religionen möglich ist. Ist wirklich alles in den Religionen nur Gottverlassenheit und Aufruhr? … Sind sie wirklich so heillos?“255 Auf diesem Hintergrund sah Freytag ein ernsthaftes Sicheinlassen auf das Selbstverständnis anderer Religionen als wesentlich für das missionarische und interreligiöse Verstehen. Auf einer Tagung des Internationalen Missionsrats (IMR) auf Staten Island, New York, im Juli 1954 beschrieb er diese Sicht so: „understanding involves a two-way traffic. For you do not ‚understand‘ until you have been touched (affected) yourself.“256 Freytag war überzeugt, dass christliche Missionstheologie sich nicht hermetisch von den Einsichten anderer Religionen abschließen dürfe: „You have not understood them until you have been compelled to interpret your own Gospel in entirely new terms. You have not really understood another religion unless you have been tempted by the insights of this other religion. … There is no understanding of other religions which does not yield new Biblical insights. What is more, such understanding also yields new insights as to the nature of the Church.“257
Das Ernstnehmen des Selbstverständnisses der Religionen bedeutete für Freytag keine naive theologische „Rechtfertigung der Religionen“,258 sondern basierte auf der Einsicht ins gemeinsame Menschsein. Im Blick auf die interreligiöse Begegnung verschob sich der Schwerpunkt von der Konfrontation religiöser Systeme auf die Begegnung zwischen Menschen. In vorsichtiger Abgrenzung zu Kraemer und Kellerhals formulierte Freytag: „Für das Neue Testament geht es nicht um die Religionen, sondern um den Menschen. Es geht nicht … um die Ganzheiten und Einheiten religiöser Traditionszusammenhänge, sondern um den Menschen. … Nicht die Religion, sondern der Mensch ist der Adressat der Verkündigung. Seine Religion ist der Bereich, in dem er lebt … Deshalb begegnet die Schrift diesem Menschen nicht mit einer Auseinandersetzung darüber, was Offenbarung sei, sondern mit dem Zeugnis, wer er, der Mensch ist.“259
Freytag hielt fest, dass Menschen in gegenwärtiger und eschatologischer Perspektive das Heil in Christus erfahren, u.a. als Befreiung von der Fremdbestimmung durch dämonische Gebundenheiten.260 Das Ziel und erhoffte Resultat der Mission war der Glaube an Christus: „Nichts kann im biblischen Sinn Mission genannt werden, das nicht … auf Bekehrung und Taufe abzielt. Noch weniger ist es möglich, das biblische Bild von Kirche von diesem Hintergrund zu lösen.“261 Gleich255 256 257 258 259 260
Freytag, Rätsel, 1956, 18. Zit. in: Warren, Thought, 1961, 164. Ebd. Freytag, Das Dämonische, 1954, 15. Freytag, Rätsel, 1956, 24–25. Freytag sprach „von einer fremden Macht, von einer Fremdherrschaft, unter der der Mensch steht“. Freytag, Rätsel, 1956, 27, vgl. Freytag, das Dämonische, 1954, 52; ausführlicher dazu: Triebel, Bekehrung, 1975, 53f. 261 Freytag, Zwischenkirchliche Hilfe, 1955, 85. Ausführlich zum Verständnis der Bekehrung bei Freytag vgl. Triebel, Bekehrung, 1976.
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zeitig lehnte Freytag die glaubensmissionarische Sicht ab, Anhänger nichtchristlicher Religionen als ewig Verlorene zu sehen und die gegenwärtigen Differenzen und Grenzen zwischen dem Christentum als „Religion unter Religionen“262 und den anderen Religionen mit eschatologisch-soteriologischen Letzturteilen zu verbinden: „Es ist für uns ausgeschlossen, dass wir den Unterschied zwischen Christentum und Religionen etwa noch, wie man vor hundert Jahren das tat, unter der Formel Heil und Heillosigkeit zu betreiben suchten. Wir können nicht mehr die Vorstellung nachvollziehen, die zum Beispiel das Leben Hudson Taylors beherrscht hat, der ja oft für die Missionsarbeit aufrief mit dem Gedanken: In China sterben in jedem Monat eine Million Menschen; sie alle gehen hoffnungslos in das Verderben, nur weil wir ihnen Christus nicht verkündigt haben. Einer derartigen Argumentation können wir nicht mehr folgen. Auf der anderen Seite ist es aber ganz klar, dass … die biblische Verkündigung … etwas bezeugt, was vorher nicht da war: das Heil.“ 263
Freytags Vortrag „Der Islam als Beispiel einer nachchristlichen Religion“ auf der 13. Missionswoche des Studentenbunds für Mission (SfM) in Korntal 1955264 war einer heilsgeschichtlichen Perspektive verpflichtet, grenzte den Islam jedoch nicht mehr pauschal als antichristlich von anderen Religionen ab. Vielmehr verstand er ihn als Teil einer nachchristlichen Gesamtentwicklung wie sie ebenso in Hinduismus, Buddhismus und im Christentum selbst stattgefunden habe. Diese Nachchristlichkeit sah er in Verbindung historischer und theologischer Perspektiven in drei Merkmalen manifestiert: (1) der „menschliche[n] Selbstbehauptung“, in der „die Gruppe sich absolut [setzt]“, (2) der „politische[n] Religion“, die „göttlich garantierte Reiche dieser Welt“ ausruft und (3) der „Immunität gegen die Christusbotschaft“ durch die Assimilation christlicher Inhalte beispielsweise das Verständnis Mohammeds als Mittler.265 Die Geschichte christlich-islamischer Beziehungen und Kontroversen – den „Aufruf zum Schwert“ der Kreuzzüge, den polemischen „Versuch der Logik“ im 19. Jahrhundert und schließlich das missionarische „Ausweichen“ auf die Stammesvölker im 20. Jahrhundert – hielt Freytag für „beschämend“.266 Als „richtungsweisend“ und maßgeblich sah er dagegen die Präsenz christlicher Gemeinde unter Muslimen: „[daß] Gemeinde aus Mohammedanern … im Großen und Ganzen immer da [entsteht], wo mitten im Islam lebendige Gemeinde lebt. … Es ist so, daß die Gemeinde gegenüber einer anderen Religion Träger des Zeugnisses sein muß, weil sie allein dem Reich dieser Welt ein gemeinsam gestaltetes Leben in dieser Welt als das Zeugnis ihres Herrn entgegensetzen kann.“267
262 Freytag, Rätsel, 1956, 17. 263 Freytag, Das Dämonische, 1954, 14. Ähnlich in: Freytag, Ende, 1942, 187. 264 Freytag, Islam, 1955, vgl. Görrig/Schindehütte, Geschwister, 2008, 388–389. Zum Studentenbund für Mission (SfM) siehe III. B. 265 Freytag, Islam, 1955, 97. 266 Ebd. 102–103. 267 Freytag, Islam 1955, 103.
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Als Beispiel nannte Freytag die Arbeit der Evangelischen MuhammedanerMission (EMM) in Assuan, Oberägypten, die er bei einer Begegnung mit Willi Höpfner im Frühjahr 1952 kennengelernt hatte: „Es gibt eine deutsche Mohammedanermission, die nun schon im sechsten Jahrzehnt arbeitet, und das Ergebnis dieser langen Zeit ist ein Getaufter, von dem man zwar noch weiß, daß er lebt, der aber verschwunden ist. Und doch stehen diese Missionare einfach da als ein Zeugnis dafür, daß die Christenheit es nie vergessen darf: Die Botschaft kennt keine Grenze und Gott will alle.“ 268
Daraus leitete Freytag drei Prinzipien ab: (1) die Universalität der biblischen Heilsbotschaft und die Notwendigkeit, sie allen Menschen zu bezeugen; (2) Mission „in einer Haltung der imitatio Christi“; (3) das Abrücken von der „Vorstellung … als müssten wir jetzt oder zumindest in unseren Lebzeiten irgendetwas erreichen“.269 Damit deutete Freytag wie Hartenstein und Kellerhals die größere eschatologische Hoffnung an, aus der heraus die gegenwärtige missionarische Begegnung motiviert und relativiert wird: „Das Eigentliche muss dahinter liegen. ... ‚Denn euer und eurer Kinder ist diese Verheißung, und aller, die ferne sind, welche Gott unser Herr herzurufen wird‘ (Apg. 2,39). Das ist das Eigentliche."270 Auch als Herausgeber der Evangelischen Missions-Zeitschrift (EMZ) wagte Freytag neue Schritte. Dies zeigt der Vorabdruck der Studie Die christliche Kirche und der Islam in Westafrika des anglikanischen Missiologen J. Spencer Trimingham (1904–1987),271 der für eine neue Sicht des Islam „ohne innere Vorbehalte“272 und für eine neue Praxis christlicher Mission warb: als „Dialog, also Begegnung, die zu gegenseitigem Wachstum und Verstehen führt“.273 Obwohl Freytag die „Folgerungen und Vorschläge“ Triminghams „in manchem recht ungeschützt und gewagt“ fand, war er der Meinung, „daß es sich lohnt, diese Ausführungen genau zu bedenken und sich von ihnen anregen zu lassen“.274 C. DIALOGISCHE MISSION IM KONTEXT ISLAMISCHER UND ARABISCHER RENAISSANCE 1. Von der heils- zur verheißungsgeschichtlichen Sicht Die Gründung des Staates Israel 1948 und die palästinensische Flüchtlingssituation führten zu einer Verschärfung der politischen Lage und zum Zusammenrücken 268 269 270 271
Ebd. Zur Begegnung mit Höpfner siehe V.C.4.b). Ebd. 103–104. Walter Freytag, [Editorial], Das Wort in der Welt 4/1958, 48. John Spencer Trimingham war in 1940er Jahren Sekretär der Church Missionary Society (CMS) im Sudan, 1953–1964 Dozent für Islamwissenschaft in Glasgow und 1964–1977 an der Amerikanischen Universität und der Near East School of Theology (NEST) in Beirut. 272 Trimingham, Islam, 1955, 138. 273 Ebd. 136. Diese Perspektiven standen in enger Verwandtschaft zu Hoekendijks Konzept der Schalomatisierung/Humanisierung wie bereits Margull, Theologie, 1959, 210 festellte. 274 Vorwort der Schriftleitung zu Trimingham, Islam, 1955, 129.
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der arabischen Kräfte. Die nationale Revolution in Ägypten Anfang der 1950er Jahre und die folgende Suez-Krise von 1956 verdeutlichten den Aufstieg des panarabischen Nationalismus, den Machtverlust westlicher politischer Kräfte und weitgehend auch das Ende traditioneller christlicher Missionsarbeit in dieser Region.275 Die bisher angesichts postkolonialer Umbrüche erfolgten Überarbeitungen christlicher Missionstheologie – Hartensteins verkündigungsorientiertes Verständnis der missio Dei oder Kraemers Konzept eines biblischen Realismus und einer bold humility – wurden in dieser Situation als nicht mehr ausreichend empfunden.276 Zumindest die Betonung der Diskontinuität stieß angesichts der Herausforderungen interreligiöser Verständigung beim Aufbau postkolonialer Gesellschaften in Asien, im Nahen Osten und Nordafrika zunehmend auf Kritik. Ansatzpunkte für ein missiologisches Umdenken schien dagegen der sympathetic approach der 1920er Jahre zu bieten, der – von seinen spätkolonialen Anhängseln befreit – auf einen neue dialogische Ebene gehoben wurde. Dies verband sich mit den Perspektiven des niederländischen Missionstheologen Johannes C. Hoekendijk (1912–1975), der auf dem Hintergrund der Erfahrungen des 2. Weltkriegs die Ekklesiozentrik von Hartensteins missio Dei-Verständnis scharf kritisierte und eine neue, gesellschaftsbezogene Interpretation vorlegte: Mission als sozialpolitische christliche Partizipation in den weltgeschichtlichen Befreiungsprozessen mit dem Ziel: „shalom for all life; destruction of all solitude, obliteration of all injustice, ‚to give men a future and hope‘.“277 Diese unterschiedlichen Interpretationen der missio Dei wurden bereits von Georg Vicedom in Missio Dei: Einführung in eine Theologie der Mission (1958) beschrieben und diskutiert.278 Doch erst in den 1980er Jahren typisierte der Heidelberger Missionswissenschaftler Theo Sundermeier die Konzepte aufgrund ihrer Geschichtsinterpretationen als heilsgeschichtliches und verheißungsgeschichtliches Modell.279 Während das heilsgeschichtliche Modell die Verkündigung „im Blick aufs Ende“ (Walter Freytag) ins Zentrum stellte, wurde im verheißungsgeschichtlichen Modell die gegenwärtige Weltverantwortung als Antwort auf Gottes Verheißung einer neuen Welt leitend. Auf der Zweiten Vollversammlung des ÖRK in Evanston im August 1954 setzte sich zunächst eine vermittelnde Perspektive durch, die die gegensätzlichen Interpretationen konstruktiv miteinander verband. Der Sektionsbericht „Der missionarische Auftrag heute“ betonte die „volle und einzig ausreichende Offenba275 Vgl. Troeger, Paradigmenwechsel, 2006, 245ff. 276 Vgl. Helfenstein, Grundlagen, 1998, 94ff. 277 Hoekendijk, Call to Evangelism, 1950, 47, vgl. Hoekendijk, Kirche und Volk [1948] 1967, 344; Margull, Theologie, 1959, 101ff.130ff. Zu Biographie und Werk Hoekendijks vgl. Hoedemaker, Legacy, 1995. 278 Vicedom vermittelte hier zwischen den missio Dei-Interpretationen Hartensteins und Hoekendijks. Darüber hinaus bezog er sich sowohl auf erste Ansätze evangelikaler Missiologie bei Donald McGavran (Bridges of God, 1955) als auch auf Vordenker des christlich-islamischen Dialogs wie J. Spencer Trimingham, vgl. Vicedom, Missio Dei, 1958, 81. 279 Vgl. Sundermeier, Theologie, 1987, 474–478. Zur weiteren Diskussion vgl. Feldtkeller, Standortbestimmung, 1999, 39f; Sundermeier, Missio Dei, 2003.
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rung“ Gottes in Jesus Christus, zugleich jedoch, dass der Christ „in seiner Begegnung mit Menschen anderen Glaubens demütig anerkennen [wird], ‚daß Gott sich selbst nicht unbezeugt gelassen hat‘. Wo immer er Licht findet, wird er es nicht zu unterdrücken suchen, sondern Zeugnis ablegen für Jesus Christus, das wahre Licht, ‚welches alle Menschen erleuchtet‘.“280 Ein eigenständiges und einflussreiches Konzept entwickelte der anglikanische Islammissiologe Kenneth A. Cragg, dessen bahnbrechendes Buch The Call of the Minaret (1956) ein neues Verständnis missionarischer Präsenz unter Muslimen entfaltete und den Anstoß zu der von Max Warren (CMS) herausgegebenen Buchserie „Christian Presence“ gab.281 Das Ziel der Serie war es, „[to encourage] the expectation of finding Christ already present in the alternative traditions, where God has ‚nowhere left himself without witness.’ (Acts 14:17). Christ present before he is proclaimed.“282 In den Niederlanden übertrug der Islamwissenschaftler Willem Bijlefeld die Perspektiven Johannes C. Hoekendijks auf die Begegnung mit Muslimen. Ein entscheidender Beitrag zur Entwicklung christozentrischer dialogischer Konzepte kam schließlich von der römisch-katholischen Kirche im Rahmen des 2. Vatikanischen Konzils. Diese verschiedenen Ansätze sollen im Folgenden dargestellt werden. 2. Christologische Interpretation: Kenneth A. Cragg Bereits in seiner Dissertation Islam in the 20th Century: The Relevance of Christian Theology and the Relationship of Christian Missions to its Problems (1950) hatte der anglikanische Missionar und Theologe Kenneth A. Cragg (1913– 2012)283 Unbehagen angesichts Kraemers Diskontinuitätsthese geäußert.284 Er griff den christozentrischen missionstheologischen Faden Kraemers zwar auf, widersprach ihm jedoch im Blick auf die Islaminterpretation. Die christlich-muslimische Begegnung sollte von wirklicher Gegenseitigkeit geprägt sein: es ging um eine neue Missionstheologie, die nur im Gespräch und mit dem Beitrag der Muslime selbst möglich sein würde. Cragg wollte, dass Muslime ihm bei seiner Arbeit „über die Schulter schauen [können]“ und dabei ihren Glauben wiedererken280 Grüber/Brennecke, Evanston, 1954, 158–159. 281 1959 verfasste Cragg mit Sandals at the Mosque. Christian Presence amid Islam einen der Bände der Serie, vgl. Yates, Christian Mission, 1996, 141–142. 282 Yates, Christian Mission, 1996, 141–142. 283 Kenneth A. Cragg war 1939–1947 als Missionar der British Syria Mission an der Amerikanischen Universität in Beirut. Seit 1953 Professor für Islamic Studies an der Hartford Seminary Foundation, USA, war er zugleich Herausgeber der von Zwemer begründeten The Muslim World. 1957–1959 war Cragg Studiensekretär des NECC und Resident Canon an der St. George’s Cathedral in Jerusalem. Seit 1959 lehrte er am anglikanischen Central College in Canterbury, von 1967–1970 an der Ibadan University in Nigeria, 1970–1974 war er anglikanischer Bischof von Ägypten, vgl. Cragg, Faith and Life, 1994; Kerr, Cragg, in: BDCM; 1998, 157; Jones, Cragg, 1992, Quinn, Heresies, 2008. 284 Vgl. Hallencreutz, New Approaches, 43.
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nen:285 „we begin simply with the will to understanding. … We must seek an openness of soul …. to all that is deepest in our fellows.“286 a) Craggs Verständnis des Islam Cragg sah den Islam in einem grundlegenden theologischen Kontinuum zur biblischen Offenbarung. Die Theologie der missio Dei implizierte für ihn das Bemühen um interreligiöses Verstehen: „Not to care about Islam would be not to care about Christ.“287 Das Kontinuum zwischen Islam und Christentum lag für Cragg in der christozentrischen Einheit religiöser Wirklichkeit begründet. Der Ruf des Muezzin als „Ruf an seine Hörer, sich dem Leben zu stellen“ impliziere die gleiche „Ernsthaftigkeit“, die auch im Evangelium zu finden sei. Der christliche und islamische Glaube sprächen bei allen Unterschieden von „denselben Dingen“ und „derselben Wirklichkeit“.288 Im Blick auf das Gottesbild bezögen sich Christen und Muslime auf die Existenz desselben Wesens, wenn auch ihre Aussagen über dessen Charakter unterschiedlich seien.289 Cragg war überzeugt von der „Einzigartigkeit dessen, was der Christ in Christus findet“, doch bedeute dies nicht „die Exklusivität alles Christlichen“.290 Cragg hoffte, den Islam so zu beschreiben, wie die Muslime ihn verstehen und dabei mit ihnen gemeinsam auf Christus zu stoßen. Was bedeutete dies im Einzelnen? Cragg würdigte Mohammed als den Propheten des Islam. Dabei folgte er wie Zwemer dem damaligen religionsgeschichtlichen Konsens, Mohammed habe die „fundamentalen Konzepte seiner Berufung und des daraus folgenden Islam“ aus der Begegnung mit Judentum und Christentum erhalten: „einen überzeugten Monotheismus und eine prophetische Sendung, in der eine göttliche Beziehung der Offenbarung, mittels einer Heiligen Schrift, eine Gemeinschaft des Glaubens schafft.“291 Was der Prophet für die Muslime selbst bedeute, müsse von Christen mit „discerning sympathy“292 verstanden werden. Doch nach welchen Kriterien?293 Auf dem Hintergrund des arabischen Polytheismus? Im Blick auf das Potential islamischer Ausbreitung? Im Vergleich mit den alttestamentlichen Propheten, zu denen es deutliche Unterschiede gibt? Oder im Vergleich zu Jesus, der Kriterien von „fast unerträglichem Kontrast“ biete?294 Für Muslime aller Jahrhunderte sei die universale Bedeutung des historischen Mohammed jedenfalls ein 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294
Vgl. Johnson, Asmara, 1959, 438. Cragg, Minaret, 1956, 188. Ebd. 179. Ebd. 184, Übersetzung FW. Vgl. ebd. 35–36. Ebd. 183: „The uniqueness of what the Christian finds in Christ does not mean or argue the exclusiveness of everything Christian.“ Ebd. 75, Übersetzung FW. Ebd. 202. Vgl. ebd. 92. Cragg, Minaret, 1956, 92, Übersetzung FW.
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„fact of belief“: „the universal made itself manifest. The good, worthy to be the timeless example, was available for recognition and imitation, in this life at that time.“295 Im Gegensatz zu Zwemer und Kellerhals sah Cragg in der nachkoranischen Muhammed-Verehrung weniger eine bewusste und absichtliche Ablehnung Christi, als vielmehr eine versteckte Brücke zur biblischen Christologie.296 Im Blick auf die historische Beurteilung sah Cragg gute Gründe dafür, Muhammed als Mensch, politischem Führer und Sozialreformer Achtung entgegenzubringen und sich nicht auf negative Aspekte zu beschränken. Vor allem als Prediger des einen Gottes in Mekka im Angesicht aller Widerstände sei „seine Edelmütigkeit“ bis heute deutlich.297 Cragg nannte den Islam „the only great post-Christian religion“,298 verband damit aber kein unmittelbares theologisches Urteil wie Hartenstein, Kellerhals und Freytag. Die Entstehung eines so großen Phänomens müsse ein Rätsel und ein Geheimnis bleiben. Tatsache sei jedenfalls, dass auch christliches Fehlverhalten zu einer fortgesetzten „Muslim antipathy“ beigetragen habe. Als Beispiele nannte Cragg die Kreuzzüge, „a mistaken gesture of a disloyal Christianity. … The Crusades did not only postpone an authentically Christian answer to Islam. They intensified both its urgency and its difficulty.“299 Auch der europäische Kolonialismus in Asien und Nordafrika werde von Muslimen als christliche Expansion missverstanden. Diese Gleichsetzung sei zwar falsch „but the responsibility of Christianity in ‚Christendom‘ we cannot seek to escape. The faith of the Christian Church as Muslims have read it in the behavior and the attitudes of Western powers, Western commerce and Western culture has been deeply and sadly obscured.“300 Wie verstand Cragg den Islam soteriologisch? Sah er ihn als Weg zum Heil für Muslime? Im Blick auf gegenwärtige Aspekte des Heils als Leben im Bewusstsein der Wirklichkeit Gottes und in Beziehung zu Gott, beschrieb Cragg islamische Frömmigkeit als authentisch: „Muslim prayer is adressed to the true God and sees it concurring with Christian prayer in its readiness to praise and to align human will to the divine.“301 Dennoch fehle dem Islam die evangelische Gewissheit der heilsamen Zuwendung Gottes als himmlischer Vater. Auch den Einsatz politischer Machtmittel, um Gottes vermeintlichen Willen in der Gesellschaft umzusetzen, sah Cragg als Fehlweg im Islam. Es fehle der Aspekt der Liebe, der dauerhaft nur in der Erkenntnis wurzeln könne, dass Gott sich in der leidensbereiten Liebe Jesu Christi offenbart und so das Böse überwunden habe: „In the end all other systems somewhere abandon the necessities of love (i.e. the
295 296 297 298 299 300 301
Ebd. 100, kursiv im Original. Vgl. ebd. Ebd. 94. Ebd. 265. Ebd. 266–267. Ebd. 267. Jones, Cragg, 1992, 108.
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suffering that love must endure to prevail) which God in Christ undertakes and through him teaches men to undertake.“302 Die Erlösungsbedürftigkeit von Muslimen und Christen, wie der Menschheit überhaupt, werde im Kreuz Christi sichtbar. Dort zeige sich, was Menschen in ihrer Verkehrtheit tun und was Gott getan hat, um die Konsequenzen der Verkehrtheit zu tragen und Vergebung zu ermöglichen. Für Cragg waren Muslime weder per se ewig verloren noch sah er sie per se auf dem Weg in den Himmel, er sah sie vielmehr als Adressaten der Liebe Gottes in Christus, der sie in sein Königreich einschließen möchte.303 Auf diesem Weg lag für Cragg die Einladung an Muslime zum persönlichen Glauben an Christus: „the progress or the contagion of the Kingdom of Heaven is ‚soul by soul‘. We cannot institutionalize the world into God’s Kingdom. … We are called to a tender solicitude for the minds and wills of men. The Word which is Christ has to come into their vocabulary. … But our first confidence must lie in the worth of the story.“304 David A. Kerr brachte das missiologische Islamverständnis Kenneth A. Craggs treffend auf den Punkt: „What he appreciates of Islam is what he sees, actually and potentially, through evangelical perspectives.“305 b) Craggs Verständnis der Mission im Dialog mit Muslimen Für Cragg war Mission ein elementarer Teil des christlich-islamischen Dialogs, da eine wirkliche Begegnung zwischen Evangelium und Islam eine „community of faith“ voraussetze, die an ihrer inneren Ausrichtung festhält. Für die christliche Mission unter Muslimen sah Cragg einen Hauptgrund: „As long as Christ is Christ and the Church knows both itself and him, there will be a mission to Islam.“306 Die konkrete Herausforderung biete der Ruf des Muezzin, der nicht zu überhören sei. Ebenso solle auch das Evangelium hörbar werden. Stört Mission den interreligiösen Frieden? Cragg bezweifelte, dass der Rückzug auf national geschlossene Religionsbilder („household deities“)307 friedlicher Koexistenz hilfreich ist. Vielmehr hätten die Religionen Verantwortung füreinander. Die Moschee müsse hineinrufen in den Bereich der Kirche. Ebenso müsse die Kirche „in reverent and fervent expressiveness“308 dorthin gehen, wo die Muslime sich treffen: „To go into this world of the mosque in the name of one’s duty by Christ is not to be an
302 Cragg, The Dome and the Rock, 1964, 248, zit. bei Jones, Cragg, 1992, 108. 303 Der Cragg-Interpret Jones schreibt: „Does God save apart from participation in the death and resurrection of Christ? Does God … save through ‚faith of an Islamic form‘? Cragg implies that, if so, God saves in spite of some deficiencies in Islamic awareness of their need and of the mode.“ Jones, Cragg, 1992, 107. 304 Cragg, Minaret, 1956, 274. 305 Kerr, Islamic Studies, 2002, 38, vgl. Hock, Spiegel, 1986, 284 sowie Höpfner unter V.D.2. 306 Cragg, Minaret, 1956, 335, kursiv FW. Vgl. Yates, Mission, 1996, 155. 307 Cragg, Minaret, 1956, 181. 308 Ebd. 182.
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enemy: no misconceptions, Muslim or Christian, should be allowed to make it seem so.“309 Mission kann nach Cragg als Praxis der Christologie im islamischen Kontext oder einfach als interpretation beschrieben werden.310 Interpretation verstand er als ganzheitliche Übersetzungsaufgabe: „But our duty is not merely with language as the grammar books present it. There is the duty of attention to proverbs, to local lore, to stories and familiar heroes. … the necessity of being able to translate not only the word but the idiom.“311 Darüber hinaus betonte er die persönliche Beziehung: „This interpretation involves a person-to-person relationship …We cannot … fulfill our ministry except by an intimate relationship with ordinary people.“312 Cragg lehnte es ab, interpretation auf das zu beschränken, was Muslime akzeptieren können. Dies bedeute „to fail Jesus Himself. … We cannot interpret Him apart from the terms of His own understanding of Himself. These include those claims which gave rise to the Church’s faith in His Divinity.“313 Konzepte, die Muslime als anstößig ablehnen, versuchte Cragg jedoch vom muslimischen Denken her begreiflich zu machen. So fragte er: Wenn der allmächtige Gott sich für die Immanenz als höchsten Ausdruck göttlicher Transzendenz entscheide, dürften Menschen ihn dann beschränken und ihm vorschreiben, dass dies seiner nicht würdig sei? „When we present Christ, we ask Muslims to believe, not less but more, in the undefeated sovereignity of God.“314 Als weitere Dimensionen ganzheitlicher Mission unter Muslimen beschrieb Cragg Diakonie, retrieval (Wiedergutmachung) und Geduld. Diakonie bezeichnete er im Anschluss an M. A. C. Warren als Verbindung einer „theology of the soil“ mit einer „theology of the soul“.315 Es sollten nicht nur „kleine Rettungsarchen“ gebaut, sondern die „Kronrechte des Retters“ über alle Bereiche der Wirklichkeit ausgerufen werden. Dabei müsse die Diakonie von jedem Drang zu Bekehrung und Taufe befreit werden. Diakonie bedeutet, „die göttliche Liebe zu zeigen und zu empfehlen, ohne einzubrechen in die Antwort der Seele auf Christus“.316 Dennoch gehöre das verbale christliche Zeugnis als integraler Bestandteil zu diakonischer Mission.317 Unter retrieval (Wiedergutmachung) verstand Cragg die Korrektur und Wiederherstellung des versäumten christlichen Zeugnisses in der Geschichte: „not the repossession of what Christendom has lost, but the restoration to Muslims of the Christ Whom they have missed.“318 Das koranische Jesusbild, das wesentliche 309 Ebd. 184. 310 Ebd. 243: „Can there be any valid distinction between the incomparable content of the faith and the communicable message of the witness?“ 311 Cragg, Minaret, 1956, 200. 312 Ebd. 274. 313 Ebd. 287. 314 Ebd. 292, vgl. Kerr, Islamic Studies, 2002, 38. 315 Cragg, Minaret, 1956, 213. 316 Ebd. 213, Übersetzung FW. 317 Vgl. ebd. 237. 318 Cragg, Minaret, 1956, 246.
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biblische Aspekte nicht kenne und andere ablehne, sah Cragg als Resultat des verzerrten christlichen Zeugnisses und damit als Aufforderung zur Wiedergutmachung.319 Wie Hendrik Kraemer wusste auch Cragg, dass Geduld die einzige Option missionarischer Praxis unter Muslimen darstellt. Sein „Ruf zur Geduld“ betonte, dass nicht Dringlichkeit, sondern das geduldige Bemühen um Verstehen und Übersetzen der angemessene Weg der missionarischen Begegnung war. Dies galt besonders für die sensiblen Fragen von Bekehrung, Taufe und Gemeindebildung. Cragg erwog die Möglichkeit inkulturierter muslimischer Gemeinschaften von „Lovers of Jesus“.320 Er hoffte, dass eine solche Gemeinschaft „den Weg Christi unter Muslimen besser vorbereiten kann, als wenn dieselben Leute sofort als Einzelne in eine Gemeinschaft hinein getauft würden, die weitgehend ausländisch geprägt ist … und sich damit außerhalb des für Muslime Denkbaren bewegt.“321 Christliche Mission gründe jedoch nicht in ihren Erfolgsaussichten, sondern im Wesen Christi und des Evangeliums. Dennoch enthalte das Zeugnis von Christus den Ruf in seine Jüngerschaft: „We cannot neglect that Christ claims discipleship and that His Gospel is something expecting a verdict.“322 Dies dürfe sich jedoch nicht an westlichen Mustern orientieren: „Da alle Völker, einschließlich der Muslime, ihre Herrlichkeit und Ehre in das Reich Gottes einbringen, müssen wir auf das Unerwartete gefasst sein, wenn Christus in den Herzen und Kulturen der Menschen in sein Eigentum kommt. Was Christus insgesamt für Muslime bedeutet, das können nur Muslime ausdrücken.“323
Ein solcher authentischer Ausdruck setze allerdings eine soziale und religiöse Freiheit voraus, die in muslimisch geprägten Gesellschaften bislang weithin unbekannt sei. Der Islam kenne nur die Freiheit, Muslim zu bleiben oder Muslim zu werden, nicht aber die Freiheit, den Islam zu verlassen. Doch „das, was man nicht verlassen darf, wenn man möchte, ist zu einem Gefängnis geworden.“324 Cragg hoffte, dass zukünftige innerislamische Entwicklungen die so verstandene Religionsfreiheit auch als Ausdruck echten islamischen Glaubens begrüßen. c) Die Asmara-Konferenz von 1959 Craggs Ansatz zog bald Kreise. Ein Signal dafür war die Conference on the Christian Faith and the Contemporary Middle Eastern World in Asmara, Eritrea, vom 1. bis 9. April 1959. Die Konferenz war von der United Presbyterian Church in the U.S.A. einberufen worden und diskutierte die Implikationen von Craggs Perspektiven. Die Hälfte der Delegierten waren Kirchenleiter aus Nordafrika und 319 Vgl. Cragg, Minaret, 1956, 261. 320 Ebd. 349. 321 Ebd., Übersetzung FW, vgl. die Kontextualisierungkonzepte im Umfeld der Lausanner Bewegung Ende der 1970er Jahre (II.E.2 und 3.). 322 Cragg, Minaret, 1956, 335. 323 Ebd., Übersetzung FW. 324 Ebd. 338, Übersetzung FW.
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dem Nahen Osten, die andere Hälfte westliche Missionare. Cragg hielt die Bibelarbeiten unter dem Motto „In Thy Light we see the light“ im erklärten Bewusstsein „of the Muslim sitting beside us“.325 Im International Review of Missions wurde die Asmara-Konferenz als „Renewal of Christian Mission to Islam“ bezeichnet. 326 Acht christliche Hindernisse für das christliche Zeugnis unter Muslimen sollten ausgeräumt werden: 1. Mangelnde christliche Anerkennung für Muslime als aufrichtige Gläubige an Gott, so wie sie ihn kennengelernt haben. Die christliche Haltung religiöser Überlegenheit habe viele Muslime in fast unerreichbarer Ferne für das christliche Zeugnis gehalten.327 2. Die Betonung radikaler Diskontinuität zwischen Christentum und Islam und die Forderung eines religiösen und sozialen Bruchs, wenn ein Muslim beginne, an Christus zu glauben. Cragg betonte: „When we go into Islam, we are not going out of Christ.“328 3. Mangelnde christliche Überzeugungskraft. Die Konferenz wandte sich gegen ein Dialogverständnis, das die Erwartung der Bekehrung aufgegeben habe. Es gehe darum „to put truth into confrontation with people, to bring to men that truth to which it is natural that a response be given“ (Cragg).329 4. Angst vor der „defensive opposition“ eines politischen Islam, der den Verlust seiner führenden Rolle durch Säkularisierungsprozesse spüre. Die christlichen Kirchen des Mittleren Ostens sollten am nationalen Aufbau partizipieren und die Umsetzung der UNO-Menschenrechtsdeklaration, besonders der Religionsfreiheit, fordern. 5. Ein unzureichendes Verständnis des Islam. Die Konferenz forderte die Verstärkung der Islamwissenschaft in den theologischen Ausbildungsstätten. 6. Zögerlichkeit in den Kirchen des Mittleren Ostens, Christen mit muslimischem Hintergrund in den Gemeinden aufzunehmen: „Evangelism will simply not reach out until it is ready to take in.“330 7. Versagen der westlichen Missionen, die alten orientalischen Kirchen in die Evangelisation unter Muslimen einzubeziehen. 8. Gleichgültigkeit gegenüber oder Ablehnung christlicher Mission unter Muslimen. Demgegenüber wollte Asmara zur „bleibenden und wachsenden Apostelschaft im Blick auf den Islam“ herausfordern.331 Dazu gehöre allerdings auch der Einsatz für eine gerechte politische Lösung des Problems der palästinensischen Flüchtlinge. 3. Verzicht auf Beurteilung: Willem A. Bijlefeld Im kontinentalen Europa fanden die Perspektiven Craggs zunächst wenig Beachtung. Zu stark war der Einfluss der deutschsprachigen und niederländischen dialektischen Missionstheologie. Die Ansätze von Hartenstein und Kraemer wurden 325 326 327 328 329 330 331
Johnston, Renewal, 1959. The Near East and North Africa, IRM 49, 1960, 32. Vgl. Johnston, Renewal, 439. Zit. ebd. 439. Zit. ebd. 440. Ebd. 442. Ebd. 443.
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allerdings durch die weltbezogene Missionstheologie Johannes C. Hoekendijks zunehmend hinterfragt. Dies führte auch zu neuen Perspektiven in der europäischen Islammissiologie. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Islamwissenschaftler und Missiologe Willem A. Bijlefeld (1925–2013), der 1959 in Utrecht bei Hoekendijk promovierte, mit der Studie De Islam als na-christelijke religie. Een onderzoek naar de theologische beoordeling van de Islam, in het bijzonder in de twintigste eeuw. Im Anschluss daran übernahm Bijlefeld die Leitung des neu eingerichteten Islam-in-Afrika-Projekts (IAP)332 im Norden Nigerias. 1966 wurde er auf den islamwissenschaftlichen Lehrstuhl Craggs an der Hartford Seminary Foundation in Hartford, Connecticut, in den USA berufen.333 Wie bei Kraemer und Cragg waren auch Bijlefelds Islamstudien missiologisch inspiriert. In einer Darstellung des Islam-in-Africa-Projekts schrieb er 1963: „Sicherlich müssen wir jedes unerlaubte Ärgernis vermeiden und dürfen den Muslims keinen unnötigen Anstoß geben. Aber das Ideal der ‚friedlichen Koexistenz‘ sollte nicht unser letztes Interesse sein. Es ist uns ein Zwang auferlegt: Gott, der den Menschen ihre Missetaten nicht mehr zurechnet, hat uns mit der Botschaft der Versöhnung betraut. Die Kirche ist gerufen, in Wort und Tat diesen Frieden zu bezeugen, der höher ist als alle Vernunft.“334
Bijlefeld lehnte es ab, die evangelistisch orientierten Glaubensmissionen335 in Nigeria „ausschließlich negativ zu beurteilen“. Es sei „so einfach, eine Karikatur aus ihnen zu machen“.336 Trotz der aus seiner Sicht oft mangelnden „Aufmerksamkeit“, die „viele dieser Missionare der Gedanken-, Gefühls- und Glaubenswelt“ der Muslime schenken würden, habe er „unendlich mehr Respekt vor den meisten dieser Missionsarbeiter …, die oft in beschämender Opferbereitschaft ihre Arbeit tun, als vor Christen, die sie nur kritisieren … ohne die Bereitschaft, sich in ihrer Arbeit neben sie zu stellen“.337 In seiner theologischen Beurteilung des Islam ging Bijlefeld selbst jedoch andere Wege. Hier war für ihn die muslimische Selbstsicht maßgeblich. Christen müssten sich davor hüten, in den islamischen Texten „einen tieferen Sinn [zu sehen] als sie für Muhammed oder irgendeinen Muslim nach ihm gehabt haben“.338 Damit grenzte er sich sowohl von Craggs positiv-christianisierender als auch von 332 Das Islam-in-Afrika-Projekt (IAP) war 1958 vom Internationalen Missionsrat (IMR) ins Leben gerufen worden mit dem Ziel, die Kirchen Afrikas „zu ermutigen, … dem moslemischen Bevölkerungsteil das Evangelium nahezubringen, und sie dafür zuzurüsten“. Die Gesamtkoordination lag bei einem „European Liaison Committee“ (ELC), um „Berater und notwendige Unterstützung zu senden und die Bildung neuer Gebietsausschüsse in Afrika anzuregen“. Buttler, Islam-in-Afrika, 1969, 101–102. Partner des ELC in Nigeria war der protestantische Dachverband Fellowship of Churches of Christ in Nigeria (TEKAN), vgl. Hock, Islam-Komplex, 1996, 80–81; Fiedler, Vertrauen, 1992, 89ff.110f. Das IAP wurde später in Project for Christian-Muslim-Relations (PROCMURA) umbenannt, vgl. Hock, Islam-Komplex, 1996, 95ff, Ellingwood, Programme, 2008. 333 Von 1967 bis 1992 gab er – ebenfalls in Nachfolge von Cragg – The Muslim World heraus. 334 Bijlefeld, Islam in Afrika, 1963, 80. 335 Vgl. Hock, Islam-Komplex, 1996, 80ff. sowie Fiedler, Vertrauen, 1992, 103ff. 336 Bijlefeld, Islam-Studium und Islam-Apostolat, 1965, 42. 337 Ebd. 43. 338 Ebd. 48.
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Hartensteins negativ-antichristlicher Interpretation ab und plädierte für Nüchternheit und Offenheit: „Der nach-christliche Charakter des Islam sollte weder als anti-christlich noch als semichristlich (also als potentiell christlich) abqualifiziert werden. … Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir nicht wissen, ob der Islam die biblische Botschaft bewußt zurückgewiesen hat oder unabsichtlich mißkonzipiert hat, ob er Anstoß nahm am Kreuz oder an einer Karikatur des Christentums. Die wirkliche Konfrontation des Islam mit dem Kerygma ist noch eine Sache der Zukunft.“339
Die theologische Beurteilung des Islam lehnte Bijlefeld jedoch nicht nur aufgrund der Komplexität der Entstehung und Unabsehbarkeit der Entwicklungen des Islam ab, sondern auch aufgrund des christlichen Glaubens. Theologische Beurteilungen hätten ideologischen Charakter und seien darum dem Charakter des Glaubens fremd. Gefordert sei vielmehr ein positives christliches Zeugnis: „Machen wir nicht den christlichen Glauben zu einer Ideologie, wenn wir eine theologische Beurteilung der anderen Religionen anstreben? Ich kann jetzt nicht mehr anders, als die Frage zu bejahen. Als einzige Aufgabe von Kirche und Mission in einer muslimischen Umgebung sehe ich darum den Auftrag, aus dem Evangelium zu leben … und dieses Evangelium zu verkündigen in einer für Muslim verständlichen Sprache.“ 340
Das Zurückhalten des theologischen Urteils in der interreligiösen Begegnung ließ sich jedoch auf Dauer nicht durchhalten.341 Eine Möglichkeit schien zunächst die säkularisationstheologische Sicht Hoekendijks, übertragen auf den muslimischen Kontext, zu sein: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen – auch in Nigeria. Laßt uns daran denken, daß die Welt, die Kirche wie auch alle Muslime in der Hand Gottes sind.“342 Die Inkarnation Christi als Modell lege nahe, dass absolute Wahrheit nur als einfache Mitmenschlichkeit Ausdruck finden könne.343 Doch die religionstheologische Frage ließ sich in der christlich-islamischen Begegnung nicht auf Dauer ausblenden. Über Cragg hinausgehend vertrat Bijlefeld schließlich eine pluralistisch-inklusive religionstheologische Sicht und argumentierte im Anschluss an Paul Tillich, dass der „complete Christ“ zwar als manifester Christus nur im Christentum, als latenter Christus aber auch in anderen Religionen gefunden werden könne.344 Entsprechend verstand Bijlefeld das Ziel der missionarischen Begegnung im Anschluss an Tillich als vertieftes und reziprokes interreligiöses, geistliches Lernen. Das religiöse Zeitalter sei nicht am Ende, sondern jeder solle sich tief in seine eigene Religion versenken. Dort relativiere sich die Religion selbst, es entstehe geistlicher Freiraum und die Sicht „of the spiritual presence in other expressions of the ultimate meaning of man’s existence“. Die Missionen der Weltreligionen seien deshalb „nicht kompetitiv, sondern komplementär“.345 339 340 341 342 343 344 345
De Islam as na-christelijke Religie, 1959, 322ff zit. bei Löffler, Begegnung, 1975, 36. Bijlefeld, Islam-Studium und Islam-Apostolat, 1965, 50. Vgl. Hock, Spiegel, 1986, 346 Fußn. 1; Hummel, Islam, 1980, 152. Zit. bei Hock, Islam-Komplex, 1996, 81. Vgl. Bijlefeld, Recent, 1966, 430–441. Bijlefeld, Recent, 1966, 436. Zu Tillich vgl. Wrogemann, Mission und Religion, 1997, 105ff. Bijlefeld, Recent, 1966, 438–439.
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4. Neue Begegnung: Bethel 1959 und Thomas Ohm a) Begegnung oder entleertes Christentum? Bethel 1959 In der deutschsprachigen islambezogenen Theologie kamen die neuen dialogtheologischen Impulse nur langsam an. Im Islam-Artikel der 3. Auflage des theologischen Nachschlagewerks Religion in Geschichte und Gegenwart (1959)346 wurde vorsichtig darauf hinwiesen, dass „Dr. Kenneth Cragg behauptet, daß es ‚muslimische Gründe für den Glauben an Jesus Christus gibt‘; der Missionar müsse also mit dem Muslim denken und fühlen und jene muslimischen Gründe für den Glauben erwecken.“347 Vom 13. bis 17. April 1959, fast zeitgleich mit der von Kenneth A. Cragg inspirierten Asmara-Konferenz (s. II.C.1.c),348 fand in Bethel eine evangelische Studientagung zu Christentum und Islam statt, die für eine „Neue Begegnung von Kirche und Islam“ plädierte.349 Einer der Hauptredner der Tagung war Hendrik Kraemer (s. II.B.3.) der mit Verweis auf Kenneth A. Cragg vom „kommenden Dialog“ sprach und hinzufügte: während „die frühere theologische Begegnung die Kontroverse pflegte, Gegensätzlichkeiten hervorkehrte“ und direkt auf eine Bekehrung abgezielte, komme es nun „auf wirklichen Dialog, auf wirkliches in-Kontakt-Treten miteinander“ an. Cragg versuche „überall in den arabischen Ländern Begegnungen zwischen Christen und Moslems zustande zu bringen“, in denen „eine ganz andere Atmosphäre geschaffen“ würde und es um die „wirklichen Probleme der islamischen Welt“ gehe. Dabei „begegnet man ungesucht einander als Zeuge des Islam und als Zeuge des Evangeliums“.350 Der Mainzer Missions- und Religionswissenschaftler Walter Holsten351 griff diese Linie auf. Die „neue Situation“, das „Ende des Kolonialismus“ und der „Vormarsch der westlichen Zivilisation“ verlangten ein neues Verständnis christlicher Mission gegenüber Muslimen, das geprägt sein müsse von der kerygmatischen „Selbstkritik“ am eurozentrischen Corpus-Christianum-Denken. Im An346 Annemarie Schimmel, Islam I. Religionsgeschichtlich und politisch; Emanuel Kellerhals, Islam II. Die biblische Botschaft gegenüber dem Islam; Harry G. Dorman, Islam III. Christliche Mission unter Mohammedanern, RGG3, 1959, 908–925. 347 Dorman, Islam III., RGG, 1959, 925. 348 Die Asmara-Konferenz fand vom 1. bis 9. April 1959 statt. Vgl. Göttin, Bericht über AsmaraKonferenz, 1959. Zu Craggs Islammissiologie siehe II.C.2. 349 So der Titel des von Walter Holsten herausgegebenen Tagungsbandes. Die Tagung wurde vom Verband deutscher evangelischer Missionskonferenzen (VEMK) durchgeführt, vgl. Walther Ruf, Verband deutscher evangelischer Missionskonferenzen, in: EMCM, 1967, 682. 350 Kraemer, Schwierigkeiten in der Begegnung, 1960, 29–30. 351 Walter Holsten (1908–1982) war bis 1947 Pfarrer der hannoverschen Landeskirche und von 1947–1973 Inhaber des ersten nach Kriegsende eingerichteten Lehrstuhls für Missions- und Religionswissenschaft an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz, bis 1953 Stiftungslehrstuhl der Goßner-Mission. Holstens Begründung der christlichen Mission im existential verstandenen paulinischen Kergyma fand besonders in Das Kerygma und der Mensch (1953) Ausdruck, vgl. Gensichen, Holsten, Walter, in: BDCM, 1998, 301. Zu Holstens Missionstheologie siehe VI.A.3 und Schluss C.2.
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klang an Cragg und Bijlefeld betonte Holsten „die Bereitschaft zur Buße“ darüber, „daß weder Mohammed noch der Islam nach ihm die Möglichkeit geboten bekommen haben, das Evangelium von Jesus Christus in seinem wahren Gehalt und die Kirche Jesu Christi in ihrer wahren Gestalt wirklich kennenzulernen“. Als „Versuchung eigener, innerer Islamisierung“ beklagte Holsten gleichzeitig die geistliche und kerygmatische Verflachung in Theologie und Kirche.352 Der Neuendettelsauer Missionswissenschaftler Georg Vicedom353 wies in seinem Vortrag „Der Islam im Abendland“ auf die 15 000 Überseestudenten in Westdeutschland hin: „Wie hoch der Prozentsatz der Moslems unter ihnen ist, lässt sich nicht genau angeben. Man bekommt jedoch einen Eindruck davon aus der Tatsache, daß allein in Deutschland 1300 Studenten aus dem Iran sich aufhalten.“354 Erstmals sprach er von einer muslimischen Migration nach Deutschland.355 Gleichzeitig machte er deutlich, dass es weniger um die Auseinandersetzung mit einem religiösen System, als vielmehr um die Begegnung mit Menschen in der Nachbarschaft gehe. Damit milderte er die polarisierte missionstheologische Grundsatzdiskussion durch eine praxisbezogene Perspektive ab, die soziale und menschliche Dimensionen ins Blickfeld rückte. Bereits in Missio Dei (1958) hatte Vicedom im Horizont seiner missionsanthropologischen Erfahrungen in Papua-Neuguinea356 betont, dass „auch der heilsgeschichtlich gesehen nicht zur Gottesgemeinde gehörige Mensch noch Gottes Geschöpf und Objekt seiner Liebe“ sei.357 Vicedom schlussfolgerte, dass Mission nur erfolgreich sein könne, „wenn sie ihre Botschaft durch die natürlichen Kanäle der … Freundschaft anbiete“.358 Hier sah Vicedom Defizite in der christlichen Begegnung mit muslimischen Studenten in Deutschland: „Was finden diese von Haus aus religiös bestimmten Menschen an unseren Universitäten und in unseren … Betrieben vor? Ein säkularisiertes Abendland, einen Lebensstil, der von christlicher Herkunft oder gar von christlichem Glauben kaum einmal oder irgendwo etwas spüren oder sehen lässt. Die christliche Gemeinde ist für sie sehr schwer zu entdecken.“ 359
Es sei von „entscheidender Bedeutung“, dass sie „Lebensgemeinschaft“ fänden, in der sie sich „geborgen wissen, so wie (oder mehr als) der Moslem daheim im Haus des Islams“.360 Vicedom hielt den christlichen Kirchen die Ahmadiyya als
352 Holsten, Neue Begegnung, 1960, 3–4. 353 Georg Vicedom (1903–1974) wirkte 1929–1939 als Missionar der Neuendettelsauer Mission in Papua-Neu Guinea. Seit 1956 war er Professor für Missionswissenschaft an der AugustanaHochschule Neuendettelsau und versah einen Lehrauftrag an der Universität Erlangen. Zu Leben und Werk von Georg Vicedom vgl. Müller, Peacemaker, 2002; Gensichen, Vicedom, in: BDCM, 1998, 701–702. 354 Vicedom, Islam im Abendland, 1960, 57. 355 Zu Vicedoms Rolle in der Konzeption einer muslimischen Migration siehe I.A. 356 Vgl. Müller, Peacemaker, 2002. 357 Vicedom, Missio Dei, 1958, 77. 358 Ebd. 81. 359 Vicedom, Islam im Abendland, 1960, 57. 360 Ebd.
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Beispiel vor Augen, die „Moslems in der Diaspora“ sammle und „sich so überall ein lebendiges von einer Gemeinde verkörpertes Missionszentrum“ schaffe.361 Insgesamt signalisierte Bethel einen vorsichtigen Neuanfang entlang des von Cragg inspirierten dialogischen Ansatzes, den man mit Kraemers Konzept der communication verband. Wie das Resümee zur Tagung im Lutherischen Missionsjahrbuch zeigt, hielt man damit etwas Abstand von Craggs christianisierender theologischer Islaminterpretation, betonte jedoch die „mitmenschliche Begegnung“, aus der sich „eine unmittelbare Anrede im Namen Christi“ ergeben könne. Die wirklich beunruhigende Frage schien jedoch, ob muslimische Studierende in Deutschland ein „weithin völlig entleertes Christentum“ vorfinden. Muslime in Deutschland könnten das Evangelium erst dann wirklich hören, wenn „in der christlichen Welt ein gottgebundenes Leben sichtbar wird“.362 b) Islamperspektiven katholischer Missionswissenschaft: Thomas Ohm 1961 Die auf der evangelischen Islamtagung in Bethel 1959 anvisierte neue Begegnung mit Muslimen weltweit und im Kontext der Migration in Deutschland bewegte auch die deutschsprachige katholische Missionstheologie. In seiner Schrift Mohammedaner und Katholiken (1961) betonte der Münsteraner Missionswissenschaftler Thomas Ohm (1892–1962), dass Christen „den Mohammedanern verpflichtet und an sie ‚gesandt‘ sind“. Christus habe einen „universalen Missionsbefehl gegeben. [Darum dürfen] auch die Moslems …. nicht ohne die ganze Frohbotschaft von Christus … bleiben. Die Islammission darf nicht unterlassen, verschoben oder aufgegeben werden.“363 Als besondere Adressaten sah Ohm die „Übersee-Studenten, die jetzt in Europa und Amerika die Universitäten besuchen. Hier bietet sich eine Gelegenheit, den christlichen Sendungsauftrag zu erfüllen.“364 Er warnte zugleich vor überhöhten Erwartungen: „Aber die meisten Studenten sind nicht geneigt, auf unserer Verkündigung und Lehre zu hören. Außerdem fordert das Bemühen um die islamischen Studenten äußersten Takt. Nicht jeder ist zur Mission unter den Studenten geneigt und geeignet. Die beste Mission besteht darin, Christus vorzuleben. Dasselbe gilt gegenüber anderen Mohammedanern im Westen.“ 365
Diese Wahrnehmungen stellte Ohm in den größeren missionstheologischen Zusammenhang. Die bis in die Kreise der Weißen Väter366 reichende Resignation, dass der Islam „unbekehrbar“ sei, hielt Ohm für falsch. Er wünschte sich ein neu361 362 363 364 365 366
Ebd. 60. VEMK, Resümee, 1960, 42–43. Ohm, Mohammedaner, 1961, 62. Ebd. 83. Ohm, Mohammedaner, 1961, 83. Der von Charles Lavigerie (1825–1892) gegründete katholische Orden der Afrika- und Islammissionare. In Frankreich bemühten sich die Weißen Väter bereits in den 1950er Jahren „durch Beratung, Hilfe, Arbeitsvermittlung und dergleichen um die etwa 400.000 Nordafrikaner“, vgl. Ohm, Mohammedaner, 1961, 35–37.
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es „Klima“, in dem die Christen ihre Haltung „des ‚contra‘ und ‚adversus‘“ ablegen und die Muslime neu sehen als „Menschen, die nur unzulänglich über Christus unterrichtet sind und unsere Hilfe brauchen, um die ganze Wahrheit, Wirklichkeit und Fülle Christi kennenzulernen.“367 Ohm sah Anzeichen, dass die „Zahl der Christen …, die überzeugt sind, auch an die Moslems ‚gesandt‘ zu sein“ und die eine „verständnis- und liebevolle Annäherung an die Mohammedaner“ anstreben, wachse.368 Damit stand Ohm den Perspektiven von Cragg und Bethel 1959 zwar nahe, doch in seiner kritischen theologischen Beurteilung des Islam nahm er kein Blatt vor den Mund: „Der Islam ist nicht die und nicht einmal eine von Gott geschenkte … und befohlene Religion. Die Christen können den Islam nicht neben und über die Religion Jesu stellen, können im Christentum nicht bloß eine höhere Entwicklungsstufe des Islam sehen. Die These, der Islam sei die letzte und höchste Offenbarung Gottes und die vollkommenste Religion … kann unmöglich anerkannt werden.“369
Gleichzeitig formulierte er deutlicher als Bethel, dass „die Moslems … [nicht] vom Heil ausgeschlossen [sind] und … verdammt werden“.370 Der Islam enthalte Wahrheiten und Werte: „Im Islam sind Männer und Frauen, die Gott intensiv lieben und ihm mit ganzer Hingebung dienen.“ Der Islam „ist für uns nicht bloß ‚Finsternis und Todesschatten‘, nicht bloß ‚Heidentum‘, nicht bloß ein ‚aus trüben uellen geflossenes und gründlich entstelltes Christentum‘“.371 Man müsse sich endlich „von falschen Deutungen islamischer Lehren“ verabschieden, wozu Ohm auch die Deutung als „Vorläufer des Antichristen“ zählte.372 Wie Kenneth Cragg gezeigt habe, müsse man „tiefer als bisher in das Wesen der Religion eindringen“. Bereits Thomas von Aquin habe festgestellt, dass „jede Wahrheit …, von wem immer sie vorgebracht werden mag, vom Heiligen Geist“ komme.373 Die von Hoekendijk, Trimingham und anderen vertretene Meinung, dass „Modernismus und Säkularismus“ die Türen für die Islammission öffneten, teilte Ohm nicht: „Wir hingegen sind der Überzeugung, daß gläubige Moslems eher für Christus zu gewinnen sind als Skeptiker.“374 Die Merkmale der von Ohm vorgeschlagenen „neuen Begegnung“ mit Muslimen unterschieden sich dennoch kaum von denen der presbyterianischen Asmara-Konferenz (1959) oder der evangelischen Islamtagung in Bethel (1959). Sie umfassten:375 1. eine positive Haltung zu den Muslimen; 2. die Rückkehr zur „urchristlichen Methode“, das heißt: „nur mit dem Wort, mit dem Sakrament, dem Beispiel und der Liebe“; 3. persönliche Beziehungen statt institutioneller Mission oder öffentlicher Dialoge; 4. Gelassenheit im Blick auf die Ergebnisse: „die Ent367 368 369 370 371 372 373 374 375
Ohm, Mohammedaner, 1961, 12. Ebd. 47. Ebd. 62. Ebd. 64. Ebd. 64. Ebd. 65. Ebd. Ebd. 69. Ebd. 72–84.
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scheidung liegt bei Gott und auch bei den Mohammedanern, die allen Anrufen gegenüber den freien Willen bewahren“; 5. das Ausräumen von islamischen Missverständnissen: „es ist höchste Zeit, dass die Moslems Christus richtig kennenlernen“; 6. christliche Nachfolge und Gemeindebildung: „lebendige christliche Gemeinden würden … mehr nützen als Bauten aus Stein.“376 Letztlich entscheidend sei der richtige Geist, die richtige Haltung: „Der Geist aber, den die Christen in der Islammission benötigen, ist nicht der Geist der Feindschaft, der Herrschaft, der Überheblichkeit, der Antipathie, sondern der Geist der Freundschaft, der Brüderlichkeit, der Sympathie, des Verständnisses – der Heilige Geist der Agape.“377 Im bald darauf eröffneten 2. Vatikanischen Konzil wurde diese neue Begegnung auf eine erweiterte theologische Grundlage gestellt. 5. Weiträumige Begegnung: Das 2. Vatikanische Konzil Das Islamverständnis des 2. Vatikanischen Konzils hat eine seiner wichtigsten Wurzeln in den Perspektiven des französischen Islamwissenschaftlers Louis Massignon, der im Jahr der Konzilseröffnung starb.378 Das Konzil tagte von 1962 bis 1965 und legte seine veränderte, erweiterte Haltung zum Islam und der Bedeutung christlicher Mission unter Muslimen in den Dokumenten Lumen Gentium (1964), Nostra Aetate (1965) und Ad Gentes (1965) dar.379 Darüber hinaus spielten der Amtsantritt des islamfreundlichen, mit Massignon befreundeten Papst Paul VI. 1963,380 die Einrichtung des vatikanischen Sekretariats für die Nichtchristen 1964381 sowie die Einführung der neuen theologischen Begrifflichkeit des Dialogs in Ecclesiam Suam (1964), der Antrittsenzyklika Pauls VI.,382 eine einflussreiche Rolle für die Entwicklung des Konzils. a) Das Islamverständnis: Hochachtung für die Muslime Ausgangspunkt für die theologische Überarbeitung des Islamverständnisses in Nostra Aetate (NA) war die Wahrnehmung globaler gesellschaftlicher Veränderungen. Angesichts der Aufgabe, „Einheit und Liebe unter den Menschen“ zu fördern, sollten auch die Religionen betonen, „was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt“ (NA 1). In der kirchlichen Tradition
376 Ebd. 83. 377 Ebd. 85, vgl. Höpfner, Nachchristliche Religion, 1971, 5. 378 Vgl. Moubarac, Islam, 1976, 344. Youakim Moubarac (1924–1995), ein libanesischer Islamwissenschaftler und Schüler Massignons nahm am Konzil teil. Zu Massignon siehe II.A.3. 379 Im Folgenden zitiert nach Rahner/Vorgrimmler, Konzilskompendium, 1994. 380 Vgl. Moubarac, Islam, 1976, 344. 381 Vgl. Rahner/Vorgrimmler, Konzilskompendium, 1994, 35; Lemmen, Muslime, 2001, 208. 382 Vgl. Lienemann-Perrin, Mission und Dialog, 1991, 81.
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konnte man dabei auf inklusive religionstheologische Konzepte seit Justin, dem Märtyrer (um 100–165), zurückgreifen und formulierte:383 „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. […] Unablässig aber verkündigt sie und muß sie verkündigen Christus, der ist ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Jo 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat.“ (NA 2)
Diese grundlegende Sicht wurde nun konkret auf den Islam angewandt. Auffällig ist dabei die wertschätzende Sprache, die anknüpfende Verwendung islamischer Begrifflichkeit („unterwerfen“), die Betonung von Gemeinsamkeiten,384 die Aufarbeitung historischer Konflikte sowie der ausdrückliche Wunsch nach friedlichem Zusammenleben. „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den der islamische Glaube sich gerne beruft. Jesus, den sie allerdings nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergilt. Deshalb legen sie Wert auf sittliche Lebenshaltung und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten. Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslim kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.“ (NA 3)
Die in NA 3 zum Ausdruck kommende interreligiöse Hochachtung wird in Lumen Gentium soteriologisch gewendet und differenziert. Grundsätzlich könne jeder „das ewige Heil erlangen“, der „das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet“ (LG 16). Dabei werden diejenigen, „die das Evangelium noch nicht empfangen haben“ in konzentrischen Kreisen auf die in der Kirche anwesende Heilsoffenbarung „hingeordnet“. Im äußersten Kreis befinden sich diejenigen „die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne, da er allen Leben und Atem und alles gibt“. Dann folgen „die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird“. Ganz nahe am Zentrum findet sich das jüdische Volk, „jenes Volk, dem der Bund und die Verheißungen gegeben worden sind und aus dem Christus dem Fleische nach geboren ist (vgl. Röm 9,4–
383 Vgl. Dupuis, Theology of Religious Pluralism, 1997, 62. 384 Hinter dem Anliegen, Gemeinsamkeiten zu betonten, trat die Wahrnehmung der Differenzen, abgesehen von der Gottheit Jesu, zurück, vgl. Lemmen, Muslime, 2001, 206; Eißler, abrahamische Ökumene, 2005, 277ff.
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5), dieses seiner Erwählung nach um der Väter willen so teure Volk: die Gaben und Berufung Gottes nämlich sind ohne Reue (vgl. Röm 11,28–29).“ (LG 16). b) Das Missionsverständnis: größere Gelassenheit Durch sein neues Islambild hob das 2. Vatikanum, im Urteil von Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, „weder das Selbstverständnis der Kirche als der ‚einzig wahren‘ noch ihre dringliche Verpflichtung zur Mission“ auf, eröffnete aber „eine Perspektive zu größerer Gelassenheit in der Mission“.385 Dies führte zu einer „ganz neuen Missionsmethode“ in geduldiger Koexistenz der Kirche mit den anderen Religionsgemeinschaften und im Dialog. In Ecclesiam Suam, der „Magna Charta des Dialogs“386 bezog Paul VI. Dialog und Mission unmittelbar aufeinander. „Der Dialog setzt also bei uns eine innere Haltung voraus, die wir auch in unserer Umgebung hervorrufen und nähren wollen: es ist die innere Verfassung dessen, der in sich die Last des apostolischen Auftrages fühlt, der sich bewusst ist, das eigene Seelenheil nicht vom Suchen nach dem Heil des anderen trennen zu können, der sich ständig bemüht, die Botschaft, die ihm anvertraut ist, in den Kreislauf des menschlichen Gesprächs einzuführen.“ (ES 80).
Der Dialog wurde verstanden „als eine Art, die apostolische Sendung auszuüben“, die geprägt sei von Klarheit und Freundschaft sowie pädagogischer Einfühlsamkeit, die die „Voraussetzungen des Zuhörers“ berücksichtige (ES 81). Die Bekehrungsintention wird zwar relativiert, aber aufrechterhalten. Im Dialog ziele die Kirche „gewiss nicht auf eine unmittelbare Bekehrung des Partners ab[...], da sie seine Würde und seine Freiheit amtet - so sucht sie dennoch dessen Vorteil und möchte ihn zu einer volleren Gemeinschaft der Gesinnung und Überzeugung führen“ (ES 79). Ein erweitertes Verständnis der Bekehrungsintention als Einladung zum Glauben blieb in der Missionstheologie des 2. Vatikanums wesentlich. Ziel der Sendung blieb, dass die Kirche „allen Menschen und Völkern in voller Wirklichkeit gegenwärtig wird, um sie durch das Zeugnis des Lebens, die Verkündigung, die Sakramente und die übrigen Mitteilungsweisen der Gnade zum Glauben, zur Freiheit und zum Frieden Christi zu führen“ (AG 5); da das Heil nur in Jesus Christus ist, sei es notwendig, dass „sich alle zu ihm, der durch die Verkündigung der Kirche erkannt wird, bekehren sowie ihm und seinem Leib, der Kirche, durch die Taufe eingegliedert werden“ (AG 7).387 Dabei wurde unter Bekehrung verstanden „daß Nichtchristen glaubend, mit einem Herzen, das ihnen der Heiligen Geist geöffnet hat, sich frei zum Herrn bekehren und ihm aufrichtig anhangen, da er als ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Jo. 14,6) all ihr geistliches Sehnen erfüllt, ja es unendlich überragt. Diese
385 Rahner/Vorgrimmler, Einleitung zu NA, Konzilskompendium, 1994, 350. 386 Johannes Paul II. zit. bei Lienemann-Perrin, Mission und Dialog, 1999, 81. 387 Hier wurde hinzugefügt, dass „jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr nicht ausharren wollten“ (AG 7, vgl. LG 14).
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Das Islam- und Missionsverständnis des 2. Vatikanischen Konzils war geprägt von einem weiträumigen religionstheologischen Inklusivismus. Dem Islam wurde Hochachtung entgegengebracht, dabei blieben die Einzigartigkeit des Evangeliums, die Heilsnotwendigkeit der Kirche und die Notwendigkeit christlicher Mission wesentlich. Im Blick auf die Frage der Einladung zum christlichen Glauben in der christlich-islamischen Begegnung führte dies zu einer paradoxen Spannung zwischen theologischer Bekräftigung und missionspraktischer Zurückhaltung.388 In der Diskussion der protestantischen und orthodoxen Kirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) wurde die Situation jedoch noch komplexer. D. GEGENSEITIGES ZEUGNIS IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG IM ÖRK Mit den 1969 beginnenden christlich-islamischen Dialogen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) trat die missionstheologische Diskussion zur Islambegegnung in eine neue Phase.389 Zeitgeschichtlicher Auslöser für die Planung der Dialoge war der Sechs-Tage-Krieg 1967 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien und Syrien. Die damit verbundene Verschärfung politischer Spannungen ließ für die Suche nach einem neuen Verständnis christlicher Mission die unmittelbare dialogische Begegnung mit Muslimen unumgänglich erscheinen.390 Nach einer Vorbereitungsstagung in Birmingham 1968 folgte eine Reihe von Dialogen, ab 1971 im Rahmen der neu gegründeten DialogAbteilung des ÖRK, Dialogue with People of Living Faiths and Ideologies (DFI).391 Der erste Dialog fand 1969 in Cartigny bei Genf statt.392 Etwa zwanzig Muslime und Christen nahmen als Einzelpersonen (nicht als offizielle Abgesandte religiöser Institutionen) teil. Ein Jahr später, im März 1970, fand in Ajaltoun bei Beirut im Libanon unter dem Vorsitz des Hamburger Missionswissenschaftlers Hans Jochen Margull ein zweiter Dialog statt, unter Beteiligung von drei Hindus, vier Buddhisten, drei Muslimen und mehr als zwanzig Christen unter dem Motto „Dialogue between Men of Living Faiths“. Auf einer innerchristlichen Auswer388 Vgl. die Praxis der ersten katholischen Islamarbeit, ÖKNI, in Köln, siehe VI.C.4. 389 Vgl. die ausführliche Darstellung und Analyse bei Sperber, Christians and Muslims, 2000. Zur Dokumentation siehe: Brown (ed), Meeting in Faith, 1989. 390 Vgl. Sperber, Dialog mit dem Islam, 1999, 33; Sperber, Christians and Muslims, 2000, 74. 391 Leiter der neuen Abteilung wurden den indische Theologe Stanley J. Samartha als Direktor und Hans Jochen Margull (siehe III.B.1.) als Stellvertreter, vgl. Lienemann-Perrin, Mission, 1999, 97. 392 Die Einladung durch die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, anstelle der zuständigen Kommission für Weltmission und Evangelisation (KWME) sollte Muslimen den Zugang erleichtern vgl. Helfenstein, Grundlagen, 1994, 160.
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tungstagung in Zürich im Mai 1970 formulierte man erste Grundprinzipien für den Dialog, im Januar 1971 in Addis Abeba begründete der Zentralausschuss des ÖRK die oben genannte Dialog-Abteilung. Weitere offizielle Dialoge mit der Beteiligung von Muslimen folgten in Broumana (Libanon) 1972, Colombo (Sri Lanka) 1974, Legon (Ghana) und Hongkong 1975 sowie die christlich-islamische Konsultation zur Mission 1976 in Chambésy bei Genf (siehe unten 2.a).393 Begleitende innerchristliche Reflexionen erfolgten auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok (Thailand) 1973, der ÖRK-Vollversammlung in Nairobi (Kenia) 1975 und vor allem auf einer Konsultation in Chiang Mai (Thailand) 1977, die grundlegend für die Entwicklung der Leitlinien zum Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien (1979) im ÖRK wurde.394 1. Mission als Dialog: der Beitrag von Wilfred Cantwell Smith a) Dialog als Werkstatt der Missiontheologie Im Vergleich zur traditionellen Unterscheidung zwischen missionarischer Begegnungspraxis (interreligiös) und missionstheologischer Reflexion (innerchristlich), stellten die christlich-islamischen Dialoge im ÖRK eine neue Entwicklung dar,395 in der beide Bereiche quasi miteinander verschmolzen. Einerseits setzten die Dialoge die missions- und religionstheologische Arbeit des 1955 von IMR und ÖRK gemeinsam eingerichteten Studienprojektes „The Word of God and the Living Faiths of Men“ (WGLFM)396 fort. Hier ging es um die Ebene der missionstheologischen Reflexion. Andererseits waren die Dialoge (aus christlicher Perspektive) selbst Ausdruck einer neuen Form der Mission, in der das Anliegen, „to understand the other religion as it understands itself“ (Cartigny 1969),397 maßgeblich war. Die damit verbundenen Vorstellungen gingen jedoch auseinander. Islammissiologen wie Kenneth Cragg hofften auf die Dialoge als Chance für ein vertieftes christlich-islamisches Verstehen der (letztlich christologischen) Wahrheit: „Dialogue is not the evasion or repudiation of the controversial, it is … the hope of its redemption.“398 Auf der christlich-islamischen Konsultation in Chambésy 1976 formulierte Cragg: „The real burden of mission is that truth 393 Zur Übersicht und Dokumentation der Dialoge vgl. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 25ff sowie Brown, Meeting in Faith, 1989. 394 Vgl. Dehn, Handbuch Dialog der Religionen, 2008, 407–432. 395 Margull betonte den überraschenden Charakter des Dialoggeschehens im ÖRK: „Es verdankt sich weniger einer hinreichend geklärten Absicht … als vielmehr der Tatsache des plötzlich anhebenden Dialogs.“ zit. bei Sperber, Christians and Muslims, 2000, 246, vgl. Margull, Verwundbarkeit, 1974, 411–411: 413 der die Entstehung des Dialogansatzes als „katarakthaften Vorgang“ beschreibt. 396 Zum WGLFM-Studienprojekt vgl. Buttler, Das Wort, EMZ, 1967; Hallencreutz, New Approaches, 1969, 46; Helfenstein, Grundlagen, 1998, 95ff. 122ff. 397 Brown, Meeting, 1989, 5. 398 Zit. bei Hallencreutz, Dialogue, 1969, 154; vgl. Margull/Samartha, Dialog, 1972, 81.
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should be known. … we exist within a universal humanity to which we believe that truth relates.“399 Hans Jochen Margull verstand den Dialog eher als offene, interreligiöse Werkstatt des Glaubens und der Missionstheologie, die „nicht mehr nach der … überlieferten und gesicherten Wahrheit [fragt], sondern vielmehr danach, ob und wieweit der Glaube einer Person oder eine persönliche Sinngebung jetzt und hier wahr ist“.400 Der Ajaltoun-Dialog von 1970 habe gezeigt, „daß eine Mission ... in ihrem Wagnis gerade im Dialog mit Menschen anderen Glaubens zu verantworten sein muß“.401 Sowohl Cragg als auch Margull waren sich der Verwundbarkeit des christlichen Zeugnisses im interreligiösen Diskurs bewusst, was beide als angemessenen Ausdruck einer christlichen Theologie des Kreuzes verstanden.402 Für die erste, optimistischere Phase des christlich-islamischen Dialogs im ÖRK wurden jedoch vor allem die welttheologischen Perspektiven des kanadischen Islamwissenschaftlers Wilfred Cantwell Smith (1916–2000), Leiter des Center for the Study of World Religions an der Universität Harvard, prägend.403 b) Welttheologie und Islambegegnung: Wilfred Cantwell Smith Wilfred Cantwell Smith hatte ab 1941 als Missionsdozent in Lahore, Indien, unmittelbare Berührungen mit Muslimen gehabt. Die Erfahrung kommunaler Konflikte zwischen Hindus, Muslimen und Christen sensibilisierte ihn für die Problematik der Verbindung von religiösem Dogmatismus und ethnozentrischem Gruppendenken.404 Die wachsende Überzeugung, dass das Heilshandeln Gottes nicht auf die christliche Tradition beschränkt werden könne, sondern auch in anderen Religionen wirksam sei,405 führte ihn zu einer Neuinterpretation christlicher Mission im Sinne interreligiöser Hermeneutik und Welt-Theologie. 399 400 401 402
Kerr/Ahmad, Mission/Da‘wah, 1976, 456. Margull, Verwundbarkeit, 1974, 415. Margull/Samartha, Dialog, 1972, 86. Vgl. Margull, Verwundbarkeit, 1974. Unter Verweis auf Cragg spricht Margull von der „Verwundbarkeit Gottes“, Margull, Verwundbarkeit, 1974, 411. Später formuliert der Lutherische Weltbund [1988]: „Christen in der Mission müssen deshalb das Risiko, das mit einer wechselseitigen Kommunikation verbunden ist, auf sich nehmen. Sie werden verwundbar. ... Wenn sie so ihre Überzeugung riskieren und ihren Glauben einer Bewährungsprobe aussetzen, ist ihr einziger Rückhalt Christus, dem sie nachfolgen.“ In: Wietzke, Mission erklärt, 1993, 141, vgl. Grünschloss, Glaube, 1999, 293. 403 Nach einer Dozententätigkeit in Lahore, Indien, gründete Smith 1951 das Institute for Islamic Studies an der McGill University in Montreal. 1964–1973 lehrte er Religionswissenschaft und leitete das Center for the Study of World Religions an der Harvard University. Bereits seit den 1950er Jahren stand Smith im Kontakt mit dem ÖRK/IMR-Studienprojekt WGLFM, vgl. Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 266; Helfenstein, Grundlagen, 1998, 140. 404 Vgl. Richard J. Jones, Smith, Wilfred Cantwell, in: BDCM 628. 405 1959 fragte Smith, wie man einen „festen, tiefen, lebendigen christlichen Glauben mit ganzem Herzen und mit Entschlossenheit“ vertreten könne, „ohne zu wissen, dass Gott andere Menschen auf anderen Wegen erreiche“, zit. bei Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 265, Übersetzung FW.
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In seinem einflussreichen Werk The Meaning and End of Religion: A New Approach to the Religious Traditions of Mankind (1963) unterschied Smith zwischen persönlichem Glauben (faith) und kumulativen religiösen Traditionen, die sich in unterschiedlichen beliefs ausdrückten.406 Während die kumulative Tradition die äußere Seite der Religion verkörpere, sei persönlicher Glaube das, was Menschen existentiell in ihrer Religion erleben und gestalten: „eine innere religiöse Erfahrung oder Widerfahrnis einer bestimmten Person; die – vermeintliche oder wirkliche – Einwirkung der Transzendenz auf sie.“407 Dabei stehe die kreative Kraft des persönlichen Glaubens mit den kumulativen Traditionen in einer reziproken Beziehung: „die kumulative Tradition ist das äußere Resultat des Glaubens der Menschen in der Vergangenheit und die äußere Ursache des Glaubens in der Gegenwart.“408 Daraus ergab sich für Cantwell Smith eine neue theologische Haltung gegenüber nichtchristlichen Glaubensweisen, die bei William E. Hocking anknüpft:409 1. Im interkulturellen Klima der Gegenwart, müssen die Menschen anderer Religionen ernst genommen werden; 2. alle Urteile über das religiöse Leben außerhalb der christlichen Tradition müssen auf empirischen Forschungen und einer wirklichen Kenntnis der Menschen begründet sein; 3. die Grundlage theologischer Beurteilungen muss die Überzeugung sein, „dass Gott schöpferisch und erlöserisch im religiösen Leben aller größeren Gemeinschaften der Menschheit wirkt“.410 Missionstheologisch deutete Smith die Vielfalt der Religionen als Ausdruck der einen missio Dei, die sich in den vielen missiones der Religionen umsetze.411 Die Missionstheologie Hendrik Kraemers hielt er für falsch, da sie Christen von anderen Religionen entfremde: „A gospel of reconciliation, brotherhood, love and humility is turned by this system … into a message of seperation, condemnation and arrogance. … The Kraemer message is one of radical discrimination.“412 Für Smith waren auch Islam und Hinduismus „channels through which God himself comes into touch with these His children“.413 Damit wird schon deutlich, wie Cantwell Smith den Islam in soteriologischer Perspektive beurteilte.414 In Towards a World Theology (1981) unterschied er Heil im weltlichen Sinn als empirisch erforschbare Erfahrung und Heil im kosmischen Sinn als theologische Aussage über eschatologische Errettung. In Übertragung des lutherischen sola fide betonte Smith, dass auch Muslime das Heil durch den Glauben, iman, erfahren: „faith of an Islamic form, through Islamic patterns, faith 406 407 408 409 410 411 412
Vgl. Hallencreutz, New Approaches, 1969, 83ff; Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 162ff. Smith, Meaning and End (1963), zit. bei Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 162. Smith, Meaning and End (1963), zit. bei Hallencreutz, Approaches, 1969, 87, Übers. FW. Vgl. Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 271. Ebd. 271f. Vgl. ebd. 277. Smith, Presentation, 1960, 224. Damit wurde Cantwell Smith Kraemer jedoch nicht gerecht, vgl. ter Haar, Bridge, 2005, 136–137. 413 Smith, Presentation, 1960, 224. 414 Vgl. Jones, Smith/Cragg, 1992, 106ff; Hock, Spiegel, 1986, 288ff; Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 67ff.
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mediated by an Islamic context“.415 Heil im weltlichen Sinne erführen sie als Befreiung von Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit: „their courage, their dignity, their capacity to suffer without disintegrating and to succeed without gloating, their sense of belonging to a community of accepting and being accepted, their ability to trust and to be trusted, to discipline themselves, to formulate ideals, to postpone reward to work hard towards a distant goal.“416 Im Blick auf das kosmische Heil lehnte Smith jedes theologische Verdammungsurteil ab.417 Seine positive Erwartung kosmischen Heils für die Glaubenden aller Religionen begründete Smith jedoch nicht im Rahmen der islamischen Theologie, sondern christologisch, durch den in Christus sichtbar gewordenen universalen Heilswillen Gottes.418 Auf diesem Hintergrund verstand Cantwell Smith Mission als interreligiöse Dynamik der Religionsgeschichte in der Vielzahl menschlicher Biographien (faith) und kumulativer religiöser Traditionen (belief), als Ausdruck einer multireligiösen Heilsgeschichte Gottes, an der alle religiösen Traditionen aus ihrer jeweiligen Perspektive partizipieren, nicht aber als „Sendung christlicher Menschen zu nichtchristlichen Menschen“.419 In dieser Sicht trafen sich die Interpretationen von Hoekendijk, Bijlefeld, Margull und Cantwell Smith und wurden zu einem starken Einfluss für die erste Phase des christlich-islamischen Dialogs im ÖRK.420 c) Die frühen Dialoge (1969–1973) In den Dialogen von Cartigny 1969, Ajaltoun 1970 und Broumana 1972 kamen die neuen Perspektiven zum Tragen. Die Berichte waren optimistisch. Hans Jochen Margull stellte fest, dass in Ajaltoun 1970 die Sicht des „Dienstcharakters“ der Mission „wider Erwarten schnell Verständnis bei den … Dialogpartnern gefunden“ habe.421 Stanley J. Samartha lobte die Akzeptanz des Modells der „multiplen Missionen“ bei den Dialogpartnern.422 Die Auswertungskonferenz in Zürich im Mai 1970 schlussfolgerte, dass Christus, „sich uns durch sein Handeln an und durch Menschen anderen Glaubens und anderer Überzeugungen zu erkennen gibt“.423 Die Aufgabe christlicher Mission bleibe zwar, Christus „den Menschen bekannt zu machen, damit sie sein Werk … bewußt annehmen können und daran 415 Zit. bei Jones, Smith/Cragg, 1992, 106. 416 Zit. ebd. 417 Vgl. Smith, The Faith of Other Men (1962), zit. bei Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 269. Vgl. Jones, Smith/Cragg, 1992, 106. 418 Vgl. Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 110. 419 Zit. ebd. 273. 420 Im Eröffnungsreferat der Weltmissionskonferenz in Bangkok (Thailand) 1973 nahm der indische Theologe M. M. Thomas maßgeblich Bezug auf Cantwell Smith, vgl. Potter, Bangkok, 1973, 40–41. Auch Margull ging für die weitere Entwicklung davon aus, dass „sich wohl die von Wilfred Cantwell Smith besonders akzentuierte und vorweggenommene Mentalität durchsetzen [wird]“. Margull, Verwundbarkeit, 1974, 415. 421 Margull/Samartha, Dialog, 1972, 86. 422 Ebd. 112. 423 Aide-Memoire § 10, in: Margull/Samaratha, Dialog, 1972, 35.
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teilhaben“, vor allem aber bedeute Mission, sich „‘anderen Menschen öffnen‘ um dadurch besser zu verstehen, ‚was Gott uns durch Christus sagt‘“. Dagegen wurde ein „einbahniges Missionsschema“ als Ausdruck von „Angst, Arroganz und deswegen Mangel an Liebe“ abgelehnt.424 Der Dialog dürfe nicht als „neues Instrument für alte Formen der Mission“ missverstanden werden; er sei „kein unehrenhaftes Mittel ..., mit dem Partner in Kontakt zu kommen, mit dem Ziel einer einseitigen Bekehrung, wobei er überhaupt nicht ernst genommen wäre“.425 Ein ausprägt inklusivistisches Islamverständnis präsentierte Georges Khodr (geb. 1923), orthodoxer Bischof aus dem Libanon, im Rahmen der offiziellen Gründungversammlung der Dialogabteilung des ÖRK 1971 in Addis Abeba. Khodre sah Christus in allen Religionen am Werk, „verborgen im Mysterium seiner Niedrigkeit“.426 Es sei dabei „kaum von Bedeutung“, ob eine Religion „sich selbst als unvereinbar mit dem Evangelium betrachte“. „Es ist allein Christus, der als Licht empfangen wird, wenn die Gnade bei einem … Muslim über dem Lesen [seiner] … eigenen Schriften einkehrt.“427 Mission im Kontext des Islam beschrieb Khodre als: 1. „Große Friedfertigkeit und Geduld“, 2. das „christusgemäße Lesen der Schriften“ anderer Religionen; 3. das Lernen von geisterfüllten Menschen in nichtchristlichen Religionen, 4. die Erwartung, dass die anderen „von selbst hereinkommen“. Schließlich: Mission bedeutet allein, „Christus zu wecken, der in der Nacht der Religionen schläft“:428 Pragmatischer wurde der interreligiöse Dialog als Ausdruck multipler Mission in Broumana 1972 beschrieben als:429 1. Gegenseitiges Zeugnis in Offenheit. Diese Offenheit könne, „complacency, suspicion or unspoken fears“ verhindern; 2. gegenseitiger Respekt. Dazu gehöre, „böswillige Vergleiche zwischen positiven Seiten der einen Glaubensrichtung und Schwächen der anderen, bzw. zwischen dem Ideal der einen und der Wirklichkeit der anderen“ zu vermeiden; 3. Religionsfreiheit („religious freedom“). Unter diesem Begriff wurde jedoch lediglich vor Proselytismus gewarnt, die Freiheit zum Religionswechsel, die gerade im Islam auf Ablehnung stieß, wurde nicht thematisiert: „Obwohl anzuerkennen ist, daß beide Religionen zu missionarischer Tätigkeit berufen sind, sollte der Proselytismus gemieden werden. Gleichgültig, ob nun einen Mehrheit eine Minderheit zur Konformität zwingen will oder ob eine Minderheit durch wirtschaftliche und kulturelle Verlockungen versucht, ihre Reihen zu stärken. Eine der übelsten Praktiken ist es, die Zugänglichkeit der Unwissenden, Kranken und der Jugend auszubeuten.“430
Im Rahmen der Weltmissionskonferenz von Bangkok 1973 wurde das dialogische Konzept in Sektion 1 „Kultur und Identität“ in das ökumenische Missionsverständnis integriert. Die Anerkennung des göttlichen Wirkens „unter den Men424 425 426 427 428 429 430
Aide-Memoire § 4, ebd. 32–42. Aide-Memoire § 16, ebd., vgl. Helfenstein, Grundlagen, 1998, 137–139. Khodre, Christentum, 1972, 138. Ebd. 141. Ebd. Memorandum § 3, vgl. Brown, Meeting, 1989, 23. Ebd.
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schen anderer Religionen“ (§ 4) stehe nicht im Gegensatz zur „zentralen Bedeutung“, die „das Kreuz Christi und seine Rechtfertigung in der Auferstehung“ für Christen haben (§ 3). Dementsprechend wurde christliche Mission sowohl in ihrem biblisch begründeten Zeugnisauftrag als auch in ihrer dialogischen Dimension und Umsetzung festgehalten: „Wir werden dem Befehl des Herrn zu Mission und Zeugnis treu bleiben, der zu unserem unveräußerlichen Besitz gehört und den Angehörige anderer Religionen als eine Pflicht der Christen kennen, so wie ihnen ihre eigene Bindung an ein Letztgültiges ein Verständnis universaler Bedeutung gibt. Das Bemühen anderen Anteil zu geben, und die Bereitschaft, an anderen Anteil zu nehmen, sollte uns zum Zeugnis für Christus inspirieren.“ (§ 8). 431
2. Muslimische und christliche Perspektiven im Widerspruch Die Verständigung mit muslimischen Dialogpartnern über ein angemessenes, gemeinsam verantwortetes Verständnis der Mission verlief jedoch weniger harmonisch als erhofft. Trotz optimistischer Berichterstattung, zeigte sich schon früh eine Inkongruenz der Perspektiven sowie ein Ungleichgewicht der Bewertungen, wie Jutta Sperber in ihrer Studie gezeigt hat.432 Bereits in Ajaltoun hatte der indonesische Muslim Abdul Mukti Ali den christlichen Kirchen vorgeworfen, durch Mission die religiösen Gefühle der Muslime zu verletzen. Er unterstellte, sie nutzten die Abwesenheit der Männer aus, um Frauen und Kinder zu beeinflussen. Mission sei „problematic and pathological in Indonesia“.433 Während einzelne Muslime wie der sufische, schiitische Inder Hassan Askari dem missionstheologischen Dialogkonzept des ÖRK sympathisch gegenüberstanden, wurde christliche Mission auch in ihrer dialogischen und diakonischen Version von muslimischer Seite vorwiegend als unrechtmäßiges und schädigendes Verhalten kritisiert, während islamische Mission bestritten oder als berechtigter Ruf zum Islam (da‘wa) verstanden wurde.434 Als islamistische Drohungen gegen die in Jakarata (Indonesien) geplante 5. Vollversammlung des ÖRK 1975 zur Verlegung nach Nairobi führten, blieb der Vorgang von Seiten muslimischer Dialogpartner weithin unkommentiert, während gleichzeitig die christlichen Minderheiten in Indonesien als Gefahr für die muslimische Mehrheit dargestellt wurden: die Christen versuchten durch Diakonie die muslimische community in Indonesien zu dezimieren und davon abzuhalten, nach der Scharia zu leben.435 Diese Erfahrungen erschütterten die Hoffnungen, die man auf das Dialoggeschehen gesetzt hatte. Enttäuscht hielt Hans Jochen Margull fest: „Wir [dürfen] es uns nicht und auch besonders den Muslimen nicht gestatten …, die Verwundbarkeit des Glaubens zu vermeiden.“436
431 432 433 434 435 436
Zit. in: Potter, Heil der Welt, 1973, 187. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 162–175 („The Mission Dispute“). Vgl. ebd. 163. Sperber spricht von „double reckoning“, ebd. 330. Vgl. ebd. 164–165. Margull, Verwundbarkeit, 1974, 414, kursiv FW.
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Die christlich-islamische Konsultation zur Mission in Chambésy ließ die Divergenzen jedoch noch deutlicher hervortreten. a) Die christlich-islamische Missionskonsultation in Chambésy 1976 1976 wurde ein besonderer Themendialog zur Frage der Mission durchgeführt. Die christlich-islamische Konsultation in Chambésy bei Genf wurde von der Missionsabteilung des ÖRK in Zusammenarbeit mit der Islamic Foundation in Leicester und dem Center for the Study of Islam and Christian-Muslim Relations an den Selly Oak Colleges in Birmingham veranstaltet und von dem britischen Theologen und Islamwissenschaftler David A. Kerr (1945–2008) und dem pakistanischen muslimischen Gelehrten Khurshid Ahmad (geb. 1932) vorbereitet.437 Muslimische und christliche Gelehrte präsentierten ihre Positionen und ein gemeinsames Abschlussdokument wurde veröffentlicht (siehe unter b). Arne Rudvin (1929–2011), norwegischer lutherischer Bischof in Pakistan, präsentierte eine christliche Sicht von Mission, die sich deutlich von dem Verständnis bei Margull oder Cantwell Smith unterschied. Rudvin definierte: „Mission, therefore, is to bring all mankind to acknowledge Jesus as Lord, because he owns us all, and has a just claim on us all.“ Die Inkarnation bedeute nicht nur, „that in Jesus Christ we have real humanity …but that in Jesus Christ we have God, who really became man“.438 Selbstkritisch kommentierte Rudvin jedoch die Verknüpfung von Diakonie und Evangelisation: „I believe our Muslim brethren have a right to blame us for this; dependence upon these means of evangelization is also a sign that we lack faith in the Word of God and in the power of the Spirit.“439 Isma‘il Al-Faruqi (1921–1986), ein in den USA lehrender palästinensischer Islamtheoretiker und Philosoph, reagierte ablehnend auf die Missionsbegründung Rudvins: „Instead of a paper on the nature of mission, the Bishop has given us a paper on Christology.“440 Auch habe Rudvin die Ergebnisse der Bibelkritik nicht berücksichtigt, die gezeigt hätten, dass der Missionsbefehl nicht von Jesus stamme und im Widerspruch zu dessen ausschließlicher Sendung zu den „verlorenen Schafen Israels“ stehe, um die „Jewish aberration“ zu beenden. Die Überzeugung von der universalen Heilsbedeutung Christi beruhe auf einem Missverständnis des poetischen Charakters biblischer Sprache.441 Auch die Lehre von der Gefallenheit des Menschen sei eine „non-empirical, psychopathic view of history“. Die Überzeugung vom Sühnetod Jesu sei moralisch abstossend, zerstöre Gottes Transzendenz, mache die menschliche Verantwortung zunichte und damit die Religion bedeutungslos.442 Überhaupt habe Rudvin lediglich „statements of personal faith“ 437 438 439 440 441 442
Vgl. Kerr/Ahmad, Mission/Da‘wah, 1976. Rudvin, Mission, 1976, 377, vgl. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 170. Rudvin, Mission, 1976, 381. Al-Faruqi, Da‘wah, 1976, 385. Ebd. 386. Ebd.
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abgegeben, die nicht als Grundlage für einen Dialog über Mission dienen könnten. Diakonische Bemühungen unter Muslimen lehnte Faruqi ab, da geistliche und politische Fragen viel drängender seien als „developmental and economic ones“, außerdem müssten Christen zunächst ihr Schuldkonto gegenüber den Muslimen klären.443 Die islamische da‘wa stand für al-Faruqi jedoch auf einem anderen Blatt. Der universale Anspruch des Islam sei berechtigt und ergebe sich notwendig aus dem Imperativ zum „pursuit of God’s pattern“: „This universalism of da‘wah rests on the identity of imperative arising out of conversion to Islam. All men stand under the obligation to actualize the divine pattern in space and time…. This task is never complete for any individual…. hence da‘wah is necessarily addressed to both [the Muslim and the non-Muslim]; to the Muslim to press forward to actualization and to the non-Muslim to join the ranks of those who make the pursuit of God’s pattern supreme.“444
Die Grundlage islamischer da‘wa sei der Islam als din al-fitrah, die natürliche Urreligion der Menschheit. Insofern stelle der Islam auch die ultimative Begründung der Religionswissenschaft dar; er sei „the first call to scholarship in religion, to critical analysis of religious texts“, mit dem Ziel die religiösen Traditionen auf die Wahrheiten der Urreligion zu durchforsten.445 Islamische da‘wa sei darum „ecumenical par excellence“, da sie den Nicht-Muslim auffordere, die islamische Wahrheit in einer kritischen Analyse seiner eigenen religiösen Tradition zu finden: „The task of dialogue, or mission, is thus transformed into one of sifting the history of religion in question.“446 Als Ziel der islamischen da‘wa beschrieb alFaruqi die Pax Islamica, die keinen Zwang auf Anhänger anderer Religionen ausübe, sondern es Gott überlasse, sie zur Wahrheit zu führen – als Gegenleistung allerdings so etwas wie einen Missionsverzicht erwarte: „not to interfere with his neighbors right to listen and be convinced“.447 Einen Platz für christliche Mission gab es in al-Faruqis Konzept nicht. Auch die Ablehnung der Freiheit zum Religionswechsel für Muslime sei notwendiger Selbstschutz gegen politische Übergriffe: „The Islamic state has, of course to protect itself - … conversion so often seems to be tantamount to subversion of Islamic values and existence. … Give us the assurance that political involvement in mission will cease, and that power politics will no longer intrude, then the principles of religious freedom would be approved.“448 Das neuere ökumenische Missions- und Dialogverständnis lehnte Al-Faruqi als pluralistisch und relativistisch ab. Muslime seien nicht beeindruckt von einem Dialogverständnis, das jedes religiöse System als ultimativ stehen lasse: „Indeed,
443 444 445 446 447 448
Ebd. 389. Ebd. 393, vgl. Poston, Islamic Da‘wah, 1992, 6. Al-Faruqi, Da‘wah, 1976, 396. Ebd. Al-Faruqi, Da‘wah, 1976, 394. Ebd. 451.
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such ecumenism is not representative of the religions which claim that what they propose is the truth, and not merely a claim to truth among many claims.“449 Der indonesische Muslim Muhammad Rasjidi, ehemaliger Religionsminister, ging zu einem polemischen Angriff auf christliche Missionsaktivitäten über, der mehr auf Furcht als auf Fakten zu basieren schien.450 Er warf den indonesischen Kirchen vor, Mission unter Berufung auf die säkulare Konstitution zur Unterminierung der islamischen Mehrheit (87% der Bevölkerung) zu mißbrauchen. Dabei benutzen die Kirchen illegitime Mittel wie Sex, das Verteilen von Süßigkeiten und Kinofilme, um Muslime zur Konversion zu verleiten.451 Kirchenbauten, Entwicklungshilfe, medizinische Hilfe oder Bildungsangebote zielten nur darauf, Muslime abzuwerben, die dann unter dem Deckmantel der Kirchen zu Atheisten oder Kommunisten würden: „Christians use every artifice to see that secular law prevails, which for Muslims virtually means de-Islamization of their collective life. … To us Islam determines our identity, individual as well as social. … Christianity is trying to force secularism on the world of Islam.“452 Diese Sicht teilten auch andere muslimische Redner in Chambésy. Der Kolonialismus habe nur sein Gesicht verändert, setze sich aber unverändert fort. Christliche Mission in Indonesien oder Tansania werde von „imperialist forces“ benutzt.453 Kenneth Cragg fand diese Art der Auseinandersetzung „extremly desolating“. Er sah den Dialog festgefahren und dominiert von den Interessen institutionalisierter, politisierter Religion statt Ausdruck eines gemeinsamen geistlichen Ringens um die Wahrheit zu sein: „our inter-relationship is seen … in terms of predatory exercise whereby one community is going to lose members to the other. The real burden of mission is that truth be known.“454 b) „To convince and be convinced“: Das Abschlussdokument Auch das abschließende „Statement of the Conference“455 war vom Ungleichgewicht der Perspektiven geprägt. Zwar betonte §1 in einer wirkungsgeschichtlich bedeutsamen, reziproken Formulierung sowohl die Freiheit gegenseitiger Mission („recognizing that the Muslims as well as the Christians must enjoy the full liberty to convince and be convinced“), als auch die Freiheit zum Verbleiben in der jeweils eigenen religiösen Tradition („that the individual is perfectly entitled to maintain his / her religious integrity“). Eine klare Anerkennung des Rechts christlicher Mission und selbstbestimmter Konversion von Muslimen zu anderen religiösen Orientierungen war damit aus islamischer Sicht jedoch nicht ausgedrückt, da die muslimischen Redner die Sicht vertreten hatten, dass das Recht „to be con449 450 451 452 453 454 455
Ebd. 396. Vgl. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 164–165. Vgl. Rasjidi, Case Studies, 1976, 430–431. Rasjidi, Case Studies, 1976, 437. Al-Faruqi in der Diskussion, Kerr/Ahmad, Mission/Da‘wah, 1976, 446. Cragg zit. bei Kerr/Ahmad, Mission/Da‘wah, 1976, 453–454. Abgedruckt bei: Kerr/Ahmad, Mission/Da‘wah, 1976, 457–460.
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vinced“ sich in islamischen Ländern nur auf das Muslimwerden von Christen beziehe.456 Der Abschlussbericht wiederholte auch die islamische Befürchtung, christliche Diakonie im islamischen Kontext habe versteckte Motive: „Many of the Christian missionary services today continue to be undertaken for ulterior motives. Taking advantage of Muslim ignorance, of Muslim need for educational, health, cultural and social services, of Muslim political stresses and crises, of their economic dependence, political division and general weaknesses and vulnerability, these missionary services have served other purposes than holy - proselytism, that is, adding members to the Christian community for reasons other than spiritual“ (§6).457
Die Muslime fordern die Kirchen auf „to suspend their misused diakonia activities in the world of Islam“ (§7). Erst dann könne neu über Mission nachgedacht werden. Selbst die Unterstellung verschwörerischer Verbindungen der Mission zu den „intelligence offices of some big powers“ (§6) fehlt nicht im Abschlussdokument. Das Abschlussdokument folgt damit (in christlicher Selbstkritik) weitgehend der islamischen Missionskritik, während eine islamische Selbstkritik fehlt. Zwar kam das Selbstverständnis der islamischer da‘wa deutlich zum Ausdruck, das Selbstverständnis christlicher Mission (wie es etwa Rudvin vertreten hatte) fand jedoch kaum den Weg in die Abschlusserklärung. So ist auch Sperbers Schlussfolgerung zu verstehen, dass Chambésy „in Practice a Disaster“ gewesen sei.458 Die Kritikpunkte der christlichen Seite, vor allem der Vorwurf, dass eine Religion, die Konversionen verbiete, praktisch ein Gefängnis sei, seien von muslimischer Seite ignoriert worden, „verbunden mit lautstarken Bezügen auf die eigene Perfektion, und, vor allem, die eigene Rolle als Opfer“.459 Auch in weiteren Dialogen änderte sich wenig an diesen Positionen. Immerhin hatte das Gespräch überhaupt begonnen. Ein Ergebnis der Dialoge war eben auch „die durch keine ‚Meta-Theorie‘ mehr überbrückbare Einsicht in die völlige Verschiedenheit der Perspektiven … , gerade weil man sich jetzt besser kennt“.460 3. Community of Communities: Zeugnis oder Proselytismus? Der zunehmende Realismus im Dialog zeigte sich bereits 1974 in Colombo (Sri Lanka), wo man die „bleibende Fremdheit zwischen den Religionen“ eingestand und neue Wege suchte.461 Colombo betonte, dass die Differenzen der Religionen nicht im Gegensatz zum friedlichen Zusammenleben der Weltgemeinschaft stehen müssen. Den Proselytismus sah man allerdings weiterhin als potentielle „source of great disharmony between religions. The proselytizing efforts of a religion can 456 457 458 459 460 461
Vgl. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 173. Kerr/Ahmad, Mission/Da‘wah, 1976, 455–459. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 170. Ebd. 171, Übersetzung FW. Grünschloss, Welt-Theologie, 1994, 290. Lienemann-Perrin, Mission, 1999, 98.
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seem unfriendly to the religious community to which they are directed.“462 Demgegenüber wurde das Leitbild einer „community of communities“ formuliert. Interreligiöse Begegnungen dürften nicht zur Schwächung von religiösen Gemeinschaften oder ihrer Assimilation an andere Gemeinschaften beitragen.463 Im Rahmen der 5. Vollversammlung des ÖRK in Nairobi, an der erstmals auch Gäste aus anderen Religionen teilnahmen,464 wurde der interreligiöse Dialogs als neue Form der Mission kritisch diskutiert. Konfessionelle und evangelikale Theologen befürchteten Synkretismus und kritisierten die Vernachlässigung einer evangelistisch ausgerichteten Mission. Vor allem Theologen aus der Dritten Welt betonten die bleibende Bedeutung des Dialoges: „if we are not prepared to accept others in love they will not accept us“.465 Es wuchs jedoch die Bereitschaft, den Dialog von einem idealistischen Vorverständnis zu befreien, zugunsten der Wahrnehmung der tatsächlichen Vielfalt und Kontroversen. Gleichzeitig setzte sich eine pragmatischere Sicht des Dialogs als Chance und Notwendigkeit im Zusammenleben der verschiedenen religiösen communities durch.466 Auf christlicher Seite wuchs die missionstheologische Einsicht, dass Dialog und Mission weder miteinander identisch sind, noch sich gegenseitig ausschließen.467 Diese Verhältnisbestimmung entlastete christlich-islamische Verständigungsbemühungen von unmittelbaren missionarischen Intentionen, gleichzeitig hielt sie den unausweichlich missionarischen Charakter von Islam und Christentum sowie die missionale Dimension des interreligiösen Dialog als gegenseitiges Zeugnis im Sinne des „frank witness“ von Broumana 1972 fest. Zugleich wurde damit der einladende und hörfähige Charakter christlicher Mission als demütiges und mutiges Zeugnis, den bereits Hendrik Kraemer zum Mittelpunkt seiner Missionstheologie gemacht hatte,468 neu in den Fokus gerückt. Obwohl die Ablehnung des Proselytismus auf weitgehende Zustimmung aller Beteiligten stieß, blieben einige Aspekte des Proselytismus-Begriffs unklarer als es auf den ersten Blick schien, vor allem zu Fragen der Konversion und der Religionsfreiheit. Christen und Muslime waren sich – mit jeweils eigenen theologischen Gründen – darin einig, dass das Entstehen persönlichen religiösen Glaubens letztlich in den Wirkungsbereich Gottes fällt und Menschen sich nicht gegenseitig bekehren können und dürfen.469 Zwang und Manipulation in der Einladung zum Glauben wurden von allen abgelehnt. Die oft vagen Definitionen von Proselytismus470 schienen jedoch alle ernstgemeinten Überzeugungsversuche (Bekehrungs-
462 463 464 465 466 467 468 469 470
Towards World Community, III. 1, in: Brown, Meeting, 1989, 40. Towards World Community, II. 4, ebd. 39. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 13. Zit. ebd. 255. Vgl. Lienemann-Perrin, Mission, 1999, 99f. Vgl. Löffler, Dialog, ÖL, 1983, 262. Löffler, Theologie des Dialogs, 1977. Siehe II.B.3. Vgl. Sperber, Christians and Muslims, 2000, 173. Der amerikanische Missiologe Samuel Schlorff kritisiert die vage Begrifflichkeit des ökumenischen Proselytismus-Diskurses: „They use vague, subjective and emotionally laden terms
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intentionen) sowie tatsächliche Konversionen zu problematisieren. Der Verlauf der Dialoge zeigt, dass selbst eine radikal auf die geistliche Dimension beschränkte Missionsperspektive wie die von Rudvin471 als Verletzung des islamischen Selbstverständnisses und Proselytismus verstanden werden konnte. Bereits zu Beginn des Dialogprogramms hatte der nordamerikanische Religionswissenschaftler John B. Carman (Harvard) eine theologisch verengte Sicht des Proselytismus kritisiert und gemahnt: „nur in Situationen mit möglichem oder wirklichem ‚Proselytismus‘ … [ist] es möglich, daß es zu einem christlichen Dialog“ mit nichtchristlichen Angehörigen derselben Ethnie kommt.472 Der unklare Proselytismusbegriff und die darin mitschwingende Ablehnung christlicher Missionsbemühungen unter Muslimen setzten sich im islambezogenen Missionsverständnis des ÖRK zunächst jedoch weitgehend durch. Einige Interpreten verbanden diese Entwicklung mit der Feststellung vom „Ende der Islammission“, wobei sie gleichzeitig den „Evangelikalen“ vorwarfen, an einer „Bekehrungsintention“ festzuhalten und in ihrem Missionsverständnis „auf die Stufe vorkritischer Kreuzzugsmentalität“ zurückgefallen zu sein.473 Obwohl die Forderung nach einem „Ende der Islammission“ durchaus auch im ÖRK zu finden war, zeigten sich ebenso Ansätze einer konstruktiven Verbindung, bzw. Unterscheidung von Dialog und Mission (wie bei Arne Rudvin in Chambésy oder generell bei Kenneth A. Cragg), die sich von Perspektiven der evangelikalen Lausanner Bewegung nur wenig unterschieden. E. KONTEXTUELLE EVANGELISATION UNTER MUSLIMEN IN DER LAUSANNER BEWEGUNG Die evangelikale Missionstheologie, die sich seit Mitte der 1960er Jahre durch eigene Konferenzen (Wheaton und Berlin 1966) und seit dem Kongress für Weltevangelisation in Lausanne 1974 in der Lausanner Bewegung institutionalisierte,474 stand im Blick auf die Mission unter Muslimen, vor allem im Nahen Osten und Nordafrika, vor ähnlichen Fragen wie der ÖRK: wie sollte man missionstheologisch mit der Resistenz der islamischen Bevölkerung, der Renaissance des Islam im Kontext des politischen Nationalismus (und darüber hinaus) und den Restriktionen für die christliche Mission umgehen? Wie im ÖRK konstatierte man eine
471 472 473
474
… which permit one to brand any disapproved conversion as ‚proselytism‘.“ Schlorff, Models, 2006, 22. Vgl. Rudvin, Mission, 1976, 81, siehe II.D.2. Carman zit. in Margull/Samartha, Dialog, 1972, 98. Zur neueren Diskussion vgl. LienemannPerrin, Konversion, 2004, 231; Feldtkeller, Perspektive der Religionswissenschaft, 2001, 10. Vgl. die Interpretationen bei Hock, Spiegel, 1986, 204–208.354.362. Margull, Verwundbarkeit, 1974, 415 sprach von einem prinzipiellen Ende der westlich-christlichen Mission, beobachtete aber zugleich, dass „die westlich-christliche Mission in der evangelikalen Zeugnisgemeinschaft wieder geltend gemacht wird“. Zur Geschichte der Lausanner Bewegung siehe Stott, Making, 1996; Yates, Mission, 1996, 194ff; Berneburg, Verhältnis, 1997, 40ff., Stanley, Lausanne, 2013, Wrogemann, Missionstheologien 2013, 128–141.
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zunehmende (politische, gesellschaftliche und religiöse) Kluft zwischen Muslimen und der christlichen Mission. Doch während man die Kluft im ÖRK (zunächst) durch religiös-dialogische Öffnung und missionarische Zurückhaltung zu überbrücken suchte, setzte man in der evangelikalen Missionstheologie auf eine kulturell-kontextuelle Öffnung und eine Verstärkung biblisch-christozentrisch begründeter missionarischer Präsenz in der islamischen Welt: „We sensed anew our … responsibility to devote heart, soul, conscience and resources to the task of making Jesus Christ known to the many diverse peoples of the Muslim world.“ 475 Auf diesem Hintergrund ergaben sich Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Bewegungen. Die Gemeinsamkeiten waren angesichts des gemeinsamen Kontextes sowie des gemeinsamen Erbes nicht überraschend. Immerhin hatten ÖRK und Lausanner Bewegung (LB) im Blick auf die Missionsarbeit in der islamischen Welt gemeinsame Wurzeln in der reformierten und anglikanischen Tradition von Zwemer, Gairdner, Kraemer und Cragg. Tiefer greifende theologische Unterschiede zeigten sich jedoch in der Bewertung dieses Erbes. 1. Das ökumenische und glaubensmissionarische Erbe a) Making Christ known: Das ökumenische Erbe Ein zentraler Aspekt dieses Erbes war das Verständnis von Mission als Verbreitung des Evangeliums zu den bisher „Unerreichten“. Im Plenum der 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 äußerte der evangelikale Anglikaner John R. Stott (1921–2011), späterer theologischer Vordenker der Lausanner Bewegung und maßgeblicher Autor der Lausanner Verpflichtung (1974), seine Wahrnehmung, dass man „vor allem beschäftigt [ist] mit dem Hunger und der Armut und der Ungerechtigkeit der zeitgenössischen Welt. Ich selbst wurde davon tief bewegt und zur Verantwortung gerufen, ich möchte das nicht verringert sehen; was mich aber quälte war, dass ich kein vergleichbares Mitgefühl oder eine Beunruhigung über den geistlichen Hunger der unevangelisierten Millionen fand.“476 Stott fügte hinzu: „Der Ökumenische Rat bekennt Jesus als Herrn. Der sendet seine Kirche, um die Frohe Botschaft zu verkündigen und Jünger zu gewinnen. Ich kann nicht sehen, wie die Vollversammlung bemüht ist, diesem Auftrag zu folgen. Der Herr Jesus weinte über die Stadt, die ihn nicht angenommen hatte. Ich sehe diese Versammlung keine solchen Tränen vergießen.“477 Gleichzeitig knüpfte Stott an die Islammissiologie seines anglikanischen Kollegen Kenneth Cragg an.478 Wie Cragg interpretierte Stott den christlich-islamischen Dialog christozentrisch und betonte, dass „wahrer christlicher Dialog mit 475 Glen Eyrie-Report (GR), Conclusion, 1978, in: Stott, Making, 1996, 137. 476 Zit. bei Beyerhaus, Allen Völkern, 1972, 66, vgl. Goodall, Uppsala 1968, 24ff. Kursiv FW. 477 Zit. bei Berneburg, Verhältnis, 1997, 50, vgl. Goodall, Uppsala 1968, 24ff. Ähnlich äußerte sich Donald McGavran, vgl. Berneburg, Verhältnis, 1997, 52. 478 Vgl. Stott, Gesandt, 1976, 75–78.
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einem Nichtchristen nichts mit Synkretismus zu tun hat, sondern mit unserem Glauben an die Einzigartigkeit Jesu Christi voll übereinstimmt“.479 Impulse der Weltmissionskonferenz von Mexico-City 1963 und der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 aufnehmend sah Stott den interreligiösen Dialog als Zeichen (1) der Glaubwürdigkeit (authenticity), (2) der Bescheidenheit (humility), (3) der Aufrichtigkeit (integrity) und (4) des Feingefühls (sensibility). Im Unterschied zu Wilfred Cantwell Smith lehnte Stott jedoch „mit Entschiedenheit“ ab, dass die „nichtchristlichen Systeme“ „zur Rettung ausreichen und daß … christlicher und nichtchristlicher Glaube … in gleicher Weise gültige Wege zu Gott seien“. Zum Dialog gehöre deshalb auch das „Entgegentreten“ und die „Konfrontation“, um die „Unzulänglichkeiten und Irrtümer der nichtchristlichen Religionen bloßzulegen“ und „die Wahrheit, Absolutheit und Endgültigkeit des Herrn Jesus Christus aufzuzeigen“.480 Als Motiv christlicher Mission unter Muslimen formuliert Stott mit Cragg: „Wir stellen Christus aus dem allein ausreichenden Grund dar, daß er es verdient, vorgestellt zu werden.“481 b) Die Unerreichten: Das Erbe der Glaubensmissionen Neben der Tradition der ökumenischen islambezogenen Missionstheologie von Zwemer bis Cragg übten vor allem die Glaubensmissionen in der Tradition von Hudson Taylors China Inland Mission (1865) einen starken Einfluss auf die evangelikale Missionstheologie zum Islam aus.482 Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts spielten die Glaubensmissionen auch in Nordafrika und im Mittleren Osten eine Rolle. Zu nennen sind hier beispielsweise die 1881 gegründete und von der englischen Brüderbewegung beeinflusste North Africa Mission (NAM) mit ihrem Missionskrankenhaus in Tangier,483 die 1894 begonnene Arbeit der nordamerikanischen Gospel Missionary Union in Marokko484 sowie die Sudan-Pionier-Mission (später Evangelische Muhammedaner-Mission [EMM], dann Evangelische Mission in Oberägypten [EMO]),485 die 1900 aus den Bemühungen zur missionarischen Durchdringung des Sudan-Gürtels südlich der Sahara hervorging (und im Verlauf der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle spielt, s. Kapitel V. und IV.A.). Wie die ökumenische Missionsarbeit so waren auch die Glaubensmissio479 Ebd. 70f. 480 Ebd. 68. 481 Ebd. 77. Kenneth A. Cragg wirkte selbst 1978 bei den Lausanner Konsultationen in Willowbank und Glen Eyrie mit (siehe unten). 482 Vgl. Fiedler, Vertrauen, 1992, 65ff; Fiedler, Glaubensmissionen, LMG, 1987, 131ff; zum Verhältnis der Glaubensmissionen (als Vorläufer der evangelikalen Missionen) zur Ökumenischen Bewegung vgl. Fiedler, Africa, 2010. 483 Vgl. Sims, English Hospital, 1972; St. John, Hospital, 2008. Das Hospital wurde 1975 verstaatlicht. 484 Vgl. Adeney, Morocco, EDWM, 2000, 661–662; Reinmiller, Gospel, EMCM 1967, 306. 485 Vgl. Sauer, Reaching, 2005, 310ff; Troeger, Alexandrien, 2013, 183–188. Wichtig waren auch die Sudan-United-Mission (SUM, 1904) und die Sudan-Interior-Mission (SIM, 1898), vgl. Fiedler, Vertrauen, 1992, 89ff.
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nen von den Einschränkungen und Verboten in den 1960er und 1970er Jahren betroffen.486 Sie setzten ihre Arbeit unter Muslimen jedoch unter neuen Bedingungen fort und verlegten die Schwerpunkte auf Radio-, Literatur- und Korrespondenzarbeit.487 Das primäre missionstheologische Merkmal der Glaubensmissionen war das Ziel, das Evangelium zu den Unerreichten zu bringen. Damit verband sich oft „die theologische Überzeugung, daß alle Menschen, die nicht in ihrer Lebenszeit an Christus geglaubt haben, ewig verloren sind“.488 Daraus ergab sich eine große Dringlichkeit. Dieser doppelte Schwerpunkt verband sich drittens mit einer prämillenialistischen Eschatologie, die die Weltgeschichte unter dem Aspekt des zunehmenden Verfalls pessimistisch sah.489 Erst nach der sichtbaren Wiederkunft Christi würden die Dinge sich zum Guten wenden, bis dahin galt es, den Unerreichten die Heilsbotschaft zu vermitteln und dadurch die Wiederkunft Christi zu beschleunigen. Obwohl die Intensität und Ausprägung dieser Grundüberzeugungen variieren konnten, flossen sie als Erbe der glaubensmissionarischen Tradition in die evangelikale Missionstheologie der Lausanner Bewegung ein. 2. Kulturelle Wende: der Beitrag von Charles Kraft a) Islam als Kultur: die School of World Mission Der eigentliche Neuansatz im Blick auf den Islam lag jedoch in einer Entwicklung, die man als kulturelle Wende in der evangelikalen Missionstheologie bezeichnen kann:490 von einer eher negativen Weltsicht zu einer positiveren theologischen Bewertung und differenzierteren Beschreibung der Kultur, hier im Besonderen der islamischen Kultur(en). Dies zeigte sich zum einen in einer ethnologisch-linguistisch und soziologisch orientierten missiologischen Wahrnehmung der Vielfalt muslimisch geprägter Kulturen und Volksgruppen („unreached people groups“). Zum anderen – und dies war wesentlich herausfordernder – begann man, den Islam nicht mehr vorwiegend als religiösen Gegensatz zum christlichen
486 1967 wurde die Mehrheit der ausländischen Missionare z.B. aus Marokko ausgewiesen. Einen Überblick der Entwicklungen im Mittleren Osten bietet Troeger, Paradigmenwechsel, 2005, 246–249. 487 Vgl. Pikkert, Protestant Missionaries, 2008, 171. 488 Fiedler, Vertrauen, 1992, 68. 489 Vgl. ebd. 363ff. Samuel Zwemer, der zunächst eher postmillenialistisch ausgerichtet war, griff später unter dem Eindruck des 2. Weltkriegs verstärkt die Eschatologie der Glaubensmisssionen auf, vgl. Zwemers Rede zu „The Return of the Lord and World-Evangelism“ 1943 zit. in Kidd, American Christians, 2010, 59.83. 490 Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem Phänomen des Cultural Turn (kulturwissenschaftliche Wende) in den Sozial- und Geisteswissenschaften in den 1970er Jahren, stand zu diesem aber in enger Beziehung. Zum Cultural Turn vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 2014; Reckwitz, Transformation der Kulturtheorien, 2000; zur Interaktion mit der evangelikalen Missionswissenschaft in den USA, vgl. Walldorf, Cultural Turn (im Druck).
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Glauben, sondern als kontextuellen kulturellen Referenzrahmen der Evangelisation zu verstehen. Prägend für diesen Neuansatz war die soziologisch und kulturanthropologisch orientierte Missiologie und Church-Growth-Theory, die seit 1965 von dem amerikanischen Indien-Missionar Donald McGavran und dem australischen Missionsanthropologen Alan Tippett an der School of World Mission (SWM) am Fuller Theological Seminary in Pasadena, Kalifornien, betrieben wurde.491 Die Vertreter dieser Schule, die auch Arthur F. Glasser, Paul G. Hiebert, Charles H. Kraft, C. Peter Wagner und Ralph Winter einschlossen, arbeiteten daran, Erkenntnisse aus der Kulturanthropologie, den Sozialwissenschaften und der Bibelübersetzungswissenschaft sowie aus empirischen Studien zu pfingstlich-charismatischen Aufbrüchen in der Dritten Welt in eine transkulturell sensible evangelikale Missionstheologie und „Ethnotheologie“492 zu integrieren. Der damit ebenfalls verbundene Neuansatz der Islammissiologie wurde von langjährigen Missionaren unter Muslimen teilweise euphorisch aufgenommen: „Impact! … Radical? Well, just enough, to peek my interest and cause me to dream about a church growth movement among Muslims in Bangladesh where I had been serving since 1962. Next came ‚Lausanne‘ 1974. My heart was stirred as I listened to Fuller professors set forth a paradigm of ministry that could possible revolutionize my fruitless involvement among Muslims. And then came implementation: 1975 saw our SIM team … plow new ground with a contextualized methodology that almost immediately began to bear fruit.“ 493
b) Dynamische Äquivalenz: der Ansatz von Charles H. Kraft Besonders einflussreich für diesen Neuansatz war der Beitrag des Missionsanthropologen Charles H. Kraft (geb. 1932).494 In seinem Aufsatz Dynamic Equivalence Churches (1973)495 griff Kraft erstmals die von dem Linguisten und Übersetzungswissenschaftler Eugene A. Nida (1914–2011) entwickelte Theorie der dynamisch-äquivalenten Übersetzung (Dynamic Equivalence Translation) auf496 und
491 Vgl. Robert, Forty Years, 2014, 4; Kraft, SWM, 2005; Holvast, Spiritual Mapping, 2008, 13ff. 492 Charles Kraft definierte „ethnotheology“ im Unterschied zu „ethnic theologies“ als „transculturally applicable perspectives“, Kraft, Christianity in Culture, 1979, 292–293.13. 493 Phil Parshall, in: Kraft, SWM, 2005, 311–312. 494 Charles Kraft war in den 1950er Jahren als Missionar amerikanischer Brüdergemeinden in Nordnigeria tätig und lehrte seit 1969 Anthropology und Missiology an der SWM. 495 Der Aufsatz erschien in Missiology: An International Review 1, 1973, 39–57, der ersten Ausgabe der Zeitschrift der von der SWM 1973 mitbegründeten American Society of Missiology (ASM), vgl. Robert, Forty Years, 2014. 496 Zu Nida vgl. Smalley, Nida, in: BDCM, 1998, 494–495 sowie Balz, Theologische Modelle, 1978, 60ff; zum Einfluss auf Kraft vgl. Balz, Anfang, 2010, 251–253; Walldorf, Cultural Turn (im Druck).
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entwickelte sie zu einer Theorie missionarischer transculturation weiter,497 die er ab 1974 auch auf die Begegnung mit dem Islam anwandte. Grundlegend für die dynamisch-äquivalente Bibelübersetzungstheorie Nidas war die strukturalistische Unterscheidung zwischen Bedeutung (meaning) und Form (form), mit dem Ziel, den Text der Bibel in verständlicher und relevanter Weise in fremde kulturelle Kontexte zu übersetzen. Um beim Leser ein adäquates Verstehen zu erreichen, sollte nicht eine literale, sondern eine den kulturellen response des Lesers berücksichtigende dynamische Übersetzung stattfinden.498 Kraft übertrug dies auf die gesamte missionarische Aufgabe als transkulturelle Kommunikation: „The term ‚transculturate‘ is intended to signify with respect to culture what the term ‚translate‘ signifies with respect to language. Transculturation includes translation in the same way that culture includes language. But translation …. is only the first step towards transculturation… A translation is tied to historical facts. In transculturation, however, the aim is to represent the meanings of those historical events as if they were clothed in contemporary events. Transculturation is the task of the Spirit-led communicator of the message.“499
Mit dem Begriff der Transkulturation erweiterte Kraft das Konzept der Bibelübersetzung auf ganzheitliche missionarische Kontextualisierungsprozesse in der Gegenwart: „For todays receptors, Jesus needs to walk their paths, eat in their homes. … For this they need dynamic witnesses, living and speaking a dynamically equivalent message in term of the perceptors’ percepual grids.“500 Vier Merkmale kennzeichnen diese christliche Zeugnisgemeinschaft: 1. sie verkündigt das Evangelium von Christus; 2. sie bezieht sich auf eine eigene Erfahrung mit Gott; 3. sie nimmt die Anderen in ihrer Situation ernst; 4. sie will überzeugen („witness persuasively“).501 In Bezug zur ökumenischen Diskussion positionierte sich Kraft damit differenziert. Den interreligiösen Dialog sah er als „a marvelous methodology which provides a much needed corrective to the self-centered ... spirit that Christians have often manifested.“ Proselytismus lehnte er als „converting the hearer to the culture of the speaker“ ab. Andererseits kritisierte er ein Missionsund Dialogverständnis ohne Einladung zum Glauben an Christus, weil damit das „ultimate aim of the Gospel message, the reconciliation of people with God“ aus dem Blick gerate.502 Wesentlich für das Ernstnehmen der Anderen ist das Verständnis von Kultur und Religion. Kraft definiert Kultur anthropologisch als „integrated system of learned behavior patterns which are characteristic of the members of a society“.503 Religion formt einen grundlegenden Aspekt von Kultur, den er als worldview be497 Kraft, Christianity, 1979, 276ff. Zum Verhältnis von Krafts Konzept der transculturation zum Transkulturationsbegriff bei Ortiz (1940) und Hock (2002) siehe Einleitung B. 2. b). 498 Kraft, Christianity, 1979, 271. 499 Ebd. 280; vgl. Shaw, The Context of Text, 1989. 500 Kraft, Christianity, 1979, 276. 501 Vgl. ebd. 277–279. 502 Ebd., 279–280. 503 Ebd. 46. Er ergänzte: „Culture ... provides the model(s) of reality that govern our perception.”, ebd. 48.
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zeichnet. Unter Worldview (oder Religion) versteht er „the central systematization of conceptions of reality to which members of the culture assent … and from which stems their value system“ – „the central control box“ jeder Kultur. 504 Entscheidend im Sinne einer evangelikalen kulturellen Wende war, dass Kraft Religion hier nicht einfach im Sinne eines transzendenten Essentialismus, sondern im Anschluss an einen semiotischen Religionsbegriff auch als Teil kultureller Konzeptionalisierungen verstand.505 Wesentlich für den von Kraft anvisierten Transkulturations- und Kontextualisierungsprozess ist jedoch gleichzeitig die Überzeugung, dass Gott souverän über und außerhalb der Kultur steht, aber Kultur und Religion als Raum und Instrument seiner offenbarenden Interaktion mit den Menschen gebraucht.506 Die Bibel als inspiriertes Gotteswort im Menschenwort sah Kraft als roten Faden dieses Offenbarungs- und Heilshandelns Gottes. Darin fand er die theologischen Konstanten, die in jeder Kultur zum Ausdruck kommen können. Diese „deep biblical meanings“507 umfassen nach Kraft 1. das biblische Prinzip des Glaubens (faith) und 2. das Erlösungswerk Jesu Christi als Bezugspunkt des Glaubens: „Salvation through faith allegiance to God through the authority and the saving work of Christ is a constant of biblical revelation.“508 Ohne das Erlösungswerk Christ und ohne Glauben könne es keine Erlösung geben.509 Von diesen Konstanten aus vertrat Kraft eine inklusive religionstheologische und soteriologische Missionstheologie. Das biblische Zeugnis ist zentraler Maßstab, aber nicht Grenze des Offenbarungs- und Heilswirkens Gottes. Vielmehr hat Gott sich als Schöpfer und Erlöser den Menschen in ihrer Erfahrungswelt von Anfang an zu erkennen gegeben. Der Heilige Geist wirkt in allen Kulturen, darum finden sich überall Anknüpfungspunkte und „redemptive analogies“ für die missionarische Begegnung.510 Die vom Evangelium Unerreichten sind also nicht völlig unerreicht, sondern bereits von Gott, der ihre „faith-allegiance“ sucht, angesprochen im Blick auf das, was sie bereits von ihm wissen (Römer 1). Durch ihren „response in faith“ konnten Menschen aller Zeiten und Kulturen Gottes Rettung aufgrund der Heilstat Christi durch Glauben erfahren.511 „Paganism“ (ein Begriff, den Kraft in Anführungszeichen setzt), stehe nicht nur in „discontinuity and antagonism“ zum Evangelium, es sei auch „the point at which God starts his saving process“.512 Gerade deswegen sei es entscheidend, dass die Unerreichten das christliche Zeugnis in Form lebendiger Zeugen hören, „because they will not
504 Ebd. 53. 505 Ebd. 56 bezieht sich ausdrücklich auf den Religionsbegriff von Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, 1966, 48. 506 Vgl. Kraft, Christianity, 1979, 113–115. 507 Kraft, Churches in Muslim Society, 1979, 115. 508 Kraft, Christianity, 1979, 255. Kursiv FW. 509 Kraft, Churches in Muslim Society, 1979, 115. 510 Kraft, Christianity, 1979, 252. 511 Ebd. 231. 512 Ebd. 254.
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ordinarily respond in faith to God on the basis of the knowledge and the stimulus they now have“.513 Von 1974 an entfaltete Kraft diesen Ansatz im Blick auf den Islam. Bei Vorträgen in Marseille (1974)514 und Glen Eyrie (1978, siehe unten 3.c) plädierte er dafür, jede Anstrengung zu unternehmen, „toward stimulating a faith renewal movement within Islam“.515 Da er den Islam vorwiegend als Kultur verstand, konnte er radikale und hoch umstrittene Vorschläge machen, wie „to become Christian Muslims in order to win Muslims to Muslim Christianity“. 516 Vor allem auf den Lausanner Konsultationen in Willowbank und Glen Eyrie (beide 1978) wurde Krafts Ansatz zu einem wesentlichen Einfluss in der islambezogenen Missionstheologie der Lausanner Bewegung. 3. Islammissiologie in der Lausanner Bewegung a) Grundlagen: Die Lausanner Verpflichtung (1974) Wichtige Grundlagen für eine islambezogene Missionstheologie in der Lausanner Bewegung legte die Lausanner Verpflichtung (LV) von 1974.517 Die einflussreiche Missionserklärung wurde von John Stott und einem Team von Theologen während des Kongresses redigiert und am Ende von der Mehrheit der Teilnehmer unterzeichnet.518 Die LV enthält keine direkten Bezüge zum Islam, stellte jedoch grundlegende Weichen. Zunächst wird in der Tradition der Glaubensmissionen das Erreichen der Unerreichten als Kernauftrag formuliert: „Über 2,7 Milliarden Menschen, mehr als zwei Drittel der Menschheit, müssen noch mit dem Evangelium bekanntgemacht werden. Wir schämen uns, daß so viele vernachlässigt wurden; … Wir sind überzeugt, daß jetzt die Zeit … gekommen ist, ernsthaft für das Heil der bisher nicht Erreichten zu beten und neue Anstrengungen für Weltevangelisation zu unternehmen.“ (LV 9). Dabei lag während des Kongresses selbst besonderes Augenmerk auf der Bevölkerungsgruppe der „unreached Muslims“.519 Ein zweiter Schwerpunkt lag auf einem offeneren, kulturanthropologisch und theologisch orientierten Verständnis von Kultur, wie es auch von Kraft vertreten wurde: „Weil der Mensch Gottes Geschöpf ist, birgt seine Kultur Schönheit und Güte in reichem Maße. Weil er aber gefallen ist, wurde alles durch Sünde befleckt. Manches geriet unter dämonischen Einfluß. Das Evangelium gibt keiner Kultur den Vorrang, sondern beurteilt alle Kulturen nach seinem eigenen Maßstab der Wahrheit und Gerechtigkeit.“ (LV 10). Dabei wurde nicht zwischen christlichen und nichtchristlichen Kulturen unterschieden. Damit öffnete die LV die Tür 513 514 515 516 517 518 519
Ebd. 257. Auf der Conference on Media in Islamic Culture, vgl. Schlorff, Models, 2006, 80. Marseille 1974, zit. ebd. Zit. ebd., später abgemildert in Kraft, Churches in Muslim Society, 1979, 119. Hier zitiert nach Wietzke, Mission erklärt, 1993, 3–11. Zur Entstehung des Dokuments vgl. Stanley, Lausanne, 2013. Stott, Making, 1996, 118.
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zu einer differenzierteren Wahrnehmung nichtwestlicher, inklusive islamisch geprägter Kulturen, sowie zur Selbstkritik der westlichen Kulturen. Die Religionen kommen in der LV gesondert in den Blick. Sie werden in ihrem eigenen Wahrheitsanspruch ernst genommen und an den Aussagen biblischer Christologie gemessen. In Bezug auf die Dialogdiskussion im ÖRK lehnt die LV zwar „jeden Dialog [ab], der vorgibt, daß Jesus Christus gleichermaßen durch alle Religionen und Ideologien spricht. … Man kann erst recht nicht behaupten, daß alle Religionen das Heil in Christus anbieten. Vielmehr muß Gottes Liebe einer Welt von Sündern verkündigt werden.“ (LV 3). Gleichzeitig wird bekräftigt, dass „alle Menschen aus der allgemeinen Offenbarung in der Natur Gott erkennen können“ (LV 3) und dass „eine Form des Dialogs, die durch einfühlsames Hören zum Verstehen des anderen führt [unerläßlich]“ ist (LV 4). Die in der Tradition der Glaubensmissionen oft übliche soteriologische Gleichung zwischen „unerreicht“ und „ewig verloren“ wird nicht forciert. Es wird vielmehr positiv ausgesagt, dass ewige Rettung und Versöhnung nur durch Jesus Christus zu finden seien (LV 3), auf ein eschatologisches Urteil im Blick auf die Unerreichten wird verzichtet. Im Zentrum der LV steht ein holistisches Verständnis weltweiter Evangelisation nach dem ökumenischen Motto, dass „die ganze Gemeinde der ganzen Welt das ganze Evangelium bringt“ (LV 6). Dies schließt Dialog und Präsenz sowie sozialen Einsatz ein und wendet sich mit besonderer Dringlichkeit an die Unerreichten. Primäre Aufgabe bleibt dabei, „die gute Nachricht zu verbreiten, daß Jesus Christus für unsere Sünden starb und von den Toten auferstand nach der Schrift und daß Er jetzt die Vergebung der Sünden und die befreiende Gabe des Geistes allen denen anbietet, die Buße tun und glauben“ (LV 4). b) Die Consultation on Gospel and Culture, Willowbank (1978) Im Rahmen der Consultation on Gospel and Culture in Willowbank (Bermuda) im Januar 1978 wurde in der Lausanner Bewegung erstmals spezifisch zur christlich-islamischen Begegnung Stellung genommen. Im Blick auf Islam, Hinduismus und Buddhismus wurden im Willowbank Report (WR)520 „Scripture silences“ eingeräumt – die Bibel mache dazu keine direkten Aussagen (WR 4). Dennoch könne die Kirche als weltweite hermeneutische Gemeinschaft unter der Leitung des Heiligen Geistes zu theologisch fundierten Aussagen kommen. Als Modell missionarischer Begegnung wurde die dynamisch-äquivalente Transkulturation von Charles Kraft aufgegriffen: „Just as a ‚dynamic equivalence‘ translation … seeks to convey to contemporary readers meanings equivalent to those conveyed to the original readers, by using appropriate cultural forms, so would a ‚dynamic equivalence‘ church.“521 Dies ermögliche, die biblischen Inhalte so umzusetzen „as … to reflect the good elements of their local culture“ (WR 8b). Besonders das 520 Zit. ebd. 73–112 sowie nach Lausanner Komitee, Lausanne geht weiter, 1980, 33–112. 521 Vgl. Kraft, Church in Culture, 1980.
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Referat von Kenneth A. Cragg522 zu Conversion and Convertibility523 lenkte die Aufmerksamkeit auf den islamischen Kontext. Cragg verband das theologische Verständnis der Konversion524 mit der Frage nach der Konvertierbarkeit islamischer Elemente in der Biographie von Konvertiten. Christliche Bekehrung ereigne sich in einem biographischen „continuum“ persönlicher Identität: „a unity of self in which one’s past is genuinely integrated into present commitment. … There is an ongoing identity within which conversion happens, for which we need the concept of ‚convertibility‘.“525 Dieses Konzept helfe Konvertiten, sich nicht als Verräter ihrer Kultur zu fühlen, „a deep inner feeling of having forsaken one’s past and somehow disowned one’s community“.526 Angesichts des Apostasieverbots plädierte Cragg für ein missiologisches Nachdenken über einen Taufverzicht.527 Craggs Impulse flossen in den WR ein, der dem „Christian witness in the Islamic world“ einen eigenen Abschnitt widmete (WR 5): „Es ist notwendig, die besonderen Grundzüge des Islams zu erkennen, die für das christliche Zeugnis eine einzigartige Gelegenheit abgeben. Obwohl es im Islam Elemente gibt, die unvereinbar sind mit dem Evangelium, gibt es auch Elemente, die so etwas wie ‚umsetzbar‘ sind. …. Heutige christliche Zeugen sollten es lernen, demütig und erwartungsvoll diese und andere Werte zu erkennen, anzuerkennen und sie zum Leuchten zu bringen. Sie sollten um eine Umwandlung ringen und, wo möglich, um eine Einbeziehung all dessen, was im islamischen Gottesdienst, im Gebet, im Fasten, in der Kunst, in der Architektur und in der Schönschrift hier von Bedeutung ist.“ (WR 5 e).
Auch aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen wie „the tragic Palestinian dispersion and frustration“ müssten in einer angemessenen missionarischen Begegnung mit Muslimen berücksichtigt werden, „wenn es sein muß, sogar außerhalb der traditionellen kirchlichen Formen“ (WR 5 e). Doch trotz des Willens, Neuansätze zu wagen, blieb man sich in Willowbank der Unverfügbarkeit des göttlichen Heilshandelns bewusst: „There is a mystery we cannot fathom. ‚The spirit blows where he wills‘. While seeking to communicate the Gospel with care, faithfulness and zeal, we leave the results to God in humility.“ (WR 5 f). c) Conference on Muslim Evangelization in Glen Eyrie 1978 Die North American Conference on Muslim Evangelization in Glen Eyrie, Colorado Springs, war auf Initiative der School of World Mission (Pasadena) vom nordamerikanischen Zweig der Lausanner Bewegung einberufen worden.528 Die Er522 523 524 525 526 527 528
Zu Cragg siehe II.C.2. Cragg, Conversion, 1980. Cragg hielt Umkehr und Glaube an Christus für „necessary and right“, ebd. 197. Ebd. 194. Ebd. 204. Vgl. ebd. Den Vorsitz hatte Don McCurry, Missionar der United Presbyterian Mission in Pakistan. 150 Delegierte, darunter nationale Kirchenvertreter, Konvertiten, Missionare, Wissenschaftler und Theologen nahmen teil. Vierzig vorher zirkulierte „foundation papers“ und „responses“ bil-
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gebnisse der Konferenz wurden im Glen Eyrie Report on Muslim Evangelization (GR) zusammengefasst529 Das Hauptmotiv der Konferenz war es, die bisherige westlich-amerikanische Prägung christlicher Mission unter Muslimen selbstkritisch zu reflektieren und von Christen in der islamischen Welt zu lernen. Aus diesem Grund waren Konvertiten sowie Kirchenleiter aus dem Nahen Osten, Afrika und Asien nach Glen Eyrie eingeladen worden: „North Americans were encouraged to be ‚swift to hear‘ and discouraged from initiating any planning on their own.“ (GR 3). Redeemable Islamic Culture: Islamverständnis und Selbstkritik Ähnlich wie die Inquiry des Near East Christian Council von 1938 (siehe oben II. B. 2.) suchte Glen Eyrie 1978 nach Wegen, die islamische Welt authentischer mit dem Evangelium zu durchdringen. Als Hauptgrund für das bisherige Scheitern sah man die mangelnde Liebe und Wertschätzung für Muslime: „We Christians have loved so little, and have put forth such little effort to regard Muslims as people like ourselves. … North American mission agencies continue to conduct the sort of culturally insensitive … missionary work … that falls short of the ideal of Christian presence in Muslim society.“ (GR 2a). In Anknüpfung an das Kulturverständnis der Lausanner Verpflichtung bedauerte man selbstkritisch die eigene zu wenig ausgeprägte Wertschätzung der islamischen Kulturen: „In our pride and ethnocentrism we have forgotten that our own culture is terribly flawed. … Since Christ judges all cultures and is seeking through the gospel to infuse and transform them with his presence, he would have us discern and appreciate the redeemable in Islamic culture“ (GR 2 b). Ein weiteres Problem sah man in der kulturellen und sozialen Isolation von Konvertiten: „Traditionally, missions to Muslims have rejected the culture of the converts and imposed that of the missionary … This pattern of extractionism … may well be the single most important reason for a greater lack of results in work among Muslims.“530 Wie in Willowbank so hielt Kenneth A. Cragg auch in Glen Eyrie ein Hauptreferat, diesmal zu Islamic Theology: Limits and Bridges.531 Der GR ermutigt im Anschluss daran, Themen wie „God, Creation, Prophets, Sacrifice, the Word of God, the Judgement, Satan, Heaven and Hell, the Virgin Birth“ als theologische Anknüpfungspunkte zu begreifen (GR 6f). Der GR bedauert, dass evangelikale Missionare in der Vergangenheit dazu tendiert hätten „to mispresent and belittle the moral and religious stature of Muhammed and the uran“ (GR 5). Dagegen wird die Bedeutung des Koran als Brücke in der Vermittlung des Evangeliums deten die Diskussionsgrundlage. Zur Dokumentation der Beiträge vgl. McCurry, Gospel and Islam, 1979. 529 Hier zit. nach Stott, Making, 1996, 115–183, McCurry, Gospel and Islam, 1979, 38–57 und Lausanner Komitee, Lausanne geht weiter, 1980, 201–238. 530 McCurry, Gospel and Islam, 1979, 14. 531 In: McCurry, Gospel and Islam, 1979, 196–207.
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hervorgehoben: „Particular attention will be given to the use of relevant Quranic themes in the initial stages of evangelistic encounter“ (GR 6c). Auch hier fällt die kulturelle Perspektive auf den Islam als „islamic culture“ auf, während man die Bezeichnung als Religion oder faith eher selten gebrauchte. In diesem Sinn fragte McCurry: „How much of his culture can a Muslim retain and say with integrity, ‚Jesus is the Lord of my life?‘“532 Trotz der Sorge vor Synkretismus hielt McCurry eine Rückkehr zu den „old patterns“ nicht für angemessen. Eine soteriologisch eschatologische Beurteilung der Muslime findet sich im GR nicht, doch im Blick auf die Gegenwart meint man feststellen zu können, „that relatively few Muslims have entered into life through responding to the Gospel. … Their inmost needs – like ours – can be satisfied only by Christ.“ (GR 2 a). People Movements und Muslim Christians: kontextualisierte Evangelisation Die differenzierte Wahrnehmung islamischer Kulturen eröffnete in Verbindung mit dem neuen ethno-linguistischen Konzept der unreached people groups533 neue strategische Perspektiven. Als people group definierte Glen Eyrie „a significantly large sociological grouping of individuals who perceive themselves to have a common affinity for one another“.534 Als Beispiel nannte man: „Not just Urduspeaking people. Not just Urdu-speaking Muslims, but Urdu-speaking Muslim farmers who happen to live in the Punjab.“ 535 Unter unreached verstand man „the absence of a viable church capable of carrying on the group’s evangelization“.536 Glen Eyrie zählte weltweit 3500 unterschiedliche muslimische Volksgruppen537 und wünschte sich, innerhalb jeder dieser Gruppen christozentrische people movements in Gang zu setzen. Donald R. Rickards, Missionar der North Africa Mission, plädierte dafür, die Entwicklung von „people movements to Christ“ zum Grundkonzept zukünftiger Missionsarbeit zu machen: „we must prepare to reach as many people in a single homogenous unit as possible.“538 Um kulturell-religiöse Brüche zu reduzieren, schlug man im Anschluss an Cragg539 und Charles Kraft vor, Konvertiten aus dem Islam nicht als „Christen“, sondern als „Jesus Muslims“ (mulimun issawiyun)“540 zu bezeichnen, da der Begriff „Christ“ kulturell negativ vorbelastet sei. Ebenso solle man statt von Kirchen von „Jesus-Moscheen“ spre-
532 533 534 535 536 537 538 539 540
McCurry, New Beginnings, 1979, 17, kursiv FW. Vgl. Wilson, Peoples, People Groups, in: EDWM, 2000, 745. McCurry, Gospel and Culture, 1979, 601. Ebd. Wilson, Peoples, People Groups, in: EDWM, 2000, 745. McCurry, New Beginnings, 1979, 20. Rickards, New Tools, 1979, 432. Vgl. Craggs Rede von muslimischen „lovers of Jesus“, Cragg, Minaret, 1956, 349. Rickards, New Tools, 1979, 434–435.
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chen, um es Muslimen zu erleichtern „to see that in coming to the Lord he has not had to cross over from his culture to an alien culture“.541 In seinem Referat Dynamic Equivalence Churches in Muslim Society entfaltete Charles Kraft dieses Konzept weiter. Er verglich die islamische Kultur mit den biblischen semitischen Kulturen. Die Bibel zeige, dass Gott dort beginne, wo die Menschen sich befinden, um ihre faith-allegiance zu gewinnen: „This allegiance must be to him above all Gods.“542 Auf diesem Hintergrund plädierte Kraft für eine Relativierung kulturell-religiöser Kategorien („as a religious system, any given expression of Christianity is, like every other religion, the product of a given culture.“) und für eine „recombination of Christian allegiance with socalled Muslim religious structures“.543 Eine solche neue Kombination sei auch die ursprüngliche Absicht Mohammeds gewesen: „to combine an allegiance to the Judeo-Christian God with Arabic cultural structures“.544 Als Maßstab einer gültigen recombination dürften nicht westliche kulturelle Prägungen, sondern „deep biblical meanings“ (siehe oben) gelten. Kraft rechnete hier durchaus mit Konflikten zwischen „one deep faith allegiance and another“, sah die Trennungslinien jedoch nicht entlang der traditionell definierten Religionen.545 Es sei möglich neben amerikanischen, jüdischen oder afrikanischen auch von muslimischen Christen zu sprechen, „to signify those who, while committing themselves to God through Christ, simply remain culturally Muslim“.546 Neben diesem Ansatz der Kontinuität wurden in Glen Eyrie auch Aspekte der Diskontinuität betont. In seinem Referat Power Encounter in Conversion from Islam547 beschrieb Krafts Kollege an der SWM, der Missionstheologe Arthur F. Glasser, Mission unter Muslimen als geistliche Auseinandersetzung. Dabei standen weniger charismatische Konzepte,548 als ein von der theologia crucis geprägtes Verständnis der Nachfolge Christi im islamischen Kontext im Vordergrund: „We must face the Cross and enter the trauma of conflict with ‚the powers‘, while seeking to witness simply and lovingly to Jesus Christ“ (GR 3b). Geistliche Beurteilung wurde dabei nicht im Sinne einer Abwertung fremder religiöser Traditionen verstanden. Glasser lehnte es als „absurd and offensive“ ab, die religiöse Hingabe (devotion) von Muslimen als geistlich wertlos zu bezeichnen.549 Christen könnten sie jedoch nicht als voll gültig betrachten, da dies der apostolischen Aufforderung, an Jesus zu glauben (Apg 17,31), nicht gerecht werde: „Jesus Christ is 541 542 543 544 545 546 547 548
Ebd. 435. Kraft, Churches in Muslim Society, 1979, 117. Ebd. 118. Ebd. Ebd. 119. Ebd. Glasser, Power Encounter, 1979. Power Encounter wurde von Glasser weniger im Sinne des später von Kraft propagierten charismatischen Konzeptes geistlicher Kampfführung mit dämonischen Mächten verstanden, sondern als Nachfolge Christi im Sinne der theologia crucis. Vgl. dagegen Kraft, Power Encounter, in: EDWM, 2000, 774–775, kritisch zu Kraft: Holvast, Spiritual Mapping, 2009, 28– 33. 549 Glasser, Power Encounter, 1979, 135.
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not to be admired only, but ‚received‘ with a transfer of allegiance – submitting to his rule – the trauma of conversion is inevitable.“550 Die letzte Beurteilung, ob ein Mensch in „Geist und Wahrheit“ (Joh 4,23) anbete, sei jedoch Gott vorbehalten.551 Schließlich wurde das Verständnis des christlich-islamischen Dialogs von Daniel R. Brewster, Missiologe und Mitarbeiter eines christlichen Hilfswerks, „from the standpoint of a loving concern for Muslims“ reflektiert.552 Dabei ging es um die praktische Bedeutung des Dialogs „for evangelicals committed to winning Muslims for Christ“. An der ökumenischen Dialogdiskussion kritisierte Brewster das oben erwähnte verwirrende Verständnis des Proselytismus. Auch Evangelikale stimmten zu, dass „conversion must not, cannot, be forced“.553 Doch die Welt sei nun einmal voll gegenseiter Überzeugungsbemühungen – und dies durchaus nicht zu ihrem Nachteil. Warum solle man friedliche gegenseitige Überzeugungsversuche zwischen Christen und Muslimen ablehnen? Ebenso sei die im Rahmen des Dialogprogamms des ÖRK geäußerte Kritik diakonischer Mission „für evangelikale Christen beunruhigend, da soziale Hilfsprogramme viele Türen für die Evangelisation geöffnet hätten und darüber hinaus wichtig für die Menschen seien, „wether or not they are converted“.554 Dennoch bekräftigte Brewster, die Notwendigkeit christlich-islamischer Dialoge. Sie seien unerlässlich, um den Glauben der Anderen zu verstehen und darüber hinaus bereits im Neuen Testament „a legitimate starting point for evangelism“. In den Kulturen des Nahen Osten oder Asiens sei der Dialog die kulturell angemessene Form der Evangelisation: „The attitude in first striving for mutual respect and understanding recalls the rhythm of many conversations in the Orient.“555 Ausdrücklich setzte sich Glen Eyrie für die religiöse Freiheit von Christen und Muslimen ein. Dabei wurde das Ergebnis der christlich-muslimischen Konsultation zur Mission in Chambésy 1976 positiv rezipiert: „Beiden, Moslems und Christen, werden in verschiedenen Teilen der Welt ihre Menschenrechte entzogen. Beide wissen um Unsicherheit; beide werden unter schwerem und verschiedenartigem Druck zur Anpassung gezwungen, beide brauchen Freiheit zur Weitergabe ihres Glaubens. Während wir eintreten wollen für ‚das volle Recht zu überzeugen und überzeugt zu werden‘ und all das bedauern mögen, was einer solchen Freiheit im Weg steht, müssen wir bekennen, daß wir allzu oft uns nicht unserer Pflicht bewußt waren, unsere moslemischen Nachbarn zu unterstützen in ihrer Anstrengung, ihre Menschenrechte garantiert zu bekommen.“ (GR 5).
Die faktische Beschneidung der Religionsfreiheit und das Apostasieverbot für Muslime „in Muslim lands“ sah man als „contrary to Islamic law“ und betete,
550 551 552 553 554 555
Ebd. 133. Ebd. 135. Brewster, Dialogue, 1979, 513. Ebd. 515. Ebd. 515. Übersetzung FW. Ebd. 516.
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„that Muslim leaders will sense anew their God-given obligation to promote justice and freedom“ (GR 5).556 Insgesamt lässt sich feststellen, dass die kulturelle Wende der evangelikalen Missionstheologie in den USA sowie die davon beeinflusste Lausanner Islammissiologie der 1970er Jahre überraschende Synthesen zwischen historisch eher gegensätzlichen Ansätzen ermöglichte. So knüpfte man einerseits ausdrücklich bei Samuel Zwemer557 an (siehe den Beschluss zur Gründung des Samuel ZwemerInstituts in Glen Eyrie, GR 6b).558 Andererseits nahm man das Problem des sozialen extractionism durch christliche Mission, wie es schon William E. Hocking 1932 kritisiert hatte, ernst und entwickelte eine kultursensible Islammissiologie entlang der Linien der Inquiry des NECC559 und der Perspektiven Kenneth A. Craggs. Dies verband man in der Tradition der Glaubensmissionen mit strategischen missionssoziologischen Konzepten, wie dem der unreached people groups. Bei alle dem zeigte sich, dass die Lausanner Bewegung mit ähnlichen Fragen rang wie der ÖRK und dabei zu Antworten kam, die auf ihre Weise nicht weniger radikal und innovativ waren, als die Konzepte des ÖRK. Auf dem Hintergrund der dargestellten missionstheologischen Diskussion zur christlichen Islambegegnung im internationalen Kontext wird in den folgenden Kapiteln nun die Entwicklung der missionarischen Begegnung zwischen Christen und Muslimen in den 1950er bis 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland entfaltet.
556 In: Stott, Making, 1996, 132. 557 Vgl. Kerr, Christian Mission, 2002, 37. 558 Stott, Making, 1996, 134. Das Institut wurde später in The Zwemer Institute of Muslim Studies umbenannt. 559 Siehe II.B.2.
III. BILDUNGSMIGRATION UND STUDENTENMISSION: DIE 1950ER UND 1960ER JAHRE Angesichts der Bildungsmigration galt die Aufmerksamkeit der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland zunächst den christlichen Studierenden aus Asien und Afrika. Seit 1950 bemühte sich das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland1 im Zusammenwirken mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) zunächst um Theologiestudenten aus den christlichen Kirchen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.2 Seit 1956 bezog man auch Studierende anderer Fachrichtungen in die Betreuungsarbeit ein.3 Aber auch hierbei handelte es sich um Christen aus den damals sogenannten Jungen Kirchen. Ziel war es, die auf der Weltmissionskonferenz des IMR in Whitby/Kanada 1947 formulierte „Partnerschaft im Gehorsam“4 zwischen nördlichen und südlichen Kirchen konkret als Ökumene in den Hörsälen5 zum Ausdruck zu bringen. Die implizite missionarische Dynamik dieser Ökumene formulierte Eberhard Le Coutre, der zuständige Mitarbeiter im Hilfswerk in Stuttgart, damals so: „Das Zeugnis von Christus in einer nichtchristlichen Welt – und die gibt es nicht nur in den sogenannten heidnischen Ländern Asiens und Afrikas – wird um so glaubwürdiger erscheinen, je mehr sichtbar wird davon, daß alle Christen Glieder an einem Leibe sind.“6 Der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Missionsrats (DEMR), Walter Freytag, sprach nach einer Ostasienreise 1958 von der „indirekte[n] Hilfe für die Kirchen, die wir ihnen damit geben würden, wenn wir endlich zu den Studenten und Praktikanten aus Asien, die wir hier in Deutschland haben, den rechten Weg fänden“. Umgekehrt berichtete er von dem Wunsch der Kirchenleiter in Asien, „den Kirchen im Westen zu helfen, damit das Evangelium den asiatischen Studenten und Praktikanten in Europa und Amerika gesagt wird“.7 Die Perspektiven für eine Ökumene in den Hörsälen und für eine christliche Mission im Umfeld der Hörsäle waren also eng miteinander verwoben. Was genau Mission in diesem Zusammenhang bedeuten sollte, war eine Frage, die bei der Entstehung neuer kirchlicher Strukturen, wie der Konferenz für Ausländerfragen, durchaus kontrovers diskutiert wurde.
1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Wischnath, Hilfswerk, 1998, 250–257. Kaminsky, Integration der Fremden, 2007, 231ff, vgl. Le Coutre, Ökumene, 1959. Berg, Ökumenische Diakonie, 1959, 215. Vgl. Günther, Edinburgh, 1970, 71f, Walldorf, Partnerschaft, 1996, 23–25. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Le Coutre, Ökumene, 1959. Le Coutre, Ökumene, 1959, 218. Freytag, Kirchliche Wirklichkeit, 1958, 110.148, vgl. Triebel, Bekehrung, 1976, 92.
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III. Bildungsmigration und Studentenmission
A. DER MISSIONSRAT UND DIE KONFERENZ FÜR AUSLÄNDERFRAGEN 1. Der DEMR und die Entstehung der KfA 1956–1957 Eine der ersten protestantischen Reaktionen auf die interreligiösen Herausforderungen der Bildungsmigration war die Konferenz für Ausländerfragen (KfA), die am 14. März 1957 im Kirchlichen Außenamt der EKD erstmals zusammentrat und an deren Verlauf und Veröffentlichungen sich erste evangelische Perspektiven zur wachsenden kulturellen und religiösen Pluralität in Deutschland ablesen lassen.8 Eine Schlüsselrolle spielten dabei auch „komplexe und kontroverse missionarische Motive“.9 Dabei wird deutlich, dass die KfA nicht nur das „spiegelbildliche Gegenstück zur Auslandsarbeit der EKD“ (also kirchliche Arbeit unter ausländischen Christen in Deutschland),10 sondern – zumindest in der Intention des Deutschen Evangelischen Missionsrates (DEMR) – auch ein Spiegelbild der evangelischen Weltmission (unter ausländischen Nichtchristen) in der Bundesrepublik Deutschland darstellte. a) Ausländer in Deutschland: der Aufruf des DEMT Breklum 1956 Die Entstehung der Konferenz für Ausländerfragen (KfA) verdankt sich zwei Hauptimpulsen: einerseits der Initiative des Deutschen Evangelischen Missionsrats (DEMR) und andererseits den gesellschaftsdiakonischen Perspektiven des Kirchlichen Außenamts und der Evangelischen Akademie Bad Boll. Unmittelbarster Auslöser war jedoch der Impuls des DEMR. Vom 1. bis 5. Oktober 1956 versammelten sich die evangelischen Missionen zum Deutschen Evangelischen Missionstag (DEMT) in Breklum11 und befassten sich dort mit der Frage, „was Kirchen und Missionen in Deutschland angesichts der vielen christlichen und nichtchristlichen Studenten und Arbeitskräfte aus Afrika und Asien zu unternehmen haben?“12 Der daraus resultierende Bericht und Aufruf Ausländer in Deutschland (1956) wandte sich an die EKD mit der Bitte, eine „zentrale Stelle für Ausländer“ als gemeinsames Projekt mit den evangelischen Missionen, den Freikirchen und den Evangelischen Studentengemeinden einzurichten. Diese gesamtprotestantische Perspektive entsprach der kooperativen Struktur des DEMT, 8 9 10 11
Vgl. Walldorf, Welt, 2011, 365–369. Ebd. 365. So Wellnitz, Gemeinden im Ausland, 2003, 366. Der DEMT stellte von 1922 bis 1975 das zentrale Forum evangelischer Missionsgesellschaften in Deutschland dar. Der DEMR als ständiges Exekutivorgan des DEMT hatte seinen Sitz in Hamburg, vgl. Ustorf, Sailing, 2000, 141ff. 229ff; Moritzen, Deutscher Evangelischer Missionstag, in: LWM, 1975, 108–112; Nachfolgeorganisation des DEMT/R ist das 1975 gegründete Evangelische Missionswerk in Deutschland (EMW), vgl. R. Hering, Missionstag, RGG 4, 1326; K. Schäfer, Missionswerk, Evangelisches, RGG 4, 1326f. 12 DEMT, Ausländer, 1956, 183, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 366.
III. Bildungsmigration und Studentenmission
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der in ähnlicher Weise Missionsgesellschaften evangelisch-landeskirchlicher, freikirchlicher und pietistischer Prägung umfasste.13 Mit seinem Aufruf reagierte der DEMT/R implizit auch auf das sechs Monate zuvor verfasste Memorandum Zwölf Punkte zur Frage der Ausländer in Deutschland (1956) der Evangelischen Akademie Bad Boll, das Kirche, Politik und Gesellschaft zu verantwortlichem sozialem Handeln angesichts der Bildungsmigration aufrief.14 Das Memorandum beklagte, dass die Parlamente von Bund und Ländern „sich bisher fast nicht mit der Frage des Ausländers in Deutschland beschäftigt haben“.15 Die „deutsche Öffentlichkeit“ müsse „ihre Gastgeberpflichten gegenüber den Ausländern in der richtigen Weise wahrnehmen“.16 Das Memorandum schloss mit dem Hinweis, dass „eine sinnvolle ... Lösung … nur in Zusammenarbeit aller daran beteiligten Institutionen denkbar sei“. 17 Spezifisch religiöse und missionarische Aspekte spielten im Bad Boller Memorandum jedoch keine Rolle. Im Unterschied dazu betonte der Aufruf des DEMT/R ausdrücklich die „geistliche Fürsorge“: „Dringender als die äußere Versorgung bleibt auf die Dauer die geistliche Fürsorge für die Asiaten und Afrikaner in Deutschland, und zwar der Christen und der Nichtchristen. Der Deutsche Evangelische Missions-Tag beschließt darum, dass sich der Deutschen Evangelische Missions-Rat möglichst rasch mit der Frage nach der rechten Versorgung der Ausländer in Deutschland an den Rat der EKiD und an die mit der EKiD in Arbeitsgemeinschaft stehenden Freikirchen wenden möge. Er sollte die Notwendigkeit zum Ausdruck bringen, daß eine zentrale Stelle für Ausländer eingerichtet wird.“18
Die „geistliche Fürsorge“ sollte auch den Nichtchristen unter den Bildungsmigranten gelten. Hier sah man die besondere Aufgabe und Kompetenz der evangelischen Missionen: „Für den Dienst an den christlichen Ausländern würde, soweit es sich um Studenten handelt, diese zentrale Stelle bei dem Generalsekretariat der Evangelischen Studentengemeinden in Deutschland (ESGiD), Stuttgart … eine wesentliche Hilfe finden. … Die eigentliche der Mission erwachsene Aufgabe ist die an den Ausländern, die nicht Christen sind. Es tritt für sie der bisher seltene Fall ein, Nichtchristen aus Asien und Afrika heute sozusagen vor der Tür zu haben. Wir bitten den DEMR, bei dem Antrag an den Rat der EKiD darauf hinzuweisen, daß die einzurichtende Zentralstelle in enger Zusammenarbeit mit der Mission überlegen sollte, welche Wege zu beschreiten sind. Die Mission hat die Möglichkeit, durch ihre deutschen und ausländischen Mitarbeiter, aus ihrer Erfahrung heraus Ratschläge für die rechte Begegnung mit Christen und Nichtchristen anzubieten und evtl. auch personelle Kräfte zur Verfügung zu stellen.“19
13 DEMT, Ausländer, 1956, 184–185, vgl. den zeitgleichen Aufruf der freikirchlichen Missionen, verfasst von Ernst Schrupp, Leiter der freikirchlichen Missionshilfe Wiedenest, der zusammen mit dem Aufruf des DEMT in den Allgemeinen Missionsnachrichten des DEMR abgedruckt wurde, vgl. AMN 6/1956, 42–43. 14 Ev. Akademie Bad Boll, Zwölf Punkte, 1956, 1. 15 Ebd. 16 Ebd. 2. 17 Ebd. 3. 18 DEMT, Ausländer, 1956, 184–185, kursiv FW. 19 Ebd.
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III. Bildungsmigration und Studentenmission
Als vorerst dringlichste Schritte nannten die Missionen 1. die Öffnung der Kirchen, Häuser und Herzen für die „Ausländer in unserer Mitte“; 2. die Öffentlichkeitsarbeit durch Missionszeitschriften und Vorträge und 3. die Überwindung ausländerfeindlicher Haltungen in der Gesellschaft.20 Diese Aufgaben hätten zeitliche und geistliche Dringlichkeit: „Im Blick auf die Jahr zu Jahr ständig wachsende Zahl der Ausländer empfehlen wir, die ganze Angelegenheit recht beschleunigt in Angriff zu nehmen. Es ist leider in dieser Frage schon viel Schaden angerichtet worden. Wir müssen darauf aufmerksam machen, daß ein zu spät liegender Anfang einer verantwortlichen Begegnung mit den Ausländern der Sache unseres Herrn erheblichen weiteren Schaden zufügen würde.“
Der Rat der EKD griff den Antrag des DEMR in seiner Sitzung am 17. und 18. Januar 1957 in Hannover auf und hielt unter der Überschrift „Ausländer-Betreuung“ fest: „Der Missionsrat hält es für nötig, die in Deutschland studierenden oder sonst in einer Ausbildung befindlichen Ausländer, vor allem aus den farbigen Völkern, seitens der Kirche zu betreuen. Er beabsichtigt hierfür einen Reisesekretär anzustellen und beantragt die Bewilligung einer Beihilfe für diesen Reisesekretär. Die Angelegenheit wurde zurückgestellt bis Prälat D. Kunst geklärt hat, ob Mittel von staatlicher Seite zur Verfügung stehen. Federführend soll in dieser Angelegenheit künftig das Kirchliche Außenamt sein. Auf jeden Fall sollen die Landeskirchen auf die hier vorliegende Aufgabe hingewiesen werden.“21
Während es im September 1957 tatsächlich zur Anstellung eines Reisesekretärs in Person des nigerianischen Studentenpfarrers Bolaij Idowu kam (s. III.A.2. und III.B.2.), fand die erste „Konferenz der Zentralstelle für Ausländerbetreuung“ auf Einladung des Kirchlichen Außenamts der EKD bereits am 14.3.1957 in Frankfurt am Main statt. Dass die Federführung „in dieser Angelegenheit“ beim Kirchlichen Außenamt (KA)22 liegen sollte, war naheliegend. Bereits im Anschluss an die 2. Vollversammlung des ÖRK in Evanston 1954 hatte das KA darauf hingewiesen, „daß damit zu rechnen sei, daß im Laufe der kommenden Zeiten aus den selbständig werdenden – vor allem afrikanischen Staaten – immer mehr farbige Studenten nach Deutschland einströmen würden“,23 und im Oktober 1955 vorgeschlagen, das vom Auswärtigen Amt mitgetragene Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) in Stuttgart24 „möge sich unter Hinzuziehung aller infrage kommenden Stellen und 20 DEMT, Ausländer, 1956, 184–185. 21 Ratsprotokoll über die Sitzung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am 17. und 18. Januar 1957 in Frankfurt/Main, EZA Sign. 6/8602, vgl. Wellnitz, Gemeinden im Ausland, 2003, 366. Prälat Hermann Kunst (1907–1999) war der erste Bevollmächtigte (1949– 1977) des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am Sitz der Bundesregierung in Bonn, vgl. EKD, Kunst, 2007. 22 Das KA war 1945 neu strukturiert und ausgerichtet worden. 1945–1956 war Martin Niemöller Präsident des KA; ihm folgte 1956–1974 Adolf Wischmann; Vizepräsident war 1948– 1966 Gerhard Stratenwerth., vgl. Wellnitz, Gemeinden im Ausland, 2003, 140ff. 23 Stratenwerth, KfA, Niederschrift über die 6. Konferenz, 22. Jan. 1959, 3. 24 Das IfA war 1949 „durch einen Erlass der württembergisch-badischen Regierung … als öffentlich-rechtliche Körperschaft mit gemeinnützigem Charakter“ neu gegründet worden. Träger wurden das Auswärtige Amt, Baden-Württemberg und Stuttgart. Offiziell nahm das Insti-
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Organisationen der auf uns … zukommenden Fragen annehmen“.25 Der Antrag des DEMR gab nun jedoch offenbar den Ausschlag, „seitens der Kirche“ die Bildung einer eigenen Zentralstelle zu den Herausforderungen der Bildungsmigration anzustreben. Die im ursprünglichen Vorschlag des KA – sowie im Memorandum von Bad Boll (siehe oben) – zum Ausdruck kommende gesellschaftspolitisch orientierte Perspektive bot wichtige Chancen, setzte aber zugleich einen gewissen Kontrapunkt zur Betonung der geistlichen und missionarischen Aufgabe im DEMR. Diese unterschiedlichen Ausgangspunkte und Betonungen führten zwar erwartungsgemäß zu unterschiedlichen Perspektiven im Blick auf die Aufgaben und Ziele der neu entstehenden KfA, trugen aber auch dazu bei, die Komplexität der Begegnungsaufgabe im Blick zu behalten. b) Der Katholische Akademische Ausländer-Dienst (KAAD) Ein kurzer Seitenblick auf die katholische Kirche zeigt ähnliche Entwicklungen. 1955 entstand der Katholische Akademische Ausländer-Dienst (KAAD) als Aktionsgruppe des Außenamts des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). 1958 konstituierte sich der KAAD als eigenständiger Verein.26 Während auch hier der Schwerpunkt auf der Stipendiatenarbeit zur Förderung einer katholischen Elite in Afrika und Asien lag, waren damit auch interreligiöse Wahrnehmungen und missionarische Perspektiven verbunden, die man 1960 so formulierte: „Von diesen [ausländischen] Studenten sind durchschnittlich nur 3 Prozent katholisch. Der größte Teil gehört dem Islam oder dem Hinduismus an. Die Christen in Deutschland insgesamt tragen daher eine große Verantwortung, indem sie diesen fremden Menschen vorleben müssen, was Christentum, Nächstenliebe und soziale Verantwortung bedeuten. In deutschen Städten ist der Anblick von Menschen aller Hautfarben erst allmählich zu einem gewohnten Bild geworden. Und die deutschen Katholiken wissen, was sie nach den uns beschämenden Jahren des Rassenwahns jedem fremden Gast und Besucher gegenüber schuldig sind. In den Heimatländern dieser Studenten aus Afrika und Asien ist ja die Kirche meist noch sehr jung, eben erst zum Leben erwacht. Persönlicher Kontakt, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft aber bezeugen mehr die lebendige Kirche als Theorien und organisatorische Leistungen.“27
2. Das Ringen um das Profil der KfA 1957–1959 Zur „Konferenz der Zentralstelle für Ausländerbetreuung“ am 14.3.1957 im KA in Frankfurt war ein erster Querschnitt kirchlicher und missionarischer Institutionen versammelt: Vertreter von KA und DEMR, der Inneren Mission und des Hilfswerks der evangelischen Kirche in Deutschland (IMH), der Evangelischen tut seine Arbeit 1951 auf, „als eine der sogenannten Mittlerorganisationen auf verschiedenen Feldern auswärtiger Kulturpolitik“. Metzinger, 90 Jahre ifa. 25 Stratenwerth, KfA, Niederschrift über die 6. Konferenz, 22.Jan. 1959, 3. 26 Vgl. KAAD, 50 Jahre, 2008, 8ff. 27 Zitiert in: KAAD, 50 Jahre, 2008, 14.
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Studentengemeinden (ESGiD), der Evangelischen Kirche der Union (EKU), der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), der Goßner-Mission (Mainz) und des CVJM (siehe Tabelle 5). Ziel der Zusammenkunft war eine Bestandsaufnahme und die Klärung des Auftrags einer evangelischen „Zentralstelle“ für Bildungsmigranten „aus den unterentwickelten Gebieten und vor allem aus nichtchristlichen Ländern“, womit man sowohl die soziale als auch die interreligiöse Dimension der Herausforderung betonte.28 Umstritten war die Rolle der „missionarische[n] Aufgabe“, die man als „zweifellos gegeben“ ansah, die jedoch im Kontext der Betreuung neu durchdacht werden sollte.29 In der Grundsatzdiskussion zu diesen Fragen unterstrich Präsident Adolf Wischmann, dass der umstrittene Begriff der Betreuung „trotz aller negativen und missverständlichen Assoziationen“ „das beste Wort für die Zusammenfassung der Aufgaben am Ausländer“ sei30 Demgegenüber wies Jan Hermelink, Vertreter des DEMR, auf die ursprüngliche Intention der evangelischen Missionen hin: die Aktivierung der Christen zur einer einladenden Begegnung mit Migranten: „Die Absicht des Missionsrats war es, als er an den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland herantrat, nicht nur eine Koordinierung innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Frage der Ausländerbetreuung herbeizuführen, sondern vor allem eine Aktivierung und Erziehung des Ev. Deutschlands zu erreichen und die Gemeinden von der Notwendigkeit einer Umstellung auf die rechte Gestaltung und Notwendigkeit von Kontakten zu Ausländern zu durchdringen.“31
Hermelink betonte, dass es aus Sicht des DEMR „nicht in erster Linie um Betreuung [geht] ..., sondern [darum], den Ausländern die Erfahrung einer ganzheitlichen christlichen Gemeinde und ihrer Lebendigkeit zu vermitteln, Berührungen mit Gemeindekreisen und Studentengemeinden zu schaffen“.32 Peter Kreyssig, Generalsekretär der ESGiD, berichtete, dass „1953/54 eine grosse Welle von Auslandsstudenten nach Deutschland“ gekommen sei, um die man sich in den Studentengemeinden bemüht habe. Allerdings seien „diese Bemühungen …weithin im Betrieb des allgemeinen studentischen Lebens untergegangen und bezogen sich mehr auf gesellschaftliche anstatt auf persönliche Kontakte“. Im Blick auf missionarische Intentionen war Kreyssig zurückhaltend: die Begegnung müsse „sich zuerst im allgemeinen menschlichen Bereich abzuspielen und […] erst später zum missionarischen Auftrag kommen“.33 Der Vertreter der Goßner-Mission34 betonte die soziale Dimension der missionarischen Aufgabe und unterstrich, „jeder Christ, der mit Ausländern zu tun habe, [solle] die Geduld aufbringen, auf den richtigen Zeitpunkt zum geistlichen Gespräch und zur Missionierung zu warten“.35
28 29 30 31 32 33 34 35
KfA, Niederschrift, 14.3.1957. Ebd. 8–9. Ebd. 3–4, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 368. KfA, Niederschrift, 14.3.1957, 3–4. Ebd. Ebd. 6. Vgl. Roeber, Goßner-Mission, in: RGG4, Bd. 3, 2000, 1093–1094. KfA, Niederschrift, 14.3.1957, 6–8.
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Der Repräsentant der VELKD beobachtete, dass „bei den Ausländern in Deutschland keine Betreuung durch deren heimatliche Religionsgemeinschaft [stattfindet]. Allgemein ist eine große Empfindlichkeit der Ausländer gegen jegliche Missionstätigkeit zu beobachten. Sie führt häufig zu einer Verteidigung eines Heidentums, das in Wirklichkeit gar nicht da ist. Erst Betreuung – dann vielleicht Mission.“36 Einig war man sich im Blick auf die menschliche Qualität der Begegnung, die Vizepräsident Stratenwerth in drei Merkmalen zusammenfasste: 1. Verständnis für die Situation der Migranten, 2. Bereitschaft zum Kennenlernen der historisch-kulturellen Hintergründe und 3. „vor allem ein grosses Mass an Takt“. Sicher sei, „dass der Ausländer nicht angepredigt werden darf, sondern dass die Christen, mit denen er in Berührung [kommt], durch ihr Sein wirken müssen“. 37 1. KfA, 14.3.1957 2. KfA, 21.6.1957 3. KfA, 21.10.1957 4. KfA, 24.6.1958 5. KfA, 23.10.1958 6. KfA, 22.1.1959
Berichte und Grundsatzdiskussion zu „Betreuung oder Mission?“ Vortrag Jan Hermelink (DEMR) „Die Verantwortung der Kirche“ Handreichung Neun Punkte zur Begegnung mit Ausländern Bericht von Bolaij Idowu, Pfarrer für Ausländer in ESGiD Neuauflage der Neun Punkte; Empfehlung für Ausländerpfarrer Berichte Ausländerpfarrer; Handreichungen Hindus, Moslems
Tabelle 4: KfA 1957–1959 Themen
Im Lauf der nächsten Konferenzen wurden zunehmend politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Akteure wie das Bundesministerium für Arbeit (BMA), der Bund deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) oder der Verband deutscher Studentenschaften (VDS) als Gesprächspartner und Teilnehmer einbezogen. Dadurch wurde zwar die wichtige gesamtgesellschaftliche Dimension der Aufgabe unterstrichen, die von Hermelink und dem DEMR angestrebte Aktivierung und Befähigung der Christen und Kirchengemeinden zur evangelischen Begegnung mit nichtchristlichen Bildungsmigranten drohte allerdings in den Hintergrund zu rücken. Die staatlichen Gesprächspartner spielten den Ball jedoch teilweise zurück, wie der Beitrag von Ministerialdirigent Bernhard Ehmke vom Bundesministerium für Arbeit (BMA) auf der 2. KfA zeigt. Die 2. KfA am 21.6.1957 nahm den Zusatz „Zentralstelle“ aus ihrer Selbstbezeichnung und nannte sich nur noch „Konferenz betr. Ausländerbetreuung“.38 Dies deutet darauf hin, dass man den ehrgeizigen Plan einer kirchlichen Zentrale für die Ausländerbetreuung fallen ließ und sich mit Konferenzen zur Meinungsbildung, Absprache und Koordination begnügte. Ministerialdirigent Ehmke (BMA) und ein Vertreter der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Frankfurt (ZAV) gaben einen Überblick über die „organisatorischen, rechtlichen und verwaltungsmäßigen“ Fragen der „Hereinnahme sowie Unterbringung von Ausländern.“ Ehmke betonte, dass man von staatlicher Seite bereit sei, „erhebliche Mittel 36 Ebd. 7. 37 Ebd. 3. 38 Vgl. KfA, Niederschrift 2. Konf., 21.6. 1957.
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in die zur Verhandlung stehende Arbeit“ einzubringen, es liege nun an den kirchlichen Stellen, „verantwortliche und bewusste evangelische Menschen dafür zu stellen“.39 Diese staatliche Steilvorlage ließ die theologische Klärung der Aufgabenstellung der KfA umso dringlicher werden. Dazu sollte ein Grundsatzreferat von Jan Hermelink zur Frage „Worin besteht unser Auftrag an den Gästen aus den ‚Partnerländern‘ im Unterschied zur Betreuungsarbeit durch staatliche Stellen?“ klärende Impulse geben (s. III.A.3.) Gleichzeitig beschloss die 2. KfA die Herausgabe einer Handreichung für Christen mit Hinweisen zur „Begegnung mit Ausländern“ und beauftragte die Theologen Horst Symanowski (Goßner Mission) und Heiko Rohrbach (Ev. Akademie Bad Boll) mit der Erstellung des Entwurfs (s. III.A.4.). Die 3. KfA am 21.10.1957 änderte nochmals ihre Selbstbezeichnung und ersetzte den Begriff der „Betreuung“ durch den der „Fragen“,40 womit der endgültige Name als Konferenz für Ausländerfragen gefunden war. Damit einher ging eine gewisse Ernüchterung im Blick auf die ursprünglich erhofften Möglichkeiten kirchlicher Betreuung und missionarischer Begegnung durch die Aktivierung evangelischer Christen und Kirchengemeinden. Durch alle Berichte klang die ernüchternde Einsicht, „dass kaum Familien gefunden werden können, die bereit sind, geselligen Umgang mit ausländischen Studenten und Praktikanten zu führen“.41 Dies trug zu einem Strategiewechsel in Richtung professioneller Strukturen bei, vor allem durch die Anstellung afroasiatischer Studentenpfarrer.42 Bereits seit September 1957 wirkte der nigerianische Studentenpfarrer Bolaij Idowu erfolgreich in der überregionalen Arbeit der ESGiD. Auf der 4. KfA im Juni 1958 gab Idowu eine Art Abschlussbericht (s. III.B.2.).43 Die 6. KfA im Januar 1959 konnte feststellen, dass „die Empfehlung … zur Anstellung von Ausländern als Mitarbeiter bei den Studentenpfarrämtern“ begonnen habe, sich auszuwirken. An den Universitäten in Heidelberg und Berlin seien bereits afroasiatische Studentenpfarrer tätig, auch die ELKB plane eine Stelle für München.44 Darüber hinaus wurde eine weitere Handreichung, diesmal zur Begegnung mit Hindus, geplant und beschlossen. Sie sollte von Hans-Werner Gensichen, der 1957 als Ordinarius 39 40 41 42 43 44
Ebd. KfA, Niederschrift 3. Konf., 21.10.1957. Ebd. 3. Vgl. KfA, Niederschrift 5. Konf., 23.10.1958, 4. Vgl. KfA, Niederschrift 4. Konf., 24.6.1958, 6. Vgl. KfA, Niederschrift über die 6. Konferenz, 22.1.1959. Vgl. den positiven Bericht Friedrich-Wilhelm Marquardts (1928–2002), damals Studentenpfarrer an der Freien Universität (FU) Berlin, später Professor für Systematische Theologie, über die Tätigkeit des seit 1958 an der FU tätigen indonesischen Studentenpfarrers Tijn Hing Siem für die 6. KfA am 22.1.1959. Marquardt berichtete, dass es in einer „Gastvorlesung der holländischen Professorin Hanna Kohlbrugge“ an der FU „zu einer erheblichen Unruhe der dem Vortrag beiwohnenden islamischen Studenten gekommen“ sei. Siem habe daraufhin zu einem „christlich-islamischen Studententreffen“ eingeladen, um „die ganze Vorlesung noch einmal in Ruhe durchzusprechen“ und eventuelle „Mißverständnisse“ zu klären. „Da Siem aus einem islamischen Lande kommt, ist er für solche Art Begegnungen der geeignete Mann.“ Marquardt, Bericht, 1959, vgl. FU Berlin, Vorlesungsverzeichnis, 1964, 29. Zu Kohlbrugge s. auch IV.D.3.b).
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für Missionswissenschaft und Religionsgeschichte an die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg berufen worden war, verfasst werden. Auch ein „entsprechendes Blatt über die Begegnung mit Moslems“ wurde „in Auftrag gegeben“.45 Während die Orientierung zum Umgang mit Hindus tatsächlich bald erschien,46 verlief die geplante Islam-Handreichung zunächst im Sande.47 KfA 1957–1959
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Kirchliches Außenamt der EKD Dt. Evangelischer Missionsrat (DEMR) Evangelische Studentengemeinden (ESGiD) Christlicher Verein junger Menschen (CVJM) Innere Mission / Hilfswerk der EKD Goßner-Mission (Mainz) Ev. Kirche der Union (EKU) Vereinigte Ev.-Luth. Kirche (VELKD) Bundesministerum für Arbeit (BMA) Evangelische Akademien (EA) Ev.-Luth. Kirche in Bayern (ELKB) Zentralstelle für Arbeitssvermittlung (ZAV) Bund deutscher Arbeitgeberverände (BDA) Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Ev. Pressedienst (epd) Verband deutscher Studentenschaften (VDS) Carl Duisberg-Gesellschaft (CDG) Dt. Evangelischer Kirchentag (DEKT) Evangelische Frauen in Deutschland (EFiD)
Tabelle 5: Teilnehmer der KfA 1957–195948
3. Jan Hermelink: Das Wesen des Auftrags Im Rahmen seines Grundsatzreferats Das Wesen missionarischer Begegnung – Verantwortung der Kirche und ihrer Glieder gegenüber den bei uns befindlichen Gästen aus Asien und Afrika49 auf der 2. KfA im Juni 1957 griff Jan Hermelink50 45 KfA, Niederschrift über die 6. Konf., 22.1.1959, 8. 46 KfA, Umgang mit Hindus, 1959. 47 Die geplante Handreichung zur Begegnung mit Muslimen kam – unter veränderten Bedingungen im Kontext der türkischen Arbeitsmigration – erst 1974 unter dem Titel Moslems in der Bundesrepublik zur Umsetzung. Siehe VI.C.1.c). 48 Die teilnehmenden Institutionen sind in der Reihenfolge ihres Hinzukommens zur Konferenz aufgelistet. 49 Hermelink, Verantwortung, 1957, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 369ff. 50 Jan Hermelink (1923–1961), theologischer Referent im DEMR und Mitarbeiter Walter Freytags, promovierte 1957 mit der Arbeit Verstehen und Bezeugen. Der theologische Ertrag der
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die Spannung zwischen „Betreuung“ als gesellschaftlicher Verantwortung und „Mission“ als kirchlicher Aufgabe erneut auf. Hermelink stellte die zentrale Frage: „Worin besteht unser Auftrag an den Gästen aus den ‚Partnerländern‘ im Unterschied zur Betreuungsarbeit durch staatliche Stellen?“ Seine Antwort entfaltete er in vier Schritten (die Überschriften wurden von mir eingefügt). a) Der globale Kontext Hermelink deutete die Migration als „ein geistesgeschichtliches Faktum“, das „die Bewußtwerdung der eigenen Identität der ehemaligen Kolonialvölker“ zum Ausdruck bringe. In Anknüpfung an Arnold J. Toynbees Thesen in A Historians Approach to Religion (1956) prognostizierte er „eine stetige Gewichtsverlagerung zu den jungen Nationen hin“. Dies schließe auch die Neubelebung „der dort herrschenden Mehrheitsreligionen wie Hinduismus, Islam“ ein – sowohl als politische Fundierung der aufbrechenden Nationen als auch persönliche Entfaltung des Individuums. Dabei hätten die nichtchristlichen Religionen christliche Elemente assimiliert, was sie zu „nachchristlichen“ Phänomenen mache.51 „Aus alledem ergibt sich, dass wir nicht erwarten können, dass die nichtchristlichen Völker offener für das Evangelium werden.“52 Fast pessimistisch sah Hermelink die Christen „in der Welt [als] eine verschwindende Minderheit ... Während 1907 noch 34,3 % der Menschheit einer christlichen Kirche angehörten, waren es 1951 nur noch 31,4 %.“ Toynbees Vision einer globalen synthetischen Weltreligion, sowie dessen Kritik am universalen Wahrheitsanspruch und der Sendungsdynamik des Evangeliums lehnt Hermelink zwar ab.53 Es gelte jedoch, „die bisher immer noch vorhandene Verklammerung von geistlichem Missionsbewußtsein und westlich kulturellem Anspruch zu entwirren“.54 b) Der christliche Auftrag: Jesus verkündigen Dieses geistliche Missionsbewusstsein implizierte für Hermelink den spezifisch christlichen Auftrag im Kontext der Bildungsmigration. Er erläuterte dies näher anhand Martin Kählers Unterscheidung zwischen Propaganda und Mission. Pro-
51 52 53 54
‚Phänomenologie der Religion‘ von Gerardus van Leeuw (1960) bei Gerhard Rosenkranz in Tübingen. Durch einen tragischen Autounfall auf dem Weg zum Kirchentag nach Berlin kam Hermelink 1961 verfrüht ums Leben. Texte aus seinem fragmentarischen, aber tiefgehenden und zukunftsoffenen Werk gaben Horst Bürkle und H.J. Schultz unter dem Titel Christ im Welthorizont (1962) heraus, vgl. dort vor allem die Grabrede von Hans Jochen Margull, 153– 156. Zu Biographie und Werk Hermelinks vgl. Hoffmann/Schmidt, In Memoriam, 1961 sowie Walldorf, Welt, 2011. Hier rezipiert Hermelink die Begrifflichkeit Walter Freytags. Siehe II.B.4.c). Hermelink, Verantwortung, 1957, 2. Vgl. Hermelink, Islam, 1957, 106: „das Evangelium [verbietet] eine solche Synthese.“ Hermelink, Verantwortung, 1957, 2.
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paganda sei das Gegenteil von Mission: „Man macht Proselyten, das heißt: Wiederholungen dessen, was man selber ist.“ Mission dagegen „will den anderen frei setzen zu einer eigenen Antwort auf das, was Gott von ihm will“.55 Dazu sei es notwendig, „die sogenannte ‚Absolutheit des Christentums‘ und die ‚Einzigartigkeit‘ der Person Jesu Christi auseinander[zu]halten“. Mission will „Jesus verkündigen und Gemeinschaft anschaulich und erlebbar darstellen, in welcher der Herr gegenwärtig ist“. Kritisch fragte Hermelink, ob die volkskirchlichen Strukturen in Deutschland in diesem Sinne ein angemessener Ausdruck der Mission seien: „Können wir als Kirche überhaupt noch Kirche für die ganze Welt sein, oder sind wir nicht doch eine Art von ‚Stammesreligion' für bestimmte soziologische Gemeinschaften?“56 Als zentral für missionarische Begegnung mit den Bildungsmigranten sah Hermelink dagegen die christozentrische „Gemeinschaft, die wirklich mitarbeitet und ihr Christsein darstellt“. c) Partizipative Glaubensgemeinschaft Dazu hielt Hermelink eine „Entschränkung auch im Blick auf die Formen“ für notwendig: „und zwar nicht nur um der anderen, sondern auch um der Kirche selbst willen“.57 Denn „das Zeugnis der Kirche kann nur geschehen in den Formen dieser unserer Zeit“. Die Kirche solle deshalb als partizipative und christuszentrierte Gemeinschaft „ohne eigene Prätentionen überall mittun, wo ein Dienst an Menschen aus den 'Partnerländern' geschieht“. Hermelink skizzierte das Bild einer christlichen koinonia, die mitten in der Gesellschaft im Zeugnis und der diakonia wirksam wird. Er sprach in diesem Zusammenhang provokativ von einer christlichen „Unterwanderung“ der Institutionen: der Ausdruck sei „schief, obgleich er etwas Richtiges enthält“.58 Hier griff Hermelink den Gedanken einer eschatologischen und gesellschaftsbezogenen koinonia auf, den Johannes C. Hoekendijk im Rahmen seiner Theologie des Apostolats bereits 1950 so beschrieben hatte: „The koinonia ... the Christian community, belongs to the new age. That means that this fellowship of the parttakers of the same salvation is nothing more in this world than a company of strangers and pilgrims ... fully detached and therefore free to relate itself to every form of existence“. 59 Im Unterschied zu Hoekendijk (und weniger „detached“)60 betonte Hermelink jedoch stärker den Charakter der missionarischen Kirche als kulturüberschreitender, im Evangelium verwurzelter Glaubensgemeinschaft, die in konkreten religiösen und sozialen 55 Ebd., vgl. Hermelink, Editorial, 1960, 1: „Mission ist, dass die anderen durch das Evangelium zu ihrem eigenen Gehorsam, ihrer eigenen Antwort auf das Wort Gottes geführt werden.“ 56 Hermelink, Verantwortung, 1957, 3. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Hoekendijk, Call to Evangelism, 1950, 53. 60 Margull beschrieb Hermelink als jemand, der „auf der Erde lebte. Deshalb war sein Sinn für die Geschichtlichkeit des Lebens, die Geschichtlichkeit des Wortes Gottes in der Kirche und die Geschichtlichkeit der Mission so stark.“, Margull, Grabrede, 1962, 153.
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Formen Ausdruck findet: „Die Kirche kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie konkrete Gestalt gewinnt. ... Die Welt, als nichtglaubende Menschheit verstanden, ist die eigentliche Grenze der Kirche. ... Wir aber in unserer innerdeutschen Introvertiertheit [sind] nicht in der Lage ... in unserer volkskirchlichen Situation diese Grenze wahrzunehmen.“61 d) Verstehen und Bezeugen im interreligiösen Gespräch Als wesentlich für den missionarischen „Dienst an Menschen aus den Partnerländern“ sah Hermelink den interreligiösen Zusammenhang. Maßgeblich waren die dialogische Haltung und die empathische Wahrnehmung: „dass wir den anderen in seiner Art kennenlernen und ernstnehmen. Über die Wirkung des Heiligen Geistes verfügen wir nicht, aber das menschliche Kennenlernen und Ernstnehmen ist Sache unseres Bemühens. Dieses Ernstnehmen kann und soll unter Umständen so tief gehen, dass die Art des anderen uns selbst zur Versuchung wird.“62 Nur so könne „das ernste Streben, wieder Kirche für die Welt zu werden“ glaubwürdig sein. Diese Sichtweise implizierte die erst später formulierte Grundregel des interreligiösen Dialogs, den Anderen so zu verstehen, wie er sich selbst versteht, und deutete die Verwundbarkeit (Margull) als kreuzestheologische Grundhaltung des christlichen Zeugnisses im interreligiösen Zusammenhang an.63 Nach Hermelink war das interreligiöse Verstehen jedoch untrennbar mit dem neutestamentlichen Zeugnis von der Einzigartigkeit Jesu Christi verbunden (siehe oben). Die Betonung, dass „in keinem anderen Heil ist und kein anderer Name den Menschen unter dem Himmel gegeben ist, darin sie gerettet werden können, als allein der Name Jesu“, widerspreche nicht den „Bemühungen um neue Begegnung“. Vielmehr gebe es „keinen besseren Grund, liebevoll und mit der Bemühung um echtes Verstehen sich den Menschen anderer Religionen zuzuwenden, als den, daß man ihnen das Heil zeigt“.64 Dies galt auch im Kontext der Bildungsmigration. Nach Hermelinks Erfahrung konnte „gerade bei Begegnungen mit Studenten aus dem islamischen oder hinduistischen Raum, die hier in Europa stattfanden, ein herzliches und liebevolles Verhältnis erst dann wirklich entstehen ..., wenn man dem Hindu oder Moslem nicht verschwiegen hat, daß man Christ ist und warum man Christ ist.“65 Dabei sei es „von der biblischen Botschaft her unmöglich“, „die anderen schlecht zu machen“.66 Mit diesen pointierten und zugleich vermittelnden Perspektiven plädierte Hermelink gegen eine Polarisierung von „Mission“ und „Betreuung“ und für ein 61 Hermelink, Kirche im Welthorizont, 1957,17.19. Eine pietistische „Sonderfrömmigkeit gegen die als ‚Welt‘ angeschaute Großkirche abzugrenzen“ hielt Hermelink allerdings für ebenso problematisch. Hermelink, Verstehen und Bezeugen, 1960,145. 62 Auch hier zeigte sich Walter Freytags Einfluss, siehe II.B.4.c). 63 Siehe II.D.1.a). 64 Hermelink, Zukunft der Religion, 1961, 142, nach Apg 4,12. 65 Ebd. 143. 66 Ebd. 142.
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ganzheitliches Begegnungsverständnis in der KfA. Darüber hinaus wies er auf die interreligiöse Dimension der Bildungsmigration hin, ein Aspekt der in der KfA sonst nicht im Vordergrund stand. Obwohl Hermelinks Ausführungen Fragen offen ließen und nicht frei von Idealismus im Blick auf die Wahrnehmung eines evangelischen Deutschlands waren,67 boten sie wichtige Ansätze einer hermeneutischen missionstheologischen Aufarbeitung des kirchlichen Auftrags angesichts der religiösen und kulturellen Pluralisierung durch die Migration. Dennoch gelang es nur sehr begrenzt, die vom DEMR angestrebte missionarische Aktivierung von Christen und Kirchengemeinden zum ganzheitlichen Zeugnis gegenüber Migranten als zentrale Aufgabe der KfA zu etablieren. In der ersten Auflage der Neun Punkte-Handreichung der KfA fanden Hermelinks missionstheologische Perspektiven kaum Ausdruck, sie wurden allerdings in der zweiten Auflage stärker rezipiert (siehe unten). 4. Neun Punkte für die Begegnung mit Ausländern in Deutschland (1958) a) Der Entwurf Die 1. KfA hatte sich vorgenommen, „denen, die mit dem Ausländer zu tun haben, Hilfsmittel an die Hand [zu] geben“. Unter anderem wollte man „Rüstmaterial“ zur „Kontroverstheologie“, einer vergleichenden theologischen Auseinandersetzung mit den nichtchristlichen Religionen, „in Zusammenarbeit mit den Missionsgesellschaften“ erarbeiten und „in diesem Zusammenhang ... gegen alle Arten von Taktlosigkeiten angehen und herablassendes Denken ausräumen“.68 Während der Plan einer „Kontroverstheologie“ bald wieder fallengelassen wurde, beschloss die 2. KfA die Herausgabe einer Handreichung zur „Begegnung mit Ausländern“ und beauftragte Pfarrer Horst Symanowski69 von der Goßner-Mission und den jüngeren Theologen Heinrich Constantin (Heiko) Rohrbach70 mit der Erstellung des Entwurfs, der auf der 3. KfA im Oktober 1957 vorgelegt und diskutiert wurde.71 Der Entwurf mahnte, die Begegnungs- und Betreuungsaufgabe nicht mit Mission gleichzusetzen. Er enthielt starke sozialkritische und gesellschaftspolitische Akzente, nicht zuletzt in Anlehnung an das Bad Boller Memorandum.72 Die interreligiöse Wahrnehmung war jedoch holzschnittartig und die Auffassung 67 Vgl. Walldorf, Welt, 2011, 379f. 68 KfA, Niederschrift, 14.3.1957, 8–9. 69 Horst Symanowski (1911–2009) hatte seit 1948 mit der Goßner-Mission in Mainz-Kastel eine von den französischen Arbeiterpriestern inspirierte kirchliche Arbeit unter Industriearbeitern aufgebaut. Grundgedanke der Arbeit war das missionstheologische Konzept der christlichen Präsenz, vgl. Beyreuther, Kirche in Bewegung, 1968, 267f; Roeber, Goßner-Mission, in: RGG4, Bd. 3, 2000, 1093–1094. 70 Rohrbach war damals im Zusammenhang der Ökumenischen Jugendarbeit und der Bad Boller Akademie tätig. In den 1960er Jahren wurde er Generalsekretär der ESGiD. 71 KfA, Niederschrift 3. Konf., 21.10.1957. 72 Siehe III.A.1.
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christlicher Mission, vor allem angesichts der Impulse von Hermelink, überraschend einseitig und polemisch: „Die bloße Tatsache, dass wir eine grosse Anzahl von Ausländern unter uns haben, die zu uns kommen, weil sie nur hier das lernen können, was sie zu Hause für ihren Beruf brauchen, heisst noch lange nicht, dass es Gottes Wille ist, dass wir hier eine Art christliche Treibjagd mit missionarisch geladenen Flinten auf sie machen“. … [Es ist] einfach lieblos und noch dazu völlig zwecklos, einen Araber, den man eingeladen hat – wie es schon vorgekommen ist – zu fragen, warum er eigentlich Mohammedaner und nicht Christ sei.“73
Das polemische Bild der „Treibjagd“ und das Beispiel des arabischen Muslims überstanden die kritische Revision des Textes auf der 3. KfA nicht, da sie offensichtlich überzogen waren und weder das Selbstverständnis christlicher Mission im DEMR noch das religiöse Selbstbewusstsein arabischer Muslime richtig einschätzten.74 Der missionskritische Grundton wurde jedoch beibehalten, vor allem die Mahnung, dass die „große Zahl von Ausländern unter uns“ nicht impliziere, „daß es Gottes Wille ist, daß wir bei jeder Begegnung mit einem Ausländer den Versuch machen sollen, ihn zu bekehren“.75 b) Die Neun Punkte Unter dem Titel Neun Punkte für die Begegnung mit Ausländern in Deutschland erschien die Handreichung 1958 in einer 1. Auflage von 10.000 Stück.76 Die 8seitige Broschüre wurde zur Weiterverteilung an kirchliche Stellen verschickt, damit „jede Gemeinde, in deren Bereich ausländische Studenten und Praktikanten wohnen, sich ihrer verantwortungsbewusst annimmt“.77 Acht Monate später war die Auflage vergriffen und man beschloss „eine sofortige Neuauflage“ in Höhe von 25.000 Stück.78 Das Ziel der Handreichung war, dass „ein Anfang gemacht [wird], die Betreuung von Ausländern in Deutschland in sinnvoller Weise zu fördern“. Die Neun Punkte der Handreichung lauteten: 1. Warum überhaupt? 2. Den ersten Schritt …; 3. Der Ausländer sucht vor allem …; 4. Bei Einladungen sollten wir folgendes beachten; 5. Praktische Hilfen in kleinen Dingen sind die besten Bausteine für die Brücken des Verstehens; 6. Die Ausländer sind so anders! 7. Das leidige Sprachproblem; 8. Der Alkohol, die Mädchen (bzw. die Männer); 9. Sollen wir als Christen heidnische Ausländer bekehren? Während Punkt 1 außenpolitische Begründungen und kurze theologische Hinweise für die Notwendigkeit der Begegnung nannte, suchten die weiteren Punkte die interkulturelle und soziale Kompetenz der Leserschaft durch prakti73 KfA, Punkte-Entwurf 1957, EZA 5013/10 Sign. 6/8602, kursiv FW. Vgl. KfA, Niederschrift 3. Konf., 21.10.1957. 74 Siehe I. C. 5. b). 75 KfA, Neun Punkte, 1. Aufl. 1958, 127–128 (nach Berg, Diakonie, 1959). 76 KfA, Neun Punkte, 1. Aufl. 1958, zitiert nach Berg, Diakonie, 1959, 219–228. 77 KfA, Niederschrift 3. Konf., 21.10.1957, 3. 78 KfA, Niederschrift 5. Konf., 23.10.1958, 9.
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sche Hinweise in oft belehrendem Stil zu fördern. Punkt 1 betonte die für die Adenauer-Ära charakteristische kultur- und außenpolitische Perspektive: „Perser, Inder, Japaner, Araber, junge Menschen aus Afrika … [werden bald] in ihren Heimatländern zur führenden Schicht ihres Volkes gehören. ... Aus ihren Worten wird ... ein Bild von Deutschland entstehen, von seinen Menschen – und auch von seinen Kirchen. … [Damit sie nicht] in der Ablehnung der europäischen Welt das Heil ihrer Völker sehen müßten …, deswegen gehen sie uns etwas an. Darum haben wir uns als Deutsche um sie zu kümmern.“79
Theologisch wurde der Begegnungsauftrag in der Nächstenliebe und dem Vorbild Christi begründet: gerade „evangelische Christen haben ... eine besondere Aufgabe“ an den Ausländern, die oft „allein gelassen ... übervorteilt, ausgeschlossen und schief angesehen“ würden. „Christus hat gerade ‚die Fremden‘ immer wieder gesucht, um ihnen nahe zu sein. Deshalb gehen uns die jungen Ausländer als Christen etwas an.“80 Der (wohl kaum zu Recht) befürchtete missionarische Überreifer in der evangelischen Leserschaft wurde bereits hier in die Grenzen gewiesen: es gehe oft nur darum „Freundlichkeit und Bescheidenheit ... ohne viel Worte mit[zu]teilen“.81 In den weiteren Punkten bemühte die Handreichung sich, oft in belehrendem Ton, interkulturelle Kompetenzen zu fördern. Ohne selbst frei davon zu sein, warnte sie vor einer paternalistischen Haltung: „der Ausländer sucht vor allem ... Freunde, die zuhören können – und keine ‚Betreuer‘ … Auch wenn wir vom ‚Betreuen‘ der Ausländer reden, sollten wir daran denken: Betreuen tut man Kinder, etwa im Kindergarten.“82 „Keiner von ihnen [ist jedoch] ein Kind und keiner möchte so behandelt werden. ... [Sie können in ihrer] eigenen Sprache … genau so geistreich sein wie wir, und manche von ihnen stammen aus Völkern, die schon Bibliotheken besaßen, als unsere Vorfahren noch im Urwald hausten.“83 Neben eher klischeehaften Ausführungen bemühte die Handreichung sich um Realismus und Perspektivenwechsel. Die „Verschiedenheiten der Lebensweisen“ seien „wenn man eng zusammenwohnt, nicht ganz einfach zu ertragen“. Als „Faustregel“ gelten Geduld und gegenseitige Achtung: „Freu Dich von Herzen am Recht des anderen, anders zu sein als wir, versuche, ihn zu verstehen.“ „Könnte man nicht auch sagen: Die Deutschen sind so anders? Es kommt dabei doch wohl sehr auf den Standpunkt an.“84 Man ging davon aus, dass „die meisten Ausländer, besonders, wenn sie längere Zeit in Deutschland sind, gerne deutsch lernen“. Um diese Bemühungen zu unterstützen, wurden die Leser ermahnt, mit den ausländischen Gästen „langsam [zu] sprechen, und zwar unser bestes Hochdeutsch“. 85 Ein starker Akzent lag auf der sozialen Wahrnehmung. „Junge Ausländer leben … in großer Einsamkeit unter uns.“ Einer der „größten Dienste“ sei es des79 80 81 82 83 84 85
KfA, Neun Punkte, 1. Aufl. 1958, 219f. Siehe I.C.1. Ebd. 220. Ebd. 221. Ebd. Ebd. Ebd. 224. Ebd. 225, kursiv i.O.
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halb, „sie in Familien einzuladen“.86 Dabei solle man vermeiden, „das deutsche Wirtschaftswunder … anzupreisen“ und stattdessen „sachliche Auskünfte“ geben und darauf hinweisen, „daß es hinter den eleganten Häuserfronten viele Menschen … gibt, die herzlich wenig von den Segnungen des Wirtschaftswunders erfahren haben“.87 Von hier leitet der Text zu den sozialen Nöten der „wohnungssuchenden jungen Ausländer“ über, die oft Ablehnung oder Ausnutzung erlebten. Hier hätten „Studentengemeinden, Jugendgruppen und Ausländerclubs“ durch die Unterstützung bei der Wohnungssuche und bei Ämtern schon „manche wirksame Hilfe geleistet“. Während die soziale Wahrnehmung eine Stärke der Handreichung darstellt, zeigt die holzschnittartige Gegenüberstellung von „Christen“ und „Heiden“ in Punkt 9 („Sollen wir als Christen heidnische Ausländer bekehren?“) ein merkwürdiges Nebeneinander von Klischees und ernsthaften Hinweisen. Stellenweise spiegelt der Text stärker die missionstheologische Kontroverse als die wirkliche Situation der Bildungsmigration und der Kirchen (was allerdings in sich selbst wiederum Teil der wirklichen Situation in den Kirchen war). Entgegen Hermelinks differenzierter Bekräftigung des missionarischen Auftrags, beschränkte sich Punkt 9 auf die klischeehafte Mahnung, dass die Bildungsmigration nicht impliziere „dass es Gottes Wille ist, daß wir bei jeder Begegnung mit einem Ausländer den Versuch machen sollen, ihn zu bekehren“. Immerhin wurde ergänzt: „Vielmehr werden wir sehr behutsam prüfen müssen, wann und wo wir den Auftrag haben, einem andersgläubigen Ausländer den Gott und Vater Jesu Christi zu bezeugen.“ 88 Ernst zu nehmen war auch die Beobachtung: „Wenn es zu solchen Gesprächen kommt, und das kann auch manchmal sehr schnell gehen, beginnt die persönlichste Begegnung mit dem Ausländer. Dann gilt es für uns, bereit zu sein, auf konkrete und manchmal auch schwierige Fragen nach dem Christentum Rede und Antwort zu stehen.“89 Gegenüber dem auf der 3. KfA diskutierten Entwurf (siehe oben) waren auch die religiösen Fremdperspektiven differenzierter geworden. Mit Recht mahnte die Handreichung: „mit den Allgemeinurteilen über die anderen Religionen, seien sie wohlwollend oder abwertend, werden wir hier Schiffbruch erleiden. Nicht nur unsere Kirche, sondern auch die anderen Religionen haben eine lebendige Geschichte.“ 90 5. Rezeption und Revision: Vicedom und Pörksen Trotz der genannten Einschränkungen war die Neun Punkte-Handreichung der KfA ein bedeutsamer Schritt in Richtung einer Sensibilisierung in Kirche und Gesellschaft für die interkulturelle Begegnung im eigenen Land. Zum ersten Mal 86 87 88 89 90
Ebd. 222. Ebd. 224. Ebd. 227–228. Ebd. Ebd.
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wurde ein großer Teil der Bevölkerung gezielt auf diese Weise angesprochen. Die parochiale landeskirchliche Struktur war geeignet, die Broschüre über die Knotenpunkte der Pfarrämter und Kirchengemeinden zu vielen Menschen gelangen zu lassen. Insofern boten die Neun Punkte tatsächlich Ansätze der von Hermelink auf der 1. KfA angesprochenen „Aktivierung und Erziehung des Ev. Deutschlands“.91 Dies zeigt auch die Rezeption in den Kirchen und darüber hinaus. Die vom Auswärtigen Amt angestoßene Danckwortt-Studie Die junge Elite Asiens und Afrikas (1959)92 der Universität Hamburg (siehe I.C.1.) führte die Handreichung in ihrer Materialliste auf. Die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) im Jahr 1959 wies auf die Handreichung hin, mit der Bitte „diese ausländischen Gäste auf[zu]nehmen und … in eine christliche Haus- und Familiengemeinschaft hineinzuholen. Dabei kann das vom Kirchlichen Außenamt herausgegebene Material zur Begegnung mit Ausländern hilfreich sein.“93 Auch pietistische und freikirchliche Gruppen im Umfeld der Evangelischen Allianz wie die Studentenmission in Deutschland (SMD) (siehe III.C.) griffen die Handreichung auf, da sie „gute Hinweise für Ausländerarbeit“94 enthalte. Die SMD verbreitete sie über ihre Zentralstelle in Marburg. In mancher Hinsicht blieb die Handreichung jedoch hinter den Erwartungen zurück. Im DEMR wurde die Handreichung „lebhaft besprochen“ und kritisiert: „‚Wo bleibt denn da die Mission unter Ausländern?‘ war die Frage, die immer wieder laut wurde.“, erinnert sich der damalige stellvertretende Vorsitzende Martin Pörksen.95 Immerhin war an einigen Stellen nicht nur das Selbstverständnis christlicher Mission, wie es im DEMR vorherrschte und von Hermelink in der KfA reflektiert worden war, einseitig dargestellt, sondern auch die universale Gültigkeit des christlichen Zeugnisauftrags implizit in Frage gestellt und mit Konditionen versehen worden. Dass die Beanstandungen des DEMR in der KfA nicht unberücksichtigt blieben, zeigt die revidierte 2. Auflage der Neun Punkte,96 in der unter Punkt 9 die situative Einschränkung des Zeugnisauftrags entfiel und eine theologische Aussage zur Einzigartigkeit Jesu Christi und zum (Miss-) Verständnis der Bekehrung eingefügt wurde: „Wir wissen als Christen, daß in keinem anderen Heil ist als allein in Jesus Christus. Aber Gott hat mit jedem Menschen seine eigene Geschichte, auch mit jedem Nichtchristen. Nicht wir sind es, die ihn bekehren können. Das tut Gott selbst. Was wir tun können, ist darum bescheiden. Am wichtigsten ist die Einsicht, daß unser Zeugnis viel mehr durch unser Sein als durch unser Reden wirkt.“97
Das Vorbild, aber auch die Defizite der Neun Punkte, führten zur Herausgabe neuer Orientierungshilfen von anderen Stellen. 1962 gab der Zentralverband für 91 92 93 94 95 96
Siehe III.A.2. Siehe I.C.1. VELKD, Gott ist am Werk [1959], 1960, 26. AfW, Informationsblatt Nr. 11, 1965, SMD-Archiv, AfW-K. Pörksen, Vier Jahrzehnte, 1974, 38. KfA, Neun Punkte, 2. revidierte Auflage o.J. (Faltblatt), EZA (ZA 5111/08) Sign. 6/8603. Bei Micksch, Mitbürger, 1978, 169–170 ist die unrevidierte 1. Auflage abgedruckt. 97 KfA, Neun Punkte, 2. Aufl. o.J. Kursiv FW.
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Äußere Mission (ZVÄM) der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in Verbindung mit dem Neuendettelsauer Missionswissenschaftler Georg Vicedom98 eigene Richtlinien für Ausländerarbeit heraus.99 In den Richtlinien, die auf einem Referat Vicedoms auf der Arbeitstagung des ZVÄM zur Begegnung mit ausländischen Studierenden im September 1961 in Neuendettelsau basierten, standen erweckliche und missionarische Perspektiven im Vordergrund. Die Richtlinien kritisierten das wenig einladende Bild des traditionellen Christentums, das Europa den ausländischen Gästen – Christen wie Nichtchristen – biete.100 Viele „christliche Afrikaner“ hätten in Europa „ihren Glauben verloren“. Auch in Indien sage man sarkastisch: „Wenn du nicht willst, dass dein Sohn Christ wird, dann schicke ihn zum Studium nach Europa.“ Den Schlüssel zur Begegnung sahen die Richtlinien in der geistlichen Erneuerung und missionarischen Neuausrichtung der Kirche: „In unseren eigenen Gemeinden müssen die ausländischen Kommilitonen die tragenden Kräfte des Glaubens spüren.“ Genauso wichtig sei es allerdings, die „vorhandenen Rassenvorurteile abzubauen“.101 In die Lücke der auf der 6. KfA geplanten,102 aber nicht erschienenen IslamHandreichung, stieß das von Martin Pörksen103 herausgegebene Heft Jesus in der Bibel und im Koran (1961). In einer synoptischen Gegenüberstellung und Erläuterung von koranischen und neutestamentlichen Stellen bot Pörksen eine praxisnahe Hilfe zur christlich-islamischen Begegnung. Ausgehend von der Frage „nach dem Verhältnis des biblischen Jesus Christus und des muslimischen Jesus“104 behandelte das Heft fünfzehn Themen von „Jesus und Adam“ bis „Ist Jesus wirklich gekreuzigt?“ Die Beobachtungen und Schlussfolgerungen wurden in sachlichem und versöhnlichem Ton vorgetragen. Zur Trinitätslehre wird „unumwunden zugestanden: wir stehen an dieser Stelle … an einem Punkt, wo uns wie selten die Grenze unseres Wissens deutlich ist. … Auf den ersten Blick hat der Islam etwas durchaus Überzeugendes und Gewinnendes für sich.“105 Zur Frage, ob Jesus gestorben sei, räumte Pörksen ein, „der Muslim“ gehe „den Weg Jesu so weit mit, wie er nur irgend mitgehen kann“.106 Das Zwischenfazit lautet: „Geburt Jesu, Tod Jesu, Auferstehung Jesu, das alles sind Tatsachen, über die Bibel und Koran weit98 Zu Vicedom siehe II.C.4.a). 99 ZVÄM, Richtlinien, 1962. Die SMD gab die Richtlinien des ZVÄM 1963 in einer leicht modifizierten Fassung heraus. Der ZVÄM erlaubte, dass die SMD „gerne davon Vervielfältigungen anfertigen“ könne. „Dabei haben Sie das Recht, Berichtigungen und Verbesserungen vorzunehmen.“ Walther Ruf, Brief an E. Troeger, 28.8.1963, SMD-Archiv, AfW I. Zur Fassung der SMD siehe III.C.5. 100 Diese Eindrücke hatte Walter Freytag nach seiner Ostasienreise auf dem DEMT 1959 geschildert und damit eine starke Wirkung hinterlassen. Siehe III.C.5. 101 ZVÄM, Richtlinien, 1962, vgl. SMD, Richtlinien, 1963. 102 Siehe III.A.2. 103 Martin Pörksen (1903–2002), Direktor der Breklumer Mission, war 1956–1975 stellvertretender Vorsitzender des DEMR sowie bis 1971 Hanseatischer Missionsdirektor, vgl. Waack, So sende ich, 1973; Pörksen, Vier Jahrzehnte, 1974. 104 Pörksen, Jesus, 1961, 3–4. 105 Ebd. 33. 106 Ebd. 36.
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gehend einig zu sein scheinen.“ Doch auch die Differenzen kamen in christlichtheologischer Beurteilung zur Sprache. Der Koran versuche, Gott dogmatischrational „begreiflich [zu] machen“.107 Am leidenschaftlichsten werde die Gottessohnschaft Jesu abgelehnt. Hier würden die Christen in den Augen der Muslime zu „Ungläubigen“. In der Bibel sei die Gottessohnschaft Jesu jedoch „eindeutig“ bezeugt. Da würden „die Gegensätze immer stärker“. Für Christen gebe es hier „keinen Kompromiß, denn unser Glaube ist vergeblich, wenn Jesus nicht als Sohn Gottes aus dem Grab fleischlich auferstand“.108 Am Ende des Heftes fand sich der Leser dann mit Pörksen „auf dem Höhepunkt des Gegensatzes“: in seiner Re-Interpretation der biblischen Botschaft sei „der Islam unter allen Religionen wohl der genialste Versuch, ohne Christus zu Gott zu kommen, an dem Kreuz Christi vorbeizugehen und dennoch Gott anzubeten sowie Gottes Reich aufzurichten“.109 Pörksen unterschied jedoch ausdrücklich zwischen dem Islam als religiösem System und den Muslimen als Gesprächspartnern und reihte sich damit in die Tradition von Kraemer (1940), Kellerhals (1945) und Freytag (1955) ein (siehe II.B.4. und C.4.) Er beschloss das Heft mit einer (von Kenneth Craggs Verständnis des retrieval inspirierten) Ermutigung zur sensiblen missionarischen Begegnung: „Wie viel bedeutet Jesus auch für den Muslim. Sind wir bereit und fähig, auf den Muslim von heute zu hören? Sind wir nicht in der Geschichte der Begegnung … oft schuldig geworden? Unsere größte Schuld aber würde darin bestehen, daß wir schweigen, daß wir nicht den gekreuzigten Christus als den einzigen Weg zu Gott bekennen.“110 B. DIE MISSION DER EVANGELISCHEN STUDENTENGEMEINDEN 1. Margull, Kreyssig, Buttler: Horizonterweiterung a) Vision Die Evangelischen Studentengemeinden (ESG) boten für die von Jan Hermelink (auf der 2. KfA) anvisierte innovative missionarische Begegnung gute Bedingungen. Im unmittelbaren Umfeld der Universitäten, zwischen landeskirchlicher Struktur und studentischer Selbstbestimmung gelagert,111 boten sie die Freiräume für die christozentrische transkulturelle Entgrenzung traditioneller Strukturen, die Hermelink als wesentlich für die missionarische Begegnung beschrieben hatte.112 In der Tat zeigten sich ab 1957 im Umfeld der ESG verstärkte missionarische Bemühungen gegenüber Bildungsmigranten. Einer der Impulsgeber war der Studen107 108 109 110 111 112
Ebd. 33. Ebd. 30. Ebd. 38. Ebd. 39. Vgl. Wasserberg, Studentengemeinde, 2004, 1790. Siehe III.A.3.
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tenbund für Mission (SfM), der eigenständige Missionszweig der ESGiD.113 Die 14. Studentische Missionswoche des SfM im Mai 1958 in Wuppertal empfahl jeder Studentengemeinde, „einen Missionsreferenten zu wählen“, um ein neues, ganzheitliches Missionsverständnis im Kontext der Universität umzusetzen: „Es liegt uns … daran, daß Mission keinen Tag länger als das besondere Interesse kleiner, einengend vorgeprägter Kreise verstanden wird, noch als eine von Zeit zu Zeit aufflammende, punktuelle Anstrengung, sondern daß wir stets bereit sind, in der Gelassenheit und Freiheit, die der Herr uns schenkt, sein Wort mitzuteilen.“114 Was dies in der Begegnung mit nichtchristlichen Bildungsmigranten bedeuten sollte, wurde kontrovers diskutiert. In der Zeitschrift der ESGiD, Ansätze, beschrieb Schriftleiter Hans Jochen Margull, der spätere Hamburger Missionswissenschaftler und Dialogtheologe im ÖRK, die missionarische Begegnung als Chance zur Horizonterweiterung und Selbstkritik: als Neuentdeckung „der großen Botschaft von Gottes Freiheit“ „wenn wir mit den Menschen aus Asien und Afrika … zusammen sind und Gott durch sie hindurch, wissend oder unwissend bittet ‚herüberzukommen‘“.115 Margull interpretierte den mazedonischen Ruf an Paulus, „Komm herüber und hilf uns“ (Apg 16, 9), weniger als Aufforderung zur Verkündigung des Evangeliums, vielmehr als Herausforderung zu interkultureller und interreligiöser Lernbereitschaft. Damit verband Margull die Kritik an pietistisch geprägten Missionsbemühungen, die er als unreflektiert dogmatisch und wenig selbstkritisch ansah: „Zum missionarischen Eifer erweckt … machen sich Leute auf, um andere zu bekehren. Wir sprechen von Deutschland. Offensichtlich wissen diese Leute, wie man das macht und was dazu nötig ist. Sie selbst sind Bekehrte: Habende. Sie ‚haben‘ Gott und wissen um seine Art Bescheid. Es kommt zum Gespräch, Fragen werden gestellt und sie wissen eine Antwort. Sie wissen auf alles eine Antwort! Der Fragende aber wendet sich schließlich ab und erklärt, er sei gar nicht verstanden worden. … Könnte das befreiende Wort nicht kommen mit dem Fragenden gemeinsam, vielleicht sogar durch ihn?“ 116
Peter Kreyssig, damals Generalsekretär der ESGiD, warnte davor, die christliche Begegnung mit den Bildungsmigranten von politischen, kulturalistischen, exotistischen oder kollektiven psychologischen Eigeninteressen bestimmen zu lassen. Stattdessen gehe es um die wirkliche Wahrnehmung des „einzelnen Mitmenschen“. Kreyssig plädierte für ein lernbereites Missionsverständnis der eigenen und gegenseitigen „Verwandlung“ durch „die Entdeckung des Mitmenschen“. 117 „Der ausländische Student, besonders der aus Afrika, Asien oder dem Nahen Osten, ist als eine neue Kategorie ‚Student‘ gleichsam über Nacht ins allgemeine Blickfeld gerückt worden. Er ist Gast und Fremdling. Es gilt, sich seiner anzunehmen. Die Gemeinschaften und Verbände, ja der Staat, werden auf ihn aufmerksam. Er soll Gemeinschaft finden, es gilt, ihn ‚einzugliedern‘. Es geschieht seit langem viel, ihm das Gefühl der Zugehörigkeit zu geben. Es
113 Vgl. Sorg, Botschaft, 1952; Moritzen, Studentenbund für Mission, in: LWM, 1975, 512–13. Auch Hermelink engagierte sich im SfM, vgl. Ansätze (ESG) 27, November 1961, 6. 114 Zit. bei Buttler, Studentengemeinde, 1958, 153. 115 Margull, Als die Sterbenden, 1957, o.S. 116 Ebd. 117 Kreyssig, Die Entdeckung des Mitmenschen, 1957, o.S.
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geschieht vermutlich mehr als ihm lieb ist. Denn viele dieser Bemühungen drücken ihm die höfliche Maske des Gastes und Fremdlings nur fester aufs Gesicht. Er ist als Repräsentant fremder Sprache, Sitte, Religion und Kultur vielen interessant. Oft und gerade neuerlich vertritt er eine Welt, die uns beklemmend an die Schuld und die moralischen Katastrophen unserer europäischen Geschichte und Gegenwart erinnert. So wird er zum Objekt humanitären Eifers und diplomatischen Taktes zugleich – wo nicht gar schon wieder zum Opfer finanzieller Verbandstaktiken. Er darf zwar vieles tun und sagen, was wir nicht dürfen. Wir sehen es ihm großzügig nach. Nur eines darf er meist nicht: Von einem Repräsentanten dieser oder jener Provenienz zu einem einzelnen Mitmenschen werden, auf den es uns um seiner selbst willen ankommt. … Es ist eine schwere Aufgabe, in der die Studentengemeinden noch viel Phantasie zu entwickeln haben werden. Aber es ist ihre ureigenste Sache: Die Verwandlung der Gemeinschaft durch die Entdeckung des Mitmenschen“. 118
Während Margull und Kreyssig die Notwendigkeit der Horizonterweiterung und der wahren Mitmenschlichkeit betonten, stand die kultursensible Mitteilung des Evangeliums im Zentrum der Perspektiven des Artikels „Mission vor unserer Haustür“ von Paul Gerhardt Buttler,119 damals Herausgeber des Jugendblattes des DEMR, Ruf in die Welt. Auch Buttler distanzierte sich von paternalistischen Mustern des „Mitleids“ und der „Bevormundung“ angesichts der Bildungsmigration. Doch im Unterschied zu Margull und Kreyssig, und in größerer Nähe zu Hermelink, beschrieb er auch religiöse Differenzen in theologischer Perspektive, nahm wahr, dass viele Bildungsmigranten keine Christen sind und betonte die für alle Menschen gültige Sendung Christi: „Nur ein verschwindend kleiner Teil [der ausländischen Studenten] sind Christen. Die anderen sind Muslime, Buddhisten oder Hindus, und sehr viele haben überhaupt jeden Zusammenhang mit der Religion ihrer Väter verloren. … [Mission ist jedoch nicht] wohlwollendes Mitleid und väterliche Bevormundung, [sondern Teilhabe an der] Sendung Christi für die ganze Welt.“120 b) Wirklichkeit Bei allen unterschiedlichen Visionen der missionarischen Aufgabe im Umfeld der ESG, blieb die praktische Umsetzung vor Ort meist ernüchternd. Dies zeigt auch der Bericht über die Anfänge eines Ausländerkreises im Umfeld der Hamburger ESG um 1959.121 Angeregt durch eine missionswissenschaftliche Vorlesung beschlossen Studierende, „durch einen Ausländerbibelkreis ein wenig dazu beizutragen, den Raum einer echten Begegnung zu schaffen“.122 Sie baten Kommilitonen um Mitarbeit, doch „kaum einer fühlt sich angesprochen. Sie haben auch alle 118 Ebd. 119 Paul Gerhardt Buttler (geb. 1931) war 1968–1975 theologischer Referent im DEMR, 1975– 1995 Direktor des Nordelbischen Zentrums für Weltmission und kirchlichen Weltdienst, vgl. Ahrens, Gehorsam, 1991, zu Buttler siehe auch IV.B.2. sowie VI.C.3.a). 120 Buttler, Mission vor der Haustür [1959], 1962, 4–5. Einen entsprechenden Ansatz vertritt Buttler auch einem Artikel zur Islambegegnung, vgl. Buttler, Ruf vom Minarett, 1959. 121 In: Buttler, Mission vor der Haustür [1959], 1962, 7–13. 122 Ebd. 10.
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viel zu tun.“ Missionarische Vision und studentischer Alltag trafen hart aufeinander: „Und gewiß bleibt es nicht bei einem Abend in der Woche. Wer sich darauf einläßt, muß unter Umständen auch einmal mit einem Araber einkaufen gehen, damit der nicht übers Ohr gehauen wird. Er müßte sich auch die Zeit nehmen, einen Afrikaner in seiner Studentenbude zu besuchen … Mit einem Wort, er müßte für den anderen da sein … Der Fremde soll sich nicht als Bekehrungsopfer fühlen. Ein wirkliches Zeugnis des eigenen Glaubens kann nur gegeben werden, wo der andere sich in echter menschlicher Begegnung ganz ernst genommen weiß.“123
Doch auch die ausländischen Studierenden als Adressaten der Begegnungsinitiative zeigten weniger Interesse als erhofft: „Am nächsten Donnerstag sind sie in einem kleinen Raum zusammen. Das Zimmer ist immer noch viel zu groß. Wenn sich die beiden ein großes Unternehmen versprochen hatten, dann mußten sie jetzt gewaltig enttäuscht sein. Sieben Leute waren gekommen: eine Griechin, ein Ägypter, ein Amerikaner, [ein] Südafrikaner mit seiner Frau und einem weiteren Freund und der junge Mann als einziger Deutscher. … Neben die rein sprachlichen Schwierigkeiten traten vor allem die des inhaltlichen Verständnisses. … Und doch war dieser Abend nicht umsonst. Endlich war einmal ein Rahmen dafür gegeben, gegenseitig ins Gespräch zu kommen. Und sie machten Gebrauch davon.“124
Der Bericht kann als charakteristisch für manche Bemühungen in der frühen Ausländerarbeit in den ESG gelten und zeigt, dass missionarische Visionen und ernüchternde Praxiserfahrungen miteinander vermittelt werden mussten.125 Typisch dafür waren Deutungsmuster wie das folgende: „Zahlenmäßig ist nichts Großartiges geschehen. Aber ist ein kleiner Same, der im Gehorsam gegen Gott ausgestreut wird, nichts wert?“126 Angespornt wurden die missionarischen Aktivitäten im Umfeld der Universität nicht zuletzt durch den interreligiösen Wettbewerb in Sachen Mission: „Während wir uns noch die Augen wischen und bedenken, was wir tun sollen, kommt schon ein Pakistaner und drückt uns eine Einladung zum zehnjährigen Jubiläum einer islamischen Sekte [vermutlich der 1949 eröffneten Ahmadiyya-Mission in Hamburg, FW] in die Hand. … Die Mission beginnt vor der Haustür.“127
123 Ebd. 124 Ebd. 10–11. 125 Von ähnlichen Erfahrungen Ende 1950er Jahre berichtet auch der World University Sercive (WUS) und folgert: „Die ausländischen Kommilitonen hatten bereits begonnen, eigene Vereinigungen zu gründen, die … von deutscher studentischer Seite erst nach langem Zögern als Chance zu intensiverer Partnerschaft erkannt“ worden seien. Ganns, Clubleben, 2010, 266– 267. 126 Buttler, Mission vor der Haustür [1959], 1962, 11. 127 Ebd. 12. Zur Ahmadiyya siehe I.B.
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2. Transnationale Mission: der Studentenpfarrer Bolaij Idowu Nicht nur die begrenzte Kontaktbereitschaft deutscher Studenten, sondern auch die Beobachtung, „dass sich besonders die Studenten aus dem Mittleren Osten quasi ‚landsmannschaftlich‘ zusammen- und damit abschlossen“, führten in den ESG zur Überzeugung, „daß echte Kontakte zu Ausländern nur über ihre Landsleute möglich sind und nur zum einzelnen erfolgen können“.128 Auf Antrag des DEMR und der EKD bewilligte das Auswärtige Amt der Bundesregierung finanzielle Mittel, um „einen hauptamtlichen Mitarbeiter aus dem Ausland für ein halbes Jahr anzustellen“.129 Über die ökumenischen Kanäle erreichte die Stellenausschreibung die Partnerkirchen in Afrika. Eine Antwort kam aus der methodistischen Kirche in Nigeria: „In 1957 a call came from Germany for a person who could work to find practical solutions to the problems that confronted Asian and African students. The Methodist Church, under the leadership of Reverend E. J. Jones, M.A., was the only church to respond to the call. Rev. Jones asked Bolaji to take the assignment, and he left Nigeria for Germany in September 1957. It was a challenging situation but as the results of the experience were positive, it seems Bolaji was a good choice for this assignment.“130
Im September 1957 wurde der damals 44-jährige nigerianische methodistische Theologe Bolaij Idowu (1913–1993) auf die neu geschaffene Stelle berufen. Idowu war in Ikorodu, Lagos State, in Nigeria in einer christlichen Familie geboren worden, doch die Verbindung zur afrikanischen Religiosität blieb für ihn bedeutsam: „from his grandmother he caught a sense of the Divine Presence and from his father he gained a sense of craftsmanship and a good retentive memory. His mother taught him discipline and good behavior.“131 Idowu besuchte anglikanische und methodistische Schulen, studierte am Wesley-College in Ibadan (Nigeria) und ab 1945 in England. 1948–1951 leitete er die Northern Mission of the Methodist Church in Jos im muslimischen Norden Nigerias, 1951–1957 war er Pfarrer der Tinubu Methodist Church im Süden des Landes, wo ihn auch der Ruf in die evangelische Arbeit unter Bildungsmigranten in der Bundesrepublik erreichte.132 Als überregionaler „Studentenpfarrer für ausländische Studenten“ war Idowu in der Zentrale der ESGiD in Stuttgart angesiedelt. Seine Hauptaufgabe bestand darin, „in einem ausgedehnten Reisedienst die ausländischen Studentengruppen und die Studentengemeinden“ zu besuchen.133 Bald wurde der Einsatz Idowus über das ursprünglich bewilligte halbe Jahr hinaus verlängert. Wie er selbst seine Aufgabe verstand, erläuterte er auf der 4. KfA im Juni 1958.134 Er beschrieb die Überwindung gegenseitiger ethnischer und kultureller Isolation und Abgrenzung, 128 129 130 131 132 133 134
Kreyssig, zit. in KfA, Niederschrift, 14.3.1957, 5. KfA, Niederschrift, 14.3.1957, 5, siehe auch III.A.1.a). Ogunewu, Idowu, 2009. Ebd. Vgl. ebd. Aus der Heimat, in: EMZ 1/1958, 22, vgl. Buttler, Studentengemeinde, 1958, 153–154. Vgl. Ogunewu, Idowu, 2009.
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sowohl zwischen den nationalen Gruppierungen der Bildungsmigranten als auch zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den ausländischen Studierenden, als wichtiges Anliegen. Dabei könnten „letztlich alle Ausländerfragen auf das eigentlich Menschliche reduziert werden: Liebhaben können“.135 An die deutsche Seite gerichtet betonte Idowu: nicht „was Deutschland bietet“ sei wichtig, sondern „wie wir die Ausländer als Persönlichkeiten behandeln“. Als kritisches Symptom nannte er „das Anstarren der Fremden“.136 Idowu betonte die Notwendigkeit des Perspektivenwechsels und sah die Rolle, die ausländische Studentenpfarrer dabei spielen können, als „eine echte Hilfe der Kirche, die nicht hoch genug gedankt werden kann“.137 Als wesentlichen Aspekt der mitmenschlichen Begegnung sah man – nicht nur angesichts des überteuerten Wohnungsmarkts für Ausländer – die Bereitstellung von günstigem und attraktivem Wohnraum für Bildungsmigranten aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten. Man sah dies als selbstverständlichen Ausdruck christlicher Nächstenliebe, und gleichzeitig als Gelegenheit, verständnisvolles interkulturelles Zusammenleben und missionarische Kommunikation zu praktizieren. 3. Ökumenische Wohnheime als missionarische Räume Die Einrichtung von Studentenwohnheimen in evangelischer Trägerschaft erfolgte zunächst im Horizont der oben beschriebenen Ökumene in den Hörsälen.138 Ziel war es, christliche afroasiatische Studenten, und damit auch die Kirchen Asiens und Afrikas zu unterstützen, vor allem angesichts der damals verbreiteten Klage, dass „christliche Asiaten und Afrikaner, die in Europa waren, niemals als in ihrem Glauben gestärkte Menschen zurück[kommen], sondern tief enttäuscht über das, was sie in der Christenheit dort gesehen haben“.139 Dabei hoffte man auf missionarische Langzeit- und Nebenwirkungen der ökumenisch-diakonischen Studienhilfe: „das Zeugnis von Christus in einer nichtchristlichen Welt“ werde „glaubwürdiger ... je mehr sichtbar wird davon, daß alle Christen Glieder an einem Leibe sind“.140 In der Praxis ließ sich ohnehin nur schwer zwischen ökumenischer und missionarischer Begegnung unterscheiden. Hans Jochen Margull plädierte dafür, dass Ökumene und Mission in der Begegnung mit Bildungsmigranten untrennbar zusammengehörten, und formulierte – mit ganz anderen Akzenten als zwei Jahre zuvor (siehe III.B.1.): 135 KfA, Niederschrift 4. Konf., 24. Juni 1958, 6. 136 Zit. bei Buttler, Studentengemeinde, 1958, 153–154. 137 KfA, Niederschrift 4. Konf., 24.6.1958, 6. 1958 kehrte Idowu nach Nigeria zurück, wurde ein namhafter Theologe, Religionswissenschaftler und Professor an der University of Ibadan/Nigeria, wo er bis zum Ruhestand 1976 lehrte. 1972 wurde er Präsident der Methodistenkirche Nigerias, vgl. Ogunewu, Idowu, 2009; Balz, Anfang des Glaubens, 2010, 426–427. 138 Siehe Kapitel III. am Anfang. 139 Zit. bei Triebel, Bekehrung, 1976, 92. Siehe III.A.5. sowie III.C.5. 140 Le Coutre, Ökumene, 1959, 218.
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„Hoffnung für die Ökumene der Kirchen besteht in der … Mission. … Daß wir das nicht sehen, zeigt wie peinlich wenig wir von Ökumene begriffen haben. … Als ob Ausländerarbeit – wenn sie sich an nichtchristliche Studenten richtet – Sache zivilisatorisch gesellschaftlicher Fürsorge ist! Nein, nein, Ausländerarbeit ist missionarische Arbeit! Hier braucht man nicht nach Übersee zu gehen, hier will Gott vor unserer eigenen Tür und durch uns an Menschen verkündigt werden, die ihm noch nicht gehören. … Wenn wir also wirklich ökumenisch sein wollen, dann müssen wir wohl oder übel aufbrechen. Gott ist ein missionarischer Gott. … Christus ist Missionar … Also sollten sich in den Studentengemeinden Mannschaften aus deutschen und ausländischen Studenten, ökumenische Mannschaften bilden, die an den Universitäten und Hochschulen nichts weniger tun, als Christus missionarisch zu verkündigen – zur Zeit und zur Unzeit.“ 141
Nach den ersten sechs Jahren ökumenischer Wohnheimarbeit in Hamburg, München und anderen Universitätsstandorten, bilanzierte das Kirchliche Jahrbuch 1963, dass die „Unterbringung, Beratung und Förderung von Studentenwohnheimen durch Missionsgesellschaften oder Studenten-Pfarrämter … von großer missionarischer Wichtigkeit“ sei.142 Einerseits könnten nichtchristliche Studierende aus Asien und Afrika christliches Zeugnis im Zusammenleben erfahren, umgekehrt könnten christliche Studierende aus Deutschland interkulturelle Erfahrungen – nicht zuletzt für einen möglichen Einsatz als fraternal worker in Übersee – sammeln.143 1964 initiierte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (EAGWM), der Verbindungsausschuss zwischen DEMR und EKD, Pläne für ein Ökumenisches Studienwerk als übergreifende Struktur mit einem ersten Wohnheim in Bochum, das „vorerst 60 christlichen und nichtchristlichen Studenten aus Übersee Unterkunft gewähren soll“.144 Die damit verbundene Konvivenz sah man als wesentliche missionarische Chance und als exemplarische Herausforderung an „die ganze Christenheit in Deutschland zu einem unmittelbaren Zeugendienst“.145 4. Kontroversen und Umbrüche in der Wohnheimarbeit Auch wenn die evangelischen Träger sich über die – im weitesten Sinne – missionarische Bedeutung ökumenischer Studentenwohnheime weithin einig schienen, bot die oft unterschiedliche Interpretation und Praxis vor Ort Stoff zu Kontroversen. Die 4. KfA im Juni 1958 stellte fest: „Die Berichte der Herren Studentenpfarrer zeigen örtlich sehr verschiedene Erfahrungen und keine einheitliche Methode.“146 Das Studentenwohnheim der Evangelisch-Lutherischen Kirche (ELKB) in München mit „115 Plätze[n], die je zur Hälfte an Deutsche und Ausländer … aus 25 verschiedenen Nationen vergeben werden“, verwalte sich selbst, „Ausländer und Deutsche sind gleichberechtigt“. Studentenpfarrer Johannes Hiller betonte, 141 142 143 144
Margull, Konsequenz, 1959, 6. Müller-Krüger, Mission, 1965, 273. Vgl. Conring, So fing es an, 1970, 20. Ruf/Viering, Unterweisung, 1964, 169–170, vgl. Müller-Krüger, Mission, 1965, 273; Wende, Studienwerke, 2004, 1794–95. 145 Ruf/Viering, Unterweisung, 1964, 170. 146 KfA, Niederschrift 4. Konferenz, 24.6.1958, 6.
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obwohl das Wohnheim „von der evangelisch-lutherischen Kirche getragen“ werde, würden „die Ausländer nicht geistlich bedrängt“. Es gebe „keine organisierte Betreuung, sondern Raum für freie persönliche Freundschaft“.147 Das Hamburger Studentenwohnheim, getragen vom „Verein für Ökumenische Studentenwohnheime“,148 war ebenfalls paritätisch mit ausländischen und deutschen Studenten besetzt, darüber hinaus waren weitere „96 Plätze geplant mit 8 Wohngemeinschaften … sowie 12 Einheiten für Ehepaare“.149 Studentenpfarrer Carl Malsch150 betonte, „dass es keine ‚absichtslose Begegnung‘ für einen Christen gäbe, dass vielmehr immer auch eine Konfrontierung mit unserer Glaubenswelt stattfinden müsse und dürfe. Entscheidend sei allein der Takt, mit dem das bewältigt wird.“151 Außerdem sollten die ausländischen Studierenden „in die Ortsgemeinden“ eingeladen werden. Doch trotz unterschiedlicher Akzente war man sich einig, dass das Christuszeugnis zentral sei. Hiller formulierte: „Wo nichtchristliche Ausländer in eine christliche Lebensgemeinschaft hingezogen werden, stellen sie bald sehr konkrete religiöse Fragen. Sie stellen uns unüberhörbar die Frage nach dem Dilemma der Mission. ... Sie fragen, ob unsere Freundlichkeit spontan oder nur Mittel zum Zweck sei. Sie erheben Vorwürfe gegen die Intoleranz der Christen. Sie belasten uns mit allen Hypotheken der Geschichte des christlichen Abendlandes. … Wir sollten diese Spannungen nicht dadurch zu überwinden versuchen, daß wir das skandalon des Kreuzes und den Anspruch des Gekreuzigten und auferstandene Christus verleugnen. Aber wir sollten umgekehrt auf keinen Fall den Umgang mit Ausländern zu einer Bekehrungsmethode machen. Christlicher Glaube lebt sich aus im Zeugnis und in der Liebe, nicht aber in der Taktik.“ 152
Wie die Interpretation des missionarischen Auftrags im Umfeld der Ökumenischen Studentenwohnheime sich wandelte, zeigt das Beispiel des Hamburger Wohnheims. Bei seiner Gründung 1957 durch Malsch und Pörksen war das diakonische und ökumenische Anliegen integral mit der evangelistischen Absicht verbunden, „Hindus, Buddhisten und Muslime mit dem christlichen Glauben bekannt zu machen“.153 Der Nachfolger von Malsch, der 1961 speziell für ausländische Studierende berufene Studentenpfarrer Eberhard Le Coutre,154 setzte diese Linie zwar fort, allerdings mit deutlich neuen Akzenten. Le Coutre wohnte im ökumenischen Studentenwohnheim, hielt ein sonntägliches „Bible Breakfast“ und organisierte Seminare und Ausflüge an den Wochenenden.155 Er stellt im Rück147 Ebd. 7. 148 Der Verein war 1957 auf Initiative des Studentenpfarramts, der ESG sowie des Hanseatischen Missionsdirektors, Pörksen, gegründet worden, vgl. Göksu, Begleitung, 2008, 29; Hagenlocher-Closius, Toleranz, 2008; Verein für ökumenische Studentenwohnheime, Geschichte. 149 KfA, Niederschrift 4. Konferenz, 24.6.1958, 8. 150 Carl Malsch (1916–2001) war 1954–1960 Studentenpfarrer in Hamburg, 1960–1965 Propst der Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache in Jerusalem, danach Hamburger Hauptpastor. 151 Ebd. 152 Hiller, Umgang, 1959, 14, kursiv FW. 153 Zit. bei Göksu, Begleitung, 2008, 42. 154 Le Coutre (geb. 1928) war zuvor Referent für Ökumenische Stipendiatenarbeit im Evangelischen Hilfswerk in Stuttgart, siehe Kapitel III. am Anfang. 155 Vgl. Göksu, Begleitung, 2008, 32.
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blick fest, er sei zwar „vom gleichen Enthusiasmus bewegt“ gewesen wie die „alten Herren“,156 aber mit veränderter Perspektive: „ein neues Verstehen von Zuwendung zur Welt“ habe die Begegnungsarbeit bestimmt. Ähnlich wie Margull (siehe B.1) verstand er die missionarische Begnung als Horizonterweiterung, als reziproken „Bildungsauftrag eigener Prägung angesichts der neu gesehenen Unordnungen in der Welt“: „[ein] Bildungsauftrag, der von der Universität selbst nicht wahrgenommen wurde und auch … nicht wahrgenommen werden konnte. Die Gestalt des eigenen Christseins an der Neuentdeckung der Welt zu orientieren, das nannten wir damals Mission. … Aus dieser Prämisse ist zu verstehen, mit welcher ungeheuren Dringlichkeit, Ungeduld, sozusagen Atemlosigkeit wir Ende der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre unsere Projekte und Programme vorangetrieben haben. Als gäbe es Gründe, dass etwa andere uns zuvorkommen könnten – etwa konservative Missionsgesellschaften traditioneller Prägung.“157
Die Abgrenzung und Neuausrichtung erläutert Le Coutre im Licht generationsbezogener Umbrüche: „Wir waren eine Generation, die mit einer falschen und im wesentlichen national, nicht weltoffen, nicht international, heute würden wir sagen: nicht global ausgerichteten Programmierung von der Schule und aus dem Krieg an die Universitäten gekommen war, – auf Hochschulen, die ihrerseits auch selbst erhebliche Schwierigkeiten hatten, sich auf die Verhältnisse nach 1945 einzustellen.“158
Unter dem Eindruck des 2. Vatikanischen Konzils (siehe II.C.5.) rückten neue interreligiöse Perspektiven in den Fokus der Begegnungsarbeit im Umfeld der Hamburger Wohnheime. Studentenpfarrer Erich Boyens, der ab 1964 die Seelsorge für ausländische Studierende übernahm, legte den Schwerpunkt auf den interreligiösen Dialog und lud „Vertreter aus den Hochreligionen“ in den wöchentlichen „internationalen Freundeskreis“ ein, was ihm Kritik von Pörksen und Malsch einbrachte, die eine Vernachlässigung der evangelistischen Ausrichtung befürchteten.159 Doch Boyens ließ sich nicht beeirren: „Diese Bereitschaft zum Dialog war die Basis meiner Arbeit. Viele ausländische Studenten beklagten sich bei mir, in ihren Heimatländern als Missionsobjekte behandelt worden zu sein. Der Ansatz, den Dialog zu führen, trug seine Früchte. Ich erhielt Einladungen von ausländischen Vereinen … Nur von Muslimen erhielt ich nie eine Anfrage.“160
Dass die ökumenische Wohnheimarbeit nicht nur Gegenstand missionstheologischer Kontroversen war, sondern – vor allem auf studentischer Ebene – auch dazu geeignet war, traditionelle frömmigkeitsgeschichtliche Gruppengrenzen zu transzendieren und neue Begegungen zu inspirieren, zeigt das Beispiel des Africanums, des Ökumenischen Studentenwohnheims des Evangelischen Gemeindeverbands in Frankfurt am Main, das 1967 eröffnet wurde. Bereits in der Planungsphase wandte sich der Frankfurter Probst Karl Goebels auch an die pietistisch und frei156 157 158 159 160
Zit. ebd. 33–34. Zit. ebd. 34–35 Zit. bei Göksu, Begleitung, 2008, 33. Ebd. 43. Zit. ebd. 42.
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kirchlich geprägte Studentenmission in Deutschland (SMD) mit der Bitte um Beteiligung an der Wohngemeinschaft.161 Gesucht wurden studentische Mitbewohner, um „Studenten aus Afrika [zu helfen], sich in unserer nominell christlichen, tatsächlich aber säkularisierten Gesellschaft zurechtzufinden“.162 Es sollte eine „Hausgemeinschaft [entstehen], die die biblische Botschaft zum Mittelpunkt hat“, eine „Bruderschaft mit Menschen völlig unterschiedlicher Mentalitäten“, die den „Reichtum des Leibes Christi sichtbar“ mache. Einige Mitglieder der Frankfurter SMD-Gruppe ließen sich auf diese Gelegenheit der Konvivenz ein163 und berichteten später über die positive Erfahrung und die „Chance, Christus unter Afrikanern vorzuleben, wie wir das bisher nicht gehabt haben“.164 C. DIE STUDENTENMISSION IN DEUTSCHLAND (SMD) Die Studentenmission in Deutschland (SMD) konstituierte sich im Oktober 1949 durch den Zusammenschluss christlicher Studentengruppen pietistischer und freikirchlicher Prägung. Sie war von Anfang an Teil der nach 1945 aufbrechenden internationalen evangelikalen Studentenbewegung und wurde 1953 offiziell Mitglied der International Fellowship of Evangelical Students (IFES).165 1952 wurde die Zentralstelle der SMD in Marburg eingerichtet. Das Verhältnis zwischen SMD und ESG war durchaus spannungsvoll, sah die SMD sich doch „in der missionarischen Zielsetzung [als] … die Alternative zur Studentengemeinde“.166 Dennoch bemühte man sich um gute Zusammenarbeit.167 1964 wurde unter den jeweiligen Generalsekretären Hans Heinz Damm (SMD) und Heinrich Constantin Rohrbach (ESG) offiziell die „gegenseitige Anerkennung und die jeweilige Unabhängigkeit der Arbeit vereinbart“.168 Interkulturelle missionarische Begegnungen und Perspektiven waren in den Anfangsjahren der SMD eher selten. Das Hauptaugenmerk galt dem intrakulturellen Bereich und den Auswirkungen von Liberalisierungs- und Säkularisierungsprozessen im eigenen Umfeld. In pietistischer Perspektive sah man die liberalsäkulare oder nur nominell kirchliche Prägung vieler Kommilitonen als missionarische Herausforderung. Vor allem die Betonung der Bekehrung als persönlicher 161 162 163 164 165
Karl Goebels, Brief an H.G. Langenbach, 19.7.1966, SMD-Archiv, AfW II. Langenbach, Rundbrief an alle stud. Mitgl. des AfW, 20.7.1966, SMD-Archiv, AfW II. Protokoll der Sitzung über Ausländerarbeit in Essen, 29.–30.6.1968, SMD-Archiv, AfW. SMD Hochschulgruppe Frankfurt, Bericht, Februar [1968], SMD-Archiv, AfW III. Die IFES war 1947 von evangelikalen Studentengruppen und Akademikern an der Harvard University in den USA ins Leben gerufen worden, vgl. Spies, Bibel und Gebet, 2009, 4; Haizmann, Studentenmission, 1994; MacLeod, Evangelical Rediscovery, 2007, 111; Robert A. Fryling, IFES, in: EDWM, 2000, 497–498. 166 Schrupp, Gott macht Geschichte, 1995,130–131; von Differenzen in Tübingen in den 1950er Jahren berichtet Karl Sundermeier, Aus den Anfängen, 2003,79. 167 Vgl. die Einschätzung eines SMD-Mitarbeiters: „Die Gemeinschaft und Einmütigkeit zwischen unseren Mitarbeitern ist immer enger geworden und hat sich im gemeinsamen Wirken für den Herrn vertieft.“ Unser Auftrag 9, 1952,11. 168 SMD, Geschichte.
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Glaubensentscheidung und bewusster Aneignung des christlichen Glaubens waren prägend für das Selbstverständnis der SMD: „In der Tat, der Name [Studentenmission, Anm. FW] ist anstössig, denn er sagt deutlich, daß wir weder an ein ‚christliches Abendland‘ noch an ein ‚christliches Deutschland‘ glauben, sondern zutiefst davon überzeugt sind, daß sich jeder Mensch, auch jeder Student, bekehren und in persönlicher Entscheidung die zugesprochene Vergebung durch Jesus Christus empfangen muß, um nicht verloren zu gehen.“169
1. Idealisierte Bilder: Die Konversion eines Marokkaners In dieser Perspektive wurden auch die ersten interreligiösen Begegnungen missionarisch interpretiert. So findet sich 1951 in der Zeitschrift der SMD folgende Sichtweise des „heidnischen Studenten“: „Wir müssen bedenken, daß der Zustand des ‚christlichen‘ Studenten in Glaubensfragen oft schwieriger ist als der des sogenannten heidnischen Studenten. In London habe ich beobachten können, dass dieser oft weiß, daß ihm und seiner Kultur etwas fehlt. Er sieht z.B. den lähmenden Fatalismus mancher orientalischer Religionen und sucht in Kultur und Religion des Westens etwas zu finden, was er selbst nicht besitzt. D.h. er ist in religiösen Angelegenheiten oft ein ernsthaft suchender Mensch. Der deutsche Student dagegen, meist christlich getauft, sieht die toten Kirchen, die allgegenwärtigen Namenschristen, sieht, wie die ‚Christen‘ sich gegenseitig belügen und anfeinden, und meint deshalb, daß die Christen und damit Christus nicht mehr ernst zu nehmen oder sogar zu bekämpfen seien.“170
Der drohende oder tatsächliche Glaubensverlust des deutschen, christlich getauften Studenten steht hier im Fokus. Doch auch das quasi nebenbei gezeichnete Idealbild des „ernsthaft suchenden“ und für den christlichen Glauben offenen „heidnischen Studenten“ war typisch für die Frühphase interreligiöser Wahrnehmung in der SMD. Es diente weniger der differenzierten Beschreibung der tatsächlichen religiösen Orientierungen der Bildungsmigranten, als vielmehr der Verwendung als Kontrastfolie. Dies konnte in der tatsächlichen interreligiösen Begegnung allerdings zu überhöhten Erwartungen an die vermeintliche Offenheit und Bekehrungsbereitschaft außereuropäischer Studierender führen, und zur Unterschätzung der interkulturellen und interreligiösen Spannungsfelder. Dies zeigte sich auch in der Konversionsgeschichte eines jungen Marokkaners in der Tübinger SMD im Winter 1954. In den ersten Wochen des Jahres 1954 kam Tadji F., ein muslimischer Marokkaner, per Anhalter nach Tübingen. Er war etwa zwanzig Jahre alt, sprach fließend Französisch und Arabisch, aber kein Deutsch. Er kam nicht als Bildungsmigrant, eher als politischer Flüchtling im Zusammenhang der marokkanischen Unabhängigkeitsbestrebungen vom französischen Protektorat. Bereits im Sommer 1953 war die Situation in Marokko eskaliert, so dass die Anhänger der pronationalen hizb al-Istiqlal (Unabhängigkeitspartei) und König Mohammeds V. in 169 Wever, Studentenmission, 1954, 3. Die Soteriologie der Glaubensmissionen (siehe II.E.1.) war in der SMD einflussreich, vgl. Schrupp, Leben, 1999, 58–64. 170 Wilder-Smith, Student, 1951, 5.
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den Untergrund gehen mussten. Umgekehrt wurden frankreichfreundliche Marokkaner als Kollaborateure von den Nationalisten verfolgt.171 Wo genau sich Tadji F. in diesem Spannungsfeld befand, und warum er aus Marokko floh, bleibt unsicher, obwohl die Nähe zur Unabhängigkeitsbewegung wahrscheinlich ist.172 In Tübingen suchte Tadji Kontakt zu Studierenden der SMD, die zu diesem Zeitpunkt an der Universität eine Veranstaltungsreihe mit dem Schweizer Universitätsevangelisten Hans Bürki173 durchführten. Auch an der direkt anschließenden Freizeit im Schwarzwald nahm der Marokkaner teil. Über die weiteren Abläufe berichtete ein Artikel mit der Überschrift Wie ein Mohammedaner Christ wurde (1954) in der SMD-Zeitschrift Unser Auftrag: „Wenige Tage nach seiner Ankunft fand … sich [Tadji] inmitten eines großen Kreises deutscher Studenten in einem verschneiten Schwarzwalddorf wieder. Sie waren hier zu einer Freizeit zusammengekommen, und einige hatten den Hilflosen kurzerhand mitgenommen. Es dauerte nicht lange, und der schmächtige, braune Bursche mit den schwarzen Augen und dem krausen Haar hatte alle Herzen gewonnen. Ein Student hatte ein französisches Neues Testament mitgebracht, mehrere andere mobilisierten ihre französischen Schulkenntnisse, und so erfuhr [Tadji] bald vom Sinn dieses Studententreffens und hörte jeden Morgen die Bonne Nouvelle von Jésus Sauveur. Er hörte die Botschaft zum erstenmal. Wie konnte Gott es zulassen, daß ein völlig Schuldloser, der nur bedacht war, anderen zu helfen, ans Kreuz geschlagen wurde? War Jesus mehr als Mohammed, war er wirklich Fils de Dieu? Dies waren Fragen, die ihn aufwühlten. Und was ihm da einer der Kommilitonen erzählte, berührte ihn tief: in ähnlicher Lage wie er selbst, weit von der Heimat entfernt in russischer Gefangenschaft, hatte jener einen Weg aus aller Not gefunden: er hatte Jesus als seinen Heiland erkannt. . . Der Augenblick kam, wo auch Tadji erkannte . . . Nach einem Gespräch klappte er plötzlich sein Neues Testament zu und rief: „Priez pour moi, je veux devenir Chrétien“ [Betet für mich, ich möchte ein Christ werden].“174
Nur wenige Tage nach der Bekehrung im Schwarzwald wurde Tadji F. in einem Gottesdienst der SMD, abgehalten in der evangelischen Stiftskirche in Tübingen, getauft. Doch es gab auch Vorbehalte: „Viele Freunde waren damals mit großer Sorge erfüllt. Darf man einen Menschen gleich fünf Tage nach seiner Bekehrung taufen? Muß man nicht vielmehr abwarten, ob er sich wirklich bewährt? War das alles nicht vielleicht nur ein Strohfeuer?“175 Anwesend waren etwa 30 Studierende; die Taufe fand laut Zeitzeugenbericht durch dreimaliges Besprengen des Kop-
171 Im März 1956 war die Unabhängigkeit erreicht. Vgl. Kamrava, Middle East, 2005, 98–101; Haarmann/Halm, Geschichte, 2004, 572ff; Ende / Steinbach, Islam, 2005, 419f. 172 Bei einem Besuch in der Schweiz habe er sich „völlig frei“ als „Mitglied der Nationalistischen Partei“ bekannt und sogar „von seiner Absicht, dabei zu helfen, die Franzosen und Ausländer in Marocco mit einem Blutbad los zu werden“ gesprochen, wie R.P., der Leiter des Bibelinstituts in Vennes, der SMD mitteilte. R.P., Brief an F.L., 19.6.1954, Privat T.M. 173 Vgl. Karl Sundermeier, Anfänge, 2003, 80f. Hans Bürki (1925–2002) war 1949–1963 Generalsekretär der Vereinigten Bibelgruppen in Schule, Universität, Beruf (VBG), der Schwesterorganisation der SMD in der Schweiz, vgl. Burckhardt, Bürki, 2007; MacLeod, Evangelical Rediscovery, 2007, 111.116. 174 T.M., Tadji, 1954, 17. 175 K.S., Jean Paul, 1956, 8.
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fes statt und wurde mit einer Taufbescheinigung bestätigt.176 Ein Bericht im Auftrag beschreibt das Ereignis: „Es war für uns die schönste Stunde des Semesters, als Tadji, der Mohammedaner, in unserer alten Stiftskirche auf den Namen Jesu Christi getauft wurde. Er selbst konnte den Augenblick kaum erwarten. War der Kämmerer aus Mohrenland nicht auch, gleich nachdem er gläubig geworden war, getauft worden? Und hatte er nicht in seinem Neuen Testament gelesen: „Celui qui croira et sera baptisé sera sauvé" (Mark. 16, 16)? [Wer da glaubt und getauft wird, wird gerettet werden]. Noch einmal wurde unserem Afrikaner verdolmetscht, welches Vorrecht und welche Verantwortung das Christwerden mit sich bringt und ob er von nun an Verachtung und Vereinsamung, vielleicht Not und Tod auf sich zu nehmen bereit sei, um seinem neuen Herrn, Christus, die Treue zu halten. Und noch hören wir die Worte seines Gelöbnisses, das dreißig Studenten mit ihrer herzlichen Fürbitte unterstützten: „Je veux, avec 1’ aide de Dieu!" [Ich will, mit Gottes Hilfe]. Von jenem Tage an legte sich Tadji einen neuen Vornamen zu und schrieb nach Hause an seine Eltern und Freunde: „Je suis devenu Chrétien, il me faut nommer Jean-Paul maintenant." [Ich bin Christ geworden und nenne mich nun Jean Paul, FW]. Und er war wirklich Christ geworden!“177
Entlag der Linien einer pietistischen Idealbiographie („gerettet sein, gibt Rettersinn“)178 betonte der Bericht weiter, dass Tadji nun „sehr stark der Wunsch [bewegte], einst als Missionar in seine Heimat zurückzukehren. Schon jetzt ging er mit besonderem Eifer den andersfarbigen Studenten an unserer Universität nach, freundete sich mit Persern, Indern, Afrikanern an, um ihnen die Bonne Nouvelle weiterzusagen und sie zur Bibelstunde zu bringen.“179 Zunächst sollte der junge Bekehrte, der sich den Taufnamen Jean Paul zugelegt hatte, jedoch im christlichen Glauben gefestigt werden. Zusammen mit einem Mitarbeiter der SMD reiste Tadji in die französischsprachige Schweiz in der Hoffnung, sich am Institut Biblique Emmaüs, eine mehrjährigen Bibel- und Missionsschule180 in Vennes-sur-Lausanne, einschreiben zu können. Der Mitarbeiter erinnert sich: „R.P. [Leiter der Bibelschule] hat uns ... empfangen. Wir hatten ein langes Gespräch und er hat ‚nein‘ gesagt. Verständlicherweise für mich heute, dass er gesagt hat, wir nehmen Leute auf, die sich schon im Glauben bewährt haben, aber keinen, der erst vor vier Wochen bekehrt wurde. Und dann sind wir zurückgefahren.“181 Tadji erhielt in Vennes jedoch weitere Unterstützung und eine Arbeitmöglichkeit.182 Er blieb eine Zeitlang in der Schweiz, versuchte aber, so bald wie möglich nach Marokko zurückzukehren.183 Nachdem ein Kontakt mit dem französischen Konsulat in Lausanne erfolglos verlaufen war, gelang es ihm irgendwie auf anderem Weg Anfang 176 F.L., Interview, 2010. Tadji F. bat später brieflich um die Nachsendung des „Certificat de mon baptême“, T.F., Brief an T.M., 1954. 177 T.M., Tadji, 1954, 17. 178 „Mission setzt sich von Bekehrung zu Bekehrung fort“, beschreibt Theo Sundermeier, Theologie der Mission, 1987, 473, das Ideal pietistischer Mission. 179 T.M., Tadji, 1954, 17–18. 180 Zum Institut Biblique et Missionnaire Emmaüs als Einrichtung der Glaubensmissionen, vgl. Fiedler, Vertrauen, 1992, 292. 432–434. 181 F.L., Interview, 2010. 182 Ebd. 183 R.P., Brief an F.L., 19.6.1954; Tadji, Brief an T.M., 1954.
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1955 nach Tangier zu kommen, das zu diesem Zeitpunkt als internationale Zone unter französisch-britisch-spanisch-italienischer Verwaltung stand.184 In fast märchenhaftem Duktus wird in Unser Auftrag von den Erlebnissen Tadjis in Tangier berichtet: „In Tanger traf Jean Paul auf dem Weg ins Hotel einen jungen Mohammedaner, den er früher auf einer Reise kurz kennengelernt hatte. Der lädt Jean Paul und zwei weitere Freunde auf sein Zimmer ein. Da kann Jean Paul nicht anders, er muß diesen Freunden weitersagen, was er in Jesus Christus gefunden hat. Er bezeugt ihnen: ‚Ich bin Christ geworden, Jesus ist der Sohn Gottes und Mohammed ist der falsche Prophet. Wenn ihr auf Mohammed hört, seid ihr Kinder des Teufels. Aber ihr könnt Kinder Gottes werden, wenn ihr zu Jesus kommt.‘ Den ganzen Abend erzählt er ihnen von Jesus. Und wieder geschieht das unfaßliche Wunder, das auch Jean Paul einst erlebt hatte: die jungen Freunde nehmen Jesus als ihren Herrn und Retter an. Sie sind froh und dankbar, daß sie Kinder Gottes geworden sind, und so, wie er es in der Bibel liest, vollzieht Jean Paul sogleich an ihnen die Taufe.“185
Obwohl der idealisierte Erfolgsbericht Fragen hätte aufwerfen müssen, wurde er unkritisch veröffentlicht, bestätigte er doch die erhofften missionarischen Ideale. Während Tadjis reale Situation und seine eigenen Motivationen weitgehend im Dunkeln blieben, dürften die idealisierten und veröffentlichten Konturen seiner Konversion kaum dazu beigetragen haben, dass er selbst sich in Ruhe über seine Glaubensgründe klarer werden konnte. So überrascht es wenig, dass nach diesem Bericht die Nachrichten von und über Tadji in der SMD abbrechen. 1956 befand sich Tadji wieder in Deutschland. Es habe „Probleme gegeben“186 und Tadji sei wohl „auf Abwege gekommen“, erinnern sich Zeitzeugen.187 2. Transnationale Unterstützung: Der Evangelist Mehdi Ksara a) Unterstützung durch die Übersee-Missionsgesellschaften Angesichts der geringen interkulturellen und interreligiösen Erfahrung in der frühen SMD waren Kontakte mit in Übersee tätigen Missionsgesellschaften wesentlich. Einerseits sensibilisierten die Missionsgesellschaften die Studierenden für die interkulturelle missionarische Aufgabe im eigenen Umfeld, andererseits stellten sie entsprechende Ressourcen zur Verfügung. 1955 wandte sich die Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) mit einem Rundschreiben an die Gruppen der SMD und ESG „mit der Bitte, sie möchten sich doch der vielen an deutschen Hochschulen studierenden moslemischen Studenten annehmen“.188 Damit verbun184 K.S., Jean Paul, 1956, 8. Erst Oktober 1956 wurde Tangier Teil des im März 1956 unabhängig gewordenen Königreichs Marokko, vgl. Haarmann / Halm, Arabische Welt, 2004, 572; Kamrava, Middle East, 2005, 100. 185 K.S., Jean Paul, 1956, 8. 186 G.M, Gesprächsnotiz, 14.12.2009; vgl. K.S., Gesprächsnotiz, 2009. 187 T.M., E-Mail, 15.1.2010. 188 „Rundschreiben an die Evangelischen Studentengemeinden und die Studentenmission“, Margarete Unruh, Jahresbericht 1954/55, in: Evangelische Mission in Oberägypten (Juni 1955) 3.
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den war das Angebot, fremdsprachliche christliche Literatur und Bibelteile zur Verfügung zu stellen, was auf Resonanz stieß: „Auf unser Rundschreiben … bekamen wir mehrere Antworten mit Bitte um Bibelteile in deren Muttersprachen. Wir konnten sie nur teilweise erfüllen, haben aber inzwischen auf mancherlei Wegen solche Schriften bekommen und hoffen, daß sie bald in die rechten Hände kommen und daß auch dieser ausgestreute Same Frucht bringt.“189 Im Dezember 1956 rief Ernst Schrupp, Leiter der freikirchlichen Missionshilfe Wiedenest, die SMD auf: „Wenn wir die Wichtigkeit der Mission in den islamischen Ländern erkennen,190 wie sollten wir dann die Gelegenheit der Fühlungnahme mit den Moslems in Deutschland wahrnehmen!“191 Zwei Jahre später gab es in der SMD bereits „viele Gruppen, [die sich] um Ausländer [bemühen], die an unseren Universitäten studieren“ und die ihre Arbeit in weltmissionarischer Perspektive sahen: „wie wichtig diese Aufgabe ist, sieht man daran, daß fast alle diese Länder sich immer mehr gegen ausländische Missionare verschließen“.192 Auch Hans Brandenburg, Leiter des Missionsbund „Licht im Osten“, schrieb der SMD: „Mit Freuden lese ich, dass auch Göttingen, wie Freiburg u.a. ‚MohammedanerMission‘ treiben. Ich möchte aufs Neue darauf hinweisen, dass unser Missionsbund in Korntal … Bibeln, bzw. Bibelteile in über 32 Sprachen im Vorrat hält, auch arabisch, türkisch, persisch, so viel sie zu haben sind!“193 Für die sich entwickelnde Arbeit spielten auch Begegnungsabende unter der Bezeichnung „Offener Abend“, „Teeabend“ oder „Ausländerabend“ eine wichtige Rolle. Die Tübinger Gruppe führte einen adventlichen „Teeabend … mit Erstsemestrigen und Ausländern“ und einem Vortrag von Otto Michel, Professor für Neues Testament, durch: „Wir hatten dazu mittels Hausbesuchen und Plakaten eingeladen und wirklich war der Saal voll, dieses Mal gleich bis auf den letzten Platz.“194 Trotz großer missionarischer Bereitschaft und Aktivität blieb die interkulturelle Kompetenz der missionarischen Studenten begrenzt. Eine willkommene Ergänzung boten die transnationalen Verbindungen der Missionsgesellschaften, die 1957 auch zum dem Kontakt mit dem marokkanischen Evangelisten Mehdi Ksara führten. Wie in der ESG, die 1957–1958 den nigerianischen Theologen Bolaij Idowu einstellte (siehe oben B.2.), erkannte man auch in der SMD in der Mitarbeit ausländischer Christen eine besondere Chance.
189 Unruh, Jahresbericht 1954/55, in: Evangelische Mission in Oberägypten (Juni 1955) 3. Unruh sprach in ihrem Schreiben sowohl die ESG als auch die SMD an. Zur SMD s. III.C.2. 190 Die Wiedenester Mission hatte 1952 Missionare nach Nigeria und Pakistan ausgesandt, vgl. Schrupp, Dienst, 1980, 81.77; Schrupp, Missionshilfe Wiedenest, in: RGG3 Bd. IV, 1008. 191 Schrupp, Aufruf, 1956, 21. 192 H.S., Anregungen – Ausländerarbeit, in: Antenne 3/1958, 3–4. 193 Antenne 4, 1958, 9. 194 Antenne 2, 1958, 12.
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b) Der marokkanische Evangelist Mehdi Ksara Mehdi Ksara (1907–2008) war in der Nähe von Fez im Norden Marokkos in einer islamisch geprägten Familie geboren und aufgewachsen. Sein Vater Mohammed war Imam der örtlichen Moschee.195 Gegen Ende der 1920er Jahre kam Ksara im Kontakt mit Missionaren der Gospel Missionary Union (GMU) zum christlichen Glauben. Er heiratete die Tochter von amerikanischen Missionaren und zog mit seiner Familie nach Tangier, wo er als Evangelist am Missionskrankenhaus der North Africa Mission (NAM) (siehe II.E.1.b) arbeitete. Die gefahrvollen Jahre des 2. Weltkriegs verbrachte die Familie in den USA. Über dem Wunsch der Ehefrau, die Familie in den USA anzusiedeln, und Mehdis Drang nach Marokko zurückzukehren, zerbrach schließlich die Ehe.196 Ksara kehrte 1955 alleine nach Marokko zurück und nahm seine Tätigkeit als Evangelist in Tangier wieder auf.197 Hier erreichte ihn die Einladung der Missionsgesellschaften und der SMD zu Vorträgen an Universitäten in Deutschland. Ed Ksara, ein Sohn des Evangelisten, interpretiert das Leben seines Vaters als biographische Brücke zwischen den Kulturen und Religionen: „Although my father rejected the Muslim faith in his youth, he internalized my grandfather’s religious soul and the vigor, enthusiasm and passion he brought to his faith. He simply transferred those qualities to the Christianity he came to embrace. He is thoroughly versed in both the Muslim faith and Christianity. He speaks Spanish, Arabic, French, and English fluently. His daily trips to the market provide an opportunity for him to witness, persuade, argue and debate, all of which he thoroughly enjoys to this day.“198
Für die missionarischen Intentionen der SMD im Blick auf muslimische Bildungsmigranten schien Ksara ein Glücksfall – nicht zuletzt, weil seine kritische (und zugleich konstruktive) Sicht westlicher Missionsarbeit und die Betonung der Eigenständigkeit der marokkanischen Christen ihn zu einem seltenen Brückenbauer machten. Vor allem innerhalb der SMD eröffneten Mehdis muslimischer und kultureller Hintergrund Horizonte, die in der Begegnung mit Tadji F. gefehlt hatten. Ksara betonte die Wichtigkeit der Bekehrung, verstand aber die damit verbundenen, komplexen und langwierigen interreligiösen und psychologischen Prozesse. In seinen Vorträgen drängte er nicht auf Bekehrung, sondern formulierte als Ziel, „daß die vielen, die sich auf der Grenze zwischen Islam und christlicher Religion befinden, Gott persönlich begegnen“.199 Die ersten Vorträge Ksaras im Wintersemester 1956/1957 hinterließen tiefe Eindrücke – vor allem bei den christlichen Studierenden selbst.200 Dabei stand sein Konversionsbericht, wie er in Un195 Vgl. Ed Ksara, Life, 2002, 2. 196 Sohn Ed Ksara urteilt: „He had been a big fish in the small pond of Morocco. His ties to his parents and siblings were extremely strong. His roots were in Morocco and so was his comfort zone. He did not blend in with the ‘nine to five’ mass, and had no intention of remaining in America.“ Ed Ksara, Life, 2002, 21. 197 Vgl. Unruh, Einst Mohammedaner, 1958, 12; Ed Ksara, Life, 2002, 6. 198 Ed Ksara, Life, 2002, 18. 199 Zit. Unruh, Einst Mohammedaner, 1958, 14–15. 200 Vgl. Unser Auftrag 17, Juni 1957, 16 sowie Antenne 2/1958, 2.
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ser Auftrag veröffentlicht wurde,201 als narrative Evangelisation im Mittelpunkt. Ein zweiter Aufenthalt in Deutschland mit „Ausländer- und MohammedanerAbenden bzw. -Wochenenden“ erfolgte im Wintersemester 1958/1959.202 Ksaras Konversionsbericht war als narrative Identitätskonstruktion sowohl Ausdruck interreligiöser Hermeneutik als auch missionarischer Kommunikation. Er zeigt, dass Identität als Sequenz der eigenen Handlungen in einer „narrativ darstellbare[n] Lebensgeschichte sichtbar“203 wird und dabei sowohl Abgrenzungen als auch Synthesen und Brücken zwischen den Religionen gebildet werden.204 Dieser komplexe Charakter von Kasaras Konversionsbericht bot in missionarischer Hinsicht Anknüpfungspunkte für muslimische Zuhörer, in hermeneutischer Hinsicht neue interreligiöse Verstehensmöglichkeiten für seine christlichen Zuhörer. Ein Beispiel dafür war Ksaras Bewertung des Koran in seiner Konversion: „Nach all dem, was selbst der Koran über Jesus lehrte, konnte ich unmöglich weiter annehmen, daß Mohammed größer war als Jesus. Langsam wuchs in mir die Gewißheit, daß Jesus wirklich der Sohn Gottes, der Erlöser der Welt war.“205 Ksara machte deutlich, dass dieser Prozess sich „langsam“ vollzog. In Richtung der SMD signalisierte er damit, dass es nicht um schnelle missionarische Ergebnisse gehen konnte. In Richtung seiner muslimischen Zuhörer öffnete er einen theologischen Raum zwischen Koran und Neuem Testament als Raum der Begegnung mit Jesus Christus. Wie dies praktisch ablief, zeigt das folgende Beispiel aus Göttingen. c) Interreligiöse Dynamik in Göttingen Die SMD-Gruppe an der Göttinger Universität hatte Ksara zu einem Teenachmittag zum Thema „Mohammed – Christus“ eingeladen. Von 380 eingeladenen ausländischen Studierenden waren „etwa 10 Prozent erschienen, davon, ca. fünfzehn Mohammedaner (meist Perser)“.206 Der Verlauf des Nachmittags wurde aus Sicht der SMD knapp so zusammengefasst: „M. Ksara berichtete, wie er Christ wurde, und gab ein klares Zeugnis von Jesus. In der anschließenden Diskussion wurde seine Koran-Auslegung von den gläubigen Moslems nicht als legitim anerkannt. Sie argumentieren, daß das Christentum nichts biete, was über den Islam hinaus201 Vgl. M. Ksara, Jesus lebt in Marokko, 1957, 16–18. Ohne Namensnennung findet sich der Bericht leicht verändert auch in: Unruh, Einst Mohammedaner – jetzt Christ, 1958. 202 Antenne 2, 1958, 2; Antenne 3, 1958, 2, vgl. Antenne 6, 1958, 15. 203 Jürgen Habermas zit. bei Kippenberg/Stuckrad, Religionswissenschaft, 2003, 139. Zur Konversionsforschung s. VII.A.1. 204 Vgl. Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 206; Feldtkeller, Identität, 2002, 45; Jørgensen, Imandars, 2008, 104–108. 205 M. Ksara, Jesus lebt in Marokko, 1957, 17. Zu unterscheiden ist hier zwischen Synthesen auf Element- und Systemebene, vgl. Grünschloss, Glaube, 1999, 82 im Anschluss an Ulrich Berner. Durch die christliche Bekehrung hatte Ksara einen Systemwechsel vollzogen, bei dem er jedoch einzelne Elemente des alten Systems integrierte und neu bewertete. 206 Die Antenne Nr. 7 (1959) 3.
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gehe. Erschwerend für die Diskussion wirkte sich aus, daß ein sehr intelligenter italienischer Student der Ägyptologie als Christ den Islam verteidigte.“207 Ksaras anknüpfende Lesart des Koran stieß bei den muslimischen Zuhörern erwartungsgemäß auf Widerspruch. Sie reagierten mit der islamisch-hierarchisierenden Perspektive, dass das Christentum „nichts biete, was über den Islam hinausgehe“. Eine andere Rolle spielte der „sehr intelligente italienische Student der Ägyptologie“, der „als Christ den Islam verteidigte“ (so die Sicht der SMD), was sich (wiederum aus Sicht der SMD) „erschwerend für die Diskussion“ auswirkte – vermutlich, weil die anwesenden Muslime dies als Zugeständnis und Bestätigung der Überlegenheit des Islam werteten. Der Italiener, der sich als Christ offensichtlich (in welcher Form auch immer) positiv zum Islam geäußert hatte, nahm damit eine fast spiegelbildliche Position zu Ksara ein, der als Nordafrikaner und ehemaliger Muslim den christlichen Glauben verkündigte. Insgesamt interagierten vier Personengruppen im doppelten Spannungsfeld zwischen Islam und Christentum sowie zwischen europäischer und nahöstlicher bzw. nordafrikanischer Kultur. Sie standen dabei in einem fast symmetrischen Verhältnis zueinander (s. Tabelle 6).
Religion / Kultur
Islam
Christentum
Europäisch (B2) Italiener
Nahöstlich/ Maghreb
(A2) Muslime
(A1) SMD
(B1) Mehdi Ksara
Tabelle 6: Interreligiöse Wahrnehmungen in Göttingen 1959
(A1) die Studierenden der SMD-Gruppe als Europäer mit starken christlichen Überzeugungen und missionarischen Motiven; (A2) die Bildungsmigranten aus nahöstlichem Hintergrund, die sich als überzeugte Muslime darstellten und damit kulturell und religiös den Gegenpol zur SMD-Gruppe bildeten; (B1) Mehdi Ksara und (B2) der italienische Ägyptologe fungierten als unterschiedliche Brückenbauer in diesem missionarischen Spannungsfeld. Ksara als Nordafrikaner und überzeugter Christ mit muslimischem Hintergrund unterstützte und kontextualisierte die missionarische Botschaft der SMD (aus Sicht der Muslime verschärfte sich die Spannung allerdings, da er trotz seines Hintergrunds die christliche Botschaft vertrat); der Italiener wurde (als Christ) angesichts der Interessenlagen der beiden polaren Gruppen (SMD und Muslime) von beiden als Fürsprecher des Islam 207 Ebd.
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wahrgenommen. Wie Ksara transzendierte auch er damit auf seine Weise die traditionellen kulturell-religiösen Zuordnungen. Der aus Sicht der SMD mangelnde missionarische Erfolg an diesem Nachmittag wurde (ähnlich wie in den ESG, s. oben III.B.1.b) theologisch mit einem Hinweis auf Gottes verborgenes und unverfügbares Handeln verarbeitet: „Wir wären nach diesem Teenachmittag verzweifelt, wenn wir in dem Wissen leben müssten, daß die Wirkung unseres Wortes von unserer Überredungskunst, unserer strengen Logik oder auch nur der inneren Überlegenheit des Christentums abhinge, denn unsere Überzeugungskraft ist minimal und als religiöses Phänomen unterschätzen wir den Islam wahrscheinlich alle gewaltig. Wir wissen aber, daß Gott selbst auf diesem Teenachmittag etwas getan hat dadurch, daß er sein Wort verkündigen ließ, und wir wissen auch, daß er Macht hat, sein Werk zu vollenden. Wir selbst aber haben erkannt, daß wir auf alle beweisführenden Sicherungen verzichten müssen.208
Damit brachten die Studierenden die Erfahrung christlicher Verwundbarkeit im Dialog zum Ausdruck, wie sie später (im Anschluss an Cragg und Margull) in der Missionserklärung des Lutherischen Weltbunds [1988] formuliert wurde: „Christen in der Mission ... werden verwundbar, sobald sie ... bereit sind, zuzuhören und vom Dialog zu lernen. Wenn sie so ... ihren Glauben einer Bewährungsprobe aussetzen, ist ihr einziger Rückhalt Christus, dem sie nachfolgen.“209 3. Die Ausländerarbeit im Arbeitskreis für Weltmission (AfW) a) Die Entstehung des AfW Neben solchen besonderen Vortragsabenden, an denen meist schiitische Muslime aus dem Iran teilnahmen,210 entstanden sowohl in Göttingen als auch in Tübingen regelmäßige Ausländerbibelkreise: „Wir brauchen eine Gelegenheit, mit unseren Freunden und Gästen, die wir bei Vortrags- oder Teeabenden … kennenlernen, im kleinen Kreis über Glaubens- und Lebensfragen sprechen zu können. Deshalb haben in den letzten Jahren die Hausbibelkreise sehr an Bedeutung gewonnen.“211 Die Praxis war, ähnlich wie in entsprechenden Kreisen in den ESG,212 unspektakulär und oft ernüchternd: Die „Bibelabende waren … sehr klein. Die Gäste waren meist Mohammedaner. Auf Hausbesuchen merkten wir die Wichtigkeit, aber auch die Schwierigkeit dieser Arbeit.“213 Als Höhepunkte wurden oft Wochenendfreizeiten durchgeführt. Ein wichtiger nächster Schritt, der über die lokalen Initiativen an einzelnen Hochschulorten hinausführte, war die Bildung überregionaler Strukturen wie sie 208 Antenne 7, 1959, 3. 209 In: Wietzke, Mission erklärt, 1993, 141. Vgl. Margull, Verwundbarkeit, 1974 sowie Grünschloss, Glaube, 1999, 293. 210 SMD, Saftiger Abend, 1961/62, 10. 211 Troeger, Leben, 1961/62, 6. 212 Siehe III.B1.b). 213 SMD, Antenne 14, 1961/62, 6.
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ab 1961 durch die jährlichen Internationalen Studententreffen (IST) und den Arbeitskreis für Weltmission (AfW) unter Leitung des Generalsekretärs der SMD, Pfarrer Hans Heinz Damm, entstanden.214 Dabei hingen die Anfänge des AfW eng mit dem Beginn der IST zusammen, die sich vor allem an nichtchristliche Studierende aus außereuropäischen Ländern richteten.215 Im Anschluss an das erste IST, das über Sylvester 1961/1962 in Leichlingen bei Köln stattfand, bildete sich der AfW216 mit dem doppelten Ziel, „dass in der SMD das Interesse an der äußeren Mission wächst und die Verantwortung gegenüber unseren ausländischen Kommilitonen gesehen wird“.217 Die Leichlinger Sylvestertagung hatte die Bemühungen der SMD-Gruppen um ausländische Kommilitonen an den verschiedenen Universitätsstandorten erstmals gebündelt und überregional sichtbar gemacht. Diese neue Gesamtperspektive sollte nun durch die standortübergreifende Ausländerarbeit des AfW strukturell, methodisch und theologisch gefördert und zugleich in eine weltmissionarische Gesamtperspektive integriert werden. Zunächst ging es jedoch konkret darum, die Impulse von Leichlingen 1961/62 vor Ort lebendig zu halten: „Sollen die guten Eindrücke unserer Gespräche nicht verblassen, müssen wir in naher Verbindung bleiben mit unseren ausländischen Freunden. … Davon, daß wir hier nicht nachlässig sind, wird es abhängen, ob Gott uns auch im nächsten Jahr wieder Gäste aus Asien und Afrika anvertrauen kann.“218 b) Ein Begrüßungsbrief als Begegnungsprogramm Eine der ersten Aktivitäten des neuen AfW war die Erstellung eines Musterbriefs zur Begrüßung von ausländischen Studierenden, der allen SMD-Gruppen zur Verfügung gestellt wurde. Der Text des Briefes lautete: „Lieber Freund! Gewiß werden Sie – zumal als Gast im fremden Land – die universale Gültigkeit unseres deutschen Sprichworts bestätigen: ‚Andere Völker – andere Sitten.‘ Gerade im letzten Jahrzehnt hat sich jene gute Entwicklung verstärkt, deren Auswirkung mehr und mehr das Bild der Welt verändern sollte. Dieser Planet wird ‚kleiner‘, die Menschen kommen einander näher. Wie wir unsere Jugend ermutigen, im Ausland Erfahrungen zu machen, die
214 Der promovierte evangelische Theologe Hans Heinz Damm, Pfarrer der Berlin-Brandenburgischen Kirche, war 1960–1965 Generalsekretär der SMD, vgl. Langenbach, Was ist geblieben? 1964/65. Angeregt wurde die Bildung des AfW durch Mitglieder der SMD, die an den Urbana-Konferenzen der InterVarsity Christian Fellowship in den USA teilgenommen hatten, vgl. Troeger, Interview, 2009; David M. Howard, Urbana Missions Conferences, in: EDWM, 2000, 991–992. 215 Siehe III.C.4. 216 Von der Gründung bis April 1965 trug der Kreis die Bezeichnung Arbeitskreis für Äußere Mission. Der Begriff „Äußere Mission“ schloss dabei die Ausländerarbeit in Deutschland mit ein. Nach der Studentenkonferenz für Weltmission, die der Arbeitskreis im April 1965 in Frankfurt/M durchführte (siehe c), nannte er sich in Arbeitskreis für Weltmission (AfW) um. Um die Übersichtlichkeit zu wahren, wird hier einheitlich vom Arbeitskreis für Weltmission (AfW) gesprochen. 217 AfW, [Rundbrief Nr. 1], Januar 1962, SMD-Archiv, AfW II. Kursiv FW. 218 Ebd.
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‚Anderen‘ in ihrem Anderssein zu ergründen und zu verstehen, so begrüßen wir von Herzen jeden Kommilitonen, der als ein Repräsentant seines Volkes nach Deutschland kommt, um mit uns gemeinsam zu arbeiten und so auch das akademische Leben in Deutschland in seiner geistigen Struktur kennenzulernen. Wir wünschen aufrichtig, daß Sie sich unter uns in Deutschland sehr wohl fühlen. Sicherlich wird nicht alles leicht sein, vielleicht werden Sie manche Hürde mit sportlicher Energie zu überwinden haben. Es ist uns eine Ehre, Sie kennenzulernen; es ist uns aber auch ein Anliegen, Anteil zu nehmen an Ihren persönlichen Fragen. Womöglich gewinnen wir so auch ein wenig Einblick in Ihr Land, Ihr Volk und dessen Probleme. Von uns selbst möchten wir Ihnen gern mehr als nur die äußere Hülle zeigen. Daß man im gegenseitigen Erfahrungsaustausch einander nützlich sein kann, das hat die Arbeit der Studentenmission in Deutschland (SMD) schon gezeigt, nicht nur bei internationalen Treffen, sondern auch in den einzelnen Hochschulgruppen, im nachdenklichen Gespräch und in fröhlicher Gemeinschaft. Weil wir wissen, wie sehr das Christentum durch Verzerrung und Mißbrauch seiner Glaubwürdigkeit geschadet hat, darum werden Sie in der Studentenmission in Deutschland auch für kritische Fragen ein offenes Ohr finden bei solchen Menschen, die ernsthaft versuchen, aus der Kraft des Glaubens der Bibel zu leben. Falls Sie die SMD-Gruppe an Ihrem Ort noch nicht gefunden haben, schreiben Sie am besten eine Postkarte an die Zentralstelle … Von dort erhalten Sie jede Auskunft, auch über Ferientagungen, Gruppenabende, Referate, Konferenzen. Mit herzlichem Gruß …“ 219
Von einem interkulturell sensiblen Einstieg aus baute der Brief schrittweise eine Brücke zu den Bildungsmigranten und markiert damit implizit bereits die Programmatik der missionarischen Ausländerarbeit im AfW in vier Hauptpunkten: 1. Interkulturelle Differenz. Zunächst wird der ausländische Student als „Gast im fremden Land“ auf die kulturelle Differenzerfahrung hin angesprochen. Dabei dient ein deutsches Sprichwort als Ausgangspunkt des Brückenschlags von der eigenen zur fremden Kultur. 2. Interkulturelle Verständigung. Die Bildungsmigration wird als „gute Entwicklung“ beschrieben, die das „Bild der Welt“ verändert und zu einer positiven Globalisierung beiträgt: „Dieser Planet wird ‚kleiner‘, die Menschen kommen einander näher.“ Darin liegt die Herausforderung, „die ‚Anderen‘ in ihrem Anderssein zu ergründen und zu verstehen“. Dies wird mit einer Haltung des Respekts unterstrichen: „Es ist uns eine Ehre, Sie kennenzulernen.“ 3. Interpersonale Gemeinschaft. Im Zentrum steht das menschliche Miteinander: „Anteil … nehmen an Ihren persönlichen Fragen“ und: „von uns selbst ... mehr als nur die äußere Hülle zeigen“. Dass von hier direkt zur institutionellen Ebene, nämlich zur „Arbeit der Studentenmission in Deutschland“, übergeleitet wird, wurde nicht als Bruch empfunden, da man die SMD als Gemeinschaft im „gegenseitigen Erfahrungsaustausch … im nachdenklichen Gespräch und in fröhlicher Gemeinschaft“ erlebte. 4. Interreligiöses christliches Zeugnis. Erst ganz am Ende gehen die Verfasser auf den christlichen Glauben ein. Postkoloniale Kritik am Christentum, das „durch Verzerrung und Mißbrauch seiner Glaubwürdigkeit geschadet hat“, stoße in der SMD auf ein „offenes Ohr“. Den eigenen Standpunkt sieht man im kulturübergreifenden „Glauben der Bibel“, aus dessen Kraft man zu leben versuche. 219 [Begrüßungsbrief] o.J. [um 1963], SMD-Archiv, AfW II.
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c) Struktur und Entwicklung des AfW 1962–1970 Um diese Bemühungen strukturell zu verankern, regte der AfW an, in jeder SMDGruppe einen studentischen „Missionssekretär“ für die Koordination der Kontakte zu ausländischen Kommilitonen zu beauftragen.220 Zu den Aufgaben sollte die „Aufnahme und Pflege von Kontakten ... zu christlichen und nichtchristlichen ausländischen Kommilitonen“ sowie „wo möglich, Einrichtung eines Ausländerbibelkreises, Veranstaltung von Ausländerteeabenden u.ä., Werbung für die Internationalen Studententreffen“ gehören.221 Gleichzeitig sollte der Missionssekretär für die Pflege der Kontakte zu Missionsgesellschaften und Missionaren zuständig sein. In größeren SMD-Gruppen könne aber ein eigener Sekretär „speziell für die Ausländerarbeit zuständig“ sein.222 Diese Aufgabenteilung spiegelte auch die Leitungsstruktur des AfW wider, die in die beiden Bereiche „Ausländerarbeit“ und „Äußere Mission“ aufgeteilt war. Insgesamt umfasste die damalige Struktur des AfW drei konzentrische Kreise: den inneren Kreis bildete eine kleine Leitungsgruppe aus Studierenden, Ehemaligen („Akademiker“) und dem Generalsekretär,223 den zweiten Kreis bildeten die Missionssekretäre, den dritten Kreis bildete die Gesamtheit der SMD-Gruppen sowie die berufstätigen Akademiker, „die sich entweder selbst in den Außendienst der Mission berufen wissen oder ... das Zeugnis vor ausländischen Kommilitonen als ihre Aufgabe sehen“.224 Die Jahre 1961 bis 1965 stellten eine Aufbruchsphase im AfW dar, in der die Begegnungsarbeit mit ausländischen Studierenden eine Schlüsselrolle spielte. Dazu gehörte die Durchführung der jährlichen IST sowie die Unterstützung der lokalen Ausländerarbeit der SMD-Hochschulgruppen. Die SMD-Gruppe an der Universität Erlangen berichtete, dass sie für einen „Teeabend für Ausländer“ zum Thema „Christentum und Religion“ „700 Einladungskarten verschickt“ habe. Es seien „etwa 25 Gäste“ erschienen. Einige hätten sich den bestehenden Hausbibelkreisen angeschlossen: „die Fragen und Stellungnahmen der Gäste wirkten belebend auf das Gespräch um den jeweiligen Bibeltext.“ Die Karlsruher SMD berichtete, dass im Sommersemester 1962 „drei Ausländer in engere Berührung mit der Gruppe kamen. ... Wir hoffen, daß unsere Ausländer nun an Sylvester auf das [IST] mitfahren werden.“225 1964 beantragte der AfW die Aufnahme in den DEMT als außerordentliches Mitglied.226 Neue Impulse für die Ausländerarbeit vermittelte auch die Studentenkonferenz für Weltmission, die der AfW vom 21. bis 25. April 1965 im Dominika-
220 221 222 223
Siehe die entsprechende Entwicklung in den ESG unter III.B.1.a). AfW, [Rundbrief Nr. 1], Januar 1962, SMD-Archiv, AfW II. Vgl. AfW, Informationsblatt Nr. 2, Oktober 1963. SMD-Archiv, AfW II. Obwohl der AfW eine ehrenamtliche Struktur darstellte, war der jeweilige Generalsekretär der SMD verantwortlich beteiligt, zunächst H. H. Damm und ab 1965 H. G. Langenbach. AfW, Informationsblatt 2 (Mai 1966), SMD-Archiv, AfW-K. 224 AfW, Informationsblatt 1 (Juli 1962), SMD-Archiv, AfW II. 225 Antenne 15, 1962/63, 6. 226 Vgl. E. Troeger, Anmeldung DEMT 1964, 27.7.1964, EMW-Archiv, DEMR2, AG0509.
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nerkloster in Frankfurt am Main durchführte.227 Die Konferenz versammelte fast 40 Missionsgesellschaften von der Basler Mission bis zu den Wycliffe-Bibelübersetzern. Hauptredner waren die lutherischen Missionstheologen Georg Vicedom228 und Bischof Heinrich Meyer, der Hermannsburger Seminarleiter Olav Hanssen,229 die amerikanischen evangelikalen Missiologen David Adeney und Arthur F. Glasser sowie der Leiter der Schweizer Vereinigten Bibelgruppen (VBG), Hans Bürki. Die Konferenz zählte über 500 Teilnehmer, 150 davon unterschrieben eine „Bekenntniskarte“, mit der sie ihre Bereitschaft zum „Dienst in der Weltmission“ und ihren „Wunsch … im Arbeitskreis für Weltmission der SMD mitzuarbeiten“ bekundeten.230 In Folge der Konferenz wurden erweiterte und theologisch vertiefte Richtlinien für die missionarische Ausländerarbeit in Form der AfW-Informationsblätter Nr. 10 und 11 und im Rahmen der SMD veröffentlicht (siehe III.C.5). Ein Angebot „speziell für die Islam-Interessierten des AfW“231 stellte das Seminar zur „Verkündigung des Evangeliums an Moslems“ dar, das der AfW im September 1966 zusammen mit dem Orientdienst (OD) (s. Kapitel IV) in Wiesbaden durchführte, als „eine Pflanzstätte für die missionarische Begegnung mit Moslems in Deutschland und im Orient“.232 Die Verbindung zwischen AfW und OD hatte der evangelische Pfarrer Eberhard Troeger geknüpft, der die Ausländerarbeit im AfW 1961/62, noch als Theologiestudent, mitinitiiert und seitdem aktiv begleitet hatte, und nun unmittelbar vor der Ausreise als Seelsorger in die Krankenhausarbeit der EMO nach Ägypten stand.233 Auch in den Jahren davor hatte es im AfW gelegentlich islambezogene Angebote gegeben. Im Dezember 1963 waren Mitarbeiter des AfW zu einem Vorbereitungstreffen für das IST zusammengekommen, um anhand von Martin Pörksens Jesus in der Bibel und im Koran (1961)234 „Korantexte mit Bibeltexten [zu] vergleichen“.235 Denn „unsere Leichlinger Treffen werden von zahlreichen Muslimen besucht. Um ihnen Rede und Antwort stehen zu können, müssen wir Mitarbeiter Islam und Koran in den Grundzügen kennen.“236 Zwischen 1966 und 1968 durchlief die Ausländerarbeit des AfW eine Krise. Im Februar 1968 unterzog der Leitungskreis die Situation einer Analyse und sah drei Gründe: 1. die Zunahme an Konkurrenzangeboten für ausländische Studierende durch andere Organisationen, 2. die mangelnde Sicht und Einsatzbereit227 Vgl. SMD, Vorbereitungsheft, 1965. 228 Zu Vicedom siehe II.C.4.a). 229 Olav Hanssen (1915–2005), lutherischer Theologe, war 1950–1957 Hausvater und Lehrer am Johanneum in Wuppertal, ab 1957 Leiter des Missionsseminars in Hermannsburg. 230 Kuhl, Brief an Troeger, 20.5.1965, SMD-Archiv, AfW I., AfW, Rundbrief Nr. 9, Oktober 1965, AfW-K. 231 Troeger, An die Glieder des Kernkreises, 9.7.1966, SMD-Archiv, AfW-K. 232 Troeger, Seminar über Islammission, 1966, 12. Zum Seminar siehe IV.D.1. 233 Vgl. Troeger, Email, 2009; Troeger, Weg in die Mission, 1966, 60–62. 234 Zu Pörksens Heft siehe III.A.4.c). 235 AfW, [Brief an Mitarbeiter des 3. IST], Dezember 1963, SMD-Archiv, AfW II. 236 AfW, Rundbrief Nr. 6, Anfang Februar 1964, SMD-Archiv, AfW-K.
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schaft für die Ausländerarbeit in den SMD-Gruppen, vor allem aber 3. die Tatsache, dass der AfW „diese Aufgabe seit ca. zwei Jahren liegengelassen“ habe, obwohl „die Ausländerarbeit … einmal wesentlicher Bestandteil der AfW-Arbeit“ gewesen sei.237 Es zeigte sich jedoch bald, dass die Lage nicht so schlecht war, wie es zunächst schien. Im Juni 1968 traf man sich im Weigle-Haus in Essen, um „die ausländischen Kommilitonen wieder mehr in unser Blickfeld [zu] bekommen und unsere Verantwortung auch ihnen gegenüber erneut wahr[zu]nehmen“.238 Ein Überblick ergab, dass in vielen Gruppen aktive Ausländerarbeit geschah. In Tübingen traf sich ein „Ausländerkreis, in dem hauptsächlich christliche Ausländer zum Bibellesen zusammenkommen“. In Berlin fanden umfangreiche Literaturarbeit und ein regelmäßiges Mittagessen mit ausländischen Studierenden statt. Mitglieder der Frankfurter SMD-Gruppe wirkten im Africanum, dem Ökumenischen Wohnheim der Evangelischen Kirche in Frankfurt am Main, mit (siehe III.B.4.) In der Heidelberger SMD bestand eine Arbeit unter arabischsprachigen Studenten.239 In Aachen traf sich ein vierzehntägiger „Internationaler Kreis“. Darüber hinaus bestanden in vielen anderen Gruppen „persönliche Kontakte“.240 Der AfW beschloss, einen Ausschuss für die Ausländerarbeit zu bilden, „damit dieser Arbeitszweig wieder mehr in Angriff genommen werden kann als bisher“.241 Darüber hinaus wünschte man sich „ausländische Mitarbeiter, die verantwortlich tätig sind, sowohl örtlich als auch überörtlich“ und beschloss, einen „Ausländer mit der Leitung der internationalen Studentenarbeit zu betrauen“. Aspekte dieser Aufgabe schien bald der bereits in der Heidelberger SMD tätige ägyptische Jugendpfarrer Tharwat Kades zu übernehmen.242 Auf der Delegiertenversammlung der SMD im Herbst 1969 leitete Kades die Arbeitsgruppe Ausländerarbeit und stellte sich als Ansprechpartner vor, „falls eine SMD-Gruppe Ausländerarbeit starten möchte“.243 In der weiteren Entwicklung (siehe Tabelle 7 zur Gesamtentwicklung) blieb der mitmenschliche und evangelische Einsatz für ausländische Kommilitonen im Rahmen der sogenannten Ausländerarbeit – seit 237 AfW, Kernkreis, Protokoll, 21.2.1968, AfW-T, SMD-Archiv. Ein Grund der Krise lag wohl auch darin, dass die Ausreise von Troeger (siehe oben), der die Ausländerarbeit im AfW seit seiner Gründung 1961/62 bis 1966 maßgeblich vorangebracht hatte, eine Lücke hinterließ, die offensichtlich nicht so schnell geschlossen werden konnte. Noch im Oktober 1967 suchte der Leitungskreis des AfW einen Verantwortlichen „was die Arbeit unter ausländischen Kommilitonen angeht“. AfW, Kernkreis, Protokoll, 1.10.1967, AfW-T, SMD-Archiv. 238 Protokoll der Sitzung über Ausländerarbeit in Essen, Weigle-Haus, 29.-30. Juni 1968, SMDArchiv, AfW. 239 AfW, Kernkreis, Protokoll, 5.5.1968, SMD-Archiv, AfW-T. 240 Protokoll, Ausländerarbeit, Weigle-Haus, 29.–30. Juni 1968, SMD-Archiv, AfW. 241 AfW, Kernkreis, Protokoll, 7.7.1968, SMD-Archiv, AfW-T. 242 Tharwat Kades, später Professor für Religionswissenschaft am Evangelical Theological Seminary in Kairo (vgl. Kades, Abendland, 2008), war Jugendpfarrer der evangelischen Kirche (Nilsynode) in Ägypten und engagierte sich seit 1967 in der evangelischen Migrantenarbeit in Deutschland, neben der SMD u.a. im Kontakt mit dem Orientdienst, vgl. Kades, Jugendpfarrer, 1967, 89; Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 6/1967, 94–95. 243 Zusammenfassung der Arbeitsgruppe 2: Ausländerarbeit, Anlage zum Protokoll der DV vom 7.–10.10.1969, SMD-Archiv, AfW III.
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den 1980er Jahren als Internationale Arbeit bezeichnet244 – ein wichtiger Bestandteil der weltmissionarischen und weltverantwortlichen Ausrichtung der SMD.245
Hauptamtl. Mitarbeiter T. Smith
Arbeitskreis für Weltmission (AfW) Organisationsgrad
Beginn der überregionalen Struktur
Internationale Studententreffen (IST)
Ausländer-Bibelkreise (Tübingen, Göttingen) Vorträge & Tee-Treffen (z.B. mit Mehdi Ksara) Individuelle Begegnungen (z.B. Tadji F.) 1954
1957
1959
1961/62
[…]
1978
Tabelle 7: Entwicklung der Ausländerarbeit in der SMD
4. Die Internationalen Studententreffen (IST) a) Konzept und gesellschaftliche Wahrnehmung Das erfolgreichste Praxismodell missionarischer Ausländerarbeit in der SMD in den 1960er Jahren stellten die Internationalen Studententreffen (IST) dar, die ab Sylvester 1961/1962 in Leichlingen bei Köln stattfanden. Die Teilnehmerzahlen wuchsen in den ersten Jahren stetig, so dass ab 1964 eine parallele Tagung in Dobel im Schwarzwald eingerichtet wurde. Als eines der Vorbilder der IST können die Tagungen für ausländische Studierende gesehen werden, die die Evangelische Akademie in Bad Boll seit 1956 durchführte,246 mit dem Ziel, interkulturelles Verständnis zu fördern: „Wenn uns auch Sprachen und Gedanken, religiöse Überzeugungen und gewohnte Sitten trennen: die Völker brauchen einander. Und das Gastrecht kann nicht an Grenzen haltmachen. Deshalb müssen wir alles tun, was wir können, um Brücken zu schlagen von Mensch zu
244 Vgl. Lagershausen, Die Welt, 1990, 3 sowie SMD, Geschichte (Arbeitszweige). 245 Auf der 2. Studentenkonferenz für Weltmission 1970 in Frankfurt am Main thematisierten zwei Arbeitsgruppen die Ausländerarbeit (AG 10 Mission unter Gastarbeitern und AG 11 Mission unter ausländischen Studenten), vgl. SMD/VBG, Arbeitspapiere, 1970. Seit 1978 erhielt der Arbeitszweig neue Impulse durch einen hauptamtlichen Mitarbeiter, den Amerikaner Terrell Smith, vgl. Smith, General Report, 1980, SMD-Archiv. 1978 wurde die SMD auch Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Ausländermission (AfA), vgl. Protokoll der Gründungssitzung der AfA am 7.4.1978 in Siegen-Geisweid, SMD-Archiv. In den 1990 Jahren entwickelte Missionar Karl Lagershausen die internationale Arbeit im AfW weiter, vgl. Lagershausen, Die Welt, 1990, 3. 246 Siehe III.A.1., vgl. Mittmann, Akademien, 2011.
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III. Bildungsmigration und Studentenmission Mensch. Vorurteile gilt es zu bekämpfen. Mangelndes Verständnis ist am leichtesten zu überwinden, wenn man sich besser kennenlernt.“247
Die SMD nahm diesen Geist interkultureller Begegnung auf248 und verband ihn mit einer christozentrischen missionarischen Zielsetzung. In diesem Sinn stellten die IST der SMD den wohl wichtigsten Ausdruck pietistisch geprägter Begegnungsarbeit mit außereuropäischen Bildungsmigranten in den frühen 1960er Jahren in Deutschland dar. Innerhalb der SMD markiert der Beginn der IST zusammen mit der Entstehung des AfW 1962/62 den Anfang einer übergreifend organisierten Ausländerarbeit (später Internationale Arbeit) als eigenständigem Arbeitszweig (siehe oben 3.a). Das Gesicht der IST präsentierte sich zunächst durch gedruckte und graphisch aufwändig gestaltete Einladungskarten, auf deren Innenseite ein kurzer Text die potentiellen Teilnehmer freundlich anprach und Thema, Ausrichtung und Ablauf der Tagung vorstellte: „Liebe Kommilitonin, lieber Kommilitone! Sie haben Ihr Zuhause verlassen und sich in die deutsche Studentenschaft eingegliedert, um den Weg der deutschen Wissenschaft und zugleich das Gefüge der deutschen Kultur kennenzulernen. Sie sehen sich mit uns in eine Situation gestellt, die durch Freiheit und Selbstverantwortung gekennzeichnet ist. Dabei stehen wir fast täglich vor der Aufgabe, unsere Existenz in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und gegenüber den Erfordernissen unseres Studiums vor der Entpersönlichung zu bewahren. Wir laden Sie ein, die sich daraus ergebenden Probleme der studentischen Lebensgestaltung mit uns unter dem Leitthema „Freiheit und Gemeinschaft“ zu besprechen. In unseren Gruppengesprächen und Vorträgen soll uns die Wahrheit des biblischen Evangeliums leiten, wobei die Achtung auch anderer Lebensanschauungen in echter Toleranz gewahrt wird. Schließlich wird das Treffen in Leichlingen dazu beitragen, im geselligen Beisammensein (Spiel, Wanderung usw.) neue Kontakte von Mensch zu Mensch zu schaffen. So hoffen wir, am Jahreswechsel 1961/62 wirklich Tage der Begegnung mit Ihnen verleben zu können.“249
Am Einladungstext lassen sich bereits die Grundzüge der missionarischen Konzeption, die hinter den IST stand, in nuce ablesen: (1) die Wahrnehmung kultureller Differenz und deren Überbrückung durch interkulturelle Empathie („Sie haben Ihr Zuhause verlassen“); (2) Transparenz auf die biblisch-christliche Orientierung („die Wahrheit des biblischen Evangeliums“); (3) interreligiöser Respekt („Achtung … anderer Lebensanschauungen in echter Toleranz“); (4) die inklusive Betonung des gemeinsamen Menschseins („wir [stehen] fast täglich vor der Aufgabe“, „Kontakte von Mensch zu Mensch“).
247 Ev. Akademie Bad Boll, Einladungskarte, Februar 1956, EZA 6/8602. 248 Vermittelt wurde die Impulse nicht zuletzt durch Pfarrer Hans Heinz Damm, der zunächst an der Evangelischen Akademie Berlin tätig war und seit 1960 als SMD-Generalsekretär maßgeblich zur Entstehung und Konzeption der IST beitrug, vgl. Langenbach, Was ist geblieben, 1965; Troeger, Interview, 2009. 249 Einladung IST 1961/62, SMD-Archiv, AfW II.
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Strategisch gesehen stellten die IST die motivatorischen, überregionalen Höhepunkte der lokalen missionarischen Hochschularbeit unter ausländischen Mitstudenten dar. Hier wurden die Kontakte, die während des Semesters entstanden waren, vertieft: „um ausländischen Kommilitonen in ihrer Situation gerecht zu werden, braucht es einen besonderen Einsatz .... Die Gruppen [streuen] hierbei einen guten Samen aus, während die Frucht dann auf den Ausländertagungen eingebracht wird“.250 Zur Durchführung der IST suchte die SMD auch die Unterstützung gesellschaftlicher Institutionen. Man bat die Auslandsämter der Universitäten sowie einige Goethe-Institute um Auslage der Einladungsbroschüren.251 Die Deutsche Bundesbahn förderte die Anfahrt der ausländischen Studierenden mit Sonderpreisen.252 Der Kölner Stadt-Anzeiger bezeichnete die IST in Leichlingen (nicht weit von Köln) als „UN des guten Willens und gegenseitigen Verstehens“ und berichtete: „Die Studenten anderer Religionsgemeinschaften, beispielsweise die Hindus oder Moslems, wollen von uns wissen, was christlicher Glaube ist und wie ein Christenmensch denkt. In Form von Forumsgesprächen, aber auch in Diskussionen, zu denen sich kleinere Gruppen zusammenfinden, werden all diese Fragen sehr offen und sehr tolerant behandelt.“253 IST
Thema
Referenten (Auswahl)
1961/62
Freiheit und Gemeinschaft
Damm, Ellis, Volkmann
1962/63
Der heutige Mensch und Gott
Damm, Ewald, Janzen, Philbert, Woods
1963/64
Friede, aber wie?
Damm, Ewald, Holsten, Lohmann, Lücke
1964/65
Worauf sollen wir hoffen?
Damm, Ewald, Holsten, Volkmann, Janzen
1965/66
Der Mensch: Grenzen & Möglichkeiten
Langenbach, Ewald, Gitari, v. Knorre
1966/67
Tradition, Fortschritt, Glaube
Langenbach, Marschall
1967/68
Wahrheit in Wissenschaft und Religion
Lücke, Gutsche,
1968/69
Zukunft der Christen – Zukunft der Welt
Lücke, Kades, Holsten, M.B., Werle
Tabelle 8: Themen und Referenten der IST 1961–1968
b) Die Gastgeber: interkulturelle Koinonia Die IST wurden durch studentische Mitarbeiterteams vorbereitet, in die ausländische Studierende, die Christen waren, integriert waren – als Ausdruck des ökumenischen Charakters und als „große Hilfe“ angesichts der multikulturellen Zielgruppe:254„Wir suchen die Gemeinschaft mit den glaubenden Studenten aus dem 250 251 252 253
Antenne 17 (1964/65) 10. Vgl. Brief an das Goethe-Institut Arolsen, 14.11.1972, SMD-Archiv, AfW III. Vgl. Infoschreiben, Betr. Internationale Studententreffen, 28.10.1964, SMD-Archiv, AfW II. Ein Sprachen-Babel in Hasensprungmühle: 70 Studenten aus 20 Nationen bilden UN des guten Willens, in: Kölner Stadt-Anzeiger Nr. 300, Montag, 30. Dezember 1963, S. 4. 254 Troeger et al, Vorbereitungsübersicht für IST, o.J., SMD-Archiv, AfW II.
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III. Bildungsmigration und Studentenmission
Ausland, um gemeinsam mit ihnen unserem Herrn Jesus Christus zu dienen. … Die glaubenden Studenten aus dem Ausland brauchen unsere Gemeinschaft und brüderliche Hilfe. Wir brauchen ihren Rat im Umgang mit ihren Landsleuten.“255 Außerdem konnten die außereuropäischen christlichen Mitarbeiter den Vorwurf, das Christentum sei eine westliche Religion, besser entkräften: „Das entscheidende Zeugnis [auf dem IST 1961/62] legten die Christen aus Übersee ab: durch ihre fröhliche Existenz konnten sie alle Waffen, die gegen die Christengemeinde als ‚Werkzeug der westlichen Imperialisten‘ gerichtet waren, entschärfen.“256 Während man theologisch deutlich zwischen an Christus Glaubenden und noch nicht Glaubenden unterschied, war man froh, dass „die geistliche Scheidung zwischen den Teilnehmern sich ... glücklicherweise nicht mit den nationalen Gruppierungen [deckte]“.257 Zu den Mitarbeitern gehörten auch Konvertiten aus dem Islam, wie der Iraker N.H., der auf dem IST 1963 seinen irakischen Freund M.B.258 begleitete und schrieb: „It certainly had been a great joy to me when I shared in commiting [sic!] Mr. B. to the Lord. How glad I am that he settled on THE way in life after all! I still remember that evening when we gathered to pray.“259 Auch die Referenten bildeten einen Teil der internationalen Mitarbeiterschaft. Neben Generalsekretär Damm und den hauptamtlichen Reisesekretären wirkten Akademiker und Professoren als Referenten mit. Dazu gehörten die Mainzer Mathematiker Günter Ewald260 und Bodo Volkmann261 sowie der Mainzer Missionswissenschaftler Walter Holsten.262 Auch ausländische Referenten263 nahmen teil: die nordamerikanischen Theologen Earle Ellis264 und Herbert Jantzen,265 der Australier Stacey Woods,266 der Kenianer David Gitari (IST 1965),267 der ägyptische evangelische Pfarrer Tharwat Kades und der irakisch-turkmenische Sprachwissenschaftler M.B. Die Gastgeber der IST, d.h. die Mitarbeiter aus der Studenten- und Akademikerschaft sowie die Referenten, stellten damit eine kulturell, konfessionell und frömmigkeitsgeschichtlich vielfältige Glaubensgemeinschaft dar, eine christliche koinonia als tragende Basis der IST. Dies implizierte die im Selbstverständnis der SMD wichtige ekklesiologische Unterscheidung zwischen christlicher Glaubensgemeinschaft (hier als koinonia bezeichnet) und der Konvi255 256 257 258 259 260 261 262 263 264
AfW, IB 10, 1965, Pkt. 4. Schwesig, Innen, 1962. AfW, Rundbrief Nr. 4, Göttingen, 18.1.1963, 1, AfW II,, kursiv FW. Siehe VII. A. 2. N.H. (UK), Brief an SMD (Marburg), 7.1.1964, SMD-Archiv, AfW. Günter Ewald, Privatdozent, Mainz, ab 1964 Professor, Universität Bochum. Bodo Volkmann, apl. Prof., Universität Mainz, ab 1964 Prof., Universität Stuttgart. Zu Holsten siehe II.C.4.a). Troeger et al, Vorbereitungsübersicht für IST [um 1964], SMD-Archiv, AfW II. Earl Ellis (1926–2010), baptistischer Theologe, Professor am Bethel Theological Seminary, St. Paul, vgl. Son, Ellis. 265 Jantzen, kanadischer mennonitischer Theologe, Dozent, Autor, Bibelübersetzer. 266 Der freikirchliche Theologe Woods (1909–1983) war 1947–1973 Generalsekretär IFES, vgl. McLeod, Woods, 2007. 267 Der spätere anglikanische Bischof Gitari (1937–2013) Generalsekretär der Pan African Fellowship of Evangelical Students (PAFES), vgl. Sheunda, Gitari, DACB, 2005.
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venz der größeren interreligiösen Freizeitgemeinschaft.268 Dabei stellten sowohl die christliche Koinonia als auch die interreligiöse Konvivenz konstitutive Elemente der missionarischen Begegnung dar, in der das christliche Zeugnis hörbar und sichtbar wurde. c) Die Gäste: kulturelle und religiöse Vielfalt An den IST nahmen zwischen 1961 und 1968 etwa 460 Studierende teil, wovon circa 200 aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland kamen.269 Davon kamen über 40 % aus islamisch geprägten Ländern, 27 % aus der westlichen Welt, etwa 17 % aus Afrika, 13 % aus Asien und 3 % aus Lateinamerika (es handelt sich um ungefähre Angaben, siehe Tabelle 9). Die Zahl der Teilnehmer aus islamischen Ländern verdoppelte sich zwischen 1961 und 1964. 1961 nahmen zehn Studierende aus islamisch geprägten Ländern teil (Afghanistan, Ägypten, Indonesien, Iran, Jordanien und Türkei), 1963 stieg die Zahl auf fünfzehn (Ägypten, Indonesien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Türkei), 1964 erreichte sie dreiundzwanzig. Islamisch geprägte Länder
40%
Westliche Länder
27%
Afrika
17%
Asien
13%
Lateinamerika
3%
Tabelle 9: Herkunftsregionen ausländischer Studierender IST 1961–1968
Selbstverständlich waren die muslimischen Teilnehmer sehr unterschiedlich geprägt. Auf der einen Seite standen überzeugte Muslime wie ein Teilnehmer aus Saudi-Arabien, der die christlichen Aussagen höflich, aber bestimmt zurückwies. In einer Gesprächsrunde machte er sich zum Sprecher einer Gruppe muslimischer Studenten. Der moderierende Reisesekretär erinnert sich: „Sie [setzten] sich durchaus mit dem, was wir in den Bibelarbeiten und Bibelgruppen präsentierten auseinander […] und [sagten] dann klar […], mit emphasis: ‚Nein, das könnten wir nicht übernehmen.‘ [Der Student aus Saudi-Arabien] guckte […] seine muslimischen Brüder, die mit ihm zusammen in der Gruppe waren, an: das ist doch klar, dass wir das nicht tun. Da
268 Der von Theo Sundermeier auf die Missionstheologie angewandte Begriff der Konvivenz (vgl. Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur, 1986; Ders. Konvivenz und Differenz, 2000) eignet sich m.E. gut, um zusammen mit dem koinonia-Begriff die implizite missionarische Ekklesiologie der IST, die Unterscheidung und Zusammenhörigkeit von Kirche und Welt, zu beschreiben, vgl. auch Bosch, Transforming, 1991, 385–386. 269 Vgl. die Teilnehmerlisten und Berichte der IST 1961ff, SMD-Archiv, AfW II.
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III. Bildungsmigration und Studentenmission war also ganz deutliche Ablehnung, also freundlich, ganz freundlich. Militantes und so weiter war uns da nie begegnet.“270
Auf der anderen Seite standen muslimische Studierende, die den Eindruck eines distanzierten Verhältnisses zum Islam vermittelten. Diese bildeten im Zusammenhang missionarischer SMD-Veranstaltungen wohl die Mehrheit.271 Dazu gehörte der Iraker M.B., dessen irakischer Kommilitone aus England mutmaßte „that he did not belong to any religion whatsoever. He comes from northern Irak, and apparently from a family who worship idol [sic!].“272 Obwohl es unklar ist, was er mit Letzerem meinte, zeigt die Äußerung die Distanz, die M.B. zu diesem Zeitpunkt seiner islamisch geprägten Herkunftstradition gegenüber zum Ausdruck brachte.273 Auch der palästinensische Student Muhammed M., der am IST 1968 teilnahm, räumte dem Islam eine scheinbar so geringe Bedeutung ein, dass er von SMD-Mitarbeitern paradoxerweise als „waschechter Atheist und Kommunist“ beschrieben wurde.274 Als aktives Mitglied der palästinensischen Studentenvereinigung im Umfeld der Al-Fatah-Bewegung vertrat Muhammed M. allerdings eine sozialistische Perspektive mit dem Ziel „einen demokratischen Staat in Palästina aufzubauen, in dem Araber und Israelis gleichberechtigt sind“.275 Mitglieder der Berliner SMD-Gruppe beobachteten: „unsere moslemischen Gesprächspartner gaben sich religiös aufgeklärt und bekannten sich nicht mehr zu den Lehren des Koran. Trotzdem wäre keiner bereit gewesen, seine Religionszugehörigkeit aufzugeben, geschweige denn zum Christentum überzutreten. Islam und orientalische Kultur sind so miteinander verbunden, daß man eins nicht ohne das andere haben kann und als Renegat auch kulturell heimatlos würde. 276
d) Die Gestaltung: Gemeinschaft und Zeugnis Als exemplarisch für die Gestaltung der IST kann bereits das erste Treffen gelten, das über die Jahreswende 1961/62 mit über fünfzig Teilnehmern, die Hälfte davon ausländische Studierende, in Leichlingen in einem Freizeitheim des Hilfswerks der Evangelischen Kirche im Rheinland stattfand. Einer der deutschsprachigen Mitarbeiter berichtet: „[Wir] trafen […] uns um Neujahr herum und blieben 4 ganze Tage unter dem Thema ‚Freiheit und Gemeinschaft‘ beieinander. Das Heim lag im Mühlental, und der Teich war eingefro-
270 H.L., Interview, 2009. 271 Interesse an Kontakten zur SMD zeigten – nach dem Bericht der Berliner Gruppe – „im allgemeinen nur Ausländer, die weltanschaulich ... noch nicht festgelegt und nirgendwo engagiert waren. Mitglieder nationaler Studentenvereinigungen ... konnten wir nicht gewinnen.“ SMD/VBG, Arbeitspapiere, 1970, 158. 272 N.H., Brief an SMD, 7.1.1964, SMD-Archiv, AfW. 273 Siehe VII.A.2. 274 H.L., Brief an P.K. (Bericht über Dobel), 29.1.1969, AfWII. Ebenso R.K., Brief an P.K., 14.1.1969, SMD-Archiv, AfWII. 275 Vgl. Wir wollen die Israelis nicht ins Meer werfen (Interview), in: Dynamis 5, April 1969. 276 SMD/VBG, Arbeitspapiere, 1970, 157.
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ren. Es dauerte nicht lange, da taute er auf, und noch viel weniger lange dauerte es, da waren wir zu fröhlicher Gemeinschaft aufgetaut. … Wir kamen nämlich aus 19 Nationen [...]. Gleich zu Anfang kamen wir überein, daß wir das Politische ausklammern und uns nur auf unsere allgemeinen menschlichen Nöte konzentrieren wollten.“277
Die Vorträge und Bibelarbeiten zur Frage der Bedeutung des Individuums angesichts gesellschaftlicher und akademischer Zwänge wurden ins Englische übersetzt. Am Silvesterabend wurde Gottesdienst gefeiert, ein multikulturelles geistliches Ereignis – zumindest in christlicher Sicht: „Jeder betet in seiner Muttersprache. Wenn auch der eine die Sprache des anderen nicht versteht, so geht aus diesen Gebeten doch ... der Geist hervor, der uns Christen verbindet.“278 1964/65 bildete sich erstmals eine „arabisch sprechende Gesprächsgruppe über die Bibeltexte“.279 Der Versuch, politische und kontroverse religiöse Diskussionen auszuklammern, entsprach zwar dem missionarischen Anliegen, das gemeinsame Menschliche zu betonen, ließ sich jedoch erwartungsgemäß nicht durchhalten: „Jesus? Einzigartig! – Keiner wollte sich dieser Ansicht verschließen. Aber die andern 40 Wege zu Gott, jeder Teilnehmer mit seinem eigenen, ganz persönlichen, – sie waren doch mindestens zweitrangig? Oder sollten sie gar nicht mehr gelten? So kamen wir ins Gespräch.“280 Am stärksten fällt in den Berichten jedoch die Betonung einer guten Atmosphäre auf, die auch als Wirksamkeit des Heiligen Geistes gedeutet werden konnte: „Jesus war unter uns, mit seinem Geist. Denn der Geist unserer Unterhaltung, unseres Spiels, unseres Silvesterfestes (und es war zünftig!) war der Geist der Liebe und des Verstehens, und den hätten wir unmöglich durch Organisation mitliefern können. Das erkannten unsere Freunde und wurden hellhörig.“281 Als Ergebnis des ersten IST 1961/62 wurde festgehalten: (1) der „frohe Eindruck verständnisvoller Gemeinsamkeit“; (2) die Einsicht „daß Christentum nicht vorhanden ist, ohne Jesus Christus im Zentrum“; 3. „der Entschluß [einiger], sich einer Christengruppe an der Universität oder am Arbeitsort anzuschließen“. Von Bekehrungen konnte man nicht berichten: „was wirklich daraus erwuchs, unter der Perspektive der Ewigkeit, weiß der Herr am besten. Unsere Aufgabe bleibt, den Ausländern im Alltag wirklich Mitmensch zu sein und ihr Leben im Gebet mitzutragen.“282
277 Schwesig, Innen und Außen, 1962. 278 Zit. in: Ein Sprachen-Babel in Hasensprungmühle, in: Kölner Stadt-Anzeiger Nr. 300, Montag, 30. Dezember 1963, S. 4. 279 Güting, Bericht vom IST 1964/65, SMD-Archiv, AfW II. 280 Schwesig, Innen und Außen, 1962. 281 Ebd. 282 Ebd.
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e) Reaktionen und Konversionen Die studentischen Gäste reagierten meist positiv auf das IST – dies zeigen zumindest schriftliche Rückmeldungen, die am Ende der Tagung erbeten wurden. Der kurdische Student Sardir Z. schrieb nach dem IST 1963: „This conference made me to feel happy and I can say that I am very lucky to be here with friends from many countries of the world. … I thank the responsible of this conference and Mr Dr Damm for [having] asked me to say a report about Kurdestan.“283 Ein nigerianischer Student kommentierte: „Die Worte von Gott zu verkündigen ist keine einfache Arbeit, wie jeder denkt [sic]. SMD hat andere Wege gefunden, diese Verkündigung zu üben. Es ist fantastisch. […]. Es ist wirklich eine gute Idee von der SMD, diese Tagung zu arrangieren. Ich habe, wie viele Ausländer, die teilgenommen haben, viel über diese Welt und am meisten über den lieben Gott mitbekommen.“284 Ein wesentliches Ziel der IST bestand darin, dass Gott „durch unser schlichtes Wort und Tatzeugnis hindurch zu den ausländischen Kommilitonen so … reden [möge], dass sie zum lebendigen Glauben an ihn kommen und Jünger Jesu Christi werden“.285 Explizite Bekehrungen in diesem Sinne waren selten, blieben aber die motivierende Hoffnung der Arbeit. Die Tübinger Gruppe berichtete: „Unser syrischer Bruder F.S. (Karlsruhe) bezeugte, wie er in der SMD mit Jesus Christus in Verbindung gekommen war und dadurch auch die entscheidende Hilfe für sein Studium bekommen hatte. Ein Nigerianer, der schon ein Semester lang am Rand der Gruppe gestanden hatte, bekam durch dieses Zeugnis Mut, sein eigenes Leben Jesus anzuvertrauen. Zwei andere ausländische Studenten besuchten einen unserer Hausbibelkreise. Für kommende Semester wünschen wir uns, daß noch viele SMDler Freundschaft mit einzelnen Ausländern schließen, um diese für Christus zu gewinnen.“286
Ein besonderes Ereignis war die Bekehrung von M.B., eines turkmenischen Irakers aus muslimischem Hintergrund, auf dem IST 1963/64.287 M.B. selbst fasste seine Erfahrung am Ende der Tagung so zusammen: „Eine lange Zeit in meinem Leben habe ich gezweifelt, daß es Hilfsbereitschaft und Liebe untereinander und füreinander gibt. An diesem Ort, an dem ich unter euch gelebt habe, habe ich sie erfahren … Morgen werde ich diesen Ort verlassen, aber in meinem Herzen wohnt Liebe, Friede und echte Ruhe und tiefer Glaube, daß das Wort Jesu die Wahrheit ist.‘“288 Die Bekehrung und die im Sommer folgende Taufe des muslimischen Studenten war ein außergewöhnliches Ereignis in der SMD. Dies zeigt auch die ausdrückliche Erwähnung im Jahresbericht des Generalsekretärs, der summierte, dass das Zeugnis von Christus „stark genug [ist], daß es auch ein Mohammedanerherz überwindet, wie wir im letzten Semester gesehen haben. Wa283 284 285 286 287 288
Sardir Z., handschriftlicher Kommentar zum IST 1963 [Anfang 1964]. SMD-Archiv, AfW II. Saka A., Bericht zum IST 1968 [handschriftlich, Anfang 1969], 5,8, SMD-Archiv, AfW-P. AfW, Informationsblatt Nr. 10, 1965 [maschinenschriftlich]. SMD-Archiv, AfW-K. Antenne 17, 1964/65, 10. Ausführlich zur Biographie und Konversion von M.B., siehe VII. A. 2. AfW, Rundbrief Nr. 6, Februar 1964, S. 2. SMD-Archiv, AfW.
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rum? Weil in all dem Jesus selbst handeln kann.“289 Dennoch blieben Konversionen die Ausnahme. 1966 lautete die geistliche Bilanz: „Wohl ist niemand … zum Glauben gekommen – doch stehen wir nicht immer am Ende der langen Folge von Schritten, die Gott mit manchem Menschen geht, bis er ihn zum vollen Glauben an unseren Herrn Jesus Christus durchdringen lässt?“290 Dass Bekehrungen nicht das einzige Ziel missionarischer Begegnung in der Ausländerarbeit der SMD war, sondern auch interreligiöses Verstehen und mitmenschliche Hilfe wichtige Aufgaben und Ziele darstellten, zeigte der Bericht der Berliner SMD-Gruppe: „Aus unserer Ausländerarbeit haben sich einige freundschaftliche Kontakte zu einzelnen Ausländern ergeben, die hin und wieder an unseren Veranstaltungen teilnehmen. Von Bekehrungen können wir nicht berichten, wir hoffen aber, daß unsere Arbeit trotzdem nicht vergeblich ist. Gelegentlich konnten wir wenigstens zur Information beitragen. Bei fast allen Moslems und nicht wenigen Christen herrscht nämlich eine bestürzende Unkenntnis über den Inhalt der biblischen Botschaft. Wir haben die Lebensmöglichkeit bezeugt, die Christus anbietet. Darüber hinaus war es möglich, manche praktische Hilfe zu geben, z.B. beim Umgang mit der Universitätsbürokratie, bei der Zimmersuche, in materieller Not und durch Nachhilfeunterricht.“291
Missionstheologisch betonte man Bekehrung als Handeln Gottes: Es liege „allein in Gottes Hand, ob dies geschieht. Das nimmt unserem Dienst alles unruhige Drängen.“292 Die Balance zwischen missionarischer Aktivität und vertrauensvoller Gelassenheit scheint in der Praxis jedoch nicht immer gelungen zu sein. Ein asiatischer Teilnehmer meldete zurück: „Wenn ich etwas erwähnen darf, was mich und andere Teilnehmer (Ausländer und Deutsche) negativ berührte, so möchte ich es so nennen: Wir fühlten uns manchmal in einer Atmosphäre von Zwang (Du musst heute noch Christ werden …). Für Europäer … mag das eine mögliche Missionsmethode sein, für Teilnehmer, die aus anderen Kulturen kommen … bewirkt solche Methode nur innere Abwehr.“293
5. Weil Gott Ausländerarbeit treibt: Missionstheologie im AfW Umso wichtiger war die missionstheologische Reflexion der missionarischen Ausländerarbeit, die im Rahmen des AfW erfolgte und deren Ergebnisse in den Zeitschriften der SMD sowie in einer Serie von Informationsblättern (IB) zugänglich gemacht wurde.294 Eine komprimierte, aber gründlich reflektierte missionstheologische Grundlegung findet sich im Informationsblatt 10 (1965). Hier werden sechs Kernsätze (im Folgenden K) in sechs Abschnitten erläutert. Die Kernsätze lauten: 289 290 291 292 293 294
Damm, Lage und Entwicklung, 1964/65, 6. Bericht V. Intern. Studententreffen in Leichlingen 1965/1966, AfW-T, SMD-Archiv. SMD/VBG, Arbeitspapiere, 1970, 158. AfW, IB10, 1965, 2. Zit. in Sautter, Bericht IST 1972/73 in: AfW-Rundbr. 5/ 1973, 5–6, SMD-Archiv, AfW-K. Die Serie schließt 1965 mit Informationsblatt Nr. 10 und 11 ab (IB10 und IB11).
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III. Bildungsmigration und Studentenmission 1. Als Mitarbeiter der SMD bemühen wir uns um Kontakte zu unseren ausländischen Kommilitonen, um ihnen das Wort Gottes zu verkündigen. 2. Wir verkündigen unseren ausländischen Kommilitonen das Wort Gottes im Gehorsam gegen den konkreten Befehl Jesu Christi. 3. Unsere Wortverkündigung an die ausländischen Kommilitonen geschieht im Rahmen der Weltmission. 4. Wir suchen die Gemeinschaft mit den glaubenden Studenten aus dem Ausland, um gemeinsam mit ihnen unserem Herrn Jesus Christus zu dienen. 5. Unsere Bemühung um die ausländischen Kommilitonen geschieht als Dienst im Namen Jesu Christi. 6. Unser Ausländerdienst geschieht in der Abhängigkeit von Gott und im Vertrauen auf seine Kraft.295
Die missionstheologischen Perspektiven im AfW waren, neben eigenen Beobachtungen und den Einflüssen von Pietismus, Glaubensmission und reformatorischer und dialektischer Theologie, geprägt durch erste Handreichungen wie die Neun Punkte der KfA (1958),296 die Richtlinien für Ausländerarbeit des bayerischen Zentralverbands für Äußere Mission (ZVÄM, 1962), das Islamkompendium von Emanuel Kellerhals (1945/1951), Martin Pörksens Handreichung Jesus in der Bibel und im Koran (1961)297 sowie das Studium einschlägiger missionstheologischer Literatur von Hartenstein, Freytag, Vicedom oder Holsten.298 Auch Impulse von den jährlichen Deutschen Evangelischen Missionstagen (DEMT) sowie Einflüsse der aufbrechenden evangelikalen Missionstheologie in den USA wurden aufgenommen.299 a) Weltmissionarische Hermeneutik Auf dem DEMT 1959 hatte Walter Freytag festgestellt, dass „christliche Asiaten und Afrikaner, die in Europa waren, niemals als in ihrem Glauben gestärkte Menschen zurück[kommen], sondern tief enttäuscht über das, was sie in der Christenheit dort gesehen haben“.300 Diese Sicht wurde zu einem klassischen motivationalen Topos in der Ausländerarbeit der SMD: „Wir wollen uns … mit unseren ausländischen Kommilitonen treffen, um ihnen das Evangelium nahezubringen. Denn wir können es nicht länger mit ansehen, wie die 22000 ausländischen Studenten und Praktikanten, die zur Zeit in der Bundesrepublik studieren, von der Begegnung mit den europäischen Kirchen immer stärker enttäuscht werden und zugleich mit dem ‚christlichen Abendland‘ auch die Botschaft Jesu Christi für die weitere Gestaltung ihres Lebens und ihrer Heimat abschreiben.“301
Dieses Motiv traf sich mit der pietistisch geprägten Christentumskritik in der SMD, wie sie von Generalsekretär Damm prägnant formuliert wurde: 295 296 297 298 299
AfW, IB10, 1965. Kursiv FW. Siehe III.A.4. Siehe II.B.4.b) (zu Kellerhals) und III.A.5. (zu Pörksen und ZVÄM). Zur deutschsprachigen islambezogenen Missionstheologie siehe II.B.4. sowie II.C.4. Vgl. Güting, Missionstag 1959 sowie die Beiträge von Arthur F. Glasser auf der Frankfurter SMD-Weltmissionskonferenz 1965 (siehe oben III.C.3.c sowie zu Glasser II.E.2.); Troeger, Interview, 2009. 300 Zit. bei Triebel, Bekehrung, 1976, 92. Siehe III.A.4.c). 301 SMD, Saftiger Abend, 1961/62, 10.
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„Der größere Teil der Getauften aber hält eine Beschäftigung mit religiösen Dingen a priori für Zeitverschwendung. Ein Kirchenvolk gibt es in Wahrheit seit einem halben Jahrhundert nicht mehr, es gibt nur noch ein Kirchensteuervolk. … Was ergibt sich aus diesem Tatbestand einer nur noch formal christlichen Welt für die Lage an der Universität? Ohne Zweifel die Notwendigkeit [der] Mission … und zwar so, daß jeder Student persönlich mit der Botschaft von der Umkehr zu Jesus Christus konfrontiert wird.“ 302
Die kritische Unterscheidung zwischen der „Botschaft Jesu Christi“ und kulturchristlichen Vorstellungen des „christlichen Abendlands“, wie sie ähnlich auch bei Jan Hermelink zu finden war,303 lief teilweise parallel zur postkolonialen Kritik des Christentums im Aufbruch der afroasiatischen Länder.304 Dies ließ eine christozentrische missionarische Begegnung auf postkolonialer Augenhöhe mit den afroasiatischen Bildungsmigranten in Deutschland aussichtsreich, aber auch besonders dringlich, fast heilsgeschichtlich bedeutsam, erscheinen: „Die Nichtchristen kommen oft in der Vorstellung nach Europa, hier das von der Mission vertretene Christentum an Ort und Stelle prüfen zu können. Unser Zeugnis kann für manche die einzige Gelegenheit sein, das biblische Evangelium zu hören. Unser Versagen kann viele dem Zeugnis ihrer Heimatkirchen vollends unzugänglich machen.“305
In einer auf dem Evangelium basierenden kultursensiblen Begegnung sah man zudem „eine Bewährungsprobe“ für die Menschlichkeit in der deutschen Gesellschaft und die Nächstenliebe in den Kirchen. Denn „am Verhalten gegenüber den Gastarbeitern und ausländischen Studenten“ „können die Staaten, Völker und Kirchen, jeder einzelne praktisch und täglich erkennen und erproben, wie es um ihre Gesinnung steht.“ 306 b) Missio Dei: Gott treibt Ausländerarbeit Mit dieser globalen Hermeneutik307 verband sich die theologische Begründung im Anschluss an das von Georg Vicedom umfassend thematisierte und damals viel diskutierte Konzept der missio Dei.308 Gerade angesichts der wenig spektakulären und im Blick auf die Resonanz oft ernüchternden Ausländerarbeit, war dieser weite theologische Horizont umso wichtiger und wurde nach biblischem Vorbild in
302 303 304 305
Damm, Kirche, 1961/62, 16. Siehe III.A.3. Siehe I.C.1. AfW, Informationsblatt 1, 7/1962, SMD-Archiv, AfWII. In IB10, K3 wurde dies ausdrücklich auf die „Namenschristen“ erweitert, die es „nicht nur in Europa, sondern weitgehend auch in den Kirchen Afrikas und Asiens [gibt]. Wir treffen sie häufig unter den zu uns kommenden Studenten jener Erdteile.“ 306 Bürki, Herausforderung, 1964, 10. 307 Man warnte jedoch vor exotistischen Motiven. Als Motiv galt der „Befehl Jesu Christi“ (IB10, K2): „Verkündigung an Ausländer ist an den Auftrag Gottes gebunden. Sie ist keine Freizeitbeschäftigung für Liebhaber fremder Menschen, Länder und Sitten.“ 308 Vgl. Vicedom, Missio Dei – Einführung in die Theologie der Mission (1958).
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anthropomorpher Weise auf den Punkt, bzw. in den missionarischen Alltag gebracht: „Gott selbst [treibt] Ausländerarbeit“: „Ist Ausländerarbeit wirklich eine hoffnungsvolle Sache? Oder müssen wir angesichts der Massen ausländischer Studenten an unseren Hochschulen und der Winzigkeit unserer Gruppen nicht der Resignation verfallen? Sind die Widerstände gegen das ‚Wort vom Kreuz‘ nicht zu groß? Jesus teilt unsere Skepsis nicht. Er redet angesichts der heilandlosen Massen von Ernte. Warum? Weil es die Ernte Gottes ist! Weil Gott selbst Ausländerarbeit treibt, wollen wir im Vertrauen auf seine Verheißungen in Leichlingen Frucht erwarten.“ 309
Was bedeutet es, dass Gott Ausländerarbeit treibt? Im IB10 (K1 und 5) wurde dies im Horizont des heilsgeschichtlich interpretierten missio Dei-Gedankens in vier Schritten entfaltet. Es bedeutet, dass (1) „Jesus Christus als das Wort Gottes Mensch geworden ist … und sich zu den Sündern herabgeneigt hat“; (2) „Gott ... uns in Jesus Christus sein richtendes und rettendes Wort gesagt [hat]. ... Wir haben sein Wort gehört und ihm gehorcht: wir glauben an ihn. Jesus Christus ist unser Herr“; (3) „Jesus Christus nicht nur das Wort Gottes für uns [ist], sondern für alle Menschen – auch für unsere ausländischen Kommilitonen. Auch sie sollen unter die Herrschaft Christi kommen“; (4) „Gott ... uns zu Boten seines Wortes, also zu Boten Jesu Christi berufen [hat]“, also zur konkreten Ausländerarbeit vor Ort. Kurz: Ausländerarbeit ist Teilhabe an Gottes Liebe für alle (missio Dei). c) Ganzheitlicher christozentrischer Dienst Auf dieser theologischen Basis wurde die missionarische Praxis als ganzheitlicher Dienst beschrieben (IB10, K5). Damit wurden der Begriff und das Verständnis von Hendrik Kraemers evangelistic approach aufgegriffen, in dem sozialer „Dienst“ (service) neben „Verkündigung“ und „Anpassung“ ein konstitutives Element darstellte.310 Auch in der Lesart des AfW umfasste dieser Dienst an ausländischen Mitstudierenden soziale, interkulturelle und geistliche Aspekte und wurde missionstheologisch in der Christologie und einer ganzheitlichen Soteriologie begründet: „Jesus Christus schafft Heil für Leib und Seele, für Mensch und Welt. Wenn wir im Namen dieses Jesus Ausländerarbeit tun wollen, dann kann sie nur Ausländerdienst sein; und dieser Dienst umfasst den ganzen Menschen. Ausländerarbeit beginnt nicht mit großen Aktionen, sondern vielleicht damit, daß ich einem Perser im Namen Jesu beim Deutsch-Lernen behilflich bin oder einem Ghanesen ein Zimmer besorge. Damit verhelfe ich einem Menschen auf einem winzigen Gebiet seines Lebens von der Not zum Heil.“ 311
Heil wird hier nicht ausschließlich geistlich und eschatologisch, sondern als gegenwärtig anbrechendes, zeichenhaftes Heil ganzheitlich beschrieben, womit auch 309 AfW, Mitarbeiterbrief IST 1963, Okt. 1963, SMD-Archiv, AfWII. 310 Vgl. Kraemer, Botschaft, 1940, 269, s. II.B.3.b). Kraemer sah den sozialen Dienst als „wertvollen Ausdruck“ „des christlichen und des Missionsgeistes“, nicht aber als Ersatz für die christozentrische Verkündigung, ebd. 265–266. 311 AfW, Rundbrief Nr. 5, Ende September 1963, SMD-Archiv, AfW-K.
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Aspekte einer verheißungsgeschichtlichen missio Dei-Interpretation aufgenommen waren.312 Grundlage für diese ganzheitliche Sicht war die Christologie, vor allem ein Verständnis der Inkarnation, das sich in missionarischen Konkretionen niederschlagen sollte: „Von dieser erstaunlichen Selbsterniedrigung des Gottessohnes …. wissen wir und leben wir und reden von ihr zu den Menschen. ... Weil uns Gott nicht gering geachtet hat, achten wir auch niemanden gering, sondern werden bereit, … von unserem Geld, unserer Zeit, unserer Kraft zu geben. Ausländerdienst beginnt damit, dass wir Ausländer im Hörsaal, in der Mensa, im Seminar oder im Labor ansprechen, für ihre Probleme ein offenes Ohr haben, ihnen in Fragen ihres Studiums behilflich sind: ihnen Freunde werden.“ (IB10, K5).
Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass diese Aktionen „keineswegs nur Mittel zum Zweck der Verkündigung, sondern als Dienst im Namen Jesu untrennbar mit der Ausrichtung des Wortes verbunden [sind]“. Gleichzeitig wurde die Gefahr der schwärmerischen geistlichen oder sozialen Selbstüberschätzung angesprochen: „Da wir nicht Gottes Wort in Person sind, sondern nur Boten des Wortes, kann sich unser Ausländerdienst nicht in der Gemeinschaft … erschöpfen, sondern muss in der Ausrichtung des Wortes Gottes sein Ziel haben.“ Als zentrale Dimension des missionarischen Dienstes wurde die Verkündigung der Vergebung der Sünden auf der Grundlage der Rechtfertigung des Sünders durch das Leiden und Sterben des Sohnes Gottes beschrieben: Allerdings kann unser Dienst damit [Diakonie und Gemeinschaft, FW] nicht zu Ende sein; denn dem eigentlichen Grund aller Not – der Sünde – ist ja noch nicht abgeholfen. Sünden anderer aber können wir nicht tragen. Der Dienst, der hier einsetzt, kann nur Hinweis auf jenen einen Diener sein, der die Sünden aller getragen hat. Ausländerarbeit, die nicht in der Ausrichtung des Wortes ihr Ziel hat, bleibt auf halbem Wege stecken.“ 313
Der ökumenische und interkulturelle Charakter der missionarischen Gemeinschaft wurde im Zusammenhang der IST schon beschrieben und in IB10, K2 als Teil der missionstheologischen Grundlage formuliert: „Wir suchen die Gemeinschaft mit den glaubenden Studenten aus dem Ausland, um gemeinsam mit ihnen unserem Herrn Jesus Christus zu dienen ... [Sie] brauchen unsere Gemeinschaft und brüderliche Hilfe. Wir brauchen ihren Rat im Umgang mit ihren Landsleuten.“ Als Ziel der missionarischen Arbeit wird die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, Gott möge „durch unser schlichtes Wort und Tatzeugnis hindurch zu den ausländischen Kommilitonen so … reden, dass sie zum lebendigen Glauben an ihn kommen und Jünger Jesu Christi werden“ (IB10, K6). Der ekklesiologische Zielhorizont war dabei nicht die formale Kirchenzugehörigkeit, sondern die „Zellbildung christlichen Lebens“.314 Gleichzeitig wird die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes betont: „Ob dies geschieht, liegt allein in Gottes Hand. Das nimmt unserem Dienst alles unruhige Drängen, macht uns demütig und geduldig und treibt uns zu anhaltendem Gebet.“315 312 313 314 315
Siehe II.C.1. sowie Schluss C.1. AfW, Rundbrief Nr. 5, Ende September 1963, SMD-Archiv, AfW-K. H. H. Damm, in: SMD/VBG, Vorbereitungsheft 1965, 6. AfW, IB 10, 1965, 2.
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d) Relativierung religiöser Unterschiede Eine explizite theologische Reflexion der nichtchristlichen Religionen findet sich im Rahmen der Ausländerarbeit des AfW kaum. Ähnlich wie im politischen Bereich betonte man religiöse Differenzen nicht, um sich „nur auf unsere allgemeinen menschlichen Nöte [zu] konzentrieren“.316 Statt interreligiöser Debatten wollte man sich den gemeinsamen menschlichen Fragen in einer säkularen und globalisierten Welt widmen: „Dieser Planet wird ‚kleiner‘, die Menschen kommen einander näher.“317 Eine positive Achtung des religiösen Gegenübers war deutlich sichtbar („die Achtung … anderer Lebensanschauungen [wird] in echter Toleranz gewahrt“),318 eine positive Wertung der nichtchristlichen Religionen an sich findet sich in den Texten der SMD nicht. Vielmehr wurden die gemeinsame menschliche Dimension, die Notwendigkeit interreligiöser Demut und die universale Bedeutung des biblischen Evangeliums betont. Damit lag man keineswegs abseits des Spektrums deutschsprachiger Missionstheologie der frühen 1960er Jahre, wo man – im Anschluss an die dialektische Theologie – die religiösen Unterschiede in christozentrischer Perspektive relativierte und dies zum Ausgangspunkt des christlichen Zeugnisses machte.319 Charakteristisch formulierte der lutherische Bischof und Missionswissenschaftler Heinrich Meyer320 auf der Weltmissionskonferenz in Mexico-City 1963, ein Christ könne sich gegenüber „Menschen anderen Glaubens“321 nicht in anmaßender Weise zum Maßstab der Dinge machen: „Das Christentum ist weder eine höhere noch die höchste Religion, die besser wäre als jede andere Religion – weil unser über alle Götter und Dämonen erhabener Herr sich erniedrigt hat und ein Mensch, wie wir geworden ist.“322 Im Unterschied zu den Neun Punkten der KfA, die sich in außenpolitischer Perspektive um die „Ablehnung der europäischen Welt“ durch die afroasiatischen Staaten sorgten,323 stand in der SMD in evangelistischer Perspektive die Sorge um die Ablehnung und das Missverständnis des Evangeliums im Vordergrund: dass ausländische Studierende „die Botschaft Jesu Christi für die weitere Gestaltung ihres Lebens und ihrer Heimat abschreiben“ könnten.324 Dem wollte man, so gut es ging, in Wort und Tat entgegenwirken. Während die missionarische Ausländerarbeit in den ESG und in der SMD in den 1950er und frühen 1960er Jahren in der Praxis oft als christlich-islamische Begegnung stattfand, fand eine konzeptionelle und strukturelle Spezialisierung auf den Islam und die Begegnung mit Muslimen, abgesehen von den Perspektiven 316 317 318 319 320 321 322 323 324
Schwesig, Innen und Außen, 1962. [Begrüßungsbrief] o.J. (um 1963), SMD-Archiv, AfW II. Einladung IST 1961/62, SMD-Archiv, AfW II. Siehe II.B.4.c) und II.C.3. Meyer war zwei Jahre einer der Hauptredner auf der Weltmissionkonferenz der SMD 1965 in Frankurt/M, siehe III.C.3.c). Müller-Krüger, In Sechs Kontinenten, 1964, 82. Meyer, in: Müller-Krüger, In Sechs Kontinenten, 1964, 84. Siehe III.A.3. SMD, Saftiger Abend, 1961/62, 10.
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Vicedoms (I.A., II.C.4.) und der Handreichung Pörksens (III.A.5.), in den evangelischen Begegnungsprojekten im Rahmen der Bildungsmigration noch nicht statt. Erst die 1961 beginnende türkische Arbeitsmigration rückte die christlich-islamische Begegnung endgültig ins Blickfeld der evangelischen Mission in Deutschland. Die damit verbundenen Entwicklungen, vor allem der 1963 gegründete Orientdienst, sind das Thema der nächsten Kapitel.
IV. ARBEITSMIGRATION UND ORIENTDIENST: DIE 1960ER UND 1970ER JAHRE Die türkische Arbeitsmigration ab Herbst 1961 stellte für Gesellschaft und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland eine neue Situation dar. Während die Kirchen angesichts der Bildungsmigration der 1950er Jahre früh in staatliche Betreuungsbemühungen einbezogen waren,1 spielten sie im Blick auf die türkische Arbeitsmigration zunächst keine offizielle Rolle. Die Betreuung der türkischen Arbeitsmigranten wurde im Mai 1962 der weltanschaulich neutralen Arbeiterwohlfahrt (AWO) übertragen.2 Dennoch setzten diakonische und missionarische Bemühungen um die türkischen Gastarbeiter schon bald ein. Michael Mildenberger, erster Islamreferent der EKD, fasste die ersten Entwicklungen im Rückblick so zusammen: „Unter den ersten, die sich kirchlicherseits daran machten, der neuen Situation Rechnung zu tragen, waren einige Missionsgesellschaften, die in der islamischen Welt tätig sind und die nun vor der heimatlichen Haustür ein neues Arbeitsfeld entstehen sahen. Ausgerüstet mit einer langen Erfahrung im Umgang mit muslimischen Menschen und mit ihrer missionstheologischen Einschätzung des Islam, machten sie sich an die Aufgabe. Soziale Betreuung vielfältiger Art, z.B. ein intensiver Besuchsdienst, soll den muslimischen Ausländern das Eingewöhnen und das Leben in der fremden Umwelt erleichtern. Den christlichen Gemeinden wird durch Publikationen und Reisetätigkeit das Verständnis für den besonderen missionarischen Auftrag nahegebracht. Und den Muslimen wird in der persönlichen Begegnung, im missionarischen Zeugnis und durch ein vielseitiges Schrifttum das Evangelium angeboten. Ein Beispiel dieser Art ist der Orientdienst e.V. in Wiesbaden, aus der Evangelischen Mission in Oberägypten hervorgegangen, inzwischen aber selbständig.“3
A. ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DES ORIENTDIENSTES 1. Der Orientdienst als Arbeitszweig der EMO Im Mai 1959 kehrte Willi Höpfner, Ägyptenmissionar der Evangelischen Mission in Oberägypten (EMO) (1929–1939) und Auslandpfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Kairo (1951–1959) nach Deutschland zurück, um das Inspektorat der EMO in Wiesbaden zu übernehmen.4 Bereits Monate vor seiner Ankunft hatte die Missionskammer der EKHN in Absprache mit der EMO vorgeschlagen, Höpfner neben dem Missionsinspektorat mit der Seelsorge unter nahöstlichen Mi1 2 3 4
Vgl. die Zusammenarbeit von DEMR, Kirchlichem Außenamt, Auswärtigem Amt und die Entstehung der KfA 1957, s. III.A.1. Zur Betreuung durch die AWO s. I.D.4. Mildenberger, Begegnung, 1982, 42. Zur Biographie Höpfners und der Vorgeschichte siehe V.C.4.c) sowie V.D.1.
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granten im Bereich der EKHN zu beauftragen. Obwohl der Plan zunächst nicht verwirklicht wurde, macht Höpfner bald die wachsende Zahl von Studenten aus dem Nahen Osten und die Gastarbeiter aus der Türkei zu seinem wichtigsten Anliegen. In der Zeitschrift des Deutschen Evangelischen Missionsrats (DEMR), schrieb er 1961: „Die Orientalen treffen wir heute in unseren Fabriken, Werkstätten und Hörsälen. Tausende von arabischsprechenden Studenten und Praktikanten befinden sich gegenwärtig in der Bundesrepublik. ... Es muss zu menschlichen Kontakten kommen. Der Orientale, der sich hier in Deutschland befindet, sollte etwas davon mitbekommen, daß wir offen sind für seine politischen und religiösen Fragen ebenso wie für seine persönlichen.“5
a) Koptische Studenten und christlich-islamische Ehen Ein erster Schritt in Richtung des späteren Orientdienstes stellte Höpfners Engagement für koptische Studenten im Bereich der EKHN dar. Dies zeigt sein erster Jahresbericht als Missionsinspektor in Wiesbaden: „Wir hatten im vergangenen Jahr mancherlei Gelegenheit mit den koptischen Studenten und Praktikanten im Raume Darmstadt-Mainz-Wiesbaden zusammenzukommen. Eine gewissen Krönung dieser Bemühungen stellte die koptische Ostermesse dar, die am Sonnabend nach Ostern [1961] in der Friedenskirche in Wiesbaden der koptische Priester Mina Iskandar aus Alexandria mit unseren koptischen Freunden und Gliedern der Missionsgemeinde feierte.“ 6
Ein weiterer Schritt war Höpfners Vortragsarbeit zu christlich-islamischen Ehen.7 1960 hielt Höpfner im Rahmen einer EKHN-Tagung zur „Mischehe als Seelsorgeauftrag der Gemeinde“8 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain einen Vortrag zur „Mischehe zwischen Christen und Muhammedanern“. In exemplarischer Weise verdeutlicht der Vortrag Höpfners Ansatz zu dieser Thematik. Ausgehend von der islamischen Rechtsprechung in der Perspektive der Al-Azhar Universität warnte Höpfner davor, die kulturellen und religiösen Spannungsfelder in christlich-islamischen Ehen zu unterschätzen. Er ließ keinen Zweifel am asymmetrischen Rollenverständnis des traditionellen Islam, das die Erlaubnis zur Polygynie und die Verpflichtung zur islamischen Erziehung der Kinder einschließe. Er schloss mit dem dramatischen Hinweis: „der muhammedanische Mann hat übrigens das Züchtigungsrecht.“9 Höpfners Votragstätigkeit zur christlich-islamischen Ehe kann jedoch nur begrenzt als Vorläufer des Orientdiensts gesehen werden, denn während Höpfner in der Ehefrage vorwiegend die interkulturelle Diffe-
5 6 7
8 9
Höpfner, Umbruch, 1961, 14. Höpfner, Jahresbericht 1960/61, in: NEMO 3/1961, 4. Ernst Pfanschilling, Reisesekretär der EMO 1954–1971, erinnert sich: „Der Islam war plötzlich mitten in Deutschland. ... Wir erhielten Anfragen über Anfragen wegen der Mischehen. Hier kam eine Aufgabe auf uns zu.“ Troeger, Abschiedsgespräch, 1976, 94. Vgl. EKHN, Bericht über die in Verbindung mit der Ev. Akademie durchgeführte Arbeitstagung, ZA EKHN 104/171. Höpfner, Mischehe, 1960.
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renz herausstellte,10 betonte er im nachbarschaftlichen Kontakt zwischen Christen und Muslimen in Deutschland deutlich die interkulturelle Empathie. Letztere war es auch, die nach Höpfners Intention die missionarische Begegnungsarbeit im Rahmen des Orientdienstes prägen sollte, auch wenn die religiöse Differenzen dabei nicht unterschlagen werden sollten: „Wir sollten unseren orientalischen muslimischen Gästen durch unser Verhalten zu verstehen geben, daß wir mit ihnen als Menschen auf der Suche nach Wahrheit und nach echter Liebe sind. Überlegenheitsgefühle sind in der Begegnung mit dem anderen nicht angebracht. Es gibt nur eine Überlegenheit – die Liebe. Der große christliche Muslimmissionar Raymundus Lullus hat gesagt: 'Wer nicht liebt, lebt nicht, und wer durch die Liebe lebt, stirbt nicht.'“ 11
Höpfner nahm diese Perspektive ernst und suchte zunächst seine Mitarbeiter in der Wiesbadener Mission zu überzeugen, dass daraus praktische Schritte erfolgen müssten: „Wir müssen bekennen, dass wir diese Aufgabe, die uns vor der Tür liegt, noch nicht aufgenommen haben. Dabei sollte uns klar sein, dass wir mit einer leichtgenommenen Wortverkündigung – etwa mit einigen Flugblättern – die Menschen wahrscheinlich nicht erreichen werden, denen gegenüber wir unsere Häuser verschlossen halten und menschlichen Kontakt nicht zu pflegen bereit sind.“12
b) Wohnheimpläne: erste Initiativen und Strukturen Im August 1961 schlug Höpfner vor, im Rahmen der EMO und mit weiteren möglichen Kooperationspartnern, ein Wohnheim für muslimische Studenten und Praktikanten im Wiesbadener Raum bereitzustellen: „Bei der grossen Zahl moslemischer Studenten im Raume Mainz, Frankfurt, Darmstadt (Darmstadt hat allein 160 arabisch Sprechende) und der Nachfrage nach Wohnraum für Praktikanten in der Umgebung von Wiesbaden liegt der Gedanke nahe, ein Heim für Studenten und Praktikanten zu bauen (im Rhein-Main-Gebiet), evtl. unter Beteiligung anderer interessierter Kreise. In welcher Weise wir sonst den lebendigen Kontakt mit hiesigen Mohammedanern aufnehmen könnten, darüber sollten Arbeitsausschuss und Vorstand baldigst beraten.“13
Die von Höpfner im Gespräch mit dem DEMR14 erwogene und erhoffte Finanzierung eines Neubaus durch den staatlichen Kulturfonds für Entwicklungsarbeit15 10 Dabei stellte Höpfner klar, es gehe „in keiner Weise [darum] ... Verstimmung zu schaffen zwischen uns und unseren mohammedanischen Freunden.“ Es gehe „im Gegenteil“ um das seelsorgerliche Anliegen, „beiden Teilen“ zu helfen. Höpfner, Mischehe Faltblatt, 1963. 11 Höpfner, Umbruch, 1961, 14. 12 Höpfner, Jahresbericht 1960/61, in: NEMO 3/1961, 4. 13 Protokoll VS 4.8.1961 EMO-Archiv. 14 Vgl. Höpfner, Brief an H. Bannach, Geschäftsführer des DEMR , 3.1.1962 EMW-Archiv, DEMR2, AG0454. 15 Fonds für „Einrichtungen und Maßnahmen der deutschen christlichen Missionen in Entwicklungsländern auf sozialkaritativem, erzieherischen und wirtschaftlichen Gebiet“. Bannach, Brief an Höpfner, 19.1.1962, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454.
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zerschlug sich jedoch.16 Höpfner überlegte nun, das Wohnheim in die bestehenden Missionshäuser in Wiesbaden integrieren. Doch der Plan stieß unter den leitenden Mitarbeitern der Mission auf Skepsis. Sie befürchteten, „dass durch die Einbeziehung fremder Studenten in unsere Häuser sich der Charakter derselben als Heimathäuser der Mission stark verändere“.17 Der ursprüngliche Plan reduzierte sich beträchtlich, man einigte sich aber schließlich darauf, ein Dachgeschoss „zu einem Heim für berufstätige (einheimische und orientalische) Mädchen“ umzubauen,18 eine kleine Wohnung, in die schließlich eine türkische Arbeitsmigrantin (Y.K.) einzog.19 Auch personell ging Höpfner entschlossen auf den neuen Arbeitszweig zu. Ende 1961 schrieb die EMO eine Stelle aus für „einen akademisch oder seminaristisch gebildeten Mitarbeiter in der Verkündigung des Evangeliums unter den Mohammedanern in der Heimat und auf dem Missionsfelde“.20 Der heimatliche und transnationale Islammissionar sollte zunächst die christlichen Kreise im Umfeld der Mission motivieren, „den lebendigen Kontakt mit hiesigen Mohammedanern auf[zu]nehmen“.21 Dazu sollten konkrete Hilfestellungen angeboten werden: „Gehen wir vorüber an den Tausenden, die unsere Universitäten besuchen und mit uns an der gleichen Werkbank stehen? Das kommende Weihnachtsfest bietet uns eine gute Gelegenheit, diese Orientalen in unsere Gemeinden, Vereine und Familien einzuladen. Zusammen mit unseren Siegener Freunden [MSOE, FW] entsteht ein Tonband, das orientalische Weihnachtsmusik, die Weihnachtsgeschichte mit einer Ansprache in Arabisch und ein deutsches Weihnachtslied enthält. ... [Dies kann] Ihnen eine Hilfe sein ... bei Ihren Zusammenkünften mit unseren arabischen Freunden.“ 22
In der Wiesbadener Missionszentrale bemühte man sich, mit gutem Vorbild voranzugehen, wie ein Bericht in den Nachrichten zeigt: „Eine besondere Freude war es, dass sich am Heiligen Abend eine Anzahl ‚Einsamer‘ … im ‚Jugendraum‘ unseres Hauses zusammenfanden, darunter eine Mohammedanerin. Sie war kurz vor dem Fest obdachlos zu uns gekommen und nahm mit sichtlicher Freude an allem, auch an den verschiedenen Gottesdiensten, teil. Gern nahm sie ein Neues Testament, in dem sie hier schon vieles nachgelesen hatte, in ihre ferne Heimat mit.“23
Diese ersten Pläne und Initiativen Höpfners und der EMO können als die sachlichen Anfangspunkte des Orientdienstes verstanden werden. Die Bezeichnung „Orientdienst“24 findet sich erstmals Mitte 1962 in einer gleichnamigen Beilage 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. Bannach, Brief an Höpfner, 19.1.1962, 3, EMW-Archiv, DEMR2, AG 0454. Protokoll AAS 17.1.1963, vgl. Protokoll VS 4.6.1964, EMO-Archiv, PEMOVS 515. Protokolle VS 4.6.1964; AAS 11.6.1964, EMO-Archiv, PEMOVS 515–516. Vgl. Protokoll VS 26.3.1965, EMO-Archiv, PEMOVS 535. Zu Y.K. siehe VII. A. 3. Stellenanzeige in: NEMO 6/1961, 4, kursiv FW. Protokoll VS EMO, 4.8.1961 EMO-Archiv. Höpfner, Unser Dienst, 1961, 3. Unruh, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 1/1962, 11. Die Bezeichnung Orientdienst grenzte den neuen Arbeitszweig im Blick auf die Zielgruppe vom Südländerdienst der Evangelischen Allianz sowie dem Evangelischen Ausländerdienst Solingen ab, die beide 1961 entstanden waren und sich zunächst auf italienische, griechische und spanische Arbeitsmigranten konzentrierten (s. IV.B.3.). Der Orientbegriff hatte zudem
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zur Juli-Ausgabe der Nachrichten der EMO, die den Lesern Tonbänder in arabischer Sprache anbot.25 Verankert wurde der neue Arbeitsschwerpunkt in der Heimatarbeit der EMO, die nun die missionarische Arbeit unter Muslimen in Oberägypten und in Deutschland in transnationaler Perspektive verbinden sollte: „Wir können unsere Heimatarbeit nicht mehr nur auf das Ziel ausrichten, einen für Ägypten betenden und opfernden Freundeskreis zu gewinnen, es sollte vielmehr von unserem Besuchsdienst Anregung und Hilfe ausgehen auf alle die Kreise, sie sich um eine Begegnung mit hiesigen Mohammedanern bemühen. Unseren Reisepredigern Herrn Hölzel, Herrn Pfanschilling und Fräulein Christine Hahn fällt damit eine sehr schwere Aufgabe zu.“ 26
Die Suche nach einem vollzeitlichen Mitarbeiter für die Begegnungsarbeit im entstehenden Orientdienst gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet. In den christlichen Gemeinden und im Freundeskreis der Mission war die Resonanz begrenzt. Höpfner betonte nun verstärkt den besonderen kairos der muslimischen Migration: „Orient und Okzident begegnen einander heute in einer noch nie dagewesenen Form. Gegenwärtig befinden sich etwa 50.000 Muslims als Studenten, Praktikanten und Arbeiter in der Bundesrepublik.“ Gleichzeitig mahnte er eindringlich: „Diesen orientalischen Gästen bleiben unserer sozialen und kirchlichen Verhältnisse nicht verborgen. Es sind nicht immer vorbildliche Gemeindeverhältnisse, die sie antreffen. Meistens werden sie gar nicht eingeladen, um an dem Leben der Gemeinde teilzunehmen. Wie fremd bleiben uns oft die Menschen! Wer sieht hier überhaupt eine offene Tür? Mit welchem Recht können und dürfen wir uns auf die Arbeit in … Assuan beschränken … während wir die vielen Orientalen, die heute unserer Gäste sind, wieder in ihre Heimat entlassen, ohne ein Wort von unserem Herrn Jesus Christus gesagt zu haben? Erscheint uns das alles zu mühevoll? Zu wenig romantisch? … Wo sind die kontaktfähigen Menschen, die sich für diese Aufgabe der Begegnung finden? Oder wollen wir weglaufen, weil uns die Missionsaufgabe in dieser Form zu schwer und zu wenig erfolgreich zu sein scheint?“ 27
c) Diakonische Präsenz unter türkischen Migrantinnen Im Juli 1963 konnte schließlich die christliche Sozialarbeiterin R.J., die zuvor im Weltfriedensdienst tätig war,28 angestellt werden, um in der Begegnungsarbeit unter „Türkinnen, die in der hessischen Industrie arbeiten“,29 eingesetzt zu werden.30 Im Hintergrund dieses Projektes stand das missionstheologische Konzept der christlichen Präsenz, das in der Goßner-Mission im nahegelegenen Mainz-
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Anfang der 1960er Jahre neu Konjunkur, wie auch die Gründung des Deutschen OrientInstituts (Hamburg) 1960 zeigt, vgl. Loimeier, Orientalismus, 2001, 75. Vgl. den Hinweis bei Pfanschilling, Begegnung und Bekehrung, in: NEMO 6, 1962, 11 sowie Höpfner, Jahresbericht 1962/63, in: NEMO 3/1963, 36. Höpfner, Jahresbericht 1961/62, in: NEMO 3/1962, 4. Höpfner, Jahresbericht 1962/63, in: NEMO 3/1963, 30–37. Vgl. Protokoll AAS 13.6.63, EMO-Archiv, PEMOVS 493–492. Höpfner in der Einleitung zu R.J., Kontakte, 1963, 56. Vgl. Protokoll AAS 13.6.63, EMO-Archiv, PEMOVS 493–492.
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Kastel bereits seit den 1950er Jahren leitend war und von Horst Symanowski, Pfarrer in der Goßner-Mission, so beschrieben wurde: „Die Fleischwerdung Gottes vollzog sich in der Welt. Jesus Christus wartete nicht im Tempel ..., sondern war unter denen zu finden, die keinen Zugang zum Tempel hatten. ... Sicher ist, daß die Kirche dieser Welt nicht ihren Rhythmus aufzwingen kann. Sie könnte aber versuchen, am Leben des unter dieses Gesetz geratenen Menschen teilzunehmen. Der Versuch beginnt mit dem Hineingehen in diese neue Welt, mit dem Dasein.“31
R.J. begann ihren missionarischen Präsenzdienst in einer Textilfirma in Offenbach, in der 50 türkische Gastarbeiterinnen tätig waren.32 Die Industriemissionarin, die zwar kein Türkisch sprach, nun aber „in Arbeits- und Wohngemeinschaft“33 mit den türkischen Frauen lebte, stand vor einer schwer zu lösenden Aufgabe. Sie beschrieb ihre Tätigkeit so: „Von diesem Zeitpunkt ab verlief mein Alltag im gleichen Rhythmus wie der der Orientalinnen. Ich erhielt eine Stechkarte und war nun für Monate eine Fabrikarbeiterin wie meine neuen türkischen Freunde. Abends lebte ich zusammen mit ihnen im Wohnheim. Das Zimmer teilte ich mit drei anderen. … Die Ämter der Stadt waren mir bald nicht mehr fremd. … Ich begleitete meine Kranken zu den Ärzten und musste auch da Erfahrungen sammeln, die nicht immer zu den besten gehörten. Viele Ärzte haben für den deutschen Kassenpatienten schon kaum Zeit, wie viel weniger für den sprachunkundigen und hilflosen Gastarbeiter.“ 34
Der anfängliche Elan machte bald der Ernüchterung Platz. Vermittelnde Gespräche zwischen Firmenleitung und Gastarbeiterinnen waren nicht nur aufgrund der Sprachprobleme schwierig: „Das Ausbalancieren der ständig schwankenden Waage [war] für mich nicht ganz einfach. … Wie oft wurde ich in diesem Bemühen enttäuscht und zwar von beiden Seiten: Die Türkinnen konnten nicht begreifen und verstehen und die Deutschen auch nicht.“35 Aus der Perspektive der Gastarbeiterinnen stellte sich die missionarische Präsenz so dar: „Also, sie [R.J.] hat vorweihnachtlich, in der Adventszeit, in jedem Zimmer Kerzen verteilt und auch Schmuck und so, vor Weihnachten. Und sie kam immer zu uns .... Beobachtete uns immer. Natürlich waren da viele türkische Frauen. Das war ja ein türkisches Wohnheim. Und da dachten sie: was will die Frau hier? Will sie Polizistin sein oder was macht sie? Sie waren alle sehr misstrauisch. Und die Frau R.J. hat sich mit mir und ein paar anderen Türken befreundet.“36
31 Symanowski, Die Kirche in der Welt der Arbeit (1955), zit. bei Beyreuther, Kirche, 1968, 267–268; zu Symanowski s. auch III.A.4.a). Das Konzept der Präsenz geht auf den diakonischen Dienst des französischen Islammissionars Charles de Foucauld (1858–1916) unter den muslimischen Tuareg in Nordafrika zurück, vgl. Yates, Christian Mission, 1996, 136–137. Es wurde in den 1950er Jahren u.a. durch den Einfluss Kenneth A. Craggs (s. II.C.1. und 2.) als zukunftsweisendes missionarisches Modell wiederentdeckt, vgl. die ab 1956 von Max Warren herausgegebene Buchreihe Christian Presence sowie Margull, Theologie der missionarischen Verkündigung, 1959, 163ff. 32 R.J., Kontakte, 1963, 56. Dies., Kopfsprung, 1963, 71. 33 Höpfner einleitend zu R.J., Kontakte, 1963, 56. 34 R.J., Rhythmus, 1964, 13–15. 35 Ebd. 14. 36 Y.K., Interview, 2009.
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2. Die Freie Arbeitsgemeinschaft Orientdienst a) Von Königsfeld über Arnoldshain nach Dortmund Bereits im September 1962 war deutlich, dass Höpfner den Orientdienst nicht auf die EMO beschränkt sah. Am Rande einer evangelischen Missionstagung in Königsfeld arrangierte Höpfner eine „kleine Besprechung der Orient-Gesellschaften“,37 an der die Evangelische Karmelmission, der Hilfsbund für das Liebeswerk im Orient und die Christoffel-Blindenmission teilnahmen. Höpfner regte an, eine „Arbeitsgemeinschaft der Islam-Missionen“ zu bilden, um gemeinsame Anliegen bei der EKD und beim DEMR besser vertreten zu können, vor allem aber zur „Zusammenarbeit bei/für unseren ‚Orient-Dienst“.38 Ein nächstes Treffen mit erweiterter Teilnehmergruppe wurde für den Evangelischen Kirchentag im Juli 1963 in Dortmund anvisiert. Einen wichtigen Impuls für die Gesamtentwicklung vermittelte zuvor die ÖRK-Konferenz über Fragen der ausländischen Arbeitnehmer in Westeuropa, die vom 10. bis 15. Juni 1963 in Arnoldshain tagte, um den „Kirchen die Probleme der europäischen Migration vor Augen zu halten“.39 Die Konferenz betonte, dass „der Strom der ausländischen Arbeitnehmer … die Kirche [zwingt], ihren Dienst und ihre Verkündigung neu und zeitgemäss zu durchdenken“.40 Obwohl das christliche Zeugnis gegenüber „nichtchristlichen, hauptsächlich islamischen Arbeitern aus dem Ausland“ in Arnoldshain nicht explizit in den Blick kam, wie der für Migrationsfragen zuständige ÖRK-Referent Boudewijn Sjollema41 beklagte,42 habe die Beschäftigung mit der Migrationsbewegung „ganz neue, im Leben der Kirchen bisher unbekannte Dimensionen des Dienstes der Christen für die Welt, z.B. an dem Dienst für die mohammedanischen Türken, … sichtbar gemacht“. Sjollema fragte: „Welche Form sollen der Dienst und die Mission unter ihnen annehmen?“43 Diese Frage traf sowohl im DEMR als auch bei Höpfner auf einen Nerv. In Absprache mit Martin Pörksen44 lud Höpfner für den 26. Juli 1963 zu einer Arbeitskonferenz unter dem Thema „Unsere Betreuung der orientalischen Ausländer“ auf dem Kirchentag in Dortmund ein.45 Die eingeladenen Missionen, die 37 Pfanschilling, Handschriftliche Notiz 26.9.1962, OD-Archiv, OD Protokolle 1963–1975. 38 Ebd. 39 ÖRK, Arnoldshain, 1963, 9. Der Auschuss wurde im März 1964 in Villemetrie bei Paris konstituiert. 40 ÖRK, Arnoldshain, 1963, 6. 41 Boudewijn Sjollema, niederländischer Soziologe und seit 1957 Referent für Flüchtlings- und Migrationsfragen im ÖRK in Genf, wurde 1969 erster Direktor des neu gegründeten Programms zur Bekämpfung von Rassismus des ÖRK, vgl. www.oikoumene.org. 42 Sjollema, Arnoldshainer Konferenz, o.J., 7. 43 Ebd. 9. 44 Zu Pörksen siehe III.A.5. sowie III.B.4. 45 Höpfner schrieb „im Auftrag von Missionsdirektor Dr. Pörksen, Deutscher Evangelischer Missionsrat, Hamburg“ „an … alle im Vorderen Orient tätigen deutschen Missionsgesellschaften“, 18.6.1963, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Zu den Eingeladenen gehörten neben
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Höpfner summarisch als „Orientmissionen“ bezeichnete, stellten die Basis der wenige Monate später in Wiesbaden gegründeten Freien Arbeitsgemeinschaft Orientdienst dar. Auf der Dortmunder Arbeitskonferenz zog man die Bilanz bisheriger Bemühungen, betonte die Notwendigkeit des Abbaus fremdreligiöser Klischees sowie einer ganzheitlichen und verletzlichen missionarischen Begegnung. Höpfner fasste zusammen: „Wir werden einem Moslem nur etwas sagen können, wenn unser Sein sich als christlich erweist. Christliches Sein, christliche Existenz, bedeutet aber Armut vor Gott, oft auch inVerlegenheit-Sein dem Mitmenschen gegenüber. Christliche Existenz heißt, sich schuldig wissen vor Gott, möglicherweise auch dem Moslem gegenüber, der uns Europäern eine Haltung zum Ausdruck bringt, die ihre Prägung in den Jahrhunderten islamisch-christlicher Auseinandersetzung gefunden hat. Christliches Sein heißt aus der Vergebung leben, in den Erlöser Jesus Christus eingepflanzt sein ... So heißt dieses In-Christus-Sein in seiner Liebe stehen, von der Paulus sagt, sie eifere nicht …, sie blähe sich nicht auf (doch wohl im Bewußtsein, die überlegenere Religion zu besitzen), sie suche nicht das ihre (das heißt doch wohl, den Beifall der anderen oder den Triumph über die anderen in der Diskussion oder die Überlegenheit in der Haltung).“46
Da man sich in Dortmund jedoch nicht auf konkrete Koordinationspläne für einen gemeinsamen Orientdienst einigen konnte, regte Höpfner ein weiteres Planungstreffen auf dem DEMT in Berlin-Spandau im September an,47 um die Missionen mit Unterstützung des DEMR davon zu überzeugen, „dass die Arbeit wenigstens auf verschiedenen Sektoren koordiniert werden könnte“.48 In der Einladung warb er: „Man sollte wissen, welche Stellen Literatur, Tonbänder, Dias usw. vermitteln. Auch sollte bekannt sein, welche Missionsgesellschaften Mitarbeiter für die Arbeit zur Verfügung stellen können, die Arabisch, Türkisch oder Persisch sprechen.“49 Mit diesem Minimalziel im Gepäck wollte Höpfner nach Spandau reisen, wo er auf Bitte Pörksens auch die Islam-Arbeitsgruppe leiten sollte.50 Kurz vorher
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der oben erwähnten Kerngruppe von Königsfeld: Bibelmission in Deutschland (Wuppertal), Deutscher Frauenmissionsgebetsbund, Diakonissenanstalt Kaiserswerth, Ev. Akademie Schleswig-Holstein, Ev. Ausländerdienst Solingen, Ev. Frauenarbeit in Deutschland (Frankfurt), Ev. Verein für das Syrische Waisenhaus in Jerusalem (Köln-Dellbrück), Hildesheimer Blindenmission, Jerusalemsverein (Berlin-Dahlem), Kirchliches Außenamt (Frankfurt), Missionsbund „Licht im Osten“ (Stuttgart), Missionsgesellschaft der Methodistenkirche in Deutschland (Frankfurt), Morgenländische Frauenmission (Berlin-Lichterfelde), CVJMVerband Deutschland (Kassel). Höpfner, Verlegenheit, 1963, 53, kursiv FW. In Höpfners Bericht werden missionstheologische Einflüsse von Kenneth Cragg sichtbar (siehe II.C.2.), wie sie später im Verständnis der Verwundbarkeit des christlichen Zeugnisses bei Margull noch deutlicher werden. Margull, Verwundbarkeit, 1974. Höpfner hatte Margull 1960 neben Martin Niemöller, dem Kirchenpräsidenten der EKHN, als Hauptredner zum Herbstmissionsfest der EMO eingeladen, vgl. Pfanschilling, Ökumenische Missionstage, in: NEMO 6/1960, 11. Höpfner, Einladung zur Sonderkonferenz der Orientmissionen, 1963. Höpfner, Brief an Pörksen, 29.7.1963, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454. Höpfner, Einladung zur Sonderkonferenz der Orientmissionen, 1963. Höpfner, Brief an Pörksen, 29.7.1963, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454.
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sagte er seine Teilnahme jedoch ab, da er in einer dringenden Missionsangelegenheit nach Ägypten reisen müsse.51 b) Die Empfehlung der Islam-Arbeitsgruppe auf dem DEMT 1963 in Spandau Der DEMT tagte vom 17. bis 20. September 1963 in Berlin-Spandau. Themenschwerpunkt war der Islam, das Hauptreferat, „Islam als Frage an die Kirche“, hielt der niederländische Missionstheologe Arend Theodor van Leeuwen.52 Darin vertrat er die These, dass der weltweite Säkularisierungsprozess zu einer Annäherung des Islam an das Christentum führen werde, da die Säkularisierung ihre Wurzeln letztlich im Christentum und der prophetischen („theokratischen“) Tradition des Alten Testaments habe.53 Die Mission des Christentums in der islamischen Welt müsse darin bestehen, diese Prozesse der Säkularisierung, der nationalen Erneuerung und einer säkularen Re-Interpretation des Islam zu fördern.54 In der Islam-Arbeitsgruppe, geleitet von Theodor Müller-Krüger,55 wurde Van Leeuwens Referat kritisch diskutiert und als zu optimistisch bewertet. Die säkulare Situation habe den Islam „ nicht dazu bewegt …, eine Frage an die Kirche zu stellen oder auch nur zu einem Gespräch mit dem sogenannten Christentum bereit zu sein“. Vielmehr höhle der Säkularismus sowohl den Islam als auch die christlichen Kirchen innerlich aus. Stattdessen wurde auf der Linie Freytags und Vicedoms (siehe II.B.4.c. und II.C.4.) betont, wir „sollten offen sein, für alle Gelegenheiten, die sich für eine missionarische Begegnung ergeben … Es erscheint uns bedeutsam, in der lebendigen christlichen Gemeinde die eigentliche Möglichkeit für eine wirksame Arbeit in Moslem-Gebieten zu sehen“.56 Ganz in diesem Sinne erfolgte dann auch die von Höpfner erhoffte Empfehlung der Arbeitsgruppe für eine „praktische Planung und Koordinierung“ einer Islamarbeit in Deutschland. Noch vor seiner Abreise hatte Höpfner Müller-Krüger
51 Höpfner, Brief an Müller-Krüger, 9.9.1963, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454: „Lieber Bruder Müller-Krüger! Es tut mir außerordentlich leid, dass ich die Sache, die mir sehr am Herzen liegt, nicht selbst vertreten kann. … Ich reise eben ab nach Ägypten.“ 52 Arend Th. van Leeuwen (1918–1993) war Schüler von Hendrik Kraemer und hatte mit einer Arbeit über al-Ghazali promoviert. Er war Missionar der Niederländisch Reformierten Kirche in Indonesien und leitete von 1960–1971 das Institut Kerk en Wereld in Driebergen, vgl. Jeroense, Arend Th. van Leeuwen, BDCM, 1998, 392. 53 Vgl. [Protokoll des DEMT 17.–19. September], EMW-Archiv, DEMR2/0509; Bericht der Arbeitsgruppe „Islam“ vom DEMT 1963, OD-Archiv, Ordner 1963–75. Vgl. Pörksen, Vier Jahrzehnte, 1974, 47–48. 54 Vgl. Hallencreutz, New Approaches, 1969, 69. 55 Theodor Müller-Krüger (1902–1980), 1930–1961 Missionar der Rheinischen Mission und Professor an der Theologischen Hochschule in Jakarata, Indonesien. 1962–1968 Studienleiter im DEMR, Hamburg, und Schriftleiter der EMZ. 56 Bericht der Arbeitsgruppe „Islam“ vom DEMT 1963, 1, OD-Archiv. Vgl. Höpfner/Hoffmann, Bericht über die Gründung der freien Arbeitsgemeinschaft „Orientdienst“, 2.12.1963, EMWArchiv, DEMR3, AG0818; Holsten, Muslim Presence, 1966, 449.
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gebeten, den Entscheidungsprozess der „Orientmissionen“ zu moderieren.57 Die Teilnehmer der Arbeitsgruppe58 konnten zwar keinen formalen Beschluss fassen, einigten sich aber auf die Empfehlung an den DEMR, einen „Islam-Ausschuss in Bezug auf die Islam-Arbeit in Deutschland“ zu bilden, „wobei tunlichst die Mohammedaner-Mission in Wiesbaden auf Grund ihrer Tätigkeit und Erfahrungen leitend sein sollte“. Diese Empfehlung wurde zur Grundlage des Orientdienstes: „a) Die ständig wachsende Zahl moslemischer Arbeitskräfte aus dem Nahen Osten (Türkei), sowie von Leuten, die zur Ausbildung als Praktikanten usw. in Deutschland sind, macht dringend die Betreuung unsererseits nötig. Die Gruppe empfiehlt, diejenigen, die bisher Versuche zur Sammlung und Betreuung von Moslems dieser Art unternommen haben, zu einer Koordinierung und zum Austausch der Erfahrungen ihrer Bemühungen zusammenzufassen. Am besten geschieht das durch einen besonderen Islam-Ausschuss (in Bezug auf die Islam-Arbeit in Deutschland), wobei tunlichst die Mohammedaner-Mission in Wiesbaden auf Grund ihrer Tätigkeit und Erfahrungen leitend sein sollte. Dieser Ausschuss sollte auch die Beschaffung geeigneter Verteil-Literatur in Arabisch, Türkisch, Persisch usw. auf sich nehmen. Er sollte auch Verbindung suchen mit dem Kirchlichen Aussenamt sowie mit Arbeitsämtern, Industrie usw., die mit Moslems zu tun haben. Ein besonderer Aspekt der Arbeit liegt in der Aufklärung deutscher Gemeinden über die Frage der Mischehen mit Moslems. Es wird u.a. angeregt, in den Jugendorganisationen Vorträge und Diskussionen über diese Fragen zu halten und die nötige Aufklärungsliteratur zu beschaffen.“59
In Abschnitt b) der Empfehlung wurden internationale Aspekte der Islambegegnung aufgegriffen. Hier empfahl die Arbeitsgruppe dem DEMR die Mitarbeit in dem 1958 gegründeten Islam-in-Afrika-Projekt (IAP).60 Abschnitt c) thematisierte dann wieder auf den deutschen Kontext bezogene Aufgabenstellungen, die für die Entstehung des OD relevant wurden: „c) Da in den deutschen Gemeinden ein starkes Bedürfnis besteht, besser als bisher über den Islam unterrichtet zu werden, wird vorgeschlagen: 1) dass ein Kursus über Islam, etwa 2 Wochen, für Reisesekretäre von Gesellschaften gehalten wird, wobei auch interessierte Laien gleichen Standards zugelassen sein könnten; 2) dass für Berufskräfte der Gemeindedienste, Fürsorger und Fürsorgerinnen usw. Kurse über Islam und die Betreuung von Moslems gehal-
57 Vgl. Höpfner an T. Müller-Krüger, 9.9.1963, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454. 58 Neben Müller-Krüger und van Leeuwen nahmen 23 weitere Missionsvertreter und Fachleute an der Arbeitsgruppe teil, u.a. Viola Aschke-Lepsius (AG Ev. Frauenmissionen), Joseph Busse (Bethel-Mission), Ernst Dammann (Afrikanist, Universität Marburg), Paul Gäbler (Pfarrer und Dozent für Missionswissenschaft, Universität Göttingen), Hermann Haeberle (Ev. Verein für das Syrische Waisenhaus), Ernst Henschen (Breklumer Mission), Gottfried Klapper (VELKD), Martin Kühhirt (Bethel-Mission), Ato Hagos Legesse (Radio Voice of the Gospel/LWB, Addis Abeba), Edmund Minkner (Dr. Lepsius’ Deutsche Orient-Mission), Gerhard Sander (Deutscher Hilfsbund für Christliches Liebeswerk im Orient), Erich Schmiedinghoff (Ev. Karmelmission), Siegfried Wiesinger (CBM) u.a., vgl. DEMT 1963, EMW-Archiv, DEMR2, AG0509. 59 Bericht der Arbeitsgruppe „Islam“ vom DEMT 1963, OD-Archiv, Ordner 1963–75. Unterstreichungen im Original. 60 Zum IAP siehe II.C.3. Ende der 1970er entstand der Islam-in-Europa-Auschuss in der KEK. Der Orientdienst kann als deutscher Vorläufer dieser Entwicklung gesehen werden, siehe unten VI.C.5.
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst ten werden; 3) dass Pfarrkollegs über den Islam gehalten werden; Es wird vorgeschlagen, die Landeskirchenämter von solchen Kursen zu unterrichten.“ 61
c) Die Gründung der Freien Arbeitsgemeinschaft Orientdienst am 2.12.1963 Nach seiner Rückkehr aus Ägypten reagierte Höpfner umgehend auf die Empfehlungen des DEMT und lud die Gruppe der Orientmissionen in Absprache mit dem DEMR für den 2. Dezember 1963 nach Wiesbaden ein, um die Freie Arbeitsgemeinschaft Orientdienst ins Leben zu rufen.62 Am Gründungstreffen nahmen 17 Vertreter von kirchlichen und missionarischen Institutionen teil, die sich nur teilweise mit den Orientmissionen von Königfeld, Dortmund und Spandau deckten.63 Die EMO und der DEMR fungierten als Veranstalter. Die EKHN, deren Missionskommission in enger Abstimmung mit der EMO fünf Jahre zuvor Höpfners Einsatz unter Migranten im Gebiet der Landeskirche anvisiert hatte,64 hatte ebenfalls einen Vertreter geschickt. Weitere Vertreter kamen von folgenden Missionen und Kirchen: Bibelmission in Deutschland, Hilfsbund für christliches Liebeswerk im Orient, Evangelischer Ausländerdienst Solingen, Evangelische Frauenarbeit in Deutschland, Ausländerdienst der Evangelischen Gesellschaft (eva) Stuttgart (Eugen Jäger),65 Mission für Süd-Ost-Europa, Lutherkirche, Wiesbaden. In dem von Höpfner und DEMR-Referent Gerhard Hoffmann verfassten Bericht über die Gründung werden die Gründungsbeschlüsse, die an den Empfehlungen des DEMT in Spandau anknüpfen, wiedergegeben:66 „Die Versammelten fassten die folgenden drei Beschlüsse: 1.) Die deutschen Orientmissionen bilden eine freie Arbeitsgemeinschaft 'Orientdienst' zur Erfüllung der missionarischen Aufgaben, die uns durch die Anwesenheit muslimischer Orientalen in Deutschland erwachsen. Hierzu werden auch die anderen Missionsgesellschaften eingeladen, die an dieser Aufgabe mitarbeiten wollen. Mit diesem Beschluss werden die Emp-
61 Bericht der Arbeitsgruppe „Islam“ vom DEMT 1963, OD-Archiv, Ordner 1963–75. 62 Höpfner, [Einladungsschreiben an die Orientmissionen], 9.11.1963, EMW-Archiv, DEMR 3/0818. 63 Die Teilnehmer gehen aus einer handschriftlichen Anwesenheitsliste hervor. OD-Archiv, Ordner Protokolle 1964–1975. Ob die Teilnehmer als offizielle Vertreter ihrer Institution, als Beobachter oder als Privatpersonen teilnahmen, geht aus den Unterlagen nicht hervor und wurde vermutlich nicht spezifiziert. 64 Siehe V.C.4.c). 65 Diakon Eugen Jäger (1925–2009) „war er einer der ersten in Stuttgart, der sich im sozialen Bereich berufsmäßig um Migranten kümmerte“. Er baute den Ausländerdienst der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) in Zusammenarbeit mit den diakonischen Stellen der württembergischen Landeskirche und der Stadt Stuttgart auf. eva-Nachrichtenarchiv (1.12.2009), Eugen Jäger ist gestorben, www.eva-stuttgart.de, abgerufen, 7.6.2011. 66 Höpfner/Hoffmann, [Bericht von der Tagung der Orientmissionen am 2.12.1963], EMWArchiv, DEMR3, AG0818; DEMR2, AG0454; OD-Archiv, OP6375. Auszüge des Berichts und der Beschlüsse wurden auch in der ersten Ausgabe des Informationsdienst (ID) 1/1964 sowie in Höpfners Jahresbericht 1963/64 in NEMO 2/1964, 34–39 abgedruckt.
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fehlungen der Arbeitsgruppe ‚Islam‘ beim Deutschen Evangelischen Missionstag 1963 aufgenommen, in denen es heißt: [Hier wird Abschnitt a) aus den Empfehlungen der DEMT-Arbeitsgruppe vollständig zitiert].67 Die Arbeitsgemeinschaft versammelt sich je nach Bedarf, jedoch mindestens 2 mal im Jahre, um Erfahrungen auszutauschen und eine gewisse Koordinierung der verschiedenen Aufgaben vorzunehmen. 2.) Im Einklang mit den Empfehlungen des DEMT 1963 setzte sich die erwähnte Arbeitsgemeinschaft insbesondere folgenden Aufgaben: Beschaffung geeigneter Verteil-Literatur in Arabisch, Türkisch, Persisch usw., Veranstaltungen [sic!] von Kursen über den Islam für Mitarbeiter in der Betreuung von Orientalen, Veranstaltungen [sic] von Kursen zur Zurüstung unserer Gemeinden für die Begegnung mit Muslims (christliches Zeugnis an Muslims, Frage der Mischehe etc.). 3.) Die Arbeitsgemeinschaft beauftragt Pfr. Höpfner, einen vierteljährlichen ‚Informationsdienst‘ über Vorgänge in der islamischen Welt und über literarische Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Islamistik und Orientalistik herauszugeben. Die am ‚Orientdienst‘ beteiligten Missionen werden gebeten, geeignetes Material beizutragen.“
Über diese Beschlüsse hinaus werden folgende Empfehlungen und Absichtserklärungen gegeben: „[1] Angesichts der Größe der gestellten Aufgaben wird empfohlen, der Ev. Mission in Oberägypten einen theologischen Mitarbeiter für derartige übergesellschaftliche Dienste zuzuordnen, wobei die Frage der Beschaffung der finanziellen Mittel noch gemeinsam zu klären wäre. [2] Dr. Müller stellt in Aussicht, dass die Bibelmission zur Verbreitung von türkischen Bibeln und Neuen Testamenten usw. unter den hiesigen Gastarbeitern einen türkischen Mitarbeiter anstellen wird, falls sich ein geeigneter Mann findet. Außerdem wäre die Bibelgesellschaft bereit, einen Beitrag von DM 120,- jährlich für die Herausgabe des ‚Informationsdienstes‘ … zu leisten. [3] Die Arbeitsgemeinschaft empfiehlt ausserdem, in loser Folge Zeitschriften in Arabisch und Türkisch herauszugeben. [4] Zu den Zusammenkünften sollen die Herren Prof. Dr. Rapp68 und Prof. Dr. Holsten69 eingeladen und um Mitarbeit gebeten werden.“
Mit der Gründung der freien Arbeitsgemeinschaft OD hatten sowohl Höpfner als auch der DEMR ein wichtiges Ziel im Blick auf die missionarische Begegnung mit Muslimen in Deutschland erreicht. Die Struktur einer Arbeitsgemeinschaft, definiert als freier Zusammenschluss „zur Erreichung bestimmter Ziele“,70 lag nahe und konnte sich an der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (EAGWM), der Verbindungsgruppe zwischen DEMR und EKD, orientieren, die „den Prozess der Integration … fördern und übergreifende Aufgaben ökumenischer Mission … unterstützen“71 wollte. An diesem Strukturkonzept konnte der OD anknüpfen, die sich die „Erfüllung der missionarischen Aufgaben, die uns 67 Siehe IV.A.2.b). 68 Ludwig Rapp (1904–1977) war 1932–1938 Missionar der Basler Mission in Ghana, von 1946–1972 Professor für Christliche Orientalistik und Afrikanistik an der Universität Mainz. Er referierte 1964 und 1974 auf Tagungen des OD in Wiesbaden, siehe B.1. 69 Zu Holsten siehe II.C.4.a). 70 Moritzen, Arbeitsgemeinschaften für Mission in Deutschland, in: LWM, 1975, 36. 71 Ebd.
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durch die Anwesenheit muslimischer Orientalen in Deutschland erwachsen“, zum Ziel gesetzt hatte. Als „freie“ Arbeitsgemeinschaft war der OD darüber hinaus an keine institutionellen Vorgaben gebunden, prinzipiell offen für alle, die seine Zielsetzung teilten. Auch die Spandauer Empfehlung des DEMT hatte man frei interpretiert. Während Spandau von einem „Islam-Ausschuss“ (des DEMR?) gesprochen hatte, war in Wiesbaden eine freie Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen worden, womit eine strukturelle Verbindlichkeit gegenüber dem DEMR ausgeschlossen sowie die Beteiligung von Gruppen, die keine Mitglieder im DEMT waren, ermöglicht wurde.72 (Für diese Interpretation spricht auch, dass der DEMR einige Zeit später eine eigene Islam-Kommission gründete, siehe unten IV.B.2). d) Höpfners Freistellung für die Migrantenarbeit in der EKHN Eine offene Frage der Gründungsversammlung war die „eine[s] theologischen Mitarbeiter[s]“ für den OD. Erstaunlicherweise wurde die Frage kurz darauf beim Treffen der Arbeitsgemeinschaft „Kirche und Mission“ der südwestdeutschen Landeskirchen (Stuttgart) aufgegriffen. Oberkirchenrat Hans-Erich Hess (EKHN) brachte dort gegenüber der EMO die „Hoffnung“ zum Ausdruck, „dass die finanziellen Mittel für die Einstellung eines Theologen von der Kirchenvertung (sic!) der Evang. Kirche in Hessen und Nassau übernommen würden“.73 Offensichtlich war die EMO bereits seit längerem (vor der Gründung des OD) auf der Suche nach einem Mitarbeiter gewesen, auch die Bewerbung eines Pfarrers aus BerlinSiemensstadt (Spandau) lag bereits vor und wurde vom EMO-Vorstand befürwortet.74 In einem Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des EMO-Vorstands, Pfarrer Rudolf Bars, und Oberkirchenrat Hess „über die Frage der Einstellung eines Pfarrers in den ‚Orientdienst‘“75 schlug Hess nun jedoch Höpfner vor, der neben dem Inspektorat der EMO zwar noch eine halbe Stelle in der Krankenhausseelsorge in Wiesbaden-Stadt versah, aber über die notwendigen Sprach-, Kultur- und Islamkenntnisse verfüge. Bars berichtete im EMO-Vorstand: „a) Die Kirchenleitung wäre bereit, das Projekt ‚Orientdienst‘ zu unterstützen. Über den Abtrag [sic!] auf 25.000 DM Beihilfe zu diesem Projekt würde in der nächsten Sitzung der Missionskammer (14.2.1964) beraten werden. b) Eine Übernahme von Pfarrer F. [Berlin-Siemensstadt] in die Ev. Kirche in Hessen und Nassau hätte erst nach längerer Überprüfung Aussicht auf Verwirklichung. c) Eine Beihilfe des Projekts ‚Orientdienst‘ in der gewünschten Höhe von Seiten der Kirchenleitung käme nur in Frage, wenn ein Pfarrer gefunden wäre, der auch die entsprechende Qualifikation (Sprach-, Islamkenntnisse und Auslandserfahrung) aufweisen würde.
72 Vgl. Paul Gerhardt Buttler, der als DEMR-Referent Höpfner gegenüber anmerkte, dass „statt der angeregten DEMR-Kommission seinerzeit eine freie Arbeitsgemeinschaft ins Leben kam“, Buttler, Brief an Höpfner, 7.1.1972, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 73 Zit. im Protokoll Vorstandssitzung, 5.12.1963, EMO-Archiv, PEMOVS 507. 74 Protokoll Vorstandssitzung, 5.12.1963, EMO-Archiv, PEMOVS 507. 75 Protokoll Vorstandssitzung, 10.1.1964, EMO-Archiv PEMOVS 509.
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d) Von daher schlägt OKR Hess folgenden Abänderungsvorschlag unseres Antrages vor: Die Ev. Mission in Oberägypten solle die Kirchenleitung bitten, Pfarrer Höpfner von seinen Verpflichtungen als Krankenhausseelsorger zu entbinden und ihn vollamtlich für die Aufgaben, die sich der ‚Orientdienst‘ gestellt hat, freizugeben.“76
Der EMO-Vorstand folgte dem Vorschlag von Hess und beschloss, „eine Berufung von Pfarrer Höpfner in den oben genannten Dienst vorrangig“ anzustreben und bei der Kirchenleitung einen entsprechenden Antrag zu stellen.77 In der EKHN-Missionskammer stellte Bars den neu gegründeten Orientdienst (TOP „Seelsorge an Moslems in Deutschland“) vor. Er wolle „Informationen über den Islam liefern und helfen, christliches Schrifttum an Moslems in Deutschland zu verteilen“.78 In der anschließenden Aussprache machten Mitglieder der Kammer deutlich, „dass dies zuerst eine diakonische, nicht eine (im engeren Sinn) missionarische Aufgabe ist. Der Auftrag soll auf unser Kirchengebiet beschränkt bleiben, das ist ein reichliches Mass an Arbeit. Zahlenmaterial ist als Grundlage zu beschaffen. Die Gemeinden müssen besser unterrichtet werden, besonders die Stadtgemeinden.“ Es wurde beschlossen, dass EKHN, DWHN (Walter Rathgeber)79 und EMO gemeinsam „einen Vorschlag ausarbeiten, dass Höpfner freigestellt wird für diese Arbeit“.80 Am 2. März 1964 bewilligte die Kirchenleitung die Freistellung: „Auf Antrag der Oberägypten-Mission in Wiesbaden beschließt die Kirchenleitung, den Pfarrer im pfarramtlichen Hilfsdienst Willi Höpfner, z.Zt. mit der Versehung der II. Krankenhauspfarrstelle in Wiesbaden, Dekanat Wiesbaden-Stadt, beauftragt, zunächst für ein Jahr für die Betreuung der im Gebiet der EKHN als Gastarbeiter tätigen Moslems freizustellen.“81 Für seine Tätigkeit, die offiziell am 1. Juni 1964 beginnen sollte, erhielt Höpfner von der Kirchenleitung die folgende Dienstanweisung: „§ 1: Die Dienstsitz ist Wiesbaden, Walkmühlstr. 8. Der Aufgabenbereich erstreckt sich auf das Gebiet der EKHN. Die seither schon nebenamtlich geübte Mitarbeit in der EMO bleibt unberührt. Die Dienstaufsicht wird von der Kirchenleitung wahrgenommen. §2: Der Dienst, für den Pfarrer Höpfner freigestellt wird, umfasst folgende Aufgaben:
76 Ebd. Die Berufung von F. scheiterte schließlich auch an der Auskunft des Konsistoriums Berlin-Brandenburg, das „in der Freigabe von Pfr. F. für den Dienst … für eine Missionsgesellschaft grosse Schwierigkeiten“ sah. Protokoll Vorstandssitzung, 16.4.1964, EMO-Archiv, PEMOVS 511. 77 Protokoll Vorstandssitzung, 10.1.1964, EMO-Archiv, PEMOVS 509. 78 Protokoll, Sitzung Missionskammer, 14.2.1964, 2, ZA EKHN, Best. 155/1925. 79 Walter Rathgeber war von 1960–1972 Leiter des Diakonischen Werks in Hessen und Nassau (DWHN), das 1960 aus der Zusammenführung des Evangelischen Hilfswerks mit dem Landesverein für Innere Mission entstanden war, vgl. DWHN, 50 Jahre, 2010. Wischnath, Kirche in Aktion, 1986, 388. 80 Protokoll, Sitzung Missionskammer, 14.2.1964, 2, ZA EKHN, Best. 155/1925. 81 Protokoll, Sitzung der Kirchenleitung der EKHN am 2.3.1964 in Darmstadt, ZA EKHN Best. 106/366, 173/1964. Das Amtsblatt der EKHN Nr. 10 vom 8.10.1964, S. 91 vermerkt: „Pfarrer Höpfner zu Wiesbaden, Krankenhauspfarrstelle, wurde mit Wirkung vom 1. Juni 1964 zunächst für 1 Jahr für die Betreuung der im Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau als Gastarbeiter tätigen Moslems beurlaubt.“
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst Zwischen den Gemeinden der EKHN, insbesondere in Frankfurt, Darmstadt, Offenbach, Mainz und Wiesbaden, und den jeweils dort wohnenden islamischen Arbeitnehmern und Praktikanten sollen Verbindungen hergestellt werden. Die Gemeinden und ihre Mitarbeiter sollen durch Vorträge für ihre Aufgaben und ihre Begegnung mit Mohammedanern zugerüstet werden. Für die Pfarrer und kirchlichen Mitarbeiter, aber auch für Beamte und Angestellte der bürgerlichen Gemeinden, sind Rüstzeiten und Kurse über den Islam und islamitische (sic!) Lebensgewohnheiten zu halten. Den Gemeinden ist Verteilliteratur über den Islam, den Mohammedanern christliche Literatur, auch Bibeln und Bibelteile zugänglich zu machen. Soweit fürsorgerische Betreuung von islamischen Arbeitnehmern und Praktikanten erforderlich ist, soll sie in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk der EKHN geschehen. Die Seelsorge an christlichen Orientalen ist, sofern nicht ein eigener Seelsorger der betr. Gruppe herangezogen werden kann, im Auftrag Pfarrer Höpfners eingeschlossen. Orientalische Studenten sind der Betreuung durch die Studentengemeinden zuzuführen. Pfarrer Höpfner soll auf gute Zusammenarbeit mit dieser bedacht sein.“ 82
Die Dienstanweisung war das Ergebnis der oben genannten Beratung zwischen EMO, EKHN und DWHN und spiegelte die jeweiligen Interessen wieder. Ohne den OD selbst zu erwähnen, greifen die Punkte 2–4 die Aufgaben auf, die in den Gründungsbeschlüssen der freien Arbeitsgemeinschaft OD formuliert worden waren. Darüber hinaus wird die Begegnungsarbeit auf konkrete kirchliche Aufgabenfelder (Stadtgemeinden, Studentengemeinden, Diakonisches Werk) bezogen. In gewissen Abständen berichtete Höpfner der Kammer für Mission und Ökumene über seine Tätigkeiten.83 Zwischenzeitlich überlegte die Kammer, ob „für die Arbeit von Pfarrer Höpfner, der für die Arbeit an den Moslems ganz freigestellt ist, eine Unterkommission oder eine Art Beratergremium gegründet werden“ solle. Man ließ den Plan jedoch wieder fallen, da „genügend Kontakte bestehen“.84 Obwohl die Praxis im Orientdienst (als freier Arbeitsgemeinschaft mit freikirchlicher Beteiligung) gelegentlich in Spannung zu landeskirchlichen Vorstellungen stand,85 und auch der missionstheologische Ansatz Höpfners in der EKHN nicht nur Zustimmung erhielt,86 wurde Höpfners Freistellung für den Orientdienst mehrfach verlängert, schließlich bis zur Ruhestandsgrenze im April 1975.87
82 Enthalten in: Höpfner, Orientdienst: Freie Arbeitsgemeinschaft evangelischer Missionsgesellschaften, o.J. [ca. 1972], OD-Archiv. 83 Vgl. Höpfner, Bericht über die Betreuung der im Gebiet der EKHN als Gastarbeiter tätigen Moslems vom 1.12.1964 bis 31.5.1965, EKHN-Zentralarchiv, 155/1925. 84 Protokoll der Sitzung der Missionskammer, 2.7. 1965, 2, ZA EKHN, 155/1925. 85 Siehe z.B. VII.B.3. 86 Siehe VI.A.2. 87 Vgl. Amtsblatt der EKHN 9/1965, 72; 9/1966, 121; Protokoll Missionskammer, 12.2.1975, EMW-Archiv, DEMR3, AG0817.
IV. Arbeitsmigration und Orientdienst
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e) Weitere Mitarbeiter des OD Bald benötigte der OD neben Höpfner, der zugleich Inspektor der EMO war, weitere Mitarbeiter. Da der OD als freie Arbeitsgemeinschaft keine eigenen Mitarbeiter anstellen konnte, erfolgte die Anstellung über die EMO oder ein anderes beteiligtes Missionswerk. Von 1963 an stellte die sozialmissionarische Familienarbeit einen wichtigen Bereich dar, der zunächst von der Sozialarbeiterin R.J., später von der promovierten Archäologin Renate Fritz betreut wurde.88 Übersetzungsund Literaturarbeiten im türkischsprachigen Bereich wurden anfänglich von ehrenamtlichen oder kurzzeitig angestellten Kräften wie Bünjamin C. oder Ö.B. übernommen. Ö.B. war türkischer Muslim und Student,89 Bünjamin C. syrischorthodoxer Christ aus dem Südosten der Türkei90 und Mitarbeiter einer amerikanischen Firma im Frankfurter Raum.91 1967 und 1968 unterstützte Ulrich Roloff, ein in Algerien und Marokko tätiger Mitarbeiter von Brot für die Welt / Dienste in Übersee, Höpfner in der arabischsprachigen Arbeit.92 Ab Ende 1968 wurde der türkischsprachige Arbeitsbereich durch den Beginn der Mitarbeit von Jürg Heusser deutlich erweitert und professionalisiert, was auch die Anstellung türkischer Christen als Mitarbeiter einschloss (Y.K., E.Ö., A.Y.). f) Die unterschiedliche Wahrnehmung der OD in der kirchlichen Literatur Die Gründung der freien Arbeitsgemeinschaft OD fand in der kirchlichen und theologischen Berichterstattung ein positives Echo, die institutionelle Einordnung fiel jedoch schwer. In seiner „Rundschau über die Arbeit der Deutschen Evangelischen Missionen 1963“ berichtete Niels-Peter Moritzen, damals Exekutiv-Sekretär des DEMR, später Missionswissenschaftler in Erlangen, über die Entstehung des OD als Beispiel für die „Mission in sechs Kontinenten“ wie sie auf der Weltmissionskonferenz in Mexico-City 1963 formuliert worden sei. Dazu gehörte für Moritzen auch die missionarische Begegnung mit Migranten in der Bundesrepublik, vor allem das „Zeugnis an Muslimen“: „Ein besonderes Feld ist die Begegnung mit den Fremdarbeitern, Praktikanten und Studenten aus nichtchristlichen Ländern in Deutschland, die uns vor große Fragen stellt. … Mehrere Gruppen, die schon an Ausländern arbeiten, haben sich zu einem Orientdienst zusammengeschlossen, der seine Aufgabe darin sieht, Mitarbeiter der Kirchen und Gemeinden in Deutsch-
88 Finanziert wurde die Stelle weitgehend durch die EKHN, vgl. Einnahmen und Ausgaben des Orientdienstes 1971, Anlage zum Protokoll Geschäftssitzung Orientdienst am 4.11.1972, ODArchiv; vgl. Troeger, Interview, 2009; Troeger, Vom Glauben zum Schauen, 1978. 89 Vgl. Protokoll ODT am 6.9.1965, 4 sowie Höpfner, 1965 Bericht EKHN, 2; OD-Archiv. 90 Vgl. Höpfner, Midiyat, 1971, 57. 91 Vgl. Heusser, Geschichte, 2002. 92 Vgl. Roloff, Als Gastarbeiter zu Gastarbeitern, in: NEMO 6/67, 91ff; Ders. Orient in Frankfurt, in: NEMO 3/1968, 44–46.
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst land zum rechten Zeugnis an Muslimen zuzurüsten. Die Federführung liegt bei der Evangelischen Mission in Öberägypten, Wiesbaden.“93
In struktureller Hinsicht betonte Moritzen den Charakter des OD als Zusammenschluss oder Arbeitsgemeinschaft missionarischer Gruppen oder Missionen. Im Unterschied dazu beschrieb das Kirchliche Jahrbuch für die EKD 1963 die neue Initiative weder als Arbeitsgemeinschaft noch unter dem Namen Orientdienst, sondern als Arbeitszweig der EMO in Kooperation mit der EKHN. In seinem Überblick über „die deutsche evangelische Mission“ schrieb Theodor MüllerKrüger94 unter der Überschrift „Missionsaufgaben im innerdeutschen Bereich“: „Eine besondere Aufgabe liegt in der zunehmenden Zahl der Gastarbeiter, vornehmlich aus dem Nahen Osten. Die Evangelische Mission in Oberägypten widmet sich, vor allem im Bereich der Kirche von Hessen und Nassau, seit 1963 dieser Aufgabe.“95 Der Mainzer Missions- und Religionswissenschaftler Walter Holsten96 machte den OD auch auf internationaler Ebene bekannt. In seinem Aufsatz The Muslim Presence in the West (1966) im International Review of Mission beschrieb er die Gründung des OD am 2.12.1963 als Ergebnis gesamtprotestantischer Bemühungen um muslimische Migranten in der Bundesrepublik.97 Die Missionsarbeit des OD sah er als Teil einer gesamtgesellschaftlichen christlichen Gastfreundschaft, deren Herz das missionarische Kerygma sei.98 Holsten zitierte aus den Gründungsbeschlüssen von Wiesbaden: „The German Orient missions form a free working group of service to those of the East [= Orientdienst, FW] for the fulfillment of the missionary tasks which arise for us through the presence of Muslims in Germany.“99 Auch die Encyclopedia of Modern Christian Missions (1967) widmete der Neugründung unter dem Stichwort „Orientdienst / Orient Service“ einen kurzen Eintrag: „The organization is a loose union of mission societies laboring among the adherents of Islam. It supplies Muslims with Christian literature in Arabic, Persian and Turkish. Conventions are held for all interested in work among Muslims to discuss the relationship of that endeavor to the Christian viewpoint.“100 Der Eintrag zur EMO im gleichen Nachschlagewerk thematisiert die Arbeit des Orientdienstes wiederum als Arbeitszweig der Wiesbadener Mission: „A new missionary opportunity presented itself in Germany after World War II as about 200.000 workers and students from the Near East found their way into the country. The mission accepted the task of bringing the Gospel to them.“101 Diese Beispiele machen deutlich, dass der Orientdienst durchaus wahrgenommen, jedoch je nach Perspektive unterschiedlich eingeordnet wurde: entweder als Ar93 94 95 96 97 98 99 100 101
Moritzen, Rundschau, 1964, 19–20, kursiv FW. Zu Müller-Krüger: s. IV.A.2.b). Müller-Krüger, Evangelische Mission, 1965, 273. Zu Holstens Biographie s. II.C.4.a) sowie VI.A.3. Holsten, Muslim Presence, 1966, 448–456. Ausführlich zu Holsten und seiner Sicht des OD s. VI.A.3. Holsten, Muslim Presence, 1966, 449. N.N., Orientdienst, in: EMCM, 1967, 517. Höpfner, Ev. Mission in Oberägypten, in: EMCM, 1967.
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beitszweig der EMO mit besonderem Bezug zur EKHN oder als gruppenübergreifende, überregionale freie Arbeitsgemeinschaft. Beide Zuordnungen waren zutreffend, machen aber den komplexen und teilweise ambivalenten strukturellen Charakter des OD deutlich (siehe unten 3.d), der im Lauf der Zeit nach Klärung verlangte. 3. Der Orientdienst als eigenes Missionswerk a) Der OD-Ausschuss und die Vereinbarung mit der EMO 1971/72 Nicht nur die komplexe Struktur des OD zwischen freier Arbeitsgemeinschaft, eigener Missionsarbeit und kirchlicher Migrantenarbeit, auch die vielfältigen Aufgabenfelder (Islamkurse, Literaturherstellung und -verbreitung, Begegnungsund Sozialarbeit) sowie der Zuwachs an hauptamtlichem Personal machten eine Klärung im Blick auf das strukturelle Selbstverständnis des OD immer dringlicher. Durch den kooperativen Ansatz war inzwischen nicht mehr nur die EMO „federführend“ (wie der DEMT Spandau 1963 vorgesehen hatte), sondern auch andere Missionen wie der EAD, die MSOE oder der WEC102 spielten eine wichtige Rolle. Höpfner stand den strukturellen Klärungsbestrebungen zunächst skeptisch gegenüber und betonte, dass man bisher „ohne einen besonderen juristischen Status“ ausgekommen sei, da die gemeinsame Aufgabe im Vordergrund gestanden habe. Er wies darauf hin, dass die EMO „den größten Teil der Arbeit“ übernommen habe, während EKHN und Württembergische Landeskirche „die stärkste finanzielle Unterstützung“ gewährt hätten.103 Letzteres sah er bei einer Entwicklung in Richtung Selbständigkeit in Gefahr. Dennoch wurde im Rahmen einer besonderen Sitzung des OD am 13. November 1971 in Kaub am Rhein ein sechsköpfiger Ausschuss aus Vertretern von inzwischen hauptsächlich beteiligten Missionen gebildet (EMO, WEC, EAD, MSOE, Missionssabteilung der Ev. Methodistische Kirche, Afro-Asiatischer Informationsdienst Düsseldorf). Neben der Bildung einer Leitungsstruktur war der juristische Status des OD zu klären. Man diskutierte einen eigenständigen e.V., empfand diese Lösung aber „als eine gewisse Begrenzung und Einengung“, so dass einstimmig votiert wurde, „den ‚Orientdienst‘ juristisch gesehen als Zweig der Ev. Mission in Oberägypten zu betrachten, andererseits sollte ihm aber die bisherige freie Beweglichkeit erhalten bleiben und die Möglichkeit, seine Arbeit in der bisherigen Form zu tun“. Der neue OD-Ausschuss wurde beauftragt, das Verhältnis zur EMO „in einigen Sätzen klar zum Ausdruck“ zu bringen. Das Ergebnis lag einen Monat später in Form des 102 Der WEC International ist eine 1913 von dem britischen Missionspionier C.T. Studd zunächst unter dem Namen Heart of Africa Mission begründete evangelikale Glaubensmission, die nach dem 2. Weltkrieg eine Zweig in Deutschland eröffnete und weltweit in der Evangelisationsarbeit tätig ist, vgl. Patrick Johnstone, WEC International, in: EDWM, 1010; Fiedler, Ganz auf Vertrauen, 1992, 93ff. 103 Protokoll Sitzung des Orientdienstes, 13.11.1971, OD-Archiv, Ordner 1964–75.
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Vereinbarungstextes „Zusammenarbeit zwischen EMO und Orientdienst“ vor, den OD-Ausschuss und EMO-Vorstand gemeinsam erarbeitet hatten. „Die Geschäftsversammlung des Orientdienstes kommt einmal im Jahr in Verbindung mit einer Orientdiensttagung zusammen. Weitere Sitzungen finden nach Bedarf statt. Die Geschäftsversammlung wählt einen Ausschuss und einen Geschäftsführer. Der Leiter der Sitzung wird von dem Vorstand der EMO bestellt. Der Ausschuss bereitet die Geschäftsversammlung vor und unterstützt und berät den Geschäftsführer in seiner Arbeit. Insbesondere hat er bei der Einstellung und Betreuung von Mitarbeitern in Funktion zu treten. Außerdem stellt er einen Verbindungsmann, der als Gast an den Vorstandssitzungen der EMO teilnimmt, soweit diese sich mit den Anliegen des Orientdienstes befassen. Rechtsträger für den Orientdienst ist die EMO. Die Haushalt- und Kassengeschäfte für den Orientdienst werden von der EMO wahrgenommen - getrennt von der eigenen Kassenführung. Auf der Orientdiensttagung, die am 13. November 1971 in Kaub stattfand, wurden folgende Herren gebeten, die Funktion eines vorläufigen Ausschusses wahrzunehmen: 1) Missionsleiter Herrmann, WEC Vockenhausen, 2) Missionar Klein, Südosteuropa-Mission, Geisweid, 3) Superintendent Mohr, Hannover, Ev. Meth. Kirche, 4) Herr Poppe, Afro-Asiatischer Informationsdienst, Düsseldorf, 5) Herr Welter, Ev. Ausländerdienst, Solingen, 5) Pfarrer Höpfner, EMO/Orientdienst, Wiesbaden. Missionsleiter Herrmann wird gebeten, die Funktion des Verbindungsmannes zwischen Orientdienst und EMO zu übernehmen.“104
Diese Klärung kann als Kompromiss verstanden werden zwischen Höpfners Anliegen, den OD innerhalb der EMO und der landeskirchlichen Missionsstrukturen (EKHN, EMS, DEMR) zu halten, und der Notwendigkeit einer für alle Beteiligten – auch die nicht im DEMT vertretenen evangelikalen Missionen – transparenten und partizipativen Gesamt- und Leitungsstruktur. Auffällig ist, dass der DEMR nicht in die neuen Entwicklungen einbezogen worden war. Das löste dort Befremden aus: „Ein wenig wundert es uns ..., warum Sie bei der Neubesinnung am 10.12. keinen Gebrauch von der durch jahrelange interessierte Begleitung und engagierte persönliche Beteiligung wohl etablierten Zusammenarbeit [gemacht haben]. ... [Es ist] von Anfang an deutlich gewesen … daß der DEMT und mithin der DEMR bereit war, eine im Blick auf die Muslime in Deutschland gemeinsam erkannte Verantwortung wahrnehmen zu helfen. … Umso mehr ist uns aber an einer bleibenden Verbindung zum Orientdienst gelegen, eine Verbindung, die auch von Ihrer Seite ein bißchen mehr beinhalten müßte, als gelegentliche Zuschusserwartungen.“105
Bei der nächsten Sitzung des OD im Februar 1972 war mit Günter Dulon jedoch wieder ein Vertreter des DEMR anwesend. Der OD bedauerte, „daß es unterlassen wurde, einen Vertreter des DEMR Hamburg zu den Besprechungen, die zwischen EMO und Orientdienst stattfanden, einzuladen. Wir hoffen auch in Zukunft auf ein gutes Zusammenarbeiten mit dem DEMR.“ Auch wolle man „den Kirchen,
104 Protokoll der OD-Sitzung, 12.2.1972, S. 4. OD-Archiv, Ordner 1964–1975. 105 Buttler, Brief an Höpfner, 7.1.1972, EMW-Archiv, DEMR 3/ 0818/2.
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die den Orientdienst bisher finanziell unterstützten … von den gefassten Beschlüssen Mitteilung zu machen“.106 b) Auf dem Weg zur Neugründung 1973–1975 Die zweite offizielle Geschäftstagung des OD im Rahmen des Kauber Islamkurses am 27.10.1973 zeigte jedoch, dass die strukturellen Unklarheiten immer noch nicht zufriedenstellend ausgeräumt waren. Bemerkenswerterweise schlug der Referent des DEMR, Günter Dulon vor, dass der OD endgültig „eine tragfähige Basis“ und „seine eigenen Statuten“ bekommen solle.107 Im August 1974 beschloss auch der OD-Ausschuss, auf „eine Änderung des Status“108 im Sinne einer eigenständigen Missionsgesellschaft als e.V. zuzugehen. Diesmal wurde der Vorschlag auch von Höpfner unterstützt, der ohnehin kurz vor seiner Pensionierung als Inspektor der EMO und Pfarrer der EKHN stand.109 Da nicht alle am OD beteiligten Gruppen die eingeschlagene Richtung befürworteten – einige landeskirchliche Vertreter, vor allem aber der EMO-Vorstand, hatten Bedenken110 – wurde zunächst keine Entscheidung getroffen, sondern „beschlossen, allen beteiligten und interessierten Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft“ die neuen Überlegungen schriftlich „mitzuteilen und ihre Stellungnahme“ zu erbitten.111 Auf der nächsten Geschäftssitzung im November wurden die schriftlichen Stellungnahmen ausgewertet. Im Ergebnis zeigte sich, dass die beteiligten Organisationen, trotz gelegentlicher Bedenken, sich mehrheitlich für die Gründung eines e.V. aussprachen. Eine Abstimmung der anwesenden Vertreter bestätigte dies.112 Der Nahost-Referent des Kirchlichen Außenamts sprach sich für eine gesamtprotestantische Zusammenarbeit und Unterstützung des OD aus: neben EKHN und Württembergischer Landeskirche sollten „sich auch andere Amtsstellen der EKD beteiligen. … Vor allem sollten sich die verschiedenen Missionszentren Gedanken darüber machen, wie der OD unterstützt werden könnte.“ Er gab zu bedenken, „ob ein e.V. nicht manche Werke und kirchlichen Stellen ausschließe. Zudem sei die heutige Tendenz eher Zusammenschluß, nicht die Gründung neuer Organisationen.“ Der OD-Ausschuss betonte jedoch, dass auch „nach der Gründung des e.V. 106 107 108 109
Protokoll der OD-Sitzung, 12.2.1972, OD-Archiv, Ordner 1964–1975. Dulon, Memo Geschäfssitzung des OD am 27.10.2973, EMW-Archiv, DEMR3, AG818/2. Protokoll des OD-Ausschusses, 31.8.1974, OD-Archiv. Die OD-Mitarbeiter sprachen sich mehrheitlich für „eine klare organisatorische Trennung zwischen EMO und OD“ aus, um „Reibungsflächen“ auszuschalten, wünschten aber „weiterhin eine gute Zusammenarbeit mit der EMO“. Protokoll der Geschäftssitzung des OD am 9. November 1974 in Kaub, OD-Archiv OP 6475. 110 Vgl. Brief im Namen des Vorstands [der EMO], An die im Orientdienst zusammengeschlossenen Gemeinschaften, 3.10.1974, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. 111 Protokoll des OD-Ausschusses, 31.8.1974, OD-Archiv. Als „Mitglieder“ sah man in erster Linie die im OD-Ausschuss vertretenen Gruppen, in zweiter Linie „sonstige, mitverantwortliche Mitglieder des Orientdienstes“, vgl. Aufstellung, OD-Archiv, OP6475. 112 Protokoll Geschäftssitzung des OD, 9.11.1974, Kaub, OD-Archiv OP 6475.
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nicht nur Mitglieder am OD teilhaben. Auch in Zukunft soll der OD eine Koordinierungsstelle sein, die für alle interessierten Kreise offen ist.“113 c) Die Gründung des Orientdienst e.V. (1975) Der Evangelische Ausländerdienst (EAD) lud die Gründungsversammlung des Orientdienst e.V. für den 24. Januar 1975 nach Remscheid, bzw. Wuppertal ein.114 Damit war die organisatorische Ablösung von der EMO in Wiesbaden auch geographisch symbolisiert, wenn auch der Sitz des OD in Wiesbaden blieb. Der ODAusschuss verschickte den Entwurf der Satzung und lud alle „Freunde und Mitarbeiter“ zur Teilnahme ein.115 Als institutionelle Gründungsmitglieder traten der Evangelische Ausländerdienst (EAD), der Weltweite Einsatz für Christus (WEC), die Mission für Süd-Ost-Europa (MSOE), der Evangeliums-Rundfunk (ERF) sowie die Finnische Volksmission (siehe unten B.4.) dem neuen Verein bei. Daneben gab es Einzelmitglieder, vor allem aus dem Kreis der EMO und des bisherigen OD. An der Gründungsversammlung nahm auch eine Reihe von Beobachtern teil, darunter Gerhard Jasper von der VEM (siehe VI.C.3.c), Günter Dulon vom DEMR, ein Vertreter des Kirchlichen Außenamts der EKD sowie Vertreter des Jerusalemvereins, der Methodistischen Behörde für Weltmission sowie der Arbeitsgemeinschaft Dritte Welt (Stuttgart). In seiner neuen Satzung116 beschrieb der OD sich als „eine Arbeitsgemeinschaft von Missionsgesellschaften, kirchlichen und freikirchlichen Organisationen sowie von Einzelpersonen“ (§3). Zweck des Vereins war „die missionarische und karitative Betreuung moslemischer Bevölkerungsgruppen, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland sowie die Koordination solcher Arbeiten“ (§2). „Die Glaubensbasis des Orientdienstes und seiner Mitglieder ist die der evangelischen Allianz.“ (§2). Bemerkenswert war das Zustandekommen der Verfügung unter §2, dass „bei Auflösung … des Vereins … das Vermögen an die Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM) [fällt]“. Ursprünglich hatte man an dieser Stelle den DEMR vorgesehen, dessen Vertreter sich bei der Gründungsversammlung für diese Absicht zwar bedankte, aber darauf hinwies, „dass der DEMR nicht mehr lange fortbestehen“ werde. Daraufhin wurde beschlossen, „an Stelle des DEMR die 1969 begründete Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (mit Sitz in Calw) einzusetzen“.117 Dennoch wurde der neugegründete OD e.V. selbst nicht
113 Ebd. 114 Die Angabe des Sitzungsortes variiert zwischen Einladungsschreiben und Protokoll. Während das Einladungsschreiben zur Gründungsversammlung (Höpfner/Hermann, 30.12.1974, EMW-Archiv, DEMR3, AG 0818/2) „Remscheid, Großes Altersheim“ als Sitzungsort nennt, gibt das Protokoll Wuppertal an (Protokoll, 24.1.1975 in Wuppertal, OD-Archiv, OP6475). 115 Höpfner/Hermann, Einl. Gründungsvers, 30.12.1974, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. 116 Satzung des Vereins, 24.1.1975, OD-Archiv; EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. 117 Protokoll Gründungsversammlung am 24.1.1975 in Wuppertal, OD-Archiv, OP 6475.
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Mitglied in der AEM,118 sondern suchte die Verbindung (durch Vereinbarung) zum Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS),119 das sich 1972 als kirchliches Missionswerk der Landeskirchen von Baden, Hessen-Nassau, Kurhessen-Waldeck, der Pfalz und Württemberg gebildet hatte und mit dessen Vorgängerinstitution, der Südwestdeutschen Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (SEAGWM), der OD schon länger zusammengearbeitet hatte (s. IV.D.2.). Außerdem wurde der OD Mitglied der Nahostkommission der EKD (heute Evangelische Mittelost-Kommission [EMOK]).120 Strukturell setzte sich der neue OD e.V. aus drei Organen zusammen: dem Vorstand, der Mitgliederversammlung und dem Mitarbeiterteam. Zum Vorstand wurden Henning Hermann (WEC), ein Vorstandsmitglied der EMO (als privates Einzelmitglied) und Willi Höpfner als Geschäftsführer gewählt.121 Damit war Kontinuität gewährleistet, hatte Herrmann als Vorsitzender des OD-Ausschusses die Strukturentwicklungen seit Ende 1971 doch maßgeblich mitgestaltet. Das Mitarbeiterteam setzte sich „aus allen hauptberuflichen Mitarbeitern, die sich an der Arbeit des OD direkt beteiligen“ zusammen, „gleich ob sie vom OD oder einer anderen Organisation besoldet werden oder unbesoldet mitarbeiten“. Durch einen gewählten Delegierten war das Mitarbeiterteam „beratend“ an den Vorstandssitzungen beteiligt (§ 8).122 Im Lauf der nächsten Jahre wuchs die Zahl der Mitglieder des OD, bestehend aus Privatpersonen und Institutionen, auf über 60 an. d) Fazit: der OD als multifokale Institution im Prozess Aufgrund seines Mandats, seiner Aufgabenstellung, der breiten Beteiligung und seiner komplexen Struktur zwischen freier Arbeitsgemeinschaft (mit Mandat des DEMT), Missionszweig der EMO und kirchlicher Islam- und Migrantenarbeit im Raum der EKHN, kann der Orientdienst zwischen 1963 und 1975 als gesamtprotestantische Islamarbeit und multifokale Institution im Prozess verstanden werden. Die identitätsstiftende Einheit dieser sich im Fluss befindlichen Institution kann in den folgenden Faktoren gesehen werden: (1) in der Aufgabenstellung der Grün118 Erst im Zuge der Leitungsübernahme durch Jürg Heusser (1983) schloss der OD sich der AEM an. Heusser erinnert sich: „Mir war es ein Anliegen, möglichst bald in die AEM zu gehen. … Das habe ich dann sehr gefördert.“ Heusser, Interview, 2008, vgl. Herm, Werkbuch, 1985, 182–183; Hempelmann/Reimer/ Liebau, Handbuch, 1997, 286–287. 119 Vgl. Reimer, Werke, 1978, 273. Die finanzielle Förderung der Arbeit durch die EKHN und die ELK-Wue wurde nun über das EMS kanalisiert. Für das Jahr 1975 überwies das EMS in Absprache mit der EKHN 50.000 DM an den Orientdienst e.V. „für Literaturarbeit unter den Orientalen in der Bundesrepublik Deutschland“. Becken, Brief an Höpfner, 28. Mai 1975, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 120 Vgl. EMOK, Mitglieder, 2015. 121 Protokoll der OD-Ausschusssitzung und Gründungsversammlung am 24.1.1975 in Wuppertal, OD-Archiv, OP6475. Später kamen noch ein Vertreter der CBM und des ERF zum Vorstand hinzu. Protokoll Mitgliederversammlung 15.11.1975, OD-Archiv. 122 Die bisherige OD-Mitarbeiterin Dr. Renate Fritz schied aus dem Mitarbeiterteam des OD aus, da sie im Anstellungsverhältnis der EMO bleiben wollte, vgl. Troeger, Interview, 2009.
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dungsbeschlüsse von 1963, die sich auch in der Satzung von 1975 noch widerspiegelt; (2) im biographischen und theologischen Beitrag Willi Höpfners, der in seiner Person die vielfältigen Aspekte des OD zusammenhielt; (3) im spannungsreichen missionstheologischen Konsens zum christlichen Zeugnis unter Muslimen, wie er im Anschluss an die Weltmissionskonferenz von Mexico-City 1963 noch größere Teile des deutschsprachigen Missionsprotestantismus prägte;123 (4) in der beständigen Kooperation mit dem DEMR (5) und in der strukturellen und finanziellen Unterstützung durch die EKHN und die Württembergische Landeskirche. Auf diesem Hintergrund entfaltete der Orientdienst seine Tätigkeiten an drei Schwerpunkten, bzw. in drei strukturellen Perspektiven (siehe Tabelle 10): (1) als Arbeitszweig im Bereich der Heimatarbeit der EMO, (2) als freie Arbeitsgemeinschaft verschiedener Missionen zwischen dem DEMR, der Evangelischen Allianz (DEA) und der Arbeitsgemeinschaft freikirchlicher Missionarskurse (AfM),124 und (3) als Islam- und Migrantenarbeit der EKHN ab 1964, wobei der Plan dazu bereits 1958 vorlag (s. V.C.4.c). Die mit dieser wachsenden Komplexität verbundenen strukturellen und praktischen Spannungen verlangten nach einer Klärung und führten 1975 zur Gründung des OD e.V. als eigenständigem Missionswerk. Der kooperative Charakter und die Einbindung in landeskirchliche Strukturen blieben dabei zu einem gewissen Maß erhalten, wie die Verbindungen zum Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS) (als Vereinbarungspartner) und zur Nahostkommission der EKD (später Evangelische Mittelostkommission) zeigen.125 1961/62 Arbeitszweig der EMO 1963 Freie Arbeitsgemeinschaft Orientdienst (DEMR)
Orientdienst e.V. 1975 Eigenständiges Missionswerk
1964 (1958) Migrantenarbeit in der EKHN 1961
1962
1963
1964
[ …]
1975
Tabelle 10: Der Orientdienst als multifokale Institution im Prozess 1961–1975
123 Siehe V.D.2.h) sowie den Ansatz von Walter Holsten unter VI.A.3. 124 Die AfM (1967) war der Vorläufer der 1969 entstandenen Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM) (siehe VI.B.1.), zur Rolle der AfM im OD siehe IV.D.3. (Islamkurse). 125 Vgl. Reimer, Werke, 1979, 73; EMOK, Mitglieder, 2015; Klaus-Martin Beckmann, Referent für Mission und Ökumene der EKHN, zählte den Orientdienst neben der EMO zu den Missionswerken, „die im Kirchengebiet der EKHN arbeiten und zu denen wir freundschaftliche Verbindungen haben“. Beckmann, Verbindungen, 1977, 167. Zum spannungsreichen Kurs des OD zwischen kirchlichen und evangelikalen Strukturen und Perspektiven nach Erscheinen der Frankfurter Erklärung (1970) siehe VI.B.2.b).
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B. ZUSAMMENARBEIT: PROTESTANTISCHES MOSAIK 1. Die Orientdienst-Tagungen als protestantisches Netzwerk Der Netzwerkcharakter des OD als protestantischer Islamarbeit kam am deutlichsten auf den OD-Tagungen zum Ausdruck. Die Gründungsgruppe am 2.12.1963 hatte beschlossen, „sich je nach Bedarf, jedoch mindestens 2 mal im Jahre [zu versammeln], um Erfahrungen auszutauschen und eine gewisse Koordinierung der verschiedenen Aufgaben vorzunehmen“.126 Von 1963 bis 1975 fanden über dreißig Orientdienst-Tagungen, anfänglich auch schlicht Zusammenkünfte genannt, statt, später zusätzlich verschiedene Islamkurse (siehe IV.D.) Die meist nur einen Tag dauernden Orientdienst-Tagungen (ODT) fanden in der Regel montags im Missionshaus der EMO in Wiesbaden statt. Die Mehrheit der Teilnehmer kam aus dem Rhein-Main-Gebiet, einige reisten regelmäßig aus Stuttgart, Solingen, Siegen oder Wuppertal an. Der Vertreter des DEMR kam aus Hamburg – wenn die Zeit knapp war auch mit dem Flugzeug. Die Zusammenkünfte wurden durch eine Bibelarbeit, meist vom Vertreter des DEMR, eröffnet. Dann folgten Referate und Aussprachen. Weitere feste Bestandteile bildeten Praxisberichte der Teilnehmer sowie Beratungen zu gemeinsamen Projekten. Den Vorsitz führte Höpfner. Er lud ein, war Gastgeber, leitete die Sitzungen und verfasste die Protokolle, die an alle Teilnehmer (und darüber hinaus) versandt wurden. Die damit verbundene Interpretationsmacht Höpfners wurde durch die anwesenden DEMR-Referenten zwar etwas ausbalanciert und immerhin dadurch eingeschränkt, dass die Protokolle zum Gegenzeichnen nach Hamburg geschickt wurden.127 a) Programmatik und Themen der Orientdienst-Tagungen Die Zielsetzung der Orientdienst-Tagungen bestand in der islamkundlichen und theologischen Weiterbildung, im Gespräch und in der Vernetzung von Ressourcen im Blick auf die missionarische Begegnung mit muslimischen Migranten. Die Auseinandersetzung mit inhaltlichen und methodischen Fragen wurde durch Fachreferate angestoßen. Zwischen 1963 und 1975 wurden etwa 50 Referate gehalten, deren thematische Schwerpunkte in den folgenden Bereichen lagen:
126 Höpfner/Hoffmann, Bericht von der Tagung der Orientmissionen am 2.12.1963, EMWArchiv, DEMR 3/0818. 127 Dass die Kontrollfunktion auch ausgeübt wurde, zeigen folgende Beispiele: Nach der 2. ODT schrieb DEMR-Referent Hoffmann: „Anbei schicke ich das Protokoll zurück: ich bin im ganzen damit einverstanden, nur den letzten Satz können wir so nicht bringen.“, Hoffmann, Brief an Höpfner, 29.6.1964, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. DEMR-Referent Dulon kritisierte Höpfners Protokoll zum Referat von J. Bouman als „nicht gerade dialog-freundlich … wiedergegeben“, Dulon, Brief an Höpfner, 1.4.1972, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. Im Informationsdienst des OD wurde Boumans Originalreferat abgedruckt; siehe VI.B.2.
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Islam und nahöstliche Kultur (13 Vorträge) Islam und christlicher Glaube (11 Vorträge) Missionarische Praxis (10 Vorträge) Missionstheologie (8 Vorträge) Muslime in Deutschland (5 Vorträge) Konversion und Gemeinschaftsbildung (3 Vorträge)
Der Schwerpunkt (fast die Hälfte der Vorträge) lag auf grundlegenden Orientierungen zu Islam und Christentum sowie auf der Kultur des Nahen Ostens und Nordafrikas. Offensichtlich bestand Anfang der 1960er Jahre hier angesichts der einsetzenden muslimischen Migration ein Nachholbedarf an Wissen und Orientierung, andererseits lagen Höpfners Erfahrungen, Interessen und Kompetenzen in diesem Bereich. Doch Höpfner war sich seiner Grenzen bewußt und vernetzte den beginnenden OD breit. Er lud regelmäßig Religionswissenschaftler, Missionstheologen und Missionspraktiker zu Vorträgen ein, unter ihnen Walter Holsten128 (1966), John B. Taylor (1966), Jürg Heusser (1966), Robert Avery (1966), Olaf Schumann (1968/1970), Walter Wassermann (1968), Niels-Peter Moritzen (1970), Johan Bouman (1972), Bruno Herm (1973) (siehe Tabelle 11). Themen der Migrationssituation in Deutschland wurden im Lauf der Zeit, je nachdem wie sie sich stellten, stärker aufgegriffen. Wichtig dafür waren auch Beiträge von Migranten selbst, wie dem irakischen Studenten und Konvertiten M.B.129 (1965), einer türkischen Mitarbeiterin am Arbeitsamt in Frankfurt (1967), des in Deutschland lebenden ägyptischen evangelischen Jugendpfarrers Tharwat Kades (1969)130 oder des türkischen Konvertiten E.Ö. (1973). Auch bei der Diskussion missionarischer Projekte wurden die Beiträge der Konvertiten und ausländischen Christen gehört. So etwa zu dem Vorhaben, mit Hilfe syrischer Christen „den reinen Wortlaut der biblischen Geschichten in der Art, wie Mohammedaner den Koran singen, auf Tonband zu bringen“.131 Anwesende arabische Christen (aus muslimischem und christlichem Hintergrund) sahen dies kritisch und kommentierten: „Moslems seien ungehalten darüber, daß ihre Art, den Koran zu singen, von den Christen aufgenommen worden sei. Im Übrigen mache diese Art der Lesung einen theatralischen Eindruck, auch auf die Christen.“132 Missionstheologische Fragen wurden meist anhand islambezogener Fragestellungen behandelt. So stand am Anfang (2. ODT 15.6.1964) ein programmatisches Referat Höpfners zur Frage „Verbindliches Christuszeugnis oder unverbindliches Religionsgespräch bei unserer Begegnung mit Moslems?“133 Er argumentierte, dass „die Ersetzung des verbindlichen Zeugnisses des Evangeliums durch das unverbindliche Gespräch … sich nicht nur vom Evangelium, sondern auch vom We128 129 130 131
Zu Holsten siehe II.C.4.a) sowie VI.A.3. Zu M.B. siehe III.C.4.e) sowie VII.A.2. Zu Kades siehe III.C.3.c). Protokolle der OD-Geschäftssitzung vom 24.6.1968 in Bad Boll, S. 2 und der OrientdienstTagung am 25.11.1968, S. 3, beide: OD-Archiv, OP 6475. 132 Protokoll der Orientdienst-Tagung am 4.8.1969, S. 3, OD-Archiv, OP 6475. 133 Höpfner, Christuszeugnis, 1964.
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sen des Islams her“ verbiete. Von seinen Erfahrungen in Ägypten her urteilte Höpfner, dass es weder für Christen noch für Muslime einen „religionsneutralen Raum“ gebe. Von daher müsse „das unverbindliche Gespräch … vom Moslem her als ein Zeugnis gegen Christus verstanden werden“. Der Islam erhebe „einen Totalanspruch auf alle Gebiete des Lebens, der religiöse Minderheiten zwar dulden kann, aber diese auf ihren gottesdienstlichen Bereich einengt, und sie nicht als missionarische Gemeinschaft gelten lassen kann.“ Demzufolge werde das „Zeugnis der Gemeinde dort zu einem Zeugnis unter dem Kreuz“.134 2.12.1963 15.6.1964 16.11.1964 29.3.1965 6.9.1965 17.1.1966 16.5.1966 19.9.1966 30.1.1967 5.6.1967 2.10.1967 8.1.1968 24.6.1968 25.11.1968 17.3.1969 4.8.1969 15.11.1969
Gründungsversammlung der Freien Arbeitsgemeinschaft OD Konkrete Fragen unserer Betreuung (Höpfner) Praktische Fragen zur Bibelmission unter Gastarbeitern (Müller) Christuszeugnis oder Religionsgespräch? (Höpfner) Mentalität des afrikanischen und orientalischen Menschen (Rapp) Begegnung mit orientalischen Menschen (Höpfner) Das Jesusbild des Koran – Möglichkeit zur Anknüpfung? (Höpfner) Die koranische Aussage über Isa bei der Bekehrung zu Christus (M.B.) Unsere Verantwortung dem bekehrten Moslem gegenüber (Höpfner) Konvertiten in Pakistan und Tansania (D. Herm) Die religiöse Situation in der heutigen Türkei (Avery) Die Türkei, wie ich sie sah (Heusser) Der Moslem und die moderne Welt (Holsten) Das Problem der Gastarbeiter und die englische Kirche (Höpfner) Türkischen Gastarbeiter im Licht der türkischen Presse (Avery) Bericht zur ÖRK-Konsultation in Brumanna (Taylor) Mission und Enderwartung (Buttler) Christliche und Islamische Enderwartung (Höpfner) Situation in den Heimatländern unserer Gastarbeiter (Höpfner) Die Frau im Islam – nach Gesetz und Tradition (Höpfner) Orientalische Gastarbeiter und westliche Frau Die Hoffnung Israels (Moscovici) Israel, die Araber und das Flüchtlingsproblem (Höpfner) Bibeln und Neue Testamente für Gastarbeiter (Müller) Tonbänder mit arabischen Bibelbotschaften (Wassermann) Wunder im NT und Koran (Schumann) Das Wunder im Neuen Testament (Thyen) Moslemisches Verständnis von Sünde und Gnade (Höpfner, M.B.) Fragen bei unserer Begegnung mit orientalischen Gästen (Kades) Glauben Moslems und Christen an denselben Gott? (Höpfner) Der Allah des Islam und der Vater Jesu Christi (M.B.)
134 Höpfner, Christuszeugnis, 1964, 3. Zu Höpfners Missionstheologie im Kontext des Orientdienstes siehe V.D.2.
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21.2.1970 13.6.1970 6.3.1971 12.2.1972 6.5.1972 2.9.1972 17.3.1973 15.9.1973 9.2.1974 18.5.1974 31.8.1974 8.3.1975 7.6.1975
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Orientalische Geisteshaltung und Lebensform (Höpfner) Werden wir bei unseren Begegnungen den Orientalen gerecht? (Heusser) Die Christen im Südosten der Türkei (Höpfner) Biblische Begriffe im Koran (Schumann) Dialog oder Verkündigung? (Höpfner) Was suchen wir in der Begegnung mit den Orientalen? (Höpfner) Temperament und Charakter der Araber (Löwe) Mission und Dialog (Bouman) Bibel und Koran (Höpfner) Barmherzigkeit und Gnade im Koran (Bouman) Erwartungen und Enttäuschungen eines Bekehrten (E.Ö.) Aufnahme von Bekehrten aus dem Islam (B. Herm) Das Problem der Anpassung bei Rückkehr in die Heimat (Habib) Besuch orientalischer Kranker und Gefangener (E.Ö., Dobert, Lübke) Der Islam heute (Rapp) Bibelarbeit Offenbarung 3, 7–13 (E.Ö.); Garp Hizmeti (Heusser) Angefochtene Gemeinde (Troeger) Radio- und Schriftenmission (Wassermann) Evangelisation durch Zeitungsanzeigen (Vedder) Das Gebet als Bekenntnis und Ausdruck des Glaubens (Höpfner) Wie gestalten wir unsere Begegnungen mit den Moslems? (E.Ö.) Orientdienst und Evangeliumsrundfunk (Marquardt)
Tabelle 11: Themen und Referenten der Orientdienst-Tagungen 1963–1975
b) Teilnehmer am Netzwerk der OD-Tagungen Die Mitarbeit in der freien Arbeitsgemeinschaft OD schlug sich zunächst in der Teilnahme an den ODT nieder. Von 1963 bis 1975 nahmen Vertreter von über 30 verschiedenen Institutionen an den Tagungen teil. Während einige die Tagungen nur sporadisch besuchten, bildeten sich Kerngruppen von regelmäßig beteiligten und stärker engagierten Institutionen und Personen heraus, deren Zusammensetzung sich allerdings mit der Zeit veränderte. Während einige Werke wie die Bibelmission,135 die (Dr.) Lepsius’ Deutsche Orient-Mission136 oder das Diakonische Werk in Hessen und Nassau besonders in der Anfangsphase teilnahmen, be135 Die Bibelmission in Deutschland mit Sitz in Wuppertal war 1954 als missionarischer Arm des Verbands evangelischer Bibelgesellschaften zur Verteilung von Bibeln, Neuen Testamenten oder Bibelteilen unter Flüchtlingen, Displaced Persons und Aussiedlern gegründet worden. Vgl. Müller, Bibelmission in Deutschland, EMCM, 1967, 81. 1981 wurde die Bibelmission Teil der neu gegründeten Deutschen Bibelgesellschaft. 136 Obwohl die LDOM sich offiziell 1965 auflöste und in die Berliner Missionsgesellschaft integriert wurde, agierte sie entweder noch einige Zeit mit einer gewissen Eigenständigkeit unter dem alten Namen – oder wurde von Höpfner noch unter diesem Namen in den Listen aufgeführt. Vgl. E. Minkner, (Dr.) Lepsius’ Deutsche Orient-Mission, in: EMCM, 1967, 228.
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teiligten sich andere Gruppen wie das Nordelbische Missionszentrum, die Deutsche Missionsgemeinschaft oder die Finnische Volksmission stärker in einer späteren Phase. Auch die Art der Mitarbeit variierte (siehe unten). Die über den gesamten Zeitraum am stärksten beteiligten Werke und Institutionen waren (in der Reihenfolge der Häufigkeit der Teilnahme): – Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) – Ausländerdienst der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) – Mission für Süd-Ost-Europa (MSOE) – Deutscher Evangelischer Missionsrat (DEMR) – Christoffel-Blindenmission (CBM) – Evangelischer Ausländerdienst Solingen (EAD) – Studentenmission in Deutschland (SMD) – WEC International – Kirchliches Außenamt der EKD – Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Schriesheim – Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) – Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWue) Eine zweite Gruppe war in bestimmen Phasen oder für bestimmte Projekte besonders engagiert und umfasste die folgenden Werke: – Evangelische Karmelmission – Bibelmission in Deutschland (BMiD) – Diakonisches Werk in Hessen und Nassau (DWHN) – Missionshaus Wiedenest – (Dr.) Lepsius’ Deutsche Orient-Mission (LDOM) – Südwestdeutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (SEAGWM) – Nordelbisches Missionszentrum (NMZ) – Deutsche Missionsgemeinschaft (DMG) – Finnische Volksmission (FVM) Die beteiligten Institutionen und Gruppen können (mit Überschneidungen) in sechs Kategorien eingeteilt werden: 1. Gremien der evangelischen Weltmission/ kirchliche Missionswerke wie der DEMR, die EAGWM, das EMS oder das NMZ; 2. Landeskirchen und landeskirchliche Stellen wie EKHN, ELKWue und KA; 3. freie Missionswerke mit einem Arbeitsschwerpunkt auf Migranten in Deutschland wie MSOE, EAD oder SMD; 4. freie Missionswerke mit Arbeitsschwerpunkten im Ausland wie EMO, CBM, Karmelmission, Wiedenester Mission, WEC; 5. Diakonische Werke wie DWHN, Diakonisches Werk Stuttgart, Ausländerdienst der Ev. Gesellschaft (eva) Stuttgart; 6. Lokale landes- oder freikirchliche Kirchengemeinden wie die EFG Schriesheim oder die Lutherkirche Wiesbaden.137
137 Schweikhart, Begegnungen, 1975, berichtet z.B. über die deutsch-türkische Begegnungsarbeit im Rahmen der ev. Kirchengemeinde in Schiltach/Schwarzwald (Badische Landeskirche).
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Entsprechend unterschiedlich war auch die Art der Beteiligung am OD. Missionswerke sowie diakonische Einrichtungen, die selbst unter Migranten in Deutschland arbeiteten, waren am Austausch von Erfahrungen, Fortbildung zu religiösen oder kulturellen Hintergründen oder gemeinsamen Projekten wie der Erstellung und Verbreitung von Literatur interessiert. Ein Beispiel für Letzteres war die Bibelmission in Deutschland (BMiD), zu deren Aufgaben die Bibelverbreitung unter Gastarbeitern gehörte, und die sich dazu mit dem OD vernetzte. Bereits auf der 2. ODT im Juni 1964 konnte Alfred Müller, der Leiter der BMiD, von einem ersten Anstieg der Verbreitungszahlen arabischer, persischer und türkischer Bibelteile durch die begonnene Kooperation berichten.138 Ein wichtiges gemeinsames Projekt von BMiD und OD war die Herausgabe preisgünstiger „missionary editions“ von Bibelteilen.139 Missionswerke, die unter Muslimen im Ausland arbeiteten wie EMO, CBM, LDOM oder das Missionshaus Wiedenest brachten ihre interkulturellen Erfahrungen ein und förderten transnationale Medienprojekte: die EMO erstellte Tonbänder auf Arabisch, die CBM übernahm die Kosten für die Herstellung des jährlichen Wandkalenders in Farsi140 und beteiligte sich zusammen mit der LDOM an den Kosten für ein türkisch-deutsches Matthäus-Evangelium, das 1967 herausgebracht wurde.141 Missionswerke wie der WEC oder die DMG förderten die Arbeit des OD durch Begleitung oder Anstellung von Fachkräften und auslandserfahrenden Mitarbeitern für die Arbeit unter türkischsprachigen Migranten in Deutschland. Landeskirchen und kirchliche Missionswerke wie EKHN, ELKWue und das Evangelische Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS) spielten eine tragende Rolle in der strukturellen Ermöglichung (Freistellung von Höpfner durch die EKHN) und Finanzierung der Arbeit, da sie den OD – trotz gelegentlicher missionstheologischer Differenzen – als Kompetenzzentrum zur Begegnung mit Muslimen in Deutschland wahrnahmen. Hans-Jürgen Becken, Deutschlandreferent des EMS, betonte 1975 exemplarisch für den Bereich der Württembergischen Landeskirche: „In der Wichtigkeit der Arbeit sind wir uns einig. Die Arbeit von Pfr. Höpfner wird von uns voll anerkannt. Ebenso dankbar sind wir für die Tagungen in Kaub, die von unseren Prälaturteams besucht werden, die für ihre Arbeit Anregungen für einen sonst vernachlässigten Arbeitsbereich erhalten haben.“142 138 Vgl. Protokoll, 2. ODT, 15.6.1964, 2, OD-Archiv, OP 6475. 139 Vgl. Müller, Brief an Sverre Smaadahl (UBS), 17.11.1969, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818 sowie Protokoll ODT, 28.11.1968, 3, OD-Archiv, OP6475. 140 Die CBM, die seit 1925 im Iran arbeitete, war vor allem an der Arbeit unter persischen Migranten interessiert. Ab 1984 wurde die Iraner-Seelsorge in Deutschland als eigenständige Arbeit in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers durch Winfried Kahla (ehemals CBM) kontinuierlich aufgebaut, vgl. Kahla, Evangeliumsdienst an Iranern, 2009; Kahla, Morgenrot, 2007. 141 Vgl. Protokoll ODT, 30.1.1967, OD-Archiv, OP6475. 142 EMS, Gedanken zum Protokoll der Gespräche mit dem Orientdienst am 2. Mai 1975 in Stuttgart, S. 2, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Die Prälaturteams bestanden seit 1967 als Teil des Dienstes für Mission, Ökumene und Entwicklung (DiMOE) der Württembergischen Landeskirche. ELKWue, Handbuch, o.J., 161. Die Verbindung zwischen OD und Württembergischer Landeskirche kann auch als Vorläufer der Evangelischen Ausländerseelsorge gesehen
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Auch die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (EAGWM), der Verbindungsausschuss zwischen EKD und DEMR, betonte „die Bedeutung der stellvertretenden Arbeit des Orientdienstes unter den Moslems in der BRD“ und gab „der Hoffnung Ausdruck, daß die Arbeit des Orientdienstes in der Zukunft in die Landeskirchen und regionalen Missionswerke eingebracht wird“.143 Spätestens seit 1966 förderte die EKHN den OD mit einem jährlichen Beitrag von 23.000 DM,144 eine Summe die bald auf 40.000 DM erhöht wurde. Die Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWue) beteiligte sich (spätestens ab 1971) mit bis zu 25.000 DM jährlich.145 Ab 1975 wurden die Gelder gesammelt über das EMS kanalisiert.146 Auch der DEMR war kontinuierlicher Ansprechpartner im Blick auf die finanzielle Gestaltung der Arbeit.147 Auch diakonische Einrichtungen waren mit der Arbeit des OD verbunden. Das Diakonische Werk in Hessen und Nassau (DWHN) mit Sitz in Frankfurt am Main war neben EMO und EKHN maßgeblich an der Planung für Höpfners Freistellung für die Arbeit unter muslimischen Migranten beteiligt. Während das DWHN selbst für die griechisch-orthodoxen Arbeitsmigranten im Gebiet der EKHN zuständig war, wurden die Mitarbeiter auch mit Anfragen von arabischen oder türkischen Migranten mit muslimischem Hintergrund konfrontiert. Die zuständige Referentin des DWHN, Erica Ludolph,148 nahm an verschiedenen Tagungen des OD in Wiesbaden sowie an Islamkursen in Kaub am Rhein teil und erinnert sich: „Um den Islam und die Situation der moslemischen Menschen besser verstehen zu können, haben wir mit dem Orientdienst zusammengearbeitet. Dabei ging es eigentlich mehr um unser Verständnis. … Ich [habe] viel mit ausländischen Studenten im Kirchengebiet gearbeitet …, von denen ja viele … Moslems waren. Und um da innerlich zurechtzukommen, ist Pfarrer Höpfner für jemanden wie mich, die … eine ziemlich große Verantwortung hatte, wesentlich gewesen. Weil er ... außerordentliche Sachkenntnis hatte … und uns eben bei neuen Fragen und Zugängen sehr hilfreich gewesen ist.“149
143 144 145 146 147
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werden, die 1989 in Unterweissach von Manfred Bittighofer und dem libanesischen Pfarrer Hanna Josua ins Leben gerufen wurde, vgl. ELKWUe, Vertraute Laute, 2014; Evangelische Ausländerseelsorge, Identität, o.J. EAGWM (Kommunikations-Kommission), Brief an Höpfner, 26.5.1976; vgl. 7.12.1976, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Amtsblatt der EKHN 1/1966 (13.1.), 10. Vgl. Protokoll über die Vorstands-und Feldkommissions-Sitzung der EMO, 10.1.1964, EMO-Archiv PEMOVS 509. Einnahmen und Ausgaben des Orientdienstes 1971, Anlage zum Protokoll der Geschäftssitzung des Orientdienstes am 4.11.1972, OD-Archiv. Becken (EMS), Brief an Höpfner, 28.5.1975, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Im Juni 1964 dankte Höpfner Martin Pörksen (DEMR), „dass sie freundlicherweise uns DM 2000,- gleich zu Beginn des Jahres für den Druck von Daily Light zur Verfügung stellen werden“. Auch die Islamkurse des OD in Bad Boll und Kaub am Rhein wurden maßgeblich vom DEMR mitfinanziert, vgl. Buttler, Brief an Höpfner, 12.3.1968; Buttler, Brief an Höpfner, 7.1.1972, DEMR3, AG0818, EMW-Archiv. Vgl. Schmidt, Hilfsstelle, 2008; Ludolph/Jalla, Enquiry, 1966; Ludolph, Interview, 2010. Ludolph, Interview, 2010.
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Den Charakter und die verschiedenen Facetten der Verbindung zwischen DWHN und OD fasst Ludolph aus ihrer Sicht so zusammen: „Ich habe das alles unter der Ära Rathgeber erlebt, als oberstem Vorgesetzten in Hessen und Nassau. Wir alle mochten Willi Höpfner und seine Frau. … Unsere Haltung war dreiteilig: Sympathie persönlich – mit Abstand zu der missionarischen Tätigkeit; Dank für die Einsichten in Islam und Christentum, die er uns vermittelt hat; Dank für Hilfestellungen in besonderen Fällen.“150
2. Der Orientdienst und der Deutsche Evangelische Missionsrat Seit Gründung des OD bestand eine besondere Verbindung zum Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR), immerhin hatte das Mandat des DEMT in Spandau 1963 wesentlich zur Entstehung des OD im Dezember des gleichen Jahres beigetragen (siehe IV.A.2). Im DEMR widmeten sich verschiedene theologische Referenten neben ihren sonstigen Verantwortungsbereichen der Verbindungspflege mit dem Orientdienst: Gerhard Hoffmann von 1963 bis 1966,151 Paul Gerhardt Buttler von 1966 bis 1969 (und darüber hinaus, in seiner Zeit als ExekutivSekretär des DEMR)152 sowie Günter Dulon von 1969 bis 1975.153 Auch der spätere Erlanger Missionswissenschaftler Niels-Peter Moritzen154 hielt als ExekutivSekretär des DEMR zwischen 1962 und 1967 Kontakt zu Höpfner und dem OD.155 Vor allem angesichts der sich seit Mitte der 1960er Jahre verstärkenden innerkirchlichen und türkischen Kritik an christlichen Missionsbemühungen unter muslimischen Migranten erwies sich die Partnerschaft zwischen DEMR und OD als wesentlich und tragfähig.156 Trotz des gelegentlich sperrigen Charakters der Verbindungspflege mit dem Orientdienst und seinem Leiter Willi Höpfner, stellt Paul Gerhardt Buttler rückblickend fest, „dass [es] von Seiten des DEMR und 150 Ebd. 151 Gerhard Hoffmann (1930–2011), promovierter evangelischer Pfarrer, war Herausgeber der DEMR-Zeitschrift Das Wort in der Welt. Nach seiner Tätigkeit beim DEMR wurde er Leiter des Referats für missionarische Verkündigung im ÖRK in Genf. Von 1981–1995 leitete er den Fachbereich Ökumene und Ausländerarbeit des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt/M. Vgl. Schumacher, Gerhard Hoffmann. 152 Paul Gerhard Buttler (geb. 1931), der spätere Direktor des Nordelbischen Zentrums für Weltmission und kirchlichen Weltdienst (1975–95), war 1957/58 Missionsvikar im DEMR, 1958– 60 Schriftleiter des DEMR-Jugendblattes Ruf in die Welt und von 1961 bis 1965 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ökumenische Theologie, Tübingen. Ab 1966 war er im DEMR für das Islam-in-Afrika-Projekt zuständig, ab 1972 Exekutiv-Sekretär des DEMR vgl. Ahrens, Gehorsam, 1991. 153 Günter Dulon war von 1959–1969 Dozent und Studienleiter an der Bibelschule Wiedenest; ab 1969 theologischer Referent im DEMR und EMW Hamburg. 154 Niels Peter Moritzen (geb. 1928) war 1955–1962 Pastor der deutschen Gemeinde in Sonderborg/Dänemark, 1962–1967 Referent und Exekutivsekretär des DEMR und 1967–1993 Professor für Religions- und Missionswissenschaft an der Universität Erlangen, vgl. Moritzen, Mission im Umbruch 2006, 316. 155 Moritzen, Brief an Höpfner, 22.1.1964, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454. 156 Siehe VI.A.1. (Moritzen); VI.A.2.b) (Hoffmann); VI.C.3.a) (Buttler).
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seines Stabes bis zur Selbstauflösung von DEMT/DEMR keinerlei … Distanzierung von Aufgaben gegeben hat, wie sie der Orientdienst wahrnahm. Sie galten als beachtenswerte Aktivität von Mitgliedern, die … dafür auch kulturell und sprachlich … ausgerüstet waren.“157 Der DEMR sah seine Aufgabe jedoch nicht nur in der Förderung der Begegnung mit muslimischen Migranten in Deutschland, sondern hatte die weltweiten islammissionarischen Entwicklungen und Herausforderungen im Blick. Dafür sorgten nicht zuletzt die Missionsgesellschaften im DEMT, die in Ländern mit starken oder mehrheitlich muslimischen Bevölkerungsanteilen arbeiteten. Auch die Empfehlungen der Islam-Arbeitsgruppe auf dem DEMT in Spandau 1963 hatten sich, neben der Betonung der Migrantenarbeit, auf weltweite Aufgaben, etwa im Rahmen des Islam-in-Afrika-Projektes, erstreckt. Mitte der 1960er Jahre wies Theodor Müller-Krüger,158 Studienleiter des DEMR, darauf hin, dass die islambezogenen Aufgaben des DEMR mit der Gründung des Orientdienstes im Dezember 1963 nicht als erledigt angesehen werden könnten. 1965 initiierte er deshalb die Gründung einer Islam-Kommission des DEMR, die sich, im Unterschied zur deutschlandbezogenenen Aufgabe des OD, der weltweiten Arbeit unter Muslimen widmen sollte. Die Abgrenzung sollte sich jedoch als schwierig erweisen. Die Islamkommission des DEMR und der Orientdienst Im Mai 1965 entwarfen Hoffmann und Müller-Krüger das Konzept für die IslamKommission (IK). Im Vordergrund solle „das Studium des modernen Islams … mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen“ stehen. Außerdem mache „die äußere ‚Erfolglosigkeit‘ der Mission unter Muslims ... es … notwendig, diesen Zweig der Mission den Missionsgemeinden in seiner Besonderheit nahezubringen“.159 Die IK solle sich aus Vertretern von Missionsgesellschaften zusammensetzen, „die in islamischen Einflußgebieten arbeiten“,160 von einem DEMR-Referenten koordiniert werden, und ein Missionswissenschaftler solle den Vorsitz haben. Der Aufgabenbereich sollte die folgenden Schwerpunkte umfassen: „a) Die Islamkommission plant und fördert die wissenschaftliche Ausbildung einiger Islamspezialisten sowie die geistliche und theologische Zurüstung von Missionaren, die in den Einflußgebieten des Islams bereits arbeiten oder arbeiten sollen. b) Die Islamkommission fördert die Information über Entwicklungen im Islam durch laufenden Literaturhinweise … Sie erstrebt die Erstellung einer laufend zu ergänzenden Bibliographie der Islamliteratur und die Einrichtung einer zentralen Bibliothek. c) Die Islamkommission prüft und fördert die Mög-
157 Buttler, Brief an den Autor, 5.1.2010. Im Jahresbericht des DEMR von 1974 stellte sich Buttler angesichts kritischer Anfragen hinter die Arbeit des OD, siehe VI.C.3.a). 158 Zu Müller-Krüger: siehe IV.A.2.b). 159 Islam-Kommission, Entwurf Hoffmann/ Müller-Krüger, 19.5.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 160 Genannt werden Basler Mission, Rheinische Mission, Missionshaus Wiedenest, WEC, EFG Außenmission, EMO, CBM und EmK Außenmission. Fast alle waren auch am OD beteiligt. Protokoll, DEMR-Sitzung, 4. Jan. 1968, Pkt. 11, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812.
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst lichkeit regionaler Zusammenarbeit in den Missionsgebieten nach dem Vorbild des Islam-inAfrica-Project. d) Die Islamkommission sucht nach Wegen, die Mission unter Muslims den Missionsgemeinden in der Heimat nahezubringen. … Sie prüft und fördert Möglichkeiten gemeinsamer Heimatarbeit auf diesem Gebiet. e) Die Islamkommission arbeitet eng mit der Arbeitsgemeinschaft ‚Orientdienst‘ zusammen, die sich dem missionarischen Dienst an ausländischen Muslims in Deutschland widmet.“161
Ein punktueller Vergleich der Gründungsbeschlüsse des OD (s. IV.A.2.c) mit dem IK-Entwurf zeigt jedoch Überschneidungen: OD 2.12.1963
IK 19.5.1965
„Die Arbeitsgemeinschaft [gibt] ... einen ... ‚Informationsdienst‘ über Vorgänge in der islamischen Welt und über literarische Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Islamistik heraus.“
„Die Islamkommission fördert die Information über Entwicklungen im Islam durch laufenden Literaturhinweise … Sie erstrebt die Erstellung einer ... Bibliographie der Islamliteratur.“
„Veranstaltung von Kursen über den Islam für Mitarbeiter in der Betreuung von Orientalen ... [und] zur Zurüstung unserer Gemeinden für die Begegnung mit Muslims.“
„Die Islamkommission ... fördert ... die geistliche und theologische Zurüstung von Missionaren, die in den Einflußgebieten des Islams bereits arbeiten oder arbeiten sollen.“
Auf dem DEMT 1965 stellte der Vorsitzende des DEMR, Bischof Hans Heinrich Harms, den Plan der IK vor.162 Es stellte sich jedoch als schwierig heraus, einen Vorsitzenden zu finden. Der anvisierte Vorsitz des Heidelberger Missionswissenschaftler Hans-Werner Gensichen kam nicht zustande, auch der Mainzer Ordinarius Walter Holsten lehnte ab: „Obwohl die Aufgabe eine lockende ist, erscheine ich mir ungeeignet. Denn ich bin ja nicht ein Islam-Spezialist in dem Sinne, wie er erforderlich wäre.“163 Schließlich wandte sich Harms an Höpfner mit der Bitte, „interimistisch den Vorsitz in unserer Islam-Kommission zu übernehmen“.164 Höpfner sagte umgehend zu.165 Es zeigte sich jedoch, dass sowohl die erwähnten Überschneidungen in der Aufgabenstellung als auch die Personalunion im Vorsitz von IK und OD einer eigenständigen Entwicklung der IK entgegenstand, zumal Höpfners Kapazitäten begrenzt waren und er die meisten Aufgaben ohnehin beim OD gut aufgehoben sah. So verzögerte sich die offizielle Konstituierung der IK, 161 Islam-Kommission, Entwurf Hoffmann/ Müller-Krüger, 19.5.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812, kursiv FW. 162 Protokoll Mitgliederversammlung DEMT, 11.–12.10.65 in Königsfeld, S. 4, EMW-AG 722. 163 Harms, Brief an Holsten 28.4.66; Holsten, Brief an Harms, 25.5.66, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 164 Briefwechsel Harms/Höpfner/Müller-Krüger 26.7.1966 und 29.7.1966, DEMR3, AG0812, EMW-Archiv. 165 Höpfner, Brief an T. Müller-Krüger, 29.7.1966, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. Am 8. August 1966 teilte Müller-Krüger den betreffenden Missionsgesellschaften mit, dass Höpfner „sich erfreulicherweise … bereit erklärt [hat], den Vorsitz dieser Kommission zu übernehmen. Müller-Krüger, An die Leitung der Basler Mission etc., 8.8.1966, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812.
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die nicht im Interesse Höpfners lag. Der DEMR beklagte, dass „der derzeitige Vorsitzende (Höpfner) … keinen klaren Unterschied zwischen dem ‚Orientdienst‘ und der Islamkommission [macht]“.166 Höpfner bestand darauf, falls eine offizielle Konstitution der IK überhaupt nötig sei, diese in Wiesbaden abzuhalten.167 Der DEMR bemühte sich währenddessen, das Überschneidungspotential zwischen OD und IK zu reduzieren.168 18./19.5.1965 29.7.1966 29.1.1968 28.5.1968 8.12.1969 11.11.1970 1971
IK-Planungsentwurf Hoffmann / Müller-Krüger Zusage Höpfners für den IK-Vorsitz IK-Sitzung, Wiesbaden (gescheiterte Konstituierung) IK-Sitzung, Köln-Dellbrück (Ev. Verein Syrisches Waisenhaus) IK-Sitzung, Wiesbaden (Vorschlag für kooperative Islamkurse) IK-Sitzung im Rahmen des 1. Islamkurses in Kaub am Rhein Auflösung der IK
Tabelle 12: Islamkommission des DEMR 1965–1971
Obwohl die Kommission sich dann tatsächlich Anfang 1968 in Wiesbaden unter dem Vorsitz Höpfners traf,169 konnte man sich nicht auf eine offizielle Konstitution einigen, da Höpfner immer noch „gewichtige Einwände gegen die Gründung einer weiteren Organisation“ hatte. Dem „Bemühen, uns gegenseitig zu helfen und zu fördern in dem Dienst an unseren moslemischen Freunden“, wollte er sich jedoch nicht entziehen. Man beschloss, die IK ohne Konstitution fortzusetzen.170 Doch es gelang Höpfner nun noch weniger, die IK als eigenständiges Gremium neben dem OD zu gestalten. In der Planung für einen Islamkurs in Bad Boll 1968, der eigentlich von IK und OD gemeinsam veranstaltet werden sollte, wurde es überdeutlich. Buttler schrieb Höpfner: „In meinem Vokabular buchstabiert sich Kooperation anders! … Wir [werden] uns anders arrangieren müssen.“171 Der DEMR zog sich von den Planungen für Bad Boll zurück, Ernst Schrupp, Missionsleiter in Wiedenest, übernahm den Vorsitz der IK, Höpfner blieb Stellvertreter. Man bemühte sich von beiden Seiten, die gewachsenen Beziehungen zwi166 Empfehlung des DEMR bei der Sitzung vom 22.9.1967, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. In der gleichen Sitzung wurde überlegt, statt Höpfner Rutkowsky (Rheinische Mission) als Vorsitzenden anzufragen. Doch auch dies kam nicht zustande. 167 Höpfner, Brief an Buttler, 4.10.1967; Buttler, Brief an Höpfner, 17.10.1967, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 168 Es sei „nicht an die Erstellung einer neuen Spezialbibliothek gedacht“ und „vorläufig“ ebenso wenig „daß die Kommission selbst Studienkurse durchführt“. Protokoll, Sitzung des DEMR, 4.1.1968, Punkt 11, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 169 Neben Buttler, Müller-Krüger und Höpfner nahmen Vertreter der folgenden Missionen teil: Palästinawerk, Baptistenmission, Wiedenester Mission (Schrupp und D. Herm), Hennig Herrmann (WEC), Methodistische Kirche, Basler Mission, Rheinische Mission, Tansania-Kommission (bestehend aus Berliner Mission, Bethel Mission, Breklumer Mission, Brüdergemeine, Leipziger Mission und Neukirchner Mission), Karmelmission, CBM. 170 Protokoll Sitzung IK, 29.1.1968, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 171 Buttler, Brief an Höpfner, 6.3.1968, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2.
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schen OD und DEMR nicht aufs Spiel zu setzen. Buttler schlug vor: „Wir sollten … die Sache beiseite legen.“,172 und auch Höpfner zeigte sich nicht nachtragend und beteiligte sich weiter an der Arbeit der IK. Schließlich beschloss der DEMR 1971 die Auflösung der IK, da sich „eine klare Aufgabenteilung von der Sache her nicht durchhalten ließ“. „Umso mehr“ sei dem DEMR „an einer bleibenden Verbindung zum Orientdienst gelegen“.173 Die Entwicklung der IK macht deutlich, dass die personellen Ressourcen zur Beschäftigung mit den Fragen evangelischer missionarischer Islambegegnung in lokaler und globaler Perspektive Ende der 1960er Jahre sehr begrenzt waren. Immerhin trug die IK dazu bei, die Durchführung islamkundlicher Kurse für Missionare und christliche Mitarbeiter als kooperatives Projekt evangelischer Missionen sowohl im OD als auch im DEMR in den Blick zu rücken. Dies führte ab 1970 zu jährlichen Islamkursen in Kaub am Rhein in Verantwortung von OD, DEMR und der von Wiedenest ausgehenden Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse (AfM), einem Vorläufer der AEM (siehe unten IV.D.3). 3. Die Missionswerke im Umfeld der Evangelischen Allianz a) Der Südländerdienst der Evangelischen Allianz 1961 Neben der Verbindung zum DEMR stellte die Kooperation mit freien Missionswerken, die nicht zum DEMT gehörten, aber im Umfeld der Evangelischen Allianz tätig waren, eine wichtige Achse im Orientdienst dar. Wesentlich war hier vor allem die Zusammenarbeit mit der Mission für Süd-Ost-Europa (MSOE) und dem Evangelischen Ausländerdienst (siehe c). 1961 hatte der Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) sich an die MSOE gewandt, mit der Bitte, sich „der ausländischen Mitbürger anzunehmen und unter ihnen mit dem missionarischen Dienst zu beginnen“.174 Daraufhin entstand der Südländerdienst der DEA, angesiedelt bei der MSOE. Bei der Gründung des Südländerdienstes wandten sich Ernst Fehler, Missionsleiter der MSOE, Paul Deitenbeck von der DEA und Ernst Schrupp von der Missionshilfe Wiedenest in einem Aufruf an die „uns verbundenen Gläubigen aus Kirche, Freikirche und Gemeinschaft“: „[Wir haben den] Eindruck, daß der Herr Jesus den Seinen vom Evangelium her einen besonderen Auftrag an den Südländern (Griechen, Italiener und Spanier), von denen ca. eine halbe Million in Deutschland arbeiten, gegeben hat. Gott macht Geschichte! … Die Mission für Süd-Ost-Europa … ist bereit, in Mitverantwortung der Unterzeichneten den Dienstauftrag an den Südländern zu übernehmen. Für diesen Ruf waren Geschichte und Erfahrung der Mission stark mitbestimmend.“175
172 173 174 175
Buttler, Brief an Höpfner, 12.3.1968, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Buttler, Brief an Höpfner, 7.1.1972, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Fehler, Wort, o.J., 151. Aufruf [um 1961], in: Fehler, Mitbürger, 1981, 5.
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Zwischen dem Südländerdienst bei der MSOE, der sich zunächst vorwiegend auf griechische, spanische und italienische Migranten konzentrierte, und dem zwei Jahre später begründeten Orientdienst, dessen Schwerpunkt auf der Islamarbeit lag, bestanden vielfältige, sich ergänzende Verbindungen, zumal Höpfner und die MSOE bereits seit 1961 in der Produktion arabischer Tonbänder zusammenarbeiteten. Mitarbeiter des Südländerdienstes besuchten die islambezogenen Tagungen und Fortbildungen des Orientdienstes, während die MSOE begann, ihr Aufgabenfeld auch auf türkische Gastarbeiter zu erweitern. Wesentlich dafür wurde der Beitrag des türkischsprachigen Missionars Thomas Cosmades, der in Athen lebte und bereits seit Anfang der 1960er Jahre wiederholt Missionsreisen nach Deutschland unternahm. b) Thomas Cosmades (1924–2010) Thomas Cosmades (1924–2010) war als Angehöriger der griechischen Minderheit (Rum milleti) in Istanbul aufgewachsen und hatte unter der Verkündigung protestantischer Missionare zu einem persönlichen christlichen Glauben gefunden. Er bezeichnet sich selbst als „third-generation Protestant Congregationalist“,176 da bereits seine Großeltern in der Türkei durch Missionare des American Board (ABCFM) Protestanten geworden waren. Im Elternhaus in Istanbul wurde Türkisch gesprochen, Griechisch lernte Cosmades in der griechisch-orthodox geführten Grundschule.177 Zur weiteren Schulbildung besuchte er die Robert Academy in Bebeck (Istanbul),178 wo er eine strenge und fundierte Ausbildung in Türkisch erhielt. Dies sah er im Rückblick als Vorbereitung auf seine späteren Aufgaben: „Our Turkish curriculum was of a high standard. It was geared to the requirement of the Turkish Ministry of Education. The subjects were: Turkish language and literature, history, geography and political science, all taught by qualified Turkish instructors. I was top student in Turkish language and literature, even though I came from a minority background. …. Everything was in God’s plan to prepare me for a future ministry about which I had no clue at the time. Much later I would be converted to Christ, be called to the ministry, primarily using Turkish, speak on the radio daily for fourteen years and translate the New Testament as well as writing other pieces.“179
Nach seiner Bekehrung zu Christus im Juli 1949 folgte Cosmades einer Einladung zum Theologiestudium in die USA. Dort heiratete er und nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Zehn Jahre später kehrten er und seine Frau als Mitarbeiter der Evangelical Alliance Mission (TEAM) nach Europa zurück, siedelten sich in Athen an, wohnten aber in den Sommermonaten in Istanbul. Von 1963 an begann Cosmades mit mehrwöchigen Evangelisationsreisen nach Deutschland – aufgrund einer Vision für die türkischen Gastarbeiter: „I’m a man that receives visions 176 177 178 179
Cosmades, Life, o.J., 59. Ebd. 37. Vgl. Stone, Communities, 1970. Cosmades, Life, o.J., 44.
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from the Lord, real visions, what to do, what can I do, how can I expand the work. So the Lord gave me the burden of Turks in Germany. ... But there was hardly any literature in Turkish in those days. … So, what to do?”180 Im November 1964 nahm Cosmades zusammen mit Mitarbeitern der MSOE an einer Orientdienst-Tagung in Wiesbaden teil. Für Höpfner war der türkischsprachige Missionar und Theologe ein Glücksfall und er bat ihn umgehend, „Texte zu Diabildern für Weihnachtsfeiern mit Türken auf Tonband [zu] sprechen“181 und Bibelauslegungen für einen türkischsprachigen Kalender für 1965 (siehe unten C.1.) zu verfassen. Der Schwerpunkt von Cosmades’ Tätigkeit, der 1968 von nach Athen nach Deutschland umzog, lag jedoch in der Zusammenarbeit mit der MSOE in der evangelistischen Literaturproduktion (siehe C.2) und als evangelistischer Redner (siehe C.4.) sowie in der türkischen Bibelübersetzung.182 c) Der Evangelische Ausländerdienst (EAD) Eine weitere, der Evangelischen Allianz nahestehende, Missionsorganisation, die im OD eine wichtige Rolle spielte, war der Evangelische Ausländerdienst (EAD). Bereits Weihnachten 1961 hatte Höpfner in Kooperation mit dem EAD ein Tonband produziert, „das die Weihnachtsbotschaft in arabischer Sprache und mit arabischer Musik an unsere arabischsprechenden Freunde in Deutschland weitergeben soll“.183 Der EAD war 1960 in Solingen, unter dem Namen Evangelischer Ausländerdienst Solingen (EAS), durch den Rentner Adolf B. Welter gegründet worden. Welter „machte Adressen ausfindig, wo er Bibeln in anderen Sprachen besorgen konnte. Er reiste hin und her durch Deutschland, um Gemeinden auf die bei ihnen lebenden Ausländer aufmerksam zu machen und um Spenden für den Bibelkauf zu werben.“184 Zunächst spezialisierte sich der EAD auf italienische Arbeitsmigranten, erweiterte sein Literatur- und Medienprogramm aber bald auf weitere Sprachgruppen.185 Im kirchlichen Umfeld sah Welter sich immer wieder dazu veranlasst, das pietistische Missionskonzept des EAD gegen den Vorwurf des Proselytismus zu verteidigen: „Proselytenmacherei …. würde bedeuten, zu versuchen, die Ausländer in eine andere sichtbare Kirche hinüberzuziehen. Das lehnen wir grundsätzlich ab. Denn wir arbeiten auf Allianzbasis im Sinne der Ökumene. Es geht darum, das volle biblische Evangelium, die unverkürzte Botschaft vom Sünderheiland Jesus Christus zu verkündigen. Und das haben die 180 Cosmades, Interview, 2009. 181 Protokoll 3. ODT am 16.11.64, 4, EMW-Archiv, DEMR2, AG0454. 182 1978 übersetzte Cosmades im Rahmen der MSOE das Johannesevangelium unter dem Titel Su, Ekmek, Yaşam (Wasser, Brot, Leben) in modernes Türkisch. 1979 wurde er Hauptübersetzer im NT-Projekt der türkischen Bibelgesellschaft, vgl. Privratsky, Bible, 2011, 93. 183 Höpfner, Jahresbericht 1961/62, in: NEMO 3/1962, 2–5: 4. 184 Freerksema, Geschichte, 2010, 11. Mit dem Umzug nach Dortmund 1977 wurde der Name in EAD verändert. Um der Übersichtlichkeit willen wird hier nur das Kürzel EAD verwendet. 185 Vgl. Freerksema, Geschichte, 2010; H. Burkhardt et al, Evangelischer Ausländerdienst, in: ELThG, Bd. 1, 571/572.
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meisten Ausländer noch nicht so oder nicht oft genug gehört. … Und das geschieht frei von Polemik und frei von konfessioneller Bindung.“186 Die pietistische Ausrichtung, die konfessionelle Offenheit und der strategische Schwerpunkt des EAD im Bereich der Literatur- und Medienverbreitung machten ihn zu einem wichtigen Partner im OD. Neben arabischsprachigen Tonbändern und türkischsprachigen Diaserien war die Produktion von Abreißkalendern das wohl einflussreichste Projekt dieser Zusammenarbeit (siehe C.I.). 4. Transnationale Kontakte: Orientdienst und American Board a) Der Orientdienst und das ehemalige American Board in der Türkei Eine kurze, aber interessante Episode transnationaler Zusammenarbeit entwickelte sich zwischen dem OD und dem ehemaligem American Board of Commissioners for Foreign Mission (ABCFM)187 in Istanbul. 1961 hatte sich das traditionsreiche ABCFM mit anderen nordamerikanischen Missionsgesellschaften zum United Church Board for World Ministries (UCBWM) zusammengeschlossen,188 doch Willi Höpfner sprach – wohl aus alter Gewohnheit – weiter vom American Board. Auf einer Türkeireise im März 1964 hatte Höpfner Robert Avery,189 den Leiter der Redhouse Press des ehemaligen ABCFM, kennengelernt.190 Bereits in den 1930er Jahren hatte das ABCFM sein Engagement in der Türkei auf medizinische sowie Bildungs- und Verlagsarbeit reduziert.191 Mitte der 1960er Jahre umfasste die Arbeit noch einige Schulen, zwei Kliniken und den Verlag Redhouse Press, der durch linguistische und kulturelle Literatur einen Beitrag zum interreligiösen und interkulturellen Verständnis leistete. Bei der Begegnung in Istanbul im März 1964 machte Avery Höpfner auf die Kritik der türkischen Presse an der christlichen Missionsarbeit unter türkischen Gastarbeitern in Deutschland aufmerksam. Höpfners Ansinnen, die Biographie 186 Welter, Proselytenmacherei?, in: Freundesbrief für den Ausländerdienst, Nr. 18, 1963, 2. Zur Kritik der KfA am EAD s. VI.A.2. 187 Zur Geschichte des ABCFM in der Türkei vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 108ff; Feldtkeller, Mohammedanermission, 1997, 90ff. 188 Die Fusion erfolgte mit dem Board of International Missions, der gemeinsamen Missionsabteilung der German Reformed Church in den USA und der Evangelical Synod of North America sowie der Commission on World Service und dem Congregational Christian Service Committee (vgl. Walker, United Church Board, 1967; Avery, Ink, 1970). 1996 fusionierte das UCBWM mit der Division of Overseas Ministries (DOM) der Christian Church in the US (Disciples of Christ) zum Common Global Ministries Board, vgl. Nottingham, Origin and Legacy, 2004. 189 C. Robert Avery (1918–1979) lebte und starb in Istanbul, war Editor und Autor der Redhouse Press und hatte zusammen mit dem Turkologen Janos Eckmann u.a. das New Redhouse Turkish-English Dictionary (zweibändig, 1968) herausgegeben, vgl. Dobbins Title, A Fine Place of Rest, 1998. 190 Vgl. Höpfner, Eine Reise nach Persien und der Türkei, in: NEMO 4/1964, 56–61. 191 Vgl. Pikkert, Protestant Missionaries, 2008, 86; Stone, Communities, 1970.
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eines zum christlichen Glauben konvertierten muslimischen Migranten von der Redhouse Press in Istanbul drucken zu lassen, lehnte Avery rundweg ab: „aus Gründen der Ablehnung jeglicher apologetischer Literatur“.192 Als Gerhard Hoffmann, der zuständige Referent im DEMR, Höpfner vorschlug, Avery zwecks Zusammenarbeit nach Wiesbaden einzuladen, war Höpfner skeptisch: „Was kann das alles zur Förderung unserer literarischen Produktion beitragen? Ich sehe jedenfalls das Stirnrunzeln unserer etwas enger eingestellten Freunde von Geisweid [MSOE], dem Evang. Ausländerdienst u.a.“193 Höpfner sah sich zwischen zwei Stühlen. Einerseits hoffte er, Avery als Partner für die Produktion türkischsprachiger missionarischer Literatur und damit auch Finanzen aus dem Literaturfond des DEMR (siehe unten) zu gewinnen: „Es sei hier leise hinzugefügt, dass wir leider kaum türkisches Material haben, das das Evangelium in einer ansprechenden Weise klar und deutlich zum Ausdruck bringt. Ich möchte z.B. sehr gern Hassan Dehqanis gutes Buch … [Bild meiner Welt] ins Türkische übersetzt wissen.“194 Auf der anderen Seite wollte er den evangelistischen Charakter der ODLiteratur nicht einschränken: „Wesentlich erscheint mir, dass wir uns bei unserer Arbeit, bei allem Wissen um die Situation in der Türkei, nicht von daher bestimmen lassen. Wir dürfen hier manches wagen, was in der Türkei vielleicht nicht möglich wäre. Und ich glaube, wir müssen um des Evangeliums willen noch viel mehr wagen, als bisher gewagt worden ist.“ 195 Doch es gelang Hoffmann, Höpfner zu überzeugen: „Ich habe den Eindruck, daß [Avery] eine lange und lebendige Erfahrung mit der ‚türkischen Seele‘ hat und daß er uns einiges sagen könnte, das zur Nüchternheit mahnt. … Alles in allem: ich glaube, daß er uns einen wertvollen Dienst tun könnte.“ 196 So kam Avery im November 1965 zum Sondierungsgespräch nach Wiesbaden. Höpfner zeigte ihm die von einem türkischen Studenten erstellte Rohübersetzung von Dehqanis Biographie und rang ihm die Zusage ab, die fertige Version nach Istanbul schicken zu dürfen, „wo Herr Avary [sic!] so freundlich sein wird, sie noch einmal kritisch zu überlesen“.197 Der DEMR wollte das Projekt finanziell über den Christian Literature Fund (CLF)198 des ÖRK fördern. Darüber hinaus hegte er die Hoffnung, Avery könne nach seiner Rückkehr nach Istanbul „in einer säkularen türkischen Zeitschrift“ einen wohlwollenden Bericht über seinen Besuch beim OD veröffentlichen, „denn
192 193 194 195 196 197 198
Vgl. Höpfner, Brief an Hoffmann, 22.6.1965. EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Ebd. Ebd. Ebd. Hoffmann, Brief an Höpfner, 11.11.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Höpfner, Brief an Hoffmann, 22.11.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Der Christliche Literaturfonds war der beim DEMR verwaltete Zweig des 1963 gegründeten Christian Literature Fund (CLF) des ÖRK. Anfang der 1970er Jahre wurde der CLF in Agency for Christian Literature Development (ACLD) umbenannt und fusionierte 1975 mit der World Association for Christian Communication (WACC), vgl. World Association for Christian Communication, DEM 1079–80.
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bis jetzt scheint dort ja nur negativ über die Missionsversuche in Deutschland berichtet zu werden“.199 Optimistisch schrieb Hoffmann: „wenn wir auf ein gutes Betreuungsprogramm hinweisen können, könnten wir ruhig selbstbewußter hervortreten, auf Presseangriffe antworten oder gar das Gespräch mit türkischen Politikern suchen. Ich glaube man könnte allerhand tun, wenn man Versäumnisse oder falsche Methoden, die uns dort vorgeworfen werden, aufgreift und beantwortet, evtl. nachdem sie unter Gastarbeitern selbst diskutiert worden sind.“200
Seinen nächsten Besuch im Januar 1966 nusste Avery jedoch aus Krankheitsgründen kurzfristig absagen.201 Er schickte die schriftliche Fassung seines Vortrags „Der Hintergrund der Missionsarbeit in der Türkei“,202 der auf der OD-Tagung in deutscher Übersetzung verlesen wurde. Der Vortrag beschrieb die vielfältigen religiösen Realitäten in der Türkei, um in Deutschland verbreiteten klischeehaften Vorstellungen über die Religion der türkischen Gastarbeiter entgegenzuwirken. Averys Vortrag schloss mit einer Herausforderung an seine missionarisch gesinnten Zuhörer und einer – für 1966 – noch ungewohnten Prognose: .„Ich habe die Hoffnung, daß die Missionare in Deutschland den türkischen Gastarbeiter betrachten lernen als einen Menschen, der zu fremd ist, um seine Rechte zu erkennen und der zu ängstlich ist, diese durchzusetzen, und der deshalb einen Menschen benötigt, der ihm dabei hilft. Es wäre gut, wenn wenigstens einige deutsche Arbeiter etwas Türkisch lernen würden, um ihren Mitarbeiter besser kennen zu lernen. Es ist ferner unsere christliche Pflicht, darüber nachzudenken, wie wir dem [sic!] Türken helfen können, sich in die Heimatsituation wieder einzufinden, wenn sie hier ihre Arbeit wieder beendet haben. Auch sollten wir uns darüber Gedanken machen, was aus ihnen werden soll, wenn sie sich in Deutschland für immer niederlassen würden.“ 203
Im September 1966 kam Avery erneut nach Wiesbaden. Er gab Einblick in das Publikationsprogramm der Redhouse Press204 und erinnerte daran, dass „die meisten Arbeiter“ sich nur wenig um die religiösen Pflichten kümmerten und ihr Muslim-Sein eher national verstünden. An dogmatischen Fragen seien sie wenig interessiert, wohl aber an der Bibel: „Wenn ihm die Bibel oder das Neue Testament angeboten wird, so zeigt er insofern ein gewisses Interesse, als er wissen möchte, was im ‚christlichen Koran‘ steht. Man sollte ihm helfen, sich in diesem Buch zurechtzufinden.“205 Doch die Hoffnungen von OD und DEMR auf eine missi199 200 201 202
Hoffmann, Brief an Höpfner, 29.11.1965, 1, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Ebd. 2. Protokoll der OD-Tagung vom 17.1.1966, 1, OD-Archiv. Das Referat wurde dem Protokoll der OD-Tagung als Anhang beigefügt. Eine leicht überarbeitete Fassung erschien kurz darauf in der DEMR-Zeitschrift Das Wort in der Welt (WiW) 2/1966, 17–22. 203 Avery, Hintergrund, 1966, 22. 204 Averys Liste enthielt 12 Titel, davon drei vergriffene Titel des türkisch-armenischen Theologen Lutfi Levonian sowie Titel zu Psychologie, Philosophie, Wissenschaft und Religion. Als „das beste Buch in Türkisch über den christlichen Glauben und Praxis“ bezeichnete Avery Protestan Akidesine bir bakis (Istanbul 1964) von der amerikanischen methodistischen Theologin Georgia Harkness. Vgl. Anhang zum Protokoll der ODT, 19.9.1966, OD-Archiv. 205 In Übersetzung zit. im Protokoll der ODT, 19.9.1966, 3, OD-Archiv.
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onspublizistische Zusammenarbeit mit der Redhouse Press in Istanbul erfüllten sich nicht. Enttäuscht schrieb Höpfner im Dezember 1966 an Hoffmann: „Ich war etwas traurig darüber, dass unser lieber Bruder Avery in Istanbul es doch nicht wagte, die türkische Übersetzung [von Dehqani-Taftis Bild meiner Welt] … in der Türkei drucken zu lassen. Ich habe ihm ganz offen gesagt, dass wir wohl dann auch damit nicht rechnen können, dass er uns in der Türkei Traktate mit evangelistischem Inhalt, die sich selbstverständlich an Moslems richten, drucken lassen wird.“206
Das Scheitern der Kooperationsbemühungen war indes wenig überraschend, da eine missionarische Zusammenarbeit mit dem OD nicht nur im Widerspruch zur missionstheologischen Ausrichtung des ehemaligen ABCFM gestanden hätte (immerhin hatte man sich bereits in den 1930er Jahren den Perspektiven Hockings angeschlossen, siehe II.B.1.), sondern auch das seit Gründung der türkischen Republik (1923) existierende „gentleman’s agreement“ (Privratsky) zwischen türkischer Regierung und ABCFM zur Beschränkung der christlichen Arbeit auf soziale und kulturelle Bereiche gefährdet hätte.207 In indirekter Weise wirkte sich das agreement nun auch transnational auf die christliche Missionsarbeit in Deutschland aus. b) Paradigmenwechsel in transnationaler Perspektive Das Scheitern der Zusammenarbeit zwischen der Redhouse Press des ehemaligen American Board und dem OD kann auch im Licht eines postkolonialen missionsgeschichtlichen Übergangs gedeutet werden, den Eberhard Troeger im Blick auf die christliche Mission im Mittleren Osten als „Paradigmenwechsel“ beschrieben hat.208 Troeger beobachtet dabei einerseits den Rückzug klassischer westlicher Missionsgesellschaften in den 1930er bis 1950er Jahren209 und andererseits das Einsetzen einer „neue[n] evangelikale[n] Missionsbewegung im Mittleren Osten“ seit den 1960er Jahren.210 Die neuen evangelikalen Missionen seien „nicht mehr westlich, sondern international“ geprägt, oft mit starken regionalen einheimischen Einflüssen, legten den Schwerpunkt nicht auf interkirchliche Kontakte, sondern auf die Evangelisation, und seien darum auch in Ländern tätig, in denen noch keine einheimische Kirche existiert. Missionsmethodisch habe „die Arbeit mit Medi206 Höpfner, Brief an Hoffmann, 26.12.1966, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Die türkische Übersetzung von Dehqanis Biographie wurde schießlich Anfang 1967 vom OD selbst in Deutschland gedruckt und veröffentlicht, siehe ausführlich unten C.2.b). 207 Vgl. Privratsky, Turkish Bible, 2011, 90. Pikkert, Protestant Missionaries, 2008, 83–86. 208 Troeger, Paradigmenwechsel, 2005, 184–192: 188. 209 Troeger spricht von den „älteren evangelischen Missionswerke[n], die der Ökumenischen Bewegung verpflichtet sind“. Ebd. 188. Der Begriff klassisch entstammt der Typologie von Klaus Fiedler, Ganz auf Vertrauen, 1992, 12ff, und bezeichnet die am Anschluss an William Careys Baptist Misionary Society nach 1792 aufbrechende Bewegung christlicher Weltmission und die damit verbundene Entstehung von Missionsgesellschaften wie die Church Missionary Society, die Basler Mission oder das ABCFM, vgl. Walls, Ursprung, 1987. 210 Troeger, Paradigmenwechsel, 2005, 188.
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en, die nicht an einen bestimmten Ort … gebunden sind“,211 wie Literatur, Radio oder Bibel-Korrespondenz-Kurse an Bedeutung gewonnen. Zu den Pionieren der neuen Entwicklung zählt Troeger auch das Jugendmissionswerk Operation Mobilisation (OM),212 das in den 1960er Jahren damit begann, „internationale Teams junger Christen in die mittelöstlichen Länder und nach Nordafrika“ zu entsenden und trotz mancher anfänglicher Fehler „viel zum geistlichen Aufbruch im Mittleren Osten“ beigetrage habe.213 In der Türkei zeigt sich der von Troeger beschriebene Paradigmenwechsel deutlich im Vergleich zwischen dem American Board und dem neuen Ansatz von Operation Mobilisation. In seiner History of Turkish Bible Translations charakterisiert Bruce Privratsky den Übergang so: „They [Operation Mobilisation] criticized the ABCFM’s abandonment of specifically Christian evangelism. They were young and mobile, worked at secular jobs or came in and out of the country as tourists, learned Turkish, passed out Christian literature, shared their faith, and were generally brash, brave and lovable. Inevitably some were arrested, deported and blacklisted. Though they successfully invoked Turkey’s commitment to freedom of religion as specified in the Universal Declaration of Human Rights, they were violating the old gentlemen’s agreement between Ataturk and the ABCFM, disturbing the Turkish-secular / Christian-liberal axis. Today this first evangelical wave since the time of William Goodell, William Schauffer and Elias Riggs is remembered as heroic in the Turkish Protestant churches.“ 214
In abgeschwächter Form spiegelte sich der beschriebene Paradigmenwechsel auch in den transnationalen Beziehungen des OD wider. Höpfner, der selbst in der klassischen Missionsbewegung verwurzelt war, hatte zunächst, zusammen mit dem DEMR, auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem ehemaligen American Board in Istanbul gehofft. Gleichzeitig begegnete er – mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung – der neuen Missionsarbeit von Operation Mobilisation. Zwar setzte er seine „Fragezeichen“ hinter die „ungeschützte, manchmal schwärmerisch erscheinende“ Verkündigung, zeigte sich aber beeindruckt von dem Mut zu unkonventionellem christlichem Zeugnis.215 Auf seiner Türkeireise im Frühjahr 1964 besucht Höpfer nicht nur die Redhouse Press des ehemaligen ABCFM, sondern auch die kleinen internationalen Gemeinschaften der jungen Christen von OM: „Ein Türke führte mich … – ich möchte es einmal so nennen – zu einer missionarischen Untergrundgruppe. In verschiedenen Häusern und zu verschiedenen Tageszeiten traf ich sie an. Es sind Studenten, Amerikaner, Engländer, Schweizer, Türken und Jordanier. Sie studieren Türkisch an der Universität. Ihr ... Anliegen ... ist, ein Zeugnis von Christus ihren Mitstudenten zu geben. … Die Polizei verwarnt sie des Öfteren. Eine religiöse Propaganda ist auch in
211 212 213 214
Ebd. 190. Vgl. F. Schuler, Operation Mobilisation, in: ELThG, Bd. 2, 1475; Randall, Revolution, 2008. Troeger, Paradigmenwechsel, 2005, 189. Privratsky, Turkish Bible, 2011, 89–90, vgl. Pikkert, Protestant Missionaries, 2008, 86 und sein sicherlich diskussionsbedürftiges Urteil: „The once mighty American Board continued to run a hospital, three schools, and a publishing house ... The ABCFM had failed to clash with its own culture and it had failed to adapt to the host culture.“ 215 Vgl. auch Löfflers ähnliche, aber kritischere Wahrnehmung von Operation Mobilisation, Löffler, Testfall, 1972, 49. Siehe VI.C.3.b).
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst der modernen Türkei nicht erlaubt. Furcht scheinen sie nicht zu kennen. Sie wollen Gott mehr gehorchen als den Menschen. Man mag seine Fragezeichen setzen hinter diese Art der Verkündigung. Man mag darauf hinweisen, daß diese ungeschützte, manchmal schwärmerisch erscheinende Form auch den alten Missionsgesellschaften und kleinen protestantischen Kirchen im Lande schaden könnte. … Was immer man auch an Einwänden haben mag, man sollte sich freuen über die Jungmannschaft, die hier im Glauben etwas wagt, was andere nur in der Sicherung tragender Organisationen tun würden.“ 216
Auch wenn die Besuche bei den von Operation Mobilisation iniitierten christlichen Gruppen die (gescheiterte) missionspublizistische Zusammenarbeit mit der Redhouse Press des ehemaligen American Board nicht ersetzen konnte, blieb die Verbindung für die transnationalen Bezüge der Missionspraxis des OD wichtig. 217 Im Blick auf die angestrebten türkischsprachigen Literaturprojekte für Migranten eröffneten sich jedoch bald andere Kooperationsmöglichkeiten, unter anderem durch die Gründung des „Ausschusses für den bibelmissionarischen Dienst unter den Gastarbeitern in Westeuropa“ durch die United Bible Societies (UBS).218 Überraschenderweise wurden jedoch weder Bücher noch Bibelteile, sondern ein türkischer Tageskalender zum erfolgreichsten missionarischen Literaturprojekt. C. MISSIONARISCHE PRAXIS: MEDIEN UND MENSCHEN 1. Stille Präsenz: Der missionarische Kalender a) Die Entwicklung der Kalenderarbeit Ein Abreißkalender219 mit täglichen Bibelversen und Andachten auf Türkisch, Arabisch oder Persisch war eine der unspektakulären, aber weitreichenden Missionsmethoden des OD. Treffend bringt Y.K., damalige türkische Mitarbeiterin im OD, das Konzept und die Wirkung des Kalenders auf den Punkt: „Der Kalender [enthielt] Bibelsprüche mit kleinen Erklärungen und darunter auch einige deutsche Vokabeln …. Das heißt, die Türken konnten etwas Deutsch lernen, auch vom 216 Höpfner, Eine Reise nach Persien und der Türkei, in: NEMO 4/1964, 56–61: 59–60. 217 Im Lauf der Jahre kam es zu weiteren internationalen Kooperationen. Eine der wichtigsten war die mit der Evangelisch-Lutherischen Volksmission in Finnland (ELVF), die Mitte der 1960er Jahre gegründet worden war und sich als neupietistisch verstand. Die Kooperation begann mit etwa 30 finnischen Kurzzeit-Missionaren, die 1972 zu einem Einsatz unter türkischen Migranten in München nach Deutschland gekommen waren und die vom OD islamkundlich-missionarische Schulung erhielten. Es entstand eine längerfristige Kooperation und die ELVF wurde zu einem der Gründungsmitglieder des 1975 gegründeten OD e.V. (siehe oben IV.A.3.), vgl. NEMO 3/1972, 38.44; NEMO 4/1973, 50–55: 54; Höpfner, Missionstage in Heinola/ Finnland, in: NEMO 4/1975, 57–58. 218 Vgl. Protokoll, OD-Tagung, 28.11.1968, 3, OD-Archiv, OP6475; Müller, Brief an Sverre Smaadahl (UBS), 17.11.1969, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818, siehe unten IV.C.2.c). 219 Tagesabreißkalender, die das jeweilige Datum zeigten und kurze erbauliche Texte enthielten waren in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchlich. Vgl. Pieske, ABC des Luxuspapiers, 1983, 115.
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Evangelium hören. ... Und daraufhin, als diese Kalender verteilt wurden, haben wir sehr viele Briefe bekommen. So viele Briefe, dass ich am Tag mindestens sieben Briefe beantworten musste. … Also, das Interesse war gut.“220 Der Beauftragte der türkischen Religionsbehörde in Deutschland, Osman Erkmen, war besorgt: „Wenn man diesen türkisch-deutschen Kalender das ganz Jahr über liest, wird – selbst ohne Taufe – am Ende aus einem Moslem ein Christ.“221 1963 bot der OD den Kalender (für 1964) erstmals in Deutschland an. Er wurde christlichen Gemeinden als „großartige Gelegenheit“ und „als Weihnachtsgeschenk“ für Migranten empfohlen: „Als Rückwand hat der Kalender ein vergrößertes Farbfoto einer Töpferei in Altkairo ... Lassen Sie sich diese großartige Gelegenheit, unseren christlichen und muslimischen Freunden aus dem Orient täglich eine frohe Botschaft zu vermitteln, nicht entgehen. Der Kalender ist ab Dezember 1963 lieferbar.“222 Die Idee eines türkischsprachigen missionarischen Abreißkalenders kam offenbar von Thomas Cosmades (siehe oben B.3.b), der das Konzept seinerseits von griechischen Christen übernommen hatte: „The Lord gave me a vision to start a Calendar ministry. There was nothing like that. I got the idea from the Greeks. The Greeks had their own daily calendar, leaf calendar. I said, why can’t we have something in Turkish. ... No such thing was ever produced in Turkey.“223 Als Cosmades 1960 als Missionar von TEAM nach Athen kam, verfasst er Texte für einen türkischen Kalender, der mit Unterstützung von TEAM in einer Auflage von 5000 Stück in der Türkei gedruckt und verbreitet wurde. Die Logistik wurde von Freunden und Verwandten in Istanbul bestritten: „My father, who had given up his work by then, was a very eager volunteer in this ministry. He would type all the messages, many times way into the night, and after the printing of the calendars, would dispatch them in cartons to those who would use them, both within Turkey and outside of the country.“224 Als Cosmades ab 1963 Kontakte nach Deutschland aufbaute, weckte der Kalender das Interesse der Missionen: „As soon as the Ausländerdienst heard, he says, we need Turkish calendars. They started ordering calendars.”225 Auch der OD nahm die türkischen Kalender für 1964 in sein Angebot auf,226 doch die begrenzte Produktion reichte offenbar nicht aus.227 So beschloss Höpfner, den Kalender für 1965 in Deutschland selbst herstellen zu lassen, bat Cosmades aber, die Texte zu schreiben. Cosmades erinnert sich: „Höpfner said: I want to produce this calendar in Germany. ... Could you write the messages? Yes, I wrote the messa220 Y.K., Interview, 2009. 221 Zit. bei E.Ö., Bibelarbeit zu Offenbarung 3, Anlage zum Protokoll der OD-Tagung am 18.5.1974, OD-Archiv, OP6475. 222 Orientdienst-Beilage [vor Dezember 1963], OD-Archiv. 223 Cosmades, Interview, 2009. 224 Cosmades, Life, o.J., 46. 225 Cosmades, Interview, 2009. 226 Vgl. Orientdienst-Beilage [Sommer/Herbst 1963], OD-Archiv. 227 Der im Herbst vorangekündigte türkische Kalender fand sich im Dezember 1963 nicht mehr im OD-Angebot; es wurde nur der arabische Kalender angeboten, vgl. NEMO 6/1963, 92.
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ges. Then I was in Wiesbaden, actually stayed in their home for a while, to prepare and proof read.“228 Von 1965 an wurde der türkische Kalender jährlich in Deutschland produziert, von 1966–1968 jedoch ohne evangelistische Andachten, nur mit türkischsprachigen Bibelversen. Während EAD und MSOE sich schließlich für die Wiedereinführung von gezielt evangelistischen Auslegungen im Kalender aussprachen, befürwortete man im OD die Ausgabe nur mit Bibelversen, die sich als „ein gutes erstes Kontaktmittel erwiesen“ habe, während der mit Andachten versehene Kalender ... leicht von den Türken als religiöse Propaganda angesehen“ werde.229 Man beschloss, ab 1969 zwei Versionen herauszubringen: „der ‚Orientdienst‘ [wird] 4000 Exemplare türkische Kalender in der einfachen Form und der Ev. Ausländerdienst Solingen eine gewisse Zahl von Exemplaren in der von ihm gewünschten Form drucken lassen.“230 Dem Absatz tat die Doppellösung offensichtlich keinen Abbruch, denn die Auflage stieg bis 1971 auf 13.000 Kalender, die schnell vergriffen waren.231
Arabisch Persisch Türkisch
1966 1000 1000 2000
1967 1000 500 3000
1968 1000 500 1000
1969 1000 500 4000
1970 1300 4000
1971 2500 800 13.000
Arabisch Persisch Türkisch
1972 2000 500 16.000
1973 2500 500 6000
1974 5000 500 80.000
1975233 2000 500 82.000
1976 ? ? 100.000
1978 ? ? 100.000
232
1986 3.800 1.500 49.000
Tabelle 13: Auflagen des biblischen Abreißkalenders ab 1966
1972 einigte man sich wieder auf eine gemeinsame Form, zwar mit Andachten, jedoch ohne apologetische Ausrichtung. Ein irakischer Konvertit regte an, zusätzlich „ein Wort aus der Literatur des Heimatlandes … auf[zu]nehmen, das inhaltlich zum Wort der Bibel passt“. Er schlug vor „die Kalender an die orientalischen Seminare der Universitäten schicken“, um türkische, arabische und iranische Studierende zu erreichen.234 Für die inhaltliche Konzeption und das Verfassen der türkischsprachigen Kalendertexte waren ab 1972 die Mitarbeiter des OD um Jürg Heusser zuständig,235 während der EAD für die technische Umsetzung und die 228 Cosmades, Interview, 2009, vgl. Protokoll ODT 16.11.64, 4, OD-Archiv, OP6475. 229 Protokoll ODT 25.11.1968, 3, OD-Archiv, OP6475. „Das einfache Bibelwort aus ‚Thora‘ oder ‚Incil‘ [ist] für ihn vom Koran her annehmbar.“ Ebd., vgl. Protokoll ODT 15.1.1968. 230 Protokoll OD-Sitzung, 24.6.1968, Bad Boll, OD-Archiv, OP6475. 231 Vgl. Protokoll ODT, 21.2.1970; Protokoll ODT, 6.3.1971, OD-Archiv, OP6475. 232 Stattdessen wird das Andachtsbuch Daily Light auf Persisch angeboten 233 Höpfner, Jahresbericht 1975, 5 [Manuskript], OD-Archiv. 234 Vgl. Protokoll OD-Sitzung, 13.11.1971, 1, OD-Archiv, OP6475. 235 Vgl. Protokoll ODT, 6.3.1971, 3, OD-Archiv, OP6475
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Auslieferung der Kalender sorgte. Aufgrund des guten Absatzes wurde die Auflage kontinuierlich erhöht. Sie lag 1974 bereits bei 60.000 Stück und musste kurzfristig aufgrund der unerwartet hohen Nachfrage nochmals um 20.000 erweitert werden.236 1976 wurden 100.000 türkischsprachige Kalender gedruckt.237 Mit der Auflage stiegen auch die brieflichen Reaktionen von Leserinnen und Lesern, so dass die Korrespondenz sich zu einem eigenen Arbeitsschwerpunkt im OD entwickelte (siehe unten).238 b) Die Inhalte der Kalenderandachten Die Andachtstexte, die die türkischsprachigen Kalender ab 1972 regelmäßig enthielten, waren von einem christozentrischen, kultursensiblen Ansatz geprägt, der die menschlichen Erfahrungen der muslimischen Migranten aufgriff, um von der gemeinsamen conditio humana ausgehend, entlang des Bibeltextes den Weg zu Christus aufzuzeigen. Die Autoren suchten nicht die Auseinandersetzung „mit ihren moslemischen Lesern über die Richtigkeit ihrer Glaubensüberzeugung“.239 Weder „Vergleiche zwischen Bibel und Koran“ noch die Suche nach „Gemeinsamkeiten der beiden Religionen“ wurden angestrebt. Die Leser sollten merken, „daß hier die Schrift ausgelegt wird“ und „ein seelsorgerliches Wort, um das man sich gemüht hat“ sie erreicht: „Ein Wort, das hineinspricht in die menschliche Not, wie sie uns allen gemeinsam ist. Ein Wort der Hilfe und der Erlösung, wie es nur gefunden werden kann angesichts des Heils, das Jesus Christus der Welt geschenkt hat.“240 So wurde der Leser beispielsweise in die biblische Geschichte vom Propheten Jona (der als Yunnus auch im Koran vorkommt) hingenommen: „Es gibt Zeiten, in denen der Mensch so niedergeschlagen und traurig ist, dass niemand ihn trösten kann. Aber wie glücklich sind diejenigen, die Gott kennen und auch in der schwärzesten Finsternis seiner vollkommenen Gerechtigkeit und seinem grenzenlosen Erbarmen vertrauen können.“ Ein zweites Auslegungsbeispiel bezieht sich auf das in Markus 2,10 überlieferte Jesuswort: „Aber wisset, daß des Menschen Sohn Vollmacht hat, zu vergeben die Sünden auf Erden.“ Hier knüpfte der Kalenderautor an der für Muslime zunächst eher verständlichen Sendung Jesu als Menschensohn an:241 „Jesus nannte 236 Heusser, Was bringt der biblische Wandkalender, 1974, 12. 237 Vgl. Höpfner, Rückblick auf das Jahr 1976, in: ODI 42/1977, 4; Höpfner, Jahresbericht, in: ODI 54/1979, 2–8. Erst in den 1980er Jahren nahm die Auflage wieder deutlich ab. Für das Jahr 1986 lieferte der OD die Manuskripte für 49.000 türkische, ca. 3800 arabische und 1500 persische Kalender, vgl. Heusser, Jahresbericht 1986 [Manuskript], OD-Archiv. 238 Protokoll, OD-Sitzung, 6.5.1972, OD-Archiv, OP6475. 239 Heusser, Wandkalender 1974, 12, vgl. Protokoll ODT 9.2.1974, OD-Archiv, OP6475. 240 Heusser, Wandkalender 1974, 12. 241 Auch der Islam kennt Jesus als Gesandten Gottes, als Wort und Geist Gottes: „Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm.“ (Sure 4, 171 nach Paret).
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sich Menschensohn: Er war auf die Welt gekommen, um die Menschen, die in die Sklaverei der Sünde geraten waren, zu retten.“242 Als Menschensohn kennt Jesus „die Schwächen, Gebundenheiten der Menschen, wie sie unter der Sündenlast zerdrückt werden“. Auch der von Muslimen abgelehnte Gedanke der Gottheit Jesu wird vorsichtig anknüpfend erläutert: „da er von Gottes Geist geboren war, war er Gott ... Daß der Gelähmte heil wird, zeigt, daß Jesus auch Vollmacht hatte, Sünden zu vergeben.“ 243 Diese kurzen Beispiele machen den Ansatz der Kalendertexte deutlich: den Verzicht auf polemische oder vergleichende Bezüge zum Islam, vorsichtige Anknüpfung an für Muslime verständlichen Konzepten, vor allem aber an gemeinsamen menschlichen Erfahrungen, und eine seelsorgerlich akzentuierte Vermittlung der christlichen Botschaft. c) Die Reaktionen: Briefe türkischer Leser Die Reaktionen türkischer Leserinnen und Leser ließen sich an den Briefen ablesen, die in wachsender Zahl beim OD eingingen. Zunächst zeigten die Briefe die Verbundenheit der Leserschaft, da „viele türkische Gastarbeiter, die den Kalender im vergangenen Jahr gelesen haben, denselben in diesem Jahr wieder bestellt haben“.244 Die Leser drückten Wertschätzung für den Kalender aus, äußerten aber auch Fragen und Kritik. Ein türkischer Leser schrieb: „Jedes Jahr bekommen wir einen Kalender von Menschen, die wir nicht kennen. Auf dem Kalender haben wir sehr schöne Sätze gelesen, aber Namen gefunden, die uns fremd sind und über die wir keine Auskunft erhalten konnten. Jetzt lese ich das Neue Testament und beginne zu verstehen. Was ich nicht verstehe, werde ich sie fragen. Ich liebe die Kirchen sehr und gehe auch in die Kirche, aber ich verstehe nicht viel, weil ich nicht deutsch spreche.“245 Aus den Fragen der Leser entstand manchmal eine längere Korrespondenz. Einige nutzten das Angebot des OD, um Literatur oder einen Korrespondenzkurs zum Studium der Bibel anzufordern,246 andere bemühten sich ihrerseits die Mitarbeiter des OD vom Islam zu überzeugen. Insgesamt lassen sich in den anonymisiert veröffentlichten Auszügen aus Zuschriften vier interkulturelle und interreligiöse Grundhaltungen unterscheiden: 1. eine Affinität zur westlichen Kultur 2. eine Haltung interreligiöser Freundschaft; 3. der Ruf zum Islam und der Abbruch der Beziehungen; 4. verschiedene Formen religiöser Suche. 242 Heusser, Wandkalender 1974,13. 243 Ebd. 16. Diese Aussage war für Muslime nachvollziehbar, z.B. aufgrund Sure 3,135 (nach Paret): „wer könnte [den Menschen ihre] Schuld vergeben, außer Gott?“ 244 Heusser, Wandkalender, 1974,12. 245 Y.S., Was hält ein Türke von Jesus?, in: NEMO 2/1971, 24–25. 246 1969 hatte der OD einen von Jean Bichon (Universität Algier) verfassten Bibelkorrespondenzkurs aus dem Französischen ins Türkische übersetzt und der Situation in Deutschland anpasst. Protokolle ODT, 17.3.1969, 3; ODT, 15.11.1969, 2. OD-Archiv, OP6475. Zu Bichon siehe IV.D.2.
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1. Einige Zuschriften zeigten eine ausgeprägte Affinität zur westlichen Kultur, verbunden mit einem Bild Europas und der westlichen Welt, das man im Anschluss an Edward Said als umgekehrten Orientalismus247 oder als Okzidentalismus bezeichnen könnte. Ein türkischer Leser schrieb: „Ich habe großen Glauben an die christliche Welt, weil sie für die Menschheit viel Gutes tut. Seit zwei Jahren bin ich in Deutschland. Ich bin mit dem Zug hierher gekommen und mit dem Flugzeug nach der Türkei in Urlaub geflogen. In zweieinhalb Stunden war ich in Istanbul. Sei es auf dem Landweg, sei es auf dem Seeweg oder dem Luftweg, die Transportmittel werden alle von der Christenwelt hergestellt.“248 2. Ein anderer Verfasser betonte die interreligiöse Freundschaft und Bruderschaft zwischen Muslimen und Christen – eine Haltung, die offensichtlich in seinem türkischen Umfeld auf einigen Widerspruch stieß: „Lieber Bruder, Ihren Brief habe ich erhalten. ... Meine Freude darüber, daß ich in Deutschland einen Bruder und eine Schwester gefunden habe, ist so hoch wie ein Berggipfel. ... Wenn ich meinen Kollegen von Ihnen erzähle, antworten diese: ‚Du bist ein Moslem, und sie sind Christen. Was für eine Freundschaft sollte zwischen euch möglich sein?! Oder hast du etwa Interesse am Christentum?? Ich meine, man müsse nicht unbedingt gleicher Religion sein, um Bruder und Schwester zu werden. Wir bekämpfen uns ja gegenseitig nicht, sondern sagen unsere Meinung in aller Freundlichkeit. Denjenigen, die mir Vorwürfe machen, sage ich, Mohammed habe uns ja geboten, überall zu lernen. Manche sagen: ‚Wenn sie wüßten, daß du nicht Christ wirst, würden sie sich für dich nicht interessieren.‘ Ich habe ihnen geantwortet: ‚Meine Freunde in Wiesbaden tragen keine Masken und ich auch nicht.‘“249
3. Für manche Briefautoren schien eine solche Freundschaft über die Religionsgrenzen hinweg jedoch undenkbar. Die islamische Überzeugung, dass das Christentum einen Irrweg darstellt, ließ hier nur die Möglichkeit des Rufs zum Islam oder den Abbruch der Beziehungen zu: „Sehr geehrter Herr! Ich habe zwar Ihren Brief schon längst erhalten. Doch da sie mit den Koranversen nicht einig gehen, nützt es wohl nichts, wenn ich Ihnen schreibe. Die Mühe lohnt sich nicht. Wen die Koranverse nicht überzeugen, den kann nur die Höllenqual überzeugen. Deshalb werde ich mit diesem Brief meine Verbindung mit Ihnen abbrechen. … Wenn Sie sich nicht von Ihren Gedanken bekehren, werden Sie eines Tages sagen: Ach, wäre ich doch auf Erden ein Tier gewesen, dann hätte ich die Qual dieses Tages nicht erlebt! An jenem Tag werden Sie sehen, wohin Sie Ihr falscher Glaube gebracht hat. ... Gott sei gepriesen. Er ... hat die Religion des Islam eingesetzt. Diese genügt mir. Ich brauche keine andere. Ob ich lebe oder sterbe, ist es mein Wunsch, als Moslem zu leben und als Moslem zu sterben. Ich habe nicht den geringsten Zweifel an meiner Religion“ 250
4. Doch nicht alle Briefautoren waren sich ihrer religiösen Sache so sicher. Manche brachten eine Form von religiöser Suche und damit verbundene innere oder soziale Konflikte und Fragen zum Ausdruck. Ein türkischer Leser fühlte sich an247 Vgl. Said, Orientalism, 1978. Zur Frage des Orientalismus (bei Höpfner) siehe V.D.2.c). 248 Y.S., Was hält ein Türke von Jesus?, in: NEMO 2/1971, 24–25; vgl. Gastarbeiter schreiben uns, in: NEMO 6/1971, 89–94. 249 Gastarbeiter schreiben uns, in: NEMO 6/1971, 90. 250 Ebd. 90–91, kursiv FW. Zur Interpretation des Kommunikationsabbruchs als islamische Reaktion im Sinne einer Exklusion des religiös Bedrohlichen, siehe VI.D.4.a).
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gezogen vom neutestamentlichen Jesusbild, fand sich aber im Konflikt mit seiner islamischen Prägung und seinen Erfahrungen des Christentums in Deutschland: „Ich habe Ihre Karte … erhalten. Was ich … über Jesus gelernt habe, gefällt mir sehr. Nun habe ich aber wieder sehr vieles zu fragen. Sie wissen ja: Als ich kürzlich in der Türkei war, diskutierten die Koranlehrer viel mit mir. Manche warfen mir vor, ich sei ein Christ geworden, obwohl dies noch nicht der Fall ist. ... Im Evangelium heißt es, außereheliches Zusammenleben und Ehebruch seien Sünde. Weshalb gibt es in Deutschland so viel außereheliches Zusammenleben? Ich habe festgestellt, daß dieses in Deutschland weiter verbreitet ist als in der Türkei. Viele Menschen hängen sich ein Kreuz um den Hals und leben doch sehr schlecht. Lieben diese Leute Jesus? Oder sind sie ungläubig! Warum werden wir am Arbeitsplatz nicht gleich behandelt wie die Deutschen? Wir sind doch ebenso Arbeiter wie sie. Wir lieben die Deutschen. Warum behandeln sie uns anders?“ 251
In manchen Briefen verband sich die religiöse Suche mit kritischen Überlegungen zur eigenen religiösen Tradition. Ein Leser schrieb: „Im Islam geht dieses äußerliche Formenwesen so weit …! In diesem kurzen Leben soll man jeden Moment wertvoll gestalten. Mich dünkt es schade um die Zeit, die man für die rituellen Gebete hergibt. Und überhaupt, wie soll man Gott in einer Sprache anbeten, die man nicht kennt!? Ich jedenfalls verrichte keine rituellen Gebete. Die Gebetsriten werden von einer ganz bestimmten Sorte von Leuten gemacht und gehütet, die ihren Nutzen daraus ziehen. Ich möchte in allen Dingen der Gesellschaft und meinem Nächsten keinen Schaden zufügen. Ich glaube fest an die Existenz Gottes. Aber sonst fällt es mir sehr schwer, von Herzen an übernatürliche Dinge zu glauben. … Wo kann ich ein türkisches Neues Testament finden?“252
2. Wunderbare Geschichten: Missionarische Literatur a) Traktate und Zeitungen Neben dem Abreißkalender diente missionarische Literatur in Form von Traktaten, Zeitungen, Büchern und Bibelteilen dazu, möglichst vielen muslimischen Migranten in Deutschland die – aus Sicht der Christen – „wunderbare Geschichte“ des Evangeliums nahezubringen. Das wohl erste türkischsprachige Traktat in Deutschland, das nicht nur Bibelverse, sondern einen narrativen Text mit evangelistischer Ausrichtung enthielt, wurde um 1963 von Thomas Cosmades253 verfasst und trug den Titel Bir Zenci Kölenin Hayrete Sayan Hikayesi (Die wunderbare Geschichte eines schwarzen Sklaven).254 Die Geschichte beruht auf einer Erzählung des deutschen Erweckungstheologen Christian Gottlob Barth (1799–1862)255 251 252 253 254 255
Gastarbeiter schreiben uns, in: NEMO 6/1971, 92. Ebd. 94. Zu Cosmades siehe oben C.1 sowie B. 3. b). Vgl. Hunn, Nächstes, 2005, 140. Barths Erzählung Der Negerknabe Cuff. Eine Erzählung für Christenkinder (1841) gehört zu einer Reihe von pietistischen Variationen „der moralischen Erzählung der Aufklärungszeit“, die eine emotionale Perspektive auf „Gotteserfahrungen im Alltag“ bieten. „Barths Auffas-
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und kam auf transnationalen biographischen Umwegen über die Vereinigten Staaten von Amerika256 und die türkischsprachige griechische Minderheit in der Türkei zurück in die Bundesrepublik Deutschland der 1960er Jahre. Cosmades hatte die Erzählung in den 1950er Jahren in den USA kennengelernt und fand sie passend für die Situation der türkischen Arbeitsmigranten in Deutschland: “[It is] the story of a Sklave [sic!], how he was converted and ... was a very faithful Christian; and his master was a cruel man … He prayed that his master finally come to Jesus Christ. It is a very beautiful story. And I put it in Turkish, because they were in this situation – they didn’t come here slaves, Sklaven, but they came here as ordinary Arbeiter.“257
Das Traktat wurde Ende 1964 vom Südländerdienst der MSOE unter türkischen Arbeitsmigranten verbreitet, was zumindest die kritische Aufmerksamkeit der Türkischen Botschaft erregte und zu einer Beschwerde beim Auswärtigen Amt führte: das Traktat sei „offensichtlich mit der Absicht herausgegeben [worden], in geistlicher Hinsicht Einfluss auf die türkischen Arbeiter auszuüben“.258 Obwohl die Wirkung von Traktaten begrenzter war, als die türkischen Behörden befürchteten, gab es immer wieder Ausnahmen. So berichtet der türkische Konvertit, A.Y., dass ein Traktat ihm den ersten Anstoß gegeben habe, sich mit dem christlichen Glauben zu befassen.259 Eine andere Form literarischer Mission war das Projekt einer türkischsprachigen evangelistischen Zeitung,260 die der OD 1965 zusammen mit einem türkischen Studenten (Ö.B.) und einem türkischen Christen aus syrisch-orthodoxem Hintergrund (B.C.) plante: „Das Blatt soll … eine Zusammenstellung der letzten Ereignisse in der Heimat, Einführung in die Situation Deutschlands, einen Fragekasten, in dem auch religiöse Fragen besprochen werden usw. [enthalten]. [Wir] haben hiermit eine sehr wichtige Angelegenheit aufgegriffen, denn es herrscht eine starke Nachfrage nach türkischen Blättern. ... [Mir] erscheint die Herausgabe eines gut geführten Blattes für unsere türkischen Gäste eine dringende Angelegenheit zu sein.“261
Das Projekt kam jedoch zunächst nicht zustande und schien, zumindest angesichts der sehr begrenzten personellen Ressourcen des OD (im türkischsprachigen Be-
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sung zufolge sind die Glaubenswahrheiten nicht primär durch den Verstand, sondern durch die Intuition zu erfassen.“ Adam, Barth, 2008, 131. Cuff, the Negro Boy: A Story for Christian Children [1849], ins Englische übersetzt von R. Menzies, vgl. Shattock, Cambridge Bibliography, 1999, 1745/46 [2364]. Cosmades, Interview, 2009. Dass Cosmades mit diesem etwas bizarren Vergleich in der damaligen Zeit keineswegs alleine stand, zeigt eine sozialkritische Veröffentlichung im Umfeld der evangelischen Diakonie: Ernst Klee, Die Nigger Europas. Zur Lage der Gastarbeiter (1971), siehe dazu VI.C.1.b). Vgl. auch postkoloniale Perspektiven unter VII.C.3. Aide-Mémoire der Türkischen Botschaft vom 23.3.1965, PA, AA, B85, Band 642. Ausführlich zu dem Vorgang, siehe VI.A.1. Siehe VII.A.5. Ein frühes Vorbild war Temple Gairdners Orient and Occident, ein englisch-arabisches Magazin, das ab 1905 in Kairo erschien und christliche Artikel und Berichte zum Zeitgeschehen enthielt. Vgl. Vander Werff, Mission to Muslims, 1977, 193f. Höpfner, Brief an Hoffmann, 22.6.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818.
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reich) zu diesem Zeitpunkt, zu ambitioniert. Erst über zehn Jahre später (1977) kam es zur einer Umsetzung mit der Herausgabe der Yaşam Gazetisi (LebenZeitung): „eine Zeitung in türkisch für unsere Gastarbeiter“. Das schmale Blatt enthielt aktuelle Schlagzeilen und alltagsbezogene Themen mit evangelistischer Ausrichtung sowie eine besondere „Seite für die Frau“.262 Die starke Nachfrage, auf die Höpfner angesichts des dürftigen türkischsprachigen Zeitungsangebots Mitte der 1960er Jahre gehofft hatte, war 1977 jedoch nicht mehr in diesem Maße vorhanden. b) Bücher: Das Bild meiner Welt Generell war zeitgemäße christliche Literatur auf Türkisch in den 1960er Jahren Mangelware. Schon bei der Gründung des OD hatte Höpfner das Fehlen von Literatur „für unsere islamischen Freunde aus der gegenwärtigen Fragestellung heraus“ beklagt.263 Besondere Hoffnungen setzte er auf die religiöse Autobiographie des iranischen anglikanischen Bischofs Hassan Dehqani-Tafti, Bild meiner Welt.264 Höpfner hatte Dehqani auf einer Reise in den Iran 1964 kennengelernt und in dessen nicht-apologetischem Ansatz christlich-islamischer missionarischer Begegnung eine Gemeinsamkeit gefunden. Das Buch zeige, „daß es die Wiedergeburt im Geist ist, die zu wahrer Erkenntnis Jesu verhilft“.265 In Bild meiner Welt beschreibt Dehqani-Tafti seinen Lebensweg bis zur Ordination als anglikanischer Pfarrer in Isfahan 1950 266 sowie Grundzüge des christlichen Glaubens angesichts des Islam. Dabei bemüht er sich, Brücken zwischen den Religionen zu schlagen: „Wenn ich auch weiß, daß Christentum und Islam sehr verschieden sind, so glaube ich doch nicht, daß Christen und Moslems zwei völlig verschiedenen Gottheiten dienen. Wenigstens steht mein Glaube an den christlichen Gott in enger Verbindung zu meinem Kindheitsglauben an den islamischen Gott. … Meine geistliche Glaubens-Wanderschaft vom islamischen Allah zum christlichen Gott geschah nicht losgelöst von dem, was mir bereits gegeben war.“ 267
Dehqanis Buch war ursprünglich in Englisch unter dem Titel Design of my World in London (1959) erschienen. 1960 hatte Hans Merklin, ein langjähriger Kollege 262 263 264 265 266
ODI 45/1977, 14ff. Höpfner, Literatur, 1964, 2, kursiv FW. Dehqani, Bild, 1976 [1960], 14. Höpfner, Allah, 1964, 3. Zu Höpfners Sicht der Wiedergeburt siehe V.D.2.f). Hassan Deqani-Tafti (1920–2008) war im Zentral-Iran aufgewachsen. Seine Mutter war Christin, sein Vater Muslim. Mit 18 Jahren ließ er sich taufen. Er besuchte die Universität in Teheran, absolvierte Militärdienst und studierte mit einem Stipendium des Near East Christian Council Theologie in Cambridge, wo er durch geistliche und persönliche Krisen ging. 1949 kehrte er in den Iran zurück und übernahm 1950 das Pfarramt in der St. Luke’s Church in Isfahan. 1957 traf er dort mit Kenneth A. Cragg zusammen, woraus sich eine lange Freundschaft enwickelte, vgl. Dehqani, Fruits, 2003. 267 Dehqani, Bild, 1976 [1960], 61–62. Bewusst hatte Deqani bei der Taufe seinen schiitischen Vornamen „nicht abgelegt“, aber „seine Heimat in Christus“ und der „lebendigen christlichen Gemeinde gefunden.“ Merklin, Nachwort des Übersetzers, in: Dehqani, Bild, 1976 [1960], 76–77.
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Höpfners in Ägypten, es ins Deutsche übersetzt (Stuttgart 1960). Kurz darauf wurde es vom Near East Christian Council (NECC) auf Arabisch herausgegeben. Nun wollte Höpfner durch eine türkische Übersetzung „der zur Verfügung stehenden türkischen Literatur ein wertvolles Zeugnis eines bekehrten Mohammedaners hinzu[fügen]“.268 1965 beauftragte er den türkischen Studenten Ö.B., der zeitweise im Missionshaus wohnte, mit der Übersetzung.269 Im Januar 1966 war die Übersetzung abgeschlossen. Nachdem die Verhandlungen mit der Redhouse Press in Istanbul (siehe oben IV.B.4.) gescheitert waren,270 wurde die türkische Version 1967 in Deutschland unter dem Titel Benim Hayatim (Mein Leben) mit einer Auflage von 4000 Stück vom OD selbst herausgegeben.271 Bis 1969 war die gesamte Auflage vergriffen.272 c) Bibelteile Ein wichtiger Teil der missionarischen Praxis im OD war die Bibelverbreitung.273 Zwischen 1962 und 1964 war der Anteil von Arabisch, Persisch und Türkisch in der fremdsprachlichen Bibelproduktion in Deutschland von 2% auf 12% gewachsen. Eine zunehmende Zahl christlicher Gemeinden war in der Weitergabe von Bibelteilen an türkische Migranten engagiert – nicht zuletzt durch die Impulse des OD.274 Anfang 1967 beschloss der OD „das Matthäus-Evangelium, das sich in besonderer Weise für den (gesetzesfrommen) Moslem eignet, zweisprachig (türkisch-deutsch) drucken zu lassen“. 275 Der deutsche Text wurde der Zürcher Bibel entnommen, der türkische Text der von der „Bible Society Istanbul empfohlenen“ neueren katholischen Übersetzung von Jean Wendel.276 An den Herstellungskosten beteiligten sich die Christoffel-Blinden-Mission (CBM) und die (Dr.) Lepsius’ Deutsche Orient-Mission (LDOM). Im Herbst 1967 lagen 10.000 Exemplare des 268 269 270 271 272 273
Protokoll 5. ODT 6.9.1965, 4. OD-Archiv. Ebd. Siehe IV.B.4.a). Protokoll ODT 17.1.1966, 4; Protokoll ODT 30.1.1967, 2; Protokoll ODT 8.1.1968, 3. Protokoll ODT, 15.11.1969, 3. Eine zweite Auflage wurde in Auftrag gegeben. Die Bibelverbreitung wurde auch von dem in missionarischer Hinsicht sonst äußerst zurückhaltenden ehemaligen American Board in der Türkei (siehe oben IV.B.4.a) befürwortet und praktiziert. 1975 belieferte die Redhouse Press über 80 Buchhandlungen in der Türkei regelmäßig mit Bibeln und Neuen Testamenten, vgl. Höpfner, Wort Gottes, 1975, 25–26. In der Konferenz für Ausländerfragen der EKD war die Verbreitung unter muslimischen Migranten in Deutschland jedoch umstritten, siehe VI.B.2. 274 So der Vorsitzende der Bibelmission in Deutschland, Alfred Müller, Protokoll ODT, 15.6.1964, 2, OD-Archiv, OP 6475. 275 Protokoll ODT, 30.1.1967, OD-Archiv, OP 6475. 276 Ebd. Jean Wendel war ein ungarischer Jesuitenpater, der Anfang der 1960er Jahre das NT in einfaches, modernes Türkisch übersetzte. Seine nur in einer Testversion verbreitete Übersetzung wurde zur Grundlage weiterer Übersetzungsprojekte der Bibelgesellschaft in Istanbul. Wendels Übersetzung „was the first effort to apply new vocabulary now felt to be more acceptable in secular, republican Turkey than the Arabic religious vocabulary of all previous Turkish translations“, Privratsky, Turkish Bible (H), 2011, 88.
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Isa Meshih‘in incili aziz Matta‘ya gore. Das Evangelium des Matthäus in Türkisch und Deutsch zur Bestellung und Verbreitung unter türkischssprachigen Gastarbeitern in Deutschland bereit.277 Aufgrund solcher Erfahrungen begründeten die United Bible Societies (UBS) 1968 einen „Ausschuss für den bibelmissionarischen Dienst unter den Gastarbeitern in Westeuropa“.278 Mit Hilfe des Ausschusses brachte der OD ein vollständiges türkisches Neues Testament als preisgünstige „Missionsausgabe“ für Gastarbeiter heraus.279 1972 war die Auflage von 25.000 weitgehend vergriffen, 20.000 weitere Exemplare wurden gedruckt.280 3. Saz und Handtrommel: Türkische Tonbänder Neben der Literatur bildeten Tonbänder in der Muttersprache der Migranten das missionarische Mittel der Wahl, um deutschsprachigen Gemeinden den Kontakt mit fremdsprachigen Migranten zu erleichtern. 1962 gab Höpfner mit dem EAD zusammen „ein von uns besprochenes Tonband“ heraus, „das die Weihnachtsbotschaft in arabischer Sprache und mit arabischer Musik an unsere arabischen Freunde in Deutschland weitergeben soll“.281 Später ließ der OD in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Karmelmission in Beirut, Libanon, „verschiedene Tonbänder mit biblischen Botschaften anfertigen. … Ein evangelischer Syrer singt diese biblischen Geschichten in syrischen Dorfmelodien. Die Aufnahmen auf Tonband werden im Studio des TWR in Beirut gemacht. Es soll nunmehr versucht werden, den reinen Wortlaut der biblischen Geschichten in der Art, wie Mohammedaner den Koran singen auf Tonband zu bringen.“282 Damit hatte der OD zwar die Palette arabischer Audioangebote erweitert, doch für türkische Hörer gab es kaum kulturell geeignetes Hörmaterial: „In 1968 there were only five Turkish songs available and they were translated from Armenian background, a few were translated from English. Not even one song with a Turkish melody was known.“283 Die traditionellen türkischsprachigen (evangelischen) armenischen Christen lehnten damals die türkische folkloristische Musik ab:
277 Vgl. Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 5/1967, 80. Beispiele persönlicher Bibelverbreitung beschreibt Quandt, Nachbar, 1981, 99–100. 278 Auskunft der Bibelmission im Protokoll, OD-Tagung, 28.11.1968, 3. OD-Archiv, OP 6475. 279 Protokoll ODT, 4.8.1969, 3, OD-Archiv, OP 6475. Müller, Brief an Sverre Smaadahl (UBS), 17.11.1969, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 280 Protokoll ODT, 2.9.72, 1, OD-Archiv, OP 6475. Ein weiteres gemeinsames Projekt mit der UBS war „eine neue Übersetzung des Markus-Evangeliums in türkisch“, ebd. vgl. Privratsky, Turkish Bible (H), 2011, 88. 281 Höpfner, Jahresbericht 1961/62, in: NEMO 3/1962, 4. 282 Protokoll der OD-Geschäftssitzung, Bad Boll, 24.6.1968, 2. OD-Archiv OP6475; Protokoll ODT 25.11.1968, 3, OD-Archiv OP 6475. 283 M.K., Ministries, 2005, 2.
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„[Sie wollten] unterstreichen, dass man sich nicht als aus dem türkischen Kulturkreis kommend betrachtete. Türkische Musik war ‚weltlich‘ und passte so gar nicht in einen Gottesdienst.... Alles Türkische (außer der Sprache) wurde möglichst vermieden. Es gab ein paar wenige Lieder, deren Melodie etwas orientalisch war. Doch auch da war der armenische Stil erkennbar: Traurig, gefühlsbetont, die Sehnsucht nach der oberen Heimat betonend. (Die Lieder in der armenischen Gemeinde wurden mit dem Harmonium begleitet.)“ 284
Erst junge türkische Konvertiten, auch im Kontext des OD, brachten eine neue Entwicklung in Gang. Einen maßgeblichen Beitrag dazu leistete E.Ö., der 1972 als Mitarbeiter zum OD kam und moderne Lieder im Stil türkisch-anatolischer Folklore schrieb.285 Jürg Heusser vom OD erinnert sich: „E.Ö. wohnte im nächsten Haus. Oft kam er noch vor dem Frühstück zu mir: ‚Der Herr hat mir ein Lied geschenkt. Komm, wir schreiben es schnell auf, sonst vergesse ich es wieder.‘ Bei aller Musikalität – E. konnte keine Musiknoten lesen oder schreiben – das war dann meine Aufgabe. …. Bei nächster Gelegenheit brachten wir das Lied unseren (wenigen) Türkischsprachigen Geschwistern bei. Sobald ein paar Lieder zusammen gekommen waren, stellten wir einfache Liederhefte zusammen. …. Die Lieder wurden aufgenommen und als Kassetten kopiert und zusammen mit den Liederheften an Türkisch-sprachige Gläubige geschickt. Daraus ist viel Segen geworden. Die meisten dieser Lieder werden auch 35 Jahre später noch gerne gesungen.“286
Im Unterschied zu den armenischen Liedern waren „typisch türkische Lieder … meist sehr rhythmisch, fröhlich, mit dem türkischen Saiteninstrument Saz und Handtrommel zu begleiten.“287 In musikalischer Hinsicht wurde die Innovation im Kontext des OD vor allem durch A.Y., einen türkischen Literaturstudenten und Musiker aus der Nähe von Igdır vorangebracht, der 1974 zum OD kam, die türkische Langhalslaute Saz spielte und dazu sang.288 Nun wurden Kassettenaufnahmen mit türkischen Liedern und Predigten ins missionarische Medienangebot des OD aufgenommen: „Damit geben wir unseren Freunden in Heim und Gemeinde eine gute Möglichkeit zur Untermalung der Frohen Botschaft in der Heimatsprache unserer türkischen Gäste“.289 Gleichzeitig waren mit der musikalischen Entwicklung wichtige Voraussetzungen für türkischsprachige christliche Rundfunksendungen in Deutschland geschaffen.290 Bei einer Tagung des OD im Juni 1975 284 Heusser, Biographische Angaben E.Ö., 2010, 4–5. Zur Geschichte der armenisch-evangelischen Kirche siehe Richter, Orient, 1930 [Reprint 2006], 60ff; Baumann, Lepsius, 2007. 285 Vgl. Heusser, Geschichte und Entwicklung, 2002, 7, zur Biographie von E.Ö. siehe VII.A.4. Zur Entwicklung eines türkischen Stils der Musik und damit verbundenen Identitätskonstruktionen vgl. Bartsch, Musikpolitik, 2011, 38ff; Wurm, Entertainment, 2008, 271ff. 286 Heusser, Biographische Angaben E.Ö., 2010, 4–5. 287 Ebd. 288 Zur Biographie von A.Y. siehe VII.A.5. Die Saz, die meist dreichörige (dreimal zwei Saiten) türkische Langhalslaute, ist ein beliebtes Instrument der türkischen Folkloremusik und spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung und Identität türkischer Musik im 20. Jahrhundert, vgl. Reinhard/ Jäger, Türkei, 1998, 1060; Bartsch, Musikpolitik, 2011,100ff. 289 Ein neues türkisches Lied, in: ODI 34/1975, 2–3.9, vgl. A.Y., Bericht zur Mitgliederversammlung 1984, OD-Archiv. 290 Bereits auf der OD-Geschäftssitzung am 4.11.1972 hatte Günter Dulon (DEMR) darauf hingewiesen, „dass der ERF Wetzlar noch Sendezeit frei hat … und empfiehlt, davon Gebrauch zu machen“. Protokoll, OD-Geschäftssitzung, 4.11.1972, OD-Archiv.
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warb Horst Marquardt, der Leiter des Evangeliums-Rundfunks (ERF) in Wetzlar, für eine Kooperation: „Aus einer „Symbiose“ zwischen OD und ERF könne „ein sehr fruchtbarer Dienst für türkische Gastarbeiter in Deutschland erwachsen“.291 Das erste türkischsprachige Programm von ERF und OD ging am 4. Oktober 1975 über Mittelwelle auf Sendung, wozu auch die neuen Formen türkischer christlicher Musik durch E.Ö. und A.Y. beitrugen.292 4. Kaffee und Kuchen: Einladung für türkische Gäste Auch wenn die Literatur- und Medienarbeit einen weiten Raum einnahm, bildeten persönliche Begegnungen und Treffen mit türkischen Arbeitsmigranten – wenn möglich in Kooperation mit deutschen christlichen Gemeinden – einen zentralen Bereich der Arbeit des OD. Dabei boten im deutschsprachigen Raum verbreitete kulturelle Muster wie Kaffee und Kuchen am Sonntagnachmittag oft auch den Rahmen für türkisch-deutsche Treffen. Tatsächlich waren die Kaffeetafeln bei einigen türkischen Gastarbeitern beliebt. Ein türkischer Religionsbeauftragter kommentierte einmal kritisch einen „Saal … voll von Türken – die einen, die durch Kaffee, Kuchen und Filme verführt worden waren, und die andern, die gekommen waren, um zu sehen, was die Missionare vorhatten“. Er urteilte, dass seine Landsleute gerne nach dem Motto „gratis Essig ist süßer als Honig“ lebten und die christlichen Missionare deshalb „mit dieser Methode sogar ein wenig erfolgreich“ seien.293 Der Erfolg hielt sich jedoch in Grenzen, da im Durchschnitt der meisten Treffen, die in der Regel nur an Wochenenden stattfanden, höchstens fünfzig türkische Gäste anwesend waren, und darüber hinaus im deutschsprachigen Raum in den späten 1960er Jahren nur zwei türkischsprachige Evangelisten als Redner für solche Treffen zur Verfügung standen. Die dadurch begrenzte Zahl von Veranstaltungen dürfte demnach insgesamt nur eine kleine Minderheit der damaligen türkischen Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik erreicht haben.294 a) Ablauf und Elemente der Begegnungstreffen Ein erstes großes Begegnungstreffen im September 1964 in Wiesbaden fiel allerdings aus dem Rahmen. Die kirchliche Presse nannte es „ein in seiner Form erstmaliges Experiment“295 und berichtete, dass „weit über 300 der … im RheinMain-Gebiet tätigen Gastarbeiter aus Ländern des Islam der Einladung ... zu einem Treffen mit evangelischen Jugendlichen in der hessischen Landeshauptstadt 291 292 293 294
Missionsdienst über Radio, in: ODI 34/1975, 5. Ebd. 4–5. Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Ausz. Übers., 13–15. Vgl. Schnautz, Völker, 2000, 37–38, Heusser, Interview, 2008. Die türkische Wohnbevölkerung stieg von 1969 bis 1971 von 322.000 auf 652.000, vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 2003, 199. 295 EKHN, Gastfreundschaft wie im Orient, 1964.
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[gefolgt waren]. Türken, Ägypter, Syrer, Iraker, Perser und Marokkaner waren es, Männer, Mädchen und sogar Frauen mit Kleinkindern.“296 Der OD hatte „zu einem besonderen Abend“ ins Gemeindehaus der Marktkirche eingeladen,297 wo die „evangelische Jugend für orientalische Gäste aus Wiesbaden und Umgebung sang, spielte und musizierte“.298 Zu Beginn der Veranstaltung erhielt jeder ein mehrsprachiges Programm und Höpfner begrüßte die Gäste: „Allzu lange sind wir Ihnen gegenüber kühl geblieben, haben wir die in Ihren Heimatländern so hochgeachtete Gastfreundschaft vernachlässigt …. Das soll jetzt anders werden.“299 Als Höhepunkt des Abends führte die evangelische Jugend Frankfurt das Theaterstück Der Wind lässt den Sand tanzen des französischen Autors Henri Brochet (1898–1952) auf.300 In der Pause „reichten Wiesbadener Jugendliche Tee und Kuchen“.301 Höpfners „Schlußworte standen im Zeichen der Bitte um die Kraft auch dem andersgläubigen Mitmenschen freundlich zu begegnen und ihn von der Last der Lieblosigkeit und der Einsamkeit zu befreien“.302 Auch das Angebot an christlicher Literatur in Arabisch, Türkisch und Persisch wurde von den Gästen genutzt.303 Von einem ähnlich großen Treffen mit 200 türkischen Teilnehmern in Köln berichtete Thomas Cosmades. Die angebotenen türkischen Neuen Testamente seien in kurzer Zeit vergriffen gewesen.304 Doch dies blieben Ausnahmen. Vor allem in den größeren Städten ließ das anfängliche Interesse bald nach. Zu einem Treffen des OD in einem „Gemeindesaal in einem Hinterhof am Mainufer“305 in Frankfurt im Jahr 1968 kamen zunächst nur drei Personen. Mitarbeiter christlicher Gemeinden hatten in den Tagen zuvor „in den Ausländerheimen mit schriftlichen Einladungen in türkischer und arabischer Sprache für die Veranstaltung“ eingeladen. Man beschloss spontan, „in das nahegelegene Ausländerheim zu fahren, um noch einmal persönlich einzuladen“. Ein Marokkaner fragte: „Warum wollt ihr uns denn unbedingt einladen?“ Man erklärte, man wolle „Gastfreundschaft“ üben, bei „Tee und Lichtbildern, und die Gelegenheit bieten „betende Christen kennenzulernen und nicht nur deutsche Arbeitskollegen, die Religion für Unsinn erklärten und nach der Arbeit keine Zeit für sie hätten.“ „‚Ja‘, sagte der Marokkaner, ‚dann versucht mal Euer Glück!“ Es blieb eine kleine Gruppe, doch man kam „bei Tee und Keksen gut ins Gespräch“, 296 297 298 299 300 301 302
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304 305
Ebd. Die Einladung war auf Türkisch, vgl. Wiesbaden Protestan Gencligi, OD-Archiv, OP6475. Pfanschilling, Missionstage, 1964. Zit. in EKHN, Gastfreundschaft wie im Orient, 1964. Vgl. Henri Brochet, Der Wind läßt den Sand tanzen, Freiburg, 1958. Hintergrund des Theaterstücks ist das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht aus Matthäus 18, 21–35. Zit. bei Pfanschilling, Missionstage, 1964, 87–88, vgl. EKHN, Gastfreundschaft, 1964. Zit. bei Pfanschilling, Missionstage, 1964, 87–88. Wer Höpfner übersetzt hat ist unbekannt. Höpfner erwähnt einen syrisch-orthodoxen Christen, der ihn „oft bei Türkenversammlungen aus dem Arabischen ins Türkische übersetzte“. Höpfner, Midiyat, 1970, 57. „Am Schluss des Abends [wurden] Bibeln, Neue Testamente und evangelistische Schriften … von unseren islamischen Gästen … für 130,- DM [gekauft].“ Pfanschilling, Missionstage, 1964, 89. Vgl. Cosmades, Interview, 2009. Roloff, Orient in Frankfurt, 1968.
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und Höpfner „berichtete in Arabisch und Deutsch von seiner letzten Orientreise und zeigte Lichtbilder aus der Türkei“.306 In ländlichen Gebieten stießen die missionarischen Kaffeetafeln bei alle Beteiligten noch etwas länger auf Interesse. Cosmades erinnert sich: „They would have it beautiful ... and then they would offer coffee and cake, beautiful cakes ... Finally, I started telling the German ladies, please don't make so much.“307 Auch die türkischen Arbeiter zeigten sich hier interessierter. Ein Mitarbeiter der MSOE war überrascht: „Wir verteilten ca. ein Dutzend Einladungszettel und es kamen dreißig(!) Türken. Nicht nur aus den beiden Fabriken, die wir besucht hatten, sondern auch aus anderen Orten. Es regnete – und sie kamen trotzdem gerne. Das hatten wir bei anderen Gastarbeitern südlicher Nationen so noch nicht erlebt.“308 Die typischen Abläufe und Elemente eines Treffens umfassten (1) die schriftlichen Einladungen und das Abholen der Gäste, (2) Gemeinschaft und, soweit möglich, Gespräche bei Kaffee, Tee und Kuchen, (3) kulturbezogene Darbietungen, meist Diaserien über die Türkei, (4) eine kurze evangelistische Ansprache, (5) Gespräch und Diskussion zur Ansprache, (6) Literaturangebote. Über ein Treffen im Jahr 1965 im südlichen Westfalen berichtet Alfred Schnauz, der damalige Leiter der Literaturabteilung der MSOE: „Die Türken in W. ... sollten die ersten sein, um die wir uns bemühten. In einigen Wohnheimen lebte eine größere Zahl türkischer Männer, und die Entfernung zum Ort der Begegnung – einem christlichen Gemeinschaftshaus – war weniger als ein Kilometer. Im ‚Gänsemarsch‘ gingen wir zu Fuß, ein Auto fuhr zwei- oder dreimal hin und her. Der Saal füllte sich mit türkischen Männern und dann saßen 40–50 Leute bei Tee und Gebäck zusammen. Es folgten eine Diaserie aus der Türkei, eine Kurzansprache und danach viele Fragen und Antworten. Wie im Schulunterricht meldeten sich die Türken zu Wort, und oftmals standen drei oder vier Fragende auf, um Antworten zu erwarten, meistens sehr freundlich, manchmal aber auch energisch. Ich war nicht wenig überrascht, als am Schluss der Zusammenkunft recht viele Türken das Incil (NT) gegen Kostenerstattung mitnahmen.“309
Auch von islamischer Seite wurden die Treffen aufmerksam registriert. Der türkische Religionsbeauftragte Osman Erkmen berichtet, dass er „durch aufmerksame türkische Arbeiter in Kenntnis gesetzt“ worden sei über ein Treffen in Hattingen bei Essen, das von „Thomas [Cosmades], der im Robert Kolleg (Istanbul) studiert hatte“ geleitet wurde. „Es war klar, dass er als Missionar aus der Türkei gekommen war.“310 Dementsprechend wurden gelegentlich auch Gegenmaßnahmen organisiert.311
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Ebd. Cosmades, Interview, 2009. Freitag, Kreuz oder Halbmond, 1965. Schnautz, Völker, [2000], 37–38. Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Ausz. Übers., 14. Schnauz, Völker, 2000, 41, berichtet, dass ein islamischer Aktivist in einem Bus, der türkische Gastarbeiter zu einem Treffen bringen sollte, bei jeder Haltestelle „dafür sorgte, dass immer wieder Leute ausstiegen und sogar noch ein Teil den Gemeindesaal verließ“.
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b) Die Ansprachen und Reaktionen Die evangelistischen Ansprachen waren inhaltlich unterschiedlich akzentuiert. Während die Mitarbeiter des OD sich bemühten, die christliche Botschaft kulturell möglichst sensibel zu vermitteln, verfolgte Cosmades einen eher konfrontativen Ansatz. In einer nicht untypischen Ansprache stieg er mit einer für den türkischen Kontext brisanten historischen Illustration ein. Ein Mitarbeiter der MSOE erinnert sich, dass er anhand von „Farbdias die heutigen Trümmerstädten der ehemaligen sieben Gemeinde in Kleinasien“ darstellte und „anknüpfend an diese Zerstörung … von der Macht und den Folgen der Sünde“ sprach.312 Dann präsentierte er sein Verständnis der Kernelemente des christlichen Glaubens. Doch Cosmades rechnete mit der Ablehnung und dem Widerspruch seiner Zuhörer: „after ten minutes – and I will be very candid to tell you –... [came the] fight. Germans didn’t know, Germans thought that the Turks will come here and get converted, you see, that was their idea. So they found out, that wasn’t the case.“313 Der türkische Religionsbeauftragte Erkmen jedenfalls fühlte sich provoziert. In seinen Erinnerungen schrieb er: „Der Missionar Thomas zeigte zunächst Bilder aus verschiedenen Regionen der Türkei ... und hatte die Frechheit zu sagen ‚eigentlich gehört ja die Türkei den Byzantinern‘. Dann sagte er, dass seit dem Sündenfall Adams und Evas alle Menschen ... Sünder seien und wegen der Erbsünde bestraft würden ... Jesus habe für alle aus der Erbsünde resultierende Schuld durch seinen Tod am Kreuz Sühne geleistet. Wer sich ihm hingebe werde von seinen Sünden gereinigt.“314
Erkmen berichtet weiter, er habe darauf „ausführlich geantwortet, dass die Gedanken von Herrn Thomas total falsch und betrügerisch seien; ... dass alle neugeborenen Kinder rein und von Geburt an Muslime seien.“ Die am Ende der Veranstaltung verteilte christliche Literatur sei auf seine „Warnung hin ... in den Abfalleimer geworfen“ worden.315 Doch Cosmades berichtet auch von freundlichen Begegnungen und Reaktionen. Bei dem oben erwähnten Treffen in Köln mit 200 türkischen Gästen habe ein gebildeter türkischer Hodscha die Anwesenden ermutigt, sich ihr eigenes Bild von dem Gehörten zu machen und Neue Testamente zu kaufen. Cosmades erinnert sich: „He was a favourate, bookly inclined person ... This was an unforgettable meeting.“316 Doch nicht zuletzt aufgrund seiner biographischen Erfahrungen als Teil einer protestantischen Minderheit im muslimischen Umfeld der Türkei blieb Cosmades skeptisch im Blick auf die Bereitschaft von Muslimen, sich dem christlichen Glauben zuzuwenden. Die Mitarbeiter des OD verfolgten bei ihren evangelistischen Ansprachen dagegen einen nicht-konfrontativen Ansatz, der Gemeinsamkeiten betonte und nach 312 313 314 315 316
Freitag, Kreuz oder Halbmond,1965. Cosmades, Interview, 2009, vgl. Schnautz, Völker, 2000, 40. Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Ausz. Übers., 14. Ebd. 13–15. Cosmades, Interview, 2009, § 9.
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Verstehensbrücken suchte. Bei einem Treffen mit türkischen und nordafrikanischen Gastarbeitern in Frankfurt verteilte Willi Höpfner Spruchkarten mit dem 23. Psalm, den er dann (vermutlich auf Arabisch) laut rezitierte.317 Dass einer der muslimischen Zuhörer „unaufgefordert ein überzeugtes ‚Amen‘ hinzu[fügte]“, war für Höpfner nicht überraschend und eine durchaus erwünschte Reaktion: „Das Wort hatte ihm etwas zu sagen gehabt.“318 Seinen nicht-konfrontativen Ansatz erläuterte Höpfner so: „Es liegt uns daran, die Botschaft in ihr Leben hineinzusagen, d.h. sie nicht in einen unmittelbaren Gegensatz von Religion zu Religion, Islam zu Christentum, Koran zu Bibel, zu bringen. Wir sagen es ganz offen, wir vermeiden das Streitgespräch. Wir sind der Meinung, daß das in die menschliche Situation hinein verkündigte Wort sich genügend Aufmerksamkeit verschafft, ja Trost und Kraft spendet.“ 319
Bei seinen Ansprachen auf Arabisch (teilweise mit türkischer Übersetzung) pflegte Höpfner eine interreligiös inklusive (und gelegentlich auch vereinnahmende) Sprache, um die Basis des gemeinsamen Menschseins zu betonen: „daß wir doch alle, ob Moslems oder Christen, ein Bedürfnis nach Geborgenheit und Führung in allen Lebenslagen“ haben. „Und doch … [haben] wir oft den Eindruck …, daß Gott der Unerreichbare und Verschlossene sei. Gott aber kommt zu uns und öffnet sich uns in Jesus Christus, unserem Herrn.“320 Natürlich blieben auch hier kontroverse religiöse Debatten nicht aus. Bei einer Versammlung in Frankfurt protestierten zwei anwesende muslimische Leiter, der deutschstämmige Imam der örtlichen Ahmadiyya-Gemeinde321 und ein türkischer Hodscha, gegen Höpfners inklusive Verwendung des Wortes „Allah“ in seiner Ansprache: „Wenn wir schon von ‚Allah‘ sprechen würden, so müßten wir folgerichtig auch ‚Mohammed‘ sagen; denn allein Mohammed habe die Offenbarung des Namens Allah empfangen. Mein Hinweis darauf, daß es in Ägypten 4 Millionen Christen gäbe, die das arabische Wort ‚Allah‘ in ihrer Verkündigung und ihren Gebeten verwenden, schien ihn nicht … zu überzeugen.“322 Höpfner räumte ein: „Er hatte wohl insofern recht, als das christliche Gottesverständnis ein anderes ist als das des Moslems.“ Als „das Ganze … immer mehr in ein Streitgespräch aus[lief]“, bemühte Höpfner sich, gemeinsamen Boden zu finden: „Wir sagten dem deutschen und türkischen Geistlichen, wir seien hier, um allen, den Türken und den Christen zu sagen, daß es eine Möglichkeit gibt, zu Gott zurückzukehren und mit ihm in ein kindliches Verhältnis zu treten.“323 Höpfner versuchte das Treffen durch die „Lesung des 13. Kapitels des 1. Korintherbriefes“ zu beschließen, doch der Vertreter der Ahmadiyya unterbrach und begann die Debatte erneut.324 Als Höpfner sich schließlich mit „Salaam aleikum (Friede 317 318 319 320 321 322 323 324
Roloff, Orient in Frankfurt, 1968, 46. Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 4. Ebd. Roloff, Orient in Frankfurt, 1968, 46. Siehe I.B.2. Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 4. Roloff, Orient in Frankfurt, 1968, 46. Kursiv FW. Ebd.
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sei mit Euch)“ verabschiedete, lehnten die Muslime ab: „nur der Moslem habe das Recht, einem Moslem den Frieden zuzusprechen, denn allein der Islam sei die Religion des Friedens.“325 „Der türkische Hodscha“ versuchte nun seinerseits, „uns [zu] veranlassen, mit ihm das moslemische Glaubensbekenntnis zu sprechen.“ Nicht immer traf der anknüpfende Verkündigungsstil der Mitarbeiter des OD auf offene muslimische Gegenreaktionen. Begegnungstreffen in nachbarschaftlicher Konvivenz fanden oft in einer Atmosphäre gegenseitiger Höflichkeit statt. Dies zeigt der ökumenische „Arbeitskreis für Gastarbeiter“ in G., einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, der seit Ende der 1960er Jahre mit dem OD zusammenarbeitete. Der Initiator T.M. erzählt, dass verschiedene örtliche Kirchengemeinden, darunter die evangelische, katholische und methodistische Kirche sowie die Gemeinschaft der Altpietisten, regelmäßig gemeinsam „Gastarbeiterabende“ unter „türkischen Gastarbeitern“ durchführten326 und dazu „Herrn Heusser vom Orientdienst in Wiesbaden“ einluden. Dieser habe „sehr einfühlsam … nicht aufdringlich“ gesprochen. Im Anschluss hätten dann die türkischen Gäste gesagt „wir glauben das so und so“ und „ihren eigenen Glauben, ihre Glaubensvorstellungen, dagegen gesetzt. Aber es war sehr freundlich. Es war alles in einer sehr netten Atmosphäre, im Rahmen einer Gastfreundschaft.“327 Auch die Einträge türkischer Gäste im damals bereitgelegten Gästebuch schienen dies zu bestätigen. Dort hieß es zum Beispiel: „Zum ersten Mal sind wir guten Menschen … begegnet.“ oder: „‚Allah kuck‘ [Allah kümmert sich um uns].“328 5. Sozialmissionarische Begegnungs- und Familienarbeit Ein weiterer Schwerpunkt des OD lag auf der lokalen, sozialmissionarischen Begegnungsarbeit im Rhein-Main-Gebiet. Den Anfang hatte die Präsenzarbeit der christlichen Sozialarbeiterin R.J. unter türkischen Arbeiterinnen in Offenbach gemacht (siehe oben IV.A.1.c). Aus den dortigen Kontakten entwickelte sich die Familienarbeit des OD. R.J. half den türkischen Arbeiterinnen bei der Unterbringung und Betreuung ihrer Kinder und stellte den Kontakt zu Schulen und Kinder-
325 326 327 328
Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 4. T.M., Korrespondenz, 18.1.2010. T.M., Gesprächsnotiz, 11.12.2009. T.M., Korrespondenz, 18.1.2010. Im Rückblick stellt einer der Iniatoren fest, es habe keine Bekehrungen gegeben, doch Gäste und Gastgeber hätten sich „kennen und schätzen“ gelernt. In verschiedenen praktischen Fragen habe geholfen werden können. Auch private Kontakte seien entstanden: „Noch heute leben einzelne jener Türken hier, und es ist immer ein freudiges Wiedersehen, wenn wir uns treffen.“ Er fasst zusammen: „Also, ich erinnere mich noch gerne an diese friedlichen Auseinandersetzungen. … Es hat beigetragen auch zur ganzen Atmosphäre im Dorf.“ T.M., Gesprächsnotiz, 11.12.2009.
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horten her.329 In den Sommerferien lud R.J. die Kinder mit Einverständnis der Mütter zu einer 12-tägigen Freizeit ins Missionshaus nach Wiesbaden ein: 330 „Die schulfreien Wochen, die immer näher heranrückten, würden für die Kinder ein Sichselbst-Uberlassen-sein in dieser Industriestadt bedeuten, da die Mütter tagsüber in den Fabriken beschäftigt sind. Auch die Lage des Hauses und die Situation der Stadt versprachen ihnen nicht, die Ferien zu geben, die ein Schulkind zur Entspannung und Erholung braucht. So luden wir sie nach Wiesbaden … ein.“ 331
1965 beendete R.J. die Arbeit beim OD und übernahm eine diakonische Aufgabe an den Schneller-Schulen in Amman, Jordanien.332 Nach einer Zeit der Vakanz setzte 1967 die promovierte Archäologin Renate Fritz die Familienarbeit fort. Im Mai 1967 veranstaltete Fritz ein deutsch-türkisches Freundschaftwochenende mit einer kirchlichen Jugendgruppe und fünfzig türkischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Wiesbadener Missionshaus. Gekocht wurde gemeinsam und interkulturell. Das Sonntagsessen „wurde von vier Türkinnen liebevoll zubereitet“.333 Mit Unterstützung der im Missionshaus wohnenden Türkin Y.K. hielt Fritz eine kurze „Ansprache über die Liebe Gottes und die Liebe untereinander“. Trotz der sprachlichen Hindernisse wurde das Treffen positiv aufgenommen: „Von diesem ‚toplanta‘ [sic]334 erzählen alle Türken immer wieder. … Wie wichtig ist doch eine solche Begegnung, daß die Gastarbeiter etwas spüren von der Liebe Christi, die ihnen durch die Glieder der Gemeinde entgegenkommt.“335 Ähnliche Treffen fanden regelmäßig statt. Auch örtliche Kirchengemeinden beteiligten sich, in dem Wunsch „den Gastarbeitern und besonders den Moslems ein Zeugnis und Zeichen [zu] geben ... von dem Licht, das in die dunkle Welt gekommen ist, und von der Liebe Gottes, die sich darin offenbart?“336 Ein wichtiger Aspekt der Begegnungs- und Familienarbeit war die soziale Hilfe. Dazu gehörten Beratungen in Wohnungsfragen und beim Familiennachzug. Renate Fritz schrieb: „wir freuen uns, wenn wir wieder Freunden aus dem Orient helfen konnten. Meist suchen sie dann auch weiter Kontakt mit uns. ... Wenn sich die Gelegenheit ergibt, erzähle ich ihnen von Jesus und lehre sie türkische christliche Lieder.“337 Der christliche Einfluss wurde manchmal positiv aufgenommen. So kommentierte eine türkische Mutter: „Siehst Du, meine Kinder leben den ganzen Tag über mit Jesus, darum sind sie so gut!“338 Interkulturelle Gastfreundschaft und missionarische Wünsche konnten jedoch auch in umgekehrter Richtung verlaufen. Bei einem Besuch während einer Türkeireise überreichte Fritz einer türki329 Vgl. R.J., Rhythmus, 1964, 13–14. 330 Höpfner; Jahresbericht 1963/64 in: NEMO 2/1964, 34–39 und Jahresbericht 1964/65, NEMO 3/1965, 34–39. 331 Strothmann, Türkische Kinder, 1964. 332 Vgl. Höpfner, Jahresbericht 1964/65, in: NEMO 3/1965, 38. 333 Fritz, Mission daheim, 1967, 93–94. 334 toplantı, türk., Treffen. 335 Fritz, Mission daheim, 1967, 93–94. 336 Ebd, kursiv FW. 337 Fritz, Etliches, 1970, 78. 338 Zit. ebd. 79.
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schen Mutter „einige Farbfotos ihrer in Deutschland arbeitenden Kinder“.339 Sofort sei „ein Sturm der Entrüstung“ losgebrochen: „‚Unerhört, die Schwiegertochter trägt ihr Haar unverhüllt! Dann ist sie schlecht und böse!‘ Alle Vorstellungen halfen nichts. ‚Und wenn alle Frauen der Stadt ohne Kopftuch gehen. Ich bin Moslemin, und ich trage es und meine Töchter und Schwiegertöchter müssen es auch tragen.‘ So sprach die Mutter, während sie mir Mante, eine Spezialität aus Zentralanatolien auftischte. … Wie überall wurde ich auch in dieser Familie viel umarmt und geküßt, und zum Abschied meinte die Mutter: ‚Du bist mir wie eine Tochter so lieb, so vertraut und gut. Ach, wenn Du doch nur noch eine Moslemin würdest, dann wärest Du vollkommen!“340
Ab 1969 übernahm mit Y.K. erstmals eine Türkin Aufgaben in der Familienarbeit des OD. Sie erzählt: „Ich machte Familienbesuche und half den Frauen …, die nicht so gut Deutsch konnten und krank waren. Ich habe sie zum Arzt begleitetet oder zum Krankenhaus, oder zum Arbeitsamt, bei der Wohnungssuche. Und außerdem habe ich für die deutschen Sozialarbeiterinnen, die nicht Türkisch konnten, [übersetzt] und mit ihnen Familienbesuche gemacht.“341 Y. schildert ihren Eindruck, dass der christlich orientierte Besuchsdienst bis 1979 von den türkischen Migranten meist positiv aufgenommen worden sei. Danach sei es schwieriger geworden: „Also, bis Khomenei nach Iran kam, lief die Arbeit ziemlich gut. Aber nachher sagten die Türken irgendwie, Y. ist gefährlich, weil ich sie zu Christen machen würde. … Die türkischen Frauen haben ein Kopftuch getragen und sagten, wir sind Türken und man sagt, du kommst zu uns, damit wir Christen werden. Aber ich habe gesagt: Ja, das liegt nicht in meiner Hand. Aber bei den Besuchen oder Krankenbesuchen habe ich immer Psalm 23 und andere Psalmen vorgelesen und Gleichnisse habe ich erzählt. Also, die Leute, die in Not standen, Frauen, die mit ihren Ehemännern Probleme hatten …, habe ich versucht, von Psalmen, von Jesu Worten irgendwie zu trösten.“342
Sprach- und Schulprobleme der Kinder türkischer Migranten bildeten eine besondere Herausforderung in der Familienarbeit des OD. 1973 bat Höpfner den türkischen Soziologen Enver Esenkova 1973 um einen Vortrag zum Thema „das türkische Gastarbeiterkind und seine Probleme in Schule und Elternhaus“. 343 Im gleichen Jahr entwickelte der OD ein Angebot zur Hausausgabenhilfe, das von einem türkisch-deutschen Mitarbeiter-Ehepaar geleitet wurde. Jeden Nachmittag betreute C.Ö., die deutsche Ehefrau, türkische Kinder im Alter von 6–13 Jahren bei ihren Schulaufgaben: „Sie kommen aus den verschiedensten Schulen zu mir, und oft ist es nicht leicht, ihnen allen gerecht zu werden. 15-20 Kinder kommen täglich, weitere 20 ein bis zweimal wöchentlich, oder in noch größeren Abständen. Es ist eine buntgemischte Schar. Am Anfang wollte ich manchmal verzagen. Wie sollte ich Ruhe und Ordnung in dieses Durcheinander bringen! An ein normales Gespräch war nicht zu denken. Alles sprach und wogte durcheinander, wobei
339 340 341 342 343
Fritz, Streiflichter, 1968, 53–56. Ebd. 55, kursiv FW. Y.K., Interview, 2009, 1. Ebd. Islamkurs in Kaub am Rhein, 1973, in: NEMO 4/1972, 63–64.
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst ich die schlimmsten Schimpfwörter zu hören bekam. Dann wurde bekannt, daß ich Türkisch verstehe. Ein großer Pluspunkt für mich. Denn nun wurde es ruhiger im Klassenraum.“ 344
C.Ö. betonte den Wert des muttersprachlichen türkischen Unterrichts in der Schule: „Ich merke sehr wohl, ob ein Kind in eine türkische Klasse geht oder nicht. Die Kinder der türkischen Klasse haben ein Verhältnis zu ihren Aufgaben, während die anderen ganz auf meine Hilfe angewiesen sind.“345 Der türkische Ehemann, E.Ö., engagierte sich in der Betreuung türkischer Patienten in zwei Frankfurter Krankenhäusern. Zusammenfassend schrieb er Anfang 1974: „Ich habe bis jetzt mit ca. 200 Patienten Kontakt gehabt, habe ihre Schwierigkeiten und Nöte erfahren.“ 346 Die missionarische Familienarbeit des OD stieß erwartungsgemäß auch auf die Kritik muslimischer Aktivisten: der OD versuche, muslimische Gastarbeiter „auch über die Kinder von muslimischen Familien“ als „schwächste Stelle“347 zu beeinflussen. Demgegenüber erklärte Höpfner, dass es in der sozialmissionarischen Arbeit des OD nicht darum gehe, die Kinder vom Islam zu entfremden, schon gar nicht, sie in einen familiären Konflikt zu bringen, sondern ihnen die Liebe Gottes nahezubringen: „Ich meine, wir könnten das tun, ohne sie in einen inneren Zweispalt mit ihrem Elternhaus und der die Familie bestimmenden Religion zu bringen. Diese Kinder sollten durch das Erzählen von Jesusgeschichten zum Staunen gebracht werden darüber, wie Gott in Christus so ganz anders gehandelt hat, als wir es gewöhnlich erwarten. …Was kann das für Kinder, die aus dem Islam kommen, persönlich bedeuten? Vor allem dies: ich bin Gott wichtig.“348
D. MISSIOLOGISCHE ISLAMKUNDE: ISLAMKURSE AM RHEIN Neben der missionarischen Begegnung mit Muslimen stellten die islamkundliche Information und die theologische Orientierung für Christen im Blick auf den Islam ein zentrales Aufgabenfeld des OD dar. Im November 1970 fand der erste Islamkurs in Kaub am Rhein im Tagungszentrum Elsenburg hoch über dem Mittelrheintal statt. Die Referentengruppe setzte sich aus Orientalisten und Islamwissenschaftlern einerseits und Missionstheologen und Kirchengeschichtlern andererseits zusammen.349 Damit war eine Programmatik im Schnittbereich von Islamwissenschaft und Missionstheologie angedeutet, die man als missiologische Islamkunde bezeichnen kann. Die Brisanz dieser Verbindung hat der britische Islamwissenschaftler und Theologe David A. Kerr (1945–2008) so formuliert: „For many professionals the combination of Christian mission and Islamic Studies is anathema.“350 Doch Kerr begründet zugleich die Relevanz dieser Kombination 344 345 346 347 348 349 350
C.Ö., Erfahrungen, 1974, 22. Ebd. E.Ö., Gespräche, 1974, 5–6. Denffer, Probleme, 1977, 7, vgl. Ders, Mission, 1980, 23–25. Zu A. von Denffer, s. VI.D.3. Höpfner, Jahresbericht 1977, in: ODI 48/1978, 4. Siehe unten IV.D.3.a). Kerr, Islamic Studies, 2004, 34. Zu Kerr vgl. IBMR 32, 2008, 126–127.
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– mit dem unbestreitbaren Beitrag christlicher Missionare zur Erforschung und theologischen Reflexion des Islam sowie der damit oft verbundenen aktiven Förderung christlich-islamischer Beziehungen: „Historically, missionary scholars pioniered the study of Islam. In addition, missionary scholars were the first to examine Islam in the cultural context of Muslim societies.“351 Diese Relevanz einer missionarisch interessierten Islamkunde stand auch den Veranstaltern der Kauber Islamkurse vor Augen. In der Verbindung von Islamwissenschaft und Theologie sahen sie zugleich die Zusammengehörigkeit von Verstehen und Bezeugen in der christlichen Begegnung mit Muslimen abgebildet. Johan Bouman beschrieb das Konzept der Kauber Kurse und der damit verbundenen Buchreihe Christentum und Islam so: „Die Wichtigkeit dieser vor uns liegenden Veröffentlichung ist jetzt, dass versucht wird 1. in wissenschaftlicher Genauigkeit und Objektivität die verschiedenen Aspekte des Islam zu beschreiben und 2. … diese Erscheinungsformen von der christlichen Theologie aus zu bewerten. Wenn nur dieser christlich-theologische Versuch sich so gestaltet, daß der Muslim trotz der christlichen Fragestellung dennoch seinen eigenen Glauben darin wiederfindet, dann kann dieser Versuch als gelungen betrachtet werden.“352
Die Kauber Islamkurse, die ab 1970 jährlich stattfanden, hatten jedoch Vorläufer und eine Vorgeschichte. 1. Das Seminar für Islammission in Wiesbaden 1966 Die Idee, Islamkurse für missionarische Mitarbeiter anzubieten, bewegte Höpfner schon länger. Bei der Gründung des OD 1963 hatte man sich die „Veranstaltung von Kursen über den Islam für Mitarbeiter in der Betreuung von Orientalen ... [und] zur Zurüstung unserer Gemeinden für die Begegnung mit Muslims“ zur Aufgabe gemacht.353 Die eintägigen, regelmäßigen OD-Tagungen stellten erste Schritte in diese Richtung dar.354 Auf einer Englandreise im Februar 1966 erhielt Höpfner weitere Anregungen durch den Islamwissenschaftler John B. Taylor,355 der an der Universität Birmingham „Einführungskurse in den Islam“ für ausreisende Missionsmitarbeiter gab.356 Auch die Islamkommission des DEMR, deren Vorsitz Höpfner im Juli 1966 übernommen hatte, hatte die „geistliche und theologische Zurüstung von Missionaren“ auf ihr Programm gesetzt.357 Zur einer ersten 351 Kerr, Islamic Studies, 2004, 34. 352 Bouman, Einleitung,1971, 8; vgl. Bouman, Das Wort vom Kreuz, 1980, wo er diesen Ansatz ausführlich entfaltet. 353 Siehe IV.A.2.c). 354 Siehe IV.B.1. 355 John B. Taylor war zu diesem Zeitpunkt Reader in Islamics an den Selly Oak Colleges in Birmingham. Ab 1973 war er im Dialogprogramm des ÖRK für den christlich-islamischen Dialog zuständig und löste 1980 Stanley J. Samartha als Leiter des Dialogprogramms ab. 356 Höpfner, Brief an Müller-Krüger, 29.7.1966, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812, vgl. Höpfner, Gastarbeiter und die Kirche in England, 1966. 357 Siehe IV.B.2.
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konkreten Umsetzung kam es im September 1966 in Form eines viertägigen Seminars zur „Verkündigung des Evangeliums an Moslems“ in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für Weltmission (AfW) der SMD.358 Das Seminar verstand sich als „Pflanzstätte für die missionarische Begegnung mit Moslems in Deutschland und im Orient“.359 Der Teilnehmerkreis war vielfältig und umfasste „Anfänger im Missionsdienst und erfahrene Praktiker, Ausländer und Deutsche, Frauen und Männer, Menschen aus der Industrie und Studenten, Mitarbeiter von Missionsgesellschaften und interessierte Gemeindeglieder“.360 Das Referententeam war u.a. mit dem erwähnten Islamwissenschaftler John B. Taylor und dem Mainzer Missions- und Religionswissenschaftler Walter Holsten361 hochkarätig besetzt, umfasste aber auch profilierte Nachwuchstheologen wie Ulrich Parzany, der 1964–1965 als Vikar in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien gearbeitet hatte, und Eberhard Troeger, der vor seiner Ausreise nach Ägypten als Seelsorger in die Krankenausarbeit der EMO in Assuan stand.362 Die Referenten thematisierten historische, theologische und praktische Fragen und Hintergründe der missionarischen Islambegegnung (siehe Tabelle 14). Referenten Ulrich Ehrbeck John B. Taylor Eberhard Troeger Ulrich Parzany Walter Holsten Willi Höpfner
Themen Die Lage der Kirche im Orient zur Zeit der Entstehung des Islam Die Kirche im Orient und Mohammeds Offenbarungserlebnisse Mohammeds religiöse Erlebnisse – ein Offenbarungsproblem? Bibel und Koran – ein Vergleich anhand der Aussagen über Jesus Gründe für die Entstehung und rasche Ausbreitung des Islam Grundfragen der missionarischen Begegnung mit Moslems Aus der Geschichte der Islammission / Ostkirchen und Islam heute Probleme der Begegnung mit Moslems in Deutschland heute
Tabelle 14: Seminar für Islammission, Wiesbaden 1966
Die Beiträge von Holsten und Höpfner geben exemplarisch Einblick in die inhaltliche Ausrichtung der Tagung. Holsten betonte, die christliche Kirche verwirke „das Recht auf Islammission ..., wenn sie selbst einer ‚inneren Islamisierung‘ anheimgefallen sei, nämlich einem Denken nach den Maßstäben von Macht und Erfolg. Islammission ist nur möglich im Geist der Demut, Liebe und Barmherzigkeit Jesu Christi.“363 Höpfner sprach über die Begegnung mit „in Deutschland gastweise arbeitenden und studierenden Moslems“. Dabei müsse „deutlich werden, daß wir den Moslem nicht für eine andere religiöse Partei vereinnahmen wollen, sondern ihm das Angebot der Liebe Gottes zu machen haben“.364 Mit seiner 358 359 360 361 362 363 364
Siehe III.C.3.c). Troeger, Seminar, 1966, 12. Ebd. 13. Zu Holsten siehe II. C.4.a) sowie VI.A.3. Vgl. Parzany, Jesus der Moslems, 1968; Troeger, Weg in die Mission, 1966, 60–62. Zit. bei Troeger, Seminar, 1966, 13. Ebd. 14.
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Struktur und seinen Inhalten kann das Seminar als Muster für die weitere Entwicklung von Islamkursen im Umfeld des OD verstanden werden. 2. Der Islamkurs in Bad Boll 1968 Ein zweiter Vorläufer der Kauber Islamkurse fand im Juni 1968 an der Evangelischen Akademie in Bad Boll statt. Unter dem Motto „Unsere heutige Begegnung mit dem Moslem“365 wurde der viertägige Kurs von OD und Südwestdeutscher Evangelischer Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (SEAGWM) veranstaltet. Gegenüber dem Wiesbadener Seminar von 1966 war der Kurs deutlich größer angelegt und sollte ursprünglich gemeinsam mit der Islamkommission des DEMR durchgeführt werden. Doch aufgrund von Unstimmigkeiten zwischen Höpfner und dem DEMR in der Planungsphase366 hatte der DEMR sich von der Vorbereitung zurückgezogen und Höpfner hatte die Zusammenarbeit mit der SEAGWM gesucht. Die Spannungen konnten schließlich jedoch ausgeräumt werden, so dass auch der DEMR sich personell und finanziell an der Bad Boller Tagung beteiligte.367 Im Vergleich zum Wiesbadener Seminar verdoppelte sich die Zahl der Teilnehmer auf bis zu 120 Personen. Auch der Kreis der Referenten hatte sich erweitert; unter ihnen war Jean Bichon, französischer protestantischer Arabist an der Universität in Algier. Der politisch und theologisch konservative Gelehrte hatte während des Algerienkriegs (1954–1962) die interreligiöse Sozialarbeit des protestantischen Hilfswerks Comité Inter-Mouvements Auprès Des Evacués (CIMADE)368 unter algerischen Muslimen unterstützt und wirkte in dem protestantischen Centre Chrétien d’Etudes Maghrébines in Algier mit. Bichon war „committed to the view that Algeria’s Muslims needed to accept Christ not only for their spiritual redemption but for the intellectual emancipation which would arm them for the modern age“.369 Während Bichon die Begegnung mit Moslems im heutigen Nordafrika thematisierte, Olaf Schumann, der spätere Missions- und Religionswissenschaftler in Hamburg, das Christusbild der islamisch-arabischen Literatur herausarbeitete und Walter Wassermann, Missionar der Karmelmission, die missionarische Lage nach dem israelisch-arabischen Sechs-Tage-Krieg von 1967 sondierte, konzentrierten sich Holsten und Höpfner auf die Migrationssituation und die Kontroverse um Mission und Dialog.370 Höpfner betonte: „Wir müssen die Gegensätze zwischen Islam und 365 Abdruck des Programms in: NEMO 2/1968, 30–31. 366 Siehe IV.B.2., vgl. Protokoll OD-Tagung, 2.10.1967, OD-Archiv; Höpfner, Brief an Buttler, 4.10.1967, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 367 Der DEMR übernahm die Referentenhonorare und lud „mit einer freundlichen Empfehlung“ zum Islamkurs in Boll ein, vgl. Buttler, Brief an Höpfner, 12.3.1968, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818; Einladungsschreiben an alle Mitgliedsgesellschaften des DEMR, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 368 Siehe VI.A.2.a). 369 Adams, Conscience, 1998, 248. Vgl. auch Theis, Deux Protestants, 2004. 370 Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968. Zur Kontroverse siehe VI.A.2. und B. sowie II.D.
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christlicher Auffassung stehen lassen und können sie nicht überdecken mit dem Mantel einer Toleranz, die die Frage nach der Wahrheit aufgibt.“371 Gleichzeitig warnte er vor Überheblichkeit und plädierte für eine Mission in der Nachfolge Christi: „Wir [sollten] uns hüten vor aller überlegenen Bezeugung des Heils, als hätten wir eine Erkenntnis, die in keinem Vergleich zur islamischen Glaubensanschauung steht, als seien wir die Besitzenden und Überlegenen. … Unser Zeugnis sollte unsere Antwort auf seine unaussprechliche Liebe sein in einer Nachfolge Christi.“372 Referenten
Themen
W. Günther (SEAGWM) Olaf Schumann (Asyut, Ägypten) Jean Bichon (Algier) Walter Wassermann (Karmelmission) Walter Holsten Helmut Klopfer (Kairo) Willi Höpfner Podiumsdiskussion P.G. Buttler, W. Holsten, W. Günther
Moslems und Christen im Nahen Osten Das Christentum in der islamisch-arabischen Literatur Begegnung mit Moslems im heutigen Nordafrika Die Situation nach dem israel.-arab. Krieg Orientalische Studenten unter uns Die Bedeutung des Dogmas im heutigen Islam Türken und Nordafrikaner in Deutschland Dialog zwischen Moslems und Christen Bibelarbeiten
Tabelle 15: Islamkurs Bad Boll 1968
Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion zum „Dialog zwischen Moslems und Christen“. Holsten betonte, der Muslim dürfe „nicht länger ‚Objekt‘ unserer Missionsbemühungen sein … , sondern ganz einfach der Menschenbruder, für den wir hörend, ratend und helfend dasein müssen“.373 Höpfner plädierte für eine missionarische Verkündigung, die nicht auf interreligiöse Debatten und Kontroversen, sondern auf die spürbare Mitteilung der Liebe Gottes zielt: „Es wird uns hier sehr deutlich, daß Mission unter Moslems in erster Linie nicht eine Auseinandersetzung mit dem Islam ist, sondern eine Begegnung mit dem moslemischen Menschen und seinen Lebensfragen angesichts der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus“.374 Anwesende Christen aus dem Nahen Osten plädierten für ein ganzheitliches und vielfältiges Missionsverständnis. Es komme „nicht darauf an, daß eine völlige Lösung der Probleme oder ein einheitlicher Nenner für die Begegnung mit dem Moslem gefunden“ werde, vielmehr gehe es darum „einen Einblick zu gewinnen in die Vielfalt der Möglichkeiten, die Gott schenkt, indem er Menschen verschiedener Auffassung und Prägung zum gleichen Ziel ruft und gebraucht“.375
371 372 373 374 375
Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 6. Ebd. 6–7. Fritz, Islamkursus, 1968, 63. Höpfner, Jahresbericht 1968/69, in: NEMO 3/1969, 41. Zit. bei Fritz, Islamkursus, 1968, 62, vgl. Kades, Immer noch Mission? 1968.
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3. Die Islamkurse in Kaub am Rhein ab 1970 Die Kurse von Wiesbaden 1966 und Bad Boll 1968 wurden zum Auftakt der Islamkurse in Kaub am Rhein, die in ihrem Format größer angelegt waren. Die anfangs vierzehntägigen Kurse fanden seit 1970 jährlich statt und zogen Islaminteressierte aus unterschiedlichen Segmenten nicht nur des Protestantismus an.376 Auch die aus den Kauber Kursen erwachsene Buchserie Christentum und Islam (siehe unten c. und d.) fand als erstes kontinuierliches Veröffentlichungsprojekt dieser Art im deutschsprachigen evangelischen Raum Aufmerksamkeit.377 Der konkrete Anstoß zu den Kauber Kursen kam im Dezember 1969 aus Islamkommission des DEMR.378 Nachdem der Islamkurs von Bad Boll bereits über ein Jahr zurücklag, stark auf den Migrationskontext Deutschland ausgerichtet war und die freikirchlichen und evangelikalen Missionen (die sich im Februar 1969 zur Konferenz Evangelikaler Missionen, der späteren AEM, zusammengeschlossen hatten, (s. VI.B.1.) an der Planung kaum beteiligt waren, schlug Daniel Herm, Leiter der freikirchlichen Wiedenester Mission vor, „einen Studienkursus vorzubereiten, der Missionaren mit theoretischen Vorkenntnissen und praktischen Erfahrungen die nötige Hilfe für ihren Dienst in Gebieten mit islamischem Bevölkerungsanteil bietet. Ein solcher Kursus sollte allen Missionsorganisationen in der Bundesrepublik angeboten werden.“379 Der Anstoß wurde aufgegriffen, diesmal mit verbreiterter Kooperationsbasis, die neben OD und DEMR auch die Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse380 (AfM) einschloss. Der DEMR legte einen Programmentwurf vor, der in Absprache mit Willi Höpfner und Ernst Schrupp (Wiedenest) zum Muster für die nächsten Jahre wurde.381 Die dreifache Zielgruppe des Kurses beschrieb DEMR-Referent Buttler so: „Er ist als zusätzliche Vorbereitung für Missionskandidaten, als Angebot zur Weiterarbeit für Missionare im Heimaturlaub und als Zurüstung für Mitarbeiter unter ausländischen muslimischen Arbeitnehmern in Deutschland gedacht.“382 Die Suche nach Referenten teilte man zwischen OD und DEMR auf. Höpfner schrieb dem Orientwissenschaftler Bertold Spuler, Hamburg: „Wäre es Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, wohl möglich, uns vier Vorträge zu halten, zwei 376 Auch katholische Theologen, wie ein Pater der Weißen Väter, der mit dem Aufbau der katholischen Islamstelle (ÖKNI) in Köln befasst war (siehe VI.C.4.), nahmen gelegentlich teil, vgl. Teilnehmerliste des Islamkurses in Kaub am Rhein vom 26.10.–4.11.1973, OD-Archiv. 377 Vgl. Sundermeier, Islam, 1985. Auch der deutsche Muslim M.S. Abdullah nahm die Buchserie wahr, vgl. Abdullah, Präsenz, 1978, 21f. 378 In der IK-Sitzung am 8.12.1969, die Höpfner als stellvertretender Vorsitzender leitete, da Schrupp „wegen Arbeitsüberlastung“ nicht teilnehmen konnte. Protokoll der IK, 8.12.1969, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812, zur Islamkommission siehe IV.B.2. 379 Protokoll der IK, 8.12.1969, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 380 Vgl. DEMR, An die Mitglieder des DEMT, 5.6.1970, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. Die 1967 in Wiedenest entstandene AfM war ein Vorläufer der am 15.2.1969 von Ernst Schrupp einberufenen Konferenz Evangelikaler Missionen, der späteren Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen, vgl. Schrupp, Evangelikale Missionen, 1975, 140, siehe VI.B.1. 381 Buttler, Brief an Schrupp, Höpfner, D. Herm, 4.4.1970, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 382 Buttler, Brief an Raeder, 8.6.1970, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812, kursiv FW.
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über das Lebensbild Mohammeds und zwei über die Geschichte des Islam?“383 Buttler nahm Kontakt mit dem Tübinger Kirchenhistoriker Siegfried Raeder384 auf und stellte ihm den OD vor als freie Arbeitsgemeinschaft „von Gesellschaften, Gruppen und Einzelnen, die sich um muslimische Gastarbeiter kümmern und evangelistisch unter ihnen arbeiten“, die AfM als „evangelikaler Flügel der deutschen Mission“.385 Außerdem nutzte der DEMR sein Netzwerk zur Werbung. In einem Schreiben an alle Missionen vom Juni 1970 wurde (neben den Vorbereitungskursen von Dienste in Übersee) auf das neue Fortbildungsangebot des Kauber Islamkurses hingewiesen: „Gesellschaften, die in Asien oder Afrika in Gebieten mit islamischem Bevölkerungsanteil arbeiten, darf ich besonders auf den Islamkurs hinweisen, der … gemeinsam veranstaltet [wird] von der Islam-Kommission des DEMR, dem Orientdienst und der Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse … Wir meinen, daß dieser Kurs im Rahmen der Vorbereitungs- und ‚Refresher‘-Kurse für Missionare eine Lücke füllt.“386
a) Der erste Islamkurs in Kaub am Rhein 1970 Vom 31.10. bis 14.11.1970 fand der erste Kurs in Kaub am Rhein im Tagungszentrum Elsenburg statt, der hier pars pro toto beschrieben wird. Die gegenüber Bad Boll nochmals erweiterte Referentengruppe bildete das oben beschriebene und seit Wiesbaden 1966 maßgebliche Spektrum zwischen Islamwissenschaft / Orientalistik und Missionstheologie im Sinn einer missiologischen Islamkunde ab. Als Orientalisten (im weiteren Sinn) vertreten waren: Johan Bouman, damals Professor für Islamwissenschaft in Bochum; Jan Brugman, Professor für arabische Sprache und Kultur an der Universität Leiden; Bertold Spuler, Professor für Orientalistik in Hamburg sowie D. van der Meulen, niederländischer Diplomat mit jahrelanger Erfahrung in Saudi-Arabien. Aus (missions-) theologischer oder kirchenhistorischer Perspektive referierten Wolfgang Hage, damals Assistent am Lehrstuhl für Ostkirchengeschichte an der Universität Marburg, später dort Professor für Kirchengeschichte; Siegfried Raeder, damals Dozent und später Professor für Kirchengeschichte am Institut für Spätmittelalter und Reformation der Universität Tübingen; Walter Holsten,387 Missions- und Religionswissenschaftler in Mainz; Niels-Peter Moritzen, Professor für Missionswissenschaft in Erlangen; Paul Gerhardt Buttler, Islam-Referent beim DEMR. Willi Höpfner als missionarischer Praktiker und praktischer Arabist verband die beiden Gruppen. Die sich über fast zwei Wochen erstreckenden Vorträge deckten ein breites thematisches Spektrum ab, das sich in den Buchtiteln der ersten vier Bände der Reihe Christentum und Islam niederschlug: 1. Kirche im Raum des Islam, 2. Ge383 Höpfner, Brief an Spuler, 2.6.1970, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 384 Zu Raeder siehe I.A. Raeder wurde zu einem der kontinuierlichsten Referenten der Kauber Kurse (siehe unten, Tabelle 17). 385 Buttler, Brief an Raeder, 8.6.1970, EMW-Archiv, DEMR3, AG0812. 386 DEMR, An die Mitglieder des DEMT, 5.6.1970, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. 387 Zu Holsten: siehe II.C.4.a) sowie VI.A.3.
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schichte des Islam, 3.Glaube im Islam und 4. Ethik im Islam. Brugman sprach – ausgehend von Goldzihers Diktum „Propheten sind nicht Theologen“388 – über die Spannung zwischen dem Selbstverständnis des Islam als unveränderlicher Religion und seiner theologisch-dogmatischen Entwicklung im Mittelalter. Spuler beschrieb die islamischen Gesellschaften zwischen Tradition und Moderne und bewertete den Islam als bewahrende, konservative religiöse Kraft in den Umbruchsprozessen nahöstlicher Staaten. Noch unter dem Eindruck der 1968’er Studentenrevolutionen389 sah Spuler den Islam als „eine feste… unzerstörbare Größe“,390 die trotz eines „schweigende[n] Abfalls der Massen“ als uelle einer „religiös getragenen Selbstdisziplin“ eine wichtige Rolle für die Zukunft der nahöstlicher Nationen spiele.391 Wolfgang Hage beleuchtete die kirchliche Situation im Orient in der vor- und frühislamischen Zeit. Raeder setzte den kirchengeschichtlichen Überblick ins Mittelalter fort und folgte den Reaktionen der Kirche des Abendlandes auf den Islam von Peter von Cluny bis Martin Luther. Höpfner schloss den kirchengeschichtlichen Durchgang mit aktuellen Betrachtungen zur Koptischen Kirche in Ägypten und den syrisch-orthodoxen Kirchen in Midiyat am Tur-Abdin-Gebirge im Südosten der Türkei ab. Den historischen Betrachtungen folgten komparative Studien. Raeder verglich den christlichen und islamischen Gottesbegriff sowie die Konzepte von umma und Kirche. Moritzen thematisierte das Abrahambild im Alten Testament und im Koran sowie das Verhältnis zwischen Prädestination und freiem Willen in Islam und Christentum. Höpfner skizzierte Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Jesusbildes im Koran und im Neuen Testament. Bouman verglich das Verständnis der guten Werke in der Bergpredigt und im Islam. Holsten beschäftigte sich auf dem Hintergrund der im Neuen Testament berichteten Auseinandersetzungen um die Gottessohnschaft Jesu mit der muslimischen Ablehnung der Gottessohnschaft Jesu. Dabei setzte er sich auch kritisch mit christlich-theologischen Interpretationen auseinander, die immer wieder in Gefahr stünden, „den Verstand zum Richter über die Offenbarung“ zu machen.392 Am Schluss stand für Holsten die theologisch-missiologische Einsicht: „Die Gottessohnschaft Jesu nach christlichem Verständnis schafft erst das Gottesverständnis.“393 Dieses sei jedoch nicht durch Diskussionen zu vermitteln – weder an Muslime noch an Christen –, sondern könne nur durch die wirkende Kraft des Wortes 388 Brugman, Entwicklung des Islam, 1971, 38. 389 „In die … religiöse Gleichgültigkeit breiter Massen … hat [sich] der sogenannte ‚Sozialismus‘ eingeschoben. … Dabei spielen Studenten eine wesentliche Rolle; StudentenDemonstrationen, Studentenstreiks und dergleichen sind auch in islamischen Ländern keine Seltenheit mehr.“, Spuler, Tradition und Moderne, 1971, 19. 390 Spuler, Tradition und Moderne, 1971, 12. 391 Ebd. 21. 392 Schleiermacher sei dem „Fehler verfallen ... die Gottessohnschaft Jesu als Gottessohnschaft des Menschen überhaupt“ auszulegen. Auch die „Polemik psychologisierender Theologen“ gegen die Vaterschaft Gottes sowie soziale Interpretationen der Gottessohnschaft Jesu als „Mensch für andere“ sah Holsten auf dem Hintergrund seines kerygmatischen und existentialen Offenbarungsverständnisses kritisch. Holsten, Polemik, 1971, 50.44.46. 393 Ebd. 59.
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Gottes selbst entstehen. Die Gottessohnschaft Jesu „wird denen bezeugt, die sein Zeugnis hören und hinhören, nicht über ihn reden, sondern zu ihm reden. Denen gilt die Zusage: ‚Ich gebe ihnen das ewige Leben.‘“394 b) Weitere Entwicklungen Der Kauber Islamkurs von 1970 wurde zum Startpunkt einer langjährigen Praxis. Die in Zusammenarbeit von OD, DEMR und AfM jeweils im Spätherbst stattfindenden Kurse stellten damit ein bemerkenswertes Forum gemeinsamer missionstheologischer Islamreflexion dar. Auch angesichts der Kontroversen der 1970er Jahre (s. VI.) hielten die Kauber Kurse noch erstaunlich lange eine Gruppe von Islaminteressierten aus theologisch und kirchlich sehr unterschiedlichen Hintergründen zusammen. Der wechselnde Referentenkreis wuchs weiter, wobei Bouman, Hage und Raeder fast konstant vertreten waren (s. Tabelle 17). Die theologischen Orientierungen liefen oft quer durch die sich bildenden evangelikalen und ökumenischen Lagerstrukturen und oszillierten zwischen progressiven und konservativen gesellschaftlich-kulturellen Haltungen einerseits und pietistischen und konfessionellen sowie liberalen theologischen Sichtweisen andererseits. Evangelikale Missionspraktiker standen neben konfessionellen Theologen und eher liberalen Religionswissenschaftlern. Wiederkehrende Referenten waren auch der Tübinger Neutestamentler Otto Michel, die Utrechter Iranwissenschaftlerin Hanna Kohlbrügge (1911–1999), der spätere Hamburger Missions- und Religionswissenschaftler Olaf Schumann, der amerikanische lutherische Missionswissenschaftler Martin Kretzmann, der Münsteraner Turkologe Gotthard Jäschke, der Neuendettelsauer Religionsdidaktiker Helmut Angermeyer, der anglikanische Bischof und ehemalige Sudan-Missionar David Brown,395 der Konvertit und turkmenische Literaturwissenschaftler M.B.,396 der Leiter der Deutschen Missionsgemeinschaft (DMG) Bruno Herm, die britische Islammissiologin Vivianne Stacey397 oder der Berliner Islamwissenschaftler Fritz Steppat. Der türkische muslimische Soziologe und Linguist Enver Esenkova398 war als Referent zweimal beteiligt und sprach über die „islamische Eheauffassung“ (1972) und „das türkische Gastarbeiterkind und seine Probleme in Schule und Elternhaus“ (1973).399 394 Ebd. 49. 395 Brown war Missionar der CMS im Sudan und seit 1973 anglikanischer Bischof von Guildford. Er leitete die Advisory Group on the Presence of Islam in Britain des British Council of Churches (BCC). Vgl. Brown, New Threshold, 1976, iv. 1976 gab der Höpfner Browns bereits 1969 erschienenes Buch The Cross of the Messiah in deutscher Übersetzung heraus (Allah der Allmächtige - Jesus der Gekreuzigte). 396 Siehe VII. A. 2. 397 Stacey, Submitting to God, 1997. 398 Esenkova gehörte 1972 neben Bouman, Herrmann (WEC) und Dulon (DEMR) zum Vorbereitungsteam der Tagung von 1972, vgl. Protokoll der Zusammenkunft zur Vorbereitung der Kauber Islamtagung, 5. April 1972, OD-Archiv, OP 6475. Zu Esenkova siehe auch VI.C.5. 399 Programme in NEMO 4/1972, 63–64.
IV. Arbeitsmigration und Orientdienst
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Auch ausdrückliche Kritiker christlicher Islammission wie der niederländische Islamwissenschaftler Jan Slomp kamen zu Wort. 1978 hielt Slomp eine Bibelarbeit und zwei Hauptreferate zu seinen „Begegnungen mit Moslems in Pakistan“ und dem „Pseudo-Barnabas-Evangelium“.400 Jahr 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978
Themenschwerpunkt Kirche im Raum des Islam Christliche-islamische Begegnung in Praxis und Theologie Geist und Mystik in Islam und Christentum Prophetentum in Islam und Christentum Gott und Mensch in Bibel und Koran Zweifel und Gewissheit im christlichen und moslemischen Glauben Methoden evangelischer Begegnung mit dem Islam Ist die Moslem-Mission noch zeitgemäß? (Kauber Erklärung) Jesus im Islam und das Barnabas-Evangelium
Tabelle 16: Themen der Islamkurse in Kaub am Rhein 1970–1978
Trotz aller Vielfalt bildete die christliche missiologische Perspektive auf den Islam den roten Faden der Kauber Kurse – auch wenn nicht alle Referenten diese Sicht in gleicher Weise teilten. So war es nicht überraschend, dass die missionarische Perspektive 1977 – auf dem Hintergrund zunehmender kirchlicher Missionskritik in der christliche Islambegegnung – in einer evangelikal akzentuierten Erklärung der Teilnehmer explizit zum Ausdruck gebracht wurde. In der Kauber Erklärung 1977 riefen die Teilnehmer die christlichen Kirchen und Gemeinden dazu auf, „mehr [zu] tun für die Verbreitung des Evangeliums unter den moslemischen Gastarbeitern und Studenten in der Bundesrepublik“.401 Hier der Wortlaut der kurzen Erklärung: „1,4 Millionen Gastarbeiter und Gaststudenten aus islamischen Ländern leben bei uns in der Bundesrepublik. Obwohl die soziale Betreuung in den Händen der Arbeiterwohlfahrt liegt, bemühen sich auch christliche Gemeinden um soziale Hilfe. Wir sind dankbar dafür. Ohne Nächstenliebe haben wir nicht das Recht, uns Christen zu nennen. Darüberhinaus sind wir gerufen, unseren Mitmenschen die Frohe Botschaft von Jesus Christus zu sagen, entsprechend seinem Auftrag ... (Matthäus 28, 18-20). Es sind bisher leider nur wenige, die den Missionsauftrag an den Moslems in unserem Land erkannt haben. Dieser gilt für alle Gemeinden. Eine Kirche, die das nicht beachtet, ist krank und stirbt. Unter Moslems das Evangelium zu verkündigen, ist sehr schwierig. Dennoch gilt für uns Jesu Auftrag. Nie zuvor in der Geschichte haben so viele Moslems unter uns gelebt, und wir werden an ihnen schuldig, wenn wir ihnen das Evangelium vorenthalten. Die Teilnehmer der Islamkonferenz in Kaub (4. bis 12.11.77), die sich mit Fragen einer evangelischen
400 Vgl. Programmvorschau, in: ODI 50/1978, 15–16. Zur Kritik Slomps an bekehrungsorientierter Islammission siehe Slomp, Plädoyer, 1980; Slomp, Islammission, 1983; Hock, Spiegel, 1986, 207. Zu Slomps Biographie und Islamtheologie vgl. Slomp, Life, 2012; Speelman, Muslims and Christians, 1993, Troll/Hewer, Christian Lifes, 2012, 42ff. 401 Höpfner, Islamkursus, 1978, 7–8.
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IV. Arbeitsmigration und Orientdienst Begegnung mit Moslems befaßt haben, bitten die Kirchen in der Bundesrepublik, die Missionsaufgabe an den moslemischen Gastarbeitern und Studenten zu erkennen und den Auftrag Jesu zu erfüllen.“ 402
Obwohl die Erklärung in den Kirchen auf wenig Resonanz stieß, wie auch die missionstheologische Sprachlosigkeit der Islam-Konferenz der europäischen Kirchen in Salzburg 1978 zeigte (s. VI.C.5.), brachte sie gültige Perspektiven zum Ausdruck, wie sie auch vom Lausanner Kongress für Weltevangelisation von 1974, der Vollversammlung der Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 und der christlich-islamischen Missionskonsultation von Chambésy 1976 (v.a. von Arne Rudvin) formuliert worden waren.403 In dieser Perspektive wollte die Kauber Erklärung ihren Teil zur Überwindung der Polarisierung zwischen sozialdiakonischen und evangelistischen Perspektiven beitragen, vor allem aber christliche Gemeinden ermutigen, den missionarischen Kontakt mit muslimischen Nachbarn im Alltag zu suchen – eine freundschaftliche Begegnung, die durch den seit Sommer 1977 aufgeflammten Streit um Korankurse in Deutschland nicht einfacher, aber umso wichtiger geworden war.404 c) Die Buchserie Christentum und Islam Aus den Vorträgen der Kauber Islamkurse ging die Buchserie Christentum und Islam (12 Hefte, 1971–1980) hervor, ein Pionierprojekt im Bereich der evangelischen Islamreflexion in Deutschland.405 Bereits 1969 hatte Höpfner in diese Richtung gedacht und auf eine Veröffentlichungsreihe der anglikanischen Kirche aufmerksam gemacht: „David Brown,406 früher Amman, gibt unter der Überschrift ‚Christianity and Islam‘ … Kleinschriften heraus, die sich mit den Fragen evangelischer Auseinandersetzung mit dem Islam beschäftigen. Es soll geprüft werden, ob diese sich in deutscher Übersetzung für die Verbreitung unter unseren Freunden eignen.“407 Statt einer Übersetzung der englischen Serie entstand auf dem Hintergrund des erster Kauber Islamkurses eine eigene Reihe des OD. Grundlage für die ersten vier Hefte (Kirche im Raum des Islam, Geschichte des Islam, Glaube im Islam, Ethik im Islam) bildeten allein die Vorträge des Kauber Kurses von 1970. Auch die weiteren Hefte enthielten meist Vorträge der Kauber Konferenzen und darauf basierende Aufsätze, von denen hier nur einige beispielhaft genannt werden. So finden sich in Prophetie in Bibel und Koran (CuI 5) Ausführungen des Alttestamentlers Hans Walter Wolff; der Band Toleranz und Absolutheitsanspruch im Christentum und Islam (CuI 6) bietet einen Aufsatz des niederländi402 ODI 48/1978, 7–8; ZuD 4/1978, 84–85. 403 Zu Nairobi siehe. II.D.3., zu Chambésy II.D.2., zu Lausanne II.E.3. 404 Im Sommer 1977 sorgte ein kritischer Bericht der Duisburger Grundschulrektorin Renate Irskens über integrationsfeindliche Haltungen und Äußerungen in Koranschulen in Deutschland für Aufmerksamkeit, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 432ff. 405 Vgl. Sundermeier, Islam, 1985, 4.9–10. 406 Zu Brown siehe b). 407 Protokoll ODT 17.31969, 3, OD-Archiv, OP6475.
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schen Islamwissenschaftlers D.C. Mulder408 zur Interpretation des Islam bei Kraemer und Cragg. Mystik im Islam (CuI 7) gibt Vorträge von E. H. Douglas, dem früheren Herausgeber der (von Samuel Zwemer begründeten) Zeitschrift Muslim World, sowie der niederländischen Iranwissenschaftlerin Hanna Kohlbrugge wieder. 1970
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Angermeyer M.B. Bouman Brown Brugman Douglas Esenkova Hage Harbottle B. Herm D. Herm Hermann Jäschke Holsten Kohlbrugge Kretzmann Marsh Michel Moritzen Raeder Rudvin Schumann Slomp Stacey Steppat Spuler Troeger Van d. Meulen Wickert Wolff Tabelle 17: Referenten (Auswahl) Kaub am Rhein 1970–1978
In Fasten – Islamisch oder Evangelisch (CuI 8) findet sich eine Umfrage des OD zur religiösen Orientierung muslimischer türkischer Fabrikarbeiter, während Der Islam in Indonesien (CuI 9) eine stark erweiterte, fast monographische Fassung von Olaf Schumanns Vortrag und Thematik in Kaub 1976 darstellt. In Glaubensgewissheit im Islam und im Evangelium (CuI 10) beleuchtet Siegfried Raeder die Perspektiven Luthers in vergleichender Perspektive, Wolfang Hage diejenigen der 408 Der niederländische Islamwissenschaftler war seit 1965 Lehrstuhlinhaber für Geschichte und Phänomenologie der nichtchristlichen Religionen an der Freien Universität Amsterdam und von 1975 bis 1984 Leiter der Dialogabteilung des ÖRK, vgl. Platvoet, Pillars, 2002, 130f.
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syrisch-jakobitischen Kirche. Gebet und Meditation in islamischer und christlicher Sicht (CuI 11) wurden theologisch von Helmuth Egelkraut und religionsgeschichtlich von Hanna Kohlbrugge reflektiert. Das letzte Heft widmete sich der Rolle der Frau bei den Kopten und Moslems in Ägypten. d) Die Bedeutung der Kauber Islamkurse und des OD Weder die Kauber Islamkurse noch die Buchserie Christentum und Islam vermittelten eine einheitliche Sichtweise des Islam und der christlichen Mission unter Muslimen. Sie reagierten auf die zeitgeschichtlichen Umbrüche und theologischen Entwicklungen und bemühten sich, ein vom Zeugnis des Evangeliums bestimmtes Verständnis der christlich-islamischen Begegnung aufzuzeigen. Dabei wurden christlich-islamische Differenzen und Gemeinsamkeiten aus der Glaubensperspektive der theologia crucis beurteilt – als Basis einer Begegnung in Respekt und Liebe. Der Erlanger Missionswissenschaftler Niels-Peter Moritzen brachte dies in Kaub 1970 so zum Ausdruck: „Man kann die Bedeutung des Kreuzes nicht verständlich machen, wenn man nicht in seiner Wirklichkeit lebt. Allzu oft verlassen wir den Muslimen gegenüber diese Wirklichkeit und ziehen die Rüstung der Kreuzzüge an; heute nicht mehr zum militärischen Kampf, aber oft genug ist unser Denken gegenüber den Muslimen so gepanzert mit Rechtgläubigkeit (und Rechthaberei), weil wir es nicht aushalten, in der Auseinandersetzung mindestens äußerlich erfolglos zu sein. Aber das Zeichen des Kreuzes bedeutet, daß man die Nähe der Menschen sucht, die Gott liebt, ohne daß man sich vor ihrer Abwehr schützen kann, einfach im Vertrauen auf die Macht der Liebe Christi. Das ist die Aufgabe, die vor uns liegt.“409
Mitte der 1980er Jahre beschrieb der Heidelberger Missionswissenschaftler Theo Sundermeier die Kauber Islamkonferenzen und die daraus entstandene Buchreihe zwar als „ein Bemühen …, der Überheblichkeit abzusagen und aus dem Geist der Sympathie und des Verständnisses heraus dem Islam zu begegnen“,410 bemängelte jedoch, dass die Konferenzen nicht zu einer „Neubesinnung über den Begriff der Mission, der Kirche und des Glaubens“ geführt hätten. Man sei vielmehr bei einem „statischen Vergleich paralleler Aussagen stehen“ geblieben, der „mehr der Bestätigung der eigenen Glaubensaussage dient, als daß neue Tiefen durch die Fremdbegegnung erschlossen werden“.411 Auch wenn die Kritik teilweise nicht unberechtigt war (es gab durchaus statische und diskussionsbedürftige Aspekte in manchen Vorträgen der Tagungen), wurde sie dem Beitrag der Kauber Kurse, der Buchreihe und des OD insgesamt nicht ganz gerecht. Angesichts einer Tendenz zur „Selbstsäkularisierung“ der Kirchen412 und der damit auch verbundenen Säkularisierung der Islamwahrnehmung413 in den 1970er Jahren, stellten die Kauber Islamkonferenzen einen wichtigen Kontrapunkt im Sinne einer differenzierten 409 410 411 412 413
Moritzen, Vorherbestimmung und Kreuz, in: Höpfner, Ethik, 1971, 44. Sundermeier, Islam, 1985, 9. Ebd. Vgl. Huber, Missionarische Kirche, 1999, 107–108. Vgl. Mittmann, Säkularisierungsvorstellungen, 2011.
IV. Arbeitsmigration und Orientdienst
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„religiöse[n] Identitätsstiftung“414 in der christlichen Islambegegnung dar. Dabei wurden sowohl die Gewissheit „der eigenen Glaubensaussage“ als auch das Verständnis des Islam „durch die Fremdbegegnung“ (Sundermeier, s.o.) vertieft, in der Perspektive einer theologia crucis und der Kraft des biblischen Zeugnisses. In der Bemühung, die christliche Glaubensgewissheit mit der differenzierten Beschäftigung mit dem Islam und der empathischen missionarischen Begegnung mit Muslimen zu verbinden, leisteten der OD und die Kauber Islamkurse einen wichtigen Beitrag zur interreligiösen Wahrnehmung im Protestantismus der 1960er und 1970er Jahre. Dieser Beitrag war untrennbar verbunden mit den biographischen Erfahrungen und missionstheologischen Perspektiven Willi Höpfners als Islammissionar und Auslandspfarrer in Ägypten in den 1930er und 1950er Jahren sowie als Gründer und Leiter des Orientdienstes in den 1960er und 1970er Jahren. Diese Erfahrungen und Perspektiven machten Höpfner zu einem wichtigen Gesprächspartner zur evangelischen Islambegegnung in den 1960er und 1970er Jahren, aber auch zu einem „der unbequemen, nicht nachgebenden christlichen Originale, die im allgemeinen Gang der Kirchen quer liegen“415 – wie Gerhard Jasper, Islambeauftragter der rheinischen und westfälischen Landeskirche,416 formulierte. Das nächste Kapitel widmet sich der Biographie und Theologie Willi Höpfners zwischen Kairo und Wiesbaden.
414 Ebd. 267. 415 Jasper, Unterwegs 2008, 37. 416 Zur Islamarbeit von Gerhard Jasper siehe VI.C.3.c).
V. WILLI HÖPFNER: BIOGRAPHIE UND THEOLOGIE ZWISCHEN KAIRO UND WIESBADEN A. SEMINARIST IN WUPPERTAL UND BASEL 1929–1932 Willi Höpfner, der Gründer des Orientdienstes, wurde am 13. November 1904 in Braunschweig geboren.1 Bald zog die Familie nach Leipzig um, wo Höpfner seine Kindheit und Jugend erlebte und eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolvierte. Im Rahmen seines Engagements im Leipziger CVJM kam er wiederholt in Kontakt mit der Wiesbadener Sudan-Pionier-Mission (SPM), die genau in diesem Zeitraum (1928) ihren Namen in Evangelische Muhammedaner-Mission (EMM) änderte, um einem erweiterten Programm der Islammission, auch über das Sudangebiet hinaus, Ausdruck zu verleihen.2 Eine solche Aufgabe als Missionar unter Muslimen stieß auf Höpfners Interesse.3 Schließlich bewarb er sich in Wiesbaden und wurde 1929 im Alter von 24 Jahren vom Vorstand der EMM als Aspirant für die Arbeit in Ägypten angenommen.4 Die noch fehlende theologische Ausbildung sollte der junge Anwärter am Johanneum in Wuppertal, der Ausbildungsstätte für Prediger und Evangelisten der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung, absolvieren.5 Pfarrer Hans-Edgar Schaefer, der zusammen mit Pastor Johannes Held das Inspektorat der EMM verwaltete, schrieb nach Wuppertal: „Wir haben einen jungen Mann aus Leipzig als Aspiranten angenommen, der uns schon lange bekannt ist und sich als christlicher Charakter bewährt hat. Er hat in seiner Wartezeit sich durch eifriges Studium der englischen und griechischen Sprache auf den Missionsdienst vorbereitet und sich zugleich hingebend an ernst christlicher Arbeit beteiligt. Wir haben ihn jetzt einige Wochen bei uns und finden bestätigt, was wir von ihm erwarteten. Wir möchten ihm nun eine gründliche theologische Ausbildung geben und fragen deshalb bei Ihnen zunächst ganz unverbindlich an, ob er als Gast bei Ihnen diese Ausbildung bekommen könnte.“ 6
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Vgl. Troeger, Gedenken, 1991, 42. Die Sudan-Pionier-Mission (SPM) wurde 1900 gegründet, mit dem Ziel, den Sudan-Gürtel zwischen Karthoum und Timbuktu von Assuan aus zu erreichen. Ab 1904 konzentrierte man die Arbeit auf Assuan. 1928 erfolgte die Namensänderung in Evangelische MuhammedanerMission (EMM), 1954 in Evangelische Mission in Oberägypten (EMO). Zur Geschichte und der auch in dieser Arbeit übernommenen Bezeichnung als Wiesbadener Mission siehe Troeger, Alexandrien, 2013, 183ff; vgl. Sauer, Reaching, 2005; Tamcke, Missionare, 2002, 318ff; v. Dessien, Wasser, 1985; Unruh, 50 Jahre, 1950; Richter, Mission, 1930, 173–174.209f. Troeger, Gedenken, 1991, 42. Vgl. Schaefer, Brief an das Johanneum, 4.3.1929, Archiv Johanneum. Zur Aufnahme von Missionaren in den Grundsätzen der SPM/ EMM vgl. Sauer, Reaching, 2005, 410. Die SPM war seit ihrer Gründung mit der Gemeinschaftsbewegung verbunden. Vgl. Sauer, Reaching, 2005, 163–188. Vgl. J. Berewinkel, Johanneum, in: ELThG, 1998, 1003. Schaefer, Brief an das Johanneum, 4.3.1929, Archiv Johanneum.
V. Willi Höpfner: Biographie und Theologie
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In Wuppertal war man zögerlich. Man zweifele nicht, dass „der junge Mann, der einer gründlichen theologischen Ausbildung zugeführt werden soll, dieselbe bei uns findet“, erklärte Direktor Paul Burkhardt.7 Es habe jedoch „Schwierigkeiten“ mit dem vorherigen Missionskandidaten der Wiesbadener Mission gegeben, der über das zu niedrige Niveau des Unterrichts geklagt hatte. Noch etwas verschnupft räumte Burkhardt ein, dass eine solche Ausbildung „freilich innerhalb zwei Jahren schwerlich irgendwo mitzuteilen sein [wird]. Wir haben vorwiegend Leute mit Volksschulbildung und führen sie in die Bibel ein. Dabei treiben wir ernste und strenge Gedankenarbeit, aber das theologische Gebiet können wir nimmer umfassen und durchdringen.“ 8
Dennoch wurde Höpfner schließlich aufgenommen – allerdings unter der Voraussetzung er könne sich „völlig unserem Hause der Ordnung und dem Geiste nach sich einordnen“.9 So kam Höpfner am 8. April 1929 nach Wuppertal, wo er bis zum 11. April 1930 studierte. Burkhardts Bedenken waren bald zerstreut, denn Höpfner passte offensichtlich gut hinein, fühlte sich wohl und bezeichnete Wuppertal später als den Ort, „wo mir der helle Schein und wahre Kern des Evangeliums aufging“.10 Auch Burkhardt bestätigte ein Jahr später, dass Höpfner „mit unserem Johanneum innerlich verwachsen ist und uns nie eine Schwierigkeit bereitet hat“. Man lasse ihn „überhaupt ungern ziehen“, aber man „verstehe wohl, dass das Baseler Missionshaus für seine Ausbildung weitere Möglichkeiten bietet und nehme so auch seine Versetzung dorthin als von dem Interesse seiner bestmöglichen Ausbildung bestimmt. Als ich ihm heute bei der Eröffnung der Wendung sagte, es werde doch in einer Gottesführung liegen, dass sein Weg über das Johanneum gegangen sei, so hat er das mit strahlendem Auge bejaht. ... Möge der Herr aus Bruder Höpfner ein tüchtiges Werkzeug seiner Gnade machen, dass sich draußen auch in schwierigen Lagen bewährt. Ich hatte an ihm einen sehr willigen, begabten Schüler, der mit Verstand und Herz dem Unterricht folgte.“11
Einen Tag zuvor hatte Missionsinspektor Johannes Held dem überraschten Direktor des Johanneums eröffnet, dass Höpfner umgehend an das Basler Missionsseminar wechseln solle, da die EMM in Zukunft „alle jungen Brüder, die sich für unsere Mission melden, einheitlich im Seminar der Baseler Mission ausbilden“ lassen wolle.12 Held betonte ausdrücklich, der Wechsel erfolge nicht aus Unzufriedenheit mit der Ausbildung, sondern aufgrund einer grundsätzlichen Entscheidung des Vorstands: „Es war für uns aber doch nicht möglich, den Brüdern [Hans Merklin und Willi Höpfner, FW] eine so ganz verschiedenartige Ausbildung zu geben, wodurch dann eine Arbeitsgemeinschaft auf dem Missionsfeld begreiflicherweise erschwert wird. Vor allem schien es uns nötig zu sein, dass sie eine gründliche Ausbildung auch in sprachlicher Hinsicht, besonders
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Burkhardt, Brief an die EMM, 7.3.1929, Archiv Johanneum. Der evangelische Pfarrer Paul Burkhardt (1872–1945) war 1919–1936 Direktor des Johanneums. 8 Burkhardt, Brief an die EMM, Wiesbaden, 7.3.1929, Archiv Johanneum. 9 Ebd. 10 Höpfner, Brief an Burkhardt, 11.4.1930, Archiv Johanneum. 11 Burkhardt, Brief an Held, EMM, 11.4.1920, Archiv Johanneum. 12 Held, Brief an Burkhardt, 10.4.1930, Archiv Johanneum.
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V. Willi Höpfner: Biographie und Theologie im Griechischen und Englischen, erhielten. Daher hat sich unser Vorstand entschlossen, mit der Baseler Mission in Verhandlung zu treten, um für die Zukunft alle jungen Brüder, die sich für unsere Mission melden, einheitlich im Seminar der Baseler Mission ausbilden zu lassen. .... Es liegt uns auch daran, dass unsere jungen Brüder durch die Ausbildung in einem großen Missionshaus in engem Kontakt mit der Missionsarbeit in den verschiedensten Gebieten der Welt und den verschiedensten Entwicklungsstadien der Arbeit treten, damit ihr Horizont nicht auf unsere eigene kleine Arbeit beschränkt bleibt. Ich hoffe, dass Sie diese Gründe verstehen und uns darum nicht übel nehmen werden, wenn wir uns nicht mehr in der Lage sehen werden, künftig unsere jungen Brüder Ihrem Hause anzuvertrauen, so sehr wir Ihnen auch für die innere Förderung, die gerade unser Bruder Höpfner bei Ihnen bekommen hat, dankbar sind. Es liegt kein Misstrauen unsererseits gegen das Johanneum vor, sondern es ist unserem Vorstande klar geworden, was ihm eigentlich schon vorher hätte klar sein sollen, dass es nicht gut angeht, die Ausbildung für den Dienst in unseren Gemeinschaften und Vereinen mit der für die schwierigste äußere Mission, nämlich für die unter den Muhammedanern, zu vereinigen.“ 13
Höpfner selbst hatte gegen die Veränderung offensichtlich nichts einzuwenden und setzte das Studium im April 1930 in Basel fort. Erste Eindrücke schrieb er an Direktor Burkhardt nach Wuppertal: „Reichlich vier Wochen befinde ich mich nun hier und habe mich gut eingelebt. Gleich nach meiner Ankunft wurde ich geprüft in Griechisch. Auch über meine sonstigen Kenntnisse wurde ich befragt. Das Ergebnis dieser kleinen Prüfung war befriedigend. Man stellte mir die Wahl zwischen einer Ausbildung von drei Jahren mit Latein und Hebräisch und einer solchen von zwei Jahren ohne Sprachen. Unsere Missionsgesellschaft hat sich zu Letzterem entschlossen und so bin ich vorläufig der zweiten Klasse eingeordnet worden.“ 14
Das Seminar hatte einige Jahre zuvor – auf Anregung von Karl Hartenstein, der seit 1926 Direktor der Basler Mission und des Missionsseminars war – eine Studienreform durchlaufen, in der mehr Nachdruck auf Allgemeinbildung, Philosophie, Religionswissenschaft und Englisch gelegt wurde.15 Während das volle Studium in Basel sechs Jahre umfasste, durchlief Höpfner einen abgekürzten zweijährigen Aufbaukurs, der dennoch den dortigen akademischen Anspruch widerspiegelte, wie Höpfner seinem Wuppertaler Lehrer berichtete: „Was nun den Unterricht betrifft, so besteht natürlich ein Unterschied zwischen dem des Johanneums und dem der Baseler Missionsanstalt. Es liegt ja auf der Hand, dass man bei Schülern mit einer vierjährigen strammen Vorbildung bedeutend mehr voraussetzen kann, als bei solchen mit ein oder zwei Jahren. Aber auch sonst ist die Unterrichtsweise eine andere. Es werden in den Stunden Leitsätze gegeben und durchgesprochen und die Aufgabe des Schülers ist dann, in der angegebenen Literatur nachzuarbeiten. – Folgende Fächer habe ich nun belegt: Synoptiker- und Matthäusexegese, Dogmatik, Einleitung ins Alte Testament und Mosaismus, Philosophie, Kirchengeschichte, Religionsgeschichte, Homiletik, Katechese, Anatomie, Englisch, Konversation, Offenbarungsgeschichte. – Sie sehen, ein reicher Stundenplan. Ich habe eben verschiedene Stunden in einigen unteren Klassen. Man muss fleißig schaffen, wenn man mitkommen will.“ 16
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Ebd. Höpfner, Brief an Burkhardt, 28.5.1930, Archiv Johanneum. Vgl. Witschi, Basler Mission, 1970, 21. Höpfner, Brief an Burkhardt, 28.5.1930, Archiv Johanneum. Als seine Lehrer in Basel erwähnt Höpfner G. Weismann, der „[uns] die Frage des A. T., die … in ausgezeichneter Wei-
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Ostern 1932 schloss Höpfner sein Studium in Basel erfolgreich ab.17 Ein im Anschluss geplanter Sprachaufenthalt in England musste aus „Mangel an Mitteln wegfallen“.18 Im Rückblick bewertete Höpfner seine Studienzeiten in Wuppertal und Basel als komplementär und positiv. Während er in Wuppertal pietistischerweckliche Grundlehren vertiefte und wichtige geistliche Erfahrungen machte, bot Basel intellektuelle Vertiefung und Erweiterung, wo „manches Problem gelöst wird, für das im Johanneum kein Platz sein kann“.19 Im Juni 1932 wurde Höpfner in der Evangelischen Bergkirche in Wiesbaden von Dekan Wilhelm Ziemendorff20 in der hessischen Landeskirche ordiniert und trat ab 17. Juli einen einjährigen Dienst als Pfarrverwalter in Eich bei Worms an,21 Höpfners Vorbereitung auf den Missionsdienst lag in einer missionstheologisch spannenden Zeit. Am 5. und 6. Juli 1932, wenige Wochen nach Höpfners Ordination, fand in Wiesbaden eine Konferenz für Mohammedanermission statt, deren Hauptredner der bekannte Islammissionar und Princeton-Professor Samuel M. Zwemer22 war.23 Im gleichen Jahr veröffentlichte der Harvard-Professor William E. Hocking sein liberales Missionskonzept Re-Thinking Missions (1932), dem Zwemer bald sein Thinking Missions with Christ (1934) entgegensetzte. Am 24. September 1933 wurde Höpfner „in Wiesbaden für Ägypten abgeordnet“24 und reiste Anfang November nach Kairo aus. B. MISSIONAR DER EMM IN KAIRO UND ASSUAN 1933–1939 1. Sprachstudium in Kairo und Jerusalem Am 8. November 1933 kam Willi Höpfner in Ägypten an. Für seine erste Dienstperiode wurde er dem erfahrenen Feldleiter der EMM, Samuel Jakob Enderlin,25
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se näher bringt“. Weitere Dozenten in Höpfners Zeit zwischen 1930 und 1932 waren: Karl Hartenstein (Religionsgeschichte), Erich Schick (ab 1931 Systematische Theologie), Heinrich Gelzer (Neues Testament), Fr. Liebendörfer (Altes Testament), O. Schüepp (Naturwissenschaften), W. Lotz (Deutsch, Latein, Griechisch), La Roche (Hebräisch) u.a., vgl. Witschi, Basler Mission, 1970, 22–23. Vgl. Feller, Jahresbericht 1932, DP 5–6/1933, 74. Höpfner, Brief an Burkhardt, 30.3.1932, Archiv Johanneum. Höpfner, Brief an Burkhardt, 11.4.1930, Archiv Johanneum. Wilhelm Ziemendorff (1870–1958) war der Sohn von Theodor Ziemendorff (1837–1912), dem Nestor der SPM und ihrem ersten Vorstandsvorsitzenden von 1900–1912. Nach dem Tod des Vaters übernahm der Sohn den Vorsitz der SPM / EMM 1913–1948. Ziemendorf war ab 1931 Dekan in Diez, wurde aber 1934 aufgrund seiner Bekenntnishaltung unter NS-Druck aus dem Amt entlassen. Vgl. Morlang, Bekenntnispfarrer, 2006, 76. EKHN, Auszüge Pfarrerkartei/ Personalakte Willi Höpfner, ZA EKHN. Zu Zwemer siehe II.A.1. Zwemer sprach in Wiesbaden über „Erfahrungen als Muhammedaner-Missionar“ und „Die religiösen Kräfte des Islam und unsere missionarische Verkündigung“, Feller, Jahresbericht 1932, in: DP 5–6/1933, 74–75. Feller, Jahresbericht 1933, in: DP 1934, 5. Zu Enderlins Missionstheologie: siehe II.A.5.
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zugeordnet. Der Jahresbericht 1933 hält fest: „Wegen der übergroßen Arbeitslast, die Tag für Tag auf Dr. Enderlin ruhte, wurde ihm gegen Jahresende Missionar Höpfner zur Seite gegeben. ... Dort erhielt er durch die enge tägliche Zusammenarbeit mit dem Missionsleiter die denkbar beste Einführung in die praktische Missionsarbeit.“26 Enderlin war erst eineinhalb Jahre zuvor auf Anfrage der anglikanischen Church Missionary Society (CMS) und der presbyterianischen Amerikanischen Mission27 von Oberägypten nach Kairo gekommen, um als Dozent für Arabisch und Nubisch an der School of Oriental Studies (SOS) der Amerikanischen Universität zu unterrichten sowie die Supervision der „mitunterrichtenden eingeborenen Scheichs und Efendis“ zu übernehmen.28 Daneben baute er eine missionarische Klubarbeit unter nubischen Gastarbeitern auf,29 war Mitglied des Intermission Council und gehörte zum Vorstand der deutschen evangelischen Gemeinde. Kurz vor dem Wechsel nach Kairo hatte Enderlin in der Missionskapelle in Assuan den Konvertiten Ali Muhammed Mahmud getauft, der sich den Taufnamen Juhanna Schäkir (Johannes, der Dankbare) beigelegt hatte.30 Juhanna begleitete Enderlin nach Kairo, beteiligte sich maßgeblich am Aufbau der Klubarbeit und wurde zum engsten einheimischen Mitarbeiter Höpfners. Im nubischen Klub fand Höpfner sein erstes und wiederkehrendes Tätigkeitsfeld. Zunächst standen jedoch das Kennenlernen der Kultur und das Arabischstudium an der SOS im Vordergrund.31 Höpfner beschrieb Kairo als „eine uns fremde Stadt“, als „orientalische“ und „islamische Stadt“.32 Den „Charakter des Orients“ meinte er in dem überall gegenwärtigen Handel, den Kaffeehäusern und dem „Wunsch, bald mit der Arbeit fertig zu sein“ zu sehen. Mit der Überheblichkeit des Neuankömmlings schrieb er nach Hause: Die Straßenkehrer hätten „noch gar nicht erfasst, daß man ... viel vorteilhafter kehren kann, wenn man vorher die Straße mit Wasser besprengt“.33 Die in Kairo ansässigen Auslandskirchen interpretierte Höpfner als „Ausdruck dafür, daß das Evangelium von Jesus Christus in verschiedene Formen gegossen werden kann“.34 Besonders interessierten ihn die „Missionskirchen …, also Kirchen, die eine Gemeinde bekehrter Muhammedaner oder wenigstens bekehrter Kopten“ darstellten. Engländer und Amerikaner hätten
26 Feller, Jahresbericht 1933, in: DP 1934, 5. 27 Vgl. Troeger, Alexandrien, 2013, 36ff. 123ff. 28 Feller, Jahresbericht 1933, in: DP 1934, 4. Der Titel Scheich bezeichnet hier Absolventen der Azhar-Universität, Efendi war ein Titel für mittlere Beamte und Militärs, der dem Namen nachgestellt wurde, vgl. v. Kremer, Ägypten 1863, 282. 29 Vgl. v. Dessien, Wasser, 1985, 22; Unruh, Fünfzig Jahre, 1950, 33, Troeger, Alexandrien, 2013, 184. 30 In den Missionsberichten meist Juhanna Efendi genannt, vgl. Unruh, Enderlin, 1942, 67; Feller, Jahresbericht 1933, DP 1934, 5/6; Ders., Jahresbericht 1932, DP 1933, 5/6: 69–70. 31 Mitteilungen, DP 1/1934, 15. 32 Höpfner, Eindrücke, 1934, 4–7. 33 Ebd. 6. 34 Höpfner, Eins, 1934, 19.
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„solche Gemeinden gesammelt, die einen sonntäglichen Besuch von bis zu 200 und mehr aufweisen“.35 Nach sieben Monaten Arabischstudium verließ Höpfner Kairo im Juli 1934, um das Studium an der Newman Missions-Schule in Jerusalem fortzusetzen,36 wo zu diesem Zeitpunkt fast hundert Missionare eingeschrieben waren.37 Gleichzeitig besuchte er das arabische Lehrer-Seminar in Jerusalem und erweiterte seine Kenntnisse im umgangssprachlichen Arabisch. Er schrieb nach Wuppertal: „Neuerdings besuche ich neben der Sprachschule den Unterricht am hiesigen Lehrerseminar. Es ist das eine Regierungsschule, die unter der Leitung eines Gliedes einer angesehenen muhammedanischen Familie aus Jerusalem steht. Die Lehrer sind teils Christen, teils Muhammedaner. Der weitaus größte Teil der Schülerschaft ist muhammedanisch. Der Unterricht steht auf – für orientalische Verhältnisse – recht gehobenem Niveau ... Es hat der Besuch dieser Schule nicht nur in Hinsicht auf mein Arabisch, sondern sicher auch in Hinsicht auf meine spätere Missionsarbeit großen Wert. Ich lerne die kommende Lehrergeneration Palästinas in fleißiger Studienarbeit kennen und – noch mehr – ich höre, was ihnen im Unterricht geboten wird.“ 38
Die Umgebung des Johanniterhospizes in der Jerusalemer Altstadt, wo Höpfner wohnte,39 bot viele Möglichkeiten zur Begegnung mit der arabischen Bevölkerung: „[Wir] hörten wie in regelmäßigem Takt geklatscht und getrillert wurde. … Wir gingen dem Gejauchze nach. Bald waren wir mitten in einer Gesellschaft tanzender Männer. Mit freundlichem ‚Herzlich Willkommen‘ wurden wir – die fremden Gäste – gleich zu den besten Plätzen geführt, mit Limonade, Kaffee und Zigaretten bewirtet. Wir erfuhren bald den Grund der Freude. Es war die Wahl der arabischen Stadträte, die am Tage vorher stattgefunden hatte. Und wir hatten nun die Ehre, zwei dieser Herren begrüßen und beglückwünschen zu dürfen. Natürlich wurden wir nicht so bald entlassen. Der Araber will auch etwas von seinem Besuche haben. … So bietet ein Aufenthalt im ‚Johanniterhospiz‘ mancherlei Anregungen zum Studium des orientalischen Lebens.“40
35 Ebd. Es handelt sich um die von der Amerikanischen Mission begründete Evangelisch-koptische Kirche und die von der Church Missionary Society gegründete Anglikanisch-ägyptische Kirche (Episcopal Church of Egypt). Vgl. Richter, Orient, [1930] 2006, 202–206; Vander Werff, Mission to Muslims, 1977, 142ff.170; Rhodes, Anglican Mission, 2003; Troeger, Alexandrien, 2013, 36ff; 123ff. 36 Die Newman School of Missions war 1927 von der CMS unter Leitung von Eric F.F. Bishop „in Verbindung mit der amerikanischen Bischöflichen Methodisten-Mission … zur sprachlichen Ausbildung von Missionaren für Palästina und den arabisch sprechenden Orient eröffnet“ worden und spiegelte die erhöhten Hoffnungen westlicher Missionen in den 1920er Jahren. Richter, Orient, 1930, 142, vgl. Löffler, Protestanten, 2008, 215. 37 Vgl. Feller, Jahresbericht 1934, in: DP 7/1935, 85–86. 38 Höpfner, Brief an das Johanneum, Wuppertal, 21.12.1934, Archiv Johanneum. 39 Höpfner, Alt-Jerusalem, 1935, 4ff. 40 Ebd. 6.
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2. Missionarische Klubarbeit in Kairo Im April 1935 wollte Höpfner nach Kairo zurück, um vollzeitlich in Enderlins Klubarbeit einzusteigen.41 Da man ihm zunächst das Visum zur Wiedereinreise verweigerte, musste er sich erneut als Student an der SOS einschreiben. Er sah dies als gute Gelegenheit, seine Arabisch-Studien weiter zu vertiefen: „Sie können sich kaum vorstellen, welche endlose Aufgabe es allein ist, Arabisch wenigstens halbwegs zu beherrschen. Nachdem ich nun schon so manches Examen hinter mir habe, fühle ich mich immer noch als Anfänger. Es ist sicher auch Gottes weise Vorsehung, dass ein Muhammedaner-Missionar soviel straffe Konzentration allein für die Sprache aufbringen muss, erfordert doch die Evangeliumsverkündigung unter Moslems noch ganz andere geistige Kräfte – ja, vielmehr als das: Gottes Wunder. Doch um die Spannungen aushalten zu können, die sich aus der frohen Hoffnung, die uns aus dem Evangelium erwächst, und der bitteren Enttäuschung und Erfolglosigkeit unseres Dienstes ergeben, ist doch auch das tägliche ‚hart hinter den Sprachen sitzen‘ eine – wenn auch manchmal recht geringe – Stütze.“42
Als Hauptaufgabe widmete sich Höpfner jedoch zusammen mit Juhanna Schäkir der Klubarbeit. Im Club trafen sich nicht nur nubische Gastarbeiter, sondern auch Studenten, Bankangestellte, Kaufleute, Friseure, Arbeitssuchende und gelegentlich ein diskussionsfreudiger junger „Scheich der Azhar“, wie die Absolventen der islamischen Eliteuniversität bezeichnet wurden.43 Angezogen wurden die Besucher vom internationalen Flair und der Möglichkeit zu fremdsprachlichem Austausch. Höpfner bot Unterricht in Deutsch, Englisch oder Französisch an und erhielt im Gegenzug Arabisch-Lektionen.44 Sein Ziel waren jedoch missionarische Gespräche: „Vielleicht gelingt uns das eher, wenn wir uns mit unseren Freunden zunächst einmal zu ernster Arbeit zusammensetzen. Dann wird vielleicht, wenn wir dabei ihr Vertrauen gewonnen haben, das Wort von Christus einen anderen Klang gewinnen, als wenn sie uns nur als ‚Mission‘ kennen; denn das ist bei vielen der Inbegriff der die Religion und Sitten verderbenden Mächte.“45 Dabei konnte der Klub sogar zum Ort muslimischen Gebets werden. Höpfner berichtete, 41 Enderlin war daran kaum mehr beteiligt. Er litt an Herzbeschwerden, die ihn im April 1935 zu einem Krankenhausaufenthalt zwangen und auch im folgenden Heimaturlaub zusetzten. Vgl. Walter Mueller, Jahresbericht 1934, in: DP 7/1936, 84; Unruh, Enderlin, 1942, 74. 42 Höpfner, Brief an Burkhardt, 6.5.1936, Archiv Johanneum. 43 Höpfner, Unser Klub, 1935, 101–104, zum Scheich-Titel, vgl. v. Kremer, Ägypten 1863, 282. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Höpfner dabei auch mit Studenten von Hassan al-Banna (1906–1949), dem Begründer der Muslimbruderschaft, in Kontakt kam. Al-Banna hatte Studenten der Azhar-Universität und des Dar al-‘Ulum um sich gesammelt und sie in Kaffeehäuser und andere öffentliche Treffpunkte ausgesandt, um den Islam zu predigen, vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 100. Wrogemann betont, „dass das missionarische Engagement der Muslimbruderschaft im Zusammenhang zu sehen ist mit christlichen Missionsbestrebungen, denen man eine islamische Variante der Mission entgegen zu setzen trachtete“., ebd. 106. Die missionarische Strategie der Muslimbruderschaft fasst Poston in 4 Punkten zusammen: „1. Make every individual a true Muslim, 2. Develop the Muslim family on Islamic lines, 3. Establish a Muslim umma. 4. Establish an Islamic state in Egypt.“ Poston, Da‘wah, 1992, 67. 44 Vgl. Höpfner, Unser Klub, 1935, 102. 45 Ebd. 103.
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dass ein junger Muslim zur Zeit des Abendgebets im Klub war und „um eine Matte [bat], auf der er sein Gebet verrichten könne. Sollten wir es ihm verwehren, sein muhammedanisches Gebet in unserem Hause zu verrichten? Wir haben ihm seine Bitte nicht abgeschlagen und wünschen nur, daß auch für ihn die Zeit kommen möchte, wo er mit uns den Vater unseres Herrn Jesus Christus anruft.“46 3. Assuan und Wiesbaden Im März 1936 versetzte die Missionsleitung Höpfner nach Assuan, 47 um den erkrankten Seelsorger am Missionskrankenhaus, Hans Merklin, zu vertreten. Die neue Aufgabe bot Gelegenheit die von der Großstadt unterschiedene Situation durch „Dörferbesuche und Hausbesuche“48 näher kennenzulernen. Höpfner urteilte: „Die Möglichkeiten zur Verkündigung des Evangeliums [scheinen] hier in Aswan reicher zu sein als in Kairo …. Wie viel Gelegenheiten gibt es doch hier, sich mit Menschen zunächst einmal zusammenzusetzen: am Hospitalkliniktag, in unserem Lesezimmer, das Bruder Merklin mit besonderem Geschick eingerichtet hat, usw. Nicht als ob die Menschen nun hier schneller zugriffen, bereiter wären, Christus als ihren Herrn anzunehmen; nein, aber Möglichkeiten, den guten Samen auszustreuen, haben wir eben hier nach meinem jetzigen Urteil mehr als in Kairo.“49
Nach Merklins Genesung blieb Höpfner in Assuan und betätigte sich „als reisender Missionar in den Gebieten nördlich und südlich des Staudammes“.50 Zusammen mit dem koptischen Evangelisten Rafla Efendi besuchte er evangelische und koptische Christen in den Dörfern entlang des Niltals. Zu abendlichen LichtbilderVorträgen über das Leben Jesu51 auf den Dorfplätzen fanden sich auch muslimische Zuschauer ein. Anfang 1937 begrenzte die Feldkonferenz Höpfners ausgedehnte Reisetätigkeit auf die „Ortschaften zwischen Edfu und Kalabsche mit Ausnahme des engeren Darauer Bezirks (Ostseite des Nil).“52 Im Mai 1937 kam Höpfners erste Dienstperiode zum Abschluss. Mit einem italienischen Schiff begab er sich von Alexandrien auf eine ausgedehnte Rückund Erkundungsreise, die ihn entlang der nordafrikanischen Küste durch Libyen, Tunesien und Algerien führte. Mehrfach unterbrach er die Reise, um Gespräche mit muslimischen Gelehrten und christlichen Missionaren zu führen und sich ein
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Höpfner, Unser Klub, 1935, 102. Höpfner, Versetzt, 1936, 104. Höpfner, Brief an Burkhardt, 6.5.1936, Archiv Johanneum. Ebd. Höpfner, Nachruf [für Hans Merklin], in: NEMO 5/1969, 71. Dies entsprach der von Julius Richter favorisierten Methode: „Am Abend können Lichtbilder diese heilsgeschichtliche Predigt erläutern und beleben.“, vgl. Richter, Mission, 1930, 43, siehe II.A.5. 52 Protokoll der Missionarskonferenz am 8. Januar 1937, 2, EMO-Archiv.
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Bild der missionarischen Lage im Maghreb zu machen.53 Im Juni erreichte er Deutschland, wo er bis Oktober 1938 Reisedienst tat. Bei einem seiner Vorträge begegnete Höpfner seiner zukünftigen Ehefrau, Lotte Wawersik,54 die sich auf eine Tätigkeit als Missionslehrerin mit der Basler Mission in Indien vorbereitete. Höpfner und Wawersik verlobten sich in Deutschland und heirateten am 24. Juni 1939 in Kairo. 4. Wieder in Kairo Im Oktober 1938 reiste Willi Höpfner wieder aus, diesmal um die Leitung der Station in Assuan „mit all den vielfachen kleinen und großen Verpflichtungen dieses Amtes [zu] übernehmen“ und den „Stationsgenossen in Liebe und Verständnis in den Anliegen ihrer besonderen Arbeitszweige zu helfen“.55 Doch die sich verschärfende Herzkrankheit Enderlins hielt Höpfner in Kairo fest, „um dem Missionsleiter seine vielen dienstlichen Gänge und Schreibereien abzunehmen“.56 Dies gab Höpfner die Gelegenheit „unter[zu]tauchen in den Strom des Kairener Lebens, um die Sprache zu üben, …. um Menschen kennenzulernen und Beziehungen aufzugreifen – und das alles nicht ziellos, sondern mit dem Wunsch, dabei Menschen für Christus zu gewinnen“.57 Vor allem musste die inzwischen verwaiste Klubarbeit neu belebt werden.58 Höpfners bisheriger Mitarbeiter Juhanna Schäkir war zwischenzeitlich mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt, um eine von der Sippe bestimmte Frau, eine Muslimin, zu heiraten. Höpfner zeigte „Verständnis für seine Lage“59 und beschloss, selbst in die Klubräume, gegenüber der Residenz König Faruks, einzuziehen.60 Für ein Weihnachtsprogramm im Dezember 1938 lud Höpfner den bekannten Konvertiten Marcus Abd el-Masih ein, der „zum Erstaunen aller nicht in Hoch-, sondern in Volksarabisch“ zu den über fünfzig Zuhörern im Klub sprach.61 Höpfner zeigte sich beeindruckt, von „dieser Art der Darbietung des Wortes [...]: den mohammedanischen Menschen anzusprechen, ohne dabei polemisch auf seine Religion einzugehen“.62
53 Seine Erlebnisse und Reflexionen fanden Niederschlag in einem fünfteiligen Bericht in DP: Höpfner, Von Alexandrien nach Algier 1938 (Teile I–V). 54 Lotte Höpfner, geb. Wawersik (1914–2008) hatte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Gemeindehelferin und Grundschullehrerin absolviert, vgl. Pfarrer J.G., Ansprache bei der Trauerfeier Lotte Höpfner, 26. März 2008 (Fotokopie), EMO-Archiv. 55 Dienstanweisung vom 24.10.1938: „Ihr Weg wird sie zunächst nach Assuan führen, wo sie nach der Übersiedlung Bruder Müllers nach Kairo die Leitung der Station … übernehmen werden.“, EMO-Archiv. 56 Emanuel Kellerhals, Jahresbericht 1938, in: DP 5/1939, 67. 57 Höpfner, Nubierklub, 1939, 7. 58 Ebd. 5f., vgl. Kellerhals, Jahresbericht 1938, in: DP 39, 5/1939, 67. 59 Höpfner, Arbeit, 1939, 40f. 60 Vgl. Höpfner, Klubarbeit, 1939, 99. 61 Höpfner, Arbeit, 1939, 40. 62 Ebd.
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Wie Enderlin so pflegte auch Höpfner den Kontakt zu sufischen Muslimen. Wiederholt besuchte er nächtliche Dhikr-Tänze, die ihn sowohl als Ritual als auch in ihrer „Sehnsucht ... nach Reinheit“ faszinierten: [Ich] besuchte des öfteren Derwisch-Versammlungen – sog. ‚dhikrs‘ – in der Nähe der Zitadelle in Kairo. Gewöhnlich fanden diese in der Nacht von Donnerstag auf Freitag im weiten Hof eines arabischen Hauses statt, der mit Decken und Tierfellen ausgelegt war. Eine kleine Gruppe hatte sich eingefunden, um in sitzender Stellung ihren Körper hin- und herzubewegen – erst langsam, dann immer schneller und schneller. Dabei wiederholte man ständig: ‚Nistaghfar Allah‘ (Wir bitten Gott um Verzeihung ...). Immer rascher, immer schneller – als sollte die Verzeihung und Vergebung Wirklichkeit werden durch die Schnelligkeit der Bewegung und Geläufigkeit der Zunge. Anschließend nahm die Gruppe Trommeln, kleine Handpauken und größere, am Feuer gespannte, und begann unter Begleitung rhythmischer Körperbewegungen das islamische Glaubensbekenntnis zu sprechen. Auch hier – erst langsam, dann immer schneller, bis das Ganze jäh abbrach. ‚La illaha ilalläh, wa Mohammed rasul Allah.‘ (Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter). Nach Nennung der Heiligen des Derwisch-Ordens begann man aufs Neue zu rufen: Allah, Allah, Allah – bis zur Verzückung, zur Ekstase. Bei solchen dhikr-Versammlungen wurde mir die Sehnsucht des Menschen nach Reinheit, nach Vergebung und Gemeinschaft mit Gott besonders bewußt.“ 63
Wie Enderlin betrachtete Höpfner den Sufismus als Brücke, um Muslimen Christus als das wahre Licht zu bezeugen. Bei einer der Dhikr-Versammlungen lernte er einen jungen Sufi aus Syrien kennen, der bald regelmäßig den Klub besuchte. Dabei zeigte sich ein gegenseitiger religionstheologischer Inklusivismus: Höpfner sah den Sufismus als Ausdruck einer verborgenen Sehnsucht nach Christus und der Syrer sah in Höpfner „einen Mystiker, einen Gleichgesinnten. Das gibt mir das Recht, ihn in die christliche ‚Mystik‘ einzuführen. Immer, wenn er kommt, suche ich ihm etwas von den großen ‚Mystikern‘ der Bibel vorzulesen. Er schüttelt sich dabei immer etwas, als fürchte er dabei für seine mohammedanische Frömmigkeit und bringt deshalb immer gleich einige Koranverse als Antwort. Letztlich suchte ich ihm immer wieder den Satz zu wiederholen: ‚Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben.‘ … Wie verschwimmt doch im Islam und mehr noch in der islamischen Mystik die Klarheit und Einzigartigkeit der Person Jesu.“64
Als sich abzeichnete, dass Enderlin nach dem nächsten Heimaturlaub aus Krankheitsgründen zunächst nicht nach Kairo zurückkehren würde, entschied die Missionsleitung, das soeben verheiratete Ehepaar Höpfner nicht wie geplant in der Stationsleitung in Assuan einzusetzen, sondern „bis auf weiteres in Kairo zu belassen, [da] in einer solch kritischen Zeit wie der jetzigen ein Vertreter [in Kairo] bleiben“ sollte.65 Neben der Klubarbeit übernahm Höpfner von Enderlin (stellvertretend) die Feldleitung, darüber hinaus vertrat er den Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Kairo. Der Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen, und damit der Beginn des 2. Weltkriegs, im September 1939 63 Höpfner, Gebet, 1980, 29, vgl. Ders., Das moslemische Gebet, in: ID 32/1975, 11–15; Ders., Das Gebet als Bekenntnis des Glaubens, in: ID 33/1975, 1–4. 64 Höpfner, Klubarbeit, 1939, 101–102, vgl. die ähnliche Beurteilung der Mystik als höchste und zugleich am stärksten irregleitete Form der Religion bei Kraemer, Botschaft, 1940, 317. 65 Protokoll der Missionarskonferenz in Kairo vom 25.–26. Juni 1939, EMO-Archiv.
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führte jedoch zum abrupten Ende der deutschen Missionsarbeit in Ägypten. Die Missionsstationen der EMM in Oberägypten sowie die Klubräume in Kairo mussten umgehend geräumt werden. Bis auf Höpfner und einen Kollegen verließen alle Mitarbeiter der EMM Ägypten am 7. September auf dem Schiffsweg. Höpfner und sein Kollege Müller wurden schließlich von der ägyptischen Polizei verhaftet und mit über achtzig Deutschen in einem Sammellager neben dem deutschen evangelischen Pfarramt interniert. Eine Woche später mussten auch sie Ägypten verlassen und reisten per Schiff „über Saloniki-Nisch-Belgrad-Zagreb-München in die ‚verdunkelte‘ Heimat hinein“,66 wie Höpfner die Aussichten beschrieb. Doch die Hoffnung auf Wiederkehr blieb lebendig: „[Wir] legen die uns liebgewordene Arbeit schweren Herzens zurück in Gottes Hand, wissend, daß ihm die Herrschaft über die Muhammedaner gehört, auch wenn wir nicht dazu beitragen können, diese Herrschaft unter ihnen auszubreiten. Möchte es uns Gott bald wieder schenken, daß wir ‚in Frieden‘ den Frieden verkündigen können.“67 5. Höpfners Missionstheologie in den 1930er Jahren a) Sympathic approach, dialektische Theologie und Pietismus In missionstheologischer Hinsicht fällt Höpfners Wirken in die Zeit zwischen den Weltmissionskonferenzen des Internationalen Missionsrats (IMR) in Jerusalem 1928 und Tambaram 1938. Die Spannung zwischen der in Jerusalem vorherrschenden, im Wesentlichen von den anglo-amerikanischen Delegierten vertretenen Betonung christlich-islamischer Kontinuität (sympathetic approach) und dem differenzorientierten evangelistic approach der kontinentalen dialektischen Theologie in Tambaram, zeigte sich auch Höpfners Missionsverständnis. Enderlin, von dem Höpfner sechs Jahre lang das ABC nicht nur des Arabischen, sondern auch der missionarischen Begegnung mit Muslimen in Kairo lernte, verband den moderaten sympathetic approach seiner anglikanischen Kollegen in der CMS mit seiner eigenen lutherisch-pietistischen Prägung und ließ sich davon auch angesichts der religionskritischen Perspektiven der inzwischen vorherrschenden dialektischen Theologie nicht abbringen.68 Höpfner selbst war im Basler Missionsseminar im unmittelbaren Wirkungsbereich des Nestors dialektischer Missionstheologie, Karl Hartenstein, ausgebildet worden. Während Höpfners Zeit in Basel hatte Hartenstein seinen wichtigen Aufsatz The Theology of the Word and Mission (1931) im International Review of Missions, dem Organ des IMR, veröffentlicht. Auch am Johanneum in Wuppertal hatte man den offenbarungstheologischen Ansatz Karl Hartensteins – vor allem 66 Höpfner, Brief an Grobe, Wuppertal, 12.2.1940, Archiv Johanneum. Ähnlich formulierte Hartenstein 1939 an William Paton: „Now darkness has come upon us and nobody knows when the holy but terrible will of God will be changed again to mercy and love.“, zit. bei Yates, Mission, 1996, 123. 67 Höpfner, Keine Träne, 1950, 64–65. 68 Vgl. Hock, Spiegel, 1986, 145.
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die Unterscheidung zwischen Religion und Evangelium, die dem Pietismus auf eigene Weise seit jeher nahe lag – aufgenommen. Im Januar 1935 schrieb Direktor Paul Burkhardt an Höpfner nach Jerusalem: „Wenn wir den Mohammedanern das Evangelium zu bringen haben, mag es nimmer genügen, dass wir dessen Überlegenheit an Gedankeninhalt und Gemütstiefe zum Grund nehmen. Wir werden erst dann unseres Dienstes froh werden, wenn wir erkennen, wie das Evangelium Erlösung von der Religion ist, also auf einer ganz anderen Fläche liegt als der Mohammedanismus. Es ist freilich in der Christenheit reichlich zur Religion herabgezogen worden. Aber unsere Zeit scheint darauf hinzudrängen, seine Einzigartigkeit als Botschaft Gottes gegenüber aller Religion, ja entgegen aller Religion auszuweisen.“69
Es überrascht nicht, dass Höpfner diese Impulse aufnahm und mit Enderlins sympathetic approach zu einem vermittelnden, pragmatischen Ansatz verband. Dabei hielt er sich von theologischen Extremen in beide Richtungen fern und vertrat eine von eigenen Begegnungen, Beobachtungen und Glaubenserfahrungen geprägte eigene, manchmal auch eigenwillige Sicht. So kritisierte Höpfner im christentumskritischen Duktus dialektischer Theologie, dass in der Heimat Mission oft noch „aus dem Bewußtsein ... einer höheren Kulturstufe“ und einem „Gefühl des Mitleids“ heraus begründet werde, betonte aber gleichzeitig, eher in der Nähe des sympathetic approach, den Wert diakonischer und medizinischer Missionsarbeit, weil sie „etwas vom christlichen Geist atmet“.70 Oder: In der typischen offenbarungstheologischen Perspektive dialektischer Theologie vertrat Höpfner, es widerspreche „dem Charakter des Evangeliums, dass man darüber diskutiert“ – als „Gabe Gottes an uns“ könne es „nur bezeugt werden“.71 Im gleichen Atemzug warnte er, wieder im Einklang mit dem sympathetic approach, davor, „die Rede seines mohammedanischen Gegenübers“ zu übergehen, „um ihn dann mit einer ‚christlichen‘ Rede zu überschütten, die nur offenbart, dass [man] den Mohammedaner nicht ernst genommen hat“.72 Durchgängig findet sich die Kritik apologetischer Polemik: es müsse immer „bewußt bleiben, daß wir niemand überzeugen und nichts vernunftmäßig beweisen können“. Vielmehr müsse das Evangelium so gesagt werden, „daß es den ganzen Menschen anspricht“.73 Auch in seinem Islambild legte der frühe Höpfner sich weder auf die radikaleren dialektisch-theologischen Positionen (Religion ist Unglaube) noch auf das evolutionäre religiöse Bildungsideal des sympathetic approach fest: „Ist der Islam wirklich die Religion – oder sagen wir besser – der Weg, der einen nach Wahrheit suchenden Menschen zur Quelle des Lebens führt? Sicher, der Islam ist die natürliche und vernünftige Religion, besonders für den orientalischen Menschen. Doch erleben wir nicht immer wieder die ganze Unvernunft der Vernunft und Unnatur der Natur und die irrationale Größe unserer Schuld und schließlich des Todes? Möchte uns Gott hier allezeit seinen heiligen Geist geben, der uns befähigt, diesen Menschen hier, die heute noch so ungebrochen auf
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Burkhardt, Brief an Höpfner, 14.1.1935, Archiv Johanneum. Höpfner, Mission in Ägypten, 1936, 131–132. Höpfner, Diskutieren, 1940, 12. Ebd. 13. Ebd. 14.
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V. Willi Höpfner: Biographie und Theologie die sittlich erneuernde Kraft der ‚Edukation‘ vertrauen, den zu zeigen, der von sich sagte: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“74
Ein Bezugspunkt für Höpfner blieb das weitgespannte Werk Samuel Zwemers. Als elder statesman der protestantischen Islammissiologie75 war Zwemer mit keinem der wechselnden Ansätze vollständig zu verrechnen, sondern blieb mit seiner umfassenden Kompetenz, seinen verschiedenen Phasen und seiner christozentrischen Theologie ein übergreifender Referenzpunkt, nicht nur für Höpfner. Auch die Erinnerung an die feinsinnige Begegnungsarbeit Canon William H. Temple Gairdners, der nur vier Jahre vor Höpfners Ankunft gestorben war, war in Kairo noch lebendig, nicht zuletzt durch das Wirken Constance E. Padwicks, die in Nachfolge Gairdners die Zeitschrift Orient and Occident herausgab.76 Schließlich stand auch Julius Richters vermittelnde und manchmal widersprüchliche Collage aus zivilisatorischen und kreuzestheologischen Perspektiven in Mission und Evangelisation im Orient (in den Auflagen von 1908 und 1930)77 prägend im Hintergrund der Perspektiven Höpfners. Die pietistische Prägung Höpfners war – ähnlich wie bei Enderlin – besonders geeignet, missionstheologische Gegensätze in einer vermittelnden Perspektive zu vereinen, um dem muslimischen Gegenüber die Liebe Christi in einem „Gespräch mit seinem Herzen“78 nahezubringen. In Höpfners Sicht stellte die geistliche Not des menschlichen Herzens eine kulturübergreifende anthropologische Konstante dar: „die innerste Not eines Menschen [ist]... die gleiche ... beim Europäer wie beim Ägypter, beim gebildeten Efendi wie beim einfachen Fellachen, deshalb bringen wir die Botschaft von Jesus Christus allen Klassen.“79 Damit stand er trotz allem auch nahe bei Hartenstein, der 1931 formuliert hatte: „The Scriptures recognize only one man, who remains one and the same in spite of all differences of race, language, religion, and culture, and that is the Prodigal son, bound in a world of stress and death, in bondage to the power of sin.“80 Mit seiner Frage nach der „wahren Religion“ stand Höpfner jedoch näher bei Enderlins sympathetic approach und urteilte im Sinne von Kontinuität, Vergleich und fulfilment: „Die Frage nach der wahren Religion ... ist schließlich die Frage nach der Kraft zum Tragen von Krankheit und Not, Kraft zur Überwindung der Sünde. Und das [ist] der Grund unseres Hierseins, von einer Kraft Zeugnis abzulegen, die uns durch die Nöte dieses Lebens trägt. Durch Jesus Christus [wissen] wir, dass Gott die Liebe ist. Von daher [fällt] Licht auf unsere
74 Höpfner, Brief an das Johanneum, Wuppertal, 21.12.1934, Archiv Johanneum. 75 Siehe II.A.1. 76 Padwick arbeitete von 1923–1937 mit der CMS in Kairo und war Sekretärin des missionsübergreifenden Literaturkomitees. Ihr bekanntestes Werk wurde die Studie zur islamischen Spiritualität und Liturgie Muslim Devotions: A Study of Prayer Manuals in Common Use (1961), vgl. Troeger, Alexandrien, 2013, 142–143, siehe auch II.A.2. 77 Zu Richter: siehe II.A.5. 78 Höpfner, Diskutieren, 1940, 14. 79 Höpfner, Mission in Ägypten, 1936, 132. 80 Hartenstein, Theology of the Word, 1931, zit. nach Vander Werff, Mission, 1977, 285. Auf den pietistischen Einfluss in Hartensteins Theologie verweist Beyerhaus, Wort, 1996, 140ff.
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Fragen und Lebensrätsel. … Doch der Islam? Gibt er nicht auch seinen Anhängern Kräfte zum Tragen? Ja, wir geben das ohne weiteres zu. Und doch, es gibt noch etwas viel Größeres: ...‚Ich bin gewiß, daß mich nichts scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.‘“ 81
Hier wird der Islam nicht in einen konfrontativen, sondern in einen relativen, vergleichenden Bezug zum christlichen Glauben gebracht, bei dem die Überlegenheit der christlichen Offenbarung betont wird. In der konkreten christlich-islamischen Begegnung in Kairo, Jerusalem oder Assuan zeigte sich, dass die missionstheologischen Positionen in der Praxis manchmal weniger weit auseinanderlagen als auf dem Papier. In seiner ersten Dienstphase bis 1939 war Höpfner ein Missionsdenker des Übergangs und der Vermittlung zwischen Jerusalem und Tambaram, der auch frühere Einflüsse ohne Berührungsängste einbezog.82 Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, warum Höpfner sich später gerne auf den Ansatz von Hendrik Kraemer in The Christian Message in a Non-Christian World (1937) bezog, der ebenfalls eine vermittelnde und empirisch fundierte Haltung einnahm, die Höpfner einmal als „unüberbietbar“ bezeichnete.83 b) Kreuz und Halbmond im Niltal (1937) Einen guten Einblick in den vermittelnden Charakter von Höpfners Missionstheologie der späten 1930er Jahre bietet seine kurze Schrift Kreuz und Halbmond im Niltal,84 die auch bei bewährten Islammissiologen wie Gottfried Simon (1870– 1951) Aufmerksamkeit fand.85 Im Zentrum von Höpfners Ausführungen stand eine vergleichende, missionarische Auseinandersetzung mit dem Kreuz Jesu Christi als Inhalt, Motiv und Kraft christlicher Islammission und seiner Ablehnung im Islam. Ausgangspunkt von Höpfners Darlegung war ein kurzer literarischer Dialog mit den Prophetengeschichten des Azhar-Gelehrten Abdalwahab an-Naggar.86 81 Höpfner, Mission in Ägypten, 1936, 132. Kursiv FW. 82 Hier vor allem Zwemers Einfluss. Höpfners setzte sich auch differenziert mit der apologetischen Methode Karl Gottlieb Pfanders (1803–1865) auseinander, vgl. Höpfner, Diskutieren, 1940, 10–14. 83 Höpfner, Literatur, 1964, 1. 84 Die Schrift beruht auf einem Vortrag, den Höpfner 1937 auf der Herbstkonferenz der EMM in Wiesbaden hielt: „Das sehr interessante Heft gibt einen guten Einblick in die Arbeit unserer Missionare.“ Unruh, DP 11, 1937, 142. 85 In Die Welt des Islam und ihre Berührungen mit der Christenheit 1948, 537 geht Simon positiv auf Höpfners Schrift ein: „Man kann der Folgerung Höpfners nur zustimmen: ‚Der Islam ist fähig, vieles Christliche anzuerkennen, ja anzunehmen, aber niemals das Kreuz.‘“ Zu Gottfried Simon, siehe II.B.3.c). Fußnote. 86 Höpfner transkribiert Abd el-Wahhab en-Naggar. Der Gelehrte ist vermutlich identisch mit Abdalwahab an-Naggar, den Reinhard Schultze zum Umfeld der neo-salafitischen Erneuerungsbewegung zählt. An-Naggar war Vizepräsident der ägyptischen Gesellschaft der muslimischen Jugend (GSM), die 1928 gegründet worden war, allerdings stärker mit dem traditionellen Azhar-Establishment verwachsen war, als die fast gleichzeitig entstandene Muslim-
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Dieser fasste seine Sicht des Christentums dahingehend zusammen, dass „einem frommen Christen … weder ein frommes Werk, noch Gottesdienst, noch Gerechtigkeit, noch Frommsein, noch Hingabe [nützt], wenn er nicht an die Kreuzigung des Christus glaubt“.87 Höpfner hält das für „ganz richtig gesagt“, da „das Kreuz das Fundament des christlichen Glaubens ist.“ Deshalb sei es auch die einzige Legitimation der christlichen Islammission: „Hätten wir nicht die Botschaft vom Kreuz den Muhammedanern zu bringen, so hätte die christliche Mission unter ihnen keine Berechtigung.“88 Damit knüpfte Höpfner zwar an einen Konsens der Missionstheologie der 1920er Jahre an,89 die eine Kontinuität im Gottesbewusstsein annahm,90 machte aber deutlich, dass er die Theologie des Kreuzes nicht nur als missionarisches Aufbaumodul sah,91 sondern dass sie das gesamte Gottesbild verändert: „In der Person Jesu, am Kreuze auf Golgatha, ... schauen wir wirklich hinein in das Herz Gottes, in seine abgrundtiefe Liebe und seine unfaßbare Heiligkeit.“92 Die Ablehnung der Kreuzesbotschaft war für Höpfner deshalb das zentrale Defizit des Islam: es fehlt „das Wesentliche“.93 Höpfner berichtet von einem Gespräch mit einem „mohammedanischen Vorbeter“ über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, bei dem der Muslim kontinuierlich Sure 4, 157 rezitiert habe: „Sie haben ihn nicht getötet und nicht gekreuzigt, sondern er ist ihm ähnlich gemacht.“94 Im Zentrum des islamischen Glaubens sieht Höpfner stattdessen „das Vertrauen auf das gute Werk des Frommen“; dies nehme für Muslime den Platz ein,
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bruderschaft, vgl. Schultze, Internationalismus, 1990, 90–91.97. Zur Auseinandersetzung zwischen Azhar-Gelehrtentum und salafitischer (Mohammed Abduh 1849–1905) sowie neosalafitischer Reformbewegung (Hassan al-Banna 1906–1949) vgl. Schultze, Internationalismus, 1990, 41ff. Höpfner, Kreuz, 1937, 1. Ebd. Diesen Konsens beschreibt Hock, Spiegel, 1986, 79 so, „daß der Missionar bei seiner Arbeit den Gottesgedanken unter Muslimen nicht erst zu wecken brauchte.“ In deutlichem Widerspruch dazu habe Karl Barth es als „optische Täuschung“ gesehen, „wenn man das Christentum mit dem Islam zusammen als ‚monotheistische Religion‘ bezeichnet“. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre (1938), zit. bei Hock, Spiegel, 1986, 144. Julius Richter sprach vom „lebhaften Bewusstsein“ der Konvertiten, „dass der Vater unseres Herrn Jesu Christi derselbe Gott ist, den er vorher als Allah verehrt hat“. Richter, Orient, 1930, 44. Ähnlich Richter, Orient, 1930, 39.43: „die Predigt von dem einen Gott, dem Schöpfer, Erhalten und Regierer … Das fällt bei den Mohammedanern weg. ... Man kommt an sie erst mit dem Zweiten Artikel [des Glaubensbekenntnisses, FW] heran.“ Höpfner, Kreuz, 1937, 9. Ebd. 1–2. Auch Richter betonte, dass in der Islammission „vor allem ... das Kreuz Christi entscheidend in den Mittelpunkt gestellt werden“ müsse, da es von den Muslimen geleugnet werde. Richter, Orient, 1930, 43. Zwemer sah das Kreuz als „missing link“ im islamischen Glaubensbekenntnis. Versöhnung und wahre Bruderschaft könnten Menschen nur im Kreuz finden, wo die Gerechtigkeit und Liebe Gottes, Sünde und Vergebung zusammengebracht würden. Zwemer, The Moslem Doctrine of God, 1905, 109, zit. bei Vander Werff, Mission, 1977, 240. Zit. bei Höpfner, Kreuz, 1937, 3.
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der für Christen „vom Glauben an die Gottestat auf Golgatha“ gefüllt werde. Ein oberägyptischer Muslim habe ihm erzählt, dass er um die Welt gereist, dabei aber moralisch auf Abwege geraten sei. In der Heimat habe er sich nun wieder zum Islam bekehrt und sei „überzeugt, daß er das Paradies ererben würde, nachdem er siebenmal die heilige Stadt [Mekka] besucht habe“.95 Doch Höpfner fragt, ob er den Islam damit wirklich richtig verstanden habe: „Gibt es wirklich nur den Weg der Werke? Weiß der Muhammedaner nichts von der Barmherzigkeit Gottes?“ Immerhin beginne jede Sure mit den Worten: „Im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen.“ Doch anders als Enderlin96 kann Höpfner in muslimischen Gebeten „keine erlebten Wirklichkeiten“ entdecken. Der Muslim wisse „nichts davon, daß Gottes Herz sich seiner erbarmt“.97 Er habe nur „nur einen tiefen Eindruck von Allahs Macht. ... Nicht die Liebe, sondern der Wille bewegt ihn. Er kann lieben, … aber er braucht nicht zu lieben. Er kann ebenso auch hassen. So handelt er ganz in der Willkür eines orientalischen Despoten, der den einen annimmt und den anderen von sich stößt. Wollte man sagen, Gott lässt sich von der Liebe allein leiten, so würde man ihn in seiner Allmacht beschränken. Wer aber gar behauptet, Gott sei ‚Vater‘, der zieht ihn aus seiner unerreichbaren himmlischen Höhe herab in unsere menschlichen Niederungen.“98
In größerer Nähe zu Enderlin beschreibt Höpfner Christus dann jedoch als Erfüllung (fulfilment) der islamischen Hoffnung auf die Barmherzigkeit Allahs: erst „in der Person Jesu“ werde die von den Muslimen erhoffte Barmherzigkeit Gottes wirklich „offenbar“.99 Vor allem im Volksislam sah Höpfner, ähnlich wie Zwemer,100 eine praeparatio evangelica für die befreiende Botschaft des Kreuzes. Die „Angst vor bösen Geistern, den Teufeln, den Wüstendämonen, den Mächten des Neides und der Krankheit“ präge den Alltag vieler Muslime. Die Furcht breche überall dort auf, „wo man am Kreuze Jesu als der Offenbarung der Liebe Gottes vorübergeht oder es nicht ernst nimmt“.101 Im volksislamisch beliebten Gebrauch des Kreuzes als Schutzamulett „vor den Geistern und bösen Mächten“ sah Höpfner jedoch einen missionarischen Anknüpfungspunkt: „Ihr ahnt etwas davon, daß 95 Höpfner, Kreuz, 1937, 7. 96 Enderlin, Old Ways, 1942, 115: „if in talking to a Muslim about prayer I am convinced at heart that he knows no real prayer life, I begin with a prejudice“. Siehe auch: II. A. 5. b). 97 Höpfner, Kreuz, 1937, 8. 98 Höpfner, Kreuz, 1937, 8–9, kursiv i.O. Mit dieser Sicht vertrat Höpfner einen Konsens der damaligen Islammissiologie. Zwemer: „Islam reduces God to the category of the will; He is a despot, an Oriental despot.“ (zit. Vander Werff, Mission, 1977, 240); Richter: „Allah bleibt der orientalische Gewalthaber, der wohl seine treuen Diener belohnt, sie aber stets in der Entfernung von Sklaven von sich hält.“ (Richter, Orient, 1930, 42); ähnlich auch spätere Interpreten wie Rosenkranz (Religionskunde, Tübingen, 1951, 116) oder Cragg (Minaret, 1956, 42–43). Heutige christliche Interpreten urteilen vorsichtiger: in der Frage, ob Gottes Barmherzigkeit gegenüber der Vergeltung im Gericht das Übergewicht gewinnen wird, „ist sich die islamische Theologie … offensichtlich nicht einig“. Renz, Mensch, 2002, 494. 99 Höpfner, Kreuz, 1937, 9. 100 Zwemer, The Influence of Animism on Islam, 1920, vgl. Vander Werff, Mission, 1977, 244. 101 Höpfner, Kreuz, 1937, 10. Dies galt in Richtung des „aufgeklärten Europa“; auch Richter konnte ähnlich formulieren, vgl. Richter, Mission, 1930, 43, siehe II.A.5.a).
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vom Kreuz her eine Siegeskraft ausgeht über die Mächte der Finsternis. Doch nicht im Kreuzeszeichen, im Amulett, liegt die Kraft, sondern in Jesus Christus, dem Mann, der am Kreuz über den Teufel siegte, ist allein der Sieg.“102 Hier zeigt sich exemplarisch die Verbindung von Diskontinuität und Kontinuität in einem pietistisch-erweckungstheologischen Verständnis der christlich-islamischen Beziehung, das für Höpfners frühe Missionstheologie charakteristisch war. C. AUSLANDSPFARRER IN KAIRO 1951–1959 1. Kriegsdienst, Gefangenschaft und Pfarramt 1940–1950 Nach der Rückkehr aus Ägypten zogen Willi und Lotte Höpfner nach Sachsen. In Röcknitz bei Wurzen durchlief Höpfner das Vikariat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche und übernahm 1942 die dortige Pfarrstelle.103 Hier wurden die ersten beiden Kinder des Ehepaars, ein Sohn und eine Tochter, geboren. Höpfner, der neben Arabisch auch Englisch und Französisch sprach, wurde jedoch bald als Dolmetscher zu den deutschen Truppen nach Nordafrika abgeordnet. Nach einer kurzen Vorbereitungszeit in der Dolmetscher-Ersatz- und LehrKompanie in Berlin,104 wurde er in Libyen, Marokko und Tunesien eingesetzt.105 Dort geriet er in britische und amerikanische Kriegsgefangenschaft. Höpfner, der auch in diesen Jahren nicht aufhörte, sich als Missionar zu verstehen, erinnerte sich 1950: „Gott hat uns in seiner Gnade nie ohne Arbeit im Weinberg gelassen. … Wir Missionare, die wir während des Krieges in Nordafrika, in Libyen, Tunesien und Marokko als Dolmetscher eingesetzt waren, haben immer Begegnungen mit Muhammedanern gehabt. Selbst in der langen Gefangenschaft in Amerika und England schenkte uns Gott Gelegenheiten zum Zeugnis mit marokkanischen, indischen, ägyptischen und gar deutschen Muhammedanern.“ 106
102 Höpfner, Kreuz, 1937, 16. 103 Auszüge Pfarrerkartei, ZA EKHN. 104 Vgl. Höpfner, Nachruf [für Hans Merklin], in: NEMO, 5/1969, 71. Zur Dolmetscher-Ersatzund Lehrkompanie vgl. Krauss, Briefe, 2002, 85. In einem nach dem Krieg abgefassten Bericht erinnerte sich der Marburger Romanist Werner Kraus (1900–1976): „Die meisten Einberufenen waren Dozenten, Studienräte, Missionare oder Kaufleute mit langjähriger Auslandserfahrung. […] In politischer Hinsicht war dieser Verband vollständig ‚zersetzt‘. Da hier niemand befördert wurde ..., blieb die Freiheit der Intelligenz unbelastet von dem Zwang, sich den Lebensformen und der Denkungsart der Offizierskaste anzupassen. Der Wunsch eines baldigen Kriegsendes und die Hoffnung auf den Untergang des Nationalsozialismus waren allgemein und wurden auch in allen Dienst- und Schlafräumen ganz offen geäußert.“, zit. in Barck, Werner Krauss, 1997, 701. 105 Vgl. Höpfner, Nachruf [für Hans Merklin], in: NEMO, 5/1969, 71. 106 Höpfner, Träne, 1950, 65. Auch die Wiesbadener Mission sprach weiter von „unser Missionar Willi Höpfner“, Unruh, EMMW, Nov. 1946, 2.
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Im Oktober 1947 kehrte Höpfner aus England zurück. Die Gemeindearbeit in Röcknitz hatte Lotte Höpfner währenddessen alleine weitergeführt.107 Anfängliche Planungen, nun in die Mitarbeit der Wiesbadener Heimatzentrale der EMM einzusteigen, ließen sich nicht realisieren.108 So übernahm Höpfner im November 1947 eine neue Pfarrstelle in Lüptitz und Großschepa, die er bis 1950 betreute. Im letzten Jahr dieser Zeit wurde das dritte Kind des Ehepaars, eine Tochter, geboren. Die Verbindung zur Wiesbadener Mission und der Wunsch, nach Ägypten zurückzukehren, blieben bestehen. In einem Beitrag zur EMM-Jubiläumsschrift Fünfzig Jahre evangelische Missionsarbeit unter Mohammedanern (1950) blickte Höpfner auf das abrupte Ende der Missionsarbeit im Jahr 1939 zurück. Immer noch beschäftigte ihn Frage, „ob Gott uns nicht doch noch Arbeitsmöglichkeiten in Ägypten gelassen hätte, wenn wir, statt heimzureisen, dort geblieben wären“.109 1950 schien sich jedoch eine neue Tür aufzutun. Es sah so aus „als wolle Gott uns noch einmal einen neuen Arbeitstag in Ägypten schenken. … Werden wir das ‚Ja‘ zur Arbeit finden? Oder erscheint uns jetzt die eigene Not zu groß, um helfen zu können? Oder versperrt uns die eigene Schuld und Untüchtigkeit den Weg zum Dienst? Wir haben nicht uns selbst, noch in eigener Kraft zu verkünden. Unser Zeugnis will geboren sein aus der vergebenden und erneuernden Kraft des Kreuzes Jesu Christi.“ 110
2. Neue Partnerschaft: Wiesbadener Mission und Kirchliches Außenamt Auf seiner ersten Versammlung nach dem 2. Weltkrieg 1947 im kanadischen Whitby gab der Internationale Missionsrat (IMR) das Motto einer „partnership in obedience“ aus: „Unter Not und Prüfung wurde die Christenheit dazu geführt, wie nie zuvor zu erkennen, daß sie im tiefsten eines ist trotz aller Trennungen.“ Dies öffnete nicht nur den deutschen Missionen eine neue Tür in die internationale Gemeinschaft, sondern sollte auch zu einer „echte[n] Brüderschaft im Zusammenwirken der alten und jungen Kirchen“ beitragen. Die alten Trennungen zwischen westlichen Missionsgesellschaften und jungen Kirchen sollte überwunden werden, da die Missionsaufgabe eine gemeinsame, „weltumspannend“ und „in jedem Lande wesentlich dieselbe“ sei.111 Dabei kam missionstheologisch bereits die Integration von Kirche und Mission im Sinne einer missionarischen Kirche in den Blick, die auf der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 noch deutlicher formuliert wurde: „Mission [gehört] ... zum ‘esse’, zum Wesen, zur Existenz der Kirche“ und „[es gibt] keine Teilnahme an Christus ohne Teilnahme an seiner Weltmission“.112 Diese theologische Sicht wurde 1961 durch die Integration von 107 Vgl. Pfarrer J.G., Ansprache bei der Trauerfeier für Lotte Höpfner am 26. März 2008, EMOArchiv, vgl. Unruh, EMMW, Okt. 1947, 3. 108 Vgl. ebd. 109 Höpfner, Keine Träne, 1950, 60. 110 Ebd. 65–66. 111 Whitby 1947, zit. in: Walldorf, Partnerschaft, 1996, 224, vgl. Günther, Weltmissionskonferenzen, 1987, 536. 112 Zit. in: Freytag, Mission zwischen Gestern und Morgen, 1952, 63.
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IMR und ÖRK auf der Vollversammlung des ÖRK in Neu-Dehli 1961 auch strukturell nachvollzogen. In den bisherigen Missionsländern, wie auch in Ägypten, waren es die nationalen politischen Entwicklungen, die weithin zur Auflösung und zur Integration der westlichen Missionsarbeit in die Strukturen der nationalen Kirchen führten.113 Im Horizont dieser Entwicklungen eröffnete sich für Willi Höpfner 1950 eine Aufgabe als Auslandspfarrer in der deutschen evangelischen Gemeinde in Kairo. Ermöglicht wurde dies durch eine bemerkenswerte Partnerschaft zwischen der Wiesbadener Mission (EMM) und dem kirchlichen Außenamt (KA) der EKD. Die Partnerschaft verdankte sich nicht nur der von Whitby inspirierten ökumenischen Neuausrichtung der kirchlichen Auslandsarbeit, sondern auch konkreten finanziellen Nöten.114 In ökumenischer Perspektive sah man die Aufgabe der evangelischen Auslandsgemeinden nicht nur in der „Versorgung der deutschen Auslandsdiaspora“, sondern ebenso in der ökumenischen und interkulturellen Kontaktpflege.115 Die finanziellen Mittel waren nach 1945 jedoch sehr begrenzt. Wenige Monate vor der Währungsreform im Juni 1948 schrieb KA-Präsident Martin Niemöller den Auslandsgemeinden, dass die Unterstützung „an unsere Gemeinden und Pfarrer im Ausland aus der Heimat … bei der gewaltigen Verarmung unseres Volkes … in der früheren Weise nicht wird geschehen können“.116 Diese Notlage ließ Kirche und Mission näher aneinander rücken. Es kam zu Gesprächen zwischen dem KA und der EMM über die Besetzung der Auslandspfarrstelle in Kairo durch den ehemaligen Missionar Willi Höpfner, der die Pfarrstelle bereits 1939 vertretungsweise versehen hatte. Doch trotz Bereitschaft auf allen Seiten, verzögerte sich die für 1950 geplante Ausreise, da die Rückgabe der kirchlichen Immobilien in Kairo (Kirche, Schule, Pfarrhaus) durch die ägyptische Regierung noch nicht erfolgt war.117 Die Verzögerung kam hingegen nicht ungelegen. So sehr KA und EMM „eine baldige Ausreise von Herrn Höpfner wünschten“ war es „im Augenblick eine Entlastung, da es beiden jetzt schwer wäre, die Kosten aufzubringen“.118 Im März 1951 war die Situation soweit geklärt, dass Familie Höpfner nach Kairo ausreisen und eine Wohnung im Altersheim der Kaiserswerther Diakonissen beziehen konnte, da das Pfarrhaus weiterhin von der ägyptischen Regierung reklamiert wurde. Die Renovierung der Kirche war zum Osterfest abgeschlossen.119 Die Vereinbarung zwischen KA und EMM sah vor, dass nicht nur der Unterhalt, sondern auch die Dienstaufsicht aufgeteilt würde: „In seinem gemeindlichen Dienst“ war Höpfner „dem Kirchlichen Aussenamt, in seinem missionarischen
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Vgl. Troeger, Paradigmenwechsel, 2006, 246. Vgl. Wellnitz, Gemeinden im Ausland, 2003, 140ff.160ff. Ebd. 160ff. Zit. ebd. 190. Vgl. Freitag, Durchhalten, 2002. Protokoll der Vorstandssitzung vom 20. September 1950, 2. EMO-Archiv. Vgl. Kremkau, 100 Jahre, 1964; Freitag, Durchhalten, 2002.
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Dienst dem Vorstand der EMM“120 verantwortlich. Zu seinen kirchlichen Aufgaben gehörte neben der Gemeindearbeit „die Seelsorge an den wieder im Krankenhaus Almoasad in Alexandrien arbeitenden deutschen Diakonieschwestern“ sowie das Besuchen „der deutschen Arbeiter in Bengasi“ [Libyen].121 Für die EMM sollte Höpfner zunächst „mit den Missionsgeschwistern in Assuan Fühlung halten, zumal ja Assuan auch zu seinem Sprengel gehört. Wie sich sein Dienst im einzelnen gestalten wird, lässt sich noch zu wenig überblicken, um Näheres zu verabreden. Die Verabredung mit dem Kirchlichen Aussenamt gilt zunächst nur für ein Jahr.“122 In Höpfners Augen standen jedoch beide Aufgabenbereiche, das Auslandspfarramt sowie die Kontaktarbeit für die EMM, unter der Überschrift seiner ursprünglichen missionarische Berufung, die nach zehnjähriger Unterbrechung nun wieder aufgenommen werden konnte: „Wir sind hier, um dem alten Ruf in die Mohammedanermission wieder Folge zu leisten. … Die durch den Krieg unterbrochene Missionsarbeit [soll] wieder aufgenommen werden, zudem soll ich das Pfarramt der Deutschen Gemeinde in Kairo übernehmen. So steht eine reiche, schöne Arbeit vor mir. Es wird eine gewisse Zeit vergehen, bis ich das an arabischen Sprachkenntnissen wieder aufhole, was ich durch die durch Krieg und Nachkriegszeit eingeschaltete Pause verloren habe. Wie viel Einfühlungsvermögen in neue Verhältnisse, wie viel stilles, gläubiges Warten wird gefordert werden?“123
3. Politische und missionarische Entwicklungen in Ägypten Als Höpfner 1951 nach Ägypten zurückkehrte, regierte immer noch – wie beim Verlassen des Landes Ende der 1930er Jahre – König Faruk I., dem Großbritannien im Freundschaftsvertrag von 1936 weitgehende Souveränität (bis auf den SuezKanal) zugesichert hatte.124 Doch Faruks Regierungszeit sollte bereits 1952 vorüber sein. Wirtschaftliche und soziale Spannungen führten zu wachsender Unzufriedenheit mit der Regierung. Die revolutionäre Nationale Front und die islamisch-politische Muslimbruderschaft verfolgten auf jeweils eigene Weise das Ziel eines politischen Umsturzes. Höpfner erlebte das von der Muslimbruderschaft organisierte öffentliche islamische Gebet, für das man freitags ganze Straßenzüge sperrte, „als starke Macht in der Öffentlichkeit“.125 Die Stimmung wandte sich
120 Protokoll der Vorstandssitzung der EMM vom 26. Januar 1951, 2; Protokoll der AA-Sitzung am 14. Juli 1951, 1. EMO-Archiv. 121 Auszug aus dem Tätigkeitsbericht des KA, erstattet Ende Februar 1951 für die 3. Tagung der 1. Snyode der EKD, 4. ZA EKHN, Best. 155/1984. 122 Protokoll der Vorstandssitzung, 26.1.1951, 2. EMO-Archiv. Obwohl man in Wiesbaden nach einem Jahr die Auslandsgemeinde in der Pflicht sah, war man weiterhin bereit, „um [Höpfners] Missionsdienste willen, zu seinem Unterhalt beizutragen, soweit es nötig ist und in unserem Vermögen liegt“. Protokoll der Vorstandssitzung vom 28.9.1952, 3; vgl. Protokoll Vorstandssitzung, 15.1.1953, 2. EMO-Archiv. 123 Höpfner, Brief an das Johanneum, 8.2.1951, Archiv Johanneum. 124 Vgl. Kamrava, Middle East, 2005, 35ff. 125 Höpfner, Neuanfang, 1951, 35–36.
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zunehmend gegen ausländische, vor allem britische Einflüsse.126 Höpfner prognostizierte, Ägypten werde „im Lauf der Zeit immer mehr dem Fremden starke Bedenken entgegenbringen. ... Man findet Abstufungen von dem Schlagwort ‚Boykottiert englische Ware‘ bis zu dem Aufruf der Muslimbruderschaft ‚Der Glaube und die Führung ist der Islam!‘ Die Azahrgelehrten veröffentlichten diese Woche einen Aufruf in der Zeitung, wonach diejenigen Feinde Gottes seien, die diesem Kampf fernstünden. Es ist eben hier in diesem Lande, in dem der Islam die führende Religion ist, das Politische außerordentlich mit dem Religiösen verknüpft.“ 127
Am 23. Juli 1952 kam es zur Revolution. Die Freien Offiziere der Nationalen Front unter Führung von Gamal Abd an-Nasir (Nasser) übernahmen die Macht, bildeten einen Revolutionsrat und zwangen König Faruk zum Abdanken. Im September wurde General Muhammed Naguib als Premierminister eingesetzt, am 25. Juni 1953 die Republik Ägypten mit Naguib als erstem Staatspräsidenten ausgerufen. Anfang 1954 verbot die neue Regierung die rivalisierende Muslimbruderschaft; gut zwei Jahre später führte Nasser eine neue Konstitution ein und ließ sich zum Staatspräsidenten wählen. Er begann sein panarabisches Reformprogramm umsetzen, zunächst mit außenpolitischen Signalen wie der Verstaatlichung des Suez-Kanals im Juli 1956 und der Ausrufung der Vereinigten Arabischen Republik (VAR).128 Auch in Ägypten selbst setzte Nasser im Rahmen eines arabischen Sozialismus Reformen durch: größere Betriebe wurden verstaatlicht, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und das staatliche Gesundheitsweisen ausgebaut, überall im Land entstanden neue Polikliniken und Krankenhäuser.129 Im religiösen Bereich bemühte man sich, Spannungen zwischen Muslimen, Juden und Christen zugunsten eines gemeinsamen nationalen Bewusstseins abzubauen. Premierminister Naguib rief auf: „Macht keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Klassen und den verschiedenen Elementen in unserem Volk. Ich möchte von Euch nicht hören: Der ist Muhammedaner, der ist Kopte und der ist Jude. Wir sind alle Ägypter, und deshalb müssen wir alle gleich behandelt werden.“130 Regierungsplakate zeigten eine Moschee und eine Kirche nebeneinander mit der Überschrift: „Wir sind Ägypter“. Bei der Ausrufung der Republik im Juni 1953 waren Würdenträger der drei großen Religionen anwesend.131 Diese Entwicklungen hatten für die aus dem Ausland kommende christliche Missionsarbeit einschneidende Folgen. Nach der Suezkrise wurden alle britischen Missionare ausgewiesen, womit die eigenständige Arbeit (nicht nur) der CMS beendet war. 1958 entließ die einflussreichste Mission in Ägypten, die presbyterianische Amerikanische Mission, die aus ihrer Arbeit entstandene „Nil-Synode der
126 Ende 1951 wurde Höpfner auf einer Bahnfahrt nach Assuan als englischer Spion verdächtigt, vgl. Höpfner, Brief an Fräulein Unruh, in: EMM Sept. 1952, 4–5. 127 Ebd. 128 Die VAR bestand von 1957 bis 1961 und umfasste Ägypten, Syrien und den Jemen, vgl. Kamrava, Middle East, 2005, 88ff. 129 Vgl. v. Dessien, Wasser, 1985, 55. 130 Ökumenischer Pressedienst, Neues aus Kairo, zit. in: EMMW, September 1953, 10–11. 131 Vgl. ebd. 11.
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Evangelischen Kirche“ in die Unabhängigkeit.132 Eine Ausnahme bildete die Wiesbadener Mission, die zwar ihren als provokativ empfundenen Namen Evangelische Muhammedaner-Mission (EMM) in Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) umwandelte.133 Sie wurde aber „praktisch zur letzten herkömmlichen Mission“, die „weiterhin neue Mitarbeiter ins Land bringen und ... ihre Institutionen weiterführen [durfte]“.134 Zu dieser Entwicklung leistete Willi Höpfner einen wichtigen Beitrag. 4. Auslandspfarramt und Missionsdienst in Kairo a) Höpfners Wirken im Rahmen der Auslandsgemeinde Ostern 1951 hielt Höpfner seinen ersten Gottesdienst als Auslandspfarrer in der renovierten Kirche der deutschen evangelischen Gemeinde in Kairo. Nicht nur der Dienstbeginn des neuen Pfarrers, sondern auch die Tatsache, dass dies nach zwölf „schwere[n] Kriegs- und Nachkriegsjahre[n]“135 der erste Gottesdienst der Gemeinde war, führte eine ökumenisch, international und interreligiös zusammengesetzte Besucherschaft in der „überfüllten Kirche“ zusammen: „Die Kirche war von etwa 400 Personen dicht gefüllt, unter denen sich Vertreter anderer Kirchen, der Presse und Regierung befanden. Glieder der verschiedenen Nationen … Österreicher, Ungarn, Jugoslawen, Dänen, Norweger, Schweizer, Ägypter, Armenier und Griechen, die Beziehungen zur deutschen evangelischen Kirche hatten, waren erschienen. Inmitten der christlichen Gemeinde saßen auch einige Muhammedaner und Juden.“ 136
Vor allem die Anwesenheit der Muslime freute Höpfner: „Wie schön, dass auch eine Reihe von Muhammedanern die frohe Osterbotschaft hören konnte.“137 Doch bald kehrte der Alltag ein, der von der unsicheren politischen Lage überschattet war, die Auslandskirche und Mission in unterschiedlicher Weise betraf. Angesichts der unsicheren Lage betonte Höpfner hoffnungsvolles christliches Glauben und Handeln als Ausrichtung auf „das Wesentliche“: „Wir haben zu glauben und zu lieben, Frieden und Gerechtigkeit zu verkünden – nicht als werdendes Ziel in dieser Welt und Zeit, sondern als die Herrschaft Gottes in unserem Herrn Jesus Christus, die zwar schon heute hereinbricht und Menschen ergreift, die aber erst ihre Verwirklichung bei seinem Kommen findet.“138 Damit brachte Höpfner einerseits ein heilsgeschichtlich geprägtes missio Dei-Verständnis zum Ausdruck, andererseits griff er die eschatologische Vision christlicher Weltgestaltung auf, die 132 1967 im Zuge des Sechs-Tage-Kriegs „mussten die letzten amerikanischen Missionare das Land verlassen“. Troeger, Paradigmenwechsel, 2006, 246. 133 „Da ein Verhandeln mit den ägyptischen Behörden unter dem Namen ‚MuhammedanerMission‘ nicht möglich ist.“, Protokoll Vorstandssitzung, 26.3.1952, 3. EMO-Archiv. 134 Troeger, Paradigmenwechsel, 2006, 246. 135 Kremkau, 100 Jahre, 1964; vgl. Freitag, Durchhalten, 2002. 136 Lotte Höpfner, Ostern in Kairo, in: EMMW, April 1951, 6. 137 Willi Höpfner, in: EMMW, April 1951, 7. 138 Höpfner, Brief an Fräulein Unruh, in: EMM Sept. 1952, 4–5.
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der IMR in Whitby 1947 unter dem Stichwort des expectant evangelism formuliert hatte.139 In der Praxis der evangelischen Auslandsarbeit bedeutete dies für Höpfner besonders die Förderung der pädagogischen Arbeit. 1951 regte er die Gründung eines Schulvereins an. Im Januar 1953, ein halbes Jahr nach der Revolution, konnte die Deutsche Evangelische Oberschule (DEO) mit 18 Schülerinnen und Schülern eröffnet werden. Da das frühere kirchliche Schulgebäude noch im Besitz der Regierung war, musste die neue Schule im gemieteten zweiten Stock eines Stadthauses eingerichtet werden. Dort kam es am 3. Mai 1953 zu einer zufälligen, aber folgenreichen Begegnung zwischen Höpfner und General Muhammed Naguib, dem neuen Premierminister. Naguib war gekommen, um eine Rede bei einer Gewerkschaftsveranstaltung zu halten, die im gleichen Gebäude stattfand. Höpfner lud den Premier spontan ein, die Schulräume zu besichtigen: „Bei einer Tasse Kaffee bot sich die Gelegenheit, dem General von den Schwierigkeiten unserer Schule zu berichten. … Der General zeigte großes Verständnis für unsere Notlage. …. Er hielt es für unmöglich, daß wir länger in den unzureichenden Räumen bleiben könnten.“ Nachdem Höpfner „in einem Memorandum die Wünsche der Schule“ mitgeteilt hatte,140 konnte sie tatsächlich wenige Monate später in neue, geeignetere Räumlichkeiten umziehen.141 Vermutlich stand Naguibs Offenheit für die Anliegen der evangelischen Schule in Zusammenhang mit dem oben erwähnten Programm der nationalen Erneuerung, in dem Spannungen zwischen den Religionsgruppen abgebaut werden sollten. Die religiösen Freiräume hatten jedoch Grenzen. Auf Anordnung der ägyptischen Regierung musste bald an jeder Schule, so auch an der DEO, „eine Moschee eingerichtet und islamisches Lehrpersonal eingestellt werden“.142 b) Höpfners Wirken für die Wiesbadener Mission Höpfners Tätigkeit für die EMM umfasste zunächst die verabredete Kontaktarbeit, „mit den Missionsgeschwistern in Assuan Fühlung [zu] halten“.143 Dabei handelte es sich um eine kleine Gruppe von schweizerischen und deutschen Missionarinnen und Missionaren, die zwischen 1949 und 1951 wieder oder erstmals ausgereist waren.144 Auch mit dem einzigen Konvertiten der Mission, seinem früheren 139 Vgl. Walldorf, Partnerschaft, 1996, 226. Dies erweiterte die heilsgeschichtliche eschatologische Perspektive von Freytag, Mission im Blick aufs Ende, 1942. 140 Höpfner, bedeutsame Begegnung, 1953, 8–10. 141 DEO Kairo, Geschichte. 142 Ebd. 143 Protokoll Vorstandssitzung, 26.1.1951, 2. EMO-Archiv. Da Höpfners Kontaktarbeit für die Mission auch weiterhin wichtig war, war man bereit den finanziellen Aspekt der „Verabredung“ fortzuführen und auch in den folgenden Jahren „um seiner Missionsdienste willen, zu seinem Unterhalt beizutragen, soweit es nötig ist und in unserem Vermögen liegt“. Protokoll Vorstandssitzung vom 28.9.1952, 3. EMO-Archiv. 144 Dessien, Wasser, 1985, 45f.
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Mitarbeiter in der Klubarbeit, Juhanna Schäkir, nahm Höpfner Kontakt auf.145 In Folge der politischen Umbrüche zeigten sich jedoch bald neue Herausforderungen. Obwohl die Wiesbadener Mission im Land bleiben durfte, wurde es nach 1953 deutlich schwerer, Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen zu erhalten. Die Regierung legte fest, dass „die Zahl der Missionare nicht über den Stand von 1952 erweitert werden dürfe. Freiwerdende Plätze konnten unter gewissen Bedingungen wieder besetzt werden.“146 Stellen im medizinischen Bereich durften nur mit Missionaren besetzt werden, wenn keine ägyptischen Fachkräfte zur Verfügung standen. Obwohl die Zahl neu ankommender Missionare in dieser Zeit relativ gering blieb,147 kam Willi und Lotte Höpfner eine wichtige Aufgabe zu. Gemeinsam betreuten sie neue Missionare im Sprachstudium und waren Gastgeber für Besucher der Mission.148 Im Frühjahr 1952 reiste Höpfner mit dem Hamburger Missionswissenschaftler Walter Freytag für „wenig mehr als 24 Stunden nach Assuan“.149 Trotz der Kürze hinterließ der Besuch im Missionskrankenhaus in Assuan bei Freytag einen tiefen Eindruck, der sich auch in seinem Vortrag Der Islam als Beispiel einer nachchristlichen Religion auf der Studentischen Missionswoche in Korntal 1955 niederschlug.150 Höpfners Kontakte im ökumenischen und gesellschaftlichen Bereich in Kairo trugen dazu bei, dass „er ägyptische Fachkräfte an das Krankenhaus in Assuan vermitteln und Geldquellen für die Neubauten von Krankenhaus und Schwesternhaus erschließen“ konnte.151 Im August 1958 machte der Missionsvorstand Höpfner, der „unser volles Vertrauen besitzt“, zum Bevollmächtigten der Mission für die Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung über das Missionseigentum.152 Ende 1958 konnten die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, so dass Höpfner im Dezember nach Assuan reiste, um „die Grundstücke in Assuan und Darau aus dem Sequester zu übernehmen“.153 c) Rückkehrpläne und Zukunftsperspektiven Bereits 1956 signalisierte Höpfner dem Kirchlichen Außenamt, dass er mittelfristig „auch im Interesse der Ausbildung seiner Kinder“ gerne nach Deutschland zurückkehren würde, um „vor seiner Emeritierung wieder in den Dienst einer 145 Höpfners Kontakte mit Schäkir werden im Protokoll der Vorstandssitzung vom 28. November 1952, 3 erwähnt. EMO-Archiv, vgl. auch die Erwähnung bei Freytag, Nachchristliche Religion, 1955, siehe II.B.4.c). 146 v. Dessien, Wasser, 1985, 46. 147 Zwischen 1952 und 1959 kamen etwa acht neue Mitarbeiter, vgl. v. Dessien, Wasser, 1985, 46–50.106. 148 Vgl. Troeger, Alexandrien, 2013, 184. 149 Unruh, Jahresbericht 1951/52, in: EMMW, Mai 1952, 1. 150 Zu Freytag siehe II.B.4.c). 151 Troeger, Alexandrien, 2013, 184. 152 Protokoll Arbeitsausschuss, 21.10.1958, EMO-Archiv. 153 Protokoll Vorstandssitzung, 5.12.1958, EMO-Archiv.
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deutschen Inlandsgemeinde zu treten“.154 Obwohl die Gemeinde in Kairo Höpfner für eine weitere Amtszeit von sechs Jahren wiedergewählt hatte, wurde sein Vertrag daraufhin nur bis zum 31. März 1959 verlängert.155 Als die Rückkehrpläne konkret wurden, bemühte sich die – inzwischen zur Evangelischen Mission in Oberägypten (EMO) umbenannte – Wiesbadener Mission, Höpfner als Missionsinspektor für die Heimatzentrale zu gewinnen. Höpfner erklärte sich dazu bereit, allerdings „neben einem kirchlichen Amt“ als Gemeindepfarrer.156 Auf der Sitzung der Missionskammer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) am 24. November 1958, an der auch Walter Freytag vom DEMR gastweise teilnahm, wurden die Vorstellungen der EMO und die Pläne Höpfners besprochen.157 Man einigte sich darauf, Höpfner, der als Pfarrer in die EKHN übernommen werden sollte,158 vorzuschlagen, nicht im Gemeindedienst, sondern in der Seelsorge an den „studierenden Vorderasiaten“ „an den Universitäten Frankfurt/M., Gießen, Mainz und der Technischen Hochschule Darmstadt“159 tätig zu werden. Die Missionskammer formulierte: „Diese Arbeit könnte mit dem Inspektorat der Oberägyptenmission sehr viel leichter gekoppelt werden als ein Gemeindepfarramt. Der Titel ‚Missionsinspektor‘ müsste in dieser Arbeit vermieden werden; dafür sollte ihm ein der Akademie angegliedertes Komitee verantwortlich zugeordnet werden. Enge Zusammenarbeit mit den Studentenpfarrern erforderlich. Verteilung der Gehaltslast: je zur Hälfte die EKHN und die Oberägyptenmission. Wohnung in Wiesbaden ist vorhanden“.160
Die Vereinbarung hatte durchaus Ähnlichkeit mit derjenigen, die 1950 zwischen Wiesbadener Mission und Kirchlichem Außenamt erfolgt war. Der Vorstand der EMO „begrüßt[e] diesen Vorschlag sehr“, gab aber zu bedenken, dass „noch geklärt werden [müsse], ob Höpfner seinen Wunsch, Gemeindepfarrer zu werden zugunsten dieses Vorschlags aufgeben kann. Erst wenn er zusagt, können weitere Verhandlungen mit der Kirchenleitung stattfinden.“161
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Stratenwerth, Brief an die EKHN, 15.2.1956, ZA EKHN. Vgl. Pfarrerkartei, ZA EKHN, Auszüge, Email 12.5.2009. Protokoll Vorstandssitzung der EMO, 27.8.1958, EMO-Archiv. Vgl. Protokoll der Missionskammer, Arnoldshain 24.11.1958, ZA EKHN, 155/1925. Höpfner hatte mit Antritt der Auslandspfarrstelle in Kairo 1951 „aufgrund einer damals noch rechtswirksamen Anordnung von 1922 auf die Rechte eines Pfarrers in Sachsen … verzichten [müssen]“ und seitdem „keine Verbindung mehr zu einer Landeskirche“. Es bestanden jedoch „alte Verbindungen zwischen der Hessischen Kirche und Pfarrer Hoepfner“ durch die Ordination und den Pfarrverwaltungsdienst in Eich bei Worms 1932 und 1933. Stratenwerth, Brief an die EKHN, 15.2.1956, ZA EKHN, Auszüge Email 12.5.2009. 159 Protokoll der Missionskammer, Arnoldshain 24.11.1958, 2, ZA EKHN, 155/1925, vgl. Protokoll Vorstand EMO, 5.12.1958, EMO-Archiv. 160 Protokoll der Missionskammer, Arnoldshain 24.11.1958, 2. ZA EKHN, 155/1925. 161 Protokoll der EMO-Vorstandssitzung, 5.12.1958, EMO-Archiv.
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5. Höpfners Missionstheologie in den 1950er Jahren Während Höpfners missionstheologisches Denken als Islammissionar in den 1930er Jahren um Themen der Kontinuität und Diskontinuität im christlichislamischen Gespräch kreiste, beschäftigte ihn als Auslandspfarrer und Verbindungsmann der Wiesbadener Mission in den 1950er Jahren vorwiegend die grundlegende Frage nach der Rolle und dem Selbstverständnis westlicher Missionsarbeit überhaupt. Auf der Weltmissionskonferenz von Achimota in Ghana 1957/58 brachte Walter Freytag diese Entwicklung und Veränderung der Fragestellungen auf den Punkt: „Damals hatte die Mission Probleme, heute ist sie selbst zum Problem geworden.“162 Dieses neue Problem des Selbstverständnisses war eng verknüpft mit der Frage nach der Partnerschaft zwischen westlichen Missionen und den sogenannten „Jungen Kirchen“ in Asien, Afrika und im Nahen Osten. Letztere standen im Spannungsfeld der nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen ihrer Länder, die die westlichen Missionen als Reste der kolonialen Vergangenheit ablehnten. a) Westliche Mission und ägyptische Kirche Höpfner nahm die prekäre Situation der westlichen Missionen im postrevolutionären Ägypten nüchtern wahr: „Versammlungen, wie sie der bedeutende Mohammedanermissionar Zwemer gehalten hat, sind heute unmöglich. ... [Die] Verbreitung polemischen Schrifttums“ könne bestraft werden.163 Erleichtert stellte er fest, dass die Arbeit des Missionskrankenhauses weitergehen könne; es stehe zwar stärker unter Kontrolle des Gesundheitsministeriums, könne aber „neben der medizinischen ungestört [seine] evangelische Arbeit tun“.164 Dennoch rang er intensiv – besonders nachdem er 1959 zum Inspektor der Wiesbadener Mission berufen worden war – mit der Frage, ob die Integration des Assuaner Missionskrankenhaus in die Arbeit der jungen Evangelischen Nil-Synode, oder sogar der traditionsreichen Koptischen Kirche, möglich und sinnvoll sei, „zu gemeinsamem Werk und zu fruchtbarem Dienst am orientalischen Menschen unserer Zeit“.165 Die Antwort auf diese Frage hing für Höpfner zwar von der Bereitschaft und den realistischen Möglichkeiten der Kirchen in Ägypten ab. Vor allem aber müsse die Entscheidung „aus dem Kreise unserer Mitarbeiter selbst kommen“.166 Höpf-
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Freytag, Mission in der gegenwärtigen Weltstunde, 1958, 39. Höpfner, Lage, 1954, 42. Ebd. Höpfner, Eingliederung, 1961, 8. Ebd. 14. Höpfner zeigte in dieser schwerwiegenden Frage eine Haltung demokratischer Entscheidungsfindung, die er später in der Missionsleitung offensichtlich nicht immer einnahm. Pfannschilling [sic!], Höpfner, 1979, 101 erinnert sich an seine „vitale ‚Ein-Mann-Leitung‘“.
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ner selbst stand einer Integration zwar nicht völlig ablehnend gegenüber,167 hatte aber deutliche Bedenken. Angesichts der unsicheren politischen Lage und der schwachen Position der Kirchen in der ägyptischen Gesellschaft, sah er das Missionskrankenhaus in Trägerschaft der Wiesbadener Mission sicherer.168 Außerdem zeige die Missionsgeschichte, dass die ausschließliche nationale „kulturelle Verbindung“ die Transformationsfähigkeit und das kritische Potential christlicher Arbeit gefährde.169 Eine Ablehnung der Integration aufgrund einer „fundamentalistisch enge[n] Haltung, die nur Schaden, Aberglauben und Eifersucht im Lager der alten Kirchen sieht und nicht auch das Bemühen um Erneuerung des Gemeindelebens“,170 hielt er jedoch für falsch. Es gehe schließlich um ein „größeres Anliegen“, nämlich den „Wunsch“, dass das Missionswerk „von unseren östlichen Brüdern übernommen und getragen“ werde und „diese den Missionsauftrag als ihren Auftrag erkennen“.171 Bereits 1954 hatte Höpfner „im Blick auf die gegebene politische Lage“ hervorgehoben, dass die prebyterianische „Amerikanische Mission“ der Evangelischen Kirche Ägyptens (Nilsynode) „die volle Verantwortung für einen Teil der Schul- und Missionsarbeit“ übergeben habe: „aus ihren eigenen Reihen und Mitteln“ habe die Kirche nun „einen Missionar in den Sudan gesandt.“ Westliche Christen sollten „alles Überlegenheitsgefühl“ ablegen: „Nur im Glauben, im Beharren, in der Geduld, im Bleiben unter dem Kreuz Jesu Christi ist der Mission wie der Kirche die Verheißung des Lebens gegeben.“172 b) Die Wahrnehmung des Islam Doch auch die Frage nach dem missionarischen christlich-islamischen Gespräch ließ Höpfner in seiner Zeit als Auslandspfarrer nicht los. Sie musste nun unter den veränderten Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Islam nach der Revolution neu gestellt werden. In seinem Aufsatz Die Lage der Christenheit im Vorderen Orient (1954) beschrieb Höpfner damit verbundene Widersprüche: von staatlicher Seite würden die Frauen ermutigt, den Schleier abzulegen und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Doch „im gleichen Atemzuge“ werde die Polygamie als Naturrecht verstanden, das „der Islam dem Manne zugesprochen“ habe.173 Während der Staat nationale religiöse Toleranz propagiere, erfolge auf gesellschaftlicher Ebene eine Re-Islamisierung durch die Muslimbruderschaft. 167 Zumindest wollte er sich nicht verschließen: „Sollte es nicht im letzten eine Frage sein, ob wir noch im Namen unseres Herrn Jesus Christus etwas Mutiges wagen im Glauben und in der Liebe?“, Höpfner, Eingliederung, 1961, 14. 168 Ebd. 13. 169 Als Beispiel nannte Höpfner Byzanz, wo „das Christentum eine ... kulturelle Verbindung mit dem Griechentum eingegangen [war]. ... Ein türkisches Christentum gab es nicht. Es gab nur einen türkischen Islam.“ Ebd. 12. 170 Ebd. 9. 171 Ebd. 13. 172 Höpfner, Lage, 1954, 43. 173 Ebd. 41.
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Höpfner zitierte aus deren Programm: „Unsere Religion ist der Islam. Unsere politische Verfassung ist der Koran. ... Die Bevölkerung des Nahen Ostens hat die Notwendigkeit erkannt, sich vom Joche des westlichen Imperialismus zu befreien.“174 Andererseits zeigte sich Höpfner beeindruckt vom frommen Eifer und sozialen Einsatz der Bruderschaft. Sie sei „auf religiösem und kulturellem Gebiet ungemein einsatzfreudig ... Sie gründet Schulen und schafft neue Gebetsstätten.“ Da die Moscheen in Kairos Innenstadt freitags überfüllt seien, habe man zum Gebet „die Straßen gesperrt, in denen sich Gebetszellen der moslemischen Brüder befinden. ... Keiner wird ohne tiefen Eindruck an diesen betenden Scharen vorübergehen.“175 Aufmerksam nahm Höpfner die Öffnung islamischer Perspektiven in der postrevolutionären arabischen Literatur wahr. In Der Genius des Christus (abqariat al-Masih, 1952) des ägyptischen Schriftstellers Abbas Mahmud al-Aqqad,176 fand Höpfner ein „Buch über Christus geschrieben vom mohammedanischen Standpunkt“.177 In seiner Beurteilung begrüßte er „die außerordentliche Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit, die hier gewagt wird in der Darbietung der Bergpredigt an mohammedanische Leser.“ Doch eine „Stellungnahme des Verfassers zur Kreuzigung Jesu“ vermisste Höpfner. Der Autor entziehe sich mit dem Hinweis, „daß er nur in der Darstellung des Genius des Christus seine Aufgabe sah“.178 Dagegen sei Muhammed Kamil Husseins City of Wrong (1954/1959)179 „weiter ins Zentrum der christlichen Botschaft“ vorgestoßen.180 Hussein beschreibe die Kreuzigung Jesu als „eine beschlossene Sache“ und als Symbol und Gradmesser der „Verdorbenheit des Menschen“. Höpfner hielt es für „großartig, wie hier ein Muslim an die Gewissenslast der Menschheit rührt“ und zitierte Hussein: „Das menschliche Gewissen ist eine Flamme vom Lichte Gottes, und ohne es gibt es keine Wegweisung für den Menschen. … An jenem Tage, d.h. am Karfreitag in Jerusalem, waren die Menschen dazu bereit, ihr Gewissen zu ermorden, und diese Entscheidung bedeutet die größte Tragödie.“181 Höpfner meinte, dass hier ein Muslim zwar „nahe ... an das Kreuz Jesu herantritt“, aber schließlich bei einer philosophischen Erkenntnis stehenbleibe, ohne den Erlöser selbst zu finden. Hussein sehe „das Kreuz Jesu ohne Christus“. Doch „das belastete Gewissen, will man es wirklich zur Befreiung führen“, könne man „nur mit dem Gekreuzigten in einem sehen. Dann wird die Schuld des Menschen, 174 Zit. ebd. 42. 175 Ebd. 176 Der ägyptische Schriftsteller Abbas Mahmud al-Aqqad (1889–1964) „wird in der arabischen Welt als einer der bedeutendsten Literaten und Kulturkritiker angesehen“, vgl. Schumann, Christus, 1975, 145–166. 177 Höpfner, Lage, 1954, 43. 178 Ebd. vgl. Schumann, Christus, 1975, 157. 179 Der Ägypter Muhammed Kamil Hussein (1901–1977) war Arzt, Philosoph und Schriftsteller. Sein Werk City of Wrong erschien 1954 in Kairo und wurde 1959 von Kenneth A. Cragg ins Englische übersetzt, vgl. Booz, Kamel Hussein. 180 Höpfner, Umbruch, 1961, 11. 181 M. K. Hussein, zit. bei Höpfner, Umbruch, 1961, 12.
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aber auch die erlösende Liebe Gottes offenbar.“182 Höpfner kam zum Schluss, dass sich trotz aller Öffnung auch in der postrevolutionären arabischen Literatur wenig an der islamischen Haltung zum Kreuz Christi geändert habe. Doch für Höpfner blieb das Kreuz Ausdruck des demütigen christlichen Zeugnisses gegenüber Muslimen sowie der Kritik kultureller und religiöser Überlegenheitsgefühle: „Am Kreuz scheiden sich die Geister. Wer Zeuge sein will in einer Welt, die eine verweltlichte Theokratie bekennt, der halte sich zum Kreuz. Er wisse, daß er weder mit idealistischem Schwung noch mit seelischer Inbrunst, auch nicht mit scholastischer Fertigkeit und mit theologischen Lehrsätzen, noch viel weniger mit einem europäischen Überlegenheitsgefühl die Mauern des Islam brechen wird. Hier ist nur der Weg der Liebe und des Glaubens möglich, der auch Verluste einstecken und auf Erfolge verzichten kann. Er steht damit nur in der Gemeinschaft derjenigen Christen, ja desjenigen Christus, der jahrhundertelang vor ihm die Schmach des Kreuzes getragen und damit den Sieg errungen hat.“183
c) Missionarisches Zeugnis: Kraemer statt Cragg? Im März 1960 begegnete Höpfner Kenneth A. Cragg an der Amerikanischen Universität in Kairo und zeigte sich beeindruckt von dessen „feine[r] liebenswerte[r] Persönlichkeit“ und seinem „scharfen Intellekt“.184 Etwas zweischneidig klang das Lob zu Craggs „meisterhafter Fähigkeit, die Gedanken des Gegenübers umzuprägen und hinzuleiten in die von ihm vertretenen Erkenntnisse.“ Doch Höpfner brachte Craggs Bemühen, „in neuartiger Weise das schwere Problem der Begegnung zwischen Christentum und Islam zu durchdenken“,185 echte Wertschätzung entgegen. Den Ansatz des neun Jahre jüngeren Islammissiologen beschrieb Höpfner so: „Er geht dabei von dem Gedanken aus, daß hinter Islam und Christentum, hinter Koran und Evangelium die gleiche Wirklichkeit, Gott, steht. Von daher interpretiert er den Koran und setzt er seine Thesen im Gespräch mit den Mohammedanern.“186 Höpfner begrüßte, dass damit „der scharfkantige Gegensatz, der bisher das Verhältnis zwischen Christentum und Islam trübte, ... einer freundlichen offenen Atmosphäre gewichen [ist]. Jeder, der einmal mit modernen Mohammedanern ins Gespräch gekommen ist, wird sich freuen über diese liebenswürdige Bemühung Craggs, den Mohammedaner in seiner religiösen Welt zu verstehen und seinen islamischen Standpunkt in ein christliches Licht zu rücken.“187
Craggs Ansatz hinterließ bleibende Eindrücke in Höpfners missiologischen Perspektiven. Auf einem Planungstreffen für den entstehenden Orientdienst auf dem
182 Ebd. 183 Höpfner, Lage, 1954, 43. 184 Höpfner, Begegnungen, 1960. Cragg war zu diesem Zeitpunkt Dozent am Central College Canterbury, das für die theologische Ausbildung von Anglikanern aus Übersee zuständig war. Vgl. Cragg, Faith and Life, 1994, 127ff; Quinn, Heresies, 2008, 174. Zu Cragg siehe II.C.2. 185 Höpfner, Begegnungen, 1960, 2. 186 Ebd. 2.4. 187 Ebd.
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Kirchentag in Dortmund 1963188 spielte Höpfner auf Craggs Verständnis des retrieval189 an: „Christliche Existenz heißt, sich schuldig wissen vor Gott, möglicherweise auch dem Moslem gegenüber, der uns Europäern eine Haltung zum Ausdruck bringt, die ihre Prägung in den Jahrhunderten islamisch-christlicher Auseinandersetzung gefunden hat.“190 Während Höpfner Craggs empathische Haltung teilte, hielt er dessen theologische Interpretation des Islam für zu optimistisch, da sie den vorhandenen Differenzen nicht gerecht werde: „die christliche und die mohammedanische Gottesoffenbarung [sind] in ihrem Inhalt so verschieden ..., daß eine Gleichsetzung der beiden weder aus einem religionsgeschichtlichen Verständnis noch aus der Bemühung einer rechten Verständigung zwischen den beiden Religionen möglich ist.“191 Auch sei fraglich, was „der an Koran und Tradition gebundene Mohammedaner zu diesen freundlichen Versuchen Craggs“ sage. Er werde „sicher von seiner Auffassung nicht abgehen können, daß die islamische Gottesoffenbarung... als neue, abschließende ... von keiner vorhergehenden (z.B. der christlichen) überboten werden kann“.192 Höpfner würdigte Craggs einfühlsame missionarische Methode, hielt aber er den differenzbetonten Ansatz Hendrik Kraemers in dessen Hauptwerk The Christian Message in a Non-Christian World (1938) für „unüberbietbar“.193 Dies überrascht nicht, da Kraemer – wie auch Höpfner selbst – stark von Samuel Zwemers Verbindung theologischer und empirischer Perspektiven beeinflusst war.194 So tauchen seit den 1950er Jahren in Höpfners Texten regelmäßig Bezüge zu Kraemers Entwurf auf. Im schon erwähnten Aufsatz zur Lage der Christenheit im Vorderen Orient (1954) griff Höpfner Kraemers Verständnis der islamischen umma als „verweltlichte Theokratie“195 auf und wandte es auf die postrevolutionäre Gesellschaft in Ägypten an (siehe oben). Trotz sozialistischer Perspektiven, habe Nasser „die Pilgerfahrt nach Mekka [als] ... gewaltige politische Kraft“ beschrieben und erklärt: „Ich wünsche, ... daß ihr gottesfürchtig, aber von euren Feinden gefürchtet seid, daß ihr von einem anderen Leben träumt, aber euch der Mission bewußt seid, die ihr auf dieser Erde zu erfüllen habt.“196 In seinem Aufsatz Der 188 189 190 191 192
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Siehe IV.A.2.a). Siehe II.C.2.b). Höpfner, Verlegenheit, 1963, 53, kursiv FW. Höpfner, Begegnungen, 1960, 4. Ebd. Immerhin gehörte Höpfner zu den ersten deutschsprachigen Theologen, die sich mit Craggs Denken auseinandersetzten. Dabei nahm er Kritikpunkte der späteren CraggRezeption voraus: vgl. Hummel, Islam als Partner, 1980, 161; Hock, Spiegel, 1986, 284; Kerr, Islamic Studies, 2002, 38. Höpfner, Literatur, 1964, 1. „The writings of Zwemer in many ways foreshadow Kraemer’s contribution. … Both are thoroughly theocentric-christocentric … Both agreed that the Muslim must be approached ... as a fellow human being with like needs, problems and aspirations.“ Vander Werff, Christian Mission, 1977, 264. Höpfner, Lage, 1954, 43. Der Begriff „verweltlichte Theokratie“ findet sich bei Kraemer, Botschaft, 1940, 200. Nasser zit. bei Höpfner, Umbruch, 1961, 12.
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Islam im Umbruch des Orients (1961) bezog Höpfner sich wiederum auf Kraemer und paraphrasierte: „Im Islam ward das Wort Buch, nach der christlichen Botschaft ward das Wort Fleisch“.197 In diesem Vergleich christlicher und islamischer Offenbarung sah Höpfner nicht nur seine eigene differenztheologische Sicht treffend zusammengefasst, sondern auch den kreuzestheologischen Charakter des christliches Zeugnisses impliziert: „Die christliche Offenbarung ... kennt den Gott, der den Weg der Selbstentäußerung im Sterben Jesu Christi auf Golgatha gegangen ist und darin die Übermacht seiner Liebe offenbarte. Am Kreuz von Golgatha siegt die Macht der Liebe über die Machtherrlichkeit der Welt und ihrer Religionen.“198 D. PFARRER UND MISSIONSLEITER IN WIESBADEN 1959–1975 1. Inspektor der EMO und Leiter des Orientdienstes Im Mai 1959 kehrte Höpfner mit seiner Familie nach Deutschland zurück, um das Inspektorat der EMO zu übernehmen und den Dienst als Pfarrer in der EKHN anzutreten. Dem Plan der Missionskammer der EKHN und der EMO im Blick auf eine halbe Stelle als Seelsorger „unter studierenden Vorderasiaten“ (s. oben C.4.c), hatte Höpfner offensichtlich nicht zugestimmt. Stattdessen übernahm er zunächst eine halbe Stelle als Krankenhausseelsorger im Dekanat WiesbadenStadt.199 Als Missionsinspektor lag ein Arbeitsschwerpunkt weiterhin auf Verhandlungen mit der ägyptischen Regierung zum Status der Missionsarbeit sowie auf einem Neubauprojekt für das Krankenhaus in Assuan. 1961 beurlaubte die EKHN Höpfner für einen dreimonatigen Ägyptenaufenthalt. Nach längeren Bemühungen erteilte das ägyptische Gesundheitsministerium schließlich im Februar 1962 die Genehmigung für die Fortführung der Mission als „recognized organisation“.200 Auch das Bauprojekt konnte 1961 erfolgreich abgeschlossen werden.
197 Höpfner, Umbruch, 1961, 12. Kraemer, Botschaft, 1940, 195 formuliert wörtlich: „Die Grundlage des Islam ist nicht ‚Das Wort wird Fleisch‘. Es ist: ‚Das Wort wird Buch‘.“ Kraemer kritisierte damit neben dem islamischen Offenbarungsverständnis auch eine „mechanische Auffassung“ der Offenbarung „im Verlangen nach einem sicheren Garanten der religiösen Gewißheit in der groben Form der buchstäblichen Irrtumslosigkeit“ in der christlichen Theologie. Diese sah er als „radikale Verzerrung der Grundauffassung des biblischen Realismus“, ebd. Auch Höpfner distanzierte sich von einer „fundamentalistischen engen Haltung“, bezog dies jedoch eher auf einen ekklesiologischen Separatismus, vgl. Höpfner, Eingliederung, 1961, 9; Höpfner, Brief an Hoffmann, 22.6.1965. EMW-Archiv, DEMR3, AG 0818. 198 Höpfner, Umbruch, 1961, 10. 199 Zunächst vertretungsweise für zwei Monate als Pfarrer in der Behindertenarbeit der Anstalt Scheuern, dann in der Krankenhausseelsorge in Wiesbaden, vgl. Pfarrerkartei, ZA EKHN, Auszüge, Email 12.5.2009. Zur Stiftung Scheuern vgl. http://www.stiftung-scheuern.de, Abruf: 22.9.2011. Vgl. Protokoll, Sitzung der Kirchenleitung der EKHN, 2.3.1964, ZA EKHN Best. 106/366, 173/1964. 200 Höpfner, Jahresbericht 1961/62, in: NEMO 3/1962, 3.
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Nun erst richtete Höpfner seine Aufmerksamkeit auf das von EMO und Missionskammer der EKHN bereits vorgetragene Thema: die wachsende Zahl nahöstlicher und muslimischer Migranten in Deutschland. Höpfner machte die neue Wahrnehmung bald ganz zu seiner Sache: „so dankbar wir für die rasche Erstellung der beiden Häuser in Assuan … sein dürfen, so sollte doch die heimatliche Situation (etwa 20.000 Mohammedaner in der Bundesrepublik) uns als Mohammedaner-Mission zu ganz bestimmten Aufgaben rufen.“201 Diese Aufgaben nahm er in transnationaler Perspektive als besondere historische Gelegenheit und offene Tür für die Mission wahr: „Wenn wir auch draußen auf dem Missionsfeld uns den veränderten Verhältnissen der neuen Zeit anzupassen haben, so dürften wir in keiner Weise zu klagen beginnen über verschlossene Türen. Vielmehr sollten wir uns sagen, dass wir noch nicht alle Möglichkeiten der Verkündigung beachtet haben. Das gilt sowohl für das Missionsfeld als auch für die Heimat. So leben z.B. etwa 20.000 Mohammedaner heute in der Bundesrepublik, denen man das Evangelium unter weit günstigeren Bedingungen als in ihrer Heimat anbieten könnte. Ist es nicht widersinnig Missionare hinauszusenden nach Ägypten und an den Ägyptern, die in Deutschland sind, vorüberzugehen? Wir müssen bekennen, dass wir diese Aufgabe, die uns vor der Tür liegt, noch nicht aufgenommen haben.“202
Aus dieser Wahrnehmung heraus entwickelte sich der Orientdienst, dessen Geschichte und Praxis im vorangehenden Kapitel ausführlich beschrieben wurden. Im Juni 1964 gab Höpfner die halbe Stelle in der Krankenhausseelsorge auf und wurde, wie eigentlich schon 1958 vorgesehen, von der Kirchenleitung – neben dem Inspektorat der EMO – „für die Betreuung der im Gebiet der EKHN als Gastarbeiter tätigen Moslems“ freigestellt.203 Das neue Aufgabenfeld rückte nun in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit und Tätigkeit. Im März 1964 unternahm Höpfner eine Sondierungsreise von Ägypten über den Libanon (Beirut), Jordanien, Israel (Jerusalem), Iran (Teheran, Isfahan) bis in die Türkei (Istanbul), um türkische, persische und arabische christliche Literatur für die missionarische Arbeit in Deutschland zu beschaffen und kooperative Literaturprojekte zu initiieren. Im Februar 1966 reiste er nach Großbritannien, um von der Begegnung der englischen Kirchen mit den „moslemische[n] Gastarbeiter[n]“ dort zu lernen.204 An der Universität Birmingham traf er John B. Taylor, den späteren Leiter des christlich-islamischen Dialogprogrammes des ÖRK, dessen „Islamkurse in Selly Oak“ Höpfner ebenso beeindruckten wie Taylors „Kontaktfreudigkeit“, die ihn „zu zahlreichen Begegnungen mit Moslems in Birmingham geführt“ habe.205 Im gleichen Jahr wurde Höpfner zum Vorsitzenden der Islamkommission (IK) des DEMR berufen, nachdem die Missionswissenschaftler Gensichen und Holsten abgesagt hatten.206 Dies bestätigt die Wahrnehmung, dass 201 Höpfner, Protokoll EMO-Vorstand, 4.8.1961, EMO-Archiv. 202 Höpfner, Jahresbericht 1960/61, in: NEMO 3/1961, 4. 203 Protokoll, Sitzung der Kirchenleitung der EKHN am 2.3.1964, ZA EKHN, Best. 106/366, 173/1964. Vgl. Amtsblatt der EKHN Nr. 10 vom 8.10.1964, 91. 204 Höpfner, Gastarbeiter und die Kirche in England, 1966, 3. 205 Ebd. 5. 206 Ausführlich zur Islamkommission und Höpfners komplexer Rolle darin, siehe IV.B.2.
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Höpfner in den protestantischen Missionskreisen der 1960er und frühen 1970er Jahre im Blick auf die christlich-islamische Begegnung in Deutschland eine „entscheidende Figur“207 war. Dies zeigte sich auch noch an der beratenden Mitwirkung Höpfners an der ersten EKD-Handreichung Moslems in der Bundesrepublik (1974) (s. VI.C.1.c), seinen Beiträgen zur DEMR-Handreichung Muslime, unsere Nachbarn (1977) (s. VI.C.3.d), und seiner Teilnahme an der ersten IslamKonferenz der europäischen Kirchen in Salzburg 1978 (s. VI.C.5). Im April 1975 wurde Höpfner im Alter von 70 Jahren als Pfarrer der EKHN in den Ruhestand versetzt und gab auch das Inspektorat der EMO ab. Bis 1983 blieb er ehrenamtlicher Geschäftsführer des OD, der sich 1975 als eigenständige Missionsgesellschaft konstituierte.208 Höpfner verstand sich seit seiner Zeit als Aspirant der Wiesbadener Mission Ende der 1920er Jahre als christlicher Zeuge und Missionar unter Muslimen. Dieses Selbstverständnis durchzog seine Biographie, auch in einer Zeit, in der eine solche Berufung zunehmend in Frage gestellt wurde. Dieses Selbstverständnis ermöglichte ihm, eine besondere Rolle an der missionarischen Schnittstelle zwischen den Religionen, aber auch zwischen den Institutionen von Kirche und Mission in den religiösen Pluralisierungsprozessen in der Bundesrepublik einzunehmen. Höpfner wirkte als Katalysator für neue, wenn auch oft transitorische Kooperationen: zwischen Kirchlichem Außenamt und Wiesbadener Mission in den 1950er Jahren sowie zwischen EKHN, EMO, DEMR und pietistischen und freikirchlichen Missionen im Umfeld der Evangelischen Allianz im Rahmen des Orientdienstes in den 1960er und 1970er Jahren. In der letzten Dienstphase in Wiesbaden setzte Höpfner seine so verstandene Berufung maßgeblich im Orientdienst (OD) um, der als sein Lebenswerk verstanden werden kann209 und in seiner Bedeutung für die evangelische Islambegegnung in den 1960er und 1970er Jahren auch über den pietistischen Bereich hinaus wahrgenommen wurde. Hans-Jürgen Becken, damals Deutschlandreferent des Evangelischen Missionswerks in Südwestdeutschland (EMS), notierte 1975 kurz: „In der Wichtigkeit der Arbeit sind wir uns einig. Die Arbeit von Pfr. Höpfner wird von uns voll anerkannt.“210 Kritischer beurteilt der damalige Islambeauftragte der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM) und der Evangelischen Kirchen im Rheinland und in Westfalen, Gerhard Jasper,211 Höpfners Rolle als „Wegleiter“ evangelischer Islamarbeit in Deutschland.212 Er fragt: „Lebten in Willi Höpfner zwei Seelen, die eine, die mit großer Liebe Muslimen entgegenging, und die andere, die auf den Islam mit scharfer Ablehnung, vielleicht sogar Angst reagier-
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Niels Peter Moritzen, Interview, 2007: „Er war der einzige, der das konnte und machte.“ Siehe IV.A.3. v. Dessien, Wasser, 1985, 96, vgl. Sauer, Es ist Zeit, 2005, 107. EMS, Gedanken zum Protokoll der Gespräche mit dem Orientdienst am 2. Mai 1975 in Stuttgart, S. 2, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 211 Zu Jasper siehe VI.C.3.c). 212 Jasper, Unterwegs, 2008, 35.
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te?“213 Doch Jasper räumt ein, dass Höpfner „nicht die grobe, flache Konfrontation“ gesucht habe. Es sei ihm vielmehr darum gegangen „den Glauben an Jesus im Gespräch zwischen Christen und Muslimen einladend zu bezeugen. … Sein Ziel war dabei, von abstrakt theologischem Denken fort die Situation des Menschen deutlich zu machen so, wie er sie verstand. ... Willi Höpfner war für mich einer der unbequemen, nicht nachgebenden christlichen Originale, die im allgemeinen Gang der Kirchen quer liegen und doch für sie zur Kurskorrektur nötig sind.“214
Der abschließende Blick auf Höpfners Missionstheologie im Kontext des Orientdienstes bestätigt diese Sicht, zeigt aber darüber hinaus, dass Höpfners Haltung zum Islam weniger von Angst, als vielmehr von einer komplexen Verbindung von dialogischer Anknüpfung, religionstheologischer und ethischer Differenzbetonung und Abgrenzung sowie zwischenmenschlicher Empathie geprägt war, und sicherlich nicht frei von orientalisierenden Klischees. 2. Höpfners Missionstheologie im Kontext des Orientdienstes Höpfners Missionstheologie im Kontext der Migrationssituation in Deutschland blieb grundlegend von den Einsichten und Erfahrungen der 1930er und 1950er Jahre in Ägypten geprägt. Die Islammissiologie Zwemers, die Verbindung von Enderlins sympathetic approach mit Hartensteins offenbarungstheologischer Sicht sowie die Einflüsse von Cragg und – vor allem – Kraemer stellten die Basis dar, auf der sich Höpfners Perspektiven in den 1960er und 1970er Jahren weiter entwickelten. Wie in den vorherigen Phasen ließ Höpfner sich von Begegnungen und neuen theologischen Entwicklungen anregen. Vor allem der Begriff des Dialogs (s. unten e) brachte neue Impulse und belebte religionstheologische Diskussionen, die Höpfner in anderer Form aus den 1930er Jahren vertraut waren (Hocking vs. Kraemer), neu. a) Eine Literaturliste als missiologische Landkarte Es ist bezeichnend für Höpfners praxisorientierten Ansatz, dass er bei der Gründungsversammlung des Orientdienstes (2. Dezember 1963) kein theologisches Grundsatzreferat hielt, sondern eine kommentierte Literaturliste präsentierte,215 die gleichwohl quasi als Landkarte seiner Sicht der missionarischen Islambegegnung im Migrationskontext gelesen werden kann. Höpfner begann seine Ausführungen mit dem Hinweis, es sei notwendig, sich sowohl auf die gegenwärtige Situation als auch auf den religiös-kulturellen Hintergrund der muslimischen Migranten einzulassen. Damit signalisierte er, dass die Migrationssituation als eigen-
213 Ebd. 37. 214 Ebd. 215 Höpfner, Literatur, 1964.
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ständiger Kontext ernst zu nehmen war, ohne ihn aus transnationalen und traditionellen Zusammenhängen zu lösen. Zunächst stellte Höpfner fest, es gebe kaum „Verteil-Literatur, die zur Weitergabe an unsere muslimischen Freunde zu empfehlen ist“. „Ich habe sowohl nach Paris als auch nach London geschrieben … Leider ohne rechten Erfolg. Ich bin nach Istanbul und Beirut gefahren, habe mir dort einiges Material in arabischer Sprache besorgt, doch mußte ich feststellen, dass diese Literatur eigentlich nur für den Christen geschrieben ist.“216 Außerdem fehle Literatur „für unsere islamischen Freunde aus der gegenwärtigen Fragestellung heraus“.217 Eine Ausnahme sei die Biographie des iranischen anglikanischen Bischofs Hassan DeqaniTafti, Bild meiner Welt, die vom Near East Christian Council (NECC) auf Arabisch (Hajati) herausgegeben worden war.218 Natürlich seien auch biblische Texte unmittelbar zur missionarischen Weitergabe geeignet. Hier werde man „wahrscheinlich keine Ablehnung erfahren“. Dabei sei „das Matthäus-Evangelium dem Markus-Evangelium vorzuziehen, da Markus gleich mit der Botschaft von Gottes Sohn beginnt. … Dem zur Mystik neigenden Muslim wäre eher das JohannesEvangelium zu empfehlen.“219 Den zweiten Schwerpunkt seiner Literaturvorstellung widmete Höpfner „Bücher[n], deren Studium für eine bessere Begegnung mit dem Islam uns wichtig erscheint“.220 Dabei gab er zugleich Einblick in die Koordinaten seiner eigenen Lektüre. Die Werke von Emanuel Kellerhals, Der Islam (1945 / 1956) sowie Und Mohammed ist sein Prophet (1961), seien „theologisch gut fundiert“ und basierten auf einer fundierten Kenntnis der „in europäischen Sprachen erschienenen Literatur“.221 „Unüberbietbar“ seien die Ausführungen Hendrik Kraemers in Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt (1940).222 Für die weitergehende Auseinandersetzung mit dem Islam empfahl Höpfner eine Trias von Werken: aus missionarischer Perspektive Gottfried Simons Die Welt des Islam (1948), aus religionstheologisch-dogmatischer Perspektive das vierbändige Standardwerk Die Glaubenslehren des Islam (1959) des katholischen Orientalisten Hermann Stieglecker und schließlich, aus islamwissenschaftlicher Perspektive, Die Welt des Islam und die Gegenwart (1961) des Tübinger Islamwissenschaftlers Rudi Paret. Darüber hinaus verwies Höpfner auf Parets neue Koran-Übersetzung, die „bis 1966 vollständig vorliegen wird und jeder anderen Koranübersetzung vorzuziehen ist“. Als weitere empfehlenswerte Titel nannte er William Cantwell-Smiths Der Islam in der Gegenwart (1963), der „den Islam als religiöse Erscheinung in einer 216 Höpfner, Literatur, 1964, 1. 217 Ebd. 2, kursiv FW. 218 Zuerst erschienen in Englisch als Design of my World, London 1959; Deutsch: Bild meiner Welt, Stuttgart/Basel: Ev. Missionsverlag, 1960. Der OD erstellte 1966 eine türkische Übersetzung. Siehe IV.C.2.b). 219 Höpfner, Literatur, 1964, 2. 220 Ebd. 1. 221 Hier schwingt der implizite Hinweis auf die fehlende Berücksichtigung arabischer Quellen mit, vgl. die Einschätzung von Hock, Spiegel, 1986, 147. 222 Zu Höpfners Wertschätzung Kraemers siehe C.5.c).
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tiefen Weise erfaßt und die islamische Gegenwart von daher kritisch beleuchtet“.223 Es folgten eine Reihe von englischen und französischen Titeln, darunter auch Constance Padwicks Muslim Devotions (1961), „eine ausgezeichnete Sammlung von muslimischen Gebeten“. Mit dieser literarischen Auswahl gab Höpfner nicht nur Einblick in den literarischen Horizont seiner eigenen Islammissiologie, sondern skizzierte auch die doppelte Aufgabe des Orientdienstes: 1. die Vermittlung grundlegender und aktueller Kenntnisse zum Islam sowie 2. die Förderung der literarischen und persönlichen missionarischen Begegnung mit Muslimen in Deutschland. Doch wie sah Höpfner den Islam in dieser neuen Situation? b) Die Sicht des Islam: Empathie und Differenz Höpfner beschrieb den Islam im Migrationskontext (im Anschluss an Kraemer) zunächst als anthropologische Größe, als „Rahmen, in dem der Mensch, bzw. Gruppen von Menschen leben“.224 Theologisch interpretierte er ihn einerseits als „Ausdruck der tiefen Sehnsucht des Menschen nach Gott“, der „mit seinen hohen Anforderungen ... Bewunderung ab[nötigt]“,225 andererseits als „Gesetz, ... [das] nicht in die Freiheit [führt], und auch der Mystiker bleibt trotz seiner religiösen Versunkenheit noch bei sich selbst. Die Religion trägt das Bild des Menschen in seiner Unerlöstheit und Sehnsucht.“226 Neu war die kritische Rede von dämonischen Zügen der Religion, wie sie Walter Freytag betont hatte und die nicht auf den Islam beschränkt war.227 Religion könne auch „ein ... grausames Gesicht“ zeigen: „oft entdecken wir dämonische Züge in ihr. Wie viele Menschen mußten sich ihrem harten Urteil beugen! Wie viele wurden unterdrückt, gepeinigt, gefangen, verbannt und umgebracht im Namen der Religion!“228 Das Verhältnis zwischen Islam und Christentum betrachtete Höpfner zunächst religionsgeschichtlich. In Übereinstimmung mit Zwemers Konzept der „composite religion“ aus Judentum, Christentum und vorislamischer arabischer Religion229 interpretierte Höpfner Mohammeds Offenbarungserlebnis in der Islamhandreichung des DEMR (1977) als rezeptiv und kontextuell. Mohammed habe die Thora- und Bibelrezitationen der Juden und Christen gehört, „er meditierte über das Gehörte, verband es mit eigenen Erfahrungen, … übernahm das ihm Wichtige und prägte es dabei doch nach seinem islamischen Verständnis
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Höpfner, Literatur, 1964, 4. Höpfner, Bangkok, 1973, 62. Höpfner, Gedanken zum Dialog, 1971, 38. Ebd. Vgl. Freytag, Das Dämonische, 1954, vgl. Triebel, Bekehrung, 1976, 58. Höpfner hatte in den 1930er Jahren von der „Unvernunft der Vernunft und Unnatur der Natur und die irrationale Größe unserer Schuld“ gesprochen. Höpfner, Brief an das Johanneum, Wuppertal, 21.12.1934, Archiv Johanneum. 228 Höpfner, Gedanken zum Dialog, 1971, 38. 229 Siehe II.A.1.
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um.“230 Dieses Konzept der systemischen Umprägung fand Höpfner in Kraemers Sicht der Ganzheit religiöser Systeme („Lebenstotalitäten“) bestätigt.231 Im Islam seien die „Begriffe aus dem christlichen Sinnzusammenhang herausgebrochen und in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt worden. Sie haben sich auch in ihrer bisherigen Bedeutung gewandelt und sind nunmehr islamisch geprägt.“232 Im Unterschied zu Hartenstein und Kellerhals sprach Höpfner jedoch nicht in grundsätzlicher Weise vom Islam als antichristlicher Religion. Sowohl pejorative als auch optimistische (Cragg) Deutungen sah Höpfner für die wirkliche Begegnung mit Muslimen als hinderlich an. Sein Islambild war im Wesentlichen das Bild des Muslim als Mitmensch und in diesem Sinn als Bruder. Höpfner hatte „keinen Zweifel, daß wir alle Brüder sind, Moslems und Christen“ und dass man „das Gemeinsame und Einende suchen und zusammenstehen [soll] im Kampf gegen das Unreine und Gemeine, gegen Tyrannei und Bosheit“.233 Dabei sah er die Einsicht in die eigene Begrenztheit und Verwundbarkeit als Brücke: „Der andere, in diesem Falle unser moslemischer Bruder, darf getrost unsere Verlegenheit bei unserer Begegnung kennenlernen.“234 Im Anklang an die Islamerklärung des 2. Vatikanischen Konzils 235 ermutigte Höpfner seine Mitchristen, „[den muslimischen] Gastarbeiter ... als Mensch und Person, ja als Gottgläubigen an[zu]erkennen“.236 Dazu könne auch gehören, Muslime bei der der Suche „nach geeigneten Räumen für ihre Gottesdienste“ behilflich zu sein, wobei hier vor allem die „Eigeninitiative der Gastarbeiter“ zähle.237 Im Sinne eines pietistisch interpretierten sympathetic approach betonte Höpfner die geistliche, innere Ansprechbarkeit des einzelnen Muslims: „Trotz des … islamischen Rahmen[s] …. ist es erstaunlich, wie sehr der Moslem in seinem Inneren ansprechbar ist auf die frohe Botschaft in Christus.“238 Obwohl er Craggs christianisierende Interpretation des Islam kritisch kommentierte, war Höpfners Sicht der Muslime nicht weniger christianisierend, wenn er einen muslimischen Gesprächspartner beschrieb als „ein Mensch mit einer ‚christlichen‘ Seele, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, die aus Gott kommt“.239 Soteriologisch sah Höpfner Muslime, wie alle Menschen, als „Verlorene und Verirrte“.240 Dies verband er jedoch nicht mit der eschatologischen Behauptung einer ewigen Verlorenheit der Muslime. Vielmehr betonte er die rettende „Güte und Barmherzigkeit Gottes des Vaters in Jesus Christus“.241 Höpfner nahm jedoch die Furcht der Mus230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241
Höpfner, Koran, 1977, 27. Kraemer, Botschaft, 1940, 127. Siehe II.B.3. Höpfner, Sünde und Vergebung, 1961, 5. Höpfner, Nur ein Gott, 1964, 2–3. Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 7; siehe auch Höpfners Bericht vom Kirchentag 1963 unter IV.A.2.a). Siehe II.C.5. Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 5. Kursiv FW. Protokoll der 16. ODT am 4.8.1969, 4. OD-Archiv. Höpfner, Jesusbild, 1965, 2. Höpfner, Diskutieren, 1940, 12. Höpfner, Bekehrungsversuche, 1973, 44. Höpfner, Gastarbeiterfamilien, 1978, 7.
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lime selbst vor dem Gericht Allahs und den koranischen und traditionellen islamischen Schilderungen der Hölle ernst. Das Evangelium verkündigte er als Befreiung von Lebensangst und Höllenfurcht. Dabei zitierte er seinen ägyptischen Mitarbeiter und ehemaligen Muslim Juhanna Schäkir: „Das Christentum hat mich befreit von der Furcht vor dem Höllenfeuer.“242 Höpfner war überzeugt, dass die Liebe Gottes in Christus allen gilt. Darum sprach er die Einladung auch an Muslime aus, sich „von dieser allmächtigen Liebe erfassen“ zu lassen.243 c) Orientalismus und interkulturelle Lernbereitschaft Höpfners Bild der nahöstlichen Kultur war geprägt vom Orientalismus seiner Zeit, wie er seit Edward Saids Orientalism (1978) kritisch reflektiert worden ist.244 Dabei ging es Höpfner kaum darum, „mit der Autorität des Überlegenen den Raum des islamisch-arabischen Nahen Ostens kolonialistisch beanspruchen zu können“.245 Vielmehr kann Höpfners Rede vom „Orient“ und der „orientalischen Mentalität“ als Versuch der – wenn auch manchmal holzschnittartigen – Wahrnehmung kultureller und religiöser Differenzen verstanden werden, mit dem Ziel ihrer Überbrückung. Höpfner nahm den „Orient“ im Gegenüber zur europäischen Kultur als grundlegend „fremd“ wahr.246 Gleichzeitig begegnete er dieser fremden Welt mit (teilweise vereinnahmender) Empathie und – anfänglich – idealistischer Romantik.247 Dabei standen Islam und Orient für Höpfner in einer engen Beziehung zueinander. Der Islam sei „eben keine Religion in unserem Sinne, er ist vielmehr eine Lebenshaltung, die in vieler Hinsicht der Mentalität des orientalischen Menschen entspricht“.248 Vor allem der Versuch, die Fremdheit der nahöstlichen oder nordafrikanischen Kultur einer deutschsprachigen Zuhörerschaft zu vermitteln, führte regelmäßig zu orientalisierenden Charakterisierungen. Auf einer OD-Tagung im November 1964 zeichnete Höpfner ein kulturalistisches Bild der „besondere[n] Mentalität des … orientalischen Menschen“,249 allerdings mit dem erklärten Ziel, interkulturelle Missverständnisse zu verringern, die ihren Grund „in der Nichtbeachtung der andersartigen Mentalität“ hätten.250 Dies erfolgte jedoch in stereotypen Gegenüberstellungen, in denen Höpfner „den Orientalen“ mit „dem Europä242 Höpfner, Kreuz, 1937, 9. 243 Höpfner, Ein Gott und ein Herr, 1964, 3. 244 Zum Ansatz Saids vgl. Kreutzer, postkoloniale Literaturkritik, 2004, 203; Nehring, Orientalismus, 2003. 245 Kreutzer, Postkoloniale Literaturkritik, 2004, 203 in Zusammenfassung der Sicht Saids. 246 Höpfner, Eindrücke, 1934, 4. 247 Bedauernd stellte er fest, Alt-Jerusalem sei „eine von den wenigen Städten des Vorderen Orients, die in ihren Mauern echt orientalisches Leben bewahrt haben“. Höpfner, Alt-Jerusalem, 1935, 4. 248 Höpfner, Umbruch, 1961, 14. 249 Höpfner, Schwierigkeiten,1964. 250 Ebd.
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er“ verglich, wobei der Orientale als passiv, reaktiv, im Gespräch verschleiernd, der Europäer dagegen als aktiv, initiativ und im Gespräch direkt beschrieben wird. Den Grund der Missverständnisse „mit dem Orientalen“ sah er darin, „daß wir ihn mit europäischer Elle messen“. Noch größer würden die Schwierigkeiten, wenn die „Orientalen“ sich „scheinbar vollkommen unserer europäischen Art angepasst haben, in Wirklichkeit aber innerlich Orientalen geblieben sind“.251 Solche stereotypen Kultur- und Mentalitätsbilder stellten in den 1960er Jahren allerdings keine Ausnahme dar. So hieß es im Bericht eines Unternehmensverbands aus dem Ruhrgebiet 1961: „Der Türke gilt als äußerst genügsam und entwickelt von sich aus keine Initiative. Angeblich beeinflusst das eigenartige Klima seine Arbeitslust. … Die Empfindung von Neid ist dem Türken … unbekannt.“252 Obwohl es Höpfner nur begrenzt gelang, seine interkulturellen Erfahrungen einem deutschsprachigen Publikum ohne Klischees zu vermitteln, betonte er immer wieder die Notwendigkeit kultureller Selbstkritik und Lernbereitschaft: „Alles Überlegenheitsgefühl [sollte] ausgeschaltet sein. Wir haben sicher viel … zu kritisieren, aber wir können auch große Kapitel [lernen].“253 Dies schloss die kritische Beurteilung problematischer kultureller und religiöser Perspektiven und Praktiken für Höpfner keineswegs aus, wie seine kritischen Ausführungen zum nahöstlichen und islamischen Frauenbild oder Eheverständnis zeigen.254 Insgesamt bot Höpfners interkulturelle Hermeneutik eine pragmatische Mischung aus empirischer Differenzwahrnehmung, kulturalistischem Klischee, kritischer ethischer und theologischer Beurteilung sowie mitmenschlicher Empathie und christlicher Nächstenliebe. Dabei stellte der christologische Bezug eine wesentliche Richtschnur dar: Höpfner verstand die Begegnung mit nahöstlichen muslimischen Migranten als Aspekt der „Nachfolge Christi“. Letztlich sei die „Frage nach der rechten Begegnung … eine [Frage nach] dem persönlichen Verhältnis, das wir zu Christus gefunden haben und von daher zum Menschen finden.“ Dies müsse auch die Bemühung einschließen „die Sprache des anderen zu lernen und damit die Sprache seines Herzens zu verstehen. Aus der Kenntnis seiner Kultur, seiner Religion, seiner Lebensgewohnheiten wird auch unsere Verkündigung Form und Inhalt gewinnen. Sie wird … als echtes Zeugnis gelebte Liebe sein aus der Kraft Jesu Christi, die … dem Moslem ein Moslem wird.“255 Das christologische Motiv wird hier zum transkulturellen Korrektiv ethnozentrischer Haltungen auf allen Seiten der Begegnung: ein „Anstoß … sowohl dem ‚europäischen‘ Griechen als auch dem orientalischen … Moslem gegenüber. ... Wir haben kein Recht, den Orientalen in seiner Lebensform abzuwerten. Seine Art zu leben ist ebenso Gott fern wie unsere, … zu Gott umzukehren haben wir beide nötig ... Wahrscheinlich haben wir beide voneinander zu lernen.“256 251 252 253 254 255 256
Höpfner, Schwierigkeiten, 1964, 2. Zit. bei Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 102–103. Höpfner, Lage, 1954, 43. Siehe IV.A.1.a). Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 6–7. Höpfner, Orientalische Lebenshaltung, 1970, 4.
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Konkret zeigte sich diese Haltung nach dem verheerenden Mordanschlag arabischer Terroristen auf israelische Sportler während der Olympiade in München 1972. Höpfner verurteilte den Anschlag scharf, mahnte jedoch zugleich, nun nicht alle arabischen Migranten unter Generalverdacht zu stellen: „[Wir] sind wir ... Meinung, daß eine von allen zu verurteilende Tat nicht allen Arabern angelastet werden sollte. Die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen in unserem Lande dürfen nicht so überspannt werden, daß sie diejenigen treffen, die hier Arbeit und Brot haben, ohne mit dem Terror etwas zu tun zu haben. … Wir sollten in dieser Zeit uns besonders bemühen, im Geiste des Evangeliums, die Gegensätze abzubauen und Zeichen der Versöhnung im Namen Jesu Christi aufzurichten.“257
d) Die Botschaft: befreiende Theologia Crucis Als geistliche Motivation interkultureller Lernbereitschaft und Versöhnung sah Höpfner den „helle[n] Schein … des Evangeliums“,258 die Botschaft der im Kreuz Christi verankerten unumkehrbaren Barmherzigkeit und Liebe Gottes zugunsten des verlorenen Menschen. Im Unterschied zum Islam, der lehre, dass „Gott nicht mit seinem Boten Jesus in die Tiefe des Todes, der Schuld und der Nacht gehen“ könne,259 verstand Höpfner das Kreuz Christi als Einlassung Gottes auf die tiefste Not des Menschen: als Ort der Entmachtung der Hölle, Anfang einer neuen Welt und Grundlage christlicher Glaubensgewissheit: „Uns aber ist das Leiden und Sterben Jesu Christi das ergreifende Durchschreiten der tiefsten Örter der ual. … So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn dahingab! Damit bricht die neue Welt an … In Christus ist die allmächtige Liebe geoffenbart. Wer sich von dieser allmächtigen Liebe erfassen lässt, der kann nicht schweigen, der kann nur mit seinem Boten rufen: ‚Kommt, laßt euch versöhnen mit Gott!‘“ 260
In einer missiologisch verstandenen theologia crucis lagen für Höpfner das Motiv und zugleich der zentrale Inhalt des missionarischen Zeugnisses gegenüber Muslimen, auch in Deutschland. Angesichts der islamischen Ablehnung des historischen Kreuzestodes Jesu, sah Höpfner seit Beginn seiner Missionstätigkeit eine grundlegende Aufgabe darin, „das Neue Testament unter den Muslims [zu] verbreiten, das ihnen das Kreuz immer wieder als eine geschichtliche Tatsache hinstellt“.261 Dabei werde deutlich, dass nicht nur einzelne (aus Sicht der Muslime: 257 258 259 260 261
Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 5/1972, 80. Höpfner, Brief an Paul Burkhardt, 11.4.1930, Archiv Johanneum. Höpfner, ein Gott und ein Herr, 1964, 3. Ebd. Höpfner, Kreuz, 1937, 14. Eine neuere Parallele zu Höpfners kreuzestheologischem Ansatz findet sich in dem Entwurf des jesuitischen Islamtheologen Felix Körner, Kirche im Angesicht des Islam, 2008, 337–348. Körner hebt drei wesentliche Elemente des christlichen Zeugnisses unter Muslimen hervor: (1) die historische Erfahrung: die Tatsächlichkeit des Kreuzes, (2) die menschliche Erfahrung: der Mensch kann nicht aus eigener Kraft gerecht werden und die (3) dialogische Erfahrung: erst im „Ablegen“ des Zeugnisses, d.h. in der Schwachheit, in der Begegnung jenseits von schlagenden Argumenten und im Hören auf den Anderen, kommt das christliche Zeugnis ans Ziel. Vgl. ebd. 345f.
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gefälschte) Texte von der Kreuzigung reden, sondern, das ganze Neue Testament sich um dieses Ereignis drehe. In theologischer, anthropologischer und soteriologischer Sicht mache die Botschaft von der Liebe Gottes im Kreuz Christi deutlich, dass der Mensch sich nicht selbst vor Gott rechtfertigen kann: die Sünde sei „mehr als eine böse Tat, die ich wieder mit einigen guten Werken auslöschen kann“.262 In Kreuz und Auferstehung wird deutlich, dass Sündenvergebung und Glaube ein Geschenk Gottes in Christus sind. Die Einladung zum Glauben war für Höpfner deshalb zugleich Lebenshilfe: „das Wort vom Gekreuzigten und Auferstandenen [ist] eine Kraft Gottes für die Fragen meines Lebens“.263 Als die Arbeit des OD in der kirchlichen Presse Ende der 1970er Jahre als fragwürdiger Versuch, Muslime zu bekehren, kritisiert wurde,264 widersprach Höpfner. Sein Missionsverständnis sei ein anderes: es gehe vielmehr um „ein befreiendes Wort“ vom Kreuz Christi her.265 Die theologia crucis war für Höpfner maßgeblich für die Art und Weise der missionarischen Islambegegnung. Auf der 2. Orientdienst-Tagung 1964 beschrieb er das christliche Zeugnis unter Muslimen als verwundbares „Christuszeugnis … unter dem Kreuz“.266 Dies unterschied er von einem „unverbindlichen Religionsgespräch“ ohne eigene Positionierung und Öffnung für den Anderen. Dieses Christuszeugnis unter dem Kreuz charakterisierte Höpfner so: „Dieses In-Christus-Sein [heißt] in seiner Liebe stehen, von der Paulus sagt, sie eifere nicht (wahrscheinlich doch wohl um die eigene Sache), sie blähe sich nicht auf (doch wohl im Bewußtsein, die überlegenere Religion zu besitzen), sie suche nicht das ihre (das heißt doch wohl, den Beifall der anderen oder den Triumph über die anderen in der Diskussion oder die Überlegenheit in der Haltung).“267
Die kreuzestheologische Sicht der missionarischen Begegnung blieb für Höpfner leitend. Auch angesichts kritischer Anfragen an die Arbeit des OD im Anschluss an die Weltmissionskonferenz von Bangkok 1973 bekräftigte er: Der Zeuge Jesu wird seine Botschaft ausrichten in dem Bewußtsein, daß die Kirche in früheren Zeiten es oft an Klarheit und Liebe in der Verkündigung hat mangeln lassen. Er wird sich aber auch bewußt sein, daß er in der Nachfolge seines Herrn Widerspruch und Ablehnung erfahren wird. ... Die Basis unserer Arbeit ist Christus, der Gekreuzigte. In ihm ist der Tod überwunden. Seine Botschaft hat, auch wenn sie das Kreuz erfährt, todüberwindende Kraft. [Dies] wird uns in unserer Arbeit immer wieder neu zur Gewissheit. Wir leben nicht vom Erfolg. Damit tragen wir das Schicksal der Kirchen im islamischen Raum, die immer wieder auf die Kraft des Kreuzes angewiesen sind.“268
262 Höpfner, Kreuz, 1937, 14. 263 Höpfner, Gastarbeiterfamilien, 1978, 6. 264 Gastarbeiterfamilien bekehren, in: Ev. Kirchenzeitung für Baden „Aufbruch“ vom 2.4.1978, zit. bei Höpfner, Gastarbeiterfamilien, 1978, 5. 265 Höpfner, Gastarbeiterfamilien, 1978, 6. Bereits 1936 formulierte Höpfner: „das [ist] der Grund unseres Hierseins, von einer Kraft Zeugnis abzulegen, die uns durch die Nöte dieses Lebens trägt.“ Höpfner, Mission in Ägypten, 1936, 132, siehe V.B.5.a). 266 Höpfner, Christuszeugnis, 1964. Zu den Orientdienst-Tagungen siehe IV.B.1. 267 Höpfner, Verlegenheit, 1963, 53, kursiv FW. 268 Höpfner, Bangkok, 1973, 63.61.
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e) Missionarische Praxis: Evangelisation, Diakonie und Dialog Das Christuszeugnis unter dem Kreuz begründete für Höpfner ein ganzheitliches Verständnis missionarischer Praxis, das Evangelisation, Diakonie und Dialog in ökumenischer Zusammenarbeit umfasst. Während die diakonische und evangelistisch-seelsorgerliche Krankenhaus- und Klubarbeit in Assuan und Kairo in den 1930er Jahren sowie die ökumenische Erfahrung evangelischer Auslandsarbeit in den 1950er Jahren für Höpfners missionspraktisches Verständnis grundlegend blieben,269 sah er sich durch die migratorischen Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre zu einer dialogischen Neuakzentuierung missionarischer Methodik herausgefordert. Höpfner stellte fest „daß die Bemühungen, um die in der Bundesrepublik weilenden Moslems unsere ‚Methoden‘ korrigiert, die wir draußen in der Moslem-Mission anzuwenden pflegen. Es wird uns hier sehr deutlich, daß Mission unter Moslems in erster Linie nicht eine Auseinandersetzung mit dem Islam ist, sondern eine Begegnung mit dem moslemischen Menschen und seinen Lebensfragen angesichts der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus.“270
Letztlich waren eine dialogische Haltung und ein ganzheitlicher missionarischer Ansatz für Höpfner jedoch nicht neu. Er war seit langem überzeugt, dass polemische interreligiöse Debatten und Kontroversen nur zu „Rechthaberei“ führen, die die „Gemeinschaft [zerbricht] und ... das Gegenteil von dem [ist], was das Evangelium will“. Das Evangelium müsse so vermittelt werden, „daß es den ganzen Menschen anspricht“.271 Gerade im Migrationskontext gewannen diese Dimensionen des christlichen Zeugnisses weiter an Bedeutung. Dies zeigen die Anfänge des OD in der präsenzmissionarischen Arbeit R.J.s unter türkischen Arbeiterinnen in Offenbach.272 Doch die sozialdiakonische Arbeit war für Höpfner untrennbar mit dem evangelistischen Zeugnis verbunden: „Wenn wir kein Wort haben, das dem Enttäuschten, im Leiden stehenden und von der Angst gequälten Menschen eine spürbare persönliche Hilfe ist, so sind wir keine rechten Dolmetscher der Botschaft Jesu unseren Gastarbeitern gegenüber.“273 Höpfners Verhältnis zu bestimmten Konzepten des interreligiösen Dialogs war jedoch ambivalent. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung in der christlich-islamischen Begegnung stellte er fest: „Der ‚Dialog‘ zwischen beiden Religionen ist nicht erst seit heute eine Aufgabe, und er sollte keineswegs nur theoretischer Art sein.“274 Höpfner bekräftigte eine dialogische Haltung und Praxis als selbstverständlichen Aspekt der missionarischen Begegnung: „eine echte Begegnung von Mensch zu Mensch, wie wir sie in der Mission suchen, [kann] nie ohne 269 v. Denffer, Mission, 1980, fasste den Ansatz des OD nicht zu Unrecht als Fortsetzung der Verbindung von Diakonie und Evangelisation in der Missionsarbeit in Ägypten auf: „combining care with preaching and literature distribution“. Ebd.15. 270 Höpfner, Jahresbericht 1968/69, NEMO 2/1969, 41. 271 Höpfner, Diskutieren, 1940, 12.14. Siehe V.B.5. 272 Siehe IV.A.1.c). 273 Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 6–7. 274 Höpfner, Kirche, 1971, 5.
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‚Gespräch‘ und ohne Hören auf das Anliegen des Andersgläubigen geschehen.“275 Dabei war ihm wichtig, dass der Dialog weder in eine rechthaberische religiöse Debatte noch in eine relativistische Ablehnung religiöser Wahrheitsüberzeugungen abrutschte. Sinnvoll war der christlich-islamische Dialog in Höpfners Sicht, wenn er islamische und christliche Glaubensüberzeugungen in ihrem Selbstverständnis und ihrer Differenz und das missionarische Anliegen beider Religionen ernstnahm: „Im Laufe der Geschichte war [der Dialog] oft polemisch und führte zu härtesten Auseinandersetzungen. Er sollte in geistlicher Weise geführt werden, getragen von der Liebe, die sich in Jesus Christus offenbart hat. Dabei sollte das klare Zeugnis vom Leiden und Sterben unseres Herrn für Schuld und Leid der Menschheit nicht unterschlagen werden. In einem echten Dialog geht es um das Ernstnehmen des Andersgläubigen in der Bereitschaft, ihn teilnehmen zu lassen an dem Heil, das alle zur Freiheit führen will.“276
Ein relativistisches Verständnis des Dialogs, wie er es bereits in den religionstheologischen Diskussionen der 1930er Jahren kennengelernt hatte, lehnte Höpfner als unrealistisch und theologisch unbefriedigend ab: „Wir müssen die Gegensätze zwischen Islam und christlicher Auffassung stehen lassen und können sie nicht überdecken mit dem Mantel einer Toleranz, die die Frage nach der Wahrheit aufgibt.“277 Letzteres unterstellte er (in zu pauschaler Weise) nach der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973 auch dem Dialogverständnis des ÖRK: „Von daher gesehen finden wir auch keine positive Haltung zu dem in Bangkok so stark unterstrichenen Dialog zwischen den Religionen.“278 Hiermit stand Höpfner der Frankfurter Erklärung (1970) zwar nahe, die den Dialog „allein als gute Form missionarischer Anknüpfung“279 verstand, schloss sich ihr jedoch nicht explizit an, da die von der FE geforderte „zur Bekehrung drängende Verkündigung des Evangeliums“ Höpfners Erfahrungen in der Islammission kaum entsprach.280 Auch sah Höpfner den Dialog – im Unterschied zur FE – nicht ausschließlich als Instrument missionarischer Anknüpfung, sondern zugleich als „eine ernsthafte Beschäftigung mit der Religion unserer Gäste“. Er begrüßte die Herausforderung des französischen Islamwissenschaftlers Louis Gardet, „muslimische Texte … so zu lesen und zu verstehen, wie sie ein aufrichtiger, um die Verinnerlichung seines Glaubens bemühter Muslim liest und versteht“, betonte aber zugleich die eigene Glaubensverwurzelung „in der Wahrheit des Zeugnisses und in dem Verständnis, das die Liebe Christi aus sich entfaltet“.281 Die konkrete Praxis im OD brachte Paul Gerhardt Buttler im Jahresbericht des DEMT 1973 so auf den Punkt: „Wenn auch das Schlagwort ‚Dialog‘ bei manchen Mitarbeitern des Orientdienstes Miß-
275 276 277 278 279 280 281
Höpfner, Bangkok, 1973, 62. Höpfner, Kirche, 1971, 5. Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 6. Höpfner, Bangkok, 1973, 62. FE § 6, in: Beyerhaus, Krise und Neuaufbruch, 1987, 7–8. Ebd. Zur Rolle der FE im OD siehe VI.B.2. Höpfner, Bücher, 1968, 12.
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trauen erweckt, sie üben ihn: im Verstehen des anderen … und im Bezeugen des gekreuzigten und auferstandenen Christus.“282 f) Bekehrung und Wiedergeburt: die unmögliche Möglichkeit Das Ziel des christlichen Zeugnisses blieb für Höpfner, dass Muslime zum Glauben an Jesus Christus kommen.283 Diese Zielsetzung motivierte, informierte und strukturierte auch die missionarische Arbeit des OD. Andererseits konnten theologische Wahrnehmungen wie Wiedergeburt oder Bekehrung kaum als erreichbares Ziel der missionarischen Arbeit definiert werden, da sie sich als geistliche und biographisch selbstbestimmte Vorgänge religiöser Aneignung dem Zugriff methodischer Strategie entziehen.284 Höpfner war überzeugt, dass niemand „zum Glauben an Jesus Christus überredet werden“ kann.285 Der muslimische Gesprächspartner war für ihn nicht Objekt missionarischer Methoden, sondern Subjekt einer eigenständigen Beziehung zu Gott. Wenn dennoch von einer „Bekehrungsintention“286 bei Höpfner und im OD zu sprechen ist, dann unter dem Ausschluss des transitiven Missverständnisses von Bekehrung: es ging nicht darum den Anderen zu bekehren, sondern zum Glauben an Christus einzuladen. Dies stellte für Höpfner ein geheimnisvolles geistliches Ineinander von missionarischem Zeugnis, göttlichem Wirken und der selbstbestimmten Antwort des muslimischen Gesprächspartners dar: „die Decke, die über seiner Erkenntnis liegt, kann ihm nur genommen werden, wenn er dem Herrn Jesus Christus im Geist begegnet und das Wagnis auf sich nimmt, diesen Herrn zu bekennen.“287 Diese Glaubenserfahrung beschrieb Höpfner in der Sprache des Johannesevangeliums als „Wiedergeburt im Geist ..., die zu wahrer Erkenntnis Jesu verhilft“.288 Selbst das Studium der Bibel führte Muslime nach Höpfners Erfahrung nicht per se zu dieser christlichen Glaubenserfahrung: „Wir besprachen Bibeltexte. Was immer wir lasen, [er] fand überall eine Bestätigung seines moslemischen Glaubensbekenntnisses.“ Höpfner war überzeugt, dass „Glaubens-Überzeugungen nicht vernunftmäßig“ zu verändern seien.289 Dem stellte er, in fast mystischer Weise, die 282 Buttler, Auftrag, 1974, 64, kursiv FW. 283 Vgl. Balz, Anfang des Glaubens, 2010, der seine missionstheologische Untersuchung mit der Beobachtung beginnt: „Der christliche Glaube fängt an, er entsteht zu einer nennbaren Zeit, an bestimmtem Ort, bei Menschen, wo er vorher nicht war.“, ebd. 15. 284 Vgl. Balz, ebd. 186, der im Anschluss an L. Sanneh zwischen Transmission („Es gibt keinen christlichen Glauben ohne solche menschlich missionarische Weitergabe.“) und der unverfügbaren Assimiliation („wo in den Herzen der Empfänger durch den Geist die Botschaft des Evangeliums angeeignet wird“) unterscheidet. Darüber hinaus betont Feldtkeller, dass man „das Geheimnis der Weitergabe von Leben“ nicht „in eine menschliche Aktivität fassen“ kann. Feldtkeller, Pluralismus, 1999, 26. 285 Höpfner, Kreuz, 1937, 10. 286 Gensichen, Glaube, 1971, 119. 287 Höpfner, Jesusbild, 1965. 2. 288 Höpfner, Allah und der dreieinige Gott, 1964, 3. 289 Ebd. 2.
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geistliche Erfahrung der Wiedergeburt als unmittelbare geistliche Christusbegegnung gegenüber. Wie Nikodemus (Joh 3), so sehe ein Muslim in Christus zunächst nur „den großen Nabi (Propheten)“. Im Gespräch mit Nikodemus habe Jesus deutlich gemacht, dass niemand das Reich Gottes sehen könne, „es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde“.290 Dass Muslime „zur Erkenntnis Jesu Christi als ihres Herrn und Erlösers kommen“, war für Höpfner ein „Wunder“, das nur durch den Heiligen Geist möglich wird.291 Dieses Wunder der Wiedergeburt unterschied Höpfner in pietistischer Perspektive als unsichtbaren geistlichen Vorgang deutlich von Konversion und Taufe als formalem Religionswechsel und sichtbarem sakramentalen Geschehen. Gegenüber Missionskritikern betonte Höpfner, dass es in der Missionsarbeit des OD nicht um Religionswechsel gehe. Man werbe nicht für die „Anerkennung der einen oder anderen Religion“, sondern für das Vertrauen auf das Evangelium bei „den Moslems und den Christen, zur Bewältigung ihrer persönlichen Nöte und Lebensfragen, in der Verherrlichung des dreieinigen Gottes“.292 Ziel sei nicht, einen Muslim dazu zu bewegen „seine Religionsgemeinschaft aufzugeben, um im ‚Netz der christlichen Kirche‘ eingefangen zu werden. Es geht uns nicht um eine möglichst große Anzahl solcher ‚Fische‘, sondern darum, daß der Moslem die Güte und Barmherzigkeit Gottes des Vaters in Jesus Christus erkennt und daraus lebt. Alle weiteren Entscheidungen … wird er aus dem neugewonnen Verhältnis zum lebendigen Gott selbst fassen.“293
Muslimische und kirchliche Kritiker der christlich-islamischen Missionstätigkeit des OD waren durch diese pietistische Relativierung des Religionswechsels jedoch kaum zu überzeugen. Der mit einem formalen Religionswechsel verbundene soziale Bruch im muslimischen Umfeld schien durch die Übertragung des pietistischen, innerlichen Bekehrungsverständnisses auf die Konversion von Muslimen zwar entschärft, war aber letztlich nicht aufgehoben. Dies war auch Höpfner bewusst, der betonte, dass das islamische Apostasieverbot auch in der Migrationssituation weiter wirke, auch wenn „die Situation derer, die hier in Deutschland zu Christus gefunden haben … in mancher Hinsicht leichter [ist]“.294 Obwohl die rechtliche Situation sich durch die Abschaffung der Scharia in vielen Ländern verbessert habe, werde „die islamische Volksmeinung nach wie vor von dem altislamischen Gesetz [bestimmt], das in dem Bekehrten nicht nur einen Übertreter der islamischen Sharia sieht, sondern ihn auch zum Verächter der islamischnationalen Vollbürgerschaft stempelt“.295 Die sozialen Folgen der als innerer Wie290 291 292 293
Ebd. 3. Ebd. 2–3. Höpfner, Jahresbericht 1969/1970, in: NEMO 3/1970, 41. Höpfner, Gastarbeiterfamilien, 1978, 7. Mit diesen Perspektiven befand sich Höpfner in großer Nähe zu Craggs Konzept der muslimischen „Lovers of Jesus“ sowie zur kontextuellen Islammissiologie bei Charles H. Kraft und der Lausanner Bewegung, s. II.C.2. und II.E.3. 294 Höpfner, Von Mohammed, 1976, 9. Aus islamischer Sicht gelte nach wie vor das „Gesetz vom Abfall des Islam ... mit den entsprechenden Auslegungen“, Höpfner, Verantwortung, Protokoll, ODT, 1965, 2. 295 Höpfner, Verantwortung, Protokoll, ODT, 1965, 2.
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dergeburt verstandenen Konversion konnten im Missionsverständnis des OD nicht ausgeblendet werden. Darüber hinaus räumte Höpfner ein, dass „eine Mission, die nur auf Gewinnung von Einzelindividuen ausgeht … Gefahr [läuft], diese Einzelnen in einem kulturellen und sozialen Vakuum zu belassen. In dieser Sphäre würden diese Bekehrten leicht zu ‚disrupted personalities‘ mit der Neigung, aus Mangel an Geborgenheit wieder in den Islam zurückzufallen.“296 Er erklärte: „Eine Bekehrung zu Christus ist nicht das Ende einer langen Bemühung der Gemeinde oder des Einzelnen. Sie ist vielmehr der Anfang einer neuen Gemeinschaft, die er dringend braucht, um im Glauben zu bleiben und zu wachsen. Die christliche Gemeinde sollte für ihn mehr sein als die islamische Umma.“297 Obwohl Höpfner an deutsche Gemeinden appellierte, „in freundschaftlicher, ja, brüderlicher Verbundenheit hinter den türkischen (bzw. arabischen) Geschwistern [zu] stehen und inneren Anteil [zu] nehmen an ihren persönlichen Schwierigkeiten“, musste er zugeben, dass „eine Eingliederung in eine deutschsprachige Gemeinde“ oft auf sprachliche und kulturelle Schwierigkeiten stieß. Deshalb förderte man im OD zunehmend die Entwicklung von eigenständigen christlichen Gemeinschaftsbildungen, vor allem im türkischsprachigen Migrationskontext.298 Insgesamt können christliche Bekehrung und Gemeinschaftsbildung als Missionsziele bei Höpfner und im OD am besten dialektisch theologisch erfasst werden, im „Hoffen, wo nichts zu hoffen ist“299 und in der Erwartung der „Möglichkeit des Unmöglichen“,300 die „bei allem Widerstand es immer wieder erfahren [wird], daß das Wort vom Kreuz eine Gotteskraft denen ist, die daran glauben“.301 g) Missionarische Gemeinschaft Als Träger des christlichen Zeugnisses unter muslimischen Migranten sah Höpfner zwar die christlichen Kirchen in Deutschland insgesamt,302 vor allem aber, in pietistischer Perspektive, die „lebendigen Christen und Gemeinden“.303 Diese missionarische ecclesiola in ecclesia suchte er durch den OD zu aktivieren: „Wer hilft mit, diese Botschaft von unserem Herrn Jesus Christus als Lebenszeugnis zu verkündigen? Ein wirksames Zeugnis kann wohl nur von einem Menschen kommen, der selbst erschrocken ist über den närrischen Versuch, sich selbst als Mittelpunkt des Lebens zu be-
296 Höpfner, Verantwortung, Protokoll, ODT, 1965, 2. Höpfner schloss sich hier John S. Trimingham an. 297 Höpfner, Von Mohammed, 1976, 9. 298 Vgl. ebd., siehe VII.B. 299 Höpfner, Dialog ohne Bekehrungsversuche, 1973, 44. 300 Mit dieser Begrifflichkeit knüpfte Höpfner an Zwemers Aufsatz über Die Herrlichkeit des Unmöglichen (EMZ 1949) an. 301 Höpfner, Dialog ohne Bekehrungsversuche, 1973, 44. 302 Er knüpfte beispielsweise an den Beschluss der Synode der EKD im November 1977 in Saarbrücken hin, in dem „die umfassende evangelistische Dimension der Kirchen neu bewußt“ gemacht wurde und schloss darin den Zeugnisauftrag gegenüber Muslimen ein. Höpfner, Gastarbeiterfamilien, 1978, 7. 303 Höpfner im Protokoll der EMO-Vorstandssitzung vom 4.8.1961, EMO-Archiv.
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V. Willi Höpfner: Biographie und Theologie trachten und der so sehr von der Liebe Jesu Christi überwältigt worden ist, dass er darüber Gott im Geist und in der Wahrheit anbetet.“304
Für die mitmenschliche missionarische Begegnung im Alltag und im Berufsumfeld sei keine besondere theologische Bildung notwendig, sondern jeder „schlichte Christ [hat] eine Aufgabe an seinem moslemischen Mitarbeiter“. Schließlich sei „das Lebenszeugnis eines Menschen stärker ist als die rein verstandesmäßige Darbietung seiner Glaubensauffassung“.305 Höpfner betonte die Bedeutung einzelner missionarischer Brückenbauer in den Kirchen: „Bitte helfen Sie auch mit, dass in den Kirchen und Gemeinschaften, denen Sie angehören, die Mission ihren Platz behält. Man kann nicht an Christus glauben, man kann nicht von seiner Barmherzigkeit leben, ohne es anderen weiterzusagen, was Christus an Freude und Freiheit geschenkt hat.“306 Die freie Arbeitsgemeinschaft des OD, an der sich Kirchen und Missionswerke beteiligten, verstand Höpfner in der Perspektive der Einheit von Kirche und Mission, wie sie auf der Dritten Vollversammlung des ÖRK in Neu-Dehli 1961 formuliert worden war. Dort sei „eine Wendung der Dinge zum Besseren“ eingetreten, da sich orthodoxe, protestantische und anglikanische Christen „zu gemeinsamen Beratungen zusammenfinden“. „Der Internationale Missionsrat [wird] … sich mit dem Weltkirchenrat vereinigen zu der Aufgabe, der nichtchristlichen Welt das Evangelium zu bringen“.307 Höpfner begrüßte es, dass „die Vertreter der Missionsgesellschaften und der Kirchen [in Neu-Dehli] ein Ja gefunden haben zu einer Verschmelzung von Kirche und Mission. Der Gedanke ist richtig, daß die Mission nicht Sache eines Vereins, sondern die Pflicht der Kirchgemeinde und der Gesamtkirche Jesu Christi ist.“ 308 Im Blick auf die Praxis war er jedoch eher skeptisch: „Doch wie sieht es tatsächlich in unseren Gemeinden aus? … Werden wir nach dem Zusammenschluß von Kirche und Mission noch bequemer als bisher unsere Verpflichtung zur Mission der großen kirchlichen Organisation aufbürden?“309 Gerade in dieser Hinsicht wollte Höpfner durch die freie Arbeitsgemeinschaft des OD einen konkreten Beitrag zur aktiven Zusammenarbeit leisten. h) Höpfner im Kontext deutschsprachiger Missionstheologie Höpfners Missionstheologie im Kontext des OD spiegelt den spannungsvollen Konsens der deutschsprachigen Missionstheologie, wie er auf der Weltmissionskonferenz des ÖRK in Mexico-City 1963 zum Ausdruck kam, wider.310 Das evangelische Zeugnis unter muslimischen Migranten in Deutschland im Rahmen des OD war nicht nur in besonderer Weise eine Umsetzung des Mottos von Mexi304 305 306 307 308 309 310
Höpfner, Allah, 1964, 3. Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 3–4. Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 4/1975, 64. Höpfner, Anfänge, 1961, 11. Höpfner, Jahresbericht 1962/1963 in: NEMO 3/1963, 30. Ebd. Vgl. Müller-Krüger, In sechs Kontinenten, 1964.
V. Willi Höpfner: Biographie und Theologie
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co-City, Mission in sechs Kontinenten,311 sondern brachte auch die dort vertretene holistische Zusammengehörigkeit diakonischer, dialogischer und evangelistischer Praxis zum Ausdruck. Auch mit seiner religionstheologischen Sicht des Islam befand sich Höpfner ganz in der Nähe der deutschsprachigen Beiträge von Mexico-City. Ein maßgeblicher Vertreter der deutschen Delegation, der Missionswissenschaftler und Bischof Heinrich Meyer,312 formulierte die paradoxe Spannung zwischen interreligiösem Verstehen und christlichem Bezeugen in seinem Vortrag Begegnung mit anderen Religionen so: „Unser Glaube an Jesus Christus ist die Kraft, die uns treibt, andere Menschen zu suchen und zu lieben, und er ist gleichzeitig doch die Trennungslinie zwischen ihnen und uns.“313 Dabei müssten Christen sich bemühen, Menschen anderer Religionen so zu verstehen und „ernst zu nehmen, wie Gott uns ernst genommen hat, als er in Christus Jesus Mensch wurde“.314 Im Blick auf den Dialog hielt Meyer fest, „daß das Zeugnis in Gesprächsform immer noch Zeugnis bleibt“315 und präzisierte: „Der Christ muß deshalb voll Kühnheit alle Menschen dazu aufrufen, daß sie Antwort geben auf das, was für sie getan worden ist. ... Die christliche Mission ist die Verkündigung dieser Botschaft an die ganze Welt: Lasset euch versöhnen mit Gott.“316 Die von Meyer beschriebene Spannung zwischen „Sympathie und Einfühlungskraft“ einerseits, und differenztheologischem evangelistischem Zeugnis andererseits, prägte auch Höpfners Perspektiven. Während es in den Gremien evangelischer Weltmission in den 1960er Jahren zunächst noch gelang, diese spannungsvolle Einheit theologisch und strukturell zusammenzuhalten, wurde dies in den 1970er Jahren zunehmend schwieriger. Um die damit verbundenen intra- und interreligiösen Kontroversen, theologische und strukturelle Neuansätze kirchlicher Islamarbeit ab 1973, und die Rolle des OD in diesen Umbrüchen, geht es im nächsten Kapitel.
311 Darauf hatte Niels-Peter Moritzen schon kurz nach Gründung des OD 1964 hingewiesen, siehe IV.A.2.f). 312 Heinrich Meyer (1904–1978) habilitierte sich nach seiner Tätigkeit als Missionar in Indien 1951 an der Universität Heidelberg im Fach Missionswissenschaft. 1956 wurde er Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Lübeck. 313 Meyer, Begegnung, 1964, 86. 314 Ebd. 315 Ebd. 155, vgl. Sektionsbericht 1, in: Müller-Krüger, In sechs Kontinenten, 1964, 150. 316 Meyer, Begegnung, 1964, 147.
VI. GASTFREUNDSCHAFT ODER HAUSFRIEDENSBRUCH? KONTROVERSEN UND NEUANSÄTZE A. KONTROVERSEN IN DEN 1960ER JAHREN 1. Beschwerde der türkischen Botschaft beim Auswärtigen Amt a) Ist Mission verfassungsfeindlich? Bereits im März 1964 erfuhr Höpfner in Istanbul von alarmierten Reaktionen türkischer Zeitungen auf die missionarischen Bemühungen in Deutschland.1 Auch der DEMR kannte „Alarmberichte der türkischen Presse …, die offenbar gar nicht kalt bleibt über dem Gedanken, daß Türken in Deutschland ‚missioniert‘ werden“.2 Bald fand der türkische Protest auch in Deutschland Ausdruck. Im März 1965 wandte sich die türkische Botschaft (Bonn) ans Auswärtige Amt der Bundesrepublik in Bonn, anlässlich eines türkischsprachigen christlichen Traktats mit dem Titel Bir Zenci Kölenin Hayrete Sayan Hikayesi („Die wunderbare Geschichte eines schwarzen Sklaven“), das von einigen Christen an türkische Arbeitsmigranten verteilt worden war.3 In einem Aide-Mémoire wurde die Beschwerde der Botschaft zusammengefasst: „Die Türkische Botschaft erhält in letzter Zeit verschiedentlich Zuschriften von in der Bundesrepublik beschäftigten türkischen Arbeitnehmern, die Beschwerde führen, dass ihnen durch die Post eine Broschüre übersandt wurde, die den Titel „Bir Zenci Kölenin Hayrete Sayan Hikayesi“ („Die wunderbare Geschichte eines schwarzen Sklaven“) trägt. […] Die besagte Druckschrift … wurde offensichtlich mit der Absicht herausgegeben, in geistlicher Hinsicht Einfluss auf die türkischen Arbeiter auszuüben. Die Reaktion seitens der Arbeiter muss jedoch als ungünstig bezeichnet werden, denn das Unterfangen findet nicht nur keine Resonanz, sondern stösst auf offene Ablehnung. Da die türkischen Arbeiter zudem anzunehmen scheinen, dass die Broschüre auf Veranlassung einer Behörde herausgegeben worden ist, so sind die Auswirkungen von besonderem Nachteil. Die Türkische Botschaft würde es aus diesem Grund dankbar begrüssen, wenn der vorgetragene Sachverhalt dem Herausgeber zur Kenntnis gebracht und entsprechende Massnahmen gegen die weitere Verbreitung getroffen werden könnten.“ 4
Einen Monat später teilte das Auswärtige Amt (AA) der türkischen Botschaft mit, dass es „die zuständigen deutschen Behörden von der Angelegenheit in Kenntnis 1 2
3 4
Höpfner, Brief an Hoffmann, 22.6.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Hoffmann, Brief an Höpfner, 11.11.1965, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. Die konservative Zeitung Tercüman klagte darüber, dass „unter unseren im Ausland befindlichen Arbeitern … christliche Propaganda betrieben“ werde, zit. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 141. Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 141. Zum Hintergrund siehe IV.B.3.b) sowie IV.C.2. Aide-Mémoire der Türkischen Botschaft vom 23.3.1965 an AA, PA AA B 85 Band 642.
VI. Gastfreundschaft oder Hausfriedensbruch? Kontroversen
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gesetzt und um Maßnahmen gegen die Verbreitung der Broschüre gebeten“ habe.5 Gleichzeitig wurde die Beschwerde an das Bundesministerium des Inneren (BMI) weitergeleitet „mit der Bitte um Kenntnisnahme“ und „zu prüfen, ob die weitere Verbreitung verhindert werden kann“.6 Das BMI fragte beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nach. Dort lagen zum „geschilderten Sachverhalt ... keine Erkenntnisse vor“, doch man habe „weitere Ermittlungen eingeleitet“.7 Die im Bereich der Verteilung des Traktats zuständige Polizei wurde beauftragt dem Problem der „Beeinflussung türkischer Gastarbeiter“ nachzugehen. Im Polizeibericht konnte dann jedoch nur festgestellt werden, dass die Mission für Süd-OstEuropa mit Sitz in Geisweid sich um „die religiöse Betreuung von Gastarbeiter[n]“ kümmere, aber „in kriminalpolizeilicher oder staatsabträglicher Hinsicht … keine Erkenntnisse“ vorlägen und „von weiteren Ermittlungen Abstand genommen“ werde.8 Ende September teilt das BMI dem AA mit, dass es keinen Hinweis darauf gebe, dass die verteilte Broschüre „strafrechtlich oder verfassungsfeindlichen Inhalt“ habe und man „daher keine Möglichkeit [sehe], die weitere Verbreitung der Broschüre zu verhindern“.9 Das AA bemühte sich jedoch weiter und fragte intern im zuständigen Referat (Kulturabteilung) an, „ob über die zuständigen kirchlichen Stellen eine weitere Verbreitung der Broschüre an türkische Gastarbeiter zu verhindern“ sei.10 Das Referat teilte mit, dass es sich bei der für die Verteilung verantwortlichen Mission „nach Auskunft der Evangelischen Kirchenkanzlei um eine freikirchliche Sekte“ handle, „die keine offizielle Verbindung zu der Evangelischen Kirche in Deutschland unterhält“. Von kirchlicher Seite werde „der Versuch einer Einflussnahme auf derartige Sekten als aussichtslos angesehen …, da diese ihre Werbetätigkeit als ihren besonderen Auftrag betrachten und es weder rechtliche noch praktische Möglichkeiten gibt, auf sie in dem gewünschten Sinne einzuwirken“. Die Kirchenkanzlei (EKD) bot dem AA jedoch an, den Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR) zu bitten, „sich in die Gelegenheit einzuschalten und zu versuchen, auf die Mission privatim einzuwirken“.11 b) Der Brief des Deutschen Evangelischen Missionsrats (DEMR) Ein halbes Jahr später, im April 1966, erreichte die Beschwerde der türkischen Botschaft das AA erneut. Nun entschied man, den DEMR zu bitten, auf die Mission „einzuwirken, die Übersendung derartiger Schriften an türkische Arbeitneh-
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Verbalnote AA an Türkische Botschaft, 4.5.1965, PA AA B 85 Bd. 642. AA an BMI, 4.5.1965, PA AA B 85 Bd. 642. BMI an AA, 14.6.1965, PA AA B 85 Bd. 642. Bericht Polizei H. vom 17.8.1965 als Anlage zum Schreiben des BMI an das AA vom 30.9.1965, PA AA B 85 Bd. 642. 9 BMI an AA, 30.9.1965, PA AA B 85 Bd. 642. 10 AA Referat V 6 an Referat IV 3, 5.10.1965, PA AA B 85 Bd. 642. 11 AA Referat IV 3 an Referat V 6, 12.10.1965, PA AA B 85 Bd. 642.
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mer einzustellen“.12 Die Antwort des DEMR war freundlich, aber bestimmt. Zunächst korrigierte Exekutivsekretär Niels-Peter Moritzen die Darstellung der Kirchenkanzlei, bei der MSOE handle es sich um eine freikirchliche Sekte. Die MSOE sei „eine unabhängige Arbeit“, „die aus der Schlesischen Gemeinschaftsbewegung erwachsen ist“ und unter ihren Trägern „Christen aus Landeskirchen und Freikirchen“ vereine.13 Ihr Ziel sei „die Verbreitung des evangelischen Glaubens“. Dem DEMT gehöre die MSOE nicht an. Das Anliegen des AA im Blick auf eine Einflussnahme lehnte Moritzen ab: „Wir möchten um Verständnis bitten, dass wir … von dem Versuch Abstand nehmen, … auf die Mission für Süd-OstEuropa in der gewünschten Richtung einzuwirken.“ Darüber hinaus äußerte er Unverständnis, „wieso der Postversand von werbendem Schrifttum religiöser Natur in der Bundesrepublik Deutschland Anlass zu Klagen geben kann“. Es sei deutlich, dass die Herausgabe der Schriften in geistlicher Absicht erfolgt sei. Auch der DEMT bekenne sich „satzungsmäßig zu einer solchen Absicht“ und könne dabei „die Selbständigkeit und die Verantwortlichkeit der Mitglieder in keiner Weise einschränken“. Dasselbe gelte „für die Evangelische Kirche in Deutschland, ihre Gliedkirchen und Freikirchen“, die sich „soweit uns bekannt, alle auch … zur Aufgabe der Mission“ bekennen. Von daher sei es nur folgerichtig, wenn „versucht würde, den in Deutschland lebenden nicht-christlichen Menschen, auch denen ausländischer Herkunft, den christlichen Glauben nahezubringen“. Auch sei die MSOE „keineswegs das einzige Werk, das sich dieser Aufgabe in besonderer Weise widmet“. Dabei liege es „in der Natur der Sache ..., dass man es akzeptieren muß, auf Ablehnung zu stoßen“.14 Mit dem Brief des DEMR endete die Missions-Kontroverse auf politischem Parkett, die theologische und interreligiöse Diskussion um das christliche Zeugnis unter muslimischen Migranten hatte jedoch gerade erst begonnen. 2. Missionskritik in der Konferenz für Ausländerfragen a) Umstrittene Bibelverbreitung: 18. Konferenz für Ausländerfragen 1965 Eine führende Rolle in der innerkirchlichen Kritik an missionarischen Bemühungen unter muslimischen Migranten spielte die im Kirchlichen Außenamt (EKD) angesiedelte Konferenz für Ausländerfragen (KfA)15. Während Höpfner als ehemaliger Auslandspfarrer enge Verbindungen zum Kirchlichen Außenamt hatte, dessen Vertreter auch Tagungen des OD besuchten,16 nahm der Vorsitzende der
12 AA Referat V 6 an Referat IV 3, 19.07.1966, PA AA B 85 Bd. 642; AA an Moritzen, DEMR, 29.7.1966, PA AA B 85 Bd. 642. 13 DEMR, Moritzen an AA, 12.8.1966, PA AA B 85 Bd. 642. 14 Ebd. 15 Zur Gründung und frühen Geschichte der KfA siehe III.A. 16 Vertreter des KA nahmen zwischen 1963 und 1974 regelmäßig an OD-Tagungen teil, vgl. Teilnehmerübersichten, OD-Archiv, sowie IV.B.1.
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KfA, Gerhard Stratenwerth, zugleich Vizepräsident des KA, eine kritische Haltung zum missionarischen Ansatz des OD ein. Die 18. Konferenz für Ausländerfragen am 4. November 1965 widmete sich dem Thema der „Begegnung zwischen Christen und Moslems“ in Deutschland.17 Als Referenten nahmen, neben Stratenwerth selbst, Ali Sait Yüksel, Mitarbeiter der AWO-Beratungsstelle in Frankfurt/Main, sowie der Mainzer Missionswissenschaftler Walter Holsten und Jacques Beaumont, Leiter des französischen Comité Inter-Mouvements Auprès Des Evacués (CIMADE),18 teil. Beaumont beschrieb die Arbeit der CIMADE als „mehr als nur Sozialarbeit“.19 Das Ziel sei auch der Dialog, nämlich der französischen Mehrheitsbevölkerung die „Gebräuche“ und „geistlichen Deutungen“ des Islam zu vermitteln und für Verständnis zu werben. Den Auftrag der Kirchen sah er darin, die muslimischen Migranten als „islamische Bürger“ ernst zu nehmen, um sie zugleich offen zu machen für das Gespräch mit Christen. Vor allem wenn Muslime nach Nordafrika zurückkehrten, sollten sie in der Lage sein „mit den Christen frei zu sprechen und frei zu leben“. Statt missionarischer Intentionen empfahl Beaumont dieses Konzept gegenseitiger „religiöser Freiheit“ als Leitbild für die kirchliche Arbeit unter muslimischen Migranten – auch in Deutschland: „Religiöse Freiheit ist auf einer Achtung für den anderen gegründet. Ich glaube, dass alle diese Arbeit für Gastarbeiter und ausländische Arbeiter etwas Fundamentales mit religiöser Freiheit zu tun hat, daß wir langsam lernen, aus der traditionell missionarischen Arbeit der Kirchen herauszukommen in eine neue Form des Dienstes und des Zeugnisses der Kirchen.“ 20
Der türkische Muslim Ali Sait Yüksel21 grenzte sich sowohl von „fanatischen Islamanhängern“ der Imam-hatip-Schulen als auch von christlichen Missionsbemühungen unter Muslimen ab. Stattdessen beschrieb er die Vision einer Synthese von europäischem Humanismus und reformiertem Islam – eine Vision, die er mit vielen Intellektuellen in der Türkei teile. „Auch unter den zeitgenössischen islamischen Theologen“ gebe „es genügend fortschrittlich gesinnte, denen jedoch die vereinigende Kraft durch die gegenwärtigen politischen Umstände entzogen wird“. Yüksel plädierte dafür, dass „christliche Gelehrte … brüderliche Hilfe anbieten, ohne sich jedoch zur Durchsetzung des eigenen Glaubens in den Vordergrund stellen zu wollen“. „Durch systematisch ausgebaute Tagungen und Kongresse, zu denen islamische Theologen und Religionsphilosophen einzuladen wären, könnten die theoretischen, exakten Erkenntnisse der abendländischen Wissenschaften diskutiert werden.“22 17 Vgl. Protokoll der 18. KfA, 4.11.1965, EZA 6/8610. 18 Das CIMADE war 1939 als protestantisches ad hoc-Hilfswerk gegründet worden, um elsässischen Flüchtlingen in der Zeit der deutschen Besatzung zu helfen. Ab 1956 widmete es sich der sozialen und dialogischen Arbeit unter Muslimen in Algerien und Frankreich. Vgl. Adams, Conscience, 1998, 73ff.247. 19 Beaumont, Die islamischen Arbeitnehmer in Frankreich, 1965. 20 Ebd. 21 Vgl. Yüksel, Reformation des Islam, 1966. Alle weiteren Zitate dort. 22 Yüksel, Noch einmal, 1966, 40.
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VI. Gastfreundschaft oder Hausfriedensbruch? Kontroversen
Der Missionswissenschaftler Walter Holsten (siehe unten VI.A.3.) knüpfte an diese Perspektiven an und betonte, das Islambild der Christen müsse den Wirklichkeiten des Islam entsprechen („kein falsch Zeugnis“); aus der alten Gegnerschaft müsse Freundschaft und Gastfreundschaft werden. Als Gäste und Mitmenschen müssten muslimische Migranten an „Freiheit, Menschenwürde und soziale[r] Gesinnung und Tat“ teilhaben.23 Als Gast und Gegenüber sei der Muslim kein „Objekt der Betreuung oder der Bekehrung“. Im Unterschied zu seinen Mitreferenten hob Holsten jedoch hervor, Christen seien beauftragt, das Heilsangebot in Christus auch den Muslimen bezeugen. Sie hätten „nicht das Recht, aus lauter Höflichkeit … von dem zu schweigen, der sie nun einmal zu Zeugen berufen hat“. Dies bedeute „Jesus Christus als den zu nennen, der auch für den Moslem gestorben ist“. „Menschen zu gewinnen“ sei Christi Sache, „der Christen Sache ist es, Zeugen zu sein“.24 In der Aussprache unterstrich Stratenwerth vor allem Beaumonts Kritik an der traditionellen Mission: „bevor es zu einem wirklichen Gespräch über Glaubensdinge kommen“ könne, müssten den Muslimen „die äußeren Möglichkeiten gegeben werden, ihres Glaubens zu leben, z.B. durch die Bereitstellung von Gebetsplätzen“.25 Nur in einem gegenseitigen „Gespräch ... kann das christliche Zeugnis in engerem Sinn seinen Platz finden“. Es sei „keinesfalls ... christlich, die türkischen Moslems in ihrer seelischen Notlage – durch den Aufenthalt in der Fremde bedingt – als billige Missionsobjekte zu betrachten“. Holsten erklärte jedoch, dass auch „die Bibelverbreitung in Verbindung mit der Verkündigung durchaus ihre Berechtigung hat“. Beides müsse in ein respektvolles gegenseitiges „Gespräch über Glaubensdinge“ eingebunden sein. Dass mit diesen sich ergänzenden Perspektiven die Fragen keineswegs geklärt waren, zeigt ein Rundschreiben, das Stratenwerth im Anschluss an die 18. KfA an alle Teilnehmer richtete. Darin berichtet er, dass „der Evangelische Ausländerdienst e.V. Solingen,26 unter Berufung auf die Thematik der 18. Konferenz für Ausländerfragen ‚Begegnung zwischen Christen und Moslems‘ um Geldspenden für den Druck einer deutsch-türkischen Fassung des Johannesevangeliums bittet, die im Rahmen der evangelistischen Arbeit des Ausländerdienstes an türkische Arbeitnehmer verteilt werden soll“.27 Obwohl Holsten sich während der Konferenz positiv zur Bibelverbreitung geäußert hatte, fährt Stratenwerth fort: „Das Schreiben des Ausländerdienstes veranlaßt uns zum Hinweis auf die … Aussprachen im Anschluß an die Referate von Pastor Beaumont und Professor Holsten. 23 Holsten, Begegnung, 1965. 24 Ebd. 7. Diese Perspektiven vertiefte Holsten in seinem Aufsatz The Muslim Presence in the West im IRM 1966, in dem er den OD als missionarisches Modell der Islambegegnung beschrieb, siehe VI.A.3. 25 Protokoll der 18. KfA, 4. Nov. 1965, 4, EZA 5111/08, Sign. 6/8610. Alle weiteren Zitate dort. 26 Zum Ev. Ausländerdienst (EAD) und seiner Rolle im OD siehe IV.B.3.c). Der EAD nahm auch an den KfA teil, vgl. z.B. Adolf Welter, Leiter des EAD, auf der Teilnehmerliste der 16. KfA 1964, EMW-Archiv, DEMR2, AG543. 27 Stratenwerth, Rundschreiben an die Teilnehmer der 18. KfA, 30.1.1966, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818.
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Hieraus geht hervor, daß die Werbeaktion des Evangelischen Ausländerdienstes nicht unter Berufung auf die Ausländerkonferenz erfolgen kann.“28 Die sich hier abzeichnende Polarisierung der Ansätze setzte sich auf einer gemeinsamen Missionsstudientagung der KfA und der Kammer für Mission und Ökumene (KMÖ) der EKHN in Arnoldshain wenige Monate später fort. b) Umstrittene Bekehrung: Missionsstudientagung Arnoldshain, Juni 1966 Auf der gemeinsamen Missionsstudientagung von EKHN und KfA im Juni 1966 in Arnoldshain zum Thema „Die Lage der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik“ forderte KA-Vizepräsident Stratenwerth, dass mit „dem Engagement des Christen für den ausländischen Arbeitnehmer … keineswegs … der Zweck einer Bekehrung des Andersgläubigen, sei er nun Katholik, Orthodoxer oder Moslem, verbunden sein“ dürfe.29 Kirchliche Kommentatoren unterstrichen: das Evangelium werde von Migranten nur verstanden „wenn ihnen absichtslos geholfen wird: Also nicht auf sie eingehen, um sie zu bekehren, sondern auf sie eingehen, weil sie Hilfe brauchen. Vielleicht kommt es anschließend dann zu einem Gespräch über den Glauben, der Beweggrund für unsere Hilfe ist. .... Die Kirche soll hier einfach Lückenbüßer sein. In einigen Jahren werden sich die Leute dann selbst zurechtfinden, und dann wird die Kirche nicht mehr in dem Maße gebraucht werden.“30
Der DEMR sah in diesen Äußerungen eine unnötige Polarisierung des Verständnisses des christlichen Zeugnisses unter Muslimen und nahm Stellung. DEMRTheologe Gerhard Hoffmann31 äußerte sich verwundert über „diese Sätze … aus dem Mund von Theologen“.32 Er räumte ein, dass es sicherlich „einen hemdsärmeligen Stil der Evangelisation [gibt], der … dem Evangelium im Wesen fremd ist“, wandte sich aber entschieden gegen die Ablehnung einer Bekehrungsintention. Diese Ablehnung zeige eine „stammesreligiöse“ Haltung und eine Tribalisierung des christlichen Glaubens: „Während die Welt immer kleiner wird, soll ausgerechnet die Kirche Jesu Christi den religiösen Status quo garantieren. Die zeugnislose Gemeinde aber ist nichts anderes als eine moderne Stammesreligion: man gehört dazu … weil man in Hessen-Nassau, Westfalen oder einer anderen christlich geprägten Weltgegend geboren ist! Nein, das ist nicht ‚ökumenisches‘ Denken, das ist kleinbürgerlicher religiöser Provinzialismus. … Wir sind nicht für ‚Mission mit dem Holzhammer‘! Wir meinen nur: Wer von der vergebenden Liebe Jesu Christi lebt, sollte demütig genug sein, auch den Muslims in Tat und Wort zu bezeugen, was ihm selbst aus Gottes Gnade geschenkt ist.“33
28 Stratenwerth, Rundschreiben, 30.1.1966, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 29 Zit in: Die ausländischen Arbeitnehmer: Missionsstudientagung in Arnoldshain, in: Weg und Wahrheit, 10.6.1966, 543. 30 May et al, Was gehen uns die ‚Gastarbeiter‘ an? in: Weg und Wahrheit, 14.8.1966, 615. 31 Zu Gerhard Hoffmann siehe IV.B.2. 32 Hoffmann, Editorial, 1966, 1. 33 Ebd.
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3. Gastfreundschaft und Mission: Walter Holsten als Vermittler Trotz mancher ablehnender Stimmen fand der missionarische Ansatz des OD in den 1960er und 1970er Jahren in Kirche und Theologie auch Unterstützung. Ein wichtiger, wenn auch nicht unkritischer Befürworter der missionarischen Arbeit des OD war der bereits erwähnte Missions- und Religionswissenschaftler Walter Holsten. Holsten, der seit 1947 einen Stiftungslehrstuhl der Goßner-Mission an der Mainzer Universität innehatte, entwickelte sein missionstheologisches Denken relativ unabhängig von der polarisierten Diskussion zwischen einem heils- und verheißungsgeschichtlichen Modell der Mission.34 Im Anschluss an den existentialen theologischen Entwurf bei Rudolf Bultmann (1884–1976) sah Holsten das neutestamentliche kerygma von der Rechtfertigung des Sünders durch den Tod und die Auferstehung Christi als „eigentliche Mitte der biblischen Botschaft“ und als zentrale Begründung und Inhalt der Mission.35 In Das Kerygma und der Mensch (1953) war Holsten zwar nicht speziell auf die christlich-islamische Beziehung eingegangen, lehnte aber die polemische „Auseinandersetzung“ und „Apologetik“ als eine „Haltung des Anti“ ab.36 Dies entspreche „nicht der Wirklichkeit christlicher Mission, in der es nicht um Bekämpfung, Überwindung und Vernichtung der nichtchristlichen Religionen durch das Christentum geht, sondern dass durch Verkündigung, durch Predigt und Taufe, Menschen aus diesen Religionen herausgerufen, gerettet werden.“37 Anstelle einer Haltung der Überlegenheit und Absolutheit der eigenen Religion, müsse „Verständigung das Ziel“ werden.38 Dennoch sei es Ziel der missionarischen Arbeit „zur Taufe [zu] führen“, der – im Vergleich zur volkskirchlichen Situation in Deutschland – „in ganz anderem Maße …. der Charakter der Entscheidung eigen bleibt“ und die „eine deutliche abrenuntiatio diaboli einschließt“. Die Hinwendung zum christlichen Glauben sei allerdings ein Prozess, der „in der persönlichen Bekehrung zu seinem Ziele kommt“.39 Auf diesem missionstheologischen Hintergrund reflektierte und unterstützte Holsten seit Bethel 195940 die missionarische Begegnung mit muslimischen Migranten, auch als Referent in der Ausländerarbeit der SMD.41 In seinem Aufsatz The Muslim Presence in the West (1966) im International Review of Mission beschrieb Holsten die Arbeit des Orientdienstes als Teil einer gesamtgesellschaftlichen christlichen Gastfreundschaft, als deren Herz er das missionarische Kerygma
34 Vgl. Hock, Spiegel, 1986, 197; Gensichen, Holsten, in: BDCM, 1998, 301; Balz, Anfang, 2010, 313–314; zu heils- und verheißungsgeschichtlichem Modell s. II.C.1., zu Holsten s. II. C.4.a). 35 Gensichen, Wort, 1971, 49–50, vgl. 25. 36 Holsten, Kerygma, 1953, 41. 37 Ebd. 42. 38 Ebd. 39 Ebd. 171–172. 40 Siehe II.C.4.a) (zu Bethel). 41 Siehe III.C.4.
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sah: die „Botschaft von dem entscheidenden und zur Entscheidung rufenden Handeln Gottes in Christus“.42 Für die 220.000 Muslime, die sich als Studenten, Praktikanten oder Arbeiter in Deutschland aufhielten, waren nach Holsten zunächst die Akademischen Auslandsämter der Universitäten, die Carl-Duisberg-Gesellschaft (für Praktikanten) sowie die AWO für die türkischen Gastarbeiter zuständig. Obwohl diese „Institutionen einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft in ihrem Selbstverständnis nichtkonfessionell“ seien, sah Holsten sie als Institutionen der Fürsorge im „christlichen Glauben und Ethos“ der Nächstenliebe begründet.43 Ohne explizite missionarische Verkündigung sei diese Prägung gefährdet: „One must be careful that the spring … does not become stopped up.“44 Deshalb sei die christliche Verkündigung „the Alpha and Omega of the Church’s task, even among Muslims“.45 Hier sah er die besondere Rolle des OD und zitierte aus der Gründungsversammlung in Wiesbaden im Jahr 1963: „The German Orient missions form a free working group of service to those of the East [= Orientdienst] for the fulfillment of the missionary tasks which arise for us through the presence of Muslims in Germany. Other missionary societies who wish to co-operate in this task are invited to participate.“46 Entgegen einer Polarisierung von Diakonie (care) und Evangelisation (mission) betonte Holsten ihre Zusammengehörigkeit in einer ganzheitlichen Mission. Zwischen beiden bestehe zwar eine Spannung. Die Befürworter der Diakonie empfänden missionarische Intentionen als störend. Berechtigt sei dabei, „dass die Bedürfnisse der Betreuten nicht für missionarische Zwecke missbraucht werden dürfen.“47 Andererseits „vertrocknet die Diakonie von ihren Wurzeln her, wenn sie nicht kausal und teleologisch von der Liebe Christi motiviert ist. … Fürsorge bekommt ein neues Angesicht durch das christliche Evangelium, von dem Mission bestimmt ist.“48 Die Spannung versuchte Holsten durch Kraemers Verständnis der communication49 sowie Martin Bubers Dialogverständnis50 zu überbrücken. Entscheidend sei, dass muslimische Migranten weder durch care noch durch mission zum Objekt gemacht würden. Kraemer habe „Kommunikation“ als „meeting eye to eye, heart to heart“ verstanden. Buber habe die Rückhaltlosigkeit (im positiven Sinn als unvoreingenommene Offenheit) als Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen gesehen.51 42 Holsten, Kergygma und Mensch, 1953, 43. 43 Holsten, Muslim Presence, 1966, 448. Als Werte christlicher Herkunft nannte Holsten auch freedom, human worth, social welfare. Den Migranten empfahl er als Sichtweise auf die bundesdeutsche Gesellschaft: „That which surrounds him has its origins in the Gospel.“ Ebd. 452. 44 Ebd. 449. 45 Ebd. 46 Holsten, Muslim Presence, 1966, 449. 47 Ebd. 450, Übersetzung FW. 48 Ebd. Übersetzung FW. 49 Zu Kraemers Konzept der communication siehe II.B.3.c). 50 Vgl. Holsten, Buber, RGG3, 1957, 1453; Rosenkranz, Christliche Mission, 1977, 389. 51 Holsten, Muslim Presence, 1966, 450.
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In Anspielung auf die gängige Rede von den Gastarbeitern betonte Holsten das Prinzip der Gastfreundschaft. Dass Muslime sich als „Gäste“ in Deutschland befänden, sollten gerade Christen durch die Worte Jesu „Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt“ (Mt. 24, 34ff) tiefer verstehen können und als „bindenden Auftrag“ ernst nehmen.52 Dabei könne man nicht so tun, als ob Kreuzzüge und Kolonialismus nie stattgefunden hätten.53 In Anknüpfung an Kenneth Craggs Konzept des retrieval54 beschreibt Holsten die ganzheitliche Weitergabe der Liebe Christi als beste Form der Wiedergutmachung: „Christians who know and come from the fellowship which God seeks with men through Jesus Christ, must in turn seek fellowship with those to whom they have denied it.“55 Als dritte Dimension ganzheitlicher Mission neben Diakonie (care) und Evangelisation (mission) nannte Holsten den Dialog. Wie Höpfner56 warnte er vor kontroversen interreligiösen Debatten, in denen man versuche, „den anderen zu besiegen (to win over the other) und zum Opfer und Objekt der eigenen Überlegenheit“ zu machen: „die Bitterkeit, die durch solche Situationen verursacht wird, geht nicht auf das Ärgernis des Evangeliums zurück.“57 Beim Dialog gehe es nicht um die „Diskussion von Glaubensartikeln“, sondern um ein „Gespräch, das sich aus der Rückhaltlosigkeit ergibt, die Martin Buber so eindrücklich beschrieben hat.“ Wo Rückhaltlosigkeit praktiziert werde, entstünden „viele und freundliche Beziehungen … und der andere wird aus der Einsamkeit errettet“.58 Dialog bedeute jedoch ebenso wenig, dass Christen verschweigen, „dass sie diese Probleme von ihrer Beziehung zu Jesus Christus her sehen und angehen“. „[Christen] sollten ... von dem sprechen, was ihnen geholfen hat. Nicht um einen Erfolg zu erzielen, sondern um dessen willen, der Ermutigung braucht.“ Das „Zeugnis von Jesus Christus“ ergebe sich „ganz natürlich, wenn der Christ bei dem anderen steht und für ihn einsteht mit dem Zeugnis von dem, der für ihn selbst eingestanden ist“.59
52 Ebd. 451. 53 An anderer Stelle erläuterte Holsten, dass „von den Moslems die Kolonialmächte eben als christliche Mächte angesehen wurden, als die sie sich ja auch gaben“. Holsten, Begegnung, 1965, 2. 54 Zu Craggs Konzepten siehe II.C.2.b). 55 Holsten, Muslim Presence, 1966, 451. 56 Siehen oben V.D.2.e). 57 Holsten, Muslim Presence, 1966, 452, Übersetzung FW. 58 Ebd. 453, Übers. FW. 59 Ebd. Übers. FW. Siehe auch Holstens Referat vor der KfA 1965 unter VI.A.2.a). Holsten präzisiert und relativiert hier seine frühere Mahnung, dass interreligiöse Diskussion „das Kerygma verdunkelt, sofern die Miteinander diskutierenden genötigt sind, sich auf eine gemeinsame Ebene zu begeben, so daß das Kerygma gleicher Art mit heidnischer Religion wird“, Holsten, Kerygma und Mensch, 1953, 173.
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Weitere Vermittlungsperspektiven in Theologie und Kirche Walter Holstens vermittelnde Missionstheologie war Teil eines spannungsvollen Konsenses zwischen diakonischen, dialogischen und evangelistischen Interpretationen des christlichen Zeugnisses unter Muslimen wie er sich bis Ende der 1960er Jahre in der kirchlichen Landschaft hielt. Auf institutioneller Ebene schlug sich dieser (keineswegs unumstrittene) Konsens vor allem im DEMR und im OD nieder, auf akademischer Ebene – trotz aller Unterschiede im einzelnen – auch in den Perspektiven von weiteren Missions- und Religionswissenschaftlern wie Gerhard Rosenkranz (Tübingen bis 1964), Hans-Werner Gensichen (Heidelberg), Georg Vicedom (Neuendettelsau), Niels-Peter Moritzen (Erlangen ab 1968) oder Stephen Neill (Hamburg 1962–1967). Auch der Bericht „Christlicher Glaube und Dialog“, den die Theologische Kommission des DEMR und der EAGWM 1970 vorlegten,60 war von der Bemühung um Konsens und Zusammenhalt geprägt. Der Bericht zeichnet die Aufnahme des Dialog-Begriffs seit Mexico-City 1963 nach und kommt zu einer positiven Haltung zum Dialog, die christozentrische Verwurzelung mit interreligiöser Offenheit verbindet. Der Christ, der sich „vorbehaltslos, d.h. mit seiner ganzen Existenz dem Dialog stellt, kann … von seiner Gebundenheit an Christus nicht absehen“.61 Damit „die Wahrheit des Evangeliums wirklich ‚angeeignet‘ werden“ könne, müsse sie jedoch dem „dialogischen Prozess ausgesetzt werden, d.h. sie muß sich gefallen lassen, der Reflexion, der Verknüpfung mit anderen Wahrheiten und der praktischen Erprobung … ausgesetzt zu werden“.62 Doch trotz dieser vermittelnden Bemühungen, um eine ausgewogene und differenzierte Sicht, führten radikalere Stimmen spätestens Anfang der 1970er Jahre zu einem zunehmenden Auseinanderdriften der missionstheologischen Positionen und schließlich auch zu einer Ausdifferenzierung der kirchlichen Islam-Initiativen. Diese Entwicklung spiegelte zwar die wachsende Komplexität der gesellschaftlichen Herausforderungen sowie die zunehmende Pluralität kirchlicher Gruppierungen und theologischer Ansätze wider, trug aber auch die Gefahr des Verlusts der Wahrnehmung einer gemeinsamen Diskussions- und Handlungsgrundlage in sich. Deutlich schlug sich die zunehmende Polarisierung auch in der Ende der 1960er Jahre aufkommenden missionstheologischen Nomenklatur von evangelikal und ökumenisch nieder.
60 DEMR/EAGWM, Dialog, 1970. 61 Ebd. 103. 62 Ebd.
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B. EVANGELIKAL ODER ÖKUMENISCH? DER ORIENTDIENST ZWISCHEN FRANKFURT UND BANGKOK 1970–1973 Bereits Mitte der 1960er Jahre hatte sich die Polarisierung der missionstheologischen Positionen auf internationalem Parkett deutlich verstärkt.63 Die 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 vertrat mehrheitlich eine sozialpolitisch und dialogtheologisch orientierte Interpretation christlicher Mission.64 Konfessionelle und evangelikale Theologen innerhalb des ÖRK kritisierten dies als einseitige Fokussierung auf politische und soziale Anliegen unter Vernachlässigung des geistlichen Charakters der Kirche und der missionarischen Verkündigung.65 Verschärft wurde die Diskussion durch gegenseitige Vorwürfe der Häresie und die wiederholte Ausrufung eines status confessionis durch beide Seiten der Kontroverse.66 Die alten Gräben der 1920er und 1930er Jahre zwischen social gospel und evangelistic approach waren in Form des postulierten Gegensatzes zwischen evangelikal und ökumenisch neu aufgebrochen.67 In der deutschsprachigen protestantischen Diskussion wurde die Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission von 1970 in gewisser Weise zum Symbol dieser missionstheologischen Auseinandersetzung und einer Polarisierung,68 die auch bisherige Strukturen der Zusammenarbeit wie im DEMT oder im OD in Frage zu stellen schien. 1. Die Frankfurter Erklärung und die evangelikalen Missionen Die sich seit Mitte der 1960er Jahre in Deutschland formierende evangelikale Bewegung verband sehr unterschiedliche pietistische, konfessionelle und freikirchliche Gruppen, konstruierte sich aber als übergreifende geistliche Erneuerungsbewegung um die theologischen Symbole der Bibel als „vertrauenswürdige Urkunde von Gottes Offenbarung“, des Evangeliums als Botschaft vom „Erlösungswerk Christi am Kreuz“, der „persönlichen Bekehrung“ als Antwort des Glaubens und Beginn eines Lebens in der Nachfolge Christi sowie eines evangelistisch-erwecklichen Missionsverständnisses.69 Der aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch ins Deutsche rückübersetzte Neologismus „evangelikal“70 diente der identitätsbildenden Abgrenzung gegenüber liberalisierenden Tendenzen im 63 64 65 66 67
Siehe II.D. und E. Vgl. Frieling, Uppsala, 2007, 181. Siehe II.E.1. Vgl. Frieling, Uppsala, 2007, 181. Vgl. eine der frühesten Verwendungen der Begrifflichkeit bei Norman Goodall, Die ‚Evangelicale‘ und die ‚Ökumenische‘ Bewegung (EMZ 1963). 68 So auch die Wahrnehmung von Moritzen, Evangelikal, 1975, der meint, der Begriff evangelikal sei „in Deutschland … erst seit der Frankfurter Erklärung (1970) üblich geworden“. Laut Peter Beyerhaus wurde der Begriff bereits seit dem Weltkongress für Evangelisation von Berlin 1966 gebräuchlich, vgl. Jung, Evangelikale Bewegung, 1994, 7. 69 Brandl, Mission in evangelikaler Perspektive, 2003, 178–179. 70 Im Englischen übersetzte evangelical ursprünglich nur das deutsche evangelisch. Zur Begriffsgeschichte vgl. Jung, Evangelikale Bewegung, 1994, 5–9.
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Protestantismus der 1960er Jahre71 und als Symbol des transnationalen Anschlusses deutschsprachiger (neu-) pietistischer und theologisch konservativer Kreise an die vielfältige angelsächsische Erweckungstradition der Evangelicals und NeoEvangelicals des 18. bis 20. Jahrhunderts. Das sich im deutschsprachigen Raum entwickelnde evangelikale Missionsverständnis wirkte sich auch auf der Ebene der Missionsstrukturen aus. Hier entstand auf dem Hintergrund der Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse (AfM) 1969 die umfassendere Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM),72 die sich zwar zunächst nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum DEMT verstand,73 jedoch auch abgrenzende Akzente setzte: „Hier rückten einige Missionsgesellschaften zusammen, die zu den ökumenischen Bestrebungen und Zusammenschlüssen – besonders zu der Integration des Internationalen Missionsrats in den ÖRK – eine abwartende oder auch ablehnende Haltung einnahmen, zugleich aber das Bedürfnis empfanden, in eine engere Verbindung mit gleichgesinnten Missionsgesellschaften zu treten.“74
Theologisch verband die AEM mit dem Begriff evangelikal die „persönliche Erfahrung des Glaubens an Jesus Christus (Bekehrung, Wiedergeburt, Heiligung), Bindung an die Heilige Schrift als voll gültiges Wort Gottes, Bekenntnis zu Jesus Christus als Sohn Gottes …, Sammlung der Glaubenden und Erfüllung des evangelistisch-missionarischen Auftrags (d.i. Ruf zum persönlichen Glauben an Christus).“75 Auf ihrer 4. Jahrestagung im Februar 1972 in Velbert legte die AEM sich in einer Entschließung „im Blick auf ihr Verständnis von Mission in der heutigen Zeit“ auf die oben erwähnte Frankfurter Erklärung (FE) fest, mit der Einschränkung, dass man die ekklesiologischen und sakramentalen Aussagen der FE nicht als verbindlich alle beteiligten Missionen ansah.76 Die von dem Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus maßgeblich formulierte und vom Theologischen Konvent Bekennender Gemeinschaften am 4. März 1970 verabschiedete77 FE kritisierte die neueren ökumenischen Interpretationen christlicher Mission als Teil einer „schleichenden theologischen Verfäl-
71 Vgl. Hermle, Gegenbewegung, 2007. 72 1967 war die Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse aus den Kursen zur Weiterbildung für Missionare in Wiedenest hervorgegangen. Auf Anregung der Evangelischen Allianz und in Absprache mit dem DEMR lud Ernst Schrupp, Leiter der Wiedenester Mission, im Februar 1969 zur ersten Konferenz Evangelikaler Missionen nach Frankfurt ein, vgl. Schrupp, Evangelikale Missionen, 1975, 140. 73 Auch der DEMR sah die AEM bei ihrer Gründung nicht „im Gegensatz zum DEMT“, sondern als Ergänzung, um „mit ihm zusammen die Gesamtheit des deutschen Missionslebens“ darzustellen. Rosenkranz, Christliche Mission, 1977, 307. 74 Jung, Evangelikale Bewegung, 1994, 50. 75 Schrupp, Evangelikale Missionen, 1975, 140. 76 Ebd. 141. Zum Text der Entschließung der AEM vgl. Beyerhaus, Krise, 1987, 273–274. 77 Zu den Erstunterzeichnern gehörten neben Beyerhaus u.a. die Professoren H. Frey, J. Heubach, O. Michel, H. Rohrbach, G. Vicedom, U. Wickert. Zur Einordnung der FE in die theologiegeschichtliche Situation, vgl. Hermle, Gegenbewegung, 2007, 342f.
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schung“,78 deren „Ausmaß …. von den offiziell für den Weg der Mission Verantwortlichen“ in Deutschland „nicht erkannt worden“ sei. Man hoffte, dass ein „unüberhörbares Alarmsignal“ zu „durchgreifenden Konsequenzen“ führen würde.79 In interreligiösen Dialogen wie Birmingham 1968 und Cartigny 1969 sah man die Gefahr „einer Paralysierung der Bekehrungspredigt“ im Rahmen von „neuen synkretistischen Verständigungsprogrammen“.80 Dagegen formulierte die FE: „Das Heilsangebot in Christus richtet sich ausnahmslos an alle Menschen, die Ihm noch nicht im bewußten Glauben verbunden sind. Die Anhänger fremder Religionen und Weltanschauungen können an diesem Heil nur dadurch Anteil bekommen, daß sie sich von ihren vormaligen Bindungen auf ihren falschen Hoffnungen befreien lassen, um durch Glaube und Taufe in den Leib Christi eingegliedert zu werden. .... Damit verwerfen wir die Irrlehre, als ob die Religionen und Weltanschauungen auch Heilswege neben dem Christusglauben seien. Wir bestreiten, daß ‚christliche Präsenz‘ unter den Anhängern der Fremdreligionen und wechselseitiger religiöser Austausch mit ihnen im Dialog ein Ersatz für die zur Bekehrung drängende Verkündigung des Evangeliums seien, statt allein eine gute Form missionarischer Anknüpfung. Wir bestreiten, daß die Entlehnung christlicher Ideen, Hoffnungsziele und sozialer Verhaltensweisen … die Fremdreligionen und Ideologien zu einem Ersatz für die christliche Kirche machen können. Sie geben ihnen vielmehr eine synkretistische und damit antichristliche Ausrichtung.“81
Inhaltlich stand die FE mit ihrer Kritik nicht isoliert da. Sie war Teil einer internationalen Diskussion, in der Evangelicals ihre Sichtweisen als Korrektiv in den ökumenischen Diskurs einbrachten. Doch durch ihre scharfen polemischen Formulierungen wurde die FE in der deutschsprachigen Situation nur bedingt als konstruktiver Beitrag aufgefasst. So kamen die missiologischen Konzepte der Präsenz und des Dialogs vorwiegend unter negativem Vorzeichen („wir bestreiten“) in den Blick, auch wenn sie bei genauerem Hinsehen nicht abgelehnt, sondern als „eine gute Form der missionarischen Anknüpfung“ interpretiert wurden. Besonders missverständlich war die Formulierung einer „zur Bekehrung drängenden Verkündigung des Evangeliums“ (kursiv FW). Vor allem die mit der Erklärung verbundene Ausrufung des status confessionis war wenig geeignet, eine sachliche missionstheologische Diskussion zu fördern. Der Neuendettelsauer Missionswissenschaftler Georg Vicedom,82 einer der Erstunterzeichner der FE, der seine Unterschrift wieder zurückzog als Beyerhaus die FE „zur Bekenntnisschrift der Evangelikalen erhob“,83 erklärte einige Jahre später: „Viele konnten die Erklärung nicht in dem Anspruch übernehmen, in dem sie verfasst war, obwohl sie ihrem Inhalt zustimmten.“84 Typisch für die befremdeten Reaktionen im Umfeld der 78 FE, Einleitung, in: Beyerhaus, Krise und Neuaufbruch, 1987, 3; vgl. Rosenkranz, Christliche Mission, 1977, 308. 79 Beyerhaus, Intention, 1971, 12–13. 80 Ebd. 17, vgl. Lienemann-Perrin, Mission, 1999, 96–97. 81 FE § 6, in: Beyerhaus, Krise und Neuaufbruch, 1987, 7–8, vgl. Stott, Gesandt, 1976, 68. 82 Zu Vicedom siehe II.C.4.a). 83 Müller, Vorwort, 2002, 14/15. 84 Vicedom, Actio Dei, 1975, 179.
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deutschsprachigen evangelischen Missionen war der Brief eines Basler Missionars: „Hier im Hause [der Basler Mission, FW] begann die Ratlosigkeit … groß zu werden. Wenn das Ziel … dieser Erklärung, eine Frontenbildung zu provozieren, erreicht werden sollte, dann wird Basel jedenfalls auf der anderen Seite stehen. Dass Vicedom zu den Erstunterzeichnern gehört, hat mich überrascht. Der sachlich sicher berechtigten Kritik an ‚Genf‘ ist mit solchen Pamphleten ein denkbar schlechter Dienst erwiesen.“85
2. Die Frankfurter Erklärung und der Orientdienst Doch wie reagierte man im OD auf die FE? Immerhin sahen ihre Verfasser die FE als Alarmsignal angesichts eines „theologische[n] Pluralismus“ auch „innerhalb des Hamburger Missionsrates“.86 Gemeint war der DEMR, der an der Wiege des OD gestanden und sich über die Jahre als verlässlicher Partner erwiesen hatte. Damit befanden sich der OD und sein Gründer Pfarrer Willi Höpfner, der als landeskirchlicher Pietist der evangelikalen Bewegung nahestand,87 aber auch in der landeskirchlichen Missionstradition verwurzelt war, in einem Dilemma. Im Hamburger Missionsrat (DEMR) selbst hielt man den Anspruch der FE jedenfalls für deutlich überzogen, auch wenn man die missionstheologischen Anliegen ernstnahm. Bischof Hans Heinrich Harms, der Vorsitzende des DEMR, plädierte dafür, den „Prozess des Aufeinander-Hörens“ nicht abzubrechen und warnte vor übereilten Festlegungen, unsachgemäßen Unterstellungen und unnötiger Polarisierung.88 Diese Linie scheint auch Höpfner im Blick auf den Orientdienst verfolgt zu haben, der recht unterschiedliche Gruppen und Institutionen zwischen EKHN, DEMR und Evangelischer Allianz verband, die den missionarischen Auftrag ebenso unterschiedlich deuteten. Jedenfalls findet sich im OD zu diesem Zeitpunkt keine ausdrückliche Identifikation mit der FE. Eine solche Festlegung hätte nicht nur den OD als gesamtprotestantische Arbeitsgemeinschaft, sondern wohl auch die tragende landeskirchliche Finanzierung in Frage gestellt. Ob Höpfner inhaltlich den in der FE geforderten Ansatz einer „zur Bekehrung drängende[n] Verkündigung“ teilte, scheint angesichts seiner Begegnungserfahrungen in muslimischen Kontexten zumindest fraglich. Obwohl Höpfner sich nach Bangkok 1973 der dialogkritischen Haltung der FE etwas annäherte (siehe unten b), hatte er im Unterschied zu den Verfassern der FE die christlich-islamischen Dialogbemü85 O.S., Brief an Buttler, 28.4.1970, EMW, DEMR 3, AG 0812. Der englische Missionstheologe und ehemalige Generalsekretär des Internationalen Missionsrats, Lesslie Newbigin, sah die missionstheologischen Auseinandersetzungen dieser Phase mit geographischer und zeitlicher Distanz jedoch auch als „a new situation, and it is full of promise“. Newbigin, Open Secret 1978, 2. 86 Beyerhaus, Intention, 1971, 13. Kursiv FW. 87 Immerhin hatte Höpfner Peter Beyerhaus als Festredner zum Thema „Mission am Scheideweg“ zum Jahresfest der EMO im Mai 1970 eingeladen. Einladung, NEMO, 2/1970, 32. 88 Hans Heinrich Harms in einem Brief an die DEMT-Mitgliedsmissionen vom 23.10.1072 angesichts der Aufforderung der Konferenz Bekennender Gemeinschaften an den DEMT, sich der FE anzuschließen, zit. bei Rosenkranz, Christliche Mission, 1977, 362.
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hungen des ÖRK, z.B. in Cartigny 1969, zunächst positiv wahrgenommen89 und die Auffassung vertreten, man habe in Cartigny „die Treue zur Wahrheit nicht antasten“ noch „dem Synkretismus, der Religionsmischung, noch dem Relativismus erliegen“ wollen, „vielmehr suchte man die Gemeinsamkeit in den Aufgaben, die die gegenwärtige Zeit stellt“.90 Auch in seiner 1971 verfassten Einführung zur Buchreihe des OD, Christentum und Islam, ist nichts von einem drängerischen, dialogkritischen Ansatz zu spüren. Höpfner schrieb: „In einem echten Dialog geht es um das Ernstnehmen des Andersgläubigen in der Bereitschaft, ihn teilnehmen zu lassen an dem Heil, das alle zur Freiheit führen will.“91 a) Das Referat von Johan Bouman Dennoch konnte und wollte man die FE im OD nicht auf Dauer ignorieren. Man delegierte die Auseinandersetzung geschickt an einen anerkannten und zugleich der evangelikalen Bewegung nicht ablehnend gegenüberstehenden Referenten, den niederländischen Theologen und Islamwissenschaftler Johan Bouman (1918– 1998).92 In seinem Referat Mission und Dialog – Zur heutigen Auseinandersetzung des Missionsverständnisses93 auf einer OD-Tagung im Februar 1972 konstatierte Bouman: die „Unsicherheit“ über das richtige Verständnis der Mission sei „in bestimmten Kreisen … jetzt so groß, daß die Frankfurter Erklärung vom 4. März 1970 sogar von einer Grundlagenkrise der Mission gesprochen“ habe.94 Bouman versuchte zwischen den polarisierenden Tendenzen zu vermitteln und einen Weg nach vorne zu zeigen, der den interreligiösen Dialog und die Evangeliumsverkündigung als integrale Teile eines ganzheitlichen Missionsverständnisses festhielt. Bouman erläuterte die Bedeutung des Dialogs auf dem Hintergrund der Erfahrungen von Kolonialismus, Weltkriegen und Massenvernichtungswaffen. Dies müsse „zu einer pluralistischen Gesellschaft“ führen. Um des Friedens willen sei es „unumgänglich“, „mit den Vertretern anderer Religionen“ über eine gemeinsames Umsetzen von „sozialer Gerechtigkeit“ zu sprechen.95 In diesem Horizont sah er auch die „neuen missionstheologischen Dokumente“ des ÖRK: den Bericht der Sektion II aus Uppsala 1968, die Dialog-Konsultation in Ajaltoun 1970 und 89 90 91 92
Christlich-Muslime Gespräche [Aide-mémoire von Cartigny], in: ID 15/1969, 7–9. Höpfner, Dialog oder Verkündigung, 1970, 2. Höpfner, Kirche, 1971, 5, kursiv FW. Zu Höpfners Sicht des Dialogs siehe V.D.2.e). In den 1950er Jahre lehrte Bouman an der Near East School of Theology in Beirut, seit 1969 war er Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bochum, danach von 1973–1986 an der Universität Marburg, vgl. Buchegger, Wort vom Kreuz, 2013. 93 Protokoll der Orientdienst-Sitzung vom 12. Februar in Wiesbaden, OD-Archiv, OP6475. Dort findet sich eine kurze Zusammenfassung des Bouman-Referats durch Höpfners. Das vollständige Referat von Bouman wurde dann als Aufsatz „Mission und Dialog“ im Informationsdienst Nr. 24 (1972) abgedruckt, aus dem im Folgenden auch zitiert wird. 94 Bouman, Mission und Dialog, 1972, 3. 95 Ebd. 5.
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die Dialogerklärung von Addis Abeba 1971. Allerdings sei in den Dialogpapieren „zuviel von einem westlichen, idealistischen Vorverständnis des Glaubens ausgegangen“ worden.96 Dagegen müssten die sehr unterschiedlichen „Welten von Religionen“ berücksichtigt werden. Deshalb sei „ein Dialog in abstrakten Begriffen nicht durchführbar“.97 Besser sei, „mit Menschen anderen Glaubens über konkrete Fragen der Problematik des modernen Lebens zu sprechen.“ Erst dann würde sich zeigen, „wie groß die … verbindende gemeinsame Religiosität ist“ und wie die „Unterschiede … zu bewerten sind.“ 98 Auf diesem Hintergrund betonte Bouman in Abgrenzung zur FE, dass „auf dem Missionsfeld keine zeitlose Wiederholung der biblischen Botschaft stattfinden kann.“99 Zusammenfassend hielt Bouman fest: 1. Der „Dialog mit Menschen anderen Glaubens“ könne „eine Bereicherung der eigenen religiösen Erfahrung bedeuten“.100 2. Dialog und Mission hätten ein gemeinsames Ziel, das „für alle Zeiten und für alle Menschen das gleiche“ bleibe: „dieses Ziel kann nun kein anderes sein, als die ganze Menschheit an der Befreiung und Erneuerung, die Gott in Jesus Christus uns angeboten hat, teilhaben zu lassen“.101 3. Wenig sinnvoll sei jedoch, mit Karl Rahner oder Georges Khodr zu spekulieren, „ob die Menschen anderen Glaubens anonyme Christen“ seien oder ob „Christus in den anderen Religionen schläft“. Diese Perspektiven seien zu abstrakt, da Gott sich in christlicher Sicht geschichtlich offenbart habe. Dialog sei nur sinnvoll, wenn „das Proprium, die Eigenständigkeit der christliche Botschaft“ zur Sprache komme. b) Orientdienst: Evangelikal oder ökumenisch? Die Frankfurter Erklärung (FE) blieb ein heißes Eisen, doch Boumans differenzierte Argumentation schlug eine Brücke zwischen den evangelikalen Anliegen der FE und dem ökumenischen Dialogverständnis und trug dazu bei, die spannungsreiche Kooperation innerhalb der Arbeitsgemeinschaft des OD aufrechtzuerhalten. Obwohl die Spannungen zwischen einem dialogischen, diakonischen und evangelistischen Ansatz sich in der missionstheologischen Debatte verschärften, bemühte Höpfner sich weiterhin, den OD aus der neuerlichen strukturellen Polarisierung zwischen evangelikal und ökumenisch orientierten Missionswerken
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Ebd. 8. Ebd. 9. Ebd. Ebd. An dieser Stelle hatte Bouman im mündlichen Vortrag hinzugefügt: „und das muß ich grundsätzlich gegen die Frankfurter Erklärung sagen.“ In Protokoll und schriftlicher Fassung fand sich der Satz nicht mehr, was Günter Dulon (DEMR) Höpfner gegenüber kritisierte, vgl. Dulon, Brief an Höpfner, 17.2.1972, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2; vgl. Dulon, Brief an Höpfner, 1.4.1972, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. 100 Bouman, Mission und Dialog, 1972, 9. 101 Ebd. 10.
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herauszuhalten.102 Während kirchliche Missionsvertreter den OD zum damaligen Zeitpunkt in der Außenperspektive schon eher den evangelikalen Missionen zurechneten,103 verfolgte Höpfner selbst weiterhin den spannungsreichen Kurs zwischen landeskirchlichen und evangelikalen Strukturen und führte den OD zunächst nicht in die AEM, sondern in eine Vereinbarung mit dem neugegründeten Evangelischen Missionswerk für Südwestdeutschland (EMS). Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, seinen eigenen, der evangelikalen Missionstheologie nahestehenden Sichtweisen Ausdruck zu verleihen. Als im Umfeld der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973 die kirchliche Kritik an christlicher Islammission und der evangelistischen Arbeit des OD lauter wurde, nahm Höpfner kritisch Stellung zu dem, was er als ein „Moratorium“ für das christliche Zeugnis unter Migranten verstand: „Man solle aus Gründen der Fairness und der Achtung vor dem Andersgläubigen, der hier in einer schwachen Position sei, von einer direkten Wortverkündigung unter den Gastarbeitern absehen. Dagegen solle man diesen Gästen aus dem Orient durch soziale und politische Hilfe Unterstützung zuteil werden lassen. Also ein ‚Moratorium‘ für den Gastarbeiter ... Wir sind auf Grund unserer Begegnungen mit Moslems in Deutschland nicht der Meinung, daß diese sich in einer schwachen Position befinden. Sie bezeugen ihren Glauben in unserem Land, ohne daran gehindert zu werden, und sie tun das in einem starken Überlegenheitsbewußtsein. Der Zeuge Jesu wird seine Botschaft ausrichten in dem Bewußtsein, daß die Kirche in früheren Zeiten es oft an Klarheit und Liebe in der Verkündigung hat mangeln lassen. Er wird sich aber auch bewußt sein, daß er in der Nachfolge seines Herrn Widerspruch und Ablehnung erfahren wird. ... Die Basis unserer Arbeit ist Christus, der Gekreuzigte. In ihm ist der Tod überwunden. Seine Botschaft hat, auch wenn sie das Kreuz erfährt, todüberwindende Kraft. [Dies] wird uns in unserer Arbeit immer wieder neu zur Gewissheit. Wir leben nicht vom Erfolg. Damit tragen wir das Schicksal der Kirchen im islamischen Raum, die immer wieder auf die Kraft des Kreuzes angewiesen sind.“104
102 Vgl. auch die Einschätzung von Paul Gerhardt Buttler (damals DEMR), dass „die Spaltung ‚evangelikal‘ (Selbstbezeichnung!) und ‚Ökumeniker‘ (Fremdbezeichnung), die sich seit Ende der 60er Jahre anbahnte, … eigene Ursachen [hatte]“ und nicht „in die davor liegende Zeit zurück zu projezieren“ ist. Brief an den Autor, 5.1.2010. 103 So sprach der Deutschlandreferent des EMS, Hans-Jürgen Becken in einem Brief an Paul Gerhardt Buttler (DEMR) (12.2.1975, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2) von einer „‚evangelical‘ Tendenz‘“ des OD und äußerte Zweifel, ob der OD sich dem EMS anschließen würde – was dieser im Rahmen einer „Zusammenarbeit durch Vereinbarung“ dann doch tat, vgl. Reimer, Werke, 1979, 73. 104 Höpfner, Bangkok, 1973, 63.61.
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C. NEUE INITIATIVEN CHRISTLICHER ISLAMBEGEGNUNG 1. Moslems in der Bundesrepublik: Gesellschaftspolitischer Neuansatz im Kirchlichen Außenamt a) Kirchlicher Dienst an ausländischen Arbeitnehmern Das Jahr 1973 markiert eine Reihe von Neuansätzen evangelischer Islambegegnung. Neben veränderten missionstheologischen Perspektiven trug auch die Wahrnehmung politischer Ereignisse wie des 4. Israelisch-Arabischen Kriegs, der Ölkrise im Oktober sowie des Anwerbestopps für türkische und nordafrikanische Arbeitsmigranten im November 1973 zu neuen Praxisansätzen bei. Im Kirchlichen Außenamt wurde der „Ausschuß der EKD für den Kirchlichen Dienst an Ausländischen Arbeitnehmern“ (AKDAA) gebildet, der den bisherigen diakonischen Ansatz der kirchlichen Migrantenarbeit zur gesellschaftspolitisch orientierten Sozialanwaltschaft im Horizont der sozial-liberalen Regierungskoalition unter Bundeskanzler Willy Brandt weiterentwickelte.105 Der evangelische Religionshistoriker und Theologe Christoph Elsas beschreibt das Selbstverständnis des Ausländerausschusses (AKDAA) so: „Der Ansatzpunkt damals war die sozialdiakonische kirchliche Ausländerarbeit. Menschliches Mitgefühl mit den Nachbarn in einer weniger guten Situation griff in den 70er Jahren … zu einem guten Teil auf das Eintreten für Solidarität und soziale Gerechtigkeit in der 68er Studentenbewegung und weltweit im Ökumenischen Rat der Kirchen zurück“.106 Der Ausschuss setzte sich aus den zwölf „Beauftragten für ausländische Arbeitnehmer“ der westdeutschen Landeskirchen sowie Repräsentanten der Weltmission und Diakonie zusammen.107 Geschäftsführer wurde der Theologe und promovierte Soziologe Jürgen Micksch.108 Den Vorsitz teilten sich das Kirchliche Außenamt (Adolf Wischmann) und das Diakonische Werk (Theodor Schober).109 Der AKDAA machte es sich zur Aufgabe, die Arbeitsmigration in theologischer Perspektive zu reflektieren, Richtlinien für kirchliches Handeln zu erstellen und praktische Initiativen zu koordinieren. Bereits auf der 27. Konferenz für Ausländerfragen im November 1972 hatte Micksch eine kirchliche Programmatik zur „Problematik ausländischer Arbeitnehmer“ vorgelegt.110 Er betonte, dass „christliches Handeln“ zwar „nicht das Reich Gottes auf dieser Welt errichten“ könne,
105 Vgl. Jähnichen, Einleitung, 2007, 14; Micksch, Gastarbeiter, 1978, 13. Erste Schritte in Richtung des AKDAA waren bereits 1967 nach dem Vorbild des Churches’ Committee on Migrant Workers in Western Europe des ÖRK erfolgt, vgl. ebd. 135ff. 106 Elsas, 30 Jahre, 2007, 165. 107 Vgl. EKD, Moslems, 1974, 6. 108 Der evangelische Theologe Micksch (geb. 1941) hatte 1971 mit einer Arbeit zu „Jugend und Freizeit in der DDR“ in Soziologie promoviert. Seit 1971, bzw. 1974 war Micksch Ausländerreferent und Oberkirchenrat im Kirchlichen Außenamt. 109 Vgl. EKD, Moslems, 1974, 6. 110 Micksch, Gesichtspunkte, 1973.
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aber „Visionen zukünftiger gesellschaftlicher Beziehungen aufzuzeigen“ habe.111 Als Ziel sah er soziale Gerechtigkeit,112 deren Notwendigkeit sich sowohl aus dem biblischen Befund als auch aus gesellschaftspolitischen Analysen ergebe. Die türkische Arbeitsmigration sah Micksch im größeren Kontext globaler Ungerechtigkeit. Das von der Bundesregierung angestrebte „Abbremsen“ von Migration und Anwerbung könne nur durch „Verzicht auf die eigene schrankenlose wirtschaftliche Ausweitung“ erreicht werden.113 Da Arbeitsmigranten „in zunehmend größerem Maße auch hier bleiben werden“,114 plädierte Micksch dafür, Einwanderung politisch ernst zu nehmen und Strukturen im Blick auf Bleiberecht, Einbürgerung, Schulbildung, Wohnsituation und politische Partizipation zu schaffen. Die konkrete Bereitschaft zu zwischenmenschlicher Begegnung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten sah Micksch jedoch pessimistisch. Da selbst „in der deutschen Bevölkerung … kaum eine Kommunikation zwischen Mitbürgern im Wohnblock oder in der Nachbarschaft“ bestehe, wie solle diese dann „zwischen Ausländern und Deutschen funktionieren?“115 Leistungsorientierung und mangelnde Kommunikation stellten scheinbar „eine nicht überschreitbare Barriere“ dar. Auf diesem Hintergrund plädierte er für „hauptamtliche Mitarbeiter für Probleme ausländischer Arbeitnehmer in den Landeskirchen, Kirchenkreisen und … in der Jugendarbeit“.116 Detlev Lüderwaldt, der im AKDAA das Diakonische Werk in Hessen und Nassau (DWHN) vertrat, ergänzte: wenn „Gemeindegruppen ... für die Interessen der Ausländer eintreten wollen, müssen [sie] unter allen Umständen die Rolle des barmherzigen Wohltäters vermeiden … Deshalb sollten Deutsche nicht etwas für die Ausländer tun wollen, sondern immer nur etwas gemeinsam mit ihnen.“117 Eine Gelegenheit dafür bot der „Tag des ausländischen Mitbürgers“ (TaM), der ab 1973 vom AKDAA koordiniert wurde. b) Der Tag des ausländischen Mitbürgers Der „Tag des ausländischen Mitbürgers“ (TaM)118 war 1969 als unabhängige Initiative entstanden, mit dem Anliegen, dass „Gastarbeiter … Mitbürger werden“.119 111 112 113 114 115 116 117 118
Ebd. 25. Vgl. EPD, Kirche und Ausländerpolitik, 1973, 57. Micksch, Gesichtspunkte, 1973, 30. Ebd. 32. Ebd. 35. Ebd. 36. EPD, Kirche und Ausländerpolitik, 75. Später auch „Woche des ausländischen Mitbürgers“, 1991 vom Ökumenischen Vorbereitungsausschuss in „Interkulturelle Woche“ umbenannt, vgl. Interkulturelle Woche, Geschichte, www.ekd.de/interkulturellewoche/343.html, Abruf am 9.9.2011. 119 Leudesdorff, Gastarbeiter, 1971, VI forderte „die menschliche, soziale und rechtliche Gleichstellung derjenigen Mitbürger, die man zu Unrecht Gastarbeiter nennt. Sie sind Menschen wie die deutschen Landsleute, das heißt: sie tragen Menschenantlitz und besitzen dieselbe ihnen von Gott verliehene Menschenwürde. Ihre Unterschiedenheit von den Einheimischen in Gestalt, Sprache und Sitte, Herkommen, Konfession oder Religion kann keine Begründung dafür
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Anlässlich des von der Katholischen Bischofskonferenz zum Dies Migrationis erklärten 2. Advents hatten ausländische Sozialarbeiter die Idee eines TaM an das Bistum Limburg herangetragen.120 Das Diakonische Werk in Hessen und Nassau (DWHN) griff den Impuls auf und bildete unter Federführung von René Leudesdorff ein gemeinsames Vorbereitungskomitee mit den Diözesen Mainz, Fulda, Limburg, dem Diakonischen Werk Kurhessen-Waldeck und der AWO. Im Juli 1970 übernahm der Publizist Ernst Klee die Öffentlichkeitsarbeit und gab ein Jahr später den provokativ betitelten Bericht Die Nigger Europas: Zur Lage der Gastarbeiter heraus.121 Der erste TaM fand am 2. Advent 1970 in Hessen statt. Während man anfänglich im Sinne des „alten Betreuungs-Gedankens“ eine Art „Image-Pflege zugunsten der Gastarbeiter“ treiben wollte, um in den kirchlichen und kommunalen Gemeinden eine positivere Haltung zu bewirken,122 entwickelte sich bald ein gesellschaftspolitischer Aktionsplan, der vor provokativen Formulierungen und Methoden nicht zurückschreckte: „wir müssen Partei ergreifen für die ‚Neger Europas‘ …, wir müssen Vorurteile abbauen und Illusionen, die das gute Gewissen nähren sollen, zerstören.“123 Man wollte christliche Motivationen und „Verkündigungsgehalte … mit der Situation der Gastarbeiter konfrontieren und … ein Problembewußtsein schaffen“.124 Kirchengemeinden forderte man auf, „nicht nur für die ausländischen Mitbürger zu beten“, sondern „Wohnungen zur Verfügung zu stellen, gegen Mietwucher anzukämpfen, … bei den Schulaufgaben zu helfen“.125 Auch kritische Besichtigungen der Verhältnisse in den Arbeiterwohnheimen gehörten zum Aktionsprogramm des TaM. Dabei kam es am 5.12.1970, einen Tag vor dem eigentlichen TaM, zu einem öffentlichen Skandal um Massenunterkünfte bei der Baufirma Holzmann in Frankfurt. Dem Aktionsteam wurde von der Firmenleitung der Zutritt verweigert, worauf ein „gewaltloses Go-in“ erfolgte.126 Die erzwungene Besichtigung ergab, dass für 800 Bewohner nur acht Duschen und fünf Wasserhähne zur Verfügung standen. Das öffentliche Echo darauf stellte die Gottesdienste und Hearings, die am TaM selbst stattfanden, in den Schatten. Bundespräsident Heinemann ließ beim DWHN anrufen und „bat um weitere Unterrichtung“.127
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hergeben, sie zu Kulis derer zu machen, die sich einst als Herrenmenschen bezeichnen ließen.“ Vgl. Leudesdorff, Gastarbeiter, 1970, 287ff., Kaminsky, Integration, 2007, 242. Im Zentrum der Publikation stand die Skandalisierung der Wohnverhältnisse, vgl. Kaminsky, Integration, 2007, 242. Leudesdorff, Gastarbeiter, 1971, 289. Auszug aus einem Aufruf von 1970, zit. bei Leudesdorff, Gastarbeiter, 1971, 290/91. Ebd. 287. Ebd. 290. Leudesdorff, Gastarbeiter, 1971, 293.298, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 229. Leudesdorff, Gastarbeiter, 1971, 297. Kaminsky streicht die Bedeutung des Vorgangs für die damalige Erweiterung des Selbstverständnisses kirchlicher Diakonie in Richtung „Sozialanwaltschaft“ heraus. Charakteristisch dafür war die Ablehnung des „spezifisch christlichen Charakters der Sozialarbeit“, „da an Ausländern gerade nicht missionarisch gewirkt werden sollte.“, zit. bei Kaminsky, Integration, 2007, 241.
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Auch wenn die Aktivitäten der folgenden Jahre weniger spektakulär waren, wurde der TaM zu einer festen Einrichtung. Jürgen Micksch, der den TaM ab 1973 im Rahmen der AKDAA koordinierte, sah das Ziel darin, „Kontakte zwischen Ausländern und Einheimischen anzuregen“ und dadurch als korrigierende Gegenbewegung angesichts der „zunehmend ablehnender werdende[n] Stimmung in der Öffentlichkeit gegenüber Ausländern“ zu wirken. Hier sah er eine prophetische Rolle der christlichen Kirchen gegenüber Gesellschaft und Politik.128 Die interreligiöse Dimension der Begegnung kam jedoch erst langsam in den Fokus.129 c) Die EKD-Handreichung „Moslems in Bundesrepublik“(1974) Die erste Islam-Handreichung der EKD130 Moslems in der Bundesrepublik wurde 1974 vom AKDAA im Kirchlichen Außenamt der EKD herausgegeben.131 Federführend war Jürgen Micksch, als Berater fungierten Michael Mildenberger vom EZW,132 Ruth Braun vom Diakonischen Werk und Willi Höpfner vom Orientdienst.133 Im Vorwort skizzierten Adolf Wischmann, Präsident des KA, und Theodor Schober, Präsident des Diakonischen Werks, den Anlass und die Intention der Handreichung. Angesichts „einer Million Moslems … in der Bundesrepublik“ seien Christen „auf diese Begegnung wenig vorbereitet“. Dafür wolle man „Anregungen“ geben. Vor allem solle „das Verständnis für die ausländischen Arbeitnehmer, … die aus der Welt des Islams zu uns gekommen sind“, geweckt werden. Dabei könne die Beschäftigung mit dem Islam auch dazu beitragen, „die Grundlagen des christlichen Glaubens neu zu entdecken“. Umgekehrt wollte man den Muslimen ein gutes Bild vom christlichen Glauben sowie „unsere[r] Kultur und Gesellschaft“ vermitteln: „Viele Moslems begegnen hier zum ersten Mal Christen. Welches Bild nehmen sie von uns mit nach Hause? Welche Eindrücke hinterläßt unsere Kultur und Gesellschaft?“134 Damit knüpfte die Handreichung an den Duktus der 16 Jahre zuvor von der KfA herausgegebenen „Neun Punkte“ an (s. III.A.4.), ließ aber auch Höpfners Handschrift erkennen. Im ersten Teil geht es um das religiöse Selbstverständnis der Muslime („Wie versteht sich der Islam?“). Trotz vielfältiger Herkunftsländer gehörten alle muslimischen Migrantinnen und Migranten „zum großen ‚Haus des Islam‘. Das schafft ein Gefühl der Gemeinschaft unter ihnen. Denn der Islam formt und bestimmt 128 Micksch, Gastarbeiter, 1978, 101–102. 129 Zum ersten bundesweiten TaM am 12. Oktober 1975 wandte sich ein „Wort der EKD“ auch an die Muslime: „Zum erstenmal in unserer Geschichte sind auch große muslimische Gemeinschaften in Deutschland entstanden.“, zit. Micksch, Gastarbeiter, 1978, 103. 130 Am 30. August hatte der Rat der EKD die Schrift angenommen und ihr so einen offiziellen Status verliehen, vgl. EKD, Moslems, 1974, 5; Jasper, Unterwegs, 2008, 88. 131 EKD, Moslems, 1974 und Abdullah/Mildenberger, Moslems, 1974. 132 Zu Mildenberger siehe VI.C.2.c). 133 EKD, Moslems, 1974, 5. 134 Ebd.
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weit über den eigentlich religiösen Bereich hinaus das gesamte Leben des einzelnen und der Gemeinschaft.“135 Muslime seien überzeugt, „im Wort der Offenbarungen, zuletzt im Koran, hat sich Gott kundgetan. Wer sich ihm gehorsam und vertrauensvoll hingibt, lebt in der Wahrheit.“136 Der Muslim wisse sich „in seinem Unvermögen, dem göttlichen Anspruch gerecht zu werden, auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen.“137 Es werden auch christlich-islamische Vergleiche gezogen, in denen im sachlichen Ton des theologischen Islamkompendiums von Emanuel Kellerhals vor allem auf die Differenzen hingewiesen wird.138 In diesem ersten Teil der Handreichung zeigt sich deutlich der Einfluss Höpfners, nicht zuletzt im Kraemer-Zitat „im Islam wurde das Wort Buch, nach dem Evangelium wurde das Wort Fleisch“.139 Im zweiten Teil geht es um die Situation der Muslime als Arbeitsmigranten („Moslems in Deutschland – Probleme und Aufgaben“). Hier stehen die soziologischen Perspektiven Mickschs im Vordergrund. Unwürdige Rahmenbedingungen vermitteln den Migranten „das Gefühl, nicht als Menschen, sondern nur als Arbeitskräfte eingeschätzt zu werden“.140 Da die Muslime religiös und kulturell „aus der entferntesten Peripherie in das Ballungszentrum“ Europas kämen, sei für sie der „‚Zivilisationsschock‘ beim Eintritt in das neue Leben am größten. … Die Lebensweise, die sie gewöhnt sind und die so stark religiös bestimmt wird, ist in einer ganz anderen Welt gewachsen.“141 Da „eine immer größere Zahl“ den Wunsch nach einer „völligen Integration“ habe, müssten von der Politik sinnvolle Rahmenbedingungen geschaffen werden, die „nicht so einseitig, wie bisher auf ökonomische Ziele gerichtet“ seien, „sondern der entwicklungspolitischen Verpflichtung Vorrang geben.“142 In diesem Zusammenhang kommt erstmals die „Aufgabe der Christen“ in den Blick, die – in Gleichsetzung mit der deutschen Mehrheitsbevölkerung – beschrieben werden als „die ‚Habenden‘, die große Mehrheit gegenüber einer schwachen Minderheit, die institutionell und finanziell Gesicherten, die mitten in der eigenen Religion, Kultur und Gemeinschaft leben“. Sie seien „den Moslems Verständnis, Hilfe und Partnerschaft schuldig“, mit dem Ziel der „Unterstützung eines emanzipatorischen Prozesses, der die Moslems zur Selbständigkeit befreit und zu eigenem sozialen und politischen Handeln befähigt“. Umgekehrt könne die christliche Mehrheitsgesellschaft „durch diese Begegnung ... Klärung und Bereicherung“ sowie „Anfrage, Korrektur und Gewinn“ erfahren, durch die „Andersartigkeit der Moslems, ihre Kultur, ihr Denken und ihre Frömmigkeit“.143 Die 135 136 137 138 139 140 141 142 143
Ebd. Ebd. 8. Ebd. Die Literaturhinweise zum Islam umfassen zehn Titel, u.a. Kellerhals, Islam, 1969 und drei Veröffentlichungen des OD, vgl. EKD, Moslems, 1974, 26. EKD, Moslems, 1974, 8. Ebd. 12. Ebd. Ebd. 15. Ebd., kursiv FW.
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christlichen Aufgaben umfassten demnach (1) die mitmenschliche Verantwortung für den Muslim als den Nächsten, (2) die soziale Hilfe für Einzelne, Familien und die muslimische Gemeinschaft in Zusammenarbeit mit der AWO und anderen Verbänden, (3) die „rechtliche Anerkennung moslemischer Gemeinden“ als „Körperschaften öffentlichen Rechts“ sowie (4) „brüderliche Solidarität und christliches Zeugnis“. Das weit an den Rand gerückte christliche Zeugnis wird so beschrieben: „Die Christen können den Moslems das Zeugnis des eigenen Glaubens nicht schuldig bleiben. Die Sendung der Kirche an allen Orten ist es, als Gottes Werkzeug der Welt die Liebe Gottes und das Heil in Jesus Christus zu bezeugen und Männern und Frauen zu helfen, dort seine Liebe zu erkennen und zu erwidern. Dieser Verkündigungsauftrag gehört zum unveräußerlichen Wesen der Kirche. Dabei wird das Zeugnis von einer großen Offenheit und Achtung vor dem andersgläubigen Menschen, vor seiner religiösen Erfahrung und Prägung getragen sein müssen. Das gelebte Bild christlicher Existenz hat seine Überzeugungskraft in sich selbst.“ 144
Auch in diesem Abschnitt wird Höpfners Handschrift sichtbar. Obwohl man sich bemühte, sozialdiakonische und missionarische Aspekte nicht ganz auseinanderfallen zu lassen, rückte als übergreifendes Konzept der sozialpolitische emanzipatorische Prozess in den Mittelpunkt des Begegnungsverständnisses. Diese Grundlinie prägt auch den dritten Teil der Handreichung, der in vier Schwerpunkten „Anregungen für die Praxis“ vermittelte. Die Leser wurden ermutigt, (1) sich „Information durch Kontakte, Lesen und Reisen“ zu beschaffen. Auch zur Lektüre des Korans wurde angeregt. (2) Für die bessere Einführung von muslimischen Arbeitern in die Betriebe wurde ein System der „Patenschaften“ durch deutsche Mitarbeiter vorgeschlagen. Dabei wurden auch Rahmenbedingungen für die religiöse Entfaltung angesprochen: ein „Raum für die Ausübung der moslemischen Gebete“, Möglichkeiten zur „rituellen Waschung“, das Angebot von geeignetem Essen sowie alkoholfreien Getränken.145 (3) Relativ ausführlich wurde der Bereich „Ehen mit Moslems“ thematisiert. Auch hier kommen Höpfners Perspektiven zum Ausdruck, der die interkulturelle und interreligiöse Problematik betonte: „die Vorrangstellung des Mannes, der über die Kinder und über den Wohnsitz bestimmt … Im allgemeinen hat allein der Mann das Recht auf Scheidung. …Die Statistik zeigt, dass die Mehrzahl solcher Ehen scheitern“.146 Im Blick auf (4) Begegnungen zwischen Christen und Muslimen werden die in Teil zwei angerissenen Themen der Solidarität und des christlichen Zeugnisses auf Blick auf die „Wohngemeinde“ und die dort tätigen Vereine, Initiativen und Kirchen konkretisiert. Dabei sei „die Kirchengemeinde wohl der wichtigste Raum für die Begegnung der Moslems mit dem Evangelium“.147 Christliche Nächstenliebe zeige sich in guter Nachbarschaft und Gastfreundschaft. Darüber hinaus sollten Christen sich als „Sozialanwalt der Moslems“ einsetzen, auch für „bessere und billigere Wohnungen“, sich in der „Hausaufgabenhilfe“ engagieren und die Mus144 145 146 147
Ebd. 17. Ebd. 19. Ebd. Zur islamischen Eheauffassung vgl. auch VELKD, Islam, 2007, 60–61. EKD, Moslems, 1974, 21.
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lime beim Finden geeigneter Gebetsräume unterstützen. Wo nötig, „sollte die Kirchengemeinde prüfen, ob sie nicht ihrerseits Räume zur Verfügung stellen kann“.148 In missionarischer Hinsicht wird schließlich auch die „Einladung in die christliche Gemeinde“ thematisiert. Doch ganz ähnlich wie in den „Neun Punkten“ von 1958 (III.A.4.) wird gemahnt: erst „die konkrete Situation“ werde zeigen, „ob und welche Möglichkeiten“ sich für „eine tiefere Begegnung“ „zwischen der Kirchengemeinde und den bei ihr lebenden Moslems“ ergeben.149 Immerhin könne die Kirche „hin und wieder Ausländer zu gemeinsamen Veranstaltungen einladen, bei denen diese auch ein Zeugnis der Versöhnung und Befreiung in Christus vernehmen“. Selbst eine Perspektive der Konversion – auch hier zeigt sich bis in die konkreten Formulierungen hinein Höpfners Einfluss – wird vorsichtig und in selbstbestimmter Perspektive formuliert: „Die Gemeinde sollte bereit sein, jeden in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, der sie sucht, um ihn teilnehmen zu lassen an der Kraft, aus der sie lebt.“150 Insgesamt bietet die Handreichung ein eklektisches Bild, das sich im Wesentlichen aus den sozialpolitischen Perspektiven Mickschs und den islamtheologischen und missionarischen Sichtweisen Höpfners zusammensetzt. Immerhin lag nach über einem Jahrzehnt Wartezeit nun endlich die bereits 1959 in der KfA anvisierte Islam-Handreichung vor.151 Zur ersten Orientierung evangelischer Leser bot die Handreichung wichtige und hilfreiche Informationen, auch wenn der Text seine teilweise widersprüchlichen Prägungen nicht verbergen konnte. Dennoch ist die ernsthafte Bemühung um die Berücksichtigung der verschiedenen Perspektiven in sich bereits bemerkenswert. Muslimische Beobachter lobten „das Eintreten für die Moslems als konkreten Vollzug der eigenen Existenz“ und einen „bemerkenswerten Universalismus“.152 Christliche Beobachter im Umfeld des DEMR
148 Ebd. 21–22. 149 Ebd. 23, kursiv FW, vgl. die Neun Punkte der KfA (1. Aufl. 1958): „Vielmehr werden wir sehr behutsam prüfen müssen, wann und wo wir den Auftrag haben, einem andersgläubigen Ausländer den Gott und Vater Jesu Christi zu bezeugen.“, zit. nach Berg, Diakonie, 1959, 228. 150 EKD, Moslems, 1974, 23. 151 1959 hatte die KfA ein „Blatt über die Begegnung mit Moslems … in Auftrag gegeben“, das aber wohl nie erschien. KfA, Niederschrift über die 6. Konferenz, 22.1.1959 [TOP 18], 8. Zumindest im Blick auf den Zeitpunkt der 1974er Handreichung kann man kaum von einer „zu frühen Geburt“ sprechen, Jasper, Unterwegs, 2008, 89. 152 Abdullah, Christentum und Islam, 1976, 114. Obwohl die EKD-Handreichung an keiner Stelle ausdrücklich vom Dialog sprach (vgl. Görrig/Schindehütte, Geschwister, 2008, 394), sah M.S. Abdullah in ihr „ein zeitgeschichtliches Dokument für den Dialog“ (Abdullah, Christentum und Islam, 1976, 114). Eine Fortsetzung in dieser Perspektive fand die Handreichung in der von Micksch und Abdullah angeregten Gründung einer Islamisch-Christlichen Arbeitsgruppe (ICA) im Kirchlichen Außenamt, die sich im Mai 1976 zu einer ersten Besprechung mit je sechs christlichen und muslimischen Teilnehmern traf (vgl. Micksch, Gastarbeiter, 1978, 79; Elsas, 30 Jahre, 2007). Auch die Handreichungen Zusammenleben mit Muslimen (1980) und Christen und Muslime im Gespräch (1982) entwickelten diese dialogische Perspektive im KA, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, weiter.
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kritisierten die implizit vorhandene Tendenz einer paternalistischen Unterschätzung der Fähigkeit muslimischer Migranten zur religiösen Selbstbestimmung.153 2. Moslems unter uns: Dialogischer Neuansatz in der EZW a) Christlich-islamischer Dialog in Berlin 1969 Erste Schritte in Richtung eines offiziellen christlich-muslimischen Dialogs mit türkischen Arbeitsmigranten unternahm die Evangelische Akademie Berlin seit Ende der 1960er Jahre. Dort bildete sich ein Arbeitskreis aus muslimischen und christlichen Vertretern, um „nach der Bedeutung der Religion in einer säkularen Welt zu fragen“, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, konkrete Hilfestellungen für die muslimische Minderheit zu geben und die Möglichkeit zu einem gegenseitigen Zeugnis zu geben.154 Als Grundlage der Dialogarbeit formulierte Winfried Maechler, der Initiator und Akademieleiter: „Die drei Söhne Abrahams sind sich einig in dem Glauben an den einen Gott und seine Menschenliebe. Die Universalität dieser Menschenliebe wird auch von Jesus bezeugt. … Deshalb sollten heute keinesfalls im Namen Gottes Andersdenkende verketzert werden. … Wir sollten … lernen, im persönlichen Leben miteinander freundlicher, liebevoller und selbstkritischer umzugehen.“155
Auf einer Tagung des Arbeitskreises im Jahr 1969 entstand ein Arbeitspapier mit Empfehlungen zum Zusammenleben von muslimischen Migranten und deutscher Mehrheitsbevölkerung.156 Man empfahl die Einrichtung einer „Kontaktstelle der Evangelischen Kirche für Islamische Angelegenheiten“, um eine „ständige Zusammenarbeit zwischen Christen und Moslems zu ermöglichen“. Zu den weiteren Empfehlungen gehörten: theologische Dialoge, gemeinsame Revision von Schulbüchern, Gastdozenten für Islamistik an den theologischen Fakultäten, Beratung im Blick auf die „Gefahren“ und „positiven Möglichkeiten“ christlich-muslimischer Ehen, stärkere Betreuung der „moslemischen Gastarbeiter … von Geistlichen ihrer Heimatländer“, sprachliche Förderung der „Schulkinder moslemischen Glaubens“, „sorgsamere Betreuung moslemischer Strafgefangener“.157 Während der deutschsprachige Muslim M.S. Abdullah das Papier begrüßte, sah der an der Tagung selbst beteiligte türkische Religionsbeauftrage Osman Erkmen den Dialog als „heimtückischen“ christlichen Trick, um Muslime von ihrem Glauben abzubringen.158
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Vgl. Buttler, Auftrag, 1974, 63, siehe auch VI.C.3.a). Vgl. Abdullah/Mildenberger, Moslems unter uns, 1974, 71. Maechler, Thesen zum christlich-moslemischen Dialog, in: EAB (Hg), Texte, 1980, 1. Abdullah/Mildenberger, Moslems unter uns, 1974, 12–14, vgl. ebd. 71–72. Ebd. 13. Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Ausz. Übers., 12, vgl. Mildenberger, Zerrütten, 1974, 301.
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b) Christlich-Islamische Gebetsandacht in Dortmund 1970 Am 18. April 1970 fand in der Reinoldi-Kirche in Dortmund eine erste christlichislamische Gebetsandacht statt. Die Andacht unter dem Motto „Wir wollen Brüder sein“ war Teil des Seminars „Dialog zwischen Islam und Christentum“ des 1969 gegründeten „Arbeitskreis für Religion und Weltanschauung“ der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft (RWAG) und der Carl-DuisbergGesellschaft (CDG).159 Die Hessen-Nassauische Kirchenzeitung Weg und Wahrheit berichtete (10.5.1970) über die Andacht: „Die Andacht …begann mit dem Gebetsaufruf des Muezzins, der in islamischen Ländern vom Turm der Moschee ertönt; dann folgten Kirchenmusik von Bach, evangelische Kirchenlieder sowie Lesungen aus dem Koran und der Bibel. Ein ursprünglich geplantes gemeinsames Fürbittengebet fand nicht statt. Die Vertreter des Islam hielten eine solche ‚Verflechtung‘ für zu weitgehend. Der Flügelaltar der Kirche wurde auf Wunsch der Moslems zusammengeklappt, als sie im Anschluß an die Andacht ihr Nachmittagsgebet sprachen. Moslems dürfen nicht vor Bildern beten. Als Muezzin und Vorbeter wirkte der Religionsbeauftragte beim türkischen Generalkonsulat in Essen, Asman Erkmin [sic!], mit.“160
Osman Erkmen selbst hatte seine eigene Sicht der Dinge. Er sah die Dortmunder Veranstalter als christliche Missionare, die geplant hätten, „wenigstens ein Mal die Kirche mit Einheimischen und Ausländern zu füllen, um unter den teilnehmenden Türken Religionspropaganda zu machen“.161 Doch die Reaktionen seien gering gewesen: „Ich wurde Zeuge davon, dass unsere Landsleute den Versammlungen der betrügerischen Missionare nicht viel Aufmerksamkeit schenkten. … Sowohl die Leute der Kirche als auch die Leute vom Ausländerinstitut [gemeint ist vermutlich die Rheinisch-Westfälische Auslandsgesellschaft, FW] hatten versucht, unter dem Vorwand von ‚Einheit, Zusammenarbeit‘ ihre christliche Propaganda einzubringen. Ihre Hoffnung, die Ausländer für ihre Religion erwärmen zu können, erwies sich als unbegründet. Was immer sie sich ausdachten, wie immer sie ihre Programme änderten, um mehr Leute in ihre Kirchen zu bekommen, es gelang ihnen nicht. Wenn die Kirchen nicht die staatlich eingezogene Kirchensteuer-Einnahmen, sowie Einnahmen aus Kapital und Immobilien hätten, würden sie nicht weiter existieren können.“ 162
Im Rahmen der Gebetsandacht wurden zwei kurze Ansprachen gehalten, die eine von Winfried Maechler, Studienleiter der Evangelischen Akademie Berlin, die andere von dem österreichischen, zum Islam konvertierten Anthropologen Umar Rolf Freiherr von Ehrenfels. Erkmen erinnert sich, Maechler habe seine Ansprache mit den Worten geschlossen: „Ich lade Sie ein, sich dem Kreuz Jesu zu ergeben.“163
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Vgl. Dortmunder Kontaktgruppe, Moscheen in Dortmund, 2001, 7–8. Zit. bei Höpfner, Gebets-Andacht, 1970, 1–2. Höpfner, Dialog, 1970, 2–3. Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Ausz. Übers., 12. Ebd. Zit. Ebd.
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Auch Höpfner kommentierte die Dortmunder interreligiöse Gebetsandacht.164 Er würdigte „den guten Willen der Veranstalter, den moslemischen Gastarbeitern unsere Sympathien zu zeigen“, fragte aber kritisch, „ob dieses geschehen darf in der Form, dass das Evangelium verschwiegen oder gar islamisch umgeprägt wird“. Im Unterschied zu Erkmen sah Höpfner in der Veranstaltung eher den Ausdruck eines „unverbindlichen Dialogs“ und der „Reduzierung der Botschaft auf einen vernünftigen Monotheismus“, der „die Verleugnung Jesu Christi, des Gekreuzigten“ bedeute. Überhaupt habe „die ganze Veranstaltung … von vorneherein moslemischen Charakter“ getragen, da sie mit dem islamischen Gebetsaufruf, der das islamische Glaubensbekenntnis enthalte, eröffnet worden sei.165 In seiner Kritik sah sich Höpfner von der Haltung der Muslime bestätigt: „Die Haltung der Moslems war korrekt und ganz ihrer islamischen Auffassung vom ‚Gebet‘ gemäß. …Von daher empfanden die anwesenden Moslems auch ganz richtig, daß ein mit den Christen gemeinsam gehaltenes Fürbittegebet eine ‚zu weit gehende Verflechtung‘ darstellen würde. Sie lehnten eine Vermischung islamischer und christlicher Formen der Gottesanbetung ab.“166
Offensichtlich interpretierten Erkmen und Höpfner die christlich-islamische Gebetsandacht von Dortmund aus ihren gegensätzlichen Perspektiven heraus letztlich doch überraschend ähnlich: als eine Form der fremdreligiösen Vereinnahmung. Erkmen sah darin eine „betrügerische“ christliche Propaganda, Höpfner eine Veranstaltung mit „von vorneherein moslemische[m] Charakter“. c) „Moslems unter uns“: die Handreichung der EZW Fast zeitgleich mit der Handreichung des Kirchlichen Außenamts, Moslems in der Bundesrepublik, erschien in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Stuttgart (heute Berlin) die Handreichung Moslems unter uns: Situation, Herausforderung, Gespräch.167 Die Verfasser waren der deutschsprachige Muslim und Journalist M. S. Abdullah168 und Michael Mildenberger, evangelischer Theologe und Referent im EZW.169 Während in der Handreichung des 164 Höpfner, Gebets-Andacht, 1970, 1–2; vgl. Höpfner, Dialog oder Verkündigung, 1970, 3. Höpfner war vermutlich nicht selbst anwesend, sondern interpretierte den Pressebericht. 165 Höpfner, Gebets-Andacht, 1970, 1. Der Gebetsaufruf (arab. adhan/ türk. ezan) lautet: „Gott ist größer (4x)/ Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott! Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist! Kommt zum Gebet! Kommt zum Heil; kommt zum Heil! Gott ist größer, Gott ist größer! Es gibt keinen Gott außer Gott.“, VELKD, Islam, 2007, 37. 166 Höpfner, Gebets-Andacht, 1970, 1. 167 Abdullah/Mildenberger, Moslems, 1974. 168 Muhammed Salim Abdullah, in den 1960er Jahren im Umfeld der Ahmadiyya-Bewegung, später im Umfeld des Islamischen Weltkongresses (Karachi) tätig, ist Gründer und langjähriger Leiter des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland in Soest, vgl. Hagemann et al, Weg, 1996. 169 Mildenberger war seit 1970 Referent im EZW mit Schwerpunkt Islam. Von 1982–1987 war er erster Islamreferent der EKD und Vorsitzender des Islam-Ausschusses der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), vgl. KEK, Muslime und Christen, 1984, 16.
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Kirchlichen Außenamts das Thema des Dialogs nicht ausdrücklich angesprochen worden war, stand dieses nun im Mittelpunkt und fand konkret Ausdruck im literarischen Gespräch zwischen Abdullah und Mildenberger, wobei der muslimische Beitrag bewusst den weitaus größten Teil des etwa hundert Seiten umfassenden Textes ausmachte. Abdullah: Muslime als Brüder anerkennen Zunächst beschrieb Abdullah die geschichtliche Entwicklung des Islam im deutschsprachigen Kulturraum, wobei er die Schlüsselrolle der AhmadiyyaBewegung betonte. Sie habe sich „bei allen Vorbehalten gegenüber ihrer Theologie um den Islam in der Bundesrepublik verdient gemacht“.170 Durch ihre missionarische Tätigkeit seien die Kirchen „islambewußter“ geworden und der orthodoxe „Weltislam“ sei durch die Ahmadiyya „wachgerüttelt … worden“.171 Dann widmete sich Abdullah unter dem Stichwort der „Re-Islamisierung“ der weltweiten politischen Erneuerung des Islam, die er anhand der Islam-Charta der 1972 in Jeddah/Saudi-Arabien gebildeten Islamischen Konferenz (Motamar Islami) verdeutlicht.172 Hier könne man die „Marschroute“ ablesen: „Re-Islamisierung der Moslemstaaten, Stärkung der Minderheiten in der nicht-islamischen Welt …, verstärkte Missionierung Afrikas und Ozeaniens.“173 Dabei spiele ein „islamischer Sozialismus“ „als Basis für die Weltmoslemgesellschaft“ eine zunehmend wichtige Rolle.174 Der 1973 in London gegründete „Islam-Rat für Europa“ solle die muslimischen Diaspora-Gemeinden fördern und verbinden.175 Dann wandte sich Abdullah den Beziehungen zwischen Muslimen und Christen zu. Den Dialog beschrieb er als brüderliche Begegnung, abseits missionarischer Intentionen. Christen und Muslime sollten „auf gegenseitige Bekehrungsversuche verzichten und sich statt dessen gemeinsam der Verkündigung ihrer Glaubenswahrheiten unter den Heiden und Gottlosen widmen“.176 Als „Grundvoraussetzung für einen Dialog mit dem Islam“ auf Seiten der Christen nannte Abdullah „das Eingeständnis und das Wissen um die gemeinsame Gotteskindschaft, um die Gemeinsamkeit des Einen Gottes“.177 Das Dialogprogramm des ÖRK sah er in dieser Hinsicht in Übereinstimmung mit der islamischen Sicht: „Analog den Vorschlägen des Ökumenischen Rates der Kirchen“ sehe auch das „Konzept des Islam drei Phasen vor: Aufklärung über das wahre Anliegen des Islam …, Bildung einer Allianz gegen den Unglauben …. und schließlich die Beendigung der
170 171 172 173 174 175 176 177
Abdullah/Mildenberger, Moslems, 1974, 36. Ebd. Ebd. 41. Ebd. 43. Ebd. 45. Ebd. 50. Ebd. 61. Ebd. 58.
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christlichen ‚Mohammedaner-Mission‘“.178 In den „Moslemländern“ werde die Re-Islamisierung „früher oder später auch in ein Verbot der … christlichen Missionstätigkeit … einmünden“.179 Die „Beendigung der sogenannten ‚Mohammedaner-Mission‘“ sei „eine der wichtigsten Forderungen auf dem Weg zum Dialog“. Kritisch sah Abdullah die in der Frankfurter Erklärung geforderte „zur Bekehrung drängende Verkündigung“ und die Ablehnung des Islam als Heilsweg. Wer einem „Menschen, der sich um die Gnade Gottes bemüht, das Heil abspricht“, der richte „sich selbst“.180 Überraschenderweise (und vermutlich als Reaktion auf Mildenbergers Kommentar, siehe unten) räumt Abdullah dann jedoch ein: „Natürlich kennt auch der Islam eine Art ‚Missionsbefehl‘“, einen „Verkündigungsauftrag“; doch der Mensch könne „nicht von sich aus und auch nicht durch andere den Weg zum Islam finden“: „dazu bedarf es des persönlichen Eingreifens Gottes.“181 Auf diesem Hintergrund äußerte Abdullah Verständnis dafür, „daß Mission ein Wesenszug der Kirche ist, daß sie durch ihre Mission lebt, so wie der Islam eine Religion der permanenten Verkündigung ist, die durch den Dialog lebt“.182 Mildenberger: Dialog als gemeinsamer Lernprozess Unter der Überschrift „Herausforderung und Gespräch – ein christlicher Beitrag“ setzte sich Mildenberger anschließend mit Abdullahs Perspektiven zu Mission und Dialog auseinander, die er anerkannte, in denen er aber eine „behutsame und sachliche Differenzierung“ vermisste.183 Weder könne christliche Mission mit kolonialistisch gefärbter Muhammedaner-Mission gleichgesetzt werden, noch der Islam mit Dialog. Es gebe zwar kein „einheitliches christliches Missionskonzept“, aber man sei sich „freilich in allen Lagern darin [einig], daß die Christen allen Menschen – auch den Moslems – das Zeugnis ihres Glaubens, in dem sie das Heil gefunden haben, schuldig sind“. „Der Islam würde dem Christentum sein innerstes Motiv absprechen, wollte er als Vorleistung für die dialogische Begegnung darauf bestehen, die Christen müßten auf diesen missionarischen Auftrag verzichten.“184 „Auch im Islam selber“ gebe es „erhebliche Differenzen im Verständnis des ‚islamischen Missionsbefehls‘.“185 Das Spektrum reiche von „außerordentlich offenen“ Deutungen, wie der Abdullahs selbst, über gezielte Missionsbemühungen der „Weltmoslemliga“ bis hin zu „scharfen, mit politischem Druck forcierten Kampagnen“.186 Kritisch merkte Mildenberger an, wenn der Islam eigentlich „ei178 179 180 181 182 183 184 185 186
Ebd. 62. Ebd. 65. Ebd. 66. Ebd. 67. Ebd. 68. Ebd. 96. Ebd. Ebd. 96–97. Ebd. 97.
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ne Religion des Dialogs“ sei, dann müsse der Weg zurück zu den Wurzeln „doch anders“ aussehen. Christen begleiteten „ihre moslemischen Brüder [mit tiefer Anteilnahme]“ auf diesem Weg. Schließlich mahnte Mildenberger zur Nüchternheit „angesichts mancher Übersteigerungen des ‚dialogischen Prinzips‘“. Jenseits ideologischer Konzepte sollte der Dialog „ein gemeinsamer Lernprozess sein, eine Schule gewaltfreier Konfliktbewältigung“.187 Da die Koexistenz der Religionen ohne Alternative sei, gehe es darum, das gemeinsame Menschsein im Gespräch zu gestalten und dabei auch das jeweilige religiöse Zeugnis einzubringen. Abschließend fundierte Mildenberger den christlich-islamischen Dialog evangelisch-theologisch: „Es ist die Gemeinsamkeit von Menschen, die, aneinander und vor Gott schuldig geworden, auf seine Barmherzigkeit angewiesen sind.“ „Gott hat alle zusammen in den Ungehorsam hineingebannt, um an allen Barmherzigkeit zu erweisen.“188 Die EZW-Handreichung bot erstmals eine deutschsprachige muslimische Innenperspektive, im direkten Gespräch mit einer christlichen Perspektive. Es zeigte sich, dass der direkte christlich-islamische Dialog keineswegs spannungsfrei war, sondern von zum Teil sehr unterschiedlichen Grundvoraussetzungen ausging, nichtsdestotrotz aber ein unverzichtbarer Bestandteil christlich-islamischen Begegnung in der Bundesrepublik Deutschland werden musste, um gegenseitiges Verstehen und Zusammenleben zu fördern. 3. Moslems – unsere Nachbarn: Missionarischer Neuansatz im Umfeld des DEMR a) Stellungnahme für den OD: DEMR Jahresbericht 1973 Als die kirchliche Kontroverse um die missionarische Islambegegnung Anfang der 1970er Jahre zunahm, stellte der DEMR sich hinter die Arbeit des OD. Exekutivsekretär Paul Gerhardt Buttler kritisierte, dass in kirchlichen Veröffentlichungen zur Arbeitsmigration „die religiöse Frage einfach ignoriert“ werde189 und mahnte im Jahresbericht 1973, das religiöse Selbstbestimmungsrecht muslimischer Arbeitsmigranten nicht durch einen gut gemeinten, aber falschen christlichen Missionsverzicht implizit paternalistisch in Frage zu stellen: „Hinsichtlich … des Verkündigungsauftrages der Kirche an die Nichtchristen unter ihnen [scheint] weithin eine peinliche Verlegenheit zu bestehen. Manche bestreiten sogar, daß der Auftrag zum Botschafterdienst auf diese spezielle Situation anwendbar sei. Sie argumentieren, ‚daß sich die Ausländer in der Bundesrepublik in einem besonderen Verhältnis der Abhängigkeit und sozial schwachen Stellung befinden, die es aus Gründen der Fairness verbietet, ihnen missionarisch zu begegnen.‘ Daher sei ‚die Verantwortung der Kirchen für die
187 Ebd. 98. 188 Ebd. 103. 189 Buttler, Brief an Höpfner, 7.1.1972, DEMR3, AG0818. Buttler nennt die aus dem Umfeld des DWHN stammenden Veröffentlichungen von Klee, Nigger, 1971 und Leudesdorff, Gastarbeiter, 1971. Zu den Publikationen und Aktionen: siehe VI.C.1.b).
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VI. Gastfreundschaft oder Hausfriedensbruch? Kontroversen nichtchristlichen Ausländer auf den rein karitativen bzw. auch gesellschaftspolitischen Bereich zu beschränken‘ (aus der brieflichen Darstellung einer kirchlichen Dienststelle …). Vertreter dieser Meinung weisen auch auf die Gefahren einer kulturellen Entfremdung und sozialen Isolierung der Konvertiten bei der Rückkehr in ihre Heimatländer hin. So wohlmeinend und fair, großmütig und selbstverleugnend dies auch klingt, so grundverkehrt und überheblich ist diese Meinung. Sie verwechselt das befreiende Evangelium von der Zuwendung Gottes zum Menschen mit einer abgewirtschafteten gutbürgerlichen Christlichkeit, die man natürlich niemandem guten Gewissens und schon gar nicht als Kulturbesitz empfehlen könnte. Sie nimmt den anderen, um dessen Menschentum und Freiheit sie so besorgt erscheint, gerade nicht ernst … Sie ‚baut sich einen Türken‘, einen … urteilsunfähigen Menschen, der seine Ansichten und Fragen nicht selbst artikulieren kann und wohlmeinender Bevormundung und Bewahrung vor unbedachten Entscheidungen bedarf.“190
Auf dem Hintergrund dieser Einschätzung bedauerte Buttler, dass „nur wenige … die neuen Grenzen mitten in unserem Land“ im missionarischen Sinn überquerten. Auch wenn „das Schlagwort ‚Dialog‘ bei manchen Mitarbeitern des Orientdienstes Mißtrauen erweckt, sie üben ihn: im Verstehen des anderen … und im Bezeugen des gekreuzigten und auferstandenen Christus.“191
b) Neue Impulse durch Paul Löffler 1973 Doch auch im Umfeld des DEMR suchte man nach neuen missionstheologischen Impulsen. Bereits im Juni 1973 hatte der ökumenische Theologe Paul Löffler, damals Dozent an der Near East School of Theology in Beirut/Libanon,192 ein wirkungsträchtiges Referat auf dem Kirchentag in Düsseldorf über „die Herausforderung der Kirche durch den heutigen Islam“ gehalten.193 Löfflers Referat 190 Buttler, Auftrag, 1974, 63. 191 Ebd. 64. Buttler betont auch im Rückblick, „dass [es] von Seiten des DEMR und seines Stabes bis zur Selbstauflösung von DEMT/DEMR keinerlei … Distanzierung von Aufgaben gegeben hat, wie sie der Orientdienst wahrnahm. Sie galten als beachtenswerte Aktivität von Mitgliedern, die … dafür auch kulturell und sprachlich … ausgerüstet waren.“ Buttler, Brief, 5.1.2010. Ebenso standen EMS und EAGWM hinter der Arbeit des OD, vgl. EMS, Gespräche mit dem Orientdienst am 2. Mai 1975 in Stuttgart, S. 2, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818; EAGWM (Kommunikations-Kommission), Brief an Höpfner, 26.5.1976 und 7.12.1976, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 192 Löffler war 1961–1968 Referent für Industrie- und Stadtmission in der Abteilung für Weltmission und Evangelisation des ÖRK, 1969–1974 Dozent an der Near East School of Theology, Beirut/ Libanon und 1975–1985 Studienleiter an der Missionsakademie in Hamburg. In den 1960er Jahren hatte Löffler im ÖRK eine biblisch-theologisch orientierte Studie zur Bekehrung geleitet, worin er sich als Theologe der Vermittlung zwischen progressiven und pietistischen Prägungen erwies, vgl. Triebel, Bekehrung, 1976, 133ff. 193 Löffler, Herausforderung, 1973. Der Vortrag wird als Auftakt des christlich-islamischen Dialogs im Rahmen der Kirchentage verstanden, vgl. Vöcking/Klautke, 25 Jahre, 2005, 29f. Zusätzliche Brisanz erhielt die Situation durch den Aufruf der Bekenntnisbewegung „Kein Anderes Evangelium“, den Düsseldorfer Kirchentag zu boykottieren, vgl. Jung, Evangelikale Bewegung, 1994, 110–111; Greschat, Protestantismus, 2010, 94ff; Vöcking/Klautke, 25 Jahre, 2005, 29.
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kontrapunktierte die „Frankfurter Erklärung“: die auf Bekehrung von Einzelnen zielende missionarische Verkündigung könne auf keinen Fall „den ernsthaften Versuch ersetzen, mit Repräsentanten der muslimischen Umma direkt in ein Gespräch über den Glauben“ zu kommen.194 Löffler sah eine „neue Dynamik“ im „Selbstverständnis der muslimischen Glaubensgemeinschaft“, die Konsequenzen „für die Beziehung zwischen Christen und Muslimen“ auch in Deutschland haben müsse. Die „neue Dynamik des Islam“ verbinde „Elemente westlicher Demokratie mit sozialistischen Tendenzen und islamischer Tradition“.195 Den Ansatz dazu habe schon Muhammed Abduh196 mit seiner Forderung nach einer „Rückkehr zum ursprünglichen rationalistischen Islam“ als Antwort auf die Modernisierung geliefert. Doch Löffler blieb skeptisch, ob „der Islam einen religiösen Pluralismus voll akzeptieren“ könne. Gerade Reformer wie Abduh hätten die Überlegenheit des Islam „über alle anderen Religionen mit neuer Schärfe betont“.197 Aus diesen Veränderungen ergäben sich jedoch „identische Fragestellungen“ für die christliche und islamische Theologie, weil der „weltweite Modernisierungsprozess … Menschen aller Kulturen … in ein gemeinsames Schicksal verflochten“ habe. Dies fordere alle dazu auf, „ihre Mitmenschlichkeit neu zu gestalten.“ „Wie bei einem Dreieck“ stünden sich Christen und Muslime „nicht mehr nur selbst gegenüber, sondern haben in der modernen Welt einen dritten gemeinsamen Beziehungspunkt“. Im Anschluss an Hassan Askari (Cartigny 1969) betonte Löffler Freundschaft als entscheidendes Merkmal des Dialogs: „Freundschaft ist eine Voraussetzung für gemeinsames Wissen im Religiösen.“ 198 Für Löffler ergaben daraus jedoch auch theologische Implikationen: „Wir müssen uns theologisch entscheiden, ob wir eine neue freundschaftliche Beziehung zum Islam wollen.“ Bisher sei die vorherrschende Haltung gewesen, „das Religionsgebilde des Islam als Ganzes ... abzulehnen, einzelne ansprechbare Muslime ... zu suchen und zu Christus zu führen“. Es sei fraglich, ob die christliche Gemeinde ihren Auftrag damit wirklich erfülle: „Die isolierte Einzelbekehrung kann die Begegnung mit der islamischen Gemeinschaft durch Mißtrauen belasten.“ Löffler plädierte für eine theologische Neubewertung des Islam: „wie mit dem Judentum verbindet uns mit dem Islam eine gemeinsame Offenbarungsgeschichte.“ Heute gebe es „Hoffnung auf ein neues Gespräch“, das „theologisch
194 Löffler, Herausforderung, 1973, 75. Die FE hatte formuliert: „Wir bestreiten, daß … wechselseitiger religiöser Austausch mit ihnen im Dialog ein Ersatz für die zur Bekehrung drängende Verkündigung des Evangeliums“ sei, vgl. VI.B.1. 195 Löffler, Herausforderung, 1973, 68. 196 Muhammed Abduh (1849–1905) vertrat, dass rationales Denken zur Einsicht und Annahme eines gereinigten Islams führen müsse. Er „glaubte, im Rückgriff auf die Vernunft ... den Schlüssel für seine Bemühungen gefunden zu haben … Durch den Aufruf, den ‚taqlid‘, die blinde Nachahmung der Traditionen, abzulegen und allein der Leitung der Vernunft zu vertrauen, hoffte er, daß Christen und Muslime gemeinsam den Weg zurück zur ‚Religion Gottes‘ finden könnten“. Schumann, Christus, 1975, 187. 197 Löffler, Herausforderung, 1973, 72. 198 Ebd. 73.
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nicht im Voraus abgewürgt werden“ dürfe. Christen seien überzeugt, dass die Wahrheit „darin [existiert], daß Er für die Wahrheit zeugt. (Joh. 18,37)“.199 Für die evangelische Begegnung mit Muslimen in Deutschland entwarf Löffler ein Art „Stufenprogramm“.200 (1) Zunächst müsse „mit dem Abbau von Mißverständnissen“ begonnen werden. „Das gängige Bild des Muslim ist erstaunlich vereinfacht und übertrieben negativ.“ Entscheidend sei, „die in Deutschland lebenden Muslime“ selbst zu hören, da ihre „Selbstinterpretation … eine unersetzliche Dimension“ zum Verständnis beitrage. (2) Das Ziel sei, dass „die Sensitivität gegenüber den muslimischen Nachbarn größer [wird] … und unsere Kapazität für Verstehen von andersartigem Denken und Empfinden“ zunimmt.201 Dazu sei (3) „der persönliche Kontakt mit Muslimen“ notwendig. (4) Schließlich empfahl Löffler den „Aufbau gemeinsamer Gesprächsgruppen … an vielen Orten“, die sich zunächst mit sozialen Problemen beschäftigen sollten. Daraus könnten sich dann „von selber Dialoggruppen weiterentwickeln, in denen die tieferen Hoffnungen, die Fragen des Glaubens ... in der gemeinsam durchlebten Situation in den Vordergrund treten“.202 DEK Dortmund 1963 (Höpfner)
DEK Düsseldorf 1973 (Löffler) Ähnlichkeiten
„Die „Klischee-Vorstellung über den Islam, die oft in den Freundeskreisen der Missionsgesellschaften anzutreffen [ist], [passt] nicht ... auf den fremden Gast.“
„Das gängige Bild des Muslim ist erstaunlich vereinfacht und übertrieben negativ.“
„Der Islam, zu dem er sich bekennt, ist aber nun wiederum so ganz anders als wir ihn bisher aus Literatur und Missionsbericht kennen.“
„Ein Prozeß der Neuinterpretation des [Islam] für eine veränderte Gegenwart und Zukunft [hat] unwiderruflich begonnen.“
Unterschiede „Meistens ist der moslemische Gast sehr liberal. Wir sehen ihn kaum beten.“
„Rückkehr zum ursprünglichen ... Islam“ als Antwort auf die Modernisierung.
„Viel entscheidender als die religiöse Diskussion ist die gläubige Existenz. Wir werden einem Moslem nur etwas sagen können, wenn unser Sein sich als christlich erweist.“
„Wir müssen uns theologisch entscheiden, ob wir eine neue freundschaftliche Beziehung zum Islam wollen.“
„Die Liebe wird die Orientalen aufsuchen in ihrem Heim, sie einladen in Gemeinden und Gemeinschaften.“
„Aufbau gemeinsamer Gesprächsgruppen “, „Dialoggruppen … in denen die tieferen Hoffnungen … in den Vordergrund treten.“
Tabelle 18: Textvergleich Kirchentage 1963 und 1973
199 200 201 202
Ebd. 75. Vöcking/Klautke, 25 Jahre, 2005, 30. Zit. ebd. 29–30; vgl. Lähnemann, Weltreligionen, 1986, 154. Löffler, Herausforderung, 1973, 77.
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Löfflers Referat in Düsseldorf 1973 fand zehn Jahre nach der Konferenz der Orientmissionen auf dem Kirchentag in Dortmund 1963 statt, die zur Entstehung des Orientdienstes geführt hatte. Die Vision, die Höpfner 1963 für den OD und die evangelische Begegnung mit Muslimen in Deutschland beschrieben hatte (s. IV.A.2.a), zeigt interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Löfflers Perspektiven von 1973 (siehe Tabelle 18). Auffällig war vor allem eine Akzentverschiebung: Höpfner warb für die Liebe zu Muslimen, Löffler darüber hinaus für eine „freundschaftliche Beziehung“ mit dem Islam. Löfflers inklusive missionstheologische Perspektive kam zunächst in seinem Aufsatz „Die arabische Welt als Testfall der Mission“ (1972) zum Ausdruck.203 Hier beklagte er ein Auseinanderdriften evangelikaler Missionspraxis (wie bei Operation Mobilisation) und neuer Missionstheologie (bei Kenneth Cragg oder Georges Khodr) in der christlichen Arbeit im Nahen Osten.204 Die Evangelikalen erreichten zwar viele Muslime,205 doch ihr konversionsorientierter Ansatz gehe auf Kosten der Gesamtbegegnung mit der islamischen Gesellschaft. Löffler plädierte für eine missionstheologische Neubesinnung als „Schlüssel für alle anstehenden Fragen“.206 Dazu reiche Hendrik Kraemers Ansatz (s. II.B.3.) nicht aus. Er sei gegenüber den alten Überlegenheitskonzepten zwar „wohltuend nüchtern und verfeinert“, bleibe aber bei der theologischen Konfrontation und der individuellen missionarischen Begegnung stecken, da für ihn „das Gespräch mit dem korporativen System des Islam … nicht nur praktisch nutzlos, sondern auch theologisch irrelevant sei“.207 Demgegenüber bemühte sich Löffler um eine theologische Aufwertung des Islam. Als „einzige Religion, die sich direkt auf die christliche Offenbarung bezieht“, könne der Islam in der christlichen Theologie als „Sonderfall“ betrachtet werden.208 Auch Cragg wolle „mit dem Islam als Ganzem durch ihn repräsentierende Vertreter ins Gespräch ... kommen“. Ausgangspunkt sei „die gemeinsam erfahrene menschliche Situation“ und die Überzeugung, dass die „wichtigen Fragen zwischen christlichem Glauben und Islam“ „noch weithin offen“ seien. Es treffe nicht zu, dass „der Koran Christus und die entscheidenden christlichen Wahrheiten dem Inhalt nach endgültig abgelehnt hat“. „Die echten Gemeinsamkeiten und Gegensätze“ könnten sich „erst im Dialog voll abzeichnen“.209 Löffler räumte ein, dass Cragg an der „Erwartung der Konversion“ in der „Sendung der Kirche“ festhalte.210 Dennoch gehe es Cragg um die Transformation der „ganzen islamischen Gemeinschaft“ und nicht nur darum, „ein paar Randsiedler zu errei-
203 204 205 206 207 208 209 210
Löffler, Testfall, 1972. Ebd. 49. Ebd. 50. Ebd. 54. Ebd. 53. Ebd. 54. Ebd. Ebd. 55.
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chen, deren Konversion eben eine Randerscheinung im Blick auf den Islam bleiben muß“.211 Nach dem Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974 und der 5. Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 milderte Löffler seine Kritik an konversionsorientierten missionarischen Ansätzen jedoch ab und betonte stattdessen die interreligiöse Gegenseitigkeit solcher Bemühungen.212 Auch seine optimistische Einschätzung der Veränderungsbereitschaft des „Islam als Ganzem“ relativierte sich. Unter erneutem Rückgriff auf die biblisch-theologischen Perspektiven der Bekehrungsstudie der 1960er Jahre beschrieb Löffler Bekehrung nun (1) als gesellschaftliche und persönliche religiöse Transformation, die Muslime und Christen verändere, (2) als christliche Anerkennung von echtem Glaubensgehorsam im Islam und (3) als legitimes Ziel christlicher Verkündigung. Ähnlich wie Höpfner (V.D.2.f) wollte Löffler mit dieser Sicht ein Verständnis von Bekehrung als Religionswechsel im Kontext christlich-islamischer Begegnung relativieren. Er betonte, der missionarische Dialog zwischen Christen und Muslimen schließe „eine Bekehrung nicht aus, aber doch nur als Umkehr, die beiden Partnern widerfährt“.213 Bisher habe sich für Muslime eine christliche Bekehrung „mit der Notwendigkeit eines Übertritts zu einer der Kirchengemeinschaften [verknotet]“. Angesichts der „Verschmelzung“ von Kultur, Religion und Familie im Nahen Osten bedeute dies aber „zwangsläufig Aufgabe der Gruppe, zu der man gehört, Verlust der Familie wie der kulturellen Identität, alles Wirklichkeiten, die eigentlich mit in das Heilwerden in Christus hineingehören“. 214 Im Anschluss an den armenischen Theologen Levonian215 meinte Löffler, dass alle „Bemühungen umsonst bleiben werden“, wenn nicht eine „Veränderung“ geschieht, „durch die sowohl Christen wie auch Moslems transformiert werden, in etwas Neues.“ Der christlichen Theologie verlangte Löffler die Bereitschaft ab, „Glaubensgehorsam“ auch im Islam zu entdecken. Bisher sei man davon ausgegangen, „daß, wer Christus nicht noetisch kennt, auch nicht Werke des Glaubensgehorsams tun kann“. Dies widerspreche der „Gleichrangigkeit von ‚Wahrheit‘ und ‚Gehorsam‘ im Neuen Testament“. Muslime praktizierten jedoch „nicht nur Ehrfurcht und Anbetung Gottes, sondern auch Gerechtigkeit, Güte, Vergebung und Liebe“.216 Selbst gegenüber der Bekehrung als Missionsziel zeigte sich Löffler nun offen. Zur Frankfurter Erklärung kommentierte er, das Konzept einer „auf Bekehrung drängenden Verkündigung“ stelle er nicht grundsätzlich in Frage, es müsse aber aus dreifacher Sicht neu durchdacht werden: (1) aufgrund der Einsicht, dass Bekehrung „das alleinige Werk Gottes“ ist und „nicht geistlich oder psychologisch 211 Diese Interpretation steht in Spannung zu Craggs Aussage: „This interpretation involves a person-to-person relationship … The progress or the contagion of the Kingdom of Heaven is ‚soul by soul‘. We cannot institutionalize the world into God’s Kingdom.“ Cragg, Minaret, 1956, 274, siehe II.C.2. 212 Löffler, Begegnung, 1975, vgl. Triebel, Bekehrung, 1976, 133ff; Hock, Spiegel, 1986, 206. 213 Löffler, Begegnung, 1975, 44. 214 Ebd. 46. 215 Zu Lufti Levonian vgl. Körner, Kirche, 2008, 266ff. 216 Löffler, Begegnung, 1975, 47.
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von uns gemacht werden darf“; (2) aufgrund des Verständnisses von Bekehrung als „Prozess der Neuorientierung …, dessen Anfangs- und Endpunkte oft nicht fixierbar sind“ und der sowohl Christen als auch Muslime herausfordert; (3) aufgrund der Bekehrung als „eschatologisches Geschehen“: „der Ruf zur Umkehr [geht] wohl an alle, aber seine volle Verwirklichung gehört in die eschatologische Zukunft“. Die christliche Gemeinde werde zwar „angewiesen, die Botschaft der Umkehr allen weiterzugeben“, aber ebenso „gemahnt, nicht zu richten, also dem Ende vorzugreifen.“217 c) Die Islamarbeit der VEM (Gerhard Jasper) 1973 begann der Theologe und Missionar Gerhard Jasper (1927–2007)218 eine evangelische Islamarbeit im Rahmen der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM), die sich schließlich zum Islamreferat der Rheinischen und Westfälischen Landeskirchen entwickelte.219 Auf der Hauptversammlung der VEM 1973 beschrieb man angesichts der Migration neue Aufgaben der Mission, vor allem „die missionarische Begegnung mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften in unserem eigenen Land“.220 Auch die westfälische Landeskirche beschloss auf ihrer Synode 1973, „Wege des Evangeliums zu den nichtchristlichen ausländischen Arbeitnehmern zu suchen und den Gemeinden zu helfen, ihren Auftrag an dieser Arbeit zu übernehmen“.221 Aufgrund seiner Missionserfahrungen in Tansania bat man Gerhard Jasper, der seit 1971 als Referent im Gemeindedienst für Weltmission der VEM tätig war, diese Aufgabe zu übernehmen. 1974 veranstaltete Jasper ein erstes Pastoralkolleg, um westfälische Pfarrer mit dem Thema Islam vertraut zu machen, zu dem er Höpfner einlud: „Als Hauptreferenten für dieses Neuland in der westfälischen Pfarrerfortbildung hatten wir den Leiter des Christlichen Orientdienstes in Wiesbaden, Pfarrer Willi Höpfner, gewonnen. ... Diesen sympathischen Mann bei Gesprächen mit Menschen aus Ägypten, Nordafrika oder dem Libanon zu beobachten, war bei seiner Herzlichkeit und seinem Humor eine beeindruckende Sache. Er beherrschte das Arabische absolut. Seine Gesprächspartner genossen dies zu erleben.“222
217 Ebd. 48. 218 Jasper war 1955–1971 Missionar der Rheinischen Mission in Tansania. Anfang der 1970er Jahre schloss sich die RM mit der Bethel-Mission zur VEM zusammen. In Tansania hatte Jasper friedliche Formen des Zusammenlebens zwischen muslimischen und christlichen Bevölkerungsgruppen kennengelernt. Nach anfänglicher Prägung durch den Ansatz von Kellerhals orientierte sich Jasper später an den Ansätzen Sigvard von Sicards (Selly Oak) und Kenneth Craggs, vgl. Jasper, Unterwegs, 2008, 32–33. 219 Nach 1985 wurde die Islamarbeit der VEM zur Evangelischen Beratungsstelle für Islamfragen der Rheinischen und Westfälischen Landeskirche, vgl. Jasper, Unterwegs 2008, 104–106. 220 Zit. bei Jasper, Unterwegs, 2008, 31. 221 Zit. ebd. 222 Ebd. 36.
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Doch auf die Dauer sah Jasper Höpfners differenztheologische Perspektive auf den Islam kritisch. Er fragte sich, ob „Willi Höpfner der rechte Wegleiter“ für die Islamarbeit der evangelischen Kirchen sei:223 „Vor deutschen Gemeinden erlebte ich ihn ganz anders. Ihn trieb die Sorge, dass bei der Verflachung unseres christlichen Glaubens eine islamische Unterwanderung geschehen könne und dass viele, vor allem junge Menschen, unfähig wären, die Unterschiede in Kultur und Glaubensweisen richtig einzuschätzen und ernst zu nehmen. Dies zeige sich daran, dass deutsche Frauen in Ehen mit muslimischen Männern oft an dem Kulturschock zerbrechen, dem ihr gemeinsames Leben früher oder später ausgesetzt sein werde, weil sie den Normen der fremden Religion nicht gewachsen seien, in der allein der Mann ,das religiöse Leben bestimmte.“224
Missionstheologisch stand Jasper näher bei dem oben beschriebenen Ansatz Paul Löfflers; die Förderung des gesellschaftlichen Miteinanders von mehrheitlich christlich geprägter Bevölkerung und muslimischen Zuwanderern in den Stadteilen und Dörfern sah Jasper als dringlichstes missionarisches Anliegen. Erst dadurch würden Türen und Ohren von Muslimen auch für das Zeugnis des Evangeliums geöffnet. Um Brücken zu bauen, suchte Jasper die Begegnung mit Imamen und Hodschas in den oft versteckten Moscheeräumen und Kulturzentren. Für ein nächstes Pastoralkolleg lud er den deutschsprachigen Muslim M. S. Abdullah als Referenten ein. Statt der „Auseinander-Setzung“ mit dem Islam sollte diesmal das „Zusammenleben“ betont werden. Abdullah setzte sich im Rahmen des Pastoralkollegs (wie bereits in seiner Schrift mit Mildenberger, siehe oben) für einen „voll anerkannte[n] Islam in Deutschland“ ein, der „seine eigenen Antworten auf die Fragen des Lebens in Zentraleuropa“ sucht und sich in Deutsch artikuliert.225 Nicht in allen Kirchengemeinden stieß Jaspers dialogischer Neuansatz auf Verständnis. Manche warfen ihm vor, „das Zeugnis unseres Glaubens zu verraten“.226 Jasper seinerseits kritisierte „nicht ganz durchdachte Missionsversuche konservativer christlicher Gruppen“; sie würden „sich bildendes kommunales Aufeinanderzuwachsen gefährden“.227 d) Die DEMR-Handreichung „Muslime, unsere Nachbarn“ (1977) Die bisherigen (Höpfner) und neuen (Löffler, Jasper) Ansätze evangelischer Islambegegnung flossen in eine Islam-Arbeitsgruppe des DEMR ein, die sich zum Ziel setzte, in Ergänzung zu den bisher erschienenen Handreichungen (Kirchlichen Außenamt der EKD sowie EZW) eine ausgeprägte missionstheologische Orientierung zu bieten, als „evangelische Grundlage für das Verstehen und die
223 224 225 226 227
Ebd. Ebd. 36. Ebd. 86. Ebd. 58. Ebd. 47, vgl. 110.
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Orientierung in den kommenden Gesprächen über den Glauben mit Muslimen“.228 Die Handreichung erschien 1977 unter dem Titel Muslime – Unsere Nachbarn im Auftrag der Kommission „Gemeindedienst für Weltmission und Ökumene“ des DEMR (der sich eigentlich schon aufgelöst hatte),229 herausgegeben von Jasper,230 unter Mitwirkung von Höpfner, Löffler und dem Mainzer Missionswissenschaftler Ulrich Schoen.231 Die Handreichung sollte den neuen missionstheologischen Ansatz zum Ausdruck bringen, wobei das missionarische Zeugnis gegenüber Muslimen „nicht ausgeklammert werden“ sollte. Gerade „im Einstehen für den eigenen Glauben“ sollten „Fehleinschätzungen des Islam und Vorurteile gegen die Muslime“ überwunden werden. Religionstheologisch verfolgte die Handreichung das von Löffler, Jasper und Schoen befürwortete „Verständnis“, dass Muslime „mit uns zusammen an den gleichen, den Einen Gott glauben, weil es nur ihn gibt“.232 Mohammed sollte „in einer sympathischeren Weise“ gesehen werden, „die gerade wegen unserer Bindung an Christus Jesus, Gottes Urteil über diesen Propheten nicht vorwegnimmt“.233 Höpfners differenztheologische Linie in der Tradition Hendrik Kraemers ließ sich damit nicht ganz problemlos verbinden.234 Dennoch wollte man Höpfners Ansatz bewusst integrieren, um einen möglichst breiten evangelischen Konsens auszudrücken. Jasper, der Herausgeber, erinnert sich: „Für Willi Höpfner war es nicht leicht, diese Haltung nachzuvollziehen. Damit eine auch für Konservative akzeptable Sicht des Islam bei unserem Unternehmen herauskäme, hatte er gleich am Anfang darum gebeten, die Kapitel ‚Der Koran - das heilige Buch der Muslime‘ und ‚Jesus im Koran und Neuen Testament‘ übernehmen zu können. Er verfasste sie zuerst ganz im Sinn der Auseinandersetzung zwischen dem Islam und unserem Glauben. Darin war Willi Höpfner ein aufrechter Kämpfer. Aber er versuchte auch, auf die Einwände von uns Jüngeren zu hören. Ich habe sie dann noch einmal in einem Schriftwechsel verfochten. Dadurch gelang es, ihm die jetzige Form abzuringen. ‚Nur mit Knurren stimme ich zu - und jetzt kein Komma mehr geändert! Sonst ziehe ich alles zurück‘, meinte er schließlich am Telefon. So haben wir seine wichtige Stimme halten können, die die unterschiedlichen Sichtweisen über das Wesen der jeweils ‚Heiligen Schrift‘ und dann natürlich der grundlegenden Heilstat Gottes für uns Menschen in Jesus Christus aufweist.“235
228 Jasper, Unterwegs im Dialog, 2008, 90, vgl. Mildenberger, Begegnung, 1982, 43; Micksch, Zusammenleben, [1980] 1981, 5. 229 Der DEMR löste sich zusammen mit dem DEMT zum 31.12.1976 auf. Rechtsnachfolger wurde das Evangelische Missionswerk in Deutschland (EMW) mit Sitz in Hamburg, vgl. Hering, Missionsrat, 2002; ZuD-EMO Nachrichten 6/1976, 95. 230 Jasper, Muslime – unsere Nachbarn, 1977. 231 Ulrich Schoen (geb. 1926), Argrarwissenschaftler (mit Felderfahrung in Nordafrika) und Missionswissenschaftler, lehrte in Mainz, Beirut und Paris und wirkte in der Dialogabteilung des ÖRK in Genf. 232 Jasper, Unterwegs im Dialog, 2008, 90. 233 Ebd. 91. 234 Ausführlich zu Höpfners Theologie siehe V.D.2. 235 Jasper, Unterwegs im Dialog, 2008, 91.
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Schoen: Den Islam zu sich her ziehen In seinem Beitrag „Wir beide – nebeneinander – vor Gott“ arbeitete Ulrich Schoen, im Teilanschluss an Kenneth Cragg, Gemeinsamkeiten zwischen Muslimen und Christen heraus und lud zum christlichen Mitbeten der al-Fatiha (eröffnende Sure des Koran) ein, die auf der vorderen Umschlaginnenseite der Handreichung neben dem Vater Unser in interlinearer Übersetzung (arabische Umschrift und deutsch) abgedruckt war.236 Dies bringe zwar „eine gewisse ‚Verchristlichung‘ des so dargestellten Islam mit sich“, doch gleichzeitig zeige es Respekt: man ziehe die „‚christlichen Schuhe‘ vor der Moschee aus und betrete heiligen Boden außerhalb des eigenen Bereichs. Ich lasse mich so in meinem Innern von jemand anderem formen und bilden, der von draußen kommt.“ Damit könne die Tendenz der Verchristlichung wieder „korrigiert“ werden. Diese „Annäherung“ bringe „um der Wahrheit willen“ nicht nur das Gemeinsame, sondern auch das Trennende zum Vorschein, wie die unterschiedliche Sicht vom wiederkommenden Jesus als Zerstörer oder als Bestätiger der „Wahrheit des Kreuzes“. Schoens zweiter Beitrag, „Mohammed, das Siegel der Propheten“ bezog sich auf Sure 17,1 und die Tradition der „Nacht der Entrückung“ nach der Mohammed von Abraham, Mose, David und Jesus in seinem Auftrag bestätigt wurde. Heutige Muslime fühlten sich eng mit Mohammed verbunden und sähen in „ihm keinen Gott, sondern einen Menschen … wie wir alle, in seiner Schönheit und seinen Schwächen […], bisweilen sogar als Urbild des vollkommenen Menschen“.237 Schoen kam zum Schluss: „Können wir gegenüber einem Menschen gleichgültig sein, den so viele ... um Gottes willen lieben?“ Christen sollten die Sicht der Muslime zu Mohammed achten und es lernen, „Mohammed gerechter zu beurteilen“. Dennoch bleibe „für uns offenbar“, „daß Gott in Jesus Christus den Weg, die Wahrheit und das Leben zeigt. In ihm und mit ihm und durch ihn richtet sich unser Blick auf Gott und sein die Blicke verzehrendes Licht. Er ist der Morgenstern angesichts der aufgehenden Sonne, vor dem alle übrigen Sterne verblassen.“238 Jasper: mit Muslimen Gott erfahren Jasper reflektierte die „Einzigartigkeit Jesu“ und das christliche Zeugnis im Horizont von Craggs Vorstellung, den „fragenden Blick meines muslimischen Freundes, wie er mir über die Schulter schaut und mitliest“, zu spüren.239 Jasper unterschied zwischen der gesellschaftlichen, religiösen und missionarischen Herausforderung der Islambegegnung. Gesellschaftlich sei ernst zu nehmen, dass viele muslimische Migranten nach dem Anwerbestopp „für immer hier bleiben werden“. Außerdem sei „die Bundesrepublik … auf ihre Mitarbeit angewiesen“. „Sie 236 237 238 239
Schoen, Wir beide, 1977, 22–26. Schoen, Mohammed, 1977, 40–44. Ebd. 44. Cragg zit. bei Jasper, Einleitung, 1977, 7.
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sollten sich in unserem Land nicht als Fremde fühlen müssen, sondern je länger je mehr als vollberechtigte Mitbürger.“ Jasper wünschte sich, dass Christen Muslimen „als Menschen und Freunde begegnen“ und sich „von Enttäuschungen nicht entmutigen“ lassen.240 Eine religiöse Herausforderung sei es, „als Christen in den Islam hineinzuhören und sich von ihm befragen zu lassen“.241 Dabei hoffte Jasper, dass „Christen und Muslime entdecken, dass es auch dem anderen um Gott geht, daß für den Christen der Muslim kein ‚Heide‘ ist und für den Muslim der Christ kein ‚Ungläubiger‘ (Kafir); wir werden gewahr, daß wir im Gebet nebeneinander vor Gott stehen …, denn als Christ und Muslim steht jeder in einer Gemeinschaft, in der er auf Gottes Willen und auf seine Offenbarung hören will.“242
In dieser Haltung könne es zum missionarischen Gespräch kommen, um „den Reichtum beider Religionen“ zu entdecken, die Unterschiede deutlich wahrzunehmen und „dem anderen Christus verständlich zu bezeugen“. In dieser Perspektive beschrieb Jasper in seinem zweiten Beitrag „Beten, Fasten – Feiern, Helfen und Bekennen“ die fünf Säulen des Islams: „Sie sind die tragenden Säulen des geistlichen Tempels des Islam. Jeder, der sie sich zu eigen macht, gehört zum ‚Haus des Islam‘ und darf auf das ewige Leben hoffen.“243 Jaspers Darstellung bemühte sich, die islamischen Inhalte mit eigener christlicher Glaubenserfahrung zu identifizieren. In seinem Kommentar zur ersten Hälfte der Schahada, des islamischen Glaubensbekenntnisses (das auf der inneren hinteren Umschlagseite der Handreichung neben dem apostolischen Glaubensbekenntnis abgedruckt war), schrieb er: „Das Leben kann nur durch das Sich-Einordnen in den Willen Gottes sinnvoll sein. Er allein gibt Halt und Trost; er allein ist Kraftquell und Zuflucht im Leben. Nur in ihm haben wir den verläßlichen Orientierungspunkt …. Wir Menschen sind als seine Geschöpfe nur Knechte … und müssen um seine Hilfe und Erleuchtung bitten.“244 Gleichzeitig forderte Jasper die christlichen Leser auf, „uns selber klarer zu werden über die Einzigartigkeit Jesu und das Heil und den Frieden Gottes, der durch ihn gegeben wird.“245 Höpfner: evangelistische Differenztheologie Höpfner interpretierte das islamische Koranverständnis und das koranische Jesusbild in den für ihn charakteristischen religionsgeschichtlichen und differenztheologischen Perspektiven. Am Ende ließ er seine Ausführungen (in einer eigenwilligen Anwendung von Jaspers Erwähnung des eventuell mitlesenden Muslims) in eine missionarische Einladung an muslimische Leser münden. Im ersten Beitrag 240 241 242 243 244 245
Jasper, Einleitung, 1977, 5. Ebd. 6. Ebd. 7. Jasper, Beten, 1977, 18. Ebd. 20. Ebd. 21.
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(„Der Koran – das Heilige Buch der Muslime“) betonte Höpfner den Charakter des Islam als „Buchreligion“ und zitierte wieder einmal Kraemer: „Im Islam wurde das Wort Buch, im Evangelium wurde das Wort Fleisch (Person).“246 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Koran und Bibel interpretierte Höpfner in der klassischen religionsgeschichtlichen Perspektive: „In Medina und an anderen Orten der arabischen Halbinsel besaßen die Juden als heiliges [Buch] die Thora. … Die Christen hatten das Evangelium. Beide Religionsgemeinschaften rezitierten die Texte ihrer Heiligen Bücher in ihren Gottesdiensten in psalmodierender Form mit langgezogener Stimme, begleitet von rhythmischen Bewegungen des Körpers. Dieses so rezitierte ‚Wort‘ schuf eine mystische Atmosphäre. Das Heilige war geradezu greifbar. Mohammed gab dem islamischen Gottesdienst später ähnliche Formen. Er sagt in Sure 39,23[24]: ‚Allah hat die beste Verkündigung … herabgesandt, eine sich gleichartig wiederholende Schrift mit Erzählungen, die diejenigen, die ihren Herrn fürchten (zuerst) zum Schaudern bringt, hierauf (aber) an Leib und Seele besänftigt und dazu anhält, Gottes zu gedenken.‘“247
Mohammed habe den Koran zunächst als übereinstimmende arabische Version der jüdischen und christlichen heiligen Schriften verstanden. Erst als in der Rezeption „die Unterschiede zu den jüdischen und christlichen Schriften deutlich wurden, kam Mohammed zu dem Schluß, sie seien an entscheidender Stelle geändert“.248 Das muslimische Koranverständnis fasste Höpfner ähnlich wie bereits in der Handreichung des Kirchlichen Außenamts so zusammen: „Für den Muslim sind die im Koran zusammengefaßten Sprüche das ‚Wort Gottes‘“. Der Koran „ist Allahs inspiriertes Wort und seine Offenbarung. Er ist notwendigerweise mit ihm zusammenhängendes Attribut. … Seine inspirierten Worte, sein geschriebener Text und seine Verse sind notwendig für den Menschen. Doch das Wort Gottes ist fixiert im Wesen Allahs. Wer sagt, es sei geschaffen, der ist ein Ungläubiger.“249 Höpfners zweiter Beitrag („Jesus im Koran und im Neuen Testament“)250 beschrieb Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten in der Jesus-Darstellung der beiden heiligen Schriften, zielte aber darauf ab, die koranische Fassung als Umdeutung des neutestamentlichen Jesusbilds aufzuzeigen: „Wer mit einem Muslim über Jesus sprechen will, muß wissen, dass dieser bereits ein fest geprägtes Jesus-Bild hat. Nach seiner Meinung ist alles Wesentliche über Jesus im Koran zu finden. Darum braucht man das Neue Testament nicht. Darüber hinaus ist nach muslimischer Ansicht das Jesus-Bild in den Evangelien verändert und gefälscht.“251 Dies machte Höpfner an Beispielen im Koran deutlich (Jesus als „Sohn der Maria“ „ohne Vater geboren“, Jesus als Messias).Besonders betonte Höpfner die Differenz aufgrund der islamischen „Ablehnung des Kreuzes“. Der Islam lehne unter
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Höpfner, Koran, 1977, 30, zu Höpfners Kraemer-Rezeption siehe V.C.5.c). Höpfner, Koran, 1977, 27. Das Koranzitat folgt der Übersetzung von Rudi Paret. Ebd. Ebd. 28. Höpfner, Jesus, 1977; vgl. Höpfner, Jesusbild, 1971. Höpfner, Jesus, 1977, 31.
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Berufung auf Sure 4, 157 [156]252 „die geschichtliche Tatsache der Kreuzigung Jesu, ihre Bedeutung und ihren Heilssinn ab.“ Höpfner erklärte: „Für den Muslim sind die übergreifende Allmacht Allahs einerseits, die Ohnmacht und das Sterben seines Gesandten am Kreuz andererseits unvereinbare Gegensätze.“253 Das Neue Testament gehe dagegen davon aus, dass „im Sterben Jesu auf Golgatha … der keinen Menschen aussparende Fluch des Bösen offenbar [wird]“. „Im Kreuz muß der Mensch sich dieser Tatsache stellen und wird doch von Gott her mit der Gewißheit der Vergebung und des unverdienten Heiles begnadet.“ 254 Am Ende nahm Höpfners Beitrag eine Wende in Richtung missionarischer Ansprache. In kontextualisierender Anknüpfung an islamische Denkformen (im Folgenden kursiv) wandte sich Höpfner an christliche und muslimische Mit-Leser: „In Jesus Christus sehen wir den, der das Bekenntnis zu dem einen Gott nicht nur lehrte, sondern auch lebte. Er lehnte alle irdische Macht ab, die ihm angeboten wurde. Seine Antwort an den Versucher war: ‚Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen!‘ Für ihn gab es keine ‚Beigesellung‘ (schirk). … Darum betete er noch in Gethsemane: ‚Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!‘ So verwirklicht Jesus die alleinige Anbetung Gottes: ‚Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist‘, diese Worte am Kreuz sind gleichsam das Siegel seiner Hingabe. Diese Verwirklichung der Herrschaft des Einen Gottes im Leben und Sterben Jesu hat die Welt befreit von ihrer Abgötterei. Wir sollen Jesus darum als Glaubende in unser Denken und Handeln aufnehmen, damit seine erlösende Kraft in unserem Leben wirksam werden kann. Das ist Ergebung in den Willen Gottes.“255
Auf dieser Linie schloss Höpfner liturgisch: „Ewiger, heiliger Gott/ Du allein bist der einzige, dem Anbetung gebührt/ Es ist kein Gott außer dir/ Sei du der Herr auch unseres Lebens/ Nimm die Gespaltenheit unseres Lebens und Denkens/ die Abgötterei unserer Lust/ die Angst vor den Menschen und Mächten / Gib uns die Einfalt des Glaubens/ die Reinheit der Gedanken / Laß uns den Göttern dieser Welt absagen/ und dich durch Jesus Christus in Wahrheit ehren/ als Herrn und Erlöser. Amen.“ 256
Löffler: missionstheologischer Konsens? Abschließend brachte Löffler die unterschiedlich geprägten Beiträge der Handreichung auf den gemeinsamen Punkt der „Unaufgebbarkeit des christlichen Zeugnisses“.257 Allen Autoren sei es zunächst darum gegangen, „Lehre und Leben des Islam … von innen her zu verstehen“.258 Angesichts der geschichtlichen Belastung des christlich-islamischen Verhältnisses müssten „unsere Gespräche damit beginnen, daß wir ihre Religion so verstehen lernen, wie sie selber sie glauben und leben“. Dabei sollten „die Unterschiede nicht verwischt werden. Das Heil in 252 „Sie haben ihn in Wirklichkeit nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer ähnlich).“ 253 Höpfner, Jesus,1977, 37. 254 Ebd. 255 Ebd. 38. 256 Ebd. 39. 257 Löffler, Unaufgebbarkeit, 1977. 258 Ebd. 49.
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Jesus Christus muß auch Muslimen bezeugt werden. Dabei wird allerdings Bekenntnis gegen Bekenntnis stehen.“259 Daraus ergebe sich für missionarische Christen eine „unaufhebbare Spannung“ zwischen dem Ernstnehmen des Selbstverständnisses des Islam und dem eigenen „Glauben an den Gekreuzigten und Auferstanden [als] das Zentrum unseres christlichen Lebens“. Auf diesem Hintergrund beschrieb Löffler drei Grundzüge evangelischer Begegnung mit muslimischen Migranten: (1) „Wenn wir Muslime zur Nachfolge Christi werben, dann so, daß sie sich nicht gedrängt fühlen und daß wir uns hüten, in der Begegnung mit ihnen Mittel zu benutzen, die nichts mit dem Evangelium zu tun haben.“260 (2) „Wendet sich aber ein Muslim dem Evangelium zu, dann haben wir zu versuchen, als Gemeinde Christi seine alte Geborgenheit in der Gemeinschaft des ‚Hauses des Islam‘ zu ersetzen. Auf keinen Fall geht es einfach um eine Einordnung in westliche Lebensweise und westliche Kirchlichkeit.“261 (3) „Das volle Zeugnis von Jesus Christus ist nicht nur ein Zeugnis in Worten.“ Auch „Taten der Solidarität und Aufnahme in brüderlicher Liebe von den christlichen Gemeinden“ gehörten zur missionarischen Begegnung mit Muslimen. „Nur verbunden mit beiden wird das Zeugnis von Jesus Christus echt klingen. Nur so hat es Sinn. Denn es geht beim missionarischen Auftrag nicht nur um das Nennen von Namen, sondern um die Darstellung der Kraft Jesu Christi in Wort und Tat.“262 Insgesamt stellt die Handreichung des DEMR den bemerkenswerten Versuch dar, Grundlinien für einen neuen evangelischen Konsens im Blick auf das christliche Zeugnis unter muslimischen Migranten in der Bundesrepublik zu skizzieren. Dabei zeigt sich die Handreichung zwar anschlussfähig an die gesellschaftspolitischen Perspektiven im AKDAA und die Dialogarbeit im EZW, setzte aber auch deutliche eigene missionstheologische Akzente, die die Unterschiede, aber auch die Kontinuität der Konzepte von Höpfner und Löffler deutlich machten. Wie brüchig der hier vorgetragene evangelische Konsens in Wirklichkeit jedoch war, zeigte bereits im folgenden Jahr die erste Islamkonferenz der europäischen Kirchen von Salzburg 1978, die weiter unten beschrieben wird (s. VI.C.5.). Zunächst soll jedoch ein kurzer Blick auf die Anfänge der katholischen Islamarbeit unter Migranten in den 1970er Jahren geworfen werden.
259 Löffler, Unaufgebbarkeit, 1977, 50. Löffler stand in dieser Hinsicht inzwischen offensichtlich (ähnlich wie Höpfner) näher bei Bijlefeld als bei Cragg. Während Cragg sich bemühte, im Islam christliche Wahrheit zu finden, warnte Bijlefeld davor, in den islamischen Texten „einen tieferen Sinn [zu sehen], als sie für Muhammed oder irgendeinen Muslim nach ihm gehabt haben“. Bijlefeld, Islam-Studium und Islam-Apostolat, 1965, 48. 260 Wie ambivalent dies von muslimischer Seite interpretiert werden konnte, z.B. im Blick auf christliche Diakonie, hatte die Chambesy-Konferenz 1976 gezeigt, auf die Löffler hier anspielte, ohne die problematischen Aspekte zu kommentieren. Cragg hingegen fand die muslimische Argumentation in Chambesy „extremly desolating“, siehe II.D.2.a) und b). 261 Löffler, Unaufgebbarkeit, 1977, 50. 262 Ebd. 51.
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4. Katholische Islamarbeit: die ÖKNI in Köln Die Ökumenische Kontaktstelle für Nichtchristen (ÖKNI) im Erzbistum Köln kann als erste offizielle Initiative der katholischen Kirche zur Begegnung mit muslimischen Migranten in der Bundesrepublik Deutschland gelten. 1973 wandte sich das Bistum auf Anregung des Kölner Erzbischofs Josef Kardinal Höffner (1906–1987) mit dem Anliegen der Gründung einer christlich-islamischen Begegnungsstelle263 an den deutschsprachigen Zweig des Missionsordens der Weißen Väter:264 „Viele der etwa hunderttausend Moslems in der Erzdiözese Köln kehren in ihre Heimat zurück, ohne je mit den Christen und der Kirche in Kontakt gekommen zu sein; und das geschieht in einem so genannten christlichen Land. Die Erzdiözese Köln möchte ihre ökumenische Einstellung dadurch kundtun, dass sie die Möglichkeit der Begegnung zwischen Christen und Moslems schafft, dass sie dazu beiträgt, Vorurteile abzubauen, die zwischen beiden Religionen herrschen.“265
In Absprache mit dem Generalat in Rom entwickelten die Weißen Väter in Deutschland ein Konzept, dessen theologische Grundlage sich an den religionstheologischen Aussagen des 2. Vatikanischen Konzils und den davon abgeleiteten Kapitelsdokumenten der Weißen Väter orientierte. Dort hieß es unter anderem: „Gott hat den Dialog des Heils der Nichtchristen begonnen. Wir müssen diesen fortsetzen. Wir gehen dabei von ihren religiösen Werten aus, die sie schon besitzen (Ad Gentes 13).“ Weiter: „Wir schulden auch denen unsere Hilfe, die aus echter Überzeugung in ihrer Religion bleiben und sterben wollen. Wir arbeiten mit am Werk des Heiligen Geistes, wenn wir sie zu einem rechten Gebrauch ihrer religiösen Werte anleiten, sie schützen und läutern.“266 Werner Wanzura, Mitglied der Missionskongregation der Weißen Väter, wurde zum Leiter der neuen Begegnungsstelle berufen und bekräftigte: „Ziel unserer Arbeit unter den Moslems darf und kann nicht die Bekehrung zum Christentum sein. Unser Ziel ist die Begegnung auf menschlicher Ebene, um von da aus langsam auf Gott, der unser Aller Schöpfer ist, zugehen zu können, indem wir uns auf dem Weg gegenseitig unterstützen und helfen.“267 Wanzura leitete die Arbeit mit einem Team aus Weißen Vätern und Weißen Schwestern sowie katholischen Laien. Die Zeit bis zur offiziellen Eröffnung im November 1974 nutzten die Mit263 Vgl. Wanzura, Arbeit, 1977, 84; Ders., Spuren, 1996, 26–27. Als vorlaufender Schritt in diese Richtung kann die Entscheidung des Vorgängers von Höffner, Josef Kardinal Frings, im Frühjahr 1965 gesehen werden, türkischen Muslimen den Kölner Dom für die Feier des Ramadan-Abschlusses zur Verfügung zu stellen, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 138. 264 Der katholische Missionsorden der Afrika-Missionare Weiße Väter war 1868 von dem französischen Bischof (Algier und Carthage) Charles Laverigie gegründet worden und auf die missionarische Arbeit unter Muslimen in Nordafrika spezialisiert. Später weitete der Orden sein Tätigkeitsfeld nach Zentralafrika aus. Im Zentrum standen Sprach- und Kulturforschung, diakonische Arbeit und Katechetik, vgl. Bevans/Schroeder, Constants, 2004, 224f. 265 Zit. bei Wanzura, Arbeit, 1977, 84; vgl. Elsas, Ausländerarbeit, 1982, 133ff. 266 Zit. bei Wanzura, Arbeit, 1977, 85. 267 Ebd.
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arbeiter zum Studium der türkischen Sprache und Kultur sowie zu Kontakten mit verschiedenen christlichen, türkischen und arabischen Einrichtungen.268 Die praktische Arbeit der ÖKNI bestand dann vor allem in „individuelle[r] Kontaktaufnahme und freundschaftliche[n] Beziehungen“. Wanzura beschrieb sieben Schwerpunkte: (1) Persönliche Gespräche: diese wechselten „fast immer von sozialen Bedürfnissen auf persönlich-menschliche Probleme und vor allem religiöse Fragen über […], sobald eine gegenseitige Vertrauensbasis besteht“.269 Die ÖKNI verstehe sich auch nicht als „soziale Beratungsstelle“, sondern leite „Personen an andere Stellen weiter“, vor allem die AWO. Viele Besucher kämen „nur zu einem freundlichen Gedankenaustausch“. Muslimische Studenten hätten den Stab „stundenlang mit Fragen über Islam und Christentum“ belagert; (2) Vielfach würden die Mitarbeiter zu Familienbesuchen eingeladen. Im Pfarrbezirk der nördlichen Kölner Innenstadt wurden in zwei Monaten 40 Familien besucht; (3) Einladungen in die Moschee und zum anschließenden Essen an islamischen Festtagen: bei diesen eher offiziellen Kontakten sei es auch zum feierlichen Austausch der jeweiligen Heiligen Schriften, Koran und Neues Testament, gekommen; (4) Deutschkurse; (5) Jungschararbeit mit Jungen und Mädchen; (6) die Arbeit als Sozialberatungsstelle für Araber, „da unsere beiden Schwestern arabisch sprechen“; (7) ein Gesprächskreis von Christen und Moslems, der „als sehr nützlich auf beiden Seiten“ empfunden wird.270 Neben der unmittelbaren Begegnungsarbeit stand die Informations- und Unterstützungsarbeit in der katholischen Bevölkerung: Informationstagungen in kirchlichen Kreisen und Beratung von Geistlichen, Vermittlung von türkischsprachiger Literatur an Krankenhausseelsorger, Unterstützung von Hausaufgabenhilfe-Initiativen. Diese Orientierungsangebote für Christen stießen auf große Resonanz. Als Beispiel kann eine Reihe von Informationsabenden der ÖKNI zum Thema „Islam und Christentum – Begegnung zweier Weltreligionen: Möglichkeiten der Ökumene?“ im Mai 1975 in Köln genannt werden. „Nach den ersten Abenden war der Andrang so groß, daß … man in die benachbarte Kirche ausweichen mußte.“271 1977 zog Wanzura ein erstes, positives Fazit: In mühevoller Kleinarbeit habe „das anfängliche Erstaunen und Mißtrauen – sowohl bei Moslems als auch bei Katholiken“ überwunden werden können. Das Resultat sei ermutigend, dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, „daß wir auch auf Mißtrauen, Ablehnung, üble Nachrede und Feinschaft stoßen“.272 Als wichtigstes Ergebnis hielt er fest, dass „die Skepsis der Moslems gegen die katholischen Priester und die Schwestern, und damit gegen die Kirche im Raum Köln zum Teil stark nach-
268 Vgl. Wanzura, Arbeit, 1977, 87. Neben dem Islamkurs am Institut für Arabische Studien in Rom besuchte Wanzura u.a. auch eine Islamtagung des Orientdienstes in Kaub am Rhein (s. IV.D.3.), vgl. Teilnehmerliste des Kurses vom 26.10. – 4.11.1973, OD-Archiv. 269 Wanzura, Arbeit, 1977, 88. 270 Ebd. 90. 271 Fitzgerald et al, Moslems und Christen, 1976, 9. 272 Wanzura, Arbeit, 1977, 89.
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gelassen hat. Wir finden offene Türen bei vielen Moslems und eine Offenheit im Umgang, die so nicht in allen moslemischen Ländern möglich ist.“273 Eng verbunden mit der Arbeit der ÖKNI war die ab 1976 von Wanzura, Fitzgerald und Khoury herausgegebene Buchserie Islam und die westliche Welt, um „Grundkenntnisse über den Islam [zu] vermitteln, über die konkrete Entwicklung der Gespräche [zu] berichten und die Ergebnisse der Islamforschung [zu] dokumentieren, in der Hoffnung, damit einen aktiven Beitrag zum Dialog zu leisten“.274 Auch M. S. Abdullah war als Autor beteiligt. Im Dezember 1976 richte die Deutsche Bischofskonferenz eine „Ständige Arbeitsgruppe für christlichislamische Beziehungen und für Kontakte zu anderen Weltreligionen“ (SACIB) ein und berief Weihbischof Julius Angerhausen zum Leiter.275 Die SACIB führte 1977 eine Tagung zum Thema „Moslems unter uns – Herausforderung an die Kirche“ durch, an der M.S. Abdullah und Smail Balic als muslimische Vertreter und Referenten teilnahmen.276 Aus den Anfängen in Köln entwickelte die Provinzleitung der Weißen Väter 1978 die überregional orientierte Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO), die 1980 nach Frankfurt umzog.277 Seit 1997 ist die Deutsche Bischofskonferenz Träger von CIBEDO.278 5. Sprachlos in Salzburg 1978: Missionstheologischer impasse auf dem Weg zum Islam-in-Europa-Ausschuss Während die Handreichung des DEMR, Muslime – unsere Nachbarn (1977), mit Beiträgen von Jasper, Höpfner, Löffler und Schoen versucht hatte, einen gewissen missionstheologischen Konsens darzustellen, gelang dies auf der ersten europäischen Konferenz zur christlich-muslimischen Begegnung vom 6. bis 11.2.1978 in Salzburg nicht mehr. Die Konferenz war vom europäischen Verbindungskomitee des Islam-in-Afrika-Projektes (IAP)279 und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) unter dem Motto „Kirche und muslimische Präsenz in Europa“ vorbereitet worden. Eine der Wurzeln der Konferenz reicht jedoch zurück zu einer Studie zur evangelischen Islambegegnung in Europa, die Anfang der 1970er Jahre vom Verbindungskomitee des IAP und dem DEMR angeregt, aber nie abgeschlossen worden war. Der DEMR hatte sich damals auch an den Orientdienst gewandt.280 Nach 273 Ebd. 91. 274 Fitzgerald et al, Moslems und Christen, 1976, 10. 275 Julius Angerhausen (1911–1990) war Diözesanseelsorger der CAJ (Catholische Arbeiterjugend) in Münster und ab 1953 Nationalkaplan der CAJ für ganz Deutschland. 1959 wurde er Bischof von Essen, vgl. Afrikabibliothek im Haus der Afrikamissionare Weisse Väter (Trier), Buch-Katalog, www.afrikabibliothek.de, Abruf 25.03.2008. 276 SACIB, Christen, 1977. 277 Den Aufbau von CIBEDO leitete Pater Hans Vöcking, vgl. Deutschsprachige Provinz der Afrikamissionare-Weisse Väter, Begegnung mit dem Islam in Deutschland, www.afrikamissionare.de/arbeit/islam.htm, Abruf 17.03.2008. 278 Vgl. CIBEDO, www.cibedo.de, Abruf 11.07.2007. 279 Zum IAP siehe II.C.3. 280 Vgl. Buttler, Brief an Höpfner, 7.1.1972, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818.
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ersten Umfragen und Beobachtungsreisen, die Höpfner daraufhin zusammen mit dem türkischen Soziologen Enver Esenkova unternommen hatte, schlug Höpfner Esenkova als Koordinator der Studie vor: „Professor Enver Esenkova halte ich für den geeigneten Mann.“281 Da die geplante europaweite Studie jedoch nicht zustande kam, wurde das Thema schließlich in Form einer europäischen Studienkonferenz neu aufgegriffen, zu der neben den evangelischen und katholischen auch muslimische Vertreter eingeladen waren, u.a. Azam Alyakbarov (UdSSR), Ali Murad (Algerien/Frankreich) und der österreichische Islamgelehrte Smail Balic. Die Vertreter kirchlicher Islaminitiativen repräsentierten verschiedene Länder (z.B. Mildenberger, Löffler, Höpfner, Troeger u.a. für Deutschland, Nielsen, Crossley, Sookhdeo für Großbritannien, Jan Slomp für die Niederlande etc.) sowie kirchliche Institutionen (Michael Fitzgerald vertrat das Römisch-Katholische Sekretariat für Nichtchristen,282 John B. Taylor die Dialogarbeit des ÖRK u.a.). Die thematische Arbeit vollzog sich in vier Sektionen: I. Beziehungen mit Muslimen unter christlicher theologischer Perspektive, II. Christlich-muslimische Zusammenarbeit in Fragen der Bürgerrechte, III. Christlich-muslimische Begegnung mit einer säkularisierten Gesellschaft, IV. Probleme des alltäglichen Lebens. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse der Sektionen II bis IV kurz zusammengefasst, dann wird Sektion I, in der es um die umstrittene Frage des missionarischen Zeugnisses ging, näher betrachtet. a) Die Sektionen II bis IV: Gesellschaftliche Fragen Die Sektion II „Christlich-muslimische Zusammenarbeit in Fragen der Bürgerrechte“ wurde von dem niederländischen Islamwissenschaftler Jan Slomp geleitet.283 Unter Berufung auf die Schlussakte von Helsinki 1975 und die Erklärung der ÖRK-Vollversammlung von Nairobi 1975 setzte die Sektion sich mit der Frage der Rechte muslimischer Minderheiten in Europa auseinander. Es ging um Fragen der Bildung, des Moscheebaus, der Wohnsituation sowie den rechtlichen Status muslimischer religiöser Gemeinschaften. In der anschließenden Diskussion wies der griechisch-orthodoxe Bischof Anastasios auf die gleichzeitige Notwendigkeit der Anerkennung der rechtlichen Grundordnungen der Aufnahmeländer durch die Muslime hin. Sektion III „Christlich-muslimische Begegnung mit einer säkularisierten Gesellschaft“ wurde von Michael Mildenberger und Paul Löffler284 geleitet. Im Blick auf die Beziehung der Muslime zu den europäischen Mehrheitsgesellschaften wurde unterschieden zwischen dem säkularem Staat, der voll bejaht werden müsse, weil er durch seine Rechtsgrundlagen die religiöse Pluralität überhaupt erst 281 Höpfner, Brief an Buttler, 24.2.1972. EMW-Archiv, DEMR3, AG0818. 282 Michael Fitzgerald (geb. 1937), Pater der Weißen Väter, damals Direktor des Päpstlichen Instituts für Arabische Studien im Vatikan, vgl. Troll/Hewer, Christian Lives, 2012, 81ff. 283 Vgl. Slomp, Balic, 2009. 284 Vgl. Troeger, Kirche, 1978, 14.
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ermögliche, und einer säkularistischen Gesellschaft, in der humane Werte verloren gingen. Während sowohl Christen als auch Muslime unter dem relativistischen, säkularistischen Pluralismus litten, sei eine wirkliche religiöse „Pluralität nur teilweise verwirklicht“, die „muslimische Minderheit leidet unter dieser offenkundigen Ungleichheit“.285 Auf diesem Hintergrund plädierte der Bericht dafür, dass Christen und Kirchen sich für die rechtliche Anerkennung des Islam als „einer Körperschaft Öffentlichen Rechts“ einsetzen. Die Zusammenarbeit zwischen Kirchen und Moscheen „auf der Grundlage geistlicher Werte und im Widerstand gegen entmenschlichende Tendenzen in der säkularistischen Gesellschaft“ sei ausbaufähig.286 Den Vorsitz in Sektion IV „Probleme des alltäglichen Lebens“ hatte der englische Methodist John Crossley. Im Blick auf die christlich-muslimische Begegnung im Alltag betonte die Sektion drei Verantwortungsschwerpunkte der Kirchen. (1) Zunächst müsse die Kirche durch Information und Bildung zur Vorbereitung der Aufnahmegesellschaft auf die interreligiöse Begegnung beitragen. (2) Dann solle sie auf die konkreten „Bedürfnisse der neuen Immigranten“287 eingehen. (3) Schließlich sollten die Kirchen eine „wahre Begegnung zwischen Christen und Muslimen“ fördern.288 Hier wurde gefragt: „Gehört die Evangelisation zur Verantwortung der Kirchen in der Begegnung mit Muslimen?“ Etwas kryptisch lautete die Antwort, „dass es integral zur christlichen Nachfolge gehört, den Herrn Jesus Christus zu lobpreisen“. Doch müsse dies „im Rahmen liebevoller menschlicher Beziehungen und dem Suchen nach Gerechtigkeit“ geschehen. Sonst würden „Evangelisationsversuche … höchstwahrscheinlich zu Mißverständnissen führen“.289 Wenn erst einmal „Vertrauen entstanden“ sei, „ergreifen Muslime häufig selbst die Initiative und stellen religiöse Fragen“.290 b) Sektion I: Die missionstheologische Frage In Sektion I, die von dem Schweizer Theologen Daniel von Allmen geleitet wurde, war die Frage des missionarischen Zeugnisses das zentrale Thema. Weitere Teilnehmer waren Willi Höpfner (OD), Jürgen Micksch (AKDAA) und Eberhard Troeger (EMO)291 aus dem Bereich der EKD, sowie zwölf weitere Vertreter aus 285 286 287 288 289 290 291
KEK/IAP, Kirche, 1978, 18. Ebd. 20. Ebd. 23. Ebd. 25. Ebd. Ebd. Troeger war von 1966 bis 1975 als evangelischer Pfarrer und Seelsorger in der Krankenhausarbeit der EMO in Ägypten tätig und übernahm 1975, in Nachfolge von Willi Höpfner, die Leitung der EMO in Wiesbaden. Gleichzeitig bat die Kammer für Mission und Ökumene der EKHN Troeger, auch die „Seelsorge an Moslems“ im Kirchengebiet zu übernehmen. Protokoll, Kammer für Mission und Ökumene, 12.2.1975, EMW-Archiv, DEMR3, AG0817, vgl. Zeugnis und Dienst. Nachrichten der EMO, Oktober 1975, 34.
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Dänemark, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Portugal, UdSSR, England, Rumänien und Schweden. Die Gruppe traf sich zu drei Arbeitssitzungen, die durch die Dreisprachigkeit der Verhandlungen (Englisch, Deutsch Französisch) nicht erleichtert wurden.292 In der ersten Sitzung ging es um das Missionsverständnis und dessen biblische Grundlagen. Dabei stand die Frage nach dem Ziel der Mission, vor allem der Bekehrung, im Mittelpunkt.293 In der zweiten Sitzung ging es um die christliche „Sicht des Islam“. Während einige den Islam als „menschlichen Ausdruck des Hungers nach Gott“ verstanden, sahen andere „im Islam einfach eine andere Glaubensweise, und wieder andere sahen im Islam eine nachchristliche Religion oder religiöse Ideologie“.294 In der dritten Sitzung ging es um die christlich-muslimische Begegnung. Hier schienen die Perspektiven, in der Einschätzung Eberhard Troegers, trotz unterschiedlicher Akzente nicht diametral auseinanderzuliegen: „Einige Teilnehmer [betonten] die mitmenschliche Begegnung, ohne das christliche Zeugnis auszuschließen. Andere dagegen betonten das christliche Zeugnis, ohne seine Verankerung in den mitmenschlichen Beziehungen zu leugnen. Im Laufe der Aussprache kamen sich die beiden Positionen näher, aber die Zeit reichte nicht aus, um zu einer Formulierung der gemeinsamen und abweichenden Gedanken zu kommen.“295
Am Vormittag des vorletzten Konferenztages berichteten alle Sektionen im Plenum, wobei der Bericht von Sektion I „besonders fragmentarisch“ ausfiel.296 Am Nachmittag beschloss die Arbeitsgruppe daraufhin „mit knapper Mehrheit, keinen Gruppenbericht zu verabschieden“.297 Sechs Mitglieder der 15-köpfigen Sektionsgruppe entschlossen sich jedoch „aus eigener Initiative eine theologische Erklärung abzufassen“,298 deren Inhalt Eberhard Troeger zusammengefasste: „[Die Erklärung stellte] neben der Forderung nach Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit eindeutig fest[..], daß Leben, Rettung und Versöhnung durch den Herrn über alles, Jesus Christus, dem Moslem als kostbarstes Gut nicht vorenthalten werden dürfen. Damit ist nicht Überheblichkeit, Paternalismus oder Vorurteil gemeint; vielmehr muß der Christ dem Moslem als ein Dienender begegnen, wie es Jesus Christus selbst vorgelebt hat. Der letzte Satz der Stellungnahme anerkennt den notwendigen Dialog als eine Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen, damit dem Moslem das Evangelium in einer ihm verständlichen Weise gesagt werden kann“.299
Damit brachte die Erklärung eine differenzierte missionarische Haltung zum Ausdruck, die soziale Verantwortung und interreligiöse Achtung mit einem deutlich artikulierten christlichen Zeugnisauftrag verband.300 Dass das theologische Min292 293 294 295 296 297 298 299 300
Vgl. Troeger, Kirche, 1978, 10. Ebd. Ebd. 12–13. Ebd. 13. Ebd. 14. Ebd. 15. Ebd. Ebd. Die Grundhaltung der Erklärung scheint nicht weit entfernt von der Perspektive, die der evangelische Dogmatiker Wilfried Härle so formuliert: „Die eigene Wahrheitsgewissheit besitzt
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derheitsvotum nicht von allen Teilnehmern in dieser Differenziertheit wahrgenommen wurde, zeigt der Kommentar des katholischen Islamtheologen Michael Fitzgerald: „There were some in the group for whom the only possible attitude towards Muslims was one of direct evangelism, the explicit preaching of Jesus Christ with an invitation to accept him as Lord and Saviour.“301 c) Die Sprachlosigkeit von Salzburg In der Abschlusssitzung der Konferenz wurden die endgültigen Gruppenberichte entgegengenommen, um als Studienmaterial an die Kirchen weitergeleitet zu werden. „Dabei wurde es von der Mehrheit abgelehnt“, die beschriebene theologische Erklärung als Minderheitsvotum „von sechs Mitgliedern der Gruppe 1 und zwei weiteren Tagungsteilnehmern als Dokument in die Konferenz-Papiere aufzunehmen“.302 Im offiziellen Berichtsband der Konferenz blieb die für Sektion I vorgesehene Seite leer (!), da die Sektion „bedauerte in der verfügbaren Zeit, keinen gegenseitig annehmbaren Bericht verfassen zu können“.303 In der Einleitung zum Berichtsband bemühte sich die Konferenzleitung jedoch um Erläuterung: „Die reiche Vielfalt der Traditionen und theologischen Standpunkte erleichterte die Aufgabe der Sektion, die sich mit den theologischen Fragen zu befassen hatte, keineswegs. Wohl konnten linguistische Schwierigkeiten durch ein kompetentes Team von hart arbeitenden Dolmetschern überwunden werden, doch sprechen wir in Fragen der Theologie weder eine gemeinsame Sprache, noch finden wir einen Konsens über theologische und biblische Ansichten über den Platz, den der Islam in Gottes Plan für die Welt einnimmt. … Daher war es der Sektion … – trotz verschiedener Versuche – in der kurzen Zeit nicht möglich, eine kurze allgemein annehmbare Erklärung über die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen gemeinsam abzugeben. In einem Versuch aus diesem theologischen Engpass herauszukommen, legte eine Gruppe von Teilnehmern im letzten Plenum eine kurze Erklärung vor. Doch sah sich die Konsultation als ganze nicht in der Lage, diese ohne weitere Diskussion – für die keine Zeit mehr blieb – in den allgemeinen Schlussbericht aufnehmen zu können. Die Punkte in dieser Erklärung bezogen sich auf die Pflicht der Christen, das Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu verkündigen. Diese Punkte werden notwendigerweise in der weitergehenden Diskussion wieder aufgegriffen werden müssen.“304
Die offizielle Sprachlosigkeit von Sektion I machte deutlich, dass die theologischen Positionen im Blick auf das missionarische christliche Zeugnis unter Muslimen in Europa weiter auseinanderlagen, als die Bemühungen um einen evangelischen missionstheologischen Konsens in der Handreichung des DEMR, Muslime – unsere Nachbarn (1977),305 vermuten ließen. Bemerkenswert ist auch, dass die Aufnahme des Minderheitenvotums in die Konferenzdokumentation abgelehnt
301 302 303 304 305
unbedingte Geltung, fremde Wahrheitsansprüche verdienen unbedingte Achtung.“ Härle, Wahrheitsgewissheit 1998, 183. Zit. bei Siddiqui, Dialogue, 1997, 39–40. Troeger, Kirche, 1978, 15. KEK/IAP, Kirche, 1978, 12. Ebd. 8. Siehe VI.C.3.
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wurde. Statt die unterschiedlichen Positionen als Ausgangspunkte und Beiträge für die weitere Diskussion und als Eckpunkte einer vielfältigen missionarischen Praxis in den Kirchen zur Sprache zu bringen, schien man in einer Alles oder Nichts-Haltung einen Konsens zu erhoffen, der so noch nicht zu erreichen war. Mit der Ablehnung der Aufnahme des Minderheitenvotums in den Konferenzbericht verpasste die Konferenz eine Chance zum transparenten Umgang mit hermeneutischer Pluralität und missionstheologischer Vielfalt als Voraussetzung für weitere Klärungsprozesse. Immerhin ging die Konferenzleitung in der Einleitung des Berichtsbandes Schritte in dieser Richtung (siehe oben). Nicht nur aus Sicht des OD stellte die Konferenz in dieser Hinsicht eine Enttäuschung dar, da die ursprüngliche missionarische Intention der Studie des IAP (siehe oben), die immerhin eine der Wurzeln der Konferenz darstellte, auf der Konferenz keine gemeinsame Sprache gefunden hatte. Ein hoffnungsvolles Signal war immerhin die Sicht der Konferenzleitung, dass die „ungelösten theologischen Probleme in Bezug auf den Status, den der Islam nach christlichem Verständnis in der Welt hat […], die Christen [nicht] davon abhalten sollte, Zeugnis für Gottes Offenbarung in Jesus Christus abzulegen“.306 D. EXKLUSION DES BEDROHLICHEN? ISLAMISCHE MISSIONSKRITIK Für die dialogorientierten kirchlichen Neuansätze der Islambegegnung im Migrationskontext spielten muslimische Perspektiven eine zunehmend wichtige Rolle. Durch die Abwendung von bekehrungsorientierter christlicher Mission und die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven mit Muslimen hoffte man, eine gerechte und verständnisvolle interreligiöse Konvivenz zwischen Christen und Muslimen in der bundesdeutschen Gesellschaft zu fördern. Während einige muslimische Sprecher wie M. S. Abdullah diese Bemühungen begrüßten und darin die Chance sahen, das islamische Haus (dar al-islam) in der Diaspora im Kontext gesellschaftlicher religiöser Pluralität in friedlicher Weise zu festigen, stießen sie bei Vertretern des türkischen Islam anfänglich auf wenig Verständnis. Diese sahen in den dialogischen Aktivitäten der Kirchen im Vergleich zu den missionarischen christlichen Bemühungen nur subtilere, aber kaum weniger gefährliche Vereinnahmungsstrategien und Einbruchsversuche in das Haus des türkischen Islam. Im Unterschied zu diesen beiden Reaktionstypen tauchten bei Vertretern einer jüngeren Generation deutscher Muslime wie Ahmad von Denffer dezidiert islamischmissionarische Perspektiven auf, die den interreligiösen Dialog als Gelegenheit islamischer da’wa verstanden, die den pluralistischen Kontext zwar nutzt, inhaltlich aber in Frage stellt. Allen gemeinsam waren die Ablehnung christlicher Mis306 KEK/IAP, Kirche, 1978, 9. Im Anschluss an die Salzburger Konferenz entwickelte sich aus dem europäischen Verbindungsausschuss des IAP der Islam-in-Europa-Ausschuss (IEA). Der IEA wurde auf der Vollversammlung der KEK im Oktober 1979 in Khania, Kreta, beschlossen und konstituierte sich 1980 unter der Leitung von David Brown. 1982 wurde der Vorsitz des IEA von Michael Mildenberger übernommen, dem Leiter des Islamreferats der EKD, vgl. KEK, Christen und Muslime, 1984, 15–16.
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sion und die Entwicklung von Gegenmaßnahmen im Sinne einer Exklusion des Bedrohlichen. Diese unterschiedlichen islamischen Perspektiven und Reaktionsmuster werden im Folgenden näher betrachtet. 1. Hinterhältige Methoden? Polemische Perspektiven Aufgrund der Befürchtung, die türkischen Gastarbeiter könnten sich im Zuge ihres Strebens nach dem „süßen Geld der Ungläubigen“307 auch vom Islam abwenden und damit nicht nur den wahren Glauben verlieren, sondern auch ihre nationale Identität beschädigen, reagierten Vertreter des türkischen Islam alarmiert auf christliche dialogische und missionarische Bemühungen. Dies zeigte bereits die oben (VI.A.1.) beschriebene Beschwerde der türkischen Botschaft beim Auswärtigen Amt. Da missionarische Aktivitäten sich in der Bundesrepublik jedoch nicht auf politischem Weg unterbinden ließen, suchten türkische Religionsvertreter andere Wege, um ihre Landsleute durch Warnungen und polemische Darstellungen auf die angeblichen Gefahren christlicher Mission und Dialogbemühungen hinzuweisen. Ein Beispiel dafür sind die Aktivitäten und Perspektiven von Osman Erkmen, Religionsbeauftragter beim türkischen Generalkonsulat in Essen von 1968 bis 1972.308 1974 veröffentlichte Erkmen das Buch Garp Hizmeti: Lozan ve Wiesbaden Mektuplari (türkisch für: Okzidentdienst: Briefe aus Lausanne und Wiesbaden), unter anderem als Reaktion auf Begegnungen mit dem Orientdienst (worauf der Buchtitel offensichtlich anspielt). Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) wies in ihrem Materialdienst auf das Buch hin und zeigte sich enttäuscht von dieser islamischen Reaktion auf die christlichen Dialogbemühungen: „Von allen Seiten stößt das Bemühen um eine offene Begegnung zwischen Deutschen und Türken, Moslems und Christen auf Schwierigkeiten. Auch von türkischer Seite.“309 Erkmen beschrieb die christlichen Aktivitäten unter türkischen Arbeitsmigranten in historischer Perspektive als Teil kolonialer westlicher Expansions- und Missionsstrategien: „Die Ziele der Missionare können wie folgt zusammengefasst werden: Christliche Kolonialmächte versuchen, über muslimische Staaten Macht auszuüben. Die alten Kirchen sollen neu belebt werden. Diese sollen unter den Muslimen christliche Propaganda verbreiten und die Muslime der Herde Jesu zuführen.“310 Die christlichen Missionsgesellschaften seien „bekanntlich … offizielle oder inoffizielle Organisationen, die über Jahrhunderte hinweg versuchen, den Muslimen ihren Glauben madig zu machen, die unter den Muslimen den Samen des Unfriedens und Zanks streuen, die die Einheit der Muslime untergraben und 307 Ali Gitmez, zit. bei Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 77. 308 Vgl. Heusser, Besprechung, 1974, 1; Gür, Vereinigungen, 1993, 16. Zu Aktivitäten Erkmens zwischen 1968 und 1972 siehe auch I.D.3.a) sowie IV.C.4.b) und VI.C.2. 309 Mildenberger, Zerrütten, 1974, 301. 310 Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Auszugsw. Übers., 6.
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die Versöhnung zwischen muslimischen Gruppen verhindern“.311 Diakonische christliche Bemühungen bewertete Erkmen in diesem Zusammenhang als „heimtückische, hinterhältige Methoden“.312 „[Es ist den] Missionaren nicht möglich, auf dem Weg der Vernunft und der Überzeugung zu arbeiten. Denn es gibt keine Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, zu beweisen, dass das Christentum dem Islam überlegen sei. Deshalb benutzen die Missionare heimtückische, hinterhältige Methoden. Sie kommen genau in dem Moment, wo der Mensch in Zeiten der Katastrophe Rettung und Frieden braucht. Wenn es in einem Land ein Erdbeben oder ein verheerendes Feuer oder Überschwemmungen gibt, wenn einer von seiner Familie weit entfernt ist, dann ist es möglich, dort einen Missionar zu treffen, der die Nöte dieser Menschen missbraucht.“313
In diese Perspektive rückte Erkmen auch die missionarischen Bemühungen in der Bundesrepublik Deutschland: „[Die Missionare haben] ein neues Arbeitsfeld entdeckt und in Angriff genommen. Unsere Arbeiter in Europa, die ja nur um der Versorgung ihrer Familien willen dort arbeiten, werden bearbeitet, um sie zu christianisieren. Die Missionare missbrauchen die seelischen Nöte und das Heimweh unserer Arbeiter. Sie sehen in ihnen eine ‚Beute‘ und verstärken ihre zerstörerischen Aktivitäten unter ihnen.“
Zu diesen Aktivitäten zählte Erkmen auch den interreligiösen Dialog. Als islamischer Vertreter hatte er 1969 an einer Dialogveranstaltung mit türkischen Arbeitsmigranten in der Evangelischen Akademie Berlin sowie an einer christlichislamischen Gebetsandacht 1970 in Dortmund teilgenommen (s. VI.C.2.). Er bezeichnete den Dialog als „heimtückischen“ christlichen Trick, um Muslime von ihrem Glauben abzubringen:314 durch den Dialog sollten „Muslime … weich gemacht werden, sie sollten ihre Mutterwurzeln (Islam und Nationalismus) verlassen und zu den ‚Schafen Jesu‘ hinzugetan werden. Natürlich wurden ... nicht nur die angegebenen Themen behandelt. Vielmehr wurden die heimtückischen Taktiken angewandt, die den Muslimen bekannt sind.“315 „Unter dem Vorwand von ‚Einheit, Zusammenarbeit‘“ hätten „betrügerische Missionare“ versucht „ihre christliche Propaganda einzubringen“.316 Dabei unterschied Erkmen kaum zwischen den durchaus unterschiedlichen missionstheologischen Ansätzen auf christlicher Seite: „Unter dem Vorwand, in manchen Problemen den Türken behilflich sein zu wollen, werden sowohl von Protestanten als auch von Katholiken Versammlungen angeboten, aber natürlich haben die Veranstalter ihre eigenen, uns bekannten Ziele.“ Besonders warnte er vor der „in guter Aufmachung erscheinende[n], in
311 312 313 314 315 316
Ebd. 5. Ebd. 6. Ebd. 6–7. Ebd. 12. Ebd. Ebd.
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freundlicher Sprache geschriebene[n] Literatur,“317 deren Titelblätter er in Garp Hizmeti abbildete.318 Seine Aufgabe als Religionsbeauftragter beschrieb er so: „Unser Ziel war es, unsere unschuldigen Landsleute, die in der Fremde vom Weg der Wahrheit abtrünnig gemacht werden sollten, zu warnen, ihnen zu zeigen, dass die Lehre der Missionare Unsinn und Aberglaube ist, sie zu lehren, wie sie den Missionaren die Grundwahrheiten des Islam beibringen können, ihnen zu zeigen, dass der Islam, dem sie zugehörig sind, die Religion ist, die alle anderen Religionen in den Schatten stellt und auf die sie stolz sein können. … Viele, die in ihrer Heimat sich mit dem begnügten, was sie von ihren Eltern mitbekommen haben (wenn diese ihnen überhaupt etwas beigebracht haben), und dann lange Jahre im Ausland weilten, waren in der Gefahr, ihr muslimisches Profil in christlicher Umgebung zu verlieren. Wohl uns, wenn wir diese zu ihrer ursprünglichen Identität zurückführen konnten.“ 319
Wie bereits anhand der Korrespondenz türkischer Leser mit dem OD beobachtet (s. IV.C.1.c), zeigt sich auch in Erkmens Reaktion die Abwandlung des islamischen Prinzips der „Inklusion des Bedrohlichen“ (Feldtkeller)320 zur Exklusion des Bedrohlichen im pluralistischen Migrationskontext. Bei Erkmen nimmt diese Exklusion die Form der polemischen Darstellung an, um seine Landsleute vor der in ihrer Attraktivität als bedrohlich empfundenen christlichen Botschaft321 zu warnen. Erkmens Perspektiven, die durch die türkischsprachigen Mitarbeiter des OD und die EZW bekannt wurden, trugen zu einer Ernüchterung der protestantischen Hoffnungen auf die Gesprächsbereitschaft des türkischen Islam bei. Höpfner sah eine differenzbetonte interreligiöse Perspektive bestätigt. Auch Heusser hielt fest: „Es mag von christlicher Seite noch so viel ehrlicher Wille zum Dialog bestehen, auf Seiten der Moslems besteht hierfür – abgesehen von wenigen Ausnahmen – kein Verständnis. Sie sind der Meinung, es handle sich lediglich um eine neue, etwas verfeinerte Form des religiösen Imperialismus.“322 Doch auch Muslime wie M.S. Abdullah zeigten sich enttäuscht von den pauschal ablehnenden muslimischen Reaktionen, die nicht auf Erkmen oder den staatsnahen türkischen Islam beschränkt waren. Abdullah bedauerte, dass „die Moslemorganisationen“ im allgemeinen die Unterschiede zwischen den verschiedenen missionstheologischen Positionen auf christlicher Seite „ignorieren und damit die aufopferungsvolle Arbeit der Genfer Ökumeniker unnötig erschweren“.323
317 Heusser, Besprechung, 1974, 2. 318 Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, 36–38 (verschiedene Traktate), 46 (Neues Testament), 55 (türkischer Kalender des OD), 78. 319 Erkmen, Garp Hizmeti, 1974, Auszugsw. Übersetzung,12. 320 Feldtkeller, Mutter der Kirchen, 1998, 132ff.224. 321 Vgl. Feldtkeller, Mutter der Kirchen, 1998, 224. 322 Heusser, Besprechung, 1974, 2. 323 Abdullah, Christentum und Islam, 1976, 119.
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2. Hausfriedensbruch? Dialog als Missionsverzicht a) M.S. Abdullah: der protestantische Islam-Komplex Wie bereits in der EZW-Handreichung von 1974 (s. VI.C.2.c) stand für M. S. Abdullah auch in seinem Buchbeitrag „Christentum und Islam – Möglichkeiten der Ökumene“324 die Forderung nach einem gegenseitigen christlich-islamischen Missionsverzicht im Vordergrund. Diesen sah er im Koran begründet und im Islam bereits verwirklicht: „keiner [soll] den anderen zum Abfall von seiner Religion überreden ... also Verzicht auf Mission“. Nur im Dialog könnten sich „Christen und Moslems ... gleichberechtigt begegnen, denn sie stehen gemeinsam in seinem Heil“.325 Nach anfänglich starkem Gesprächsengagement im protestantischen Bereich, konzentrierte sich Abdullah seit Mitte der 1970er Jahre auf Kontakte in der katholischen Kirche, da er im Protestantismus einen Islam-Komplex diagnostizierte. Während die katholische Kirche „nicht erst seit dem II. Vatikanum“ davon ausgehe, daß „alle diejenigen, die den Schöpfer anerkennen, das Heil erlangen, allen voran die Moslems“,326 verharrten die evangelischen Kirchen in einem „protestantisch-moslemischen Komplex“.327 Immerhin zeige die Handreichung des Kirchlichen Außenamts, Moslems in der Bundesrepublik (1974), einen „bemerkenswerten Universalismus …, wie man ihn in diesem Ausmaß bisher eigentlich nur von der katholischen Kirche habe erwarten können“.328 Äußerst kritisch sah Abdullah dagegen evangelikal oder konfessionalistisch orientierte Erklärungen wie die Frankfurter Erklärung (1970) oder die Berliner Ökumene-Erklärung (1974), die die „christliche Begegnung mit Menschen anderer Religionen“ dem alleinigen Ziel der Bekehrung unterordneten, da sich an dem „Rettungsangebot Jesu ... auch die ewige Scheidung in der Menschheit [vollzieht]“. In dieser Sicht sah Abdullah einen „unbeschreibliche[n] Hochmut, mit dem die Vertreter dieser christlichen Richtung das Heil für sich beanspruchen, als hätten sie allein die Rettung durch Gottes Gnade für sich gepachtet“.329 Dem stellte Abdullah die angeblich tolerantere theologische Haltung des Islam gegenüber: während „die Evangelikalen … der Überzeugung [sind], daß allein das Christentum zum Heil führt“ und daher „den interreligiösen Dialog ab[lehnen], es sei denn, er dient dem ausschließlichen Ziel der Bekehrung“, gehe der Islam davon aus, „daß Gott allen Völkern seine Barmherzigkeit geschenkt hat, daß seine Gnade alle Menschen umfasst, daß er allein darüber zu entscheiden vermag, wer gerettet und erlöst wird. Daher lehnt der Islam Mission ab.“330 Die Moratoriumsforderung der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973 mit ihrem 324 325 326 327
In: Fitzgerald et al, Moslems und Christen, 1976. Abdullah, Christentum und Islam, 1976, 120. Ebd. 112. Zum 2. Vatikanum siehe II.C.5. Abdullah, Christentum und Islam, 1976, 112. Typischer Ausdruck des Komplexes sei Karl Barths Äußerung, der „Gott Mohammeds ist ein Götze wie alle anderen Götzen“. Ebd. 328 Ebd. 114. 329 Ebd. 116–117. 330 Ebd. 123.
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Signal zur „Unterbrechung der Entsendung von Missionaren“ sei deshalb von „den Moslems mit Genugtuung“ aufgenommen worden.331 Doch die kritischen „Äußerungen der Theologen Beyerhaus oder Höpfner vom Orientdienst“332 hätten das muslimische Vertrauen wieder erschüttert. Ein Jahr später rückte Abdullah christliche Mission sogar in die Nähe von Islamfeindlichkeit. Während es in Deutschland kaum noch „ausgesprochene Islamfeindlichkeit“ gebe,333 dürfe „nicht verschwiegen werden, daß es evangelische Missionsgesellschaften gibt, die unter den moslemischen Arbeitern und Studenten Mission betreiben.“ Die „Kreise, die hinter diesen Bestrebungen stehen“ hätten allerdings „innerhalb der Kirchen keine allzu große Resonanz mehr.“ Eine „jüngere Theologengeneration ... betrachtet die Moslems mehr und mehr als Partner.“334 Doch auch in der ersten Veröffentlichung der katholischen Islamstelle CIBEDO, Die Präsenz des Islams in der Bundesrepublik Deutschland (1978), kritisierte Abdullah, dass „die Frage nach Mission … bislang nur von der katholischen Seite eindeutig zugunsten mitmenschlichen Handelns beantwortet worden [ist]. Die guten Ansätze im evangelischen Lager werden dagegen immer wieder von gewissen missionarischen Gruppierungen und Publikationen unterlaufen. Hier werden neue Mauern errichtet und zementiert.“335 Auch die Betonung einer integrativen Sicht von Mission, Dialog und Diakonie, die sich im Anschluss an die ÖRK-Vollversammlung von Nairobi 1975 und die Dialogkonsultation des ÖRK in Chiang Mai in vielen Teilen der evangelischen Kirchen zunehmend durchsetzte,336 sah Abdullah als Ausdruck eines unerträglichen Kompromisses. Während die „Kanzlei der Evangelische Kirche in Deutschland in Hannover“ signalisiert habe, dass man „stärker als je zuvor am Gespräch mit den großen Weltreligionen interessiert“ sei, vor allem am „Dialog mit dem Islam“, habe „die Mittelostkommission der EKD in Frankfurt“ kurz darauf erklärt, „daß bei ihren Mitgliedern ‚Übereinstimmung über die Notwendigkeit christlicher Mission‘ in der islamischen Welt herrsche. Für Moslems ist diese ‚Sowohl-als-auch-Haltung‘ indessen unerträglich.“337
331 Ebd. 118. 332 Ebd. 118, vgl. Höpfner, Bangkok, 1973. Höpfner reagierte 1977 indirekt auf Abdullahs Kritik. Es gebe viele „Stimmen aus der Welt des Islam, die unseren Dienst verurteilen“. Man müsse jedoch absehen „von allen Sicherungen“ und weiterhin „die evangelische Begegnung“ suchen. Höpfner, Rückblick auf das Jahr 1976, in: ODI 42, 1977, 2–5. 333 Abdullah, Moslems, 1977, 7. 334 Ebd. 8. 335 Abdullah, Präsenz, 1978, 5. 336 Vgl. Helfenstein, Grundlagen, 1998, 183–198; Lienemann-Perrin, Mission und interreligiöser Dialog, 1999, 99–101.104. 337 Abdullah, Geschichte, 1980, 185–186.
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b) Smail Balic: Mission als Hausfriedensbruch In einer gewissen Nähe zu den Sichtweisen Abdullahs standen die Perspektiven des bosnisch-österreichischen Islamdenkers Smail Balic (1920–2002).338 Balic war einer der Vordenker eines gemäßigten europäischen Islam und bemühte sich, den Islam mit den Traditionen von Christentum und Aufklärung zu verbinden. So beschrieb Balic die islamische Religion zugleich als „biblische Religion, weil sie sich in ihrem Kern auf der Grundlage der biblischen Tradition bewegt“.339 Die Unterscheidung zwischen dem Kern islamischer Religion und ihren flexiblen Ausprägungen und Rändern prägte auch Balics Hermeneutik des Koran. Vom „innersten Sinn des Koran“ – der „himmlischen Tafel“ – unterschied Balic in historisch-kritischer Perspektive „thematische und Umweltfaktoren“, die seine „Ausdrucksweise vielfach ... beeinflußt [haben]“.340 Auf diesem Hintergrund befürwortete er „neue Weg der Koran-Exegese“, die „eine Entmythologisierung und Befreiung vom geistlichen Ritualismus“341 ermöglichten – auch wenn diese „von der starren Orthodoxie verworfen“ würden.342 Muslimische Modernisten – unter diesen sah er auch Mu‘ammar Qaddafi – betonten die Kontextualität des Koranverständnisses: „Das richtige Verstehen des Korans hängt vom richtigen Weltbild ab.“343 In dieser Hinsicht schlug Balic vor, man könne den Islam auch als eine weitere Spielart moderner christlicher Theologie sehen: „Der Islam [hat] keinen anderen Weg verfolgt ... als eben diese modernen katholischen und evangelischen Theologen. Da erkennt man einen gemeinsamen Geist. Kein Wunder, wenn sich dann viele Moslems fragen, warum eigentlich das Christentum in seiner traditionellen Fronde [sic!] gegen den Islam fortfahren will.“ 344 Auf diesem gedanklichen Hintergrund setzte sich Balic für eine friedliche gesellschaftliche Koexistenz von Muslimen und Christen ein, auch auf dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen christlich-islamischer Konvivenz auf dem Balkan. Christliche Mission sah er in diesem Zusammenhang als Teil der genannten „Fronde gegen den Islam“ und Störung des gesellschaftlichen Friedens. Dagegen befürwortete er einen christlich-islamischen Dialog, dessen Ziele er in der „Stärkung der humanen Kräfte in der Welt“ sowie in einer „tieferen Rechtfertigung des Glaubens“ sah. Wenn „hinter [dem] Dialog jedoch Missionsabsicht [steckt], haben wir es lediglich mit einem dialogisch getarnten Monolog zu tun. Ehrliche Begegnung setzt lebendige Gegenseitigkeit voraus.“345 Da Balic den Islam – wie 338 Der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Balic lebte seit 1945 in Osterreich, war 1963–1984 Bibliothekar der Österreichischen Nationalbibliothek und einer der profiliertesten Vordenker eines europäischen Islam im pluralen Kontext, vgl. Balic, Islam, 2001; Abdullah, Balic, 2006; Plotz, Balic, 2009; Slomp, Balic, 2009. 339 Balic, Islam, 1977, 32, kursiv FW. 340 Ebd. 41. 341 Ebd. 43. 342 Ebd. 41. 343 Ebd. 43. 344 Ebd. 45. 345 Balic zit. bei Abdullah, Geschichte, 1980, 186.
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Abdullah – als grundlegend nicht-missionarisch verstand, sah er Mission nicht als Teil dieser Gegenseitigkeit an: „die Mission, wie sie heute zumeist verstanden wird, kann mit einem Dialog nicht konform gehen.“ Es könne „vor allem dem Christentum ein Vorwurf nicht erspart bleiben: Mission beinhaltet immer ein gewisses Maß an Arroganz, sie ist von einem unbezwingbaren Sendungsbewusstsein getragen, sie bringt den Andersgläubigen etwas in Haus, was diese gar nicht haben wollen. Mission ist so gesehen eine Art Hausfriedensbruch.“346 Wie bei Abdullah spielten kulturelle Erinnerungen auch in Balics Missionskritik eine Rolle: „Wir Moslems lehnen diese Art von Mission entschieden ab. Sie verletzt uns nicht nur in unserem Bekennerstolz, sie lässt vielmehr obendrein in uns das Gefühl aufkommen, als halte man uns für unreife Menschen. Auch das anmaßende kulturelle Sendungsbewusstsein der christlichen Missionare hat etwas Abstossendes an sich. Als die einzige zulässige Missionsform würde ich ein stilles Zeugnisablegen durch gute Taten akzeptieren. Immerhin hat das Zeugnis letzten Endes seine eigene Ausstrahlungskraft.“ 347
Balic erläutert dies mit einem „Gleichnis“: „Es gehört sich für eine wirkliche Dame ganz einfach nicht, sich einem Haushalt in der Nachbarschaft als ‚ordnende Kraft‘ anzubieten, wenn dort gegebenenfalls eine Schlampe das Sagen hat. Das aber tut Mission in vielen Fällen bezüglich des Nächsten, wenn dieser ein Andersgläubiger ist.“348 3. Dialog als islamische Da‘wa: Ahmad von Denffer a) Lebende Christen und Muslime (1977) Im Unterschied zur polemischen Abwehrreaktion Erkmens und den dialogischen Bemühungen um gegenseitigen Missionsverzicht bei Balic und Abdullah, zeigten die Perspektiven Ahmad von Denffers einen offensiven islamischen Umgang mit Mission, Dialog und den pluralistischen Konstitutionsbedingungen des bundesdeutschen Kontextes. Von Denffer, ein zum Islam konvertierter Student der Islamwissenschaft und Ethnologie,349 analysierte in Al-Islam, der Zeitschrift des Islamischen Zentrums München, „Probleme und Perspektiven“ des „Islam in Deutschland“.350 Im Vordergrund des Aufsatzes standen Fragen der rechtlichen Anerkennung und des islamischen Religionsunterrichts, das dahinter liegende 346 Ebd. 347 Ebd. 348 Ebd. 187. Sowohl Balics Missionskritik als auch seine Sicht des Islam ist auf dem Hintergrund seiner Erfahrung ethnischer und interreligiöser Beziehungen im ehemaligen Jugoslawien zu verstehen. Dabei war es sein Anliegen, Brücken zum friedlichen Zusammenleben zu bauen, vgl. Slomp, Balic, 2009. 349 Ahmad von Denffer (geb. 1949) studierte 1972–1978 Islamwissenschaft und Ethnologie an der Universität Mainz und arbeitete von 1978–1984 als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Islamic Foundation in Leicester, England, vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 298ff; Janson, Cradle, 2003, 178f. 350 Denffer, Probleme, 1977.
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Hauptthema war jedoch die Einheit der zersplitterten islamischen Diaspora.351 Von Denffer plädierte für eine Vernetzung „in kleinen und größeren Kreisen“ und die gemeinsame Ausrichtung „auf Allah“.352 In diesem Zusammenhang thematisierte von Denffer auch die „christlich-muslimischen Kontakte“, bei denen er drei Arten unterschied: 1. Kontakte mit „lebenden Christen“, 2. Kontakte mit offiziellen kirchlichen Institutionen und 3. das „Problem“ der christlichen Mission. Persönliche „Kontakte … zwischen Christen und Muslimen“ könnten „nur da bestehen, wo … lebende Christen, das Gegenüber sind“. Von diesen überzeugten, aktiven Christen unterschied er – in pietistischer Diktion353 – die „nominellen Christen, d. h. … Leute, die ihr Christentum nicht leben oder es zu fremden Zwecken brauchen“. Mit diesen werde sich der Kontakt „recht bald als wenig erfreulich herausstellen, dann bald enden“. Zwischen aktiven Christen und Muslimen in Deutschland sah von Denffer die Gemeinsamkeit, dass beide versuchten ihren Glauben entgegen gesellschaftlicher Trends in die Lebenspraxis zu übersetzen. „Lebende Christen“ seien deshalb für den „Muslim hier in Deutschland“ ein „Gesprächspartner, der ihn in manchen seiner Anliegen wird verstehen können, weil auch er den Zwängen der Gesellschaft in einem Freiraum auszuweichen versucht. Ein lebender Christ wird ebenso wie ein Muslim besorgt sein um seine Zukunft und sich bemühen, ganz bestimmte, durch seinen Glauben bestimmte Verhaltensweisen zu üben. Ein Christ, der sich derart einem Muslim gegenüber verhält – und das kann er, wenn er frei ist von den durch die kirchliche Organisation bestimmten Maßgaben –, ist dem Muslim eine Freude, wie der Muslim ihm eine Freude ist. Sie glauben und sie bemühen sich zu tun, was sie glauben, was ihr Glauben von ihnen verlangt. Auf dieser Ebene sind sie einander verbunden.“ 354
Deutlich kritischer bewertete von Denffer die offiziellen kirchlichen Institutionen. Bei kirchlichen Dialogbemühungen stünde die gesellschaftliche „Selbsterhaltung“ im Vordergrund. Die Kirchen erhofften sich, dass die Muslime dem Verfall des Gottesglaubens in der Gesellschaft entgegenwirken könnten: „Denn die Muslime haben den Vorteil, daß sie dafür eintreten werden, Einfluß auf die bestehende Gesellschaft zu nehmen, in ihr den Gottesglauben zu aktualisieren.“ Dabei müssten die Kirchen nicht einmal die Konkurrenz der Muslime fürchten, da sie keine „vergleichbaren Organisationsformen“ hätten. Kirchliche Kontaktangebote sollten Muslime – in Absprache mit ihren Glaubensbrüdern – nur dann annehmen, wenn die Kirche „bereit ist, die Muslime zu stützen, wenn sie ihre Anerkennung fordern oder wenn sie die Schulbuchrevision anstreben [wird]“. Zuvor sollte man sich aber „vergewissert haben, ob [man] die Kirche überhaupt braucht“. Christliche Mission unter Muslimen in Deutschland sah von Denffer – trotz seiner positiven Einschätzung „lebender“ Christen – als ein „Problem, das man gewöhnlich nicht unter der Rubrik christlich-islamischer Kontakte einschließt und das von größtem Ernst ist“. Er wandte sich jedoch nicht mit Forderungen nach 351 Ebd. 4. 352 Ebd. 6. 353 Der Begriff pietistisch wird hier nicht im eigentlichen frömmigkeitsgeschichtlichen, sondern – im Anschluss an Larry Poston – in einem übertragenen religionsgeschichtlichen Sinn verwendet, vgl. Poston, Da‘wah in the West, 1992, 53ff. 354 Denffer, Probleme, 1977, 6.
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einem Missionsverzicht an die christliche Seite, sondern klärte innerhalb der islamischen Gruppen auf und forderte Gegenmaßnahmen: „Der Wiesbadener Orientdienst und verwandte Gruppen [versuchen] mit systematischen Bemühungen …, Muslime zu Christen zu machen. Betroffen davon sind vor allem Gastarbeiter und Studenten (weniger z.B. iranische Fachärzte), also Leute mit teilweise großen sozialen Problemen. Zugang zu den ‚potentiellen Christen‘ verschafft man sich, wie die Jahresberichte dieser Gruppen zeigen, vor allem durch Betätigung auf dem sozialen Feld, auch über die Kinder von muslimischen Familien.“355
Betroffen seien „vor allem Türken im Rhein-Main-Gebiet, aber auch an anderen Orten“. Von daher sollten „vor allem die türkischen Vereinigungen in diesem Raum auf die Mission reagieren“. Doch im Duktus seiner Argumentation für islamische Einheit betonte von Denffer: „Andererseits betrifft uns dieses Problem gemeinsam. Wir haben uns zu fragen: sollen wir, können wir und was können wir in dieser Sache tun?“ Als erstes nannte er die Verstärkung von Bemühungen im Bereich islamischer Pädagogik, da die „islamische Erziehung … als wirksamstes Gegenmittel gegen derartige Einflußnahmen seitens der Christen verstanden werden kann“.356 Da vor allem türkische Muslime betroffen seien, solle eine Arbeitsgemeinschaft Islamische Erziehung „prüfen, ob besondere gezielte Schritte, zusammen mit den türkischen Brüdern, notwendig und möglich sind. Hierzu würde es z.B. gehören, die von den Missionen verbreitete Literatur zu prüfen und den Muslimen, vor allem im Rhein-Main Gebiet, durch Broschüren und auf Versammlungen Aufklärung zu geben über das, was die Missionen tun. Man sollte die Missionen von diesem Schritt in Kenntnis setzen.“357
Im OD nahm man von Denffers Perspektiven jedenfalls wahr, interpretierte sie jedoch auf eigene Weise: einerseits als Bestätigung der eigenen Kritik eines liberalen kirchlichen Dialogverständnisses, andererseits als zu erwartende ablehnende Reaktion religiös überzeugter Muslime gegenüber christlichen Missionsbemühungen. Vor allem die Unterscheidung zwischen „lebenden“ und nominellen Christen kam der eigenen pietistischen Sicht entgegen und wurde von Höpfner zustimmend zitiert.358 Dass von Denffers Aufforderung an Muslime zur kritischen Prüfung der christlichen Literatur auch in die Praxis umgesetzt wurde, scheint der folgende Kommentar Höpfners zu belegen: „Eine solche ‚Überprüfung‘ erlebten wir kürzlich in Form einer heftigen Auseinandersetzung an unserem Informationsstand, den wir in regelmäßigen Abständen in der Fußgängerzone in Wiesbaden aufstellen. Ein Mufti suchte in Begleitung einer größeren Anzahl Türken die ausgelegte Literatur zu kritisieren und unsere Beweggründe in ein schlechtes Licht zu rücken. Dennoch sind wir dankbar für jedes Gespräch am Informationstisch, ob nun freundlicher oder weniger freundlicher Art. Christliche Gelassenheit, Freundlichkeit und Liebe, die dabei von
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Ebd. 7. Ebd. Ebd. Höpfner, Jahresbericht 1977, in: ODI 48/1978, 5.
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VI. Gastfreundschaft oder Hausfriedensbruch? Kontroversen uns gefordert werden, schenkt uns manchen suchenden Zuhörer aus dem islamischen Lager. Das Herz schließt sich eben dem auf, was vom Herzen kommt.“359
b) A Case Study of the Orientdienst (1980) Von Denffer setzte seine Anregung, „durch Broschüren … Aufklärung zu geben über das, was die Missionen tun“,360 bald selbst um. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Islamic Foundation in Leicester, Großbritannien,361 verfasste er die Studie Mission to Muslims in Germany: A Case Study of the ‚Orientdienst‘ – the Major Mission Organisation (1980). Die Studie bot eine weithin sachliche Darstellung, die auch von manchen Mitarbeitern des OD angesichts sonstiger polemischer Kritik als „moderat und ausgewogen“ wahrgenommen wurde,362 die islamische Perspektive und Bewertung war jedoch erwartungsgemäß ablehnend und stellenweise auch verzeichnend. Das theologische Missionsverständnis des OD fasste von Denffer pauschal als anti-islamisch zusammen. Dazu zitierte er aus einer Publikation der EMO (zu der der OD allerdings seit 1975 nicht mehr gehörte): „Generally speaking one may understand Islam as an imitation of Christianity. By having common traits with Christian belief … Islam makes its adherents immune to the true gospel. It is in this imitating falsification that the anti-Christian character of Islam lies.“363 Der Islam werde hier als „completely wrong and false“ angesehen. In einer solchen „radically anti-Islamic position“ sah von Denffer die Basis für einen „agressive missionary approach to Muslims“, der „no room for co-existence“ habe364 – eine überzeichnete Interpretation, die dem Selbstverständnis des OD, vor allem Höpfners, so nicht entsprach (s. V.D.2.). Zutreffender, wenn auch etwas holzschnittartig, wurde der methodische Ansatz des OD in historischer Perspektive als Übertragung einiger Grundzüge der Missionsarbeit der EMO in Ägypten auf die Migrationsbedingungen in Deutschland interpretiert. Dabei verglich von Denffer die beteiligten Gruppen in Ägypten und Deutschland: „The picture that emerges has the following characteristics: a large number of Muslims, a Christian majority group, unable or unwilling to evan-
359 Ebd. 360 Denffer, Probleme, 1977, 7. 361 Die Islamic Foundation (IF) war 1968 von einer Gruppe muslimischer Akademiker um Khurshid Ahmad gegründet und 1973 schließlich in Leicester eingerichtet worden, vgl. Janson, Cradle, 2003, 96; 1976 hatte die IF gemeinsam mit der Missionskommission des ÖRK die Konsultation zu Mission und da‘wa in Chambesy durchgeführt, s. II.D.2. 362 Heusser, Interview, 2008. 363 Denffer, Orientdienst, 1980, 11. Das Zitat stammt aus Zeugnis und Dienst (1/1976, 14), der Zeitschrift der EMO, die seit Anfang 1975 nicht mehr Träger des OD war. Inhaltlich stand das Zitat der Sicht mancher Mitglieder des OD zwar nahe, das Konzept der Antichristlichkeit des Islam findet sich jedoch bei Höpfner nicht. 364 Denffer, Orientdienst, 1980, 11.
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gelize them, and a small team of missionaries, specializing in mission work among Muslims, by combining care with preaching and literature distribution.”365 Die komplexe Struktur und Vernetzung des OD zwischen evangelisch-landeskirchlichen, freikirchlichen und pietistischen Gruppen missdeutete von Denffer als verdeckte gesamtkirchliche Strategie. Den OD sah er in der Nähe derer, die er 1977 (s. oben) als „lebende Christen“ bezeichnet und im Gegensatz zur offiziellen Kirche gesehen hatte. In dieser Perspektive urteilte er, der OD nehme seine eigene Position in der kirchlichen Landschaft „as being outside of the ordinary Christian community“ wahr (was der Selbstsicht des OD so sicher nicht entsprach), fühle sich aber gleichzeitig „somewhat related to the majority groups“.366 Umgekehrt sei in den Kirchen der Ansatz des OD zwar umstritten, dennoch beziehe man ihn immer wieder ein. Dies interpretierte von Denffer als Strategie, die den Kirchen ermögliche „to claim that they are not directly engaged in evangelizing Muslims, while they can at the same time have a share in it“.367 In der Darstellung konkreter Aktivitäten des OD beschrieb von Denffer evangelistische Versammlungen für Migranten, Radioprogramme, Korrespondenzkurse und Literaturverbreitung. Ähnlich wie Erkmen druckte er die Titelblätter des türkischen und arabischen Kalenders ab. Selbst die vollständigen Inhaltsverzeichnisse der bis dahin erschienenen Bände der von Höpfner herausgegebenen Buchreihe Christentum und Islam wurden abgedruckt.368 Vor allem entzündete sich von Denffers Kritik jedoch wie bereits 1977 an der Familienarbeit des OD und den christlichen Angeboten für muslimische Kinder: „It seems that the missionary exploits the weak position of a minority group and approaches this group via its weakest and most vulnerable members, namely the children.“369 Dass von Denffers Kritik sich vor allem auf den pädagogischen Bereich richtete, überrascht nicht, hatte er doch selbst bereits 1977 das deutschsprachige Kinderbuch Islam für Kinder (Aachen 1977) herausgebracht, das von den islamischen Propheten erzählt, in den Islam einführt und sich von christlichen Perspektiven abgrenzt. Das Buch war speziell an deutschsprachige Muslime gerichtet, um Hilfestellung angesichts des „Problem[s] der islamischen Erziehung in einer nichtislamischen Umgebung“ zu geben.370 Auch die Islamic Foundation (IF) in Leicester, der sich von Denffer 1978 als Research Fellow anschloss, legte daraufhin unter der Leitung von Khurram Murad371 einen starken Schwerpunkt auf das Verfas365 366 367 368 369 370
Ebd. 15. Ebd. 16. Ebd. Ebd. 26–29. Ebd. 25. Zur Familienarbeit des OD und seiner Reaktion auf v. Denffers Kritik siehe IV.C.5. Denffer, Islam für Kinder, 1977, 128. Das Buch wurde 1981 in englischer Fassung (Islam for Children) von der Islamic Foundation in Leicester herausgegeben und erlebte bis 1999 zehn Auflagen in Englisch, vgl. Janson, Cradle, 2003, 174 sowie 231–235. 371 Khurram Murad (1932–1996) leitete die IF von 1978–1986 und verfasste zwischen 1981 und 1985 zehn islamische Kinderbücher (Janson, Cradle, 2003, 99). Dabei verband er islamische da‘wa und Pädagogik („Da‘wa here becomes a matter of educational policy“, ebd. 101) mit dem Ziel, zunächst das islamische Leben muslimischer Familien als Gegenkultur zur säkularen Umgebung zu stärken und langfristig die säkulare Gesellschaft durch den „Islamic Code
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sen und die Herausgabe islamischer Kinderliteratur, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Denffers. Auch das Verständnis des interreligiösen Dialogs, das von Denffer als Vorsitzender der „Interfaith Unit“ der Islamic Foundation entwickelte,372 stand ganz im Zeichen islamischer Affirmation und da‘wa. Die bisherigen ökumenischen und kirchliche Dialogbemühungen betrachtete er eher abschätzig: „some of the church organizations make considerable noise about their schemes, programmes and activities. … Muslim participation is insignificant and whosoever participated in the past was selected on the basis of his utility for the churches rather than for the Muslims.”373 Dem stellte er ein Verständnis des interreligiösen Dialogs als Forum und Ausdruck islamischer Verkündigung gegenüber und forderte im Rahmen des 12. Bundestreffens deutschsprachiger Muslime 1981 „daß der Dialog mit den Christen in Europa mit dem Verkündigungsauftrag des Islam in Einklang stehen müsse. Zur Zeit Mohammeds habe die Rolle der Christen in der Begegnung darin bestanden, ‚zu bezeugen, dass Mohammed gottgesandter Prophet und der Islam Gottes Offenbarung‘ sei. Aufgabe der Moslems sei es gewesen, ‚den Christen den Islam darzulegen.‘ Auch der zeitgenössische Dialog müsse sich an diesen Kriterien und Positionen orientieren.“374
Insgesamt vollzog sich von Denffers Reaktion auf christliche Missions- und Dialogbemühungen in den 1970er Jahren im Rahmen seines sich entwickelnden Verständnisses islamischer da‘wa.375 Die kritischen Interaktionen mit dem Orientdienst legen den Schluss nahe, dass von Denffers frühe Sichtweisen zur Praxis der da‘wa, vor allem seine Betonung islamischer Pädagogik, nicht zuletzt auch als Reaktion auf die Beobachtung christlicher Missionspraxis verstanden werden können.376 Während von Denffer christliche Missionsbemühungen jedoch als Problem bewertete und ablehnte, hielt er Aktivitäten islamischer da‘wa für selbstverständlich.377 Grundlegend verstand von Denffer da‘wa – wie er in seinem Buch A Day with the Prophet (1979) konkretisierte – „as an invitation to Muslims and
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377
of life“ zu transformieren: „turn the community life into a continuing, action-based educational process“ (Murad, zit. ebd.). In der Entwicklung dieser Perspektiven dürften von Denffer und Murad sich gegenseitig beeinflusst haben, vgl. von Denffer, Day with the Prophet, 1979, „Foreword“ (Murad) und „Introduction“ (v. Denffer) sowie Janson, Cradle, 2003, 178ff. Vgl. Janson, Cradle, 2003, 148–151.176. Denffer, Orientdienst, 1980, 9. Zusammengefasst und zit. bei Abdullah, Geschichte, 1981, 184–185. Ausführlich zu von Denffers Verständnis von da‘wa vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 298–317. Aus religionsgeschichtlicher Sicht kann dieser Vorgang als Beispiel der „vielfältigen Austauschbeziehungen“ im Kontext missionarischer Begegnungen verstanden werden, Feldtkeller, Thesen, 2000, 11. Auf diese „Einseitigkeit“ verweist auch Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 317. Das erhoffte Ende christlicher Mission unter Muslimen kann nach von Denffer nur erreicht werden, „where and when Muslims become real masters of their own house. Muslims must rule the dar al-Islam. Only then would they be in a position of influence, power and authority that would allow them to put effective restrictions upon Christian mission among Muslims.“, zit. ebd. 307.
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non-Muslims alike, to consider leading their lives according to the sunna of the Prophet“.378 Hier zeigte sich ein da‘wa-Verständnis, das Wrogemann als purifizierend-individualistisches Modell bezeichnet:379 „Die Islamisierung der Gesellschaft geschieht nach diesem Modell qualitativ durch das Reinigen des Islam ..., andererseits durch das individuelle Einladen von Menschen zum Islam ... und insofern als langsame quantitative Islamisierung der Bevölkerung.“380 Dabei geht es nicht um direkte politische oder gar militante Veränderungsversuche, sondern um kontextuell sensible und zugleich offensive Überzeugungsarbeit durch islamische Gruppen als Subkultur. Das Ziel bleibt dabei jedoch die Transformation der Gesellschaft nach islamischen Vorstellungen. Dies beschrieb Khurram Murad, dessen Denken von Denffer nahe stand, als „organized struggle to change the existing society into an Islamic Society based on the Quran and the Sunna and make Islam, which is a code for entire life, supreme and dominant, especially in the sociopolitical spheres“.381 Dem entsprach auch das Verständnis des Dialogs als da‘wa bei von Denffer. Der Dialog wird dabei zwar strukturell als Kommunikationsform pluralistischer Gesellschaften aufgegriffen, zielt inhaltlich als Vermittlung einer alles umfassenden islamischen Lebensordnung aber auf deren Infragestellung.382 4. Missionsverständnisse im Widerstreit: Zwischenfazit a) Exklusion des Bedrohlichen und islamische da‘wa Insgesamt spiegeln die intra- und interreligiösen Kontroversen der 1960er und 1970er Jahre einen Prozess widersprüchlicher und widerständiger Transkulturation im Kontext christlich-islamischer Begegnung im Migrationskontext wider. Die islamischen Reaktionen brachten die unterschiedlichen Selbstverständnisse muslimischer Gruppen in der Diaspora der Migrationssituation zum Ausdruck. Der Islam wurde dabei oft nicht nur als wahre Religion und persönliche Glaubensüberzeugung verteidigt, sondern auch als nationale, ethnische oder kommunale Identität im Sinne eines dar al-islam in der Diaspora, auch wenn der Migrationskontext ansonsten eher als dar as-sulh verstanden wurde: „ein Gebiet unter nichtislamischer Herrschaft, mit dem Muslime einen Friedensvertrag haben und das ihnen dabei auch das Recht von Aufenthalt und Religionsausübung gewährt“.383 In der islamischen Ablehnung christlicher Mission zeigten sich unterschiedliche kulturell geprägte Reaktionsmuster. Vertreter des türkischen Islam gingen von der 378 Denffer, Day with the Prophet, 1979, 8. 379 Vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 371–72. Dieses Modell sieht Wrogemann auch im wahhabitischen da‘wa-Verständnis, das gesellschaftliche Prägung durch religiöse Reinigung betont und dem er auch von Denffer zurechnet, vgl. ebd. 193–194. 380 Ebd. 372. 381 Zit. bei Poston, Dawah, 1992, 82. 382 Zum oft fließenden Übergang von religiösen zu politischen da’wa-Verständnissen vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 365–375; Schirrmacher, Islam in Europa, 2008. 383 Feldtkeller, Offen für Muslime, 2000, 41.
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engen Verbindung zwischen Religion, Nationalität und Staat aus und reagierten mit diplomatischen Bemühungen sowie polemischen Darstellungen und Warnungen vor Mission und Dialog gleichermaßen. Dabei zeigten sich Aspekte einer harten Synthese zwischen religiösen und politischen Perspektiven.384 Dagegen begrüßten die von muslimischen Minderheitskontexten geprägten islamischen Denker Smail Balic und M. S. Abdullah dialogische Beziehungen und interreligiöses Verständnis, sahen bekehrungsorientierte missionarische Bemühungen jedoch als Verletzung des religiös-kulturellen nachbarschaftlichen Respekts und damit auch als eine Form des religiösen Hausfriedensbruchs, wenn auch nicht auf staatlichnationaler Ebene. Sie hoben hervor, dass der Islam nicht missionarisch sei und forderten auch von christlicher Seite einen Missionsverzicht. Im Unterschied dazu betonte der deutsche Muslim Ahmad von Denffer den missionarischen Ruf zum Islam. Er verglich die islamische Diaspora-Gemeinschaft auf gesellschaftlicher Ebene mit Gemeinschaften von Christen, die er als „lebende Christen“ bezeichnete und von den traditionellen Mehrheitskirchen unterschied. Beide, „lebende Christen“ und überzeugte Muslime, sah von Denffer in einer soziologischen Perspektive als Subkulturen, die „den Zwängen der Gesellschaft in einem Freiraum auszuweichen“ versuchten.385 Obwohl von Denffer die säkulare pluralistische Gesellschaft letztlich negativ bewertete, setzte seine Interpretation dennoch eine pluralistische Gesellschaft voraus, in der solche Freiräume auch tatsächlich existieren. Dem entsprechend reagierte er nicht mit Aufforderungen an staatliche Institutionen oder die Kirchen, um die missionarischen Initiativen auf diese Weise quasi von oben zu unterbinden. Er bemühte sich vielmehr um warnende Aufklärung in der islamischen Diaspora und die gleichzeitige Nutzung des Dialogs und der Strukturen einer pluralistischen Kommunikationsgesellschaft zur islamischen Mission (da‘wa). Allen islamischen Reaktionen gemeinsam war die Ablehnung von und Warnung vor christlicher Mission durch persönlichen Rückzug und Abbruch der Beziehungen,386 polemische Darstellungen (Erkmen), Aufforderungen zum Missionsverzicht (Abdullah) sowie Warnungen und Gegenmaßnahmen in der eigenen Gemeinschaft (Erkmen, von Denffer). In Variation der von Feldtkeller beschriebenen „Inklusion des Bedrohlichen“ in Form des Missionsverbots für christliche Kirchen in islamischen Mehrheitskontexten,387 kann die hier beobachtete musli384 Feldtkeller, Religionstheologie, 1998 spricht von einer „harten Synthese“, wenn in der religionsgeschichtlichen Verbindung von sekundärer Religiosität „mit primärer Religionserfahrung“ Religion, Nation und Staat eine Einheit bilden, ebd. 459. In einer solchen Situation gerät Mission schnell in den „Verdacht … durch ein Bündnis mit Menschen in politisch feindlichen Territorien die Staatsraison zu unterlaufen“, Feldtkeller, Thesen, 2000, 14. 385 Denffer, Probleme, 1977, 6. 386 Siehe IV.C.1.c). 387 Vgl. Feldtkeller, Mutter der Kirchen, 1998, 132–139.224. Mit „Inklusion des Bedrohlichen“ beschreibt Feldtkeller zunächst die gesellschaftliche Eindämmung der weiblichen „Verführungsmacht“ in islamischen Mehrheitskontexten. Dabei werden „Frauen von der Männerwelt räumlich getrennt, aber auch rituell … in einen inneren Bereich hineingeholt“, ebd. 138. Ein ähnliches Prinzip beobachtet Feldtkeller im Bezug auf das Verhältnis der islamischen Mehrheitsgesellschaft zur christlichen Minderheit in ihrer Mitte. Hier äußert sich die „Inklusion
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mische Reaktion als Exklusion des Bedrohlichen im Zuge der Anpassung an den Kontext der pluralistischen gesellschaftlichen Situation gedeutet werden. Problematisch wurde eine solche, individuell durchaus legitime Exklusion des als Bedrohlich empfundenen jedoch dort, wo sie mit sozialem, kulturellem und religiösem Druck verbunden von mündigen Dritten (z.B. Familienangehörigen oder Verwandten in der türkischen Diaspora) gefordert wurde und damit in Widerspruch zu den in der Bundesrepublik grundrechtlich garantierten Persönlichkeitsrechten, wie der Freiheit religiöser Wahl, geriet (siehe z.B. VII.A.5). Problematisch ist auch das erklärte Ziel einer langfristigen Überwindung und Abschaffung christlicher Missionsfreiheit durch eine graduelle Islamisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge bei von Denffer (siehe oben).388 b) Zwischen Gastfreundschaft, Evangelisation und Selbstzensur Auf christlicher Seite war man sich bei allen Unterschieden darin einig, dass die missionarische Begegnung mit muslimischen Migranten das Evangelium von der Liebe Gottes in Jesus Christus zu allen Menschen zum Ausdruck bringen und darum frei von manipulativen, ethnozentrischen oder machtpolitischen Motivationen und Praktiken sein sollte. Diakonische, dialogische oder evangelistische Bemühungen wurden als Angebote im Rahmen religiöser und gesellschaftlicher Koexistenz und Gastfreundschaft verstanden, die selbstverständlich auch die Möglichkeit der Ablehnung dieser Angebote mit einschloss. Auch wenn man diesem Maßstab nicht immer gerecht wurde, stellte er einen missionstheologischen Grundkonsens und die Basis im Diskurs christlicher missionarischer Begegnungsmodelle dar. Ab Mitte der 1970er Jahre gelang es allerdings immer weniger, die unterschiedlichen missionstheologischen Perspektiven mit ihren dialogischen, gesellschaftspolitischen und evangelistischen Schwerpunkten als hermeneutische Chance eines gegenseitigen Lernprozesses zu begreifen. Dies führte zu vertieften Kontroversen und einer vorübergehenden missionstheologischen Sprachlosigkeit (Salzburg 1978). Einerseits rückten die kirchlichen Neuansätze nach 1973 wichtige gesellschaftliche, interreligiöse und theologische Dimensionen der christlich-muslimischen Begegnung in den Blick. Soteriologische Engführungen zum Verständnis der Bekehrung wurden missionstheologisch diskutiert und die Unverfügbarkeit des Heilshandelns Gottes im Anderen wurde verdeutlicht.389 Gleichzeitig wurde die biblisch-theologische und geistliche Bedeutsamkeit der Bekehrung auch in den neueren Ansätzen zumindest von einigen deutlich festgehalten (Löffler). Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen christlicher und islamischer Theologie wurden herausgearbeitet, theologisch reflektiert und zu Ausgangspunkten des des Bedrohlichen“ v.a. im „Missionsverbot“, wenn die Christen „wieder einmal ihrer altbekannten natürlichen Neigung nachgehen, bei Muslimen Verlangen nach ihrer Religion zu wecken und sie zum Abfall vom Islam zu verleiten mit ihrer betörend schönen Botschaft.“, ebd. 224. 388 Vgl. von Denffer zit. bei Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 307. 389 Vgl. Grünschloss, Glaube, 1999, 291.
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Gesprächs zwischen Christen und Muslimen (Jasper, Mildenberger, Schoen). Die gesellschaftliche Situation muslimischer Arbeitsmigranten wurde mit Recht stärker in den Fokus gerückt (Micksch). Andererseits zeigten sich sowohl in theologischer als auch gesellschaftlicher Sicht Defizite in den Neuansätzen der 1970er Jahre. Weder die verchristlichend inklusiven (später auch „pluralistischen“)390 Fremdperspektiven auf den Islam noch die Reduktion des christlichen Zeugnisses auf sozialpolitisches Engagement wurden einer christlichen Theologie des interreligiösen Zeugnisses wirklich gerecht. Als besonders problematisch erwies sich die zunehmend sichtbar werdende Tendenz missionarischer Selbstzensur391 in Theologie und Kirche angesichts islamischer Forderungen nach christlichem Missionsverzicht. Dabei überschritt man nicht nur die Grenze zwischen der notwendigen christlichen Haltung des interreligiösen Respekts und der eigenen religiösen Verwundbarkeit392 zu einer selbstverordneten Ausdruckslosigkeit des christlichen Glaubens. Man unterschätzte auch die Problematik harter Synthesen393 von Religion, Kultur und Nation sowie das offensive Selbstverständnis islamischer da‘wa im gesellschaftlichen Zusammenhang. Würde Religion, inklusive des christlichen Glaubens, nur noch innerhalb der eigenen „Abstammungsgemeinschaft“ weitergegeben, „würde dies ohne Umschweife den Todesstoß für Religionsfreiheit bedeuten: weder stünden dann noch religiöse Orientierungsalternativen faktisch zur Verfügung, die inhaltlich den Entscheidungsraum von Religionsfreiheit bilden, noch würde es dabei bleiben, dass Religionswechsel … in dieser Gesellschaft eine halbwegs akzeptierte Verhaltensoption ist.“394 Insofern stellten die missionarischen Perspektiven, wie sie im OD zu finden waren und praktiziert wurden, ein wichtiges Korrektiv im missionstheologischen Diskurs zur christlich-islamischen Begegnung dar. Eine in der damaligen Diskussion kaum berücksichtigte, für die Einschätzung der Entwicklungen jedoch wesentliche Rolle, spielten die Erfahrungen und Perspektiven der Konvertiten selbst. Aus ihrer Sicht stellte christliche Mission offensichtlich einen begrüßenswerten Faktor der Vielfalt und Wahlfreiheit in den oft monoreligiös dominierten nationalen und kulturellen Gruppen im Third Space der Migrationskultur dar – die Einladung zu einer eigenständigen Entscheidung im religiösen Wettbewerb.395 Diesen Perspektiven und Erfahrungen widmet sich das folgende Kapitel.
390 Vgl. die Kritik Feldtkellers am „Einheitspostulat“ der pluralistischen Religionstheologie, die letztlich jedoch einen „Inklusivismus höherer Ordnung“ darstelle. Feldtkeller, Religionstheologie, 1998, 448f.451. 391 Gensichen, Glaube, 1971, 116–117 sprach von einer „falschen Selbstbescheidung“. 392 Vgl. Margull, Verwundbarkeit, 1974. 393 Feldtkeller, Religionstheologie, 1998, 459. 394 Feldtkeller, Religionsfreiheit, 2002, 273. 395 Vgl. die Theorie der rationalen Entscheidung bei Hamilton, Religionssoziologie, 2006, 24.
VII. VIELFALT IM THIRD SPACE: KONVERSION UND GEMEINSCHAFTSBILDUNG Während die christliche Bekehrung als Ziel des interreligiösen Zeugnisses in der theologischen Diskussion immer wieder in Frage stand, stellte sie zusammen mit dem Ziel der Gemeinschaftsbildung eine wesentliche Hoffnung der missionarischen Arbeit unter muslimischen Studenten und Gastarbeitern in SMD und OD dar. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, sind die erfolgten Konversionen und Gemeinschaftsbildungen jedoch weniger als lineares kausales Ergebnis der christlichen Missionsarbeit zu verstehen, sondern können besser als eigenständige Entscheidungen und Entwicklungen im Überschneidungsbereich der von Andreas Feldtkeller beschriebenen Konzepte der „missionarischen Weitergabe“ und der „kulturellen Aneignung“ im Rahmen des „Ausbreitungsverhalten[s] von Religionsgemeinschaften“ interpretiert werden.1 Nach Feldtkeller2 ist die „missionarische Weitergabe“ von der Absicht getragen, eine „befreiende Botschaft“ über religiöse und kulturelle Grenzen zu allen Menschen zu tragen, während es in der „kulturelle[n] Aneignung“ darum geht, „dass Menschen sich fremde religiöse Inhalte, Praktiken oder Ausdrucksformen aneignen, ohne dass ihnen dies von den Trägern der Religion angetragen worden wäre“. Oft geht „sogar die Initiative von den Empfangenden aus“.3 Feldtkeller weist darauf hin, dass diese „Grundformen der Weitergabe von Religion Kombinationen eingehen und in interaktive Dynamiken miteinander eintreten“. Vor allem die „freiwillige Annahme einer missionarischen Botschaft“ im Rahmen einer Konversion habe „immer den Charakter einer Aneignung“.4 Diese Kombination aus missionarischer Initiative (manchmal nur in Form einer weitergegebenen Broschüre) und der Eigeninitiative des Rezipienten (zum Beispiel durch Anschreiben einer angegebenen Kontaktadresse) zeigt sich durchgängig in den folgenden Konversionsbiographien. Für die missionarische Weitergabe waren in diesem Zusammenhang drei theologische Konzepte bedeutsam: (1) die bereits von Hermelink formulierte und bei Höpfner vielfach variierte Überzeugung, dass das Zeugnis des Evangeliums „den anderen frei setzen [will] zu einer eigenen Antwort auf das, was Gott von 1
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Feldtkeller, Perspektive der Religionswissenschaft, 2001, 100ff; Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 53–57. Zur Erweiterung, bzw. Variation von Feldtkellers Konzept der kulturellen Aneignung in Richtung einer religiösen Aneignung siehe VII.C.1. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 55–56. Ebd. 57–58. Ebd. 66, vgl. Balz, Anfang des Glaubens, 2010, 186, der im Anschluss an L. Sanneh zwischen Transmission (missionarische Weitergabe) und Assimilation (biographische Aneignung) des Evangeliums unterscheidet.
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ihm will“.5 Man deutete die Bekehrung als erweckendes und rettendes Handeln Gottes an einem Menschen, dass nicht missionarisch machbar ist, sondern sich in einer Begegnung zwischen dem dreieinigen Gott und dem Einzelnen ereignet, die für Dritte letztlich unverfügbar und unzugänglich ist. (2) Gleichzeitig war man von der Notwendigkeit und entscheidenden Bedeutung einer expliziten missionarischen Weitergabe der christlichen Botschaft von der Liebe Gottes in Christus als Grundlage für die Möglichkeit von Bekehrungen als Erfahrungen des Heils und der Sündenvergebung überzeugt. (3) Bedeutsam war darüber hinaus das pietistische (ab Ende der 1960er Jahre auch als evangelikal bezeichnete) Verständnis von Bekehrung, das vom intra- auf den interreligiösen Zusammenhang übertragen wurde. Im Vordergrund stand dabei nicht der formale Religionswechsel durch Taufe und Kirchenzugehörigkeit, sondern der Beginn und das Wachstum einer persönlichen Glaubens- und Nachfolgebeziehung zu Jesus Christus, verbunden mit der Integration in eine geistliche Glaubensgemeinschaft, die sich nicht vorrangig an traditionellen kirchlichen Strukturen orientiert und damit neue Inkulturationen im Migrationskontext erforderte und erleichtert. A. CHRISTLICHE KONVERSION IM MIGRATIONSKONTEXT 1. Quantitative und theoretische Annäherungen a) Quantitative Annäherung Im Zuge der missionarischen Begegnungen zwischen Christen und Muslimen in den 1950er bis 1970er Jahren kam es zu einzelnen christlichen Bekehrungen. Genaue Zahlen lassen sich nicht ermitteln, da weder offizielle Statistiken vorliegen noch ein allgemein akzeptiertes Verständnis von Bekehrung / Konversion vorhanden ist.6 Dennoch kann eine quantitative Annäherung versucht werden.7 Während viele muslimische Studenten und Gastarbeiter in direkte oder indirekte Berührung mit christlichen Missionswerken kamen – in der SMD dürften es Hunderte, im Umfeld des OD durch die Medien- und Literaturarbeit Tausende gewesen sein – zeigten nur relativ wenige Interesse an weitergehenden Informationen und Kontakten. Y.K. vom OD erinnert sich: 5
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Hermelink, Verantwortung, 1957, 2–3, s. III.A.3. Ähnlich formuliert Hermelink an anderer Stelle: „Mission ist, dass die anderen durch das Evangelium zu ihrem eigenen Gehorsam, ihrer eigenen Antwort auf das Wort Gottes geführt werden.“ Hermelink, Editorial, 1960, 1, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 370.376. Zu Höpfners Konversionstheologie s. V.D.2.f). Zu den prinzipiellen Schwierigkeiten der Datenermittlung vgl. Wrogemann, Konversionen, 2010, 67f. Entsprechendes gilt für die umgekehrte Bekehrungsrichtung. Schätzungweise dürfte die Zahl der Konversionen zum Islam in der Bundesrepublik in den 1950er bis 1970er Jahren bei einigen Hundert liegen. M.S. Abdullah, Geschichte, 1980, 77 gab für die Zeit bis 1980 die Zahl von 1500 an. Bis zum Jahr 2010 schätzt Wrogemann die Zahl der deutschstämmigen Konvertiten zum Islam auf etwa 15.000 Wrogemann, Konversionen, 2010, 70.
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„Wir haben die interessierten Leute immer zu uns eingeladen. Ich habe dann Türkisch gekocht und wir haben versucht, mit ihnen über das Evangelium zu sprechen. … Einige Leute haben sogar Jesus angenommen, sind aber nicht dabeigeblieben. Es sind manche nach Kanada ausgewandert, manche haben andere Wege eingeschlagen.“8
Das Zitat macht deutlich, dass von der begrenzten Gruppe der Interessenten wiederum nur einige wenige „Jesus angenommen“, also eine für die Missionare sichtbare christliche Konversion vollzogen haben. Von diesen ist eine noch kleinere Zahl auf die Dauer „dabeigeblieben“. Missionarische Mitarbeiter sprachen von einer „hohen Rückfallquote“.9 Thomas Cosmades war der Meinung, dass sich im Laufe seiner Arbeit in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren kein türkischer Muslim wirklich bekehrt habe: „In our meetings there were many inquirers; they continued to come and ask questions. But I cannot say I had a real conversion. I will be very open about it. I cannot say we had any convert as such, saying ‚I became a Christian‘.“10 Dennoch gab es vereinzelte christliche Konversionen, die sich dann auch in den Missionsberichten niederschlugen und im Folgenden beschrieben werden. Dabei werden auch die Biographien von solchen berücksichtigt, die „nicht dabeigeblieben“ sind, da gerade diese tiefe Einblicke in die interreligiösen und interkulturellen Spannungsfelder im Kontext der Migration ermöglichen.11 In der SMD gehörten Tadji. F. (1954) und M.B. (1964) zu den ersten sichtbaren Konvertiten aus arabischem Umfeld, im OD waren es Y.K. (um 1967), E.Ö (1967) und A.Y. (1974) aus dem türkischen Kontext.12 Auch wenn diese Konversionen sicher nicht die einzigen in diesem Zeitraum waren, kann man aufgrund des anfänglichen Interesses der Missionswerke, über bekannte Bekehrungen möglichst auch zu berichten, davon ausgehen, dass nicht viele weitere bekannt waren. Dass es jedoch Bekehrungen gab, die nicht oder nur per Zufall bekannt wurden, zeigt ein Bericht Willi Höpfners, dem in den 1960er Jahren in einer christlichen Versammlung im Iran ein Konvertit begegnete, der während seines Studiums in Mainz in den 1950er Jahren Christ geworden war.13 Nicht sichtbar wurden meist auch Prozesse kultureller religiöser Aneignung, die nicht zu einer Konversion, sondern nur zu graduellen Übernahmen christlicher Überzeugungen oder Prakti-
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Y.K., Interview, 2009, 7. Heusser, Interview, 2008. Cosmades, Interview, 2009. Vgl. Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 224. Erst ab Anfang der 1980er Jahre begann die Zahl der Konversionen von Muslimen in Deutschland stärker zu wachsen. 2001 schätzte Heusser „die Zahl der Türken und Kurden in Deutschland, die aus muslimischer Familie kommend Jesus Christus nachfolgen wollen, auf 130“. Heusser, Türkenarbeit, 2001, 2. Zu arabischen Konvertiten vgl. Josua, Wenn Muslime, 2012, 74f. Die höchste Zahl von muslimischen Konvertiten gab es nach 1980 unter schiitischen Muslimen aus dem Iran, vgl. Kutzner, Religion und Kirche, 2009; Wrogemann, Konversionen, 2010, 70. 13 Vgl. Höpfner, Allah, 1964, 3.
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ken führten.14 Auch solche Prozesse, die in der Missionsberichterstattung gelegentlich erwähnt werden, spielen für das Gesamtbild eine Rolle.15 Die Bedeutung der hier beschriebenen Konversionen im Umfeld christlicher Missionsbemühungen liegt denn auch nicht in ihrer Quantität, sondern in ihrer Qualität als Ausdruck selbstbestimmter religiöser Identitätsbildung im Migrationskontext in Deutschland. b) Theoretische Annäherung Religiöse Konversionen sind nach Otto Bischofberger gekennzeichnet durch (1) eine ganzheitliche Umorientierung, (2) eine Reinterpretation des vergangenen Lebens, (3) eine Abwendung von demselben und (4) die Neugestaltung des Lebens in einem neuen gesellschaftlichen Beziehungsnetz.16 Henning Wrogemann differenziert weitergehend und nennt als „soziologisch und psychologisch beschreibbare Merkmale“ von Konversionen:17 (1) einen „radikalen Wandel der IchIdentität“, (2) einen „Bruch mit der eignen Vergangenheit“, der sich (3) „plötzlich … oder in einem längeren Prozess“ vollzieht. Diesem Bruch gehe (4) ein Gefühl der Spannung und Sehnsucht voraus, das sich anhand des „Vorhandensein[s] einer alternativen Option“ in einer Konversion entlädt und (5) anschließend weiter bearbeitet wird. Um die (6) „noch schwache Identität“ zu schützen, grenzt sich der Konvertit stark von alternativen Sinnangeboten ab. Während diese Abläufe sich auch in den hier beschriebenen Konversionsbiographien wiederfinden, zeigen sie zugleich Aspekte „religiöser Mobilität“18 und identitätsbezogene Synthesen, die anhand des Konzepts der „biographischen Veränderung religiöser Bindungen“19 von Feldtkeller beschrieben werden können. Feldtkeller unterscheidet dabei zwischen Conversion und Extensivierung: Conversion beschreibt „den Wechsel der religiösen Bindung zu einem fremden Religionssystem, wobei die Bindung an das bisherige Religionssystem aufgegeben und durch eine ablehnende Haltung ersetzt wird“. Extensivierung bezeichnet „die Aufnahme von Überzeugungsgehalten, Symbolen … aus einer bisher fremden Religion zusätzlich zur schon bestehenden religiösen Bindung“.20 Beide Prozesse
14 Vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 56. Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 38– 39 fasst diese Möglichkeit biographischer interreligiöser Veränderung unter dem Stichwort „Extensivierung“ zusammen. 15 Auch im Rahmen interkultureller Eheschließungen kam es im untersuchten Zeitraum zu Konversionen zum christlichen Glauben, die hier jedoch nur berücksichtigt werden, wenn sie – wie im Fall von E.Ö. – in Verbindung mit missionarischen Bemühungen und der Arbeit des OD standen, vgl. Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 5/1967, 80. 16 Bischofberger, Bekehrung/Konversion, 1998, 1228. 17 Wrogemann, Konversionen, 2010, 68f. 18 Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 224. 19 Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 38. 20 Ebd. 39.
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können als Ausdruck religiöser Identitätsbildung und biographischer Inkulturation verstanden werden.21 Darüber hinaus orientieren sich die folgenden Konversionsanalysen an den psychosozialen Prozessmodellen von Rambo/McKnight und Alan Tippett.22 Das Prozessmodell von Tippett wurde von dem dänischen Religionswissenschaftler Mogens Mogensen in seiner Untersuchung zur Biographie muslimischer Konvertiten in Dänemark23 verwendet und umfasst drei Phasen: 1. die Phase der awareness beschreibt die kulturelle und religiöse Verwurzelung sowie die neue Wahrnehmung des christlichen Glaubens durch den Konvertiten; 2. die Phase decision enthält die Motive – frustration und attraction – für den Religionswechsel; 3. die Phase incorporation beschreibt die sozialen Folgen der Konversion: Eingliederung in eine christliche Gemeinschaft, gesellschaftliche Integration, Reaktion der Ursprungsfamilie. Dieses Modell wird ergänzt durch das differenziertere Prozessmodell von Lewis Rambo, das die gleiche Entwicklung in sieben Aspekte gliedert, die nicht unbedingt eine lineare zeitliche Abfolge darstellen müssen: 1. Context, 2. Crisis, 3. Quest, 4. Encounter, 5. Interaction, 6. Commitment, 7. Consequences.24 Darüber hinaus macht bereits die erste Konversionsgeschichte deutlich, was auch für die folgenden gilt: „das, was als Konversion betrachtet wird, [ist] zunächst nur als kommunikative Rekonstruktion, als Konversionserzählung zugänglich“.25 Deshalb wird nicht nur die Konversion als Phänomen dargestellt, sondern auch die sich wandelnde Selbstinterpretation der religiösen Lebensgeschichte durch den Konvertiten.26 2. Ein Literat aus Kirkuk (Irak): M.B. Als M.B. sich 1963, mit gut dreißig Jahren, im Kontext der SMD entschloss, Christ zu werden, lagen bereits Jahre existentieller Sinnsuche und Lebensgestaltung hinter ihm, größtenteils im Irak und seit 1960 in Deutschland. Insgesamt zeigt die religiöse Lebensgeschichte27 von M.B. drei Hauptphasen: 1. Kindheit 21 Vgl. Feldtkeller, Identität, 2002, 45; Jørgensen, Imandars, 2008, 104–108. 22 Vgl. Tippett, Conversion as a Dynamic Process, 1977; Rambo, Understanding Conversion, 1993. In Erweiterung verschiedener Prozessmodelle hat Reinhold Strähler auf die Bedeutung der kognitiven und affektiven Dimensionen in Konversionsprozessen hingewiesen, vgl. Strähler, Coming to Faith, 2010, 35; Ders., Case Studies, 2009. 23 Vgl. Mogensen, Conversion, 2004, 301f. 24 Rambo, Understanding Conversion, 1993, 17. Das Modell wurde unter Auslassung von interaction von McKnight, Conversion, 2007 übernommen. Schließlich dient auch die Analyse von Konversionen durch Jean Marie Gaudeul Called from Islam to Christ: Why Muslims become Christians (1999) gelegentlich als vergleichender Bezugspunkt. 25 Knoblauch, Religiöse Konversion, 1998, 17. Kursiv i.O. 26 In literaturwissenschaftlicher Perspektive können die Konversionberichte als eine Form autobiographischer Migrationsliteratur im Third Space (Bhabha) verstanden werden, vgl. Photong-Wollmann, Migrationsliteratur, 1996; Hofmann, Literaturwissenschaft, 2006, 135. 27 Die Darstellung beruht auf einem Interview aus dem Jahr 1985, autobiographischen Texten sowie Erinnerungen von Zeitzeugen (H.L., Interview, 2009; Ga.B., Interview, 2010; Gü.B.,
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und berufliche und persönliche Identitätssuche im Irak 1932–1960, 2. Fortsetzung der Suche in Deutschland mit christlicher Konversion 1960–1980, 3. gesellschaftliche Integration und extensivierende Reversion 1980–2002. a) Kontext: Von Kirkuk nach München 1932–1960 M.B. wurde um 1932 im Norden des Irak als Angehöriger der turkmenischen Minderheit28 geboren. Die ersten Lebensjahre verbrachte er in Kirkuk, wo der Vater als Tischler tätig war. Das Leben war einfach und von Armut geprägt. Nach dem frühen Tod des Vaters, M. war fünf oder sechs Jahre alt, verlor die Familie den wirtschaftlichen Rückhalt. Die Mutter zog mit M. und seinem älteren Bruder in ihren Heimatort Dakuk (Tawuq), südlich von Kirkuk, wo sie von der Verwandtschaft aufgenommen wurden. Die Mutter verdiente den Lebensunterhalt mit Waschen und Arbeit auf den Tomaten-, Gurken- und Melonenfeldern. In Dakuk besuchte M. die Dorfschule. Im Anschluss gelang es der Mutter, einen Platz für M. in einem Internat für Waisen zu bekommen, das er nach zwei Jahren mit einem „ministeriellen Examen“ abschloss.29 Danach fand M. Arbeit bei der britischen Iraqi Petroleum Company (IPC) in Kirkuk. Abends besuchte er die weiterführende Schule mit dem Ziel der Mittleren Reife. In dieser Zeit lernte er arabische Übersetzungen der Werke Lenins und Stalins,30 aber auch Goethes Werther kennen: „Ich habe Tag und Nacht gelesen“, erinnert sich M.31 Er schloss die Mittleren Reife ab und begann, sich in der kommunistischen Partei zu engagieren: „Mit einem Dreiviertel Herzen war ich also bei der politischen Tätigkeit. Flugblätter verteilen, zu Versammlungen gehen und Mitglieder werben für die kommunistische Partei. Analphabeten aufwecken, aufklären, revolutionieren.“32 Schließlich beschloss er, die Ölindustrie zu verlassen, und begann 1954 mit dem Studium an der Agrarwissenschaftlichen Fachhochschule in Bagdad. Nach einer Konfrontation mit dem Dekan wegen seiner politischen Aktivitäten, verließ M. die Hochschule, hatte wechselnde Arbeitsstellen im Norden des Irak, kehrte aber wieder nach Bagdad zurück, wo er Einkaufsleiter einer britischen Firma wurde. Sein politscher Aktivismus verschwand zugunsten kultureller Aktivitäten: „Ich wollte lesen, wollte in einer Stadt leben, wollte ins
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Gesprächsnotiz, 2010). Zum Schutz der Personen werden auch die veröffentlichten Texte von M.B. nur mit unvollständigen Angaben angeführt (z.B. Dissertation 1970). Die genauen bibliographischen Daten sind dem Autor bekannt. Die Turkmenen sind nach Arabern und Kurden die drittstärkste ethnische Gruppe im Irak. Sie sind mehrheitlich Muslime, sowohl sunnitischer als auch schiitischer Prägung. Ihre Muttersprache ist mit dem ostanatolischen Türkisch verwandt; daneben sprechen sie Arabisch. M.B. urteilt, dass sich die „Irak-Turkmenen weder sprachlich noch kulturell bemerkenswert von den Türken der Türkei abheben“. M.B., Dissertation, 1970, 15. M.B., Interview, 1985, 13. Zur Rezeption des Kommunismus in der arabischen Welt vgl. Schoen, Gottes Allmacht, 2003, 98ff. M.B., Interview I, 1985, 22. Ebd. 15.
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Theater, Kunst, wollte an intellektuellen Diskussionen teilnehmen, Politik, Zeitung lesen, Radio hören.“33 Doch nun änderte sich die politische Lage. Mit Unterstützung der kommunistischen Partei stürzten die freien Offiziere 1958 unter der Führung von ‘Abd alKar m sim (1914–1963) die prowestliche Monarchie Faisals II. und riefen die Republik Irak aus.34 M.B.s britischer Arbeitgeber musste das Land verlassen, auch M.B. verlor seine Stelle: „Die Revolution des General Kassem vertrieb die Engländer und mich, aber verschaffte mir ein Flugticket der britischen Firma nach Lüttich – dorthin, weil ich mit einer belgischen Familie, die in Bagdad lebte, befreundet war. Ich sollte in Lüttich Zahnmedizin studieren.“35 Bei der Zwischenlandung in München beschloss M.B. jedoch, in Deutschland zu bleiben. Als Grund der spontanen Entscheidung nannte er Goethes Werther: „Das Werk hat mich fasziniert und sprachlos gemacht, so daß ich mir geschworen habe, eines Tages nach Deutschland zu gehen und die deutsche Sprache zu lernen.“36 Er belegte einen Deutschkurs, fand Arbeit in einem großen Unternehmen in München und gab Arabischkurse in einem Dolmetscherinstitut.37 b) Kontext II: Erinnerungen muslimischer Herkunft In späteren autobiographischen Rückblicken auf seine Jugend im Irak betonte M.B. seine Herkunft als Muslim. Für eine Veröffentlichung des OD schrieb er 1971: „Zwar glaubte ich auch schon als Moslem fest an Gott … Als Moslem war ich davon überzeugt, daß meine Taten einst beim Jüngsten Gericht vor Gott über mich entscheiden würden. … Als Moslem musste ich aus eigener Kraft ein guter Mensch sein.“38 In einem Referat führte er aus: „Als Muslim habe ich eigentlich keine präzise Vorstellung von Allah gehabt. … Als ich einmal meinen Religionslehrer fragte, wie wohl Gott aussieht, antwortete er mir: ‚Er ist eine riesige Lichtmasse, die jeden verzehrt, noch ehe er wirklich an sie heran gelangt ist. […] Als ich später mich daran machte, mir über Allah Gedanken zu machen, mußte ich erst gründlich den Koran lesen.“39
Auch in der SMD nahm man M.B. als Muslim wahr und sprach von der „Taufe eines ehemaligen muslimischen Arabers aus dem Irak“.40 Doch M.B.s muslimische Identität war damals wenig ausgeprägt. Ein irakischer Kommilitone meinte sogar „that he did not belong to any religion whatsoever“.41 In einem Interview 33 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Ebd. 15. M.B., Interview II , 1985, 19 Mejcher, Der arabische Osten, 2004, 448; Kamrava, Middle East, 2005, 172–173. M.B., Biographischer Beitrag, 1985, 179. Ebd. Ebd. M.B., Der neue Weg, 1971, 66.67.68, kursiv FW. M.B., Vom Glauben, 1969, 2 (Manuskript), OD-Archiv, kursiv FW. AfW, Rundbrief Nr. 7, Sept. 1964, 3–4, SMD-Archiv, AfWK, kursiv FW. N.H. (UK), Brief an SMD, 7.1.1964, SMD-Archiv, AfW.
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von 1985, das die Hauptquelle für die Zeit bis 1960 darstellt, zeitlich aber nach M.B.s intensiver christlicher Phase stattfand, stellte der Interviewpartner, ein Kollege M.s im universitären Umfeld, fest: „merkwürdigerweise haben Sie bisher mit keinem Satz die Moschee erwähnt.“ Erst daraufhin erklärte M. knapp: „Ja, also, die Familie war nicht religiös.“42 Dann beginnt jedoch eine Schilderung muslimischer Erinnerungen, wenn auch recht allgemein: „Ja, als ich angefangen hatte, lesen und schreiben zu lernen, d.h. natürlich, das erste, wenn man anfängt lesen zu lernen, ist den Koran zu lesen.“43 Dann zeichnete M.B. ein idyllisches Bild der Moschee seiner Kindheit. Da er in Dakuk zur kleinen Gruppe derer gehört habe, die lesen konnten, habe der Mullah eines Tages gefragt, ob er beim Freitagsgebet in der Moschee den Koran vorlesen wolle: „[Von da an] durfte ich jeden Freitag den Koran lesen […] vor etwa 300, 400 Leuten. […] Also, die Moschee, jedenfalls in den Dörfern der Dritten Welt, ist der schönste Ort, weil es bei der Moschee Wasser gab, viel Schatten und ein riesiges Gebäude mit Teppichen, und viele Bauern träumten davon, eine Mittagssiesta dort zu machen. Nachdem der Mullah mich beauftragt hatte, jeden Freitag in der Moschee zu lesen, durfte ich die Moschee jeden Tag betreten, dann durfte ich auch die Bibliothek benutzen, zwar waren es unbedeutende Werke, aber die Moschee hatte auch einen sehr schönen Garten, mit Obstbäumen. […] Jawohl, und mit Wasser, mit einem Fluss, und dann durfte ich im Fluss baden, durfte schwimmen und von dem Obst essen und am Mittag in der Moschee in dem wunderschönen Schatten schlafen, also innerhalb der Moschee, das waren natürlich Privilegien.“44
Als Grund für die bauliche Schönheit der Moscheen nannte M. die Spendenbereitschaft der Muslime, die aber auch mit deren Angst vor der Hölle zusammenhänge: „Sie denken, dass sie auch das Jenseits gekauft haben, dass sie auf das Jenseits eine Garantie haben, in dem sie nicht in die Hölle … gehen.“45 Es scheint deutlich, dass M.B. dem Islam als Jugendlicher und junger Erwachsener keine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Eine Ausnahme bildete die „islamische Lehre vom Jüngsten Gericht“,46 die ihn offensichtlich existentiell umtrieb, da er seine „eigene Seele für sehr schlecht“ hielt.47 Er träumte von einer Pilgerreise nach Mekka als „eine Wiedergeburt und Befreiung meiner bisherigen Sünden“.48 Erst im Umfeld der Konversion im Jahr 1963 rückte die muslimische Herkunft stärker ins Bewusstsein. Vor der Konversion, in der Phase der crisis (Rambo) oder decision (Tippett), vor allem bezüglich der Furcht vor dem Jüngsten Gericht und der Frage nach Vergebung. In den ersten zehn Jahren nach der Konversion diente die Erinnerung der muslimischen Herkunft der kontrastiven Identitätsbildung, aber auch dem Kompetenzzuwachs im missionarischen Umfeld. In der späteren Phase der Distanzierung vom missionarischen Umfeld trugen die Konstruktion einer idyllischen muslimischen Erinnerung sowie die literaturwissenschaftliche 42 43 44 45 46 47 48
M.B., Interview, 1985, 8. Ebd. 9. Ebd. Ebd. 10. M.B., Der neue Weg, 1971, 67. M.B., Weg, 1971, 2 (Manuskript). Ebd.
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Beschäftigung mit der turkmenischen Herkunft zu einer vertieften kulturellen Identitätsfindung im Migrationskontext bei. c) Konversion I: Innen- und Außenperspektiven Als M.B. 1960 nach Deutschland kam, hatte sein Engagement für den arabischen Kommunismus sich längst verflüchtigt.49 Geblieben waren die Suche nach community sowie das geistliche Verlangen nach innerem Frieden und Vergebung angesichts des Urteils Allahs am Jüngsten Gericht. Dies führte ihn jedoch nicht zu muslimischen Diasporagruppen, sondern „he mixed with the ‚Catholics‘ in hope to find a religion to belong to. Not being satisfied, he mixed with ‚Jehova Witness‘ [sic!] who in turn did not satisfy him. It was the love of the members of the SMD that attracted him to their circle.“,50 erinnerte sich ein irakischer Kommilitone. 1962 nahm M.B. erstmals an einem Internationalen Studententreffen (IST) der SMD in Leichlingen bei Köln teil.51 Ein Jahr später, auf dem nächsten IST 1963/1964, entschloss er sich, Christ zu werden.52 Eine Innenperspektive auf diesen Entschluss bietet der kurze Bericht, den M.B. am Ende des Treffens gab: „Eine lange Zeit in meinem Leben habe ich gezweifelt, daß es Hilfsbereitschaft und Liebe untereinander und füreinander gibt. An diesem Ort, an dem ich unter euch gelebt habe, habe ich sie erfahren … Morgen werde ich diesen Ort verlassen, aber in meinem Herzen wohnt Liebe, Friede und echte Ruhe und tiefer Glaube, daß das Wort Jesu die Wahrheit ist.‘“53 Eine Außenperspektive vermittelt die Erinnerung von H.L., der als evangelischer Vikar und Reisesekretär der SMD das IST 1963 leitete: „Und dann begegnete mir der M. […]. Und kam auf mich zu und sagt: ‚Ich bin verloren.‘ Und wir wissen, dass er dort auf dieser Tagung dann Jesus – ich sag mal, nicht den christlichen Glauben, sondern Jesus Christus – angenommen hat. Er hat mir mal später gesagt: Weißt Du, bei Jesus kann ich weinen. Das kann ich sonst nicht.“54 Diese Erinnerung gibt Einblick in die Phase der crisis, die von einem Gefühl der Verlorenheit (frustration) sowie der Erfahrung der Annahme durch Christus (attraction) geprägt war. Beides spiegelt sich auch in einem Gedicht M.B.s, das er 1964, kurz nach dieser Glaubenserfahrung, veröffentlichte: „Die Jahrhunderte haben von Dir gesprochen / Epochen ihren Kopf Dir zugewandt / Augen haben auf Dich geschaut und Gedanken sich mit Dir beschäftigt – / Wer bist Du? […] / Dieses Kind!/ Im All ist sein Licht / Alle Lippen haben seine Worte wiederholt auf der Erde / Sein Tempel war die ganze Welt / Wo seine Füße gingen, war Elend / Keine Verwandten,
49 Später betonte er, „daß die geistige Elite der Irak-Türkmenen seit jeher der kommunistischen Ideologie feindlich gegenübergestanden hatte und noch steht“. M.B., Dissertation 1970, 23. 50 N.H. (UK), Brief an SMD, 7.1.1964, SMD-Archiv, AfW. 51 Zu den IST siehen oben III.C.4. 52 Zu Konversionen auf dem IST siehe III.C.4.e). 53 AfW, Rundbrief Nr. 6, Februar 1964, 2. SMD-Archiv, AfW. 54 H.L., Interview, 2009.
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VII. Vielfalt im Third Space: Konversion und Gemeinschaftsbildung keine Liebe, keine Achtung […] / Ich glaube an Deinen Namen, Du Gerechtigkeitskind, Du Gottesgeist / Ich glaube an Deinen Namen, Du Rettung in der verlorenen Welt.“ 55
Im August 1964 ließ M.B. sich taufen (commitment). Die Taufe fand in einem kleinen Kreis von Studierenden und Mitarbeitern der SMD in einer evangelischen Kirche am Stadtrand von München statt. Die beiden Taufpaten kamen ebenfalls aus dem Umfeld der SMD. Einer der Anwesenden erinnert sich: „Außer unseren beiden Reisesekretären nahm auch die SMD-Gruppe München lebhaft Anteil. Elf Studentinnen und Studenten waren mit dem Bus herübergekommen. Über diese Anteilnahme haben wir uns gefreut. Die mit ihrer modernen Holzkonstruktion ausgesprochen schöne Kirche bot in ihrem Blumenschmuck einen festlichen Rahmen, dazu bewirtete die Kirchengemeinde uns SMDler anschließend mit dem Essen. Diese Taufe steht am Ende eines langen Suchens. Dieses Suchen führte auch über die Teilnahme an zwei unserer Internationalen Studententreffen in Leichlingen. Die Teilnehmer am letzten Treffen erinnern sich sicher seiner schwungvoll vorgetragenen arabischen Gedichte. Diese Taufe steht aber auch am Anfang eines Weges mit Christus, der nicht ohne schwere Anfechtungen sein wird.“56
d) Konversion II: Variationen Im März 1965 erzählte M.B. seine Konversionsgeschichte auf einer Tagung des OD in Wiesbaden unter der Überschrift: „Inwiefern war mir die koranische Aussage über ‚Sayidna Isa‘ Hilfe oder Hindernis bei meiner Bekehrung zu Christus?“57 Hier lässt M.B. die Konversionsgeschichte schon im Irak beginnen und entfaltet sie in fünf Schritten: 1. Am Anfang stand eine vergleichende Suche (quest), die mit Zweifeln am Islam verbunden war (crisis): „über dem, was der Koran von Jesus berichtet, [kamen ihm] Zweifel am Islam …, schon als er noch Moslem war. […]. Wundergeschichten, die der Koran von Jesus erzählt, veranlassten ihn zum Vergleich zwischen Jesus und Mohammed. Wenn Jesus Wunder getan hat, so sagte er sich, und Mohammed keine aufzuweisen hat, so müsste dieser doch wohl größer sein, als der Prophet des Islam? […] So brachten die koranischen Verse über Jesus B. zum Nachdenken und gar zum Zweifel an der von den Vätern ererbten Religion.“ 58
Als 2. Schritt beschrieb M.B. Begegnungen mit Christen im Irak (encounter), die seine Zweifel aus der Koranlektüre „noch genährt“ hätten: „durch die liebevolle und freundliche Art, die er in seiner Heimat von den dortigen Christen erfuhr. Er lernte hier eine Liebe kennen, die er bei seinen Glaubensgenossen nicht fand.“ Der 3. Schritt führte 1960 nach Deutschland. Hier sei er „zunächst mit Bibelforschern in Kontakt“ gekommen, wo er „die erste Schrift über die Bibel in arabischer Sprache in die Hand“ bekam. Dabei blieb er jedoch „bei allem in tiefen
55 M.B., Psalm, 1964, kursiv FW. 56 E.G., Bericht vom IST 1964/65, 3–4, SMD-Archiv, AfW II. 57 M.B., Inwiefern, 1965, 2. Das Referat liegt nur in dieser zusammenfassenden Nachschrift durch Höpfner im Protokoll der OD-Tagung vor. 58 Ebd.
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Zweifeln“.59 Erst im 4. Schritt wurde ihm „endlich in der SMD der Weg des Glaubens gewiesen“.60 Im Rahmen des 2. Islamkurses in Kaub am Rhein 197161 sprach M.B. erneut über seine Konversionserfahrung.62 Diesmal weniger narrativ als theologisch reflektierend behandelte er Grundfragen im christlich-islamischen Vergleich aus der Perspektive seiner „eigenen Erfahrung mit Christus“, um „ein schlichtes Zeugnis dessen ablegen, was mir widerfahren ist“.63 Der schlichte Erfahrungsbericht war jedoch von einem recht hohen theologischen Reflexionsgrad geprägt, was nicht überrascht, da M. kurz zuvor eine literaturwissenschaftliche Promotion an der Universität Mainz erfolgreich abgeschlossen sowie weitere Studien im Bereich der Religionswissenschaft und Theologie (bei Walter Holsten, Ulrich Schoen) absolviert hatte. Im Blick auf den Kontext betonte M. die Kontinuität seines Gottesglaubens: „In meiner Heimat, dem Irak, ist es etwas Selbstverständliches an Allah zu glauben und deshalb brauchte ich zu meiner Bekehrung zu unserem Herrn keinerlei philosophische Begründungen wie die meisten Menschen des Abendlandes.“ Durch die Begegnung mit dem Christentum stellte sich ihm die Frage, ob das Gottesbild des Korans oder das Bibel zutreffend sei (quest). Für diese Frage könne es allerdings keinen äußeren Maßstab, sondern nur eine persönliche Antwort geben: „Der Glaube an die eine oder andere Botschaft kann nur in der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Gott entstehen. … Diese Begegnung geschah mir, als ich die große Barmherzigkeit erkannte, die uns Gott … durch das Sterben Christi und die Vergebung der Sünden erweist.“ Als crisis beschrieb M. seine Empfindung der Sündhaftigkeit und Verlorenheit angesichts der islamischen Lehre vom Jüngsten Gericht: „Als Moslem war ich davon überzeugt, daß meine Taten einst beim Jüngsten Gericht vor Gott über mich entscheiden würden.“ Diese Vorstellung habe ihn unruhig gemacht, da er seine „eigene Seele für sehr schlecht“ hielt und „auch meine edelsten und besten Absichten …. nicht frei von Egoismus und Eigenliebe [waren]“.64 So habe er von einer Pilgerreise nach Mekka geträumt. „[Dies] wäre zwar von Allah eine Wiedergeburt und Befreiung meiner bisherigen Sünden gewesen, doch anschliessend hätte das alte Leben unverändert wieder von vorne begonnen.“ Erst in der Begegnung mit der christlichen Botschaft fand er „zum ersten Male meine eigenen Erfahrungen bestätigt. …. Denn in der christlichen Auffassung ist Sünde nicht die Summe böser Einzeltaten, sondern ein im Menschen selbst verwurzelter Zustand.“
59 60 61 62
Ebd. Ebd. 3. Zu den Islamkursen siehe IV.D.3. Das Referat M.B.s. war im Programm der Tagung unter dem Titel „Auch Mekka macht keinen neuen Menschen“ angekündigt worden; das Manuskript ist jedoch überschrieben mit „Der Weg zur Gnade“, die veröffentlichte Fassung trägt schließlich den Titel „Der Neue Weg, das neue Leben“ (1971). Zitiert wird hier das ausführlichere Manuskript. 63 M.B., Weg, 1971, 1 (Manuskript). 64 Ebd. 2.
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An die Stelle der islamischen Vorstellung einer Wiedergeburt durch die Pilgerfahrt nach Mekka, „wo anschließend das neue Leben dem alten wieder völlig gleich war“, trat das christliche Verständnis der Wiedergeburt als „das Öffnen der Tür für den Heiland“. „In Christus neugeboren zu sein“ bedeute „mit Hilfe des Heiligen Geistes von nun an ein völlig neuer Mensch geworden zu sein“.65 Dazu gehöre auch die Gewissheit der Vergebung. Obwohl Allah der Barmherzige und Vergebende genannt werde, sei „das Gesetz der Vergebung … leider etwas undeutlich“. Allah „vergibt …, wem er will“. „[Die] beste Garantie der Rettung sind …. immer noch die eigenen guten Taten; dennoch ist nichts sicher.“ Demgegenüber beschrieb M.B. die Rechtfertigung allein durch den Glauben an Christus und die Erfahrung der „Gnade und Vergebung“ Christi „ohne unsere guten Werke oder unsere Sünde in Betracht zu ziehen“. In seine Betrachtung des Kreuzes fügte M.B. Erfahrungen seines Konversionserlebnisses ein: „Die Vorstellung der Fleischwerdung Gottes vor allem ließ meine Liebe zu Christus wachsen.“ Einerseits betonte er: „Es schien mir natürlich, daß Gott zu uns herunterstieg, um an unserem Leiden teil zu haben. Durch diese Tat hat er wahrhaft wie ein guter Hirt gehandelt, der sein Leben lässt für die Schafe.“ Andererseits räumte er ein: „Es war für mich am Anfang sehr schwer, Gottes Plan der Vergebung durch das Kreuz zu verstehen.“66 Schließlich habe er die „liebende Absicht“ begriffen und gebetet: „Erbarme dich, oh Herr, ich bin ein Sünder.“ In diesem Moment habe er in sich „die Stimme Gottes antworten [gehört]: ‚Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch Ruhe geben‘.“ Zusammenfassend nannte er das Kreuz den „Schlüssel, der uns den Weg zu allen Geheimnissen des Herrn öffnet und uns die Fleischwerdung Gottes, Sünde, Vergebung, Leiden und Rettung verstehen lässt“.67 e) Inkorporation, Reversion und Extensivierung In sozialer Hinsicht zeigten sich für M.B. sowohl positive als auch negative Folgen (consequences) der Konversion. Er wurde Teil einer christlichen Gemeinschaft. H.L. erinnert sich: „Er ist ja dann viel mit auf SMD-Freizeiten gefahren. Das waren dann sowohl die Ausländerfreizeiten also auch ganz normale. Ich hab ihn auch als Referenten mit nach Norwegen genommen. Und es hat sich eben eine richtig enge Freundschaft gebildet, mit seinem ganzen Schicksal.“68 An den IST nahm M.B. als Mitarbeiter und Referent teil und leite die neu gebildete arabische Bibelgruppe.69 H.L. berichtet jedoch auch von „Verfolgung“ in seinem bisherigen Umfeld, „als publik wurde, dass er aus der Sicht des Islam ein Abtrünniger war“, so dass M. München schließlich verlassen musste. Die Verwandten im Irak, Bru65 66 67 68 69
Ebd. 3. Ebd. 4. Ebd. H.L., Interview, 2009. E.G., Bericht vom IST 1964/65, SMD-Archiv, AfW II.
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der und Mutter, zogen sich zurück als sie von seiner Konversion erfuhren.70 1966 zog M. ins Rhein-Main-Gebiet, wo er ein Hochschulstudium zum Übersetzer sowie ein Studium der Islamischen Philologie mit Soziologie sowie Religions- und Missionswissenschaft in den Nebenfächern absolvierte. 1970 wurde er mit einer deutschsprachigen Arbeit über Sprache und Kultur der Turkmenen promoviert, wurde zunächst Lehrer an einer Hauptschule und 1974 Dozent an einem Studienkolleg. Nebenbei nahm er Lehraufträge im Bereich der Orientkunde wahr. Anfang der 1970er Jahre vertiefte sich der Kontakt zum Orientdienst in Wiesbaden,71 der Kontakt zur SMD blieb bestehen.72 M.B. reflektierte seine Konversionserfahrung in soziologischer Perspektive als selbstbestimmte Entscheidung: „So wie kollektive Subjektivitäten, die sich durchdringen, aufeinander bewusst reagieren und sich verändern können, … so bin ich als Einzelner in meiner Subjektivität, in meiner Freiheit, dazu in der Lage, mich in andere einzufühlen, sie von innen her zu verstehen, mich von ihnen willentlich beeinflussen und bereichern zu lassen, sie als meine eigentlichen Brüder zu erwählen und mich zu ihnen zu bekehren.“73 M.B. verstand Bekehrung als „Freiheit zum Wechsel“, weil „der Mensch […] stärker [ist] als seine Strukturen“.74 In einer Synthese von Befreiungstheologie und Islam knüpfte M.B. an den politischen Wahrnehmungen seiner Jugend im Irak an. Da „der Gott des Christentums und des Islams eine parteiische Vorliebe für die Armen“ habe75, plädierte er für eine interreligiöse Theologie der Befreiung: „Der Akt der Selbstenteignung – frei beschlossen und durchgeführt – führt aus einem Christentum, so wie es allgemein beobachtet und erlebt wird, heraus und in ein neues Christentum hinein. Er führt zu einer seinem Ursprung konformen Neu-Interpretation des Christentums. Und dies als Frucht gelebter Gemeinsamkeit mit den Armen des Islam, der in der armen Dritten Welt beheimateten Religion.“76 Mitte der 1970er Jahre zog M.B. sich zunehmend aus der Mitarbeit im missionarischen Kontext zurück, später auch von einem expliziten christlichen Bekenntnis.77 Damit verband sich eine Rückwendung zum Islam. Er beklagte die „Rückständigkeit der Moslems“, mit denen er sich zunehmend identifizierte: „Darunter leiden wir heute und bitten Gott, uns davon zu befreien.“78 Er kritisierte eine politische Marginalisierung der Muslime durch die Übermacht des Westens,
70 Vgl. H.L., Interview, 2009. 71 Vgl. die Orientdienst-Tagungen 29.3.1965; 15.3.1969; 15.11.1969; Kauber Islamkurse 1971, 1972 und 1974. 72 Vgl. AfW-Leiterkreis, Protokoll, 5.–6. Mai 1973: „M.B. hat auf Wunsch seiner arabischen Studenten nach einer IST im Sommer gefragt.“ 73 M.B., Islam und Christentum, o.J., 3, kursiv FW. 74 Ebd. 75 Ebd 5. 76 Ebd. 77 Zu dieser Veränderung könnte auch beigetragen haben, dass M.B. sich in der Rolle als Vorzeige-Konvertit zunehmend unwohl fühlte, vgl. H.L., Interview, 2009. 78 M.B., Islam und Christentum, o.J., 4.
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der sich damit vom Christentum als der Religion des Friedens entfernt habe. Hoffnung für die muslimische Welt sah er in der Rückkehr eines idealen Islam: „der wahre Glaube, den die Moslems noch nicht völlig aufgegeben haben, [ist] lebendig geblieben. … Da die wahre Religion die erste Farbe ist, mit der Gott die Seele schmückte, deren Schimmer trotz aller Wolken bis heute in den Herzen funkelt, darum muß eines Tages das Licht dieser Farbe leuchten und die Wolken vertreiben. Der Koran, das wahre Buch des Moslems, wird ihm verkündigt und verlangt von ihm seine Heimat zu schützen und zu verteidigen … und ihre Nation vor Bedeutungslosigkeit zu bewahren. Alles liegt in Gottes Hand.“ 79
Hier zeigte sich bereits deutlich die Phase der Reversion,80 die auch als Prozess einer umgekehrten Extensivierung81 beschrieben werden kann. Dabei wurde die bisherige christliche Perspektive wieder durch islamische Sichtweisen erweitert und in den Hintergrund gedrängt. Diese Phase war einerseits von beruflichem Erfolg und gesellschaftlicher Integration – feste Anstellung als Dozent 1974, Einbürgerung 1980 – geprägt, andererseits von persönlichen Krisen durchzogen wie der Krankheit und dem Tod seiner deutschen Ehefrau (1976), dem Tod von Bruder (1975) und Mutter (1978) im Irak, dem Krieg zwischen Irak und Iran 1980– 88, dem Golfkrieg 1990–91 und schließlich einer eigenen schweren Erkrankung, die 1996 schließlich zur Erwerbsunfähigkeit führte. Seinem langjährigen Freund aus der SMD, H.L. – inzwischen evangelischer Pfarrer, gegenüber deutete M.B. an, dass er sich wieder dem Islam annähere.82 Damit verbunden war die vertiefte Beschäftigung mit seiner turkmenisch-irakischen Herkunftskultur. Auch in der Phase der Reversion blieb eine christliche Grundorientierung als impliziter Maßstab erhalten. So zeigte sich M.B. enttäuscht über das „Verhalten derjenigen, die sich zu dieser friedlichen Religion bekennen. Sie überbieten sich gegenseitig in der Sucht nach Wohlstand … Ihre Gier [kennt] keine Grenzen. Sie wetteifern in der Eroberung anderer Länder und erfinden täglich eine neue Kriegslist.“83 Obwohl M. als Teil seiner persönlichen kulturellen Erinnerung nach seinen muslimischen Wurzeln suchte, hielt er Distanz zur islamischen religiösen Praxis und beteiligte sich nicht am Moscheegebet.84 2002 starb M.B. durch eine schwere Krankheit. Die Trauerrede hielt Pfarrer H.L. Eine christliche Beerdigung hatte M.B. ausdrücklich nicht gewünscht. H.L. beschreibt M.B. als einen „Wanderer zwischen den Welten“.85 Bereits 1964, kurz nach seiner christlichen Bekehrung, hatte M.B. in einem Gedicht seine Existenz in einem hoffnungsvollen „Dazwischen“ beschrieben: „Wir aus dem Niemandsland/ zwischen zwei Generationen / die wir Bach lieben und für Gershwin schwärmen / Rilke lesen und Brecht zitieren und doch zu keinem gehören. […] Wir, die über Gefühle lächeln / und bei ‚Stille Nacht‘ heimlich weinen. … Wir Intellektuellen 79 80 81 82 83 84 85
Ebd. Lienemann, Konversion, 2004, 224, spricht von Re-Konversion. Vgl. Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 39. Vgl. H.L., Interview, 2009. M.B., Der Islam und das Christentum, o.J. Vgl. Ga.B., Interview, 2010. H.L., Interview, 2009.
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mit Gefühl / wir Christen ohne Kirche … unverstanden, verdächtigt / von den einen und den anderen / immer zwischen Fernweh und Heimweh.“86 f) Wanderer zwischen den Welten: Abschließende Überlegungen Wenn man Konversion als selbst gesteuerte Identifikation mit religiösen Konzepten, Gemeinschaften, Geschichten und Praktiken versteht,87 dann kann die Glaubensgeschichte von M.B. als komplexer Prozess der Identitätsbildung gedeutet werden kann, in dem (1) die Kindheits- und Jugenderfahrungen in der Herkunftskultur, (2) die Konversions- und Migrationserfahrung in den 1960er und 1970er Jahren und (3) eine extensivierende Reversion in den 1980er und 1990er Jahren unterschieden werden können. Im Fall von M.B. zeigt sich, dass das religionsbiographische Konzept der Extensivierung88 angewandt werden kann, um auch die Wiederaufnahme und Neuinterpretation bereits bekannter oder wiederentdeckter Elemente aus der ursprünglichen Herkunftsreligion in die Konversionsreligion zu beschreiben. Dabei wird der durch die Konversion gewonnene christliche Sinnhorizont nicht völlig aufgegeben, sondern neu interpretiert und zur neuen / alten Religion in Beziehung gesetzt.89 Dies zeigt, dass religiöse Konversionen in biographischer Sicht als dynamische und reversible Prozesse religiöser Mobilität90 und Identität in einem lebensgeschichtlichen Kontinuum verstanden werden können.91 Es ist schwer einzuschätzen, inwieweit die Konversionsgeschichte von M.B. eine typische Entwicklung im missionarischen Kontext der SMD darstellte, da kaum Vergleichsmöglichkeiten vorliegen. Ein gewisser Vergleich kann zwischen M.B. in den 1960er Jahren und Tadji F. in den 1950er Jahren (s. III.C.1) gezogen werden. Hier zeigen sich einige Ähnlichkeiten: Bekehrung im Rahmen einer Freizeit, bald darauf folgende Taufe mit relativ hohem Öffentlichkeitsgrad durch Berichterstattung in missionarischen Publikationen, eine Phase mit starkem missionarischem Engagement und schließlich der Rückzug aus der christlichen Öffentlichkeit. Unterschiedlich waren die zeitlichen Räume. Während Tadji F. diese Entwicklung in zwei bis drei Jahren durchlief, umfasste die Entwicklung bei M.B. zehn bis fünfzehn Jahre. Auch der zeitliche Abstand zwischen Bekehrung und Taufe war bei Tadji F. deutlich kürzer als bei M.B. Ob die genannten Ähnlichkeiten auch Gründe für den Rückzug vom christlichen Glauben darstellen, lässt sich auf dieser Basis nur vermuten. Vor allem der starke Vorzeigecharakter und die missionarische Instrumentalisierung der Konversionen könnte jedoch kontraproduktiv für ein tieferes Verwurzeln im christlichen Glauben gewirkt haben.
86 87 88 89 90 91
M.B., Wir aus dem Niemandsland, 1964. Vgl. Feldtkeller, Identität, 2002, 45; vgl. Jørgensen, Jesus Imandars, 2008, 104–108. Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 39. Vgl. Grünschloss, Glaube, 1999, 82. Vgl. Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 224. Vgl. Cragg in Willowbank 1977, siehe II.E.3.b).
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3. Eine Schneiderin aus Ankara: Y.K. a) Kontext: Von Ankara nach Offenbach Y.K. wurde 1937 in der Nähe von Kayseri, südöstlich von Ankara geboren.92 Sie wuchs in Ankara auf, wo ihr Vater als Volksschullehrer arbeitete. Y.K. war die Älteste von sieben Geschwistern: sechs Mädchen und ein Junge. Sie meint: „Meine Eltern hätten sicher lieber mehr Söhne als Töchter gehabt. Aber zum Glück sind wir in der Zeit der modernen Türkei aufgewachsen. So war es der Wunsch meiner Eltern, daß jedes von uns Kindern einen guten Beruf erlernen sollte.“93 Die Familie war muslimisch, aber im kemalistischen Sinne – nicht streng religiös: „Ich meine, [mein Vater] hielt … nicht viel vom Islam. Sein Vater war sieben Mal in Mekka gewesen, er war im Jemen als Soldat gewesen, mein Großvater. Aber trotzdem, sagte Vater, war er grausig, er hat uns sehr geschlagen. [Mein Vater] hat eben von den frommen Muslim nicht so viel gehabt, und er sagte also: ich bin anders.“94 Y.K. absolvierte die Mittlere Reife und besuchte eine zweijährige Nähschule, während ihre jüngeren Geschwister die Universität besuchen durften. Y.K. wurde von einer ihrer Schwestern, die Germanistik studierte, ermutigt, nach Deutschland zu gehen, um Geld zu verdienen und ihren Traum von einem eigenen Modeatelier in Istanbul zu verwirklichen.95 Y.K. war damals circa 25 Jahre und bewarb sich bei der Vermittlungsstelle, ohne ihre Eltern zu konsultieren. Doch als die Zusage kam, sprach sie mit dem Vater. Der hatte Bedenken: „du kannst nicht in ein fremdes Land gehen, du bist ein ängstlicher Mensch.“ Doch er räumte ein: „wir haben dich daran gehindert, dass du ein Studium machen konntest. Jetzt möchte ich dich nicht daran hindern: du kannst gehen, aber eben, wenn dir es nicht gefällt, komm sofort zurück. Und du musst aufpassen.“96 Y.K. erinnert sich: „Er hat mir eine sehr, sehr gute Predigt gehalten.“97 Der Vater begleitete sie von Ankara bis zum Bahnhof nach Istanbul. Dort gab er ihr 40 Dollar und zwei goldene Armbänder, um damit die Rückreise zu bezahlen, falls es ihr in Deutschland nicht gefallen sollte. Y.K. erinnert sich an ihre Gebete auf der langen Zugreise nach Deutschland: „Im Zug war ich in einem Frauenabteil. Ich werde nie vergessen, wie ich dort still für mich gebetet habe. Keine auswendig gelernten Koranverse, sondern mit meinen eigenen Worten: ‚O Gott, bewahre und behüte mich in der Fremde, daß mir nichts Schlimmes passiert und daß ich nicht krumme Wege gehe.‘ Rückblickend kann ich sagen, daß Gott mein Gebet erhört und mich Schritt für Schritt begleitet hat.“98
92 Die Hauptquellen für die folgende Darstellung sind ein autobiographischer Artikel (Y.K., Traum von Deutschland, 1995) und ein Interview mit Y.K. vom 4.12.2009. 93 Y.K., Traum, 1995, 34. 94 Y.K., Interview, 2009, 13. 95 Vgl. Y.K., Traum, 1995, 34. 96 Zit. Y.K., Interview, 2009, 2. 97 Ebd. 98 Y.K., Traum, 1995, 34.
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Im Juli 1963 kam Y.K. in Deutschland an. Sie vermisste die vertraute Umgebung ihrer Heimat: „Als ich in Deutschland war, sah ich die Unterschiede zu meinem Heimatland: Schöne, hohe Häuser, saubere breite Straßen, Autobahnen, Fabriken und Kirchen. Obwohl ich nicht aus einer streng muslimischen Familie kam, war ich etwas traurig, daß ich hier keine Moscheen sah und nicht mehr den Ruf des Muezzin von den Minaretten hören würde. Die Kirchen waren mir fremd. Auf den Kirchtürmen standen Kreuze – für Muslime ein Zeichen des Götzendienstes der Christen.“99
Auch die Arbeit in einer Textilfabrik in Offenbach am Main war anspruchsloser und eintöniger, als sie es sich vorgestellt hatte: „Ich mußte am Fließband einen kleinen Teil einer Bluse nähen oder mit der Maschine Knöpfe anbringen. Wir arbeiteten 6 Tage in der Woche. Als dann die Akkordarbeit eingeführt wurde, warteten wir besonders sehnsüchtig auf den Sonntag, um ausgiebig schlafen zu können. Aber da läuteten die Glocken der Kirchen. Wir ärgerten uns sehr darüber.“100 Von Anfang lernte Y.K. Deutsch, zunächst bei einem türkischen Rechtsanwalt, der nebenbei Deutschunterricht gab, dann am Goethe-Institut in Frankfurt, später in einem sechswöchigen Kurs am Goethe-Institut in Iserlohn. b) Attraktion und Konflikt: erste Begegnungen Eine erste, über äußere Symbole hinausgehende Begegnung mit dem christlichen Glauben fand für Y.K. in unerwarteter Weise in der Offenbacher Textilfirma statt. Hier begegnete ihr R.J., eine christliche Sozialarbeiterin vom Orientdienst.101 Die Industriemissionarin teilte den Arbeitsalltag und das Leben im Wohnheim mit den türkischen Arbeiterinnen und bemühte sich, sie bei sozialen und praktischen interkulturellen Problemen zu unterstützen. Y.K. erinnert sich an die anfänglichen Missverständnisse: „Sie beobachtete uns immer. Natürlich waren wir viele türkische Frauen. Es war ja ein türkisches Wohnheim. Und da dachten sie, was will die Frau hier, will sie Polizistin spielen oder was macht sie? Sie waren alle sehr misstrauisch.“102 Doch bald wurde deutlich, dass die Sozialarbeiterin helfen wollte: „Sie ging mit uns zu den Behörden und half beim Formularausfüllen. Mit Händen und Füßen versuchten wir, uns mit ihr zu verständigen.“103 Nach dem Sommer, den sie in der Türkei verbrachte, fand Y.K. eine passendere Arbeitsstelle in einem Herrenbekleidungsgeschäft in Wiesbaden. Sie zog auch in eine bessere Wohnung, die ihr die christliche Sozialarbeiterin vermittelte – im Missionshaus in Wiesbaden.104 An den Wochenenden besuchte Y.K. ihre türkischen Kolleginnen in Offenbach, die verständlicherweise besorgt waren: „Mei99 100 101 102 103 104
Ebd. Ebd. Zu R.J. siehe IV.A.1. Y.K., Interview, 2009, 1. Y.K., Traum, 1995, 34. Zum Wohnheim siehe IV.A.1.
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ne Freundinnen sagten immer wieder: ‚Weißt du, wo du wohnst? Paß bloss auf, daß sie dich nicht zu einer Christin machen.“105 Auch die Eltern von Y.K. machten sich Sorgen. Y.K. erinnert sich: „Als ich im Missionshaus wohnte, 1965 oder 1966, hat mich sogar mein Vater besucht und Ehepaar Höpfner und die anderen alle kennengelernt. Dann war er beruhigt: ich bin gut geborgen, in einer frommen Gegend gelandet, mir würde nichts passieren.“106 Im Missionshaus erlebte Y.K. tatsächlich viel Hilfsbereitschaft, aber auch Distanz: „Ich beobachtete die älteren Frauen, die in diesem Haus ihre Bibelstunden hatten, sehr genau. Manchmal hatte ich den Eindruck, daß sie zwar Mitleid mit mir hatten, mich aber nicht als ihresgleichen ansahen. Das tat mir weh.“107 Eine der älteren Damen schenkte ihr eine Bibel in der Lutherübersetzung: „Und dann sagte [sie] – sie war eine pensionierte Mathematik-Lehrerin gewesen –, sie sagte: Y., wenn du willst, werde ich die deutsche Bibel mit dir lesen. Und dann haben wir, je nachdem wie sie Kraft hatte, gelesen. Und sie hat mir erklärt und meine Aussprache immer wieder korrigiert.“108
Besonders interessant fand Y.K. die Lektüre in einem türkischen Neuen Testament: „Ich kannte Koranverse auswendig – aber Arabisch verstand ich nicht. Und dass die Bibel in türkischer Sprache ist, das habe ich genossen, gerne gelesen.“109 Dabei wurde sie vor allem vom Bild Jesu Christi angezogen: „Die Liebe Jesu sprach mich sehr an.“110 Gleichzeitig liebte sie ihre türkische Kultur und Identität, die untrennbar mit der islamischen Religion verbunden schien: „seit der Schulzeit waren meine Gedanken sehr von Atatürk geprägt: Türke sein ist Moslem sein.111 Aber ich habe da angefangen immer zu beten, bitte Herr, zeige mir, was richtig ist.“112 c) Konversion: Glaubensschritt in Istanbul Nach vier Jahren in Deutschland kehrte Y.K. 1967 in die Türkei zurück, um den Plan eines eigenen Modeateliers in Istanbul in die Tat umzusetzen. Die christli105 106 107 108 109 110
Y.K., Traum, 1995, 35. Y.K., Interview, 2009, 1. Kursiv FW. Y.K., Traum, 1995, 34. Y.K., Interview, 2009, 12. Ebd. 11. Y.K., Traum, 1995, 35. Zur christologischen Attraktion als Motiv christlicher Konversionen von Muslimen vgl. Gaudeul, Called, 1999, 31ff. 70ff. Mogensen, Conversion, 2004, 306, zitiert einen dänischen Konvertiten: „When I began to read in the New Testament, I felt that Jesus spoke directly to my emotions. Jesus talks about forgiveness, peace and love. It gave me an inner peace that I did not know before.“ 111 Obwohl Kemal die Rolle des traditionellen Islam in der Türkei kritisierte, bemühte er sich gleichzeitig um eine neue Verbindung von Nation und Religion. 1927 gründete er ein Religionskomitee, um den türkischen Islam an den Modernisierungsprozess anzupassen. Der neue Islam sollte „rational“ und „aufgeklärt“ sein und „ganz auf den Republikanismus und türkischen Nationalismus zugeschnitten“. Karakas, Türkei: Islam und Laizismus, 2007. 112 Y.K., Interview, 2009,1.
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chen Eindrücke aus Deutschland wollte sie bewusst hinter sich lassen: „Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich alles vergessen, was ich über Jesus gehört und gelesen habe.“113 Doch der christliche Glaube interessierte sie weiterhin. Auch in Istanbul las sie weiter im Neuen Testament: „An einem Abend las ich aus Johannes 14: ‚Jesus antwortete ihm: Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt … Glaubst du nicht, daß ich im Vater bin und er in mir ist?‘ Dieses Wort ging mir plötzlich wie ein Licht auf. Ich hatte früher von Jesus nur als einem Propheten gehört. Jetzt erkannte ich, wer Jesus war. ‚Glaubst du nicht?‘ Diese Frage hat mich angesprochen. Nach viereinhalb Jahren konnte ich an ihn glauben.“114
Zwei Jahre lang blieb Y.K. in Istanbul. Ihre Familie konnte die neue Glaubensorientierung nicht nachvollziehen, respektierte sie aber: „Ja, meine Geschwister haben mich ausgelacht. Bis heute lachen sie, wenn ich vom Beten erzähle. Sie sind sehr, also liberal kann man nicht sagen, ich meine, sie denken, dass einen Gott gibt; trotzdem, sie sind auch neugierig. … Mein Vater sagte, eigentlich sollte ich dich ja verstoßen, vom Islam her. Aber ich bin anders, sagte er.“115 Der Plan eines eigenen Modeateliers ließ sich schließlich nicht umsetzen: „das war mir zu teuer, ich hatte nicht so viel Geld gespart.“ Der Wunsch wuchs, wieder nach Deutschland zu gehen. 1969 traf Y.K. Höpfner in Istanbul, der sie einlud, nach Wiesbaden zu kommen und in der Sozial- und Familienarbeit im Orientdienst mitzuarbeiten: „Und dann hat er einen Brief an das deutsche Konsulat in Ankara geschrieben und ich bin mit meinem Pass dorthin gegangen und daraufhin bin ich das zweite Mal nach Deutschland gekommen.“116 d) Inkorporation: Taufe und Arbeit im Orientdienst Zurück in Deutschland beschloss Y.K., sich taufen zu lassen, bewusst abseits der Öffentlichkeit: „Ich habe … gesagt, ich möchte keine Schau stellen. Wir können die Taufe an einem Wochentag oder nach dem Sonntagsgottesdienst, wenn sowieso Taufen stattfanden, machen.“117 Im OD lagen ihre Aufgaben im Bereich der türkischsprachigen Korrespondenz, der Erstellung des türkischen Kalenders und der sozialmissionarischen Familienbetreuung. Sie erzählt: „Ich machte Familienbesuche und half den Frauen im sozialen Bereich, die nicht so gut Deutsch konnten, und krank waren. Ich habe sie zum Arzt begleitetet oder zum Krankenhaus, oder zum Arbeitsamt, bei der Wohnungssuche. Und außerdem habe ich für die deutschen Sozialarbeiterinnen, die nicht Türkisch konnten, [übersetzt] und mit 113 Im Unterschied dazu sah Höpfner Y.K. in dieser Phase schon als Christin und schrieb in den Missionsnachrichten: „Leider haben uns zwei sehr einsatzfreudige Türken wieder verlassen, um nun in ihrer Heimat das Zeugnis für Christus abzulegen. … Fräulein Y., die eine große Liebe für Christus gewann..., fuhr zurück nach Istanbul, um dort einen eigenen Schneiderbetrieb zu eröffnen.“ Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 5/1967, 80. 114 Y.K., Traum, 1995, 35. 115 Y.K., Interview, 2009, 13. 116 Ebd. 5. 117 Ebd. 17.
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ihnen Familienbesuche gemacht.“118 Dabei dachte sie immer wieder „daran zurück, wie es war, als ich neu nach Deutschland kam und mich nicht verständigen konnte, wie dankbar ich für jede Hilfe, jedes Begleiten, jedes freundliche Wort war.“ Wenn sich die Gelegenheit bot, erzählte sie auch von ihrem Glauben an Jesus.119 e) Zwischen den Kulturen Im Unterschied zu M.B. und Tadji F. hatte sich die Konversion von Y.K. über einen längeren Zeitraum vollzogen. Zwischen der ersten Annäherung an den christlichen Glauben bis zur Taufe vergingen sechs Jahre. Y.K. setzte sich in dieser Zeit selbstbestimmt und kritisch mit dem für sie religiös und kulturell fremden Umfeld auseinander. Ihre eigene Glaubensentscheidung reifte während der Zeit in Istanbul, im vertrauten Umfeld, aber auch angesichts der realistischen Wahrnehmung zu erwartender Widerstände. Die Taufe fand erst einige Zeit später statt, ohne Öffentlichkeitswirkung. Diese selbstbestimmte Entwicklung sowie der respektvolle Umgang ihrer muslimischen Eltern und Geschwister mit ihrer neuen Glaubensorientierung trugen zu einer biographisch integrierten und als konstruktiv erfahrenen Glaubenssituation bei. Dennoch blieb auch Y.K. eine Wanderin zwischen den Welten. Als sie 1969 nach Deutschland zurückkam, lehnten ihre früheren türkischen Freundinnen aus Offenbach den Kontakt mit ihr ab, da sie Mitarbeiterin einer christlichen Mission war. Das war nicht überraschend, aber schmerzlich: „dies tat mir sehr weh.“120 Auch in den christlichen Kreisen in Deutschland fühlte sich Y.K. nie ganz heimisch: „Ich war Türkin, ich liebte auch meine türkischen Leute, aber ich konnte mich in Deutschland auch allein [fühlen], [unter den] Deutschen, meine ich. Ich ging in die freikirchliche Gemeinde, sicher einige unverheiratete Frauen haben mich eingeladen. Ich habe sie zum Essen eingeladen, zum Kaffeetrinken.“121 Später besuchte Y.K. landeskirchliche Gottesdienste. Am wohlsten fühlte sie sich in der kleinen türkischsprachigen Gemeinschaft, die sich ab 1972 in Wiesbaden aus Türken, Aramäern und Deutschen gebildet hatte (siehe unten). So überrascht es nicht, dass Y.K. nach ihrer Pensionierung 1997 wieder in die Türkei zurückkehrte: „Ich habe ja genug in Deutschland gearbeitet. … Ich glaube, ich habe das gut gemacht, dass ich wieder [in die Türkei] zurückgekommen bin. Und ich bin auch sehr dankbar, dass ich hier eine protestantische Gemeinde habe. Und dass ich dort auch Aufgaben habe und dass ich Gottes Wort hören kann. Auch viele junge Leute sind da. Ältere auch ein paar, aber wenige. Und, ich denke, Gott hat wunderbar gelenkt und geführt.“122 Zurück in der Türkei merkte Y.K. auch, dass die deutsche 118 119 120 121 122
Ebd. 1. Vgl. Y.K., Traum, 1995, 35. Ebd. Y.K., Interview, 2009, 14. Ebd.
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Kultur nicht spurlos an ihr vorbeigegangen war: „in der Gemeinde sagen sie: ‚Hach, du bist richtig deutsch!‘, wenn ich sage, ‚ihr müsst pünktlich kommen!‘“123 4. Ein Tänzer aus Erzurum: E.Ö. a) Kontext: Vom Offizierssohn zum Tänzer E.Ö. wurde 1930 in Istanbul in einer Offiziersfamilie geboren.124 Die Eltern waren Muslime, aber kemalistisch säkular geprägt. E.Ö. wuchs „liberal auf, vermutlich hat er keinen Korankurs besucht und keine Koranverse und Gebete gelernt“.125 1934 zog die Familie nach Erzurum im Nordosten der Türkei. Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs studierte E.Ö.s Vater für ein Jahr Ingenieurwissenschaften in Karlsruhe, die Familie begleitete ihn. Bei Kriegsanfang kehrten sie zurück nach Erzurum, wo der Vater die Familie verließ. E.Ö. lebte abwechselnd bei Mutter, Vater und Verwandten, machte Abitur und entwickelte eine Leidenschaft für den Tanzsport. Nach dem Armee-Dienst arbeitete E.Ö. als Tanzlehrer und ShowTänzer in den USA und in Kuba.126 1958 kam er nach Deutschland, wurde Tanzlehrer in Frankfurt und gründete zusammen mit seiner deutschen Lebenspartnerin C., die ebenfalls Tanzlehrerin war, eine erfolgreiche Tanzschule in München. E.Ö beschrieb sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt „als das Leben eines Schmetterlings, der von Blume zu Blume fliegt und überall etwas Nektar heraussaugt“. 127 b) Konversion, Konflikte, Inkorporation Mitte der 1960er Jahre erlebte E.Ö. eine Sinnkrise, die ihn schließlich zum christlichen Glauben führte. Er erinnert sich: „1958 kam ich … nach Deutschland, aber die ersten neun Jahre waren verschwendet. Warum? 15 Jahre arbeitete ich als Tanzlehrer. Es gab beim Tanzen, im Fasching und auf Bällen oft Hochstimmung. Wenn der Trubel vorbei war, blieb ein schaler Nachgeschmack. 1967 lernten meine Familie und ich Jesus kennen.“128 In der Konversionsgeschichte von E.Ö. spielte die Mutter seiner deutschen Partnerin „eine wichtige Rolle“.129 Sie gehörte einer kleinen freikirchlichen Gemeinde in München an, die auf der Suche nach einem Gottesdienstraum war. E.Ö. bot an, die Freikirche könne ihre Gottesdienste in den Räumen der Tanzschule abhalten. Der sich daraus ergebende Kontakt sowie das christliche Zeugnis seiner späteren Schwiegermutter führten schließlich 123 Ebd. 124 Quellen der Darstellung sind vor allem Heusser, Biographische Angaben, 2010 sowie einige veröffentlichte autobiographische Texte von E.Ö. 125 Heusser, Biographische Angaben, 2010, 3. 126 Ebd. 3–4. 127 Zit. ebd. 3. 128 E.Ö., Kontakte, 1974, 62. 129 Heusser, Biographische Angaben, 2010, 3–4.
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zum Entschluss E.Ö.s, Christ zu werden. E.Ö. berichtet, dass der „Pfarrer … ihn getauft und zu Christus geführt hatte“.130 Allerdings sei die Hinwendung zu Christus ein langsamer, geistlicher Prozess gewesen: „Es ist ein sehr langer Weg, bis ein Moslem zu Christus findet. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Es waren viele Jahre des Gebets mancher lieber Christen notwendig, um in mir das Verlangen nach Christus zu wecken.“131 Mit der Konversion waren innere und soziale Konflikte verbunden. E.Ö. beschreibt sich als „Gemeinschaftsmensch, der sein eigentliches Leben in der Verbundenheit mit Familie und Sippe sucht“.132 Den durch die Konversion entstehenden religiös-sozialen Konflikt mit seiner – eigentlich säkular geprägten – türkischen Herkunftsfamilie erklärte und beschrieb er 1974 so: „Wenn ein Moslem Christ wird, heißt es: ‚Er ist von der wahren Religion abgefallen.‘ Alle Menschen, die nicht Moslems sind, werden als Ungläubige verachtet. Jeder Moslem ist stolz auf seinen Glauben, und diesen Stolz gibt er nicht leicht auf. Wer als Moslem geboren wird, muss auch als Moslem sterben. Meine Mutter hat mir bis heute noch nicht verziehen, daß ich Christ geworden bin, und hat den spärlichen Kontakt, den wir noch hatten, seit einigen Monaten ganz abgebrochen.“133
Im Blick auf seine neue christliche Orientierung war E.Ö. überzeugt, dass die regelmäßen Treffen mit dem freikirchlichen Pastor, der ihn „getauft und zu Christus geführt hatte“ entscheidend dafür waren, dass er den „den neuen Weg“ nicht schon bald wieder aufgegeben habe, sondern „mehr und mehr frei von dem gesetzlichen Weg“ geworden sei.134 1968 verkaufte das Ehepaar Ö. die Tanzschule in München und zog nach Istanbul, um ein Möbelgeschäft aufzubauen und die christliche Gemeindearbeit dort zu fördern.135 Doch das Möbelgeschäft scheiterte. 1972 kehrten E. und C.Ö. als Mitarbeiter des Orientdienstes wieder nach Deutschland zurück. C.Ö. engagierte sich in der Hausaufgabenhilfe für türkische Schulkinder,136 E.Ö. arbeitete in der Seelsorge unter türkischsprachigen Patienten in Frankfurter Kliniken,137 in der türkischsprachigen Korrespondenz138 und in der Programmgestaltung türkischsprachiger Radiosendungen, die der ERF Wetzlar zusammen mit dem OD auszustrahlen begann. Einen besonderen Beitrag leistete E.Ö. zur Entwicklung christlicher türkischer Lieder.139 Auch auf den türkischsprachigen Familienfreizeiten, die der OD von Ostern 1974 an durchführte, wirkte
130 131 132 133 134 135
136 137 138 139
E.Ö., Erwartungen, 1973, 22. E.Ö., Gespräche, 1974, 6. E.Ö., Erwartungen, 1973, 21. E.Ö., Kontakte, 1974,62. E.Ö., Erwartungen, 1973,22. Heusser, Biographische Angaben, 2010, 4. Vermutlich kam in dieser Phase der Kontakt mit Willi Höpfner zustande, der 1968 und 1969 mehrfach christliche Gruppen in der Türkei besuchte. C.Ö., Erfahrungen, 1974, 21–23. E..Ö., Gespräche, 1974, 5–6. Vgl. E.Ö., Kontakte, 1974, 63. Siehe IV.C.3.
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E.Ö. maßgeblich mit.140 Im Sommer 1974 nahm er als Vertreter türkischer evangelischer Christen am Lausanner Kongress für Weltevangelisation teil.141 Dort wurde er vom Vorsitzenden des Kongresses, dem anglikanischen Assistent Bishop von Sydney, A. Jack Dain, für die kirchliche Arbeit unter Türken im Großraum Sydney gewonnen, so dass die Familie 1975 beschloss, nach Australien umzuziehen.142 5. Ein Musiker vom Ararat: A.Y. a) Kontext: Von Iğdır nach Istanbul und Deutschland A.Y. wurde 1952 in Iğdır am Fuß des Ararat im Osten der Türkei nahe der armenischen und aserbeidschanischen Grenze geboren.143 Sein Vater war Bäcker, die Familie gehörte zur Mittelschicht und zur schiitischen Richtung des Islam. Zuhause sprach man Türkisch und Azerbeycanca (Aserbeidschanisch). A.Y. war der einzige Sohn und hatte fünf Schwestern. Im Blick auf seine frühe religiöse Prägung schreibt er: „Wie jeder, der in der Türkei lebt, versuchten wir als Moslems zu leben. […] Ich war nie in einer Koranschule, aber ich bekam als kleiner Junge islamischen Privatunterricht.“144 Eine wichtige Rolle für den Heranwachsenden spielte die Musik. Zunächst lernt er, das Akkordeon zu spielen, später die Saz. Er erzählt: „Musik war während meiner Schulzeit mein Hobby. Manchmal habe ich mich am Wochenende mit türkischer Folklore beschäftigt oder habe Musik bei Hochzeiten gemacht.“145 Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Lyrik und Literatur. 1969 ging A.Y. nach Istanbul, um Literatur, Journalismus und Psychologie studieren. Die Eltern und Geschwister planten, ihm zu folgen, doch der Plan zerschlug sich.146 Das beginnende Studium fiel in die Zeit wachsender gesellschaftlicher Unruhen und gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen radikalen linken und ultranationalistischen rechten Gruppierungen.147 Die Auseinandersetzungen erreichten auch die Universitäten und machten ein sinnvolles Weiterstudium schwierig.148 Ein Freund schlug A.Y. vor, sein Studium in Deutschland fortzusetzen. Gleichzeitig lernte er seine spätere Frau N. kennen, die zu diesem Zeitpunkt bereits in Deutschland lebte. 140 141 142 143
Zu den Familienfreizeiten siehe VII.B.4. Zu Lauanne 1974 siehe II.E. Vgl. Heusser, Biographische Angaben, 2010; Heusser, Bibelkreise, 2010. Quellen der Darstellung sind veröffentlichte autobiographische Texte A.Y.s (2008 und 2009), Protokolle des Orientdienstes (1974ff) und die Korrespondenz mit dem Autor (2010). 144 A.Y., Korrespondenz, 5.5.2010. 145 Ebd. 146 Ebd. Binnenmigration von den Dörfern in die Großstädte bildete oft die Vorstufe zur Migration nach Deutschland, vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005,71. 147 Vgl. Steinbach, Geschichte der Türkei, 2003,47–49. 148 A.Y., Korrespondenz, 5.5.2010.
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b) Konversion: ein Traktat und seine Folgen A. und N. heirateten 1971, kamen nach Deutschland und zogen in ein Dorf nördlich von Offenburg. Kurz darauf verteilten Christen dort türkischsprachige Literatur des Orientdienstes. Eines der Traktate bot die Möglichkeit, ein türkischsprachiges Neues Testament zu bestellen. A.Y. schickte die Bestellung ab, erhielt das Neue Testament und begann bald darauf eine Korrespondenz mit den türkischsprachigen Mitarbeitern des Orientdienstes. Nach einigen Monaten zog das junge Ehepaar nach Saarbrücken, wo A.Y. sein Studium beginnen wollte. Doch der Plan scheiterte. Existentielle und religiöse Sinnfragen drängten in den Vordergrund. A.Y. erinnert sich: „Es verlief nicht so, wie ich es mir gewünscht habe. Ich suchte Sinn in meinem Leben, ich hatte die Bibel in der Hand, las und forschte ständig darin. Dann kamen Schwierigkeiten von Verwandten, weil ich die Bibel las. Ich bin an einen Punkt gekommen, an dem ich mich entscheiden musste. Ich entschied mich für Jesus. Die Schwierigkeiten und der Druck wurden noch mehr. Es ging so weit, dass wir von Saarbrücken nach Wiesbaden fliehen mussten.“ 149
Welche individuellen und sozialen Faktoren beeinflussten diese Situation und die Entscheidung für den christlichen Glauben? A.Y. gibt darüber keine nähere Auskunft, sondern konzentriert seine Erinnerungen ganz auf den geistlichen Bereich und die Rolle der Bibel: „Ich suchte den Sinn des Lebens, Frieden und Freude. Dies entdeckte ich in der Bibel, die ich las. Ich habe selbst gestaunt, wie ein Buch so viel Bewegung in ein Herz bringen kann, wie ich es erlebte. So wurde mir klar, dieses Buch hat eine Kraft. Das hat mich sehr bewegt.“150 Auch ein autobiographischer Zeitschriftenartikel A.Y.s schildert den mehrjährigen Konversionsprozess unter Aspekten der geistlichen Suche und der Rolle der Bibel. Dabei wird der Kontrast zur islamischen Erfahrung betont: „Ich war im Grunde ein suchender junger Mensch. Was ich in meiner Religion, dem Islam, fand, machte mich nicht zufrieden. Wenn ich alt werde, würde ich es besser verstehen, dachte ich. Eine Woche nach meiner Ankunft in Deutschland verteilten Christen in dem Dorf, in dem ich wohnte, türkische christliche Traktate, wovon ich auch eines erhielt. Als ich darin las, dass man eine türkische Bibel bestellen kann, war ich sehr erstaunt, weil ich nicht wusste, dass es die Bibel in Türkisch gibt. Sofort bestellte ich mir eine Bibel und begann darin zu lesen. Da staunte ich noch mehr, weil ich bis jetzt nur Negatives über das Christentum und die Bibel gehört habe. Aber hier in der Bibel entdeckte ich etwas ganz Anderes. Der Charakter von Jesus, Sein Handeln, Sein Leben und Seine Verheißungen sprachen zu meinem Herzen und bewegten mich sehr. Das war genau das, was ich suchte. Drei Jahre studierte ich darin. Doch die Entscheidung, mein Leben dem Herrn Jesus auszuliefern war schwer, weil ich um die Konsequenzen wusste, wenn ich als Moslem Christ werde. So erlebte ich monatelang große innere Kämpfe. Aber was ich nun in Jesus gefunden hatte, davon konnte ich nicht schweigen. Ich dachte, mein Volk braucht diese gute Botschaft von Jesus. Die Folge davon war Druck, Verfolgung, es
149 Ebd. 150 A.Y., Korrespondenz, 2010.
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ging so weit, dass wir in eine andere Stadt fliehen mussten. (Meine Frau hat mir auch viel Druck gemacht, aber 10 Monate nach meiner Bekehrung hat sie Jesus angenommen).“ 151
c) Konflikte und Inkorporation A.Y. erinnert sich, dass die sozialen Kontakte im türkischen Umfeld nach der Bekehrung nicht sofort abbrachen. A.Y. erzählte von seinem neuen Glauben, warb um Verständnis und versuchte seinerseits die ablehnenden Reaktionen seines türkischen Umfelds zu verstehen. Seine muslimischen Gesprächspartner wollten ihn und seine Frau zurück zum Islam führen: „In der ersten Begeisterung, die der Glaube an Jesus uns verlieh, in diesen ‚Jahren der Jugend‘ versuchten wir, die Schwierigkeiten irgendwie zu ertragen. Wir setzten uns viel mit unseren Landsleuten auseinander und versuchten sie und ihre Ablehnung zu verstehen.“152 „Was unser Leben so reich macht, ist nichts, was sie anfassen oder begreifen können: unsere Heilsgewissheit, der Friede in unserem Herzen und unsere Freude in Christus. Außerdem gibt es zahlreiche Vorurteile … z.B., dass wir an drei Götter glauben und dass wir Gottes Wort, die Bibel, verändert haben. Das ist aus ihrer Sicht Gotteslästerung, und sie fragen sich, warum wir das tun, was uns dazu bewegt hat, ob wir z.B. Geld dafür bekommen haben, damit wir zum Christentum übertreten. … Außerdem seien die Christen für die Kreuzzüge und die beiden Weltkriege verantwortlich, und in der christlichen Welt gäbe es keine Ehre, keine Moral und keinen Anstand. Die in Europa lebenden Moslems bestärken diese Meinung. Wenn man diese zahlreichen Vorurteile betrachtet, versteht man die ablehnende Haltung unserer Landsleute besser.“153
Auch das türkische Umfeld hielt zunächst die Beziehung aufrecht in der Hoffnung, A.Y. und seine Frau wieder auf den rechten Weg zurückbringen zu können. Doch die Bemühungen hörten bald auf, was für A.Y. schwer zu ertragen war: „Im Laufe der Zeit gingen unserer Landsleute mehr und mehr auf Distanz zu uns, da sie merkten, dass wir nicht von unserem Weg mit Jesus abzubringen waren. Sie warfen uns feindselige Blicke zu und grenzten uns aus. So entstand ein tiefes Gefühl der Einsamkeit.“154 Dabei übten die Verwandten in der Diasporagemeinschaft größeren sozialen Druck aus, als die Familie in der Türkei. „Besonders die Verwandten hier in Deutschland haben Druck gemacht. Meine Familie in der Türkei machte mir wenige Probleme. Ich habe den Vorteil, dass ich der einzige Sohn der Familie bin. In den ersten Jahren dachten sie, er ist ein junger Kerl, er wird ja wieder zurückkommen. Aber in all den Jahren haben sie die positive Veränderung gesehen. Einmal sagte meine Mutter zu mir: wenn es wirklich Jesus ist, der dein Leben so veränderte, dann bleib auf dem Weg mit Jesus.“155
Aufgrund der Erfahrung einer immer größer werdenden Ablehnung in der eigenen türkischen Verwandtschaft in Deutschland verließen A. und N.Y. Saarbrücken 151 152 153 154 155
A.Y. , Seit 1974, 2009, 9. A.Y., Lebensstürme 2008, 18. Ebd. 19. Ebd, 18. A.Y. Korrespondenz, 2010.
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Ende des Jahres 1974, was sie als Flucht empfanden: „Wir sind Ende 1974 von Saarbrücken nach Wiesbaden geflohen.“156 Dort wurden sie Teil der türkischsprachigen christlichen Gemeinschaft, zu der auch Y.K., E.Ö. und C.Ö. sowie aramäische Christen und Mitarbeiter des OD gehörten. Jürg Heusser, Leiter der türkischsprachigen Abteilung im OD, erinnert sich: „Mit A.Y. hatten wir einen Musiker und mit N.Y. eine Sängerin. Jetzt machten die türkischen Versammlungen richtig Spaß.“157 An Weihnachten 1974 ließen A. und N.Y. sich auf einer türkischsprachigen Freizeit taufen. Mit der Konversion verband sich für A.Y. eine geistliche, soziale und berufliche Neuorientierung. 1974 wurde A.Y. Mitarbeiter im OD.158 Ein Aufgabenfeld lag im Bereich der türkischen Musik und der Konzeption türkischsprachiger Rundfunkprogramme.159 Anfang der 1980er Jahre begann A.Y. mit der Herausgabe einer türkischsprachigen christlichen Zeitschrift.160 Sie enthielt „Beiträge von verschiedenen, meistens türkischen Geschwistern“ und wurde von diesen selber finanziert. Sie ging „regelmäßig an 150 türkische Gläubige“ in Deutschland und der Türkei.161 Trotz der neuen Aufgaben blieben innere Konflikte und das Gefühl der Isolation: „Ich [suchte] als junger Christ unter Glaubensgeschwistern Gemeinschaft und Familie, aber konnte es nicht finden.“162 Auch „andere negative Erlebnisse“, die nicht näher erklärt werden, belasteten A.Y.: „Als Gläubiger, der Gottes Wort verkündigte, erlebte ich etwa elf bis zwölf Jahre lang eine fürchterliche Zeit. Ich hatte meine Freude und meine Hoffnung verloren.“163 Er zweifelte an der Richtigkeit seiner Bekehrung: „ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg war, ob ich mich richtig entschieden hatte. Glaube ich richtig? Habe ich genug Wissen? Vielleicht habe ich ja meine alte Religion nicht richtig verstanden. … Vielleicht muss ich mich noch einmal richtig bekehren.“164 In A.Y.s Erinnerung war es wieder die Kraft der Bibel selbst, die ihm aus seiner Krise half: „[Beim Lesen im 8. Kapitel des Römerbriefs] ergriff mich Gottes Wort neu. Dieses Wort hob mich wieder empor und brachte die Freude, den Frieden und die Ruhe in mein Herz zurück. Als ich das erkannte und erlebte, ergriff ich mit ganzer Kraft das Wort Gottes und stellte mich dem Herrn zur Verfügung, um Sein Wort zu lehren.“165
Wie bereits bei der initialen Konversion, fällt auch hier auf, dass die Veränderung allein auf die Begegnung mit dem Wort der Bibel zurückgeführt wird; eventuelle kontextuelle und soziale Faktoren spielen in der Darstellung der Selbstwahrnehmung zunächst keine Rolle. Als wichtig empfand A.Y. später allerdings auch die Begegnung und Gemeinschaft mit anderen türkischen Christen, die ähnliche Kon156 157 158 159 160 161 162 163 164 165
Ebd., kursiv FW. Heusser, Türkischsprachige Bibelkreise, 2010. A.Y., Bericht zur Mitgliederversammlung 1984, OD-Archiv. Ebd. Ebd. Ebd. A.Y., Seit 1974, 2009, 9. A.Y., Lebensstürme 2008, 24. A.Y., Seit 1974, 2009, 9. A.Y., Lebensstürme, 2008, 24.
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versionserfahrungen gemacht hatten wie er selbst: „Nachdem wir vier türkische Brüder uns persönlich kennengelernt hatten, stellten wir fest, dass wir die gleichen Ziele und Vorstellungen in unserem Dienst für den Herrn hatten. Wir fingen an, Schritt für Schritt gemeinsam im Glauben und in unserem Dienst … zu wachsen. Dies geschah durch regelmäßige Treffen und Gemeinschaft und eine gute, gesunde Lehre.“166 Zwischenfazit Es hat sich auch gezeigt, dass die analysierten christlichen Konversionen im missionarischen Umfeld als selbstbestimmte Identitätsbildungen tiefe existentielle Entscheidungen im Verlauf eines lebensgeschichtlichen Weges enthalten und nicht als äußerliche Assimilationsbemühungen missverstanden werden dürfen. Gerade im missionarischen Umfeld handelte es sich dabei selten „um eine Anpassung der Zugewanderten in religiösen Überzeugungen und Praktiken“ an die „dominante Religion des Aufnahmelandes“, um „gesellschaftliche Aufwärtsmobilität“ zu erreichen,167 sondern um eine meist gründlich überlegte und eigenständige religiöse Wahl. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass die Konvertiten sich zwar manchmal um die Integration in eine deutschsprachige christliche Gemeinde bemühten, darüber hinaus aber eigenständige Gemeinschaftsbildungen im Kontext der Herkunftskultur suchten und diese oft durch transnationale Kontakte mit christlichen Gemeinden im Herkunftsland stabilisierten, wobei die Stabilisierung in beide Richtungen verlief. Die initialen und kontextuellen Auslöser für den jeweiligen Konversionsprozess waren unterschiedlich (s. Tabelle 19). Hierbei zeigt sich, dass vor allem die Beziehungsebene im Rahmen unterschiedlicher Konvivenzen (Freizeit, Wohngemeinschaft, interkulturelle Ehe und Verwandtschaft) eine wesentliche Rolle gespielt hat. Andererseits konnten selbst einfachste Mittel wie christliche Traktate den Raum neuer Sinnoptionen eröffnen (A.Y.). Im Entscheidungsprozess spielte auch die Lektüre des Neuen Testamentes und die Attraktivität des darin vermittelten Jesusbildes eine wichtige Rolle.168 Eine Besonderheit der hier dokumentierten Konversionsprozesse liegt darin, dass es sich durchweg um Personen mit intellektuellen Neigungen oder künstlerischer Sensibilität zu handeln scheint. Dies trug offensichtlich zu erhöhter Bereitschaft bei, sich mit alternativen religiösen Sinnoptionen zu befassen. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass alle Konversionen bald zu einer aktiven, meist vollzeitlichen Mitarbeit im christlich-missionarischen Bereich führten. Dies kann als erhöhte Stabilisierung der neuen, verletzlichen religiösen Identität169 im Rahmen 166 Ebd. 4. 167 Baumann, Religion und ihre Bedeutung für Migranten, 2004, 25–26. 168 Vgl. entsprechende Beobachtungen zur Bedeutung des Jesusbildes als Konversionsfaktor in muslimischen Biographien in den Arbeiten von Gaudeul, Called, 1999, 31ff. 70ff. und Mogensen, Conversion, 2004, 306. 169 Vgl. Wrogemann, Konversionen, 2010, 68–69.
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einer interkulturell und international angelegten Glaubens- und Dienstgemeinschaft verstanden werden. Andererseits konnte diese Situation zu einem erhöhten Erwartungsdruck und verstärkten Konflikten führen, nicht zuletzt durch den relativ hohen Grad an Öffentlichkeit. Auslöser
Entscheidung
Taufe
Langfristige Entwicklung
Gemeinschaft, Sylvestertreffen 1963/1964 (SMD)
1964
1964
Ehrenamtliche Mitarbeit SMD, OD Reversive Extensivierung (Deutschland)
Soziale Hilfe, Wohngemeinschaft, Bibel 1963 (OD)
1967
1969
Vollzeitliche Mitarbeit OD Protestantische Freikirche (Türkei)
EÖ
Sinnkrise, Familie, Gottesdienste 1965
1967
1967
Vollzeitliche Mitarbeit OD, Anglikanische Kirche (Australien)
AY
Traktat, Bibel, Korrespondenz 1971 (OD)
1974
1974
Vollzeitliche Mitarbeit OD, Türkischsprachige christliche Gemeinschaft (Deutschland)
MB
YK
Tabelle 19: Konversionen im Überblick
B. CHRISTLICHE GEMEINSCHAFTSBILDUNG IM MIGRATIONSKONTEXT Als Identitätsbildungen auf biographischer Ebene trugen die beschriebenen Konversionen gleichzeitig zur Entstehung neuer Formen religiöser Gemeinschaft im Migrationskontext bei. Während temporäre arabischsprachige christliche Gemeinschaftsbildungen bereits in den 1960er Jahren im Kontext der SMD170 sowie unter Höpfners Betreuung in Wiesbaden stattfanden, kam es im türkischsprachigen Diasporakontext erst Anfang der 1970er Jahre zur Ausprägung erster christlicher Sozialformen. Entscheidend hierfür war die Entwicklung eines türkischsprachigen Arbeitszweigs im OD, in dem die notwendige sprachliche und kulturelle Kompetenz vorhanden war und der Raum und Anreiz für die Bildung einer inkulturierten christlichen Gemeinschaft bot. Eine Basis dafür bildete die theologische und geistliche Schulung der Konvertiten in formalen und informellen Kontexten. 1. Jüngerschaft und scholastische Weitergabe Die christliche Konversion wurde im OD als Angelpunkt eines individuellen und sozialen Prozesses der Nachfolge Christi verstanden: „Eine Bekehrung zu Christus ist nicht das Ende einer langen Bemühung der Gemeinde oder des Einzelnen. 170 Siehe III.C.3.c) sowie 4.d).
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Sie ist vielmehr der Anfang einer neuen Gemeinschaft, die [der Konvertit] dringend braucht, um im Glauben zu bleiben und zu wachsen.“171 Es ging nicht um eine möglichst hohe Zahl von Konversionen, sondern um ein vertieftes Glaubensverständnis und die Befähigung zur eigenständigen Weitergabe des Glaubens. Dabei spielte das Konzept der Jüngerschaftsschulung eine wichtige Rolle. Es handelte sich um eine Kombination formaler und informeller Elemente geistlichtheologischer Ausbildung, deren Zentrum das Studium der Bibel bildete. Dieses Konzept kann in religionsgeschichtlicher Perspektive als eine Zwischenform der von Feldtkeller beschriebenen „missionarischen“ und „scholastischen“ Grundformen der Weitergabe von Religion verstanden werden.172 Feldtkeller stellt fest, dass missionarische Ausbreitung sich oft mit scholastischer Weitergabe verbindet „weil die Verbreitung der befreienden Botschaft unter der Maßgabe, möglichst viele Menschen zu erreichen, erfahrungsgemäß noch nicht dazu führt, dass die Hörerinnen und Hörer der befreienden Botschaft dadurch in die Lage versetzt würden, ihrerseits die Botschaft weiterzugeben, ohne dass es zu Einbußen an Authentizität und Vollständigkeit käme. Um die Nachhaltigkeit der missionarischen Ausbreitung zu sichern …. entsteht eine in LehrerSchüler-Verhältnissen … organisierte Vermittlung religiöser Inhalte und Praktiken, die auf die Fähigkeit zu einer möglichst originalgetreuen Reproduktion von komplexen Lehrbildungen zielt.“ 173
In den hier untersuchten Prozessen zeigt sich dies am deutlichsten in der Konversionsbiographie von Y.K. Ihre christliche Glaubensentwicklung war eng verbunden mit einem kontinuierlichen Bibelstudium im Lehrer-Schüler-Verhältnis mit OD-Mitarbeitern sowie einem sechsmonatigen theologischen Kurs an einer Bibelschule in Süddeutschland. Das Bibelstudium bewegte sich zunächst noch stärker im Bereich der missionarischen als der scholastischen Weitergabe, verband aber zunehmend beides. Jürg Heusser erinnert sich, dass „schon weitgehend ein Entschluss gereift [war] in ihr, Christ zu werden“.174 Auf dieser Basis fand die theologische Vertiefung im Lehrer-Schüler-Verhältnis statt.175 Vor allem das sechsmonatige theologische Kurzstudium an einer Bibelschule wurde zum Ausdruck selbstbestimmter, vertiefender Lernerfahrung. Y.K. erinnert sich: „Dann, nachher, war ich … mit H. zusammen in [der] Bibelschule A. Und dort hat [es] mir sehr gefallen. Ich habe gesagt, hier möchte ich gerne sechs Monate eine[n] Kurs besuchen. Am Anfang haben sie gesagt: Oh, sie soll es woanders machen. Ich habe gesagt: Nein, ich möchte hier … Und dann habe ich sechs Monate lang [die] Bibelschule A. besucht. Ja, da war auch eine sehr schöne Zeit.“176 Durch diesen Prozess der Schulung bildete Y.K. sich theologisch, kulturell und sprachlich weiter. Auch Sprachkurse an verschiedenen Goethe-Instituten trugen dazu bei. Sie durchlief einen scholastischen Prozess, der notwendige Kompetenzen vermittelte. Darin 171 Höpfner, Von Mohammed, 1976,9. 172 Vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 53–57. Zu Feldtkellers Typologie der Grundformen religiöser Weitergabe siehe Einleitung B.2.a). 173 Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 55. 174 Heusser, Interview, 2008, 11. 175 Ebd. 176 Y.K., Interview, 2009, 10 . Kursiv FW.
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dürfte ein wichtiger Grund für die hohe biographische und berufliche Kontinuität bei Y.K. liegen. 2. Gemeinschaftsbildung in transnationaler Vision Das Angebot christlicher Gastfreundschaft und Gemeinschaft spielte im OD von Anfang an eine wichtige Rolle, zunächst durch die Unterbringung einzelner Migranten im Wiesbadener Missionshaus. 1962 berichtet das Missionsblatt der EMO von einer „Mohammedanerin“, die „kurz vor dem [Weihnachts-]Fest obdachlos zu uns gekommen [war] und … mit sichtlicher Freude an allem, auch an den verschiedenen Gottesdiensten, teil[nahm]“.177 1964 zog die Türkin Y.K. in die für Migrantinnen eingerichtete Wohnung im Missionshaus.178 Ab 1967 organisierte Renate Fritz türkisch-deutsche Wochenendtreffen, bei denen gemeinsam gekocht, gespielt und gefeiert wurde.179 Diese Formen interkultureller Wohn-, Lebens- und Festgemeinschaft können als erste und vielfältige Vorläufer der türkischsprachigen christlichen Gemeinschaft in Wiesbaden sowie der türkischen Familienfreizeiten betrachtet werden. Bis Ende der 1960er Jahre sah man das Thema der Gemeindebildung jedoch vorwiegend in transnationaler Perspektive. Man rechnete weniger mit inkulturierten Gemeindebildungen in Deutschland, sondern hoffte auf die Rückkehr der Konvertiten in ihre Herkunftsländer, um dortige Gemeinden zu stärken. Im Anschluss an eine Türkeireise im Jahr 1968 berichtete ODMitarbeiterin Renate Fritz: „In verschiedenen Orten suchte ich nun die Christen auf. Es ist bewegend und überwältigend, wie jeder, der in Deutschland Christus begegnet ist, nun in der Heimat zum eifrigen Zeugen wird. Wo es irgend möglich ist, treffen sich diese jungen Christen regelmäßig mehrmals in der Woche in einer Wohnung zur Gebetsgemeinschaft, Bibelbetrachtung und zum Singen.“ Fritz berichtete vom Besuch in zwei Gruppen. In der ersten Gruppe, „die mehr von Frauen getragen wird“, „legen sie sich gegenseitig den Text aus, indem jeder sagt, was ihn dabei bewegt hat. Es ist ein reger Austausch. … Die europäischen Kirchenlieder sprechen nicht an, auch mit türkischem Text nicht, und so schaffen sie sich nun eigenes türkisches Liedgut.“ Die zweite Gruppe wurde „hauptsächlich von Männern besucht“, hier herrschte „die schlichte klare Auslegung des Textes und die innerliche Gebetsgemeinschaft“ vor: „Diese Leute bringen auch immer wieder moslemische Freunde und Arbeitskollegen mit. So saß auch ein Student dabei, der durch diese seine Freunde Jesus Christus als den einzigen Weg erkannt hat, nun aber noch vor der Konsequenz des Übertritts zurückschreckt. Der würde für ihn Ausstoßung aus seiner streng moslemischen Familie und Verlust aller finanziellen Mittel für das Studium bedeuten.“180
177 178 179 180
Unruh, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 1/1962, 11. Siehe IV.A.1.b). Siehe IV.C.5. Fritz, Streiflichter, 1968, 55.
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Fritz charakterisierte die Gruppen als „kleine erweckte Kreise“, denen allerdings ordnende kirchliche Strukturen fehlten: „All dies lebendige zeugnishafte Leben, Beten, Bibelstudium und Singen … geschieht ohne einen Geistlichen, ohne eine Kirchenordnung. Ja, viele Glieder dieser kleinen Gemeinde sind nicht getauft. Ohne Kirche fehlen auch die Sakramente. … So müssen wir in mancher Hinsicht im Gebet für sie einstehen.“181 Die Entstehung von türkischsprachigen christlichen Gemeinschaften im Migrationskontext in Deutschland sah man in transitorischer Perspektive. Höpfner schrieb: „Was würde es bedeuten, wenn es uns hier gelänge, Gruppen von türkischen Christen, geborenen und neubekehrten, zu kleinen Gemeinschaften zusammenzuführen, die nach ihrer Rückkehr in die Türkei als christliche Gemeinde Licht und Salz wären. Ich glaube, wir sollten das zum Gebetsgegenstand machen.“182 Als ersten Schritt in diese Richtung sah man „wiederkehrende Freizeiten“ für Konvertiten, „bei denen die Bekehrten unter sich waren, ohne daß Missionare sich in die Gestaltung … eingeschaltet haben“.183 Ein erstes Treffen dieser Art fand 1966 in Wiesbaden statt, auch wenn wenig mehr bekannt ist, als Höpfners summarischer Bericht: „Anfang Januar konnten wir unsere erste Tagung für bekehrte Mohammedaner in Wiesbaden durchführen. Sie wurde von 12 Personen besucht.“184 Als überregionale Form christlicher Gemeinschaftsbildung war dieses noch vereinzelt dastehende und vermutlich vorwiegend arabischsprachige Treffen in Wiesbaden ein Vorläufer der ab 1973 kontinuierlich stattfindenden türkischsprachigen Familienfreizeiten (s. unten VII.B.4.). 3. Gemeinschaftsbildung in lokaler Verwirklichung Erst mit der Ankunft der türkischsprachigen Schweizer Mitarbeiter Jürg und Marlies Heusser (1968) sowie der Türkin Y.K. (1969) entstand im OD die Möglichkeit des gezielten Aufbaus einer türkischsprachigen christlichen Gemeinschaft. Durch die Beiträge des türkischen Konvertiten E.Ö. erweiterten sich ab 1972 die Möglichkeiten, vor allem in hymnologischer Hinsicht: „die ersten türkischen Lieder [waren] … ganz wichtig für unsere späteren Versammlungen und die Konferenzen.“185 Damit erwies sich neben der türkischen Sprache die Musik als ein wesentliches Element inkulturierter Gemeinschaftsbildung. 1973 begannen die Versammlungen einer kleinen Gruppe aus vier türkischen Gläubigen aus muslimischem Hintergrund und gelegentlichen Besuchern.186 1974 kamen türkischsprachige Aramäer aus syrisch-orthodoxem Hintergrund (süryani) hinzu, zunächst drei Familien. Y.K. erinnert sich: 181 182 183 184 185 186
Ebd. Höpfner, Brief aus Wiesbaden, in: NEMO 4/1968, 63. Protokoll der OD-Tagung, 6.9.1965, S. 4, OD-Archiv, OP 6475. Höpfner, Jahresbericht, in: NEMO 3/1966, 39. Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 1. Vgl. ebd. 2.
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VII. Vielfalt im Third Space: Konversion und Gemeinschaftsbildung „Wir waren … mit Süryani-Familien zusammen. … [Es] kamen ungefähr drei oder vier Süryani aus Mardin und Umgebung dazu. Sie waren ja Christen, orthodoxe, aber sie hatten – wie die Leute früher in Deutschland, die Lateinisch gehört und nichts verstanden haben – in ihrer Kirche Alt-Syrisch gehört. Aber dies waren für sie alte Zeremonien, Weihrauch und verschiedene Bewegungen. Aber als sie mit der Bibel konfrontiert wurden, sagten sie: Ach, ist das so?! Und dann kam viel Interesse unter den Süryani.“187
1974 schlossen sich die ehemaligen Muslime A.Y. und N.Y. der Gemeinschaft an und trugen durch ihre musikalische Begabung zur weiteren türkisch-anatolischen Inkulturation der Gemeinschaft bei. Die Praxis der Gemeinschaft beschreibt Jürg Heusser so: „Wir versammelten uns damals zwei Mal wöchentlich ringsum in den Häusern. Dies erlaubte es auch den Müttern mit kleinen Kindern, immer wieder an der Versammlung teilzunehmen. Die aramäischen Geschwister hatten jetzt zahlenmäßig ein wenig das Übergewicht. Sie wurden von den orthodoxen Aramäern sehr unter Druck gesetzt, die Ex-Muslime ebenso von den Muslimen, das ergab Gemeinsamkeiten und alle waren ein Herz und eine Seele … Es wurde viel gesungen. Immer wieder entstanden neue Lieder. Diese hatten gute theologische Inhalte. Manche der teilnehmenden Frauen hatten nur minimale Schulbildung und konnten kaum lesen. Aber durch das vielfache Wiederholen der Lieder wurden die Inhalte des Evangeliums verinnerlicht. … Ein beachtlicher Teil der Freizeit an den Wochenenden wurde von den gläubigen Türken und den gläubigen Aramäern gemeinsam verbracht bei Ballspiel und Picknick.“188
So bildeten (1) eine evangelikale Glaubensprägung, (2) unterschiedliche religiössoziale Konflikterfahrungen, (3) die türkische Sprache und anatolische Musik sowie (4) eine ganzheitliche Lebensgemeinschaft identitätsstiftende Merkmale dieser ersten türkischsprachigen christlichen Gemeinschaft in Wiesbaden.189 Dazu kam, dass die missionarische Weitergabe sich nun unmittelbar innerhalb des türkischen Migrationskontextes fortsetzte: „Besuche von Verwandten oder bei Verwandten wurden intensiv evangelistisch genutzt.“190 Trotz der Verbindung zum Orientdienst wurden die Versammlungen von den türkischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern „nicht als ‚im Rahmen des Orientdienstes‘ wahrgenommen; jeder hatte die gleichen Rechte und brachte sich mit seinen Gaben ein“, betont Jürg Heusser.191 Ekklesiologisch war die kleine Gruppe wenig festgelegt, jedoch tendenziell freikirchlich-baptistisch geprägt. Darin zeigte sich ein Wandel im OD von Höpfners bestimmender landeskirchlich-pietistischer Sicht in den 1960er Jahren, zu einer eher freikirchlich-evangelikal geprägten Perspektive der Mitarbeiter in den 1970er Jahren. Vor allem aber wurde eine für die Glaubensmissionen typische Entwicklung sichtbar, die der Missionshistoriker Klaus Fiedler so zusammenfasst: „Zu den Glaubensmissionen [gehören] Missionare aus Kirchen mit sich gegenseitig ausschließender Ekklesiologie. … In der Missionsarbeit entstehen dann meist 187 Y.K., Interview, 2009. 188 Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 2. 189 Zur kulturbezogenen Ekklesiologie christlicher Gemeinden in islamischen Kontexten, vgl. Woodberry, From Seed to Fruit, 2008, 141ff. 190 Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 2. 191 Ebd.
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Kirchen mit baptistischer Taufpraxis.“192 Dies schloss in diesem Fall auch die Wiedertaufe syrisch-orthodoxer türkischsprachiger Christen mit ein. An Weihnachten 1974 wurden neben fünf türkischen Konvertiten auch sieben syrischorthodoxe Aramäer (süryani) getauft. Die Taufen wurden von E.Ö., einem türkischen Christen aus muslimischem Hintergrund, durchgeführt.193 Dass die Wiedertaufe der türkischen süryani nicht nur in den syrisch-orthodoxen Gemeinden, sondern auch in den landeskirchlichen Gruppen und Gremien, die an der Arbeit des OD beteiligt waren, auf Kritik stoßen würde,194 musste Höpfner klar sein. Auch er selbst vertrat grundsätzlich eine ökumenische Haltung gegenüber den orthodoxen Kirchen.195 Damit befand er sich in einem Dilemma. In seinem Jahresbericht formulierte Höpfner dann auch vage und erwähnte nur die muslimischen Konvertiten explizit: „einige von [unseren türkischen Gästen] entschlossen sich zur Taufe und Übergabe ihres Lebens an Christus … [sie] sind auch manchem Druck von Seiten ihrer moslemischen Landsleute und Verwandten ausgesetzt.“196 Die Wiedertaufe der syrischen Christen blieb unerwähnt, wohl auch um die Förderung durch die Landeskirchen nicht zu gefährden. Während die türkische Versammlung in Wiesbaden die wohl früheste Form christlicher Gemeinschaftsbildung im türkischen Migrationskontext in Deutschland darstellte, gab es weitere Orte, an denen sich zwischen 1970 und 1980 türkischsprachige, evangelikal geprägte christliche Gruppen bildeten – die meisten allerdings aus christlich-orthodoxem Hintergrund.197 In Nordrhein-Westfalen „trafen sich einige armenische und einige aramäische Geschwister“, die von der MSOE unterstützt wurden. In Bietigheim-Bissingen (Baden-Württemberg) entstand ein Zentrum aramäischer freikirchlicher Christen.198 Auch am Niederrhein „gab es eine winzige Gruppe von aramäischen Gläubigen“, die Kontakte nach Wiesbaden hielten. Im Süden der Niederlande entstand in den 1970er Jahren eine christliche Gruppe aus türkisch-alevitischen Familien, die sich schließlich einer örtlichen Baptistengemeinde anschlossen. Alle diese Gruppen nahmen an den türkischen Familienfreizeiten des OD teil.199 Insgesamt waren die türkischsprachigen christlichen Gemeinschaften in den 1970er Jahren starken umzugsbeding192 Vgl. Fiedler, Glaubensmissionen, 1987, 132. 193 Vgl. Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 5. 194 „Von Seiten der Evangelischen Kirche gab es nie einen Zweifel daran, dass orthodoxe Taufen als geistlich wirksam und kirchenrechtlich gultig anzuerkennen sind.“ Bickelhaupt, Orthodoxe Gemeinden im Bereich der EKHN, 2011, 64. 195 Siehe V.C.5a) sowie D.2.g). Auch die Evangelisationsarbeit der presbyterianischen Amerikanischen Mission unter Kopten in Ägypten, aus der die evangelische Kirche Ägyptens (Nilsynode) hervorgegangen war, anerkannte die koptische Taufe. Kopten, die evangelisch werden wollten, wurden einer „Prüfung unterzogen und dann zum Herrenmahl zugelassen“. Troeger, Alexandrien, 2013, 42. 196 Höpfner, Jahresbericht 1975, 5–6, OD-Archiv, OP 6575. 197 Vgl. Heusser, Bibelkreise, 2010, 2–3. 198 Vgl. ebd., heute: Aramäische Freie Christengemeinde in Bietigheim, vgl. ELKWue, Gemeinden, 2009, 5. 199 Weitere örtliche Gruppen türkischsprachiger Christen zwischen Berlin, Nürnberg und Köln entstanden erst nach 1980, vgl. Heusser, Bibelkreise, 2010, 3.
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ten Fluktuationen unterworfen. Insofern stellen sowohl der transitorische Charakter als auch die damit verbundene Überregionalität und Transnationalität typische Merkmale dar. Diese Merkmale kamen auch in der wohl folgenreichsten Form der Gemeinschaftsbildung des ersten Jahrzehnts zum Ausdruck, den türkischen Familienfreizeiten. 4. Überregionale Gemeinschaft: Türkische Familienfreizeiten Ostern 1974 fand die erste türkischsprachige Familienfreizeit statt. Die personelle Besetzung in der türkischsprachigen Abteilung des OD war zu diesem Zeitpunkt mit drei türkischen Mitarbeitern, alle Konvertiten aus dem Islam, auf einem Höhepunkt angekommen. Willi Höpfner nannte die Familienfreizeiten die „Krönung unserer bisherigen Arbeit, liegt es uns doch sehr am Herzen, dass die Türken, die wir in die Gemeinschaft mit Jesus Christus rufen, auch untereinander Gemeinschaft in Gebet und Verkündigung finden“.200 Im Jahresbericht 1975 hielt Höpfner fest: „Unserer türkischen Gäste waren glücklich über die Gemeinschaft, die sie hier bei Bibelbetrachtung und Gebet erlebten. Einige von ihnen entschlossen sich zur Taufe und Übergabe ihres Lebens an Christus. … Viele von ihnen leben in einer gewissen Isolation und sind auch manchem Druck von seiten ihrer moslemischen Landsleute und Verwandten ausgesetzt. Sie brauchen die Gemeinschaft und sollten wissen, daß sie Brüder und Schwestern haben, die mit ihnen den gleichen Weg gehen, durch manche Schwierigkeiten, aber in der Kraft Jesu Christi.“201 An den Freizeiten nahmen türkischsprachige Migranten aus ganz Europa teil: den Niederlanden, der Schweiz, England, der Türkei und Deutschland.202 Die Kontakte hatten sich seit Entstehung der türkischsprachigen Abteilung des OD 1968 durch Korrespondenz und Besuche entwickelt. Jürg Heusser beschreibt die Entstehung und den Charakter der Freizeiten: „Manche meinten, sie seien wohl die einzigen türkischen Konvertiten aus dem Islam. So wurde der Wunsch wach, diese Leute zusammen zu führen und für zwei, drei Tage einzuladen. Manche wohnten weit weg von Wiesbaden. Die lange Reise war nur zu rechtfertigen, wenn wir längere Zeit miteinander verbringen konnten. – Der Zweck dieser Konferenzen war es also, die Gemeinschaft der in Deutschland weit zerstreuten und zum Teil sehr einsamen türkischsprachigen Gläubigen zu fördern und biblische Lehre zu vermitteln. Die völkische und religiöse Herkunft der Teilnehmer sollte dabei eine möglichst geringe Rolle spielen. Erste Zielgruppe waren Türken und Kurden aus dem Islam und ernstlich Interessierte. Missionare und türkische Mitarbeiter luden ein und leiteten die Konferenz. (Später übernahmen türkische Mitarbeiter die Leitung des Programms der Erwachsenen.) Wenn zusätzlich zu den ExMuslimen auch gläubige Aramäer und Armenier teilnahmen, war das eine Bereicherung für
200 Höpfner, Brief an Freunde und Mitarbeiter des OD, 30.12.1974, EMW-Archiv, DEMR3, AG0818/2. 201 Höpfner, Jahresbericht 1975, 5–6, OD-Archiv, OP 6575. 202 Vgl. M.K., Ministries, 2005.
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alle Seiten. – Die meisten Teilnehmer hatten schon eine Entscheidung für Jesus Christus getroffen. Einzelne bekehrten sich während der Konferenz.“ 203
Die ersten drei Konferenzen fanden an Ostern und Weihnachten 1974 sowie Ostern 1975 in Wiesbaden statt.204 An der ersten Konferenz nahmen etwa 20 türkische und aramäische Gäste teil. Die zweite Konferenz an Weihnachten wurde von 28 auswärtigen Teilnehmern besucht. Die Konferenz war ein Schlüsselereignis, da hier die oben erwähnten ersten Taufen stattfanden. Auf der dritten Konferenz an Ostern 1975 stieg die Zahl der auswärtigen Teilnehmer auf 50, womit die Grenze der Aufnahmekapazität in Wiesbaden erreicht war. Die vierte und fünfte Konferenz mit 70 Teilnehmern fand in einer Bibelschule in Südhessen statt. Danach zog man um in ein neu erweitertes Jugendfreizeitheim am Rhein, wo die Teilnehmerzahl an Weihnachten 1976 auf fast 100205 und in den nächsten Jahren bis auf 150 anstieg. Auch dort fanden Taufen statt, in „eine[r] kleine[n] freie[n] Gemeinde mit Taufbecken, wo wir mehrmals zu Gast sein durften“.206 Die türkischen Familienfreizeiten dauerten in der Regel drei Tage. Das Programm umfasste: „vormittags zwei Stunden Singen, Gebet, Bibelstudium oder Predigt, Zeugnisse. Nach dem Mittagessen freie Zeit zum Spazieren, Sport oder Einzelgespräche. Nach Kaffee und Kuchen Versammlung wie am Vormittag. 19.30 bis 21.30 nochmals Versammlung. Parallel zu den Versammlungen Kinderprogramm. Ohne offizielles Programm wurde oft bis tief in die Nacht Tee getrunken und Gemeinschaft gepflegt.“207 Die Zahl der anwesenden Kinder machte manchmal mehr als ein Drittel der Teilnehmer aus. So wurde „neben dem türkischen Programm für die Erwachsenen ein hochwertiges (deutsches) Kinderprogramm“ angeboten.208 Damit ging man auf die kulturelle Realität des Generations- und Sprachwechsels im Migrationskontext ein. Während die Eltern meist noch ganz in der türkischen Sprache und Kultur verwurzelt waren, wuchsen die Kinder bereits zweisprachig auf und nahmen zusammen mit den Kindern der deutschsprachigen Mitarbeiter an den Kindergruppen teil. Angesichts der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Hintergründe stellte die interkulturelle Konvivenz eine Herausforderung dar. Heusser räumt ein: „Es grenzt an ein Wunder, und wurde wohl auch vielfach als solches wahrgenommen, dass in den Konferenzen diese gegensätzlichen, in der Türkei so sehr verfeindeten Gruppen, gemeinsam Gott loben und auf seine Botschaft hören konnten.“209 Auf der Basis, dass „alle … jetzt zu Jesus Christus gehören und mit und für ihn leben wollen“ einigte man sich auf zwei Grundregeln, um die Gemeinsamkeit nicht zu gefährden:
203 204 205 206 207 208 209
Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 3–4. Vgl. Heusser, Übersicht Türkische Familienkonferenzen, 2008. Vgl. Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 5. Ebd. 6. Ebd. Ebd. 4. Ebd. 9.
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VII. Vielfalt im Third Space: Konversion und Gemeinschaftsbildung „[1.] Die ethnische Zugehörigkeit wurde möglichst gar nicht angesprochen, schon das wäre für manche ein Politikum gewesen. Man wusste kaum, wer Türke oder Kurde war. (Die Angehörigen der christlichen Minderheiten fielen meistens wegen ihrem sprachlichen Dialekt auf.) … [2.] Jede Art von politischen Aussagen (auch in einem Zeugnis) ist verpönt. Keine andere Partei soll beschuldigt oder schlecht gemacht werden. Asylsuchende dürfen nichts gegen die türkische Regierung sagen, Armenier und Süryani nicht an die Verfolgungen erinnern. Das scheint vielleicht hart, aber die Konferenz ist nicht der Ort für Polemik gegen andere Gruppen.“210
Auf diese Weise stellten die türkischen Familienkonferenzen eine besondere Form christlicher Gemeinschaftsbildung im türkischsprachigen Migrationskontext dar. Sie können als inkulturierter, transitorischer Ausdruck christlicher Kirche verstanden werden, wo 1. das Wort Gottes verkündigt, 2. Taufe und Abendmahl empfangen und 3. die Gemeinschaft der Glaubenden kulturell relevant und interkulturell sensibel gelebt wurde. Die christliche türkischsprachige Diaspora wurde hier zur lokalen versammelten Gemeinde. In der Frage der Inkulturation zeigte sich jedoch die Komplexität und Widersprüchlichkeit transkultureller Prozesse. Welche Kultur, Ethnie und welcher religiöser Hintergrund sollte berücksichtigt werden? Es entstand eine zweifache, gegenläufige Bewegung: einerseits die Bemühung um sprachliche, musikalische und emotionale Inkulturation im Metakontext türkisch-anatolischer Kultur, andererseits die bewusste postethnische Relativierung des ethnischen und politischen Konfliktpotentials angesichts der vielfältigen ethnischen, sprachlichen und politischen Hintergründe.211 Dies begrenzte die Möglichkeiten der Inkulturation, wie Jürg Heusser einräumt: „Die Kehrseite der Medaille liegt darin, dass die Konferenz etwas ‚steril‘ wirkt, dass wenig Raum für Spontaneität vorhanden ist, und dass der Strauß nicht so bunt ist, wie man es erwarten könnte.“212 Auch der dynamische Kulturwandel im Migrationskontext wurde sichtbar, z.B. in Form des erwähnten Sprachwechsels im Kinderprogramm. Die überregional-lokale Freizeitgemeinschaft stellte sich als community in transition dar.213
210 Ebd. 211 Zur Spannung zwischen der Wertschätzung kultureller, ethnischer Vielfalt und der Überwindung ethnisierenden Konfliktpotentials durch postethnische Perspektiven vgl. Barton, Confusion, 2012. 212 Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 9. 213 Heute befinden sich türkischsprachige christliche Gemeinden in Köln (Köln Kilisesi), Berlin, Sindelfingen, Bietigheim und an anderen Orten, vgl. Stoldt, Konvertiten, 2008. Heusser, Bibelkreise und Konferenzen, 2010, 11 weist darauf hin, dass „Orientdienst-Mitarbeiter die Entwicklung aller oben genannten Gemeinden mitgeprägt haben. Der Orientdienst hat aber keine dieser Gemeinden gegründet oder geleitet. Sie sind alle aus kleinsten Anfängen entstanden, ihre ersten ‚Mitglieder‘ (es gibt keine offizielle Mitgliedschaft) traten in Kontakt mit uns oder wir mit ihnen. Sie wurden zu den Konferenzen eingeladen, kamen, und wurden dort mitgeprägt. ... Natürlich haben auch andere diese Gemeinden mitgeprägt und gefördert.“
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C. IDENTITÄT UND VIELFALT IM THIRD SPACE 1. Aneignung und Gemeinschaftsbildung Auf der biographischen Ebene der missionarischen Arbeit in SMD und OD ist es zu interreligiösen Begegnungen mit muslimischen Studenten und Gastarbeitern gekommen, die in unterschiedlicher Intensität in ihren bisherigen religiösen und kulturellen Gemeinschaften und Sinnsystemen verwurzelt waren. Nur wenige dieser Begegnungen waren mit einer Konversion zum christlichen Glauben verbunden, noch weniger mit einem dauerhaften Verbleiben und Wachsen im christlichen Glauben. Während die muslimische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland von einigen Tausend Anfang der 1950er Jahre auf über eine Million Anfang der 1970er Jahre anwuchs, blieb die Zahl der christlichen Konversionen – wie immer man diese definiert – von muslimischen Migrantinnen und Migranten im gleichen Zeitraum vergleichsweise gering. Doch trotz der quantitativen Unscheinbarkeit können die vorhandenen Konversionen, von denen die sichtbarsten im Umfeld von SMD und OD hier beschrieben wurden, als wichtiges Zeichen christlicher Identitätsbildung und Inkulturation sowie als Symbol religiöser Pluralisierung und religiöser Wahlfreiheit im subkulturellen Migrationskontext in der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden. In der Einzelanalyse wurde deutlich, dass die Konversionen längere oder kürzere Prozesse umfassten, die ausgehend vom doppelten Kontext der Herkunftskultur und der Migrationssituation Sehnsüchte, Suchbewegungen, Krisen und Konflikte zum Ausdruck brachten und zu Glaubensentwicklungen führten, die als komplexe Identitätsbildungen im Spannungsfeld zwischen Konversion/Reversion und (umgekehrter) Extensivierung verstanden werden können.214 Grundlegend können die beschriebenen christlichen Konversionen und Identitätsbildungen im Anschluss an Feldtkellers Modell zum Ausbreitungsverhalten religiöser Gemeinschaften215 als missionarische oder religiöse Aneignung im Überschneidungsbereich zwischen „missionarischer Ausbreitung“ und „kultureller Aneignung“ beschrieben werden. Dabei wird deutlich, dass diese Glaubensaneignungen zwar eng mit absichtsvollen missionarischen Initiativen in Zusammenhang standen, gleichzeitig aber einen von eigenen Initiativen geprägten selbstbestimmten Identitätsprozess darstellen, der wiederum nicht vorwiegend kulturelle, sondern religiöse Interessen widerspiegelt Über die eigenständige Identitätsbildung auf biographischer Ebene hinaus trugen die Konvertiten zu den komplexen Prozessen erster Gemeinschaftbildungen im türkischsprachigen Migrationskontext Anfang der 1970er Jahre bei. Dabei verbanden sich die Biographien von Konvertiten aus türkisch-muslimischem Hintergrund mit denen von türkischen Konvertiten aus einem traditionellen christlichen Hintergrund (Aramäer, Armenier und türkischsprachige Griechen) zu einem 214 Vgl. Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 39, siehe VII.1.b) und 2.e). 215 Vgl. Feldtkeller, Perspektive der Religionswissenschaft, 2001, 100ff; Ders., Theoretische Perspektiven, 2010, 53 –57.66; s. Einleitung B.2.a).
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neuen, wenn auch noch sehr fragilen Mosaik inkulturierter christlicher Gemeinschaft zwischen türkischen Minderheits- und Mehrheitskulturen, deutschsprachiger Mehrheitskultur und weiteren internationalen Einflüssen. Dieser Prozess wurde gefördert einerseits durch das Leitbild eines pietistisch-evangelikalen Bekehrungsverständnisses (persönliche Glaubensbeziehung zu Jesus Christus, die nicht mit einer bestimmten kulturell geprägten kirchlichen Zugehörigkeit deckungsgleich ist), andererseits durch die gezielte postethnische Vermeidung konfliktreicher politischer und religiöser Themen. Trotz aller Schwierigkeiten deutete dieser Ansatz in die Zukunft multikultureller christlicher Gemeinden in der sich globalisierenden deutschen Gesellschaft, in der gesellschaftliche Migrations- und Mehrheitskontexte (zumindest im Blick auf die türkische Immigration) immer weniger unterscheidbar werden. 2. Identitätsbildung und interreligiöse Relationierung Die untersuchten Konversionen stellen komplexe Identitätsbildungen216 dar, in die verschiedene Phasen und Prägungen des Lebens und Elemente des kulturellen und religiösen Hintergrundes einflossen. Diese Identitätsbildungen können als Inkulturationen auf der Mikroebene der Biographie verstanden werden. Vor allem bei Y.K. zeigt sich eine konstruktive Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität im Blick auf die türkisch-islamische Herkunft, die nicht zuletzt auf der positiven Erfahrung und reflektierten Reaktion des eher liberal geprägten Elternhauses beruhte. Aspekte des Gottesbildes, Gebetserfahrungen und kulturelle Prägungen werden als positive Bausteine in die neue Identität integriert. So berichtet Y.K. als spätere Christin über ihre Gebete als Muslimin, die aus ihrer Sicht an den gleichen Gott gerichtet, zumindest aber von ihm erhört wurden: „Im Zug war ich in einem Frauenabteil. Ich werde nie vergessen, wie ich dort still für mich gebetet habe. Keine auswendig gelernten Koranverse, sondern mit meinen eigenen Worten: ‚O Gott, bewahre und behüte mich in der Fremde, daß mir nichts Schlimmes passiert und daß ich nicht krumme Wege gehe.‘ Rückblickend kann ich sagen, daß Gott mein Gebet erhört und mich Schritt für Schritt begleitet hat.“217 Auch der Konversionsbericht Mehdi Ksaras in der SMD in den 1950er Jahren (s. III.C.2.b) zeigt die konstruktive Einbindung muslimischer Erfahrung in die neu gebildete christliche Identität. Seine Vorträge stellten dabei einerseits eine narrative christliche Identitätskonstruktion dar, andererseits waren sie missionarischkontextuelle Brückenschläge zu den muslimischen Zuhörern. In der Verbindung dieser beiden Aspekte waren die interreligiösen Synthesen und Kontinuitäten als inkulturierte missionarische Anknüpfung von besonderer Bedeutung. Beispielhaft zeigte sich dies sowohl bei Ksara als auch bei M.B. an der Bedeutung der christologischen Aussagen des Korans für die spätere christliche Konversion. Dass sol216 Vgl. Feldtkeller, Identität, 2002, 45; vgl. Jørgensen, Jesus Imandars, 2008, 104–108; Hiebert, Category Christian, 1994. 217 Y.K., Traum, 1995, 34.
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che Kontinuitätserfahrungen auch in spezialisierten Missionskreisen keineswegs als selbstverständlich angesehen wurden und nicht immer zur missiologischen Theorie passten, zeigte die von Höpfner festgehaltene Reaktion, dass M.B. in einem Referat vor dem OD 1965 durch solche Aussagen „überraschte“.218 Insgesamt machen die Konversionsanalysen deutlich, dass der Migrationskontext für die religiöse Identitätsbildung besondere Chancen und Herausforderungen bot. Grundsätzlich war mit der Migration eine religiöse Horizonterweiterung mit neuen Optionen verbunden. Dass dies auch so wahrgenommen wurde, zeigt sich daran, dass Tadji F., M.B. und A.Y. bewusst den Kontakt mit christlichen Gruppen suchten, andere wie Y.K. sich vorsichtig und eigenständig darauf einließen. Im Gegensatz zu den frühen Hoffnungen bei Höpfner und anderen kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die Migrationssituation christliche Konversionen erleichterte. Dies zeigt sich schon an den geringen Zahlen. Auch wenn die religiöse Wahlfreiheit im gesellschaftlichen Kontext in Deutschland höher war, als in den islamisch geprägten Herkunftsländern und Freiräume ermöglichte, konnte der soziale und religiöse Druck der muslimischen Diasporagemeinschaft in Deutschland mindestens genauso hoch sein. Dazu kam der Verlust des vertrauten kulturellen Umfelds, der zwar einerseits zu erhöhter Offenheit für neue Optionen, andererseits aber auch zu erhöhter religiöser Wachsamkeit und einem erhöhten kulturellen Sicherheitsbedürfnis führen konnte. So waren es auch im Migrationskontext zunächst nur wenige, die neue religiöse Lebensentwürfe wagten. Diese können als mutige Identitätsentwürfe und Strategien der Lebensbewältigung219 in einer komplexen Situation des Dazwischen verstanden werden. Keineswegs können sie als strategische oder unreflektierte Assimilierungsversuche an eine christlich geprägte Mehrheitskultur abqualifiziert werden, da die eigene Herkunftskultur und Nationalität bei allen weiterhin wertgeschätzt und zusammen mit den neuen Einflüssen und Entscheidungen Teil eines komplexen biographischen Identitätsdialogs wurde, der Neues hervorbrachte. Die beschriebenen Konversionen und Identitätsentwürfe waren damit Teil religiöser Pluralisierungsprozesse, die in den 1960er und 1970er Jahren dazu beitrugen, „die Deckungsgleichheit von ethnischen und religiösen Identitäten aufzuweichen“, und so „zu einer entscheidenden Kohäsionskraft [zu] werden“ – „quer zu den […] Grenzen kultureller und ethnischer Identitäten“.220 3. Vielfalt im Third Space: Postkoloniale Perspektiven In der Kolonialismusforschung (postcolonial studies) werden christliche Konversionen im Blick auf ihre Selbständigkeit kritisch hinterfragt. Unter dem Motto „Can the Subaltern speak?“ (Darf der/die Untergebene sich äußern?) bezweifelt man die Authentizität christlicher Bekehrungen in kolonialen und in Migrationssi218 M.B., Inwiefern, 1965, 2. siehe VII.A.2.d). 219 Vgl. Käser, Fremde Kulturen, 2005, 37. 220 Feldtkeller, Mission, 2001, 112.
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VII. Vielfalt im Third Space: Konversion und Gemeinschaftsbildung
tuationen, die als damit vergleichbar angesehen werden.221 Man „bescheinigt den afrikanischen … und asiatischen Konvertiten pauschal kulturell-religiöse Entfremdung und bestreitet damit implizit die Möglichkeit, dass Christen außerhalb der westlichen Welt [oder als Migrantinnen und Migranten innerhalb der westlichen Welt, FW] authentische und eigenständige Christentumsformen auszubilden vermögen“.222 Die postkoloniale Konversionskritik fand ein vorlaufendes Echo in einigen kirchlichen Verlautbarungen in den frühen 1970er Jahren, die den missionarischen Auftrag unter muslimischen Migranten bestritten mit dem Argument, „daß sich die Ausländer in der Bundesrepublik in einem besonderen Verhältnis der Abhängigkeit und einer sozial schwachen Stellung befinden, die es aus Gründen der Fairness verbietet, ihnen missionarisch zu begegnen“.223 Den Aufruf zur christlichen Bekehrung meinte man dieser „schwachen Minderheit“224 nicht zumuten zu können. Bereits damals traf diese Sicht auf die harsche Kritik des DEMR, der den kirchlichen Texten ideologische Verzerrung vorwarf: „[man] ‚baut sich einen Türken‘, einen … urteilsunfähigen Menschen, der seine Ansichten und Fragen nicht selbst artikulieren kann und wohlmeinender Bevormundung und Bewahrung vor unbedachten Entscheidungen bedarf.“225 Die Konversionsbiographien im Umfeld von OD und SMD haben gezeigt, dass man die Fragen der postcolonial studies zwar nicht beiseite wischen darf und dass Machtverhältnisse und gesellschaftliche Anpassungsstrategien auch in missionarischen und konversiven Prozessen durchaus eine Rolle spielten. Hier hat sich beispielsweise die öffentliche Instrumentalisierung von (Vorzeige-) Konvertiten im Rahmen missionarischer Strategien als problematisch gezeigt. Gleichwohl ist deutlich geworden, dass die Konvertiten selbst die eigentlichen Akteure in diesen Prozessen waren, die eigene Entscheidungen trafen und sich im Konflikt mit ihrer muslimischen Herkunftsgemeinschaft behaupten mussten, die (zumindest nach innen, zunehmend aber auch nach außen) keine „schwache Minderheit“ darstellte, sondern ein eigenes starkes kulturelles und religiöses Selbstbewusstsein mitbrachte. Auch den christlichen Missionswerken und Gemeinden gegenüber entwickelten die Konvertiten eigene Identitäten, die sich zwischen vertiefter christlicher Inkulturation und extensivierender Reversion bewegten. Dass christliche Konversionen authentische persönliche Prozesse zum Ausdruck bringen können, wird zunehmend auch innerhalb der postcolonial studies wahrgenommen, wie Christine Lienemann-Perrin mit Verweis auf Forschungen der indischen Literaturwissenschaftlerin Gauri Viswanathan gezeigt hat.226 Viswa221 Der deutsche Postkolonialismus-Theoretiker Kien Nghi Ha formuliert: „Wenn wir uns die Ausgangsgrundlage der postkolonialen Migration in der BRD anschauen, dann fallen bereits auf den ersten Blick eine Reihe von historischen, diskursiven und funktionalen Parallelen zwischen sog. Wander-, Fremd- und Gastarbeitern auf, die auf fortgesetzte rassistische Kolonialpraktiken in Deutschland hindeuten.“, zit. bei Steyerl, Subalterne [2002]. 222 Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 230. 223 Zit. bei Buttler, Auftrag, 1974, 63. 224 EKD, Moslems in der Bundesrepublik, 1974, 15. 225 Buttler, Auftrag, 1974, 63. 226 Vgl. Lienemann-Perrrin, Konversion, 2004, 230–231.
VII. Vielfalt im Third Space: Konversion und Gemeinschaftsbildung
439
nathans Studie Outside the Fold: Conversion, Modernity and Belief (1998) zu Selbstzeugnissen muslimischer und hinduistischer Konvertiten in Indien zur Zeit des britischen Kolonialismus fasst Lienemann-Perrin so zusammen: „die Konversion zum Christentum [konnte] durchaus auch ein authentischer Ausdruck selbstbestimmter Identität der kolonialen Subjekte und Adressaten westlicher Mission sein [...]. Und dies in dreierlei Hinsicht: gegenüber dem Hinduismus oder Islam als den dominanten Religionen Indiens, gegenüber dem britischen Kolonialregime und gegenüber westlichen Formen des Christentums.“227 Dass Ähnliches auch für christliche Konversionen im muslimischen Migrationskontext in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren gilt, haben die beschriebenen Konversionsbiographien gezeigt. In einer weiteren Perspektive postkolonialer Theorie können die Konversionen und Gemeinschaftsbildungen unter muslimischen Migranten in Deutschland im Anschluss an den indischen Literaturwissenschaftler Homi Bhabha (geb. 1949) als Ausdruck postkolonialer Identitätsbildung im Third Space der Migrationskulturen gedeutet werden.228 Mit dem Konzept des Third Space beschreibt Bhabha den transkulturellen, eigenständigen Charakter migratorischer Prozesse, in denen kulturelle oder religiöse Differenzen229 zwar sichtbar, aber gleichzeitig zum Ausgangspunkt neuer Gestaltung werden, ohne dass die Übermacht einer Gruppe die Beiträge anderer Gruppen verdrängt und ausschließt. Was Bhabha dabei im Blick hat, ist „an international culture, based not on the exoticism of multiculuralism or the diversity of cultures, but on ... the articulation of culture’s hybridity. To that end we should remember that it is the ‚inter‘ – the cutting edge of negotiation and translation, the in-between space – that carries the burden of the meaning of culture. ... And by exploring this Third Space we may elude the politics of polarity and emerge as the others of our selves.“230
In dem so verstandenen Third Space werden kulturelle Differenzen nicht aufgelöst, wohl aber hegemoniale Ansprüche in Frage gestellt. In dieser Hinsicht verfolgt „Bhabhas postkoloniales Projekt ... eine ‚Befreiungsästhetik‘, deren Entwicklungspotential er am ehesten in der double vision der im Grenzbereich zwischen den Kulturen sich bewegenden Migranten und Randständigen erkennt“.231 Die beschriebenen biographischen und sozialen christlichen Identitätsbildungen im muslimischen Migrationskontext können als eine Ausdruckform einer solchen „Befreiungsästhetik“ im Sinne größerer religiöser Vielfalt, individueller Lebensgestaltung und versöhnter Verschiedenheit interpretiert werden. Aufgrund der in ihnen enthaltenen Kritik religiös-kultureller Hegemonialansprüche vollziehen sich 227 Ebd. 231; vgl. Lienemann-Perrin, Success and Failure, 2007, 327. 228 Küster, Religion, 2004, 301 beschreibt den „dritten Raum“ missionstheologisch als Ort des interreligiösen Dialogs des Lebens, des Verstandes und des Herzens. Er kann jedoch darüber hinaus auch als Raum konversiver und inkulturativer christlicher Identitäts- und Gemeinschaftsbildung gedeutet werden, wie die vorangegangenen Überlegungen gezeigt haben. 229 Vgl. Bhabha, Location, 1994, 48f. 230 Ebd. 56. 231 Kreutzer, Postkoloniale Literaturkritik, 2004, 206, vgl. Rutherford, Third Space, 1990; Steyerl, Subalterne, 2003.
440
VII. Vielfalt im Third Space: Konversion und Gemeinschaftsbildung
Konversionen in interreligiösen Zusammenhängen selten ohne Konflikte, aber gleichzeitig bieten sie Impulse und Chancen zur Horizonterweiterung und zu einem vertieften Gespräch zwischen den Gläubigen unterschiedlicher Traditionen.
SCHLUSS: MISSIONARISCHE BEGEGNUNG ALS TRANSKULTURELLER PROZESS. ERGEBNISSE A. INTERRELIGIÖS, TRANSKULTURELL, MISSIONSTHEOLOGISCH: SICHTWEISEN EINER MISSIONSGESCHICHTE IN DER ZEITGESCHICHTE Im Zentrum der vorangegangenen Untersuchung standen Strukturen, Kontexte, Theologien und Folgen des missionarischen christlichen Zeugnisses unter muslimischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland in den 1950er bis 1970er Jahren. Das Bild der missionarischen Begegnung, das sich daraus ergibt, ist komplex und lässt sich zusammenfassend als interreligiöses Zeugnis im Zusammenhang transkultureller und transnationaler Prozesse beschreiben. Der Begriff des interreligiösen Zeugnisses deutet dabei zum einen auf die neue, religiöse Grenzen überschreitende Ausrichtung des christlichen Zeugnisses angesichts der durch Migrationsbewegungen verstärkten religiösen Pluralisierung in der Bundesrepublik Deutschland. Zum anderen verweist der Begriff auf den Charakter der Gegenseitigkeit missionarischer Begegnungen zwischen Christen und Muslimen, der hier deutlich wurde. Auch diese Gegenseitigkeit hat sich als transkulturell komplex1 erwiesen, da sich in ihr unterschiedliche, teilweise konfliktreiche Verständnisse und Missverständnisse religiöser Weitergabe und konversiver Freiräume begegneten, die sich zum Teil bis heute nur wenig geändert haben.2 Andererseits erwies sich die Selbstwahrnehmung als religiöse Minderheit in der weithin säkular geprägten deutschen Gesellschaft als Gemeinsamkeit zwischen überzeugten Muslimen und missionarisch aktiven Christen.3 Schließlich nimmt der Begriff des interreligiösen Zeugnisses in religionstheologischer Perspektive sowohl die Differenzen zwischen den Grundzügen des christlichen und islamischen Selbstverständnisses als auch die Gemeinsamkeiten, die aus der je eigenen theologischen Perspektive wahrgenommen werden, ernst. Dieses missionarische interreligiöse Zeugnis spielte sich im Migrationskontext jedoch nicht in einer isolierten binären Begegnung zweier religiöser Traditionen ab, sondern stand wiederum im Zusammenhang komplexer gesellschaftlicher und globaler Veränderungsprozesse. Im wirtschaftlichen und politischen Bereich waren u.a. die Entwicklungen im Nahen Osten (Nationalisierung, PalästinaKonflikt), der Türkei (rechts-links-Spannungen, wirtschaftliche Entwicklung) und der Bundesrepublik Deutschland (Nachkriegstrauma, Wirtschaftswunder, Rezession, ‘68er Bewegung) bedeutsam. Noch unmittelbarer wirkten sich die auslän1 2 3
Vgl. Hock, Interkulturelle Theologie, 2011, 51. Vgl. die Reaktion des KRM auf die EKD-Handreichung 2006, siehe Einleitung A. Vgl. die Interpretationen bei von Denffer und Höpfner in Kapitel VI.D.3.
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Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
derpolitischen Entscheidungen (Anwerbung, Anwerbestopp 1973, Familiennachzug) sowie gesellschaftliche Haltungen zwischen ausländerfeindlicher Ablehnung der Gastarbeiter und Offenheit für ausländische Mitbürger auf die missionarische Begegnung aus, die auf jeden Fall einen Kontrapunkt zu ausländerfeindlichen Tendenzen darstellte. Dass die auch heute oft vorschnell erfolgende Gleichsetzung missionarischer Kritik am Islam mit einer ablehnenden Haltung gegenüber Muslimen nicht haltbar ist, hat die Untersuchung ebenso gezeigt. Im religiös-gesellschaftlichen Zusammenhang spielte vor allem die Spannung zwischen säkularisierenden und religiös-erneuernden Tendenzen in der christlichen (z.B. evangelikale Bewegung) sowie der islamischen Tradition (Re-Islamisierung) eine Rolle. Auch hier ist die Komplexität der Konzepte und Entwicklungen zu berücksichtigen, da christliche und islamische Erneuerungsbewegungen weder in ihren Faktoren noch ihren Ausprägungen gleichgesetzt werden können. Angesichts dieser Komplexität der Entwicklungen und Zusammenhänge hat sich der Begriff der Transkulturation als hilfreich erwiesen, da er die Offenheit, Dynamik, Gegenseitigkeit, Lokalität-Globalität, Transnationalität, Multilateralität und Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen im Migrationskontext gut erfasst.4 Für eine nähere Beschreibung der missionarischen Begegnung bedarf das Konzept allerdings der Ergänzung durch die Terminologie der interkulturellen und interreligiösen Hermeneutik, die die ebenso vorhandene Fremdheit, Konstanz und Widerständigkeit kultureller und religiöser Selbstverständnisse im globalen Wandel reflektiert.5 Darüber hinaus rückt der Begriff des Missionarischen sowie der Missionstheologie die Dimension und Reflexion religiöser Wahrheit und Erfahrung (Spiritualität) und ihrer Mitteilung ins Blickfeld, die für die Motivation und Begründung missionarischer Initiativen wesentlich sind. Auch für zukünftige Studien zu missionarischen Vorgängen und Zusammenhängen im Rahmen einer lokal-global verstandenen Zeitgeschichte dürften sich diese drei unterschiedlichen Perspektiven (transkulturell, interreligiös, missionstheologisch) als methodisch hilfreich erweisen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die christliche missionarische Begegnung mit muslimischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland in den 1950er bis 1970er Jahren einen komplexen transnationalen, gesellschaftlichen, religiösen und theologischen Prozess darstellt (vgl. die folgende Tabelle). In diesem Prozess entstanden neue Wahrnehmungen und Strukturen (B.), neue missionstheologische Modelle christlicher Islambegegnung (C.) sowie neue Formen christlicher Identitäts- und Gemeinschaftbildung und islamischer Mission und Reaktion im Third Space (Bhabha) der Migrationskultur (D.). Diese Entwicklungen sollen abschließend zusammenfassend gedeutet werden.
4 5
Vgl. Hock, Interkulturelle Theologie, 2011, 51f. Vgl. die Unterscheidung kultureller und religiöser Fremdheit bei Feldtkeller, Offen für Muslime, 2000; zur Reflexion kultureller und religiöser Differenz vgl. Sundermeier, Begegnung mit dem Fremden, 1995; Käser, Fremde Kulturen, 2005; Quack, Begegnung mit dem Fremden, 2007; Wrogemann, Interkulturelle Theologie, 2012, 340–341.
Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
Christliche Mission
443
(Muslimischer) Migrationskontext
Missionarische Begegnung – Interreligiöses Zeugnis Wahrnehmungen & Strukturen
Missionstheologische Modelle
Konversion & Gemeinschaft
Islamische Mission & Reaktionen
1. Phase: Bildungsmigration 1950er und 1960 Jahre Horizonterweiterung Präsenz, Diakonie (Margull, Symanowski)
Ahmadiyya-Mission
Muslimische Migration (Vicedom)
Verstehen & Bezeugen (Hermelink)
AfW, IST (SMD) international
Christozentrische Gemeinschaft (SMD)
Schiitische Moschee, Hamburg Tadji F. (Mehdi K.) M.B.
Muslimische Studentenverbände
Pluralisierung
DEMR, ESG, KfA Ausländer afroasiatisch
2. Phase: Arbeitsmigration 1961 bis 1973 OD Moslems, Orientalen
Christuszeugnis, Empathie & Differenz (Höpfner)
Y.K. E.Ö. A.Y.
Diplomatische Intervention der Türkischen Botschaft Kritik türkischer Zeitungen
Kerygma & Gastfreundschaft (Holsten) KfA Gastarbeiter
Wächteramt türkischer Religionsbeauftragter (Diyanet)
Diakonie und Höflichkeit (Stratenwerth)
3. Phase: Entwicklungen nach dem Anwerbestopp 1973–1979 OD e.V. Türken, Kurden, Aleviten, Aramäer
Inkulturierte Evangelisation & Gemeinschaftsbildung (Heusser)
Türkische Versammlungen & Familienfreizeiten
Warnung durch Polemik (Erkmen) Dialog als da‘wa (von Denffer)
AKDAA Mitbürger
Sozial-politische Aktion (Micksch) Missionsverzicht
Dialog & gegenseitiger Missionsverzicht (Balic, Abdullah)
EZW, VEM, ICA, ÖKNI Muslime
Dialog & Zeugnis (Mildenberger, Löffler, Jasper)
„Exklusion des Bedrohlichen“
Säkularisierung – Intensivierung
Identitätsbildung Inkulturation Transkulturation
Tabelle 20: Mission als Transkulturation: Ergebnisse im Überblick
Re-Islamisierung Liberalisierung
Pluralisierung
VIKZ
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Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
B. TRANSKULTURATION IN KIRCHE UND MISSION: STRUKTURENTWICKLUNG Sowohl die Migration von Muslimen in die Bundesrepublik Deutschland, um Bildung oder Arbeit zu finden, als auch die christlichen Bemühungen zur missionarischen Begegnung mit ihnen sind Teil globaler religiöser Veränderungsprozesse nach 1945.6 Die Zuwanderung von Muslimen im Rahmen der Bildungs- und Arbeitsmigration in den 1950er bis 1970er Jahren war ein Aspekt postkolonialer gesellschaftlicher Aufbruchsprozesse im Nahen Osten, in Nordafrika und in der Türkei. Gleichzeitig hat die Migration die kulturelle und religiöse Landschaft in Deutschland verändert und die bis dahin relativ einheitlich traditionell christlich und säkular geprägte deutsche Nachkriegsgesellschaft mit ersten Strukturbildungen (Moscheen, Vereine) und dem universalen Wahrheitsanspruch des Islam konfrontiert.7 Auch die 1949 einsetzende Missionsbewegung der pakistanischen Ahmadiyya-Muslime trug durch Öffentlichkeitsarbeit,8 Gemeinschaftsbildung und islamisch-missionarische Kontextualisierung in der deutschen Gesellschaft zu diesen Entwicklungen bei. Auf diesem Hintergrund entfalteten sich christliche Bemühungen zur missionarischen Begegnung mit muslimischen Studenten und Gastarbeitern in Deutschland, in denen sich die postkolonialen Veränderungsprozesse christlicher Mission und Missionstheologie spiegeln. Der postkoloniale Aufbruch nach 1945 stellte – gerade in muslimisch geprägten Teilen der Welt – oft zugleich das Ende traditioneller westlich-christlicher Missionsarbeit in diesen Gebieten dar.9 Die gleichzeitigen Globalisierungsprozesse der Bildungs- und Arbeitsmigration führten zur transnationalen Verlagerung des Missionsfelds und zur Entstehung neuer missionarischer Kontexte. Christliche Missionen und zurückgekehrte westliche Missionare nahmen die neue Anwesenheit muslimischer Gäste als Studenten oder Gastarbeiter in ihrer transnationalen Perspektive oft deutlicher wahr („die Welt kommt zu uns“)10 als andere Gruppen in der Mehrheitsbevölkerung und wurden so zu Initiatoren und Brückenbauern erster interreligiöser und interkultureller Begegnungen in missionarischer Perspektive. Beispielhaft wurde dies an der Biographie Willi Höpfners als Begründer des Orientdienstes deutlich. Entsprechende transnationale Impulse spielten auch für die Intentionen des DEMR im Blick auf die KfA, die internationale Arbeit der SMD, die Islamarbeit der VEM sowie die Islamstelle der katholischen Kirche (ÖKNI) eine Rolle. Ausgehend von den maßgeblichen Entwicklungen der (muslimischen) Migrationsgeschichte,11 der islamischen Diaspora12 und der Entstehung neuer migrati6 7 8 9 10 11 12
Vgl. Beyer, Religion, 2001; Beyer, Religions, 2006. Vgl. Heimbach, Entwicklung, 2001. Vgl. Abdullah, Geschichte, 1980, 52ff. Vgl. Troeger, Paradigmenwechsel, 2007, 185f. Hermelink, Mission, 1958, 83, vgl. Walldorf, Welt, 2011. Vgl. Bade, Migrationsforschung, 2002.; Hunn, Nächstes Jahr, 2005. Vgl. Heimbach, Entwicklung, 2001.
Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
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ons- und islambezogener Strukturen und missionstheologischer Diskurse im Spannungsfeld zwischen dem Deutschen Evangelischen Missionsrat (DEMR), dem Kirchlichen Außenamt der EKD und pietistischen sowie freikirchlichen Missionsinitiativen im Umfeld der Evangelischen Allianz, lassen sich die Entwicklungen in drei Phasen zusammenfassen. 1. Die Entwicklung im Zusammenhang a) Erste Phase: Bemühungen im Kontext der Bildungsmigration der 1950er und 1960er Jahre Die erste Phase umfasst die 1950er und 1960er Jahre und ist gekennzeichnet durch (1) den Beginn der Aktivitäten der Ahmadiyya-Missionare 1949, (2) eine Verstärkung der Bildungsmigration, die ab dem Studienjahr 1954/55 besonders viele Studenten aus dem Nahen Osten und Nordafrika an die westdeutschen Universitäten brachte und damit verbunden (3) die 1957 erfolgte Gründung der KfA im Spannungsfeld zwischen DEMR und KA sowie (4) die Entstehung sogenannter internationaler Arbeitsbereiche (anfänglich Ausländerarbeit) in den ESG und der SMD. Unmittelbarer Auslöser für die Entstehung der KfA war der Aufruf des DEMR Ausländer in Deutschland (1956), der im Unterschied zum kurz zuvor erschienenen Memorandum der Evangelischen Akademie Bad Boll, Zwölf Punkte zur Frage der Ausländer in Deutschland (1956), besonderes Augenmerk auf die nichtchristlichen Studierenden und die spezifisch religiöse Aufgabe der Kirchen und Missionen legte. Obwohl Muslime die Mehrheit der nichtchristlichen Bildungsmigranten darstellten, wurden sie nicht als eigene Gruppe hervorgehoben, man sprach vielmehr allgemein von den afroasiatischen Studenten. Das Zurückstellen religiöser Differenzen angesichts politischer und gemeinsamer menschlicher Fragen war ein allgemeines Wahrnehmungsmerkmal dieser Phase, auch weit über den kirchlichen Bereich hinaus. Es zeigt sich auch in der ersten Handreichung der KfA, Neun Punkte zur Begegnung mit Ausländern in Deutschland (1958) und nahm das Selbstverständnis des postkolonialen politischen Aufbruchs asiatischer und afrikanischer Staaten auf, wie es in Bandung 1955 deutlich wurde. Auch in der pietistisch geprägten Ausländerarbeit der SMD zeigte sich diese Tendenz in der Bezeichnung der jährlichen großen Tagungen für außereuropäische Studierende als internationale Studententreffen (IST), eine Bezeichnung, die religiöse und kulturelle Klassifizierungen vermied und eine Perspektive der interkulturellen Augenhöhe zum Ausdruck zu brachte. Missionstheologisch lag diesen Wahrnehmungen und Deutungen der religiös Anderen die christozentrische Religionskritik der dialektischen Offenbarungstheologie und des Pietismus zugrunde, sowie das missionarische Anliegen, weniger die Unterscheidung zwischen Religionen als die Begegnung zwischen Menschen zu betonen. Während die afroasiatische Bildungsmigration insgesamt als missionarische Herausforderung wahrgenommen wurde, trug erst die parallele Auseinanderset-
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Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
zung mit den (ihrem Selbstverständnis nach) muslimischen AhmadiyyaMissionaren zu einer Fokussierung der christlichen Wahrnehmung auf die Muslime in Deutschland bei. 1959 verband der Neuendettelsauer Missionswissenschaftler Georg Vicedom beide Wahrnehmungen in dem neu formulierten Konzept einer muslimischen Migration. Diese missionarische Wahrnehmung einer muslimischen Migration im Rahmen der Bildungsmigration wurde durch die 1961 einsetzende türkische Arbeitsmigration verstärkt und schlug sich 1963 in der Gründung des Orientdienstes nieder, dessen Arbeit sich ganz auf die Orientalen und Muslime in Deutschland ausrichtete.13 b) Zweite Phase: Bemühungen im Kontext der Arbeitsmigration: 1961 bis 1973 Im Mittelpunkt der zweiten Phase der missionarischen Begegnung stand die Gründung und Entwicklung der freien Arbeitsgemeinschaft Orientdienst (OD) als erster gesamtprotestantischer Islamarbeit. Die Entstehung und Entwicklung des OD ist Ausdruck komplexer missionarischer, kirchlicher und theologischer Entwicklungen, die Mitte der 1950er Jahre im Kontext der Bildungsmigration begannen und Mitte der 1970er Jahre mit der sich abzeichnenden Auflösung des DEMR, dem Anwerbestopp für Gastarbeiter (1973), einer Reihe neuer kirchlicher Islaminitiativen (ab 1973) und der Neukonstituierung des OD als eigenes Missionswerk eine Zäsur fanden bzw. in eine neue Phase übergingen. Wesentlich für die Kontinuität der Entwicklungen war die konstante Initiative des DEMT/R, dessen Impulse zunächst wesentlich zur Entstehung der KfA 1957 beitrugen. Während die KfA sich im Lauf der Zeit eher kritisch zur missionarischen Islambegegnung positionierte, bemühte sich der DEMR darum, neue Wege missionarischer Begegnung mit muslimischen Migranten zu fördern. Nach dem Tod von Walter Freytag (1958) und Jan Hermelink (1961) spielte Martin Pörksen als zweiter Vorsitzender und Hanseatischer Missionsdirektor dafür eine wesentliche Rolle. Er förderte die Entstehung Ökumenischer Studentenwohnheime und brachte die Handreichung Jesus in der Bibel und im Koran (1961) heraus. Das Anliegen des DEMT/R traf sich mit der Initiative des ehemaligen Islammissionars und Auslandspfarrers Willi Höpfner und führte im Dezember 1963 zur Gründung der freien Arbeitsgemeinschaft Orientdienst in Wiesbaden. Eine weitere Linie, die sich mit dem Orientdienst verband, war die Verbindung zu Missionswerken im Umfeld der Evangelischen Allianz, die nicht zum DEMT gehörten. 1961 regte die Evangelische Allianz einen Südländerdienst im Rahmen der MSOE an, der auch den weiteren Kontext für die Arbeit des türkischsprachigen griechisch-amerikanischen Missionars Thomas Cosmades ab Mitte der 1960er Jahre bildete. Auch der Evangelische Ausländerdienst (EAD) gehört in diesen Zusammenhang. Ein wesentliches Kooperationsprojekt zwischen OD, MSOE und EAD war die Erstellung und Verbreitung eines türkischsprachigen Kalenders. 13 Vgl. Höpfner, Umbruch, 1961, 14.
Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
447
Im Bereich der evangelischen Missionswissenschaft wurde die missionarische Islambegegnung in Deutschland vor allem durch Georg Vicedom (Neuendettelsau) und Walter Holsten (Mainz) reflektiert und gefördert, deren Beiträge die erste und zweite Phase verbinden. Wie bereits erwähnt gab Vicedom entscheidende erste Anstöße für die Wahrnehmung einer muslimischen Migration und formulierte erste Richtlinien für Ausländerarbeit im Kontext der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern,14 die von der SMD aufgegriffen wurden. Auch Walter Holstens Beitrag bildete einen roten Faden, der sich von der Islamkonferenz in Bethel 195915 über sein Mitwirken als Referent in der Internationalen Arbeit der SMD, an der KfA 1965 bis hin zu den Islamkursen des OD in Wiesbaden, Bad Boll und Kaub am Rhein zog und dabei unterschiedliche theologische Lager und Modelle miteinander verband. c) Dritte Phase: Neuansätze nach dem Anwerbestopp von 1973 Die dritte Phase konzentriert sich auf die Jahre zwischen 1973 bis 1979, die von dem wachsenden Bleibewillen der türkischen Gastarbeiter im Anschluss an den Anwerbestopp von 1973, dem Familiennachzug und der Entstehung dauerhafter Strukturen der Einwanderung gekennzeichnet waren. Die Phase ist einerseits geprägt von zunehmenden missionstheologischen, interreligiösen Kontroversen und damit verbundenen Neuansätzen kirchlicher Islamarbeit, andererseits von der Vertiefung kontextualisierter türkischsprachiger Missionsarbeit des OD sowie ersten Ansätzen inkulturierter Gemeinschaftsbildung in diesem Umfeld. Insgesamt zeigt sich eine deutliche Pluralisierung der Ansätze. Die Jahre 1973/1974 markieren eine Reihe von Neuansätzen kirchlicher und missionarischer Islambegegnung, die nicht nur die missionstheologische Diskussion, sondern auch die gesellschaftliche und weltpolitische Situation widerspiegeln: den 4. Israelisch-Arabischen Krieg, die weltweite Ölkrise im Oktober 1973 sowie den von der sozial-liberalen Regierung verfügten Anwerbestopp für türkische Arbeitsmigranten im November 1973. Die Weiterentwicklung des diakonischen zum gesellschaftspolitisch orientierten Ansatz der Islambegegnung wurde in der Neukonstituierung des AKDAA im Kirchlichen Außenamt (Jürgen Micksch) und in der ersten Islam-Handreichung der EKD, Moslems in der Bundesrepublik (1974) deutlich. Der christlich-islamische Dialog fand strukturellen Ausdruck in der Zusammenarbeit von Michael Mildenberger und M .S. Abdullah im EZW und der daraus resultierenden Islam-Handreichung Moslems unter uns (1974). Neben diesen Initiativen im Bereich der EKD nahmen 1973 zwei weitere Islamstellen die Arbeit auf: die Ökumenische Kontaktstelle für Nichtchristen (ÖKNI) als erste katholische Islamstelle in Köln, die 1978 zur Gründung der CIBEDO führte, sowie die Islamarbeit der VEM (Gerhard Jasper) in Zusammen-
14 Siehe III.A.5. 15 Siehe II.C.4.
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Schluss: Missionarische Begegnung als transkultureller Prozess
arbeit mit der Rheinischen und Westfälischen Kirche, die schließlich zum ersten Islamreferat dieser Landeskirchen führte. Auch der OD selbst durchlief zu diesem Zeitpunkt eine Phase der Neustrukturierung, die 1975 zur Neugründung als e.V. führte, in deren Ergebnis der OD seinen Schwerpunkt als missionarische Begegnungsarbeit und seine Spezialisierung auf den türkischsprachigen Migrationskontext ausbaute. Auch hier zeigte sich der Einfluss einer jüngeren Generation, die theologisch und strukturell neue Wege gehen wollte, offener war für globales Denken, eine kontextualisierte Begegnung und teamorientierte Arbeit in internationaler Gemeinschaft. Hier zeigten sich die Perspektiven, die auch das Denken des Lausanner Kongresses für Weltevangelisation 1974 geprägt hatten. Diese Pluralisierung der Ansätze und Initiativen führte zwar zu Spannungen und gelegentlicher Polemik, nicht jedoch zu einem völligen Abbruch der Beziehungen untereinander. Willi Höpfner war sowohl an der EKD-Handreichung Moslems in der Bundesrepublik (1974), vor allem aber an der von Gerhard Jasper herausgegebenen DEMR-Handreichung Muslime – unsere Nachbarn (1977) beteiligt. 1978 kamen die Vertreter der verschiedenen Richtungen und Strukturen (unter ihnen Höpfner, Troeger, Micksch, Mildenberger, Jasper) auf der Salzburger Islamkonferenz der KEK zusammen – ohne sich jedoch auf eine gemeinsame missionstheologische Perspektive zur Islambegegnung einigen zu können. 2. Von der Makroebene zur Mesoebene Die gesellschaftlichen Veränderungen in den 1950er und 1960er Jahren waren tiefgreifend und umfassen nach Ulrich Herbert einen intensiven Lernprozess der Liberalisierung.16 Die religiösen Entwicklungen in diesem Zeitraum sind jedoch komplex. Zusammen mit den Liberalisierungs- und Säkularisierungsprozessen zeigen sich hier auch Strömungen religiöser Intensivierung, die zu einer verstärkten religiösen Pluralisierung in Deutschland beitrugen.17 Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Zuwanderung muslimischer Studenten und Arbeitsmigranten aus dem Nahen Osten und der Türkei, aber auch innerchristliche theologische Pluralisierungsprozesse, beispielsweise durch „die Neuausrichtung pietistischer und freikirchlicher Gruppen in der evangelikalen Bewegung seit Mitte der 60er Jahre“.18 Die missionarische Islamarbeit war mit diesen Entwicklungen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsebenen verwoben. Während die konkrete Begegnungspraxis zwischen missionarischen Christen und muslimischen Migranten sich meist auf der Mikroebene abspielte, entstanden auf der Mesoebene neue Strukturen wie der Orientdienst oder die Internationalen Studententreffen (IST) in der SMD. Die Wahrnehmung der missionarischen Herausforderung im DEMR und dem Kirchlichen Außenamt der EKD reichte bis in die Makroebene 16 Herbert, Liberalisierung, 2002, 7ff. 17 Vgl. Lehmann, Schlussdiskussion, 2007, 353–382; Jenkins, Godless Europe 2007, 116–120. 18 Vgl. Hermle, Gegenbewegung, 2008.
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hinein. Der DEMR beabsichtigte „eine Aktivierung und Erziehung des Ev. Deutschlands“ aufgrund der „Notwendigkeit einer Umstellung auf die rechte Gestaltung und Notwendigkeit von Kontakten zu Ausländern“.19 Auch der Vermittlungsentwurf von Walter Holsten mit seiner Betonung einer gesamtgesellschaftlichen, im Evangelium begründeten Gastfreundschaft, lag auf dieser Linie. 20 Die KfA bezog bald politische Stellen wie das Bundesministerium für Arbeit in die Beratungen ein. Auch die Interaktion zwischen DEMR, EKD und Auswärtigem Amt anlässlich der Missionsbeschwerde der türkischen Botschaft von 196521 macht eine Wahrnehmung auf Makroebene deutlich. Neben diesen gesellschaftlichen Ebenen spielte offensichtlich auch die transnationale Ebene sowohl in migrationsgeschichtlicher als auch missionsgeschichtlicher Hinsicht eine wichtige Rolle. Durch ihre transnationalen Strukturen, Verbindungen und Erfahrungen gehörten die im DEMR zusammengeschlossenen evangelischen Missionsgesellschaften sowie katholische Missionsorden wie die Weißen Väter, die im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika arbeiteten, zu den ersten, die die transnationalen Migrationsbewegungen aus diesen Regionen in religiöser Hinsicht wahrnahmen und als Anlass für die Reflexion und Praxis eines interreligiösen christlichen Zeugnisses gegenüber muslimischen Migranten in Deutschland verstanden. Neben die Lernprozesse der Liberalisierung traten somit auch Lernprozesse der religiösen Pluralisierung und der interreligiösen und interkulturellen Begegnung in der eigenen Gesellschaft, die begleitet wurden von intensiven missionstheologischen Reflexionsprozessen. Eine Folge der Liberalisierungs- und Pluralisierungsprozesse war jedoch, dass die Perspektiven einer missionstheologisch begründeten Islambegegnung, wie sie von Hermelink, Holsten und Höpfner noch in gesamtgesellschaftlicher Perspektive (Makroebene) formuliert worden waren, sich spätestens in den 1970er Jahren auf die Meso- und Mikroebene zurückzogen, während sich transnationale Bezüge der missionarischen Islamarbeit in Deutschland durch missionstheologische evangelikale Netzwerke wie die Lausanner Bewegung verstärkten.22 C. TRANSKULTURATION UND MISSIONSTHEOLOGIE 1. Postkoloniale Erneuerung der Missionstheologie Die missionstheologische Reflexion im Migrationskontext war Teil des transkulturellen Prozesses. Hier kam es zur Entwicklung neuer, lokaler Theologien der Nachbarschaft, die den globalen missionstheologischen Diskurs23 mit zeitlichen 19 20 21 22
KfA, Niederschrift, 14.3.1957; siehe III.A.2. Siehe VI.A.3. Siehe VI.A.1. Beispielsweise nahm E.Ö., ein türkischer Mitarbeiter des OD, als Vertreter türkischer evangelischer Christen am Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974 teil, vgl. Heusser, Biographische Angaben, 2010. Zur Lausanner Bewegung siehe II.E. 23 Siehe II.A. bis II.E.
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Verzögerungen widerspiegelten, diesen aber auch angesichts der lokalen Begegnungen und Prägungen oft überraschend kontextuell modifizierten. Entscheidend für den globaltheologischen Hintergrund waren der postkoloniale Umbruch und die Missionskritik nationaler Bewegungen in der Dritten Welt, die sich in der Selbstkritik westlicher Missionstheologie niederschlugen. Hans Jochen Margull beobachtete damals (1957), dass die „schärfste Kritik ... nicht von Afrikanern und Asiaten“, sondern „aus der Mission selbst [kam]. Unter ihrem Angriff brach, wenigstens in Deutschland, der Europäismus der Mission zusammen“.24 Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Erfahrung von Unrecht, Rassismus und Völkermord im NS-Regime.25 Diese Erfahrungen erforderten eine grundlegende Neuorientierung und führten zu transkulturellen Veränderungen der Missionstheologie im globalen Horizont. Dies betraf vor allem zwei Bereiche: (1) das Verhältnis des christlichen Glaubens und der Kirchen zur säkularen Gesellschaft und (2) das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen. Im Blick auf beide Themen verbanden sich die transkulturellen Neukonzeptionen mit affirmativen (intensivierenden) und relativierenden (extensivierenden)26 Tendenzen, wie die kontroverse Diskussion zwischen den heils- und verheißungsgeschichtlichen Modellen27 des im postkolonialen Kontext entwickelten missio Dei-Konzepts zeigt.28 Beide Themen und Tendenzen verdichteten sich in der Diskussion zur missionarischen Begegnung mit muslimischen Migranten in Deutschland und führten dort zu den in Kapitel VI beschriebenen Kontroversen bis hin zum missionstheologischen impasse von Salzburg 1978 (s. VI.C.5). Sowohl das verheißungsgeschichtliche als auch das heilsgeschichtliche Modell christlicher Mission griff die postkoloniale Kritik konstruktiv auf, allerdings auf unterschiedliche Weise. Johannes C. Hoekendijk, als Hauptvertreter des verheißungsgeschichtlichen Modells, sah eine gerechte, säkulare und international ausgerichtete Gesellschaft als Ziel postkolonialer Mission, wobei die spezifisch religiöse Frage in den Hintergrund rückte und der Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Humanität untergeordnet wurde. In der migrationsbezogenen Debatte in Deutschland standen Horst Symanowski, Hans Jochen Margull und die Evangelische Akademie Bad Boll diesen Perspektiven nahe (s.III.A. und III.B). Das heilsgeschichtliche Modell reagierte mit einer Vertiefung der spezifisch religiösen und geistlichen Perspektive auf die postkoloniale Kritik und die Erfahrungen des Krieges. Karl Hartenstein als prägender Vertreter unterstrich die postkoloniale Kritik an der westlichen Kultur, unterschied jedoch in Aufnahme der dialektischen Theologie zwischen (der zu kritisierenden) Religion / Kultur einerseits und der Offenbarung und dem Evangelium als Quelle missionarischer Er24 Margull, Als die Sterbenden, 1957. 25 Zur missionsgeschichtlichen Aufarbeitung vgl. Ustorf, Sailing, 2000; Hering, Missionswissenschaft in Hamburg, 1990. 26 Die von Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 39ff im Blick auf biographische religiöse Prozesse verwendeten Begriffe der Intensivierung und Extensivierung werden hier auf missionstheologische Prozesse übertragen. 27 Vgl. Sundermeier, Theologie, 1987, 474–478, siehe II.C.1. 28 Zur neueren Diskussion des missio Dei-Konzepts vgl. Flett, Witness, 2010.
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neuerung und Kritik andererseits. Im Unterschied zu Hoekendijk sah Hartenstein die kirchliche Teilnahme an der missio Dei nicht in gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozessen der Säkularisierung und Solidarität verwirklicht, sondern im leidensbereiten (passio) christozentrischen Zeugnis (missio) von der geistlichen Wirklichkeit des noch unsichtbaren Reiches Gottes29 und in der Sammlung der christlichen communio – auch im interreligiösen Zusammenhang. Bald verband sich mit der Kontroverse auch die Frage nach dem christlichen Absolutheitsanspruch im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen.30 Auch hier zeigten sich die Tendenzen der Intensivierung (der christlichen Identität) und der Extensivierung (der Öffnung zu den nichtchristlichen Religionen). Die verheißungsgeschichtliche Richtung plädierte für eine Öffnung hin zu den nichtchristlichen Religionen und eine Relativierung des christlichen Absolutheitsanpruchs als Voraussetzung für das friedliche interreligiöse Zusammenleben und Zeugnis. In der internationalen islambezogenen Debatte waren die Perspektiven William Cantwell Smiths prägend.31 In der migrationsbezogenen Diskussion in Deutschland setzte Hans Jochen Margull bereits in den 1950er Jahren erste Akzente in diese Richtung und trug in den 1970er Jahren verstärkt zu kirchlichen Neuansätzen dialogischer Religionsbegegnung bei. Dem stand eine affirmierende Denkrichtung gegenüber, wie sie sich im internationalen Kontext in den 1970er Jahren in der kontextuellen Missiologie der Lausanner Bewegung und dem Ansatz der Transkulturation bei Charles H. Kraft zeigte.32 Hier unterschied man stärker zwischen der notwendigen westlich-christlichen Selbstkritik und Horizonterweiterung einerseits und der theologischen Affirmation der transkulturellen33 Übersetzbarkeit des biblisch bezeugten Evangeliums von Jesus Christus andererseits. Die Ermöglichung friedlichen interreligiösen Zusammenlebens in einer globalen Gesellschaft sah man nicht an die Relativierung religiöser Wahrheitsansprüche geknüpft, sondern an die Praxis der Nächstenliebe in Demut, Höflichkeit, Respekt und Selbstkritik, die man im Evangelium begründet sah. Bezeichnend für diese Haltung war bereits Hendrik Kraemers frühere Formulierung einer „bold humility“34 im interreligiösen Zeugnis. In der missionstheologischen Diskussion der muslimischen Migration kamen beide Fragen, die gesellschaftsbezogene und die religionsbezogene, zusammen. Auf dem Hintergrund der globalen Diskussion entfalteten sich im lokalen Kontext kreative Neuansätze einer Theologie der Nachbarschaft, die im Folgenden zusammenfassend gedeutet werden. 29 Zu Hartenstein siehe II.B.4.a). 30 Vgl. Hermelinks Grundsatzreferat auf der 2. KfA 1957 siehe III.A.3. Zur Geschichte der Frage und Diskussion vgl. Bernhardt, Absolutheitsanspruch, 1993; Helfenstein, Grundlagen, 1998, 80ff.. 31 Siehe II.D.1. 32 Siehe II.E.2. und 3. 33 Vgl. den entsprechenden Begriff bei Kraft, Christianity, 1979, 280: „Transculturation is the task of the Spirit-led communicator of the message.“ Transkulturation wird hier eher im Sinne von Inkulturation und Kontextualisierung verstanden. 34 Bosch, Transforming, 1991, 489 nach Kraemer, Botschaft, 1940, 117. Siehe II. B. 3.
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2. Theologien der Gastfreundschaft und Nachbarschaft a) Horizonterweiterung (Margull) Es ist wenig überraschend, dass im studentischen Umfeld der ESG Hoekendijks progressive, gesellschaftsorientierte Theologie am stärksten aufgegriffen wurde.35 Im Kontext der konkreten Begegnungen mit afroasiatischen Studierenden in den ESG erweiterte Hans Jochen Margull das vorwiegend auf säkulare Gesellschaften bezogene Hoekendijksche Modell in die interreligiöse Richtung und beschrieb die missionarische Begegnung mit Bildungsmigranten als kontinuierliche interkulturelle und interreligiöse Horizonterweiterung:36 „wenn wir mit den Menschen aus Asien und Afrika … zusammen sind und Gott durch sie hindurch, wissend oder unwissend bittet, herüberzukommen“.37 Dieses missionarische „Herüberkommen“ verstand Margull nicht im Sinne traditioneller Verkündigung und Einladung zur christlichen Bekehrung, sondern als radikale christliche und westliche Selbstkritik und reziproke Lernbereitschaft in Richtung einer globalen Zukunft, die er im Horizont einer verheißungsgeschichtlichen, religionstheologisch inklusiven Interpretation der missio Dei entwarf: weil Gott längst auch bei den nichtchristlichen Studierenden aus Asien und Afrika anwesend sei und die „Geschichte in der großen Herrschaft Gottes in Jesus Christus, in Kreuz und Auferstehung abgeschlossen“38 werde. In der postkolonialen missionarischen Begegnung stand für Margull der gekreuzigte Christus im Mittelpunkt, der als leidender Gottesknecht auch die Erfahrungen des Scheiterns, Zweifelns und der Ungewissheit trägt und aushalten hilft und dadurch neue Räume für christliche (und deutsche) Selbstkritik und die lernbereite christliche Begegnung mit anderen religiösen und kulturellen Perspektiven eröffnet. Auch wenn diese Sicht teilweise mit einer einseitigen Missionskritik verbunden war (z.B. durch die pauschale Ablehnung einer „Bekehrungsintention“),39 wurden hierdurch wesentliche erweiterte Perspektiven eröffnet.40
35 36 37 38 39
Vgl. Lehtonen, Ecumenical Student Movement, 1998, 23ff. Siehen oben III.B.1. Margull, Als die Sterbenden, 1957. Ebd. Siehe III.B.1. Demgegenüber verstand Hans-Werner Gensichen, Glaube, 1971, 114 die „Bekehrung als ‚intentionales‘ Ziel der Mission“: sie sei ein „eminent positiver Vorgang …, denn sie bedeutet den ‚Durchbruch nicht nur des neuen Willens als Entscheidungstat, sondern des neuen Lebens, das als Geschenk, als schöpferische Tat des Herrn empfangen wird, von dem man sich gerufen weiß‘“. 40 In ähnlicher Perspektive rief Hannah Arendt 1968 zu einem „erweiterten Denken“ auf. Moralisches Urteilen könne „in strikter Isolation oder Einsamkeit nicht funktionieren. Es bedarf der Gegenwart anderer, ‚an derer Statt‘ es denken muss, deren Perspektive es in Betracht ziehen muss.“, zit. bei Volf, Umarmung, 2012, 282, vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 448.
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b) Verstehen und Bezeugen (Hermelink) Jan Hermelink, der den DEMR in der KfA repräsentierte und seine Perspektiven 1957 dort in einem Grundsatzreferat darlegte,41 hatte seinen Ausgangspunkt eher im heilsgeschichtlichen Modell, entwickelte dies jedoch angesichts der missionarischen Begegnung im Kontext der Bildungsmigration weiter zu einem missionstheologischen Gesamtkonzept, das Verstehen und Bezeugen zusammen zu halten versuchte. Dabei integrierte Hermelink wesentliche Elemente des verheißungsgeschichtlichen Modells wie das Konzept der sozialen und gesellschaftlichen Partizipation der christlichen koinonia. Auch das Anliegen der interreligiösen Offenheit teilte er mit seinem Freund Margull und vertiefte und erweiterte es in Richtung eines interreligiösen Verständnisses, das missionarische Intentionen (inklusive der Bekehrung) nicht aus-, sondern einschloss. In diesem Sinn legte Hermelink den Schwerpunkt auf das dialogische und christozentrische „Wesen missionarischer Verkündigung“, die er als Kern der „Verantwortung der Kirche und ihrer Glieder gegenüber den Gästen aus Asien und Afrika“ verstand.42 Deutlicher als Margull differenzierte Hermelink die Grundlagen einer christlichen interreligiösen Hermeneutik im postkolonialen Kontext, indem er zwischen grundlegenden theologischen Inhalten und Zielen der Mission und ihrer Verflochtenheit mit dem westlichen Kolonialismus und westlicher Kultur unterschied. So differenzierte er zwischen der Einzigartigkeit Jesu Christi (Evangelium) und der Absolutheit des Christentums (Religion und Kultur), zwischen geistlichen Wahrheitsüberzeugungen und kulturellen Überlegenheitsansprüchen sowie zwischen kontextuell flexiblen christozentrischen Gemeinschaften und „stammesreligiösen“ kirchlichen Strukturen und Traditionen.43 Auch im Blick auf die Frage der Bekehrung und Konversion zeigt sich bei Hermelink eine Annäherung zwischen den beiden Modellen. Sensibel für die postkoloniale Kritik an christlicher Mission als westlich-kolonialer Bekehrungsstrategie, umgeht er den Begriff, beschreibt aber die Sache als eigenständige, für die Mission unverfügbare Antwort des Anderen, lehnte die Bekehrung aber als Hoffnung und Ziel der Mission ebenso wenig ab wie eine christozentrische Gemeindebildung. Den integrierenden Kern missionarischer Bemühungen im Migrationskontext sah Hermelink in kerygma und koinonia: Mission wolle „Jesus verkündigen und Gemeinschaft anschaulich und erlebbar darstellen, in welcher der Herr gegenwärtig ist.“44
41 42 43 44
Siehe III.A.3. Hermelink, Verantwortung, 1957, 1, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 369–371. Hermelink, Verantwortung, 1957, 3. Ebd.
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c) Mitmenschlichkeit und Präsenz (KfA) In der KfA-Handreichung Neun Punkte für die Begegnung mit Ausländern in Deutschland [1958]45 blieben Einflüsse des verheißungsgeschichtlichen Modells vorherrschend. Das traditionelle Missionsverständnis wurde als Klischee präsentiert und in Frage gestellt: „Sollen wir als Christen heidnische Ausländer bekehren?“46 Zwar wurde mit Recht gemahnt, die gesellschaftliche Aufgabe der Betreuung und Begegnung mit Bildungsmigranten nicht mit Mission gleichzusetzen, doch angesichts der differenzierten Bekräftigung des missionarischen Auftrags der Kirche durch Hermelink auf der 2. KfA, blieben die Ausführungen überraschend einseitig und klischeehaft: die Tatsache der Migration heiße „noch lange nicht, daß es Gottes Wille ist, daß wir bei jeder Begegnung mit einem Ausländer den Versuch machen sollen, ihn zu bekehren.“47 Immerhin wurde festgehalten, dass „wir sehr behutsam prüfen müssen, wann und wo wir den Auftrag haben, einem andersgläubigen Ausländer den Gott und Vater Jesu Christi zu bezeugen“.48 In einer zweiten, revidierten Auflage der Neun Punkte wurde der christliche Zeugnisauftrag etwas deutlicher akzentuiert (s. III.A.5). Eine Stärke der Handreichung war die Wahrnehmung der sozialen Dimension des christlichen Zeugnisauftrags auf dem Hintergrund des präsenztheologischen Ansatzes Horst Symanowskis und der Evangelischen Akademie Bad Boll. In diesem Sinn setzten sich hier und in der weiteren Entwicklung der KfA die wichtigen Gedanken der Mitmenschlichkeit, der diakonischen Präsenz und der gesellschaftlichen Verantwortung durch. Auch wenn dies eine Reduktion des von Hermelink beschriebenen christozentrischen ganzheitlichen Missionsverständnisses darstellte, bot diese Perspektive ein kritisches Gegenüber für verkündigungsorientierte missionarische Ansätze und enthielt die berechtigte Mahnung, die komplexen gesellschaftlichen Fragen im Zusammenhang der Bildungs- und Arbeitsmigration nicht auf religiöse und missionarische Aufgaben zu reduzieren. Das Anliegen, mit den Neun Punkten ein deutliches Signal „gegen alle Arten von Taktlosigkeiten ... und herablassendem Denken“49 zu setzten, wurde – bei allen missionstheologischen Unterschieden – jedoch von allen Teilnehmern der KfA geteilt. d) Christozentrische internationale Gemeinschaft (SMD) Die missionarische Ausländerarbeit der SMD war grundlegend vom Pietismus und dem Einfluss der Glaubensmissionen sowie vom Aufbruch der internationalen evangelikalen Studentenbewegung nach 1945 geprägt.50 Dies führte zu einer starken geistlichen Motivation und dem Anliegen, die eigene Glaubenserfahrung 45 46 47 48 49 50
Siehe III.A.4. KfA, Neun Punkte, 1. Aufl. 1958, 224. Ebd. Ebd. 227–228. Siehe III.A.4.a). Siehe III.C.
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in der Begegnung mit Bildungsmigranten zu teilen, verbunden mit einer selbstkritischen, globalen Wahrnehmung der eigenen kulturellen und kirchlich-traditionellen Prägung. Der anfänglichen, und auch später gelegentlich sichtbaren Tendenz einer euphorischen Verengung auf ein übergeistliches, theologisch und interreligiös wenig reflektiertes Konversionsmodell51 wurde durch vertiefte missionstheologische Reflexionen im Rahmen des Arbeitskreises für Weltmission (AfW) in den 1960er Jahren entgegen gewirkt.52 Impulse aus der größeren missionstheologischen Diskussion, sowohl des heilsgeschichtlichen als auch des verheißungsgeschichtlichen Modells, wurden kritisch rezipiert. Die Wertschätzung lutherischer missionstheologischer Ansätze bei Martin Pörksen, Walter Holsten und Georg Vicedom verband sich mit den typischen Merkmalen der pietistisch-glaubensmissionarischen Prägung: der Betonung der Bibel, der Bekehrung als persönlicher Glaubenserfahrung, der Distanz zu politischen Allianzen und dem Engagement von Laien (Nichttheologen).53 Während Hartensteins heilsgeschichtliches Modell der missio Dei in der SMD grundlegend blieb, wurde es im Zuge der Ausländerarbeit (und auch in Aufnahme der vermittelnden Impulse Vicedoms)54 um Elemente des verheißungsgeschichtlichen Konzepts erweitert: vor allem der Gedanke des ganzheitlichen sozialen Engagements (Dienst) für und mit ausländischen Kommilitonen wurde betont. Dies fand Ausdruck in einer unmittelbaren Anwendung des missio Dei-Begriffs: „Weil Gott selbst Ausländerarbeit treibt, wollen wir im Vertrauen auf seine Verheißungen … Frucht erwarten.“55 Im Zentrum stand die Glaubenserwartung, dass das Evangelium von Christus gerade angesichts globaler postkolonialer Umbrüche transkulturelle Gültigkeit und Bedeutung hat. Man sah die Bildungsmigration als Gelegenheit, afroasiatischen Studierenden nicht eurozentrische Perspektiven oder kirchliche Prägungen, sondern christozentrische Gemeinschaft und die Einladung, „unter die Herrschaft Christi [zu] kommen“56 auf interkultureller Augenhöhe zu vermitteln. Insgesamt beschreibt Hermelinks Kernsatz „Jesus verkündigen und Gemeinschaft anschaulich und erlebbar darstellen, in welcher der Herr gegenwärtig ist“,57 auch die Praxis der SMD in den 1960er Jahren recht gut. Allerdings waren Hermelinks interreligiöse Perspektiven in der SMD – mit wichtigen Ausnahmen58 – weniger ausgeprägt. Radikaler als bei Hermelink wurden in der missionarischen Perspektive der SMD traditionelle kirchliche Strukturen dekontextualisiert, zugunsten einer schlichten „Zellbildung christlichen Lebens“59. Hier setzte die SMD die verheißungsgeschichtlichen Perspektiven Hoekendijks in 51 52 53 54 55 56 57 58
Siehe III.C.1. Zur Missionstheologie der SMD siehe III.C.5. Vgl. Fiedler, Glaubensmissionen, 1987. Siehe II.C.1. AfW, [Mitarbeiterbrief IST], Okt. 1963, SMD-Archiv, AfW II. AfW, IB 10, 1965, 1, siehe III.C.5. Hermelink, Verantwortung, 1957, 3, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 371. Vgl. die Lektüre von Korantexten als Vorbereitung auf das IST 1963 und das Seminar für Islammission 1966 in Zusammenarbeit mit dem OD, siehe III.C.3.c). 59 SMD/VBG, Vorbereitungsheft 1965, 6.
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struktureller Hinsicht und in der Praxis deutlicher um, als dies bei Hermelink sichtbar war.60 e) Christuszeugnis, Differenz und Empathie (Höpfner) Entscheidend für die weitere transkulturelle Veränderung der Missionstheologie im Migrationskontext war die in den 1960er Jahren durch die türkische Arbeitsmigration stark anwachsende Präsenz von Muslimen in Deutschland. In diesem Zusammenhang entstand die freie Arbeitsgemeinschaft Orientdienst, in der sich auch die missionstheologische Reflexion weiterentwickelte. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete Willi Höpfner durch seine pietistisch und dialektischtheologisch geprägte Theologie des Christuszeugnisses im islamischen Kontext.61 Höpfner stand dem heilsgeschichtlichen Modell nahe, ohne jedoch dessen extremere Diskontinuitätsthesen – wie die Postulierung einer grundsätzlichen Antichristlichkeit des Islam – zu teilen. Ebenso wenig übernahm er verheißungsgeschichtlich geprägte christianisierende (Jasper, Schoen) und säkularisierende (A. van Leeuwen) Sichtweisen zum Islam. Demgegenüber vertrat Höpfner eher differenztheologische und missionarisch-empathische Perspektiven des Islam im Anschluss an Zwemer, Enderlin, Kraemer und Kellerhals (siehe Kapitel II). Wie bei Hermelink vollzog sich Höpfners Denken zwischen den beiden Polen des Verstehens und Bezeugens. Auf der einen Seite stand Höpfners Bemühen um das Verständnis des Islam, vor allem der Muslime als religiöser Menschen. Dabei bemühte er sich, deren Selbstverständnis ernst zu nehmen. Missionstheologische Versuche, den Islam „zu sich her zu ziehen“62 sah er kritisch, tat dies aber gelegentlich auf seine Weise trotzdem. Ausführlich widmete er sich dem Vergleich zwischen „Islam und Christentum“ (so der Titel der Buchreihe, die aus den Kauber Konferenzen hervorging). Im Blick auf den strukturellen religiösen Wahrheitsbegriff sah Höpfner sich gelegentlich näher bei den Muslimen als bei der liberalen Dialogtheologie, die er in Anführungsstriche setzte, da der „Dialog“ für ihn immer eine universale missionarische Wahrheitsperspektive einschloss. So nahm Höpfner auch das Wahrheitsverständnis und missionarische Anliegen der Muslime ernst und respektierte es: „Wir werden uns dieses selbstbewußte Zeugnis und seinen drängerischen Appell anhören … Es müßte sich gerade jetzt an unserer Haltung erweisen, wes Geistes Kind wir sind und daß unser Gott nicht ein Gott der Rechthaberei ist, … sondern in Langmut, Liebe und Selbstentäußerung um unser Herz wirbt.“63 60 Hoekendijk beschrieb die Rolle christlicher missionarischer Gemeinschaft mit Verweis auf Zinzendorf, Francke und Wesley als „creative minority“, als Katalysator des Evangeliums in der Gesellschaft, der sich vor der Umklammerung durch die offiziellen Kirchen hüten müsse, zit. bei Lethonen, Ecumenical Student Movement 1998, 25. 61 Ausführlich zu Höpfners Missionstheologie, siehe V.B.5; V.C.5. und V.D.2. 62 Schoen, Wir beide, 1977, 22. 63 Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 5. In der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit islamischer Mission in Deutschland hat Henning Wrogemann gezeigt, dass zwischen religiös-
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Dem stellte er ebenso offen das Zeugnis des Evangeliums und die Einladung zum christlichen Glauben entgegen. In diesem „verbindlichen Christuszeugnis“, auch im Kontext von Diakonie und Dialog, lag die Mitte von Höpfners missionarischem Verständnis gegenüber Muslimen. Wie ein roter Faden durchzieht die Wahrnehmung menschlicher Verlorenheit in Existenz und Gewissen und der Zuspruch und die Glaubenserfahrung der Versöhnung und Vergebung durch Christus Höpfners Missionstheologie. Diese Sicht war für ihn transkulturell gültig, vom spätkolonialen über das revolutionäre Ägypten der 1930er und 1950er Jahre bis in den Migrationskontext in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren. Hier rechnete Höpfner – ähnlich wie sein Mentor Jakob Enderlin – im Sinne eines sympathetic approach christlicher Islambegegnung64 mit der interreligiösen Kontinuität geistlicher Sehnsucht.65 Auf diesem Hintergrund bildete die islamische Ablehnung des Kreuzes eine ständige Herausforderung und einen Schwerpunkt in Höpfners Erkundungen in der arabischen Literatur66 und im Gespräch mit muslimischen Gelehrten. Hier fand er keine Brücke der Kontinuität, sondern betonte das Wirken des Heiligen Geistes im Geschenk einer geistlichen Wiedergeburt und der unmöglichen Möglichkeit der Annahme des christlichen Glaubens durch Muslime. Angesichts der Komplexität der sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen durch die wachsende muslimische Migrationsbevölkerung in Deutschland war Höpfners evangelistisch zentrierter Ansatz jedoch ergänzungs- und diskussionsbedürftig, wie bereits die kritischen Auseinandersetzungen mit den Schwerpunktsetzungen im Bereich diakonischer und interreligiöser Begegnung in der KfA gezeigt hatten. f) Kerygma und Gastfreundschaft (Holsten) Eine Ergänzung bot in dieser Hinsicht der Ansatz des Mainzer Missions- und Religionswissenschaftlers Walter Holsten, der zwischen dem sozialdiakonischen Ansatz der KfA und dem missionarischen Ansatz des OD vermittelte und versuchte, beides in ein gesellschaftsbezogenes Konzept evangelischer Gastfreundschaft missionarischen und politisch-militanten Modellen islamischer da‘wa unterschieden werden muss, die Grenzen aber fließend sein können, vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 365–375, dort vor allem das revolutionäre-prozedurale Modell, ebd. 369–371. Vgl. Wrogemann, Aufruf, 2012, 238, C. Schirrmacher, Islam in Europa 2008; Diess., Mission im Namen des Islam, 2010. 64 Siehe II.A.5.b) (Enderlin) sowie V.B.5. (Höpfner). 65 Höpfner betonte, dass man nicht „die Anerkennung der einen oder anderen Religion“ suche: „das Evangelium gilt beiden, den Moslems und den Christen, zur Bewältigung ihrer persönlichen Nöte und Lebensfragen, in der Verherrlichung des dreieinigen Gottes.“Höpfner, Jahresbericht 1969/1970, in: NEMO 3/1970, 34–41: 41. 66 Höpfners verstreute Studien zum Jesusbild des Islam in der arabischen Literatur (siehe V.B.5. und C.5.) können als Vorläufer zu Olaf Schumanns großer Studie zum Christusbild des zeitgenössischen Islam verstanden werden. Vgl. Schumann, Christus, 1975.
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gegenüber den muslimischen Gästen zu integrieren.67 Als Quelle dieser Gastfreundschaft, auch in ihrer säkularisierten Form, sah Holsten das christliche Kerygma, die „Botschaft von dem entscheidenden und zur Entscheidung rufenden Handeln Gottes in Christus“.68 In der Annahme dieser Botschaft werde das eschatologische Heil gegenwärtige Lebensmöglichkeit. Hier sah Holsten auch die Quelle geistlicher Erneuerung für die Kirche, die er in einer ständigen Gefahr der „inneren Islamisierung“69 sah – womit er Tendenzen einer Ausrichtung auf die Immanenz der äußeren Strukturen und ethischen Forderungen meinte. Die kerygmatische Erneuerung war für Holsten zugleich Voraussetzung und Herausforderung zur missionarisch-gesellschaftlichen Verantwortung in einer gastfreundlichen Begegnung mit muslimischen Migranten. Diese sah er im Horizont der freiheitlich-sozialen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik, die er als historische Auswirkung des kerygma verstand und damit als Teil der Begründung für die gegenwärtige missionarische Begegnung. Das Zusammenspiel missionarischer und gesellschaftlicher Verantwortung angesichts der muslimischen Migranten interpretiert Holsten in drei konzentrischen Kreisen. (1) Als äußeren Kreis betont er die erwähnte historische und sachliche Bedeutung des kerygma für gesellschaftliche, institutionelle Formen der Nächstenliebe: „one must be careful that the spring … does not become stopped up.“70 (2) Im nächsten Kreis sieht Holsten die Erneuerung und den Auftrag der Kirche. Es gehe in der christlichen Gastfreundschaft gegenüber muslimischen Migranten nicht um eine Begegnung von politischen Systemen, sondern um „eine Gemeinschaft von Menschen, für die die Kirche – im Angesicht und Auftrag ihres Herrn – sich einzusetzen und denen sie die Liebe Gottes in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, zu verkündigen und zu erweisen hat“.71 Im Zentrum evangelischer Gastfreundschaft steht deshalb (3) die dialogische Weitergabe des Evangeliums als „the Alpha and Omega of the Church’s task, even among Muslims“.72 Die muslimischen Migrantinnen und Migranten seien Menschen „for whom Jesus Christ died“.73 Wesentlich blieb für Holsten, dass das Evangelium eine Botschaft der Befreiung blieb und nicht mit einem gesetzlichen Druck zur Bekehrung verbunden wurde. Es gehe nicht um „Erfolge“, sondern darum, den „Menschen“ in Liebe zu begegnen: „Menschen zu gewinnen“ sei Christi Sache, „der Christen Sache ist es Zeugen zu sein“.74 67 68 69 70 71
Siehe VI.A.3. Holsten, Kerygma und Mensch, 1953, 43. Holsten, Begegnung, 1960, 3–4. Holsten, Muslim Presence, 1966, 449. Holsten, Begegnung, 1960, 3–4. Mit dieser Betonung bekräftigte und relativierte Holsten seine frühere Kritik der Kirche als soziologische Größe zugunsten ihres eschatologischen Charakters, vgl. Holsten, Kerygma, 1953, 172; Balz, Anfang, 2010, 314. 72 Holsten, Muslim Presence, 1966, 449. 73 Holsten, Begegnung, 1960, 3–4. 74 Ebd. 7. Seine frühere Kritik interreligiöser Diskussionen präzisierte und relativierte Holsten angesichts der neuen Situation zu einem Verständnis des Dialogs als ein „Gespräch, das sich aus der Rückhaltlosigkeit ergibt, die Martin Buber so eindrücklich beschrieben hat“. Holsten, Muslim Presence, 1966, 453, übers. FW, siehe VI.A.3.
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g) Gesellschaftspolitik, Dialog und missionarische Selbstzensur Mit anderen Begründungen und Schwerpunkten bemühte sich auch die Frankfurter Erklärung (1970) den geistlichen Verkündigungsauftrag als Kern der missionarischen Begegnung festzuhalten. Dabei standen jedoch die Wahrnehmung der Krise, das Ausrufen eines status confessionis und drängerische Töne im Blick auf das Thema der Bekehrung im Vordergrund. Der OD hielt eine gewisse Distanz, suchte Brücken zu bauen, konzentrierte sich auf die konkrete Begegnungsarbeit und orientierte sich ab Mitte der 1970er Jahre eher an den anthropologisch-kontextuell orientierten Impulsen evangelikaler Missionstheologie, wie sie in der Lausanner Verpflichtung (1974) zum Ausdruck kamen. Der Anspruch einer gesamtkirchlichen Islamarbeit im OD trat in diesen Jahren langsam zurück. Auch wenn Höpfner den neuen Ansätzen evangelikaler kontextueller Mission abwartend gegenüberstand, war er insgesamt für die neuen Impulse offen, die in ihrer Lausanner Ausprägung die heilsgeschichtliche Ausrichtung unter Aufnahme sozialer und dialogischer Aspekte des verheißungsgeschichtlichen Modells sowie die glaubensmissionarische Tradition miteinander verbanden. Andererseits setzte Höpfner die vom 2. Vatikanischen Konzil (1965) und der ÖRK-Vollversammlung in Uppsala 1968 ausgehenden christlich-muslimischen Dialogbemühungen meist zu einseitig mit einer theologischen Relativierung der Wahrheitsfrage oder einer kontroversen interreligiösen Debatte gleich. Hier unterschätzte er die Bedeutung eines interreligiösen Dialogs auf theologischer, sozialer und gesellschaftlicher Ebene, der nicht mit dem unmittelbaren Ziel der Mission verbunden war, sondern das gegenseitige Verständnis und Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft im Blick hatte. Mit den Beiträgen von Jürgen Micksch, Paul Löffler, Michael Mildenberger, Gerhard Jasper und Werner Wanzura setzte sich die transkulturelle Entwicklung der Theologien der Nachbarschaft in den 1970er Jahren in dieser Richtung fort.75 Hier wurden gesellschaftspolitische und interreligiöse Zusammenhänge der Migration aufgegriffen und theologisch diskutiert. Jürgen Micksch brachte ab 1972 sozial- und entwicklungspolitische Perspektiven in die bis dahin von den Konzepten der Diakonie und christlichen Präsenz geprägte Linie der KfA ein. Dabei rückten spezifisch religiöse Fragen zunächst so weit in den Hintergrund, dass der Begriff des Dialogs sich in der Handreichung Moslems in der Bundesrepublik (1974) nicht findet.76 Dagegen stellten Mildenberger und Abdullah mit Moslems unter uns (1974) den interreligiösen Dialog in den Fokus, allerdings bei Abdullah verbunden mit der islamischen Forderung nach christlichem Missionsverzicht. Eine Verbindung der sozialpolitischen und dialogischen Ansätze erfolgte 1976 in der Gründung der Islamisch-Christlichen Arbeitsgruppe (ICA) durch Micksch, Mildenberger und Abdullah.77 Im Umfeld des DEMR versuchten Paul Löffler und Gerhard Jasper in Muslime – unsere Nachbarn (1977), der letzten Handreichung des sich auflösenden 75 Siehe VI.C.1. bis C.4. 76 Vgl. Görrig/Schindehütte, Geschwister, 2008, 394. 77 Vgl. Elsas, 30 Jahre, 2007.
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DEMR, alle drei Ansätze (Mission, Gesellschaftspolitik und Dialog) in einer an Kenneth A. Cragg anschließenden missionstheologischen Perspektive miteinander zu verbinden. Höpfner war mit zwei Kapiteln maßgeblich beteiligt. Wesentlich war hier, dass man das Gespräch nicht aufgab – auch als bei ersten Schritten zur Bildung einer Islam-in-Europa-Kommission auf der ersten Islamkonferenz der KEK in Salzburg 197878 der missionarisch-evangelistische Ansatz gegenüber gesellschaftspolitischen und dialogischen Modellen kaum noch Gehör fand und eine gemeinsame Aussage zur missionstheologischen Begegnung mit dem Islam und Muslimen nicht gefunden werden konnte. In der Sprachlosigkeit von Salzburg zeigten sich allerdings auch die Defizite der neueren kirchlichen Ansätze in ihrer Tendenz, die missionarische Begegnung mit muslimischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland und Europa auf gesellschaftspolitische und dialogische Aspekte zu reduzieren. Als besonders problematisch erwies sich die implizite kirchliche Selbstzensur angesichts islamischer Forderungen79 nach einem christlichen Missionsverzicht. Damit beschnitt man nicht nur die religiöse Vitalität der eigenen Glaubenstradition und verharmloste vorhandene harte Synthesen80 von Religion, Nationalität und Kultur in einigen Bereich der islamischen Diaspora, sondern unterschätzte auch die Bedeutung der missionarischen Begegnung religiöser Gesamtperspektiven (christlicher, islamischer und anderer) für eine Gesellschaft mit religiöser Vielfalt und Freiheit, die – wie Andreas Feldtkeller gezeigt hat – „dringend neue missionarische Impulse braucht“,81 da sie „nicht von selbst entsteht, sondern das Ergebnis von Mission ist, genauer gesagt, das Ergebnis vielfacher Mission, in der eine große Zahl von missionarischen Religionen ihre Lehren zugänglich machen“82 und damit religiöse Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen, die eine wesentliche Grundlage der Religionsfreiheit darstellen.83 3. Christozentrische interreligiöse Hermeneutik Insgesamt lässt sich in der migrationsbezogenen missionstheologischen Diskussion eine Entwicklung von eher paternalistisch ausgerichteten Konzepten christlichkultureller, einseitiger Gastfreundschaft hin zu hermeneutisch differenzierten Verständnissen gegenseitiger Gastfreundschaft, bzw. einer Begegnung zwischen Gästen feststellen, in der man die religiös und kulturell Anderen zunehmend auf Augenhöhe und als Nachbarn und Mitbürger wahrnahm und sich darum bemühte, das Evangelium von Jesus Christus mit ihnen zu teilen – nicht von der hohen Warte einer Absolutheit des Christentums herab, sondern im Bewusstsein, in global-empirischer und theologisch-eschatologischer Hinsicht selbst als Minderheit, 78 79 80 81 82 83
Siehe VI.C.5. Siehe VI.D. Feldtkeller, Pluralistische Religionstheologie, 1998, 459, siehe VI.D.4.b). Feldtkeller, Pluralismus – was nun?, 1999, 43ff. Feldtkeller, Religionsfreiheit, 2002, 272. Vgl. Feldtkeller, Religionsfreiheit, 2002, 273.
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als Gäste und Fremdlinge zu leben.84 1964 wandte sich Höpfner aus der Erfahrung langjährig selbst empfangener Gastfreundschaft in Ägypten an muslimische Migranten in Wiesbaden und formulierte stellvertretend: „Allzu lange sind wir Ihnen gegenüber kühl geblieben, haben wir die in Ihren Heimatländern so hochgeachtete Gastfreundschaft vernachlässigt …. Das soll jetzt anders werden.“85 Dieses Wissen um „das eigene ‚Fremdsein‘ in der Welt“86 veränderte den Blick auf die Anderen und eröffnete die „Möglichkeit, Andersheit und Fremdheit“ respektvoll wahrzunehmen und das Evangelium glaubwürdiger zu bezeugen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Wahrnehmung des Evangeliums als eines komplexen, aber konstanten Faktors87 im transkulturellen hermeneutischen Prozess, der in der Lage war, kulturell-religiöse Synthesen im Bereich primärer, ordnender Religiosität88 zu relativieren und neue, befreiende Perspektiven zu eröffnen. Ermöglicht wurde dies durch ein vorwiegend essentialistisches89 Verständnis des neutestamentlichen Evangeliums im Sinne eines offenbarungstheologischen Realismus: das Evangelium von Jesus Christus wurde als in partikularen geschichtlichen Ereignissen und den neutestamentlichen Zeugnissen zuverlässig erkennbares (wenn auch menschliches Begreifen übersteigende) und wirkliches und universales Heilshandeln Gottes verstanden, das durch die Kraft des Heiligen Geistes in der Gegenwart für jeden Menschen relevant werden kann. Am deutlichsten wird dies in Hendrik Kraemers Konzept eines biblischen Realismus,90 das sich vor allem (aber nicht nur) in den Sichtweisen von SMD und OD ausprägte. Diese realistische Grundsicht verband sich mit kritischen und konstruk-
84 Vgl. Hermelink, Verstehen, 1961, 142. 85 Höpfner zit. in: EKHN, Gastfreundschaft, 1964, siehe IV.C.4.a). Zum missionstheologischen Verständis der Begegnung zwischen Gästen vgl. auch das Konzept der Konvivenz bei Theo Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur 1986, 70 sowie das Verständnis von hospitality bei Amos Yong: „Christian mission is nothing more or less than our participation in the hospitality of God. God is not only the principal ‘missionary’, but also the host of all creation who invites the world to ‘God’s banquet of salvation’.“ Yong, Hospitality, 2008, 131. 86 Grünschloss, Glaube, 1999, 291. Vgl. Feldtkeller, Mutter der Kirchen, 1998, 10–11, der in hermeneutischer Perspektive darauf hinweist, dass erst in der Begegnung mit dem Fremden das Eigene verstanden werden kann: „Deswegen können Christen ihre Beziehung zu Christus nur verstehen, wenn sie sich auf die anderen einlassen.“ Ulrich Dehn weist auf den Zusammenhang von „identitätsbezogenem und zugleich beziehungsfähigem“ Verhalten hin und ergänzt, dass „religiöse Identitäten sich immer aus der Interaktion mit Alteritäten … gebildet haben“, Dehn, Einleitung, 2008, 13. 87 Vgl. auch das Konzept der transkulturellen Übersetzbarkeit von deep biblical meanings bei Charles H. Kraft (II.E.2). Zur Spannung zwischen der Konstanz und Kontextualität des Evangeliums im transkulturellen Prozess vgl. Bevans/Schroeder, Constants in Context, 2004, 32ff; Ott, Encountering, 2010, 31; Walldorf, Können wir wissen, 2010, 372–374. 88 Vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 49–50. 89 Zu essentialistischen (realistischen) und konstruktivistischen Wirklichkeitskonzepten vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 45–46. 90 Vgl. Kraemer, Continuity, 1939, 1–2; siehe II.B.3.
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tivistischen Einsichten91 in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit und die Interpretationsbedürftigkeit des Evangeliums im interkulturellen und interreligiösen Kontakt. Dies zeigte sich beispielsweise in ausgeprägten religions- und kulturkritischen Perspektiven im Blick auf das „christliche Abendland“ sowie Bemühungen um interkulturelle Interpretation in der Ausländerarbeit der SMD.92 In diesen Zusammenhängen bestätigt sich die Beobachtung Andreas Feldtkellers zur Bedeutung von Wahrheitsüberzeugungen in religionsgeschichtlichen Prozessen missionarischer Weitergabe im „Modus der Befreiung“: „Wo Religion im Modus der Befreiung des Menschen von sich selbst auftritt, hängt Entscheidendes an der Wahrheit ihrer Lehre. Nach der Überzeugung aller Religionen, die hier in Frage kommen, kann Befreiung des Menschen von sich selbst nur gefunden werden, wenn die Lehre, der man dabei folgt, auch wahr ist in dem Sinne, dass sie tiefer in die Erkenntnis der Wirklichkeit führt. Einer Lehre, die nicht wahr ist, traut in der Regel niemand befreiende Wirkungen zu.“93
Diese Überzeugung von der kulturübergreifenden Wahrheit der befreienden biblischen Botschaft führte im Kontext missionarischer Begegnung mit nichtchristlichen Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu wichtigen Horizonterweiterungen, Differenzierungen und vertieften christlichen Glaubensgewissheiten im interreligiösen Zusammenhang. Während das Verständnis der „Horizonterweiterung“ bei Margull durch seine kreuzestheologische Interpretation Raum für selbstkritisches interkulturelles sowie interreligiöses Lernen eröffnete, wurde in den Beiträgen von Hermelink, Höpfner und Holsten und in der Praxis von SMD und OD deutlich, dass die missionarische Begegnung mit religiös und kulturell fremden Gästen und Nachbarn zugleich erkennbare christliche Glaubensgewissheiten und christliche Gemeinschaften erfordert, die als koinonia des Glaubens die Bedeutung des Evangeliums bezeugen und interpretieren können. Zusammen können diese Grundüberlegungen und Einsichten als Elemente einer christozentrischen interreligiösen Hermeneutik94 verstanden werden, die vor allem für die christlichen Konvertiten aus dem muslimischen Bereich existentielle Bedeutung gewann – und zwar sowohl im Blick auf die säkulare westliche Kultur als auch die islamische und kulturelle Prägung ihrer Herkunft. So zeigen die Kon91 Vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 45–46. Zum Zusammenhang zwischen „religiöser Bindung“ und notwendigen religionskritischen Perspektiven siehe auch Feldtkeller, Theologie und Religion, 2002, 99ff. 92 Auf der gedruckten Einladungskarte zum zweiten IST 1962/63 räumte man ein, dass „die Idee vom ‚christlichen Abendland‘ eine Illusion [ist], wie Sie selbst schon bemerkt haben mögen“, lud aber ein, „sich Klarheit zu verschaffen über die Wirklichkeit des christlichen Glaubens. Wir möchten Sie darum einladen zur Begegnung mit Menschen, für die Jesus Christus heute lebt – nicht als eine Idee, sondern als der Herr ihres Lebens.“ (Text: Klaus Haacker, Rolf Woyke), SMD-Archiv, AfW II. Siehe III.C.4.a). 93 Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 60. 94 Vgl. auch die ähnlich konzipierte missiologische Hermeneutik eines Christocentric Pluralism bei Jørgensen, Theology of Religions, 2009, 137ff, der den Begriff des Pluralismus dabei weniger auf theologische als kulturelle Relationierungen bezieht, im theologischen Bereich jedoch inklusive und exklusive Sichtweisen kombiniert.
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versionsnarrative bei Mehdi Ksara, Y.K., M.B., E.Ö. und A.Y.,95 dass sie nicht die Annahme des christlichen Glaubens als Religion einer westlichen Mehrheitsgesellschaft (oder der Missionare), sondern die Beziehung zu „Jesus Christus“ oder dem „Wort Gottes“ sowie die Bedeutung z.B. türkischer Mitchristen als Basis für eine selbstbestimmte interreligiöse Identitätsbildung betonten. Diese Beobachtungen zeigen, dass die starren Relationierungsmuster einer exklusiven, inklusiven und pluralistischen Religionstheologie96 den realen Anforderungen interreligiöser Begegnung und Relationierung nicht entsprechen und durch differenziertere Wahrnehmungen ergänzt werden müssen. Dabei ist einerseits „ein verstehender und differentialer Zugang“ notwendig, „der fremde Religionen in ihrer Fremdheit ernst nimmt und der den Schmerz aushält, fremde Totalperspektiven sich nicht gefügig machen zu können“.97 Hier ist die Religionstheologie auf die Religionswissenschaft hin orientiert. Andererseits braucht interreligiöses Verstehen die Basis eigener theologischer Glaubensgewissheiten, die es ermöglichen die Fremdwahrnehmungen in den eigenen theologischen Horizont aufzunehmen und zu reflektieren. In diesem Sinn steht interreligiöses Verstehen immer in unterschiedlichen Horizonten eines theologischen (oder philosophischen) Inklusivismus. Die hier mit dem Bild der Begegnung zwischen Gästen beschriebene christozentrische interreligiöse Hermeneutik fand in der missionarischen Begegnung im Migrationskontext in verschiedenen Modellen und sich ergänzenden Aspekten einer „theology of the neighbor“, einer „missiology of servanthood“,98 Ausdruck (siehe oben). Dabei wurde deutlich, dass Wahrheitsüberzeugungen im Blick auf das Evangelium und Intentionen missionarischer Einladung zum Glauben an Christus einer sensiblen interkulturellen und interreligiösen Begegnung auf Augenhöhe nicht im Wege standen, sondern vielmehr entscheidende Impulse für diese Begegnung gaben.99 D. TRANSKULTURATION IM MIGRATIONSKONTEXT: CHRISTLICHE IDENTITÄTEN UND ISLAMISCHE REAKTIONEN Der missionarisch motivierte transkulturelle Prozess brachte nicht nur neue missionarische Strukturen (siehe B.) und missionstheologische Konzepte im interreligiösen Zusammenhang (siehe C.) hervor, sondern löste auch neue Identitäts-, Gemeinschaftsbildungs- und Reaktionsprozesse in der Migrationskultur aus, die diese veränderten und zu einer Pluralisierung des Third Space (Bhabha)100 beitru95 Siehe VII.C.1. bis 3. sowie III.2.b) (Mehdi Ksara). 96 Vgl. die Darstellung bei Dehn, Einleitung, 2008 sowie die Kritik des Schemas bei Jørgensen, Theology of Religions, 2009 und Tennent, Christian Encounter, 2010, 292ff. 97 Feldtkeller, Pluralistische Religionstheologie, 1998, 455. 98 Bonk, Islam and Christianity, 2004, 3. 99 Zum Verhältnis religiöser Wahrheitsansprüche und Konflikbereitschaft vgl. Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 57ff. 100 Bhabha, Location, 1994, 56; vgl. Rutherford, The Third Space 1990.
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gen. Damit hat sich eine der Ausgangsthesen der Arbeit bestätigt, dass Mission auch im Migrationskontext einen „Austausch in beide Richtungen“ auslöst, „bei dem sich kaum vorhersagen lässt, wie das Ergebnis aussehen wird“.101 Wenn dies auch nur in Ansätzen geschah und quantitativ zunächst unscheinbar blieb, ist die Bedeutung für die interreligiöse und interkulturelle Konvivenz in Deutschland umso größer. Wie die Ergebnisse des transkulturellen interreligiösen Austausches aussahen, hat sich im Verlauf der Studie immer deutlicher gezeigt. Dabei handelt es sich einerseits um von der christlichen Mission erhoffte Konversionen und Gemeinschaftsbildungen, die sich zwar nur in kleinem Maße ereigneten, jedoch die transformative Wirkung der missionarischen Begegnung deutlich machen.102 Andererseits geht es um die (eher ablehnenden) Reaktionen und Veränderungen im Bereich der islamischen Diaspora. Im Blick auf den ersten Bereich hat sich bestätigt, dass auch im Fall von Konversionen „Anteile“ der früheren Religion „in den neuen Deutungshorizont integriert werden“,103 wobei sich unterschiedliche Formen der Relationierung gezeigt haben: meist im Sinne einer Hierarchisierung auf Elementebene104 aus christlicher Perspektive (z.B. Y.K.) sowie eine umgekehrte Form der Extensivierung (z.B. M.B.). Im Blick auf den zweiten Bereich hat sich bestätigt, dass Mission auch dort, wo sie „gemessen an der Intention ihrer Akteure scheitert“, dazu führt, „dass die bei ihrer angestammten Religion bleibenden Menschen vieles von dem Gehörten in ihre eigene Religiosität integrieren“.105 Die hier untersuchten missionarischen Bemühungen stellten insgesamt keineswegs eine christliche Erfolgsgeschichte dar, sondern eher eine Geschichte mühevoller Versuche und vielfältigen Scheiterns. Die Reaktionen in der islamischen Diaspora waren meist ablehnend, dennoch lassen sich auch hier Spuren der erwähnten Veränderungen feststellen. Wie zu erwarten, zeigen sich die Ergebnisse des transkulturellen Prozesses in der Migrationskultur eher gegen Ende des untersuchten Zeitraums, vor allem in der dritten Phase ab 1973 (siehe oben B. 1.). Während die beschriebenen Konversionen sich hauptsächlich in der zweiten Phase ereigneten, setzte die Gemeinschaftsbildung erst in der dritten Phase ein. Die abwehrenden Reaktionen in der islamischen Diaspora wurden vor allem in der dritten Phase sichtbar (Abdullah, von Denffer), wobei sie bereits früher einsetzten (türkische Botschaft 1965, Erkmen).
101 Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 54. 102 Der Missionswissenschaftler Moritz Fischer spricht von einem „Überschuss (Heterosis)“, zu dem es „beim Aufeinandertreffen des christlichen Glaubens mit einer anderen Religion kommt“, der „nicht einfach das Produkt des bloßen Kräftemessens zweier Konkurrenten“ ist. Wenn es zu einer Konversion kommt, führt „der Konvertit ... immer auch Grundmuster seiner bisherigen Kultur weiter und versteht gleichzeitig seine religiöse Identität verbessert.“ Fischer, Hybridität, 2008, 301. 103 Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 54. 104 Vgl. Grünschloss, Glaube, 1999, 82. 105 Feldtkeller, Missionsgeschichte, 2003, 54.
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1. Christliche Identitätsbildung im Migrationskontext Angesichts der in einigen Teilen der kirchlichen Islam-Literatur der 1970er Jahre verbreiteten Darstellung muslimischer Migrantinnen und Migranten als ohnmächtiger Minderheit, der christliche Mission nicht zuzumuten sei,106 sind besonders die selbstbestimmten religiösen Eigenleistungen107 der Migrantinnen und Migranten – sowohl der christlichen Konvertiten als auch der Muslime – hervorzuheben. Die Eigenleistung der muslimischen Migranten beschreibt dabei ein Spektrum zwischen mehrheitlichem Verbleiben im Islam und der minderheitlichen Annahme und Inkulturation des christlichen Glaubens im Third Space der Migrationskultur.108 Im Bereich der Ablehnung des christlichen Glaubens zeigen sich unterschiedlich differenzierte Muster von grundlegender kognitiver Dissonanz bis hin zur strategischen Übernahme einzelner Elemente christlicher Mission.109 In besonderer Weise hat sich der transkulturelle Prozess im Rahmen eigenständiger religiöser Aneignungen und komplexer Identitätsbildungen in christlichen Konversionen aus muslimischem Hintergrund gezeigt. Die Konversionen können in Erweiterung des Konzepts von Andreas Feldtkeller als religiöse Aneignungen verstanden werden,110 die zwar nicht ohne den Einfluss christlicher Mission zustande kamen,111 aber dennoch als selbstbestimmte religiöse Prozesse und Entscheidungen der Migrantinnen und Migranten verstanden werden müssen. An dieser Stelle greift die Studie auch die Verbindung zwischen kolonialen und Migrationssituationen in der Perspektive der postcolonial studies auf, und die damit verbundene Bezweifelung der Authentizität christlicher Bekehrungen in diesen Zusammenhängen unter dem Motto „Can the Subaltern speak?“112 Wie sich gezeigt hat, verstanden die Migranten und Konvertiten sich durchaus nicht als „subaltern“, sondern als religiöse Akteure, die auch im Missionsumfeld zu eigenständigen Identitätsprozessen in der Lage waren, wenn diese auch erwartungsgemäß nicht konfliktfrei verliefen und in Abgrenzungen und Vermittlungen zur Herkunftsgesellschaft, zur Aufnahmegesellschaft und zur Mission selbst verliefen. In literaturwissenschaftlicher Perspektive können sowohl Konversionsberichte als auch die teilweise polemische Abwehrliteratur als eine besondere Form der Migrationsliteratur im Third space verstanden werden.113 Als narrative Verarbeitung biographischer Erfahrungen zeigen die Konversionsberichte den synthetischen Charakter konversiver religiöser Identitätsbildung
106 107 108 109 110 111
Siehe VI.C.3.a) sowie VII.C.3. Vgl. Fischer, Hybridität, 2008, 298. Siehe VII C.3. Siehe VI.D. Siehe VII. am Anfang sowie VII. C. 1., siehe auch Einleitung B. 2.a). Vgl. Balz, Anfang, 2010, 186, der betont, dass es „keinen christlichen Glauben ohne ... menschlich missionarische Weitergabe [gibt]“. 112 Zit bei Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 230. Ausführlich siehe VII.C.3. 113 Vgl. Photong-Wollmann, Migrationsliteratur, 1996; Hofmann, Literaturwissenschaft, 2006, 135;
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im interreligiösen Kontext im Rahmen eines „persönlichen Kontinuums“.114 Diese Identitätsbildung vollzog sich im Rahmen lebensgeschichtlicher Prozesse zwischen religiöser Ausgangsprägung und neuer religiöser Verortung, konnte aber auch – wie in der Biographie von M.B. – als Reversion wieder eher in die umgekehrte oder eine neue Richtung verlaufen.115 Dabei kam es zu komplexen Identitätsbildungen zwischen den Extremen einer losen Übernahme einzelner neuer religiöser Aspekte im Sinne einer „Extensivierung“116 einerseits und einem radikalen Bruch mit bisherigen religiösen Prägungen andererseits. Idealerweise integrierte der neue Glaube an Jesus Christus dabei im kognitiven, sozialen und affektiven117 Bereich „what we have been in what we become“.118 2. Islamische Reaktionen im Migrationskontext Die islamischen Reaktionen auf die christliche Interaktion mit muslimischen Migranten waren komplex, wobei allen die Kritik einer bekehrungsorientierten christlichen Mission gemeinsam war, jedoch mit unterschiedlichen Begründungen und Folgen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die beschriebenen Reaktionen von religiösen Führungspersonen kamen, die nicht automatisch für die Mehrheit der muslimisch geprägten Migranten sprachen, die trotz ihrer muslimischen Identität oft säkularer geprägt waren und den christlichen Missionsbemühungen oft pragmatischer oder gleichgültig gegenüber standen. Dennoch zeigen die Reaktionen drei typische Sichtweisen der islamischen Missionskritik, die jeweils in enger Verbindung mit dem jeweiligen kulturell-religiösen Hintergrund zu verstehen sind: 1. Bei Vertretern des türkischen Islam – türkische Botschaft (1965), Osman Erkmen (1974) – fand sich auf dem Hintergrund der engen Verbindung von islamischer und nationaler Identität eine polemische Ablehnung sowohl der Mission als auch des Dialogs. Hier bestätigt sich die These, dass christliche Mission ungewollt „eine eminent politische Angelegenheit“ wird, wenn sie auf eine Konstellation trifft, „die ansonsten in der Religionsgeschichte die Regel darstellt, daß nämlich zu einer ethnischen Gemeinschaft oder einem politischen Herrschaftsbe114 Kenneth A. Cragg spricht vom „personal continuum“ als der „ongoing identity within which conversion happens”. Cragg, Conversion, 1980, 194. Zum synthetischen Charakter religiöser Identität vgl. Feldtkeller, Identität, 2002; Jørgensen, Jesus Imandars, 2008, 104–108. 115 Hier scheint der offene Begriff der religiösen Mobilität angemessen, Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 224. Vgl. auch Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 56f., der das Konzept der kulturellen Aneignung als „grundsätzlich frei fliessend hinsichtlich ihrer möglichen Inhalte und Kontexte“ beschreibt. Zur theologischen Reflexion von Entwicklungen der Reversion in christlichen Biographien vgl. z.B. Tucker, Walking away, 2002. 116 Feldtkeller, Identitätssuche, 1993, 34, siehe auch die Vergleichspunkte zum Verständnis der kulturellen Aneignung, Feldtkeller, Theoretische Perspektiven, 2010, 56f. 117 In Erweiterung verschiedener Prozessmodelle hat Reinhold Strähler auf die Bedeutung der affektiven (emotionalen) Dimension in Konversionsprozessen hingewiesen, vgl. Strähler, Coming to Faith, 2010, 35. 118 Cragg, Conversion, 1980, 194.
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reich jeweils eine Religion gehört und beides gemeinsam gegenüber der Umwelt abgegrenzt ist.“119 2. Bei Vertretern islamischer Minderheitsgruppen wie M.S. Abdullah oder Smail Balic fand sich eine Differenzierung zwischen Mission und Dialog, verbunden mit der Wertschätzung des Dialogs bei gleichzeitiger Forderung eines christlichen Missionsverzichts als Ausdruck gegenseitigen Respekts. Diese Haltung kann als Ergebnis historischer Erfahrungen und Erinnerungen muslimischer Minderheitsgruppen im gesellschaftlichen Zusammenleben mit einer christlich geprägten Mehrheit wie im ehemaligen Jugoslawien verstanden werden. Sie spiegelt zugleich das traditionelle osmanische Millet-Prinzip der Trennung religiösethnischer Gruppen innerhalb einer islamischen Gesamtordnung wider. Insgesamt können sowohl die türkisch-islamischen Reaktionen als auch die dialogische Forderung nach einem christlichen Missionsverzicht bei Abdullah und Balic als unterschiedlich intensive Formen einer Anpassung des von Feldtkeller beschriebenen Prinzips der „Inklusion des Bedrohlichen“ (Missionsverbot)120 in islamischen Mehrheitskontexten an die Minderheitssituation interpretiert werden. Da in der Minderheitssituation und angesichts der freiheitlichen Rechtsordnung Deutschlands eine gesellschaftlich-staatliche „Inklusion des Bedrohlichen“ nicht möglich war, bemühte man sich auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln um eine Exklusion des Bedrohlichen, der aus islamischer Sicht „betörenden Verführungsmacht“121 der christlichen Mission.122 Während Abdullah und Balic dafür den Weg des Dialogs wählten und für gegenseitigen Missionsverzicht plädierten, bemühte der türkische Islam anfänglich auch den diplomatischen Weg (VI.A.1.). Im sozialen Bereich zeigte sich die Exklusion des vermeintlich Bedrohlichen in der muslimischen Diaspora manchmal durch verschiedene Formen des familiären und sozialen Drucks auf christliche Konvertiten. 3. Bei einigen Vertretern einer jüngeren Generation deutscher Muslime in den 1970er Jahren, wie Ahmad von Denffer, schien sich trotz größerer islamischer Radikalität auch die biographische Prägung durch die pluralistische und wissenschaftliche Kultur in Deutschland auszuwirken.123 So findet sich bei von Denffer weder eine unrealistisch überzogene Missionspolemik noch die Forderung nach einem christlichen Missionsverzicht. Vielmehr kam von Denffer auf der strukturellen gesellschaftsbezogenen Ebene sogar zu einer positiven vergleichenden Bewertung von „lebendigen Christen“ (ähnlich wie Höpfner dies umgekehrt im Blick auf den essentialistischen Wahrheitsbegriff der Muslime tat), lehnte deren Inhalte und Missionsaktivitäten jedoch ebenso ab wie die vorher dargestellten islamischen Vertreter. Islamische Mission sah er dagegen – in einseitiger Perspektive – als selbstverständlich und interpretierte den islamisch-christlichen Dialog 119 120 121 122
Feldtkeller, Thesen, 2000, 13. Feldtkeller, Mutter der Kirchen, 1998, 132ff; 224, siehe VI.D.4.a). Ebd. 224. Auf dieser Linie lagen auch die Reaktionen des Koordinierungsrates der Muslime (KRM) auf die missionstheologischen Perspektiven in der EKD-Handreichung Klarheit und gute Nachbarschaft (2006), vgl. KRM, Profilierung, 2007, 7–8. 123 Siehe VI.D.3.
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vorrangig als Gelegenheit islamischer da‘wa.124 Von Denffers Kritik an der sozialmissionarischen Familienarbeit des OD125 sensibilisierte ihn zugleich für religionspädagogische Herausforderung in der islamischen Diaspora selbst126 – ein Beispiel der komplexen religiösen Interaktionen im Kontext missionarischer Begegnung in der neuesten Religionsgeschichte Europas.127 E. BILANZ UND AUSBLICK Diese missionsgeschichtliche Studie hat sich einer bisher wenig beachteten Facette der interkulturellen und interreligiösen Zeit- und Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 gewidmet: den missionarischen Begegnungen zwischen Christen und Muslimen, vor allem den Bemühungen von protestantischer Seite in den 1950er bis 1970er Jahren. Dabei hat sich gezeigt, dass die missionarischen Begegnungen als Teil eines transkulturellen und interreligiösen Prozesses sowohl zur religiösen Pluralisierung in Gesellschaft und Kirche beitrugen als auch halfen, die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen theologisch zu reflektieren und neue Orientierungen und Lebensmöglichkeiten aus der Perspektive des christlichen Glaubens zu eröffnen. Abschließend sollen drei Aspekte hervorgehoben werden. 1. Missionstheologische Bilanz a) Mission als (Mit-) Teilen der Gastfreundschaft Gottes Das Verständnis christlicher Mission als Begegnung zwischen Gästen und als das (Mit-) Teilen der in Jesus Christus offenbarten Gastfreundschaft Gottes für alle Menschen hat sich – trotz unterschiedlicher Interpretationen – als gemeinsame Motivation der missionarischen Begegnung mit Muslimen im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmigration in Deutschland gezeigt und richtungsweisende Ausprägungen einer „theology of the neighbor, a missiology of servanthood“128 inspiriert. Diese gemeinsame Grundlage war zwar oft in Frage gestellt, wurde aber gelegentlich sichtbar, wie zum Beispiel in Jan Hermelinks Hinweis, dass die kontroversen Linien einer heils- und verheißungsgeschichtlichen missio Dei-Interpretation „vom Neuen Testament her zur Deckung zu bringen […] möglich sein
124 Vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 298ff. 125 Siehe IV.C.5. sowie VI.D.3. 126 Vgl. von Denffer, Islam für Kinder, 1977 sowie die Entwickung islamischer Kinderliteratur an der Islamic Foundation in Leicester nach 1978 vgl. Janson, Cradle, 2003; s. VI.D.3.b). 127 Vgl. Feldtkeller, Thesen, 2000, 11. Die Wahrnehmung missionarischer interreligiöser Prozesse ist in der neueren europäischen Religionsgeschichte allerdings noch wenig ausgeprägt, vgl. z.B. Kippenberg et al (Hg), Europäische Religionsgeschichte, 2009. 128 Bonk, Islam and Christianity, 2004, 3.
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[müsste]“.129 In dieser Glaubensüberzeugung lagen starke Motivationen zur Horizonterweiterung, zur Selbstkritik, zum Verstehen, zum Bezeugen und zur Nächstenliebe über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg, die sich auch in der Bildung neuer missionarischer und kirchlicher Strukturen wie der KfA, dem AfW (SMD), dem OD, der Islamarbeit der VEM u.a. niederschlugen. Gerade die missionarischen Initiativen nahmen die Migrantinnen und Migranten als religiöse Mitmenschen ernst, bemühten sich, sie besser zu verstehen und das Gespräch auf dieser Ebene zu suchen. Die Darstellung missionarischer Bemühungen unter muslimischen Migranten als späte, erst in den 1980er Jahren aufgekommene „gegensätzliche Strömung“130 ist auf dem Hintergrund dieses Befunds kaum haltbar. Gleichzeitig entfaltete sich christliche Mission im Migrationskontext in unterschiedlichen Selbstverständnissen und Facetten und trug so zu einer vielfältigen Wahrnehmung und Begegnung mit muslimischen Migranten als Mitmenschen, Mitbürgern, Mit-Gästen oder Brüdern und Schwestern bei. Dabei stand Mission in nicht immer spannungsfreier, aber meist konstruktiver Beziehung zu interreligiösen dialogischen Initiativen sowie zu diakonischen und sozialpolitischen Initiativen, um die gesellschaftliche Situation der Migranten zu verbessern. Jedenfalls enthielten die Bemühungen christlicher Mission ernsthafte Überlegungen und oft die ersten praktischen Schritte einer einladenden Begegnung zwischen Christen und Muslimen, auch wenn dies nicht immer gleich gut gelang. Es dürfte jedoch weder der Komplexität christlicher missionarischer Bemühungen noch der eigenständigen Urteilsfähigkeit muslimischer Migrantinnen und Migranten gerecht werden, diese Bemühungen vorwiegend z.B. aus der Perspektive der damaligen türkischen Religionsbehörde zu bewerten und als Negativbeitrag in die Liste von Problemen und überflüssigen Zumutungen aufzunehmen, die türkischen Migranten und Migrantinnen in der Bundesrepublik begegneten.131 In missionsgeschichtlicher Perspektive ist in diesem Zusammenhang auch das oft zu lesende Klischee einer missionstheologischen Evolution von missionarischen zu dialogischen Haltungen in der christlich-islamischen Begegnung in Frage zu stellen. Diese Sichtweise dürfte aus einer, den kirchlichen Diskurs in den 1970er Jahren zunehmend bestimmenden Haltung des Missionsverzichts (siehe unten b.) entstanden sein, die bekehrungsorientierte missionarische Bemühungen unter Muslimen entweder als Randerscheinung ignorierte oder als Rückwärtsgewandtheit kritisierte.132 Hier zeigt sich zunächst eine monopolisierende Vereinnahmung der christlich-islamischen Begegnung aus einer bestimmten theologischen Perspektive heraus. Zum anderen wird diese Sichtweise weder der kontinuierlichen Präsenz noch der konstruktiven Bedeutung missionarischer Bemühungen gerecht, die nicht nur von pietistisch und evangelikal geprägten Christen getragen wurden. Schließlich wird auch der Dialogbegriff auf eine bestimmte religions-
129 130 131 132
Hermelink, Verstehen, 1961, 141, vgl. Walldorf, Welt, 2011, 372. Khalid, Diaspora, 1991, 456; siehe Einleitung A. Vgl. Hunn, Nächstes Jahr, 2005, 140. Siehe Einleitung A. Vgl. z.B. Hock, Spiegel, 1986, 354.
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theologische Perspektive verengt,133 die die überwiegend tatsächlich dialogische Praxis der beschriebenen Missionsbemühungen nicht ausreichend wahrnimmt. b) Konversion und Bekehrung Trotz der genannten gemeinsamen Grundlage im biblischen Evangelium war das Verständnis christlicher Mission angesichts der Migration in den 1950er bis 1970er Jahren umstritten. Dies signalisiert, dass es um tiefgreifende und lebendige theologische Fragen ging, und es beinhaltete die Chance, den missionarischen Auftrag im hermeneutischen Gespräch der unterschiedlichen Perspektiven deutlicher und differenzierter zu bestimmen.134 Dies war auch notwendig, denn immerhin zeigten sich auf verschiedenen Seiten und in verschiedener Hinsicht reduktionistische Tendenzen. Am deutlichsten wurde dies in der umstrittenen Bekehrungsintention.135 Bei evangelistisch motivierten Befürwortern zeigten sich (vor allem in den Anfängen) gelegentlich verengte theologische Perspektiven und eine einseitige Fokussierung auf ein starres Bekehrungsverständnis als Bedingung für den Empfang der Gnade und des Heils in Christus. Dabei übersah man, dass die Umkehr zu Gott als neue Lebensmöglichkeit im biblischen Sinn nicht nur den religiös Anderen, sondern auch dem Volk Gottes selbst gilt, und im Neuen Testament als vertrauensvolle Hinwendung zu Christus und Abwendung von den Götzen weniger zu erfüllende Bedingung, als Auswirkung der lebensverändernden Anwesenheit der Gnade Gottes in Christus ist.136 Damit verbunden waren oft pauschale Sichtweisen der nichtchristlichen Religionen als „Heidentum“, die eine differenzierte interreligiöse und interkulturelle Wahrnehmung und religionstheologische Reflexion einschränkten und gelegentlich zu gut gemeinten, aber der Freiheit des Evangeliums nicht entsprechenden, psychologischen Druck generierenden Haltungen und Praktiken führten.137 Auch von den eigenen Sichtweisen abweichende Haltungen zu anderen Religionen wurden aus dieser Perspektive manchmal zu schnell als Verrat am Evangelium bezeichnet.138 Auf der anderen Seite übersahen die Gegner der missionarischen Bekehrungsintention, dass die Bezeugung der Liebe Gottes in Jesus Christus in biblischer Perspektive immer eine Antwort des Glaubens als Wirkung des Heiligen Geistes erhofft. Bereits 1971 kritisierte der Heidelberger Missionswissenschaftler HansWerner Gensichen die immer deutlicher werdende missionarische Selbstzensur: 133 Zur religionstheologischen Überlastung des Dialogbegriffs vgl. Muck, Dialogue, 2011; Dehn, Einleitung, 2008, 25f. 134 Vgl. Newbigin, Open Secret [1978], 1995, 2. 135 Zum Begriff vgl. Gensichen, Glaube, 1971, 114ff. 136 Balz, Anfang des Glaubens, 2010, 186: „Der Glaube ‚fängt an‘, wo in den Herzen der Empfänger durch den Geist die Botschaft des Evangeliums angeeignet wird.“ Vgl. Härle, Dogmatik, 2012, 523ff.; Barth, Dogmatik im Kontext, 2008, 81f. 137 Vgl. z.B. III.C.4.e). 138 Vgl. den Erfahrungsbericht bei Jasper, Unterwegs, 2008, 58.
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„Die Verkündigung des Wortes ergeht, damit dies Wunder geschehe, damit die Grenze zwischen Unglaube und Glaube durchbrochen werde. ... Was Gott selbst in der Bekehrung am Menschen wirken will, läßt er durch das Medium menschlichen Zeugnisses geschehen. Eine missionarische Verkündigung, die ihr Ziel unter diesem Niveau ansetzt, die womöglich in falsch verstandener Selbstbescheidung auf die Zielsetzung der Bekehrung verzichtet, … hat ihren Auftrag verfehlt.“139
Dennoch setzte sich in den 1960er und 1970er Jahren in der kirchlichen Islambegegnung eine immer stärkere Tendenz des Verzichts auf eine Einladung zum Glauben an Jesus Christus an Muslime durch, die sich bis hin zur Ablehnung der Verbreitung muttersprachlicher missionarischer Literatur oder Teilen des Neuen Testaments an türkische Muslime erstreckte.140 Diese wohlmeinende Zurückhaltung entsprach jedoch weder dem neutestamentlich-theologischen Verständnis des Evangeliums als eines offenen Geheimnisses,141 noch diente sie in gesellschaftlicher Perspektive langfristig der Förderung der christlich-islamischen Gesprächslage und Konvivenz. Die gesellschaftliche Chance, das auch in der Migrationssituation oft faktisch weiterwirkende islamische Apostasieverbot142 sowie „harte Synthese[n]“143 zwischen Islam, Nationalität und Sippenzugehörigkeit in einem offenen interreligiösen Diskurs kritisch zu hinterfragen, wurde durch den Missionsverzicht weitgehend vergeben.144 Die kontroverse Diskussion der Bekehrungsintention im Migrationskontext der 1950er bis 1970er Jahre hat jedoch wesentliche Grundlinien eines christlichen Verständnisses sichtbar gemacht. Dazu gehört, dass (1) Bekehrung im Wortgebrauch nicht als missionarisches, transitives Handeln am Anderen, sondern reflexiv als selbstbestimmte religiöse Aneignung zu verstehen ist; (2) zwischen Konversion als offiziell-formalem Religionswechsel und Bekehrung als innerem, geistlichem Prozess unterschieden werden muss; (3) Bekehrung sowohl als unverfügbares Geschenk Gottes als auch biographisch vielfältiges und selbstbestimmtes Handeln des Menschen zu verstehen ist145 und (4) missionarische Bemühungen angesichts dieser doppelten, theologischen und anthropologischen Unverfügbarkeit immer respektvoll und frei von jeglichen manipulativen Haltungen und Me139 Gensichen, Glaube, 1971, 116–117. Kenneth A. Cragg formulierte: „We cannot neglect that Christ claims discipleship and that His Gospel is something expecting a verdict.“ Cragg, Minaret, 156, 335. Neuere Perspektiven bei Balz, Anfang des Glaubens, 2010, 261–302; Lienemann-Perrin, Grenzüberschreitungen, 2012, Härle, Dogmatik, 2012, 523ff.595. 140 Siehe VI.A.2. 141 Vgl. Newbigin, Open Secret [1978], 195: „The mystery of the gospel is not entrusted to the church to be buried in the ground. It is entrusted to the church to be risked in the change and interchange of the spiritual commerce of humanity.“ Ebd. 189. 142 Siehe VI.D.4. 143 Feldtkeller, Religionstheologie, 1998, 459 sowie VI.D.4.b). 144 Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 229, weist mit Recht darauf hin hat, dass sich „an der Frage, wie die Religionsgemeinschaften mit der Konversionsproblematik umgehen, ... nicht zuletzt entscheiden [wird], ob sie zur Friedenfähigkeit in unserer Gesellschaft etwas beizutragen haben oder nicht.“, vgl. Feldtkeller, Religionsfreiheit, 2002. 145 Vgl. Balz, Anfang des Glaubens, 2010, 186; Lienemann-Perrin, Konversion, 2004, 226; Lienemann-Perrin, Grenzüberschreitungen, 2012.
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thoden erfolgen müssen. In diesem Sinne formulieren ÖRK, WEA und Vatikan in ihrer gemeinsamen Erklärung Christian Witness in a Multi-Religious World: Recommendations for Conduct (2011) mit Recht: „Christians affirm that while it is their responsibility to witness to Christ, conversion is ultimately the work of the Holy Spirit. … They recognize that the Spirit blows where the Spirit wills in ways over which no human being has control.“ 146 c) Pluralisierung und Versöhnung Wo die missionarische Begegnung in diesem Sinn in theologisch verantwortlicher und interreligiös sensibler Weise erfolgte, zeigte sie sich als Verstärker religiöser Optionen und Wahlmöglichkeiten, der dazu beitrug, die weitgehende „Deckungsgleichheit von ethnischen und religiösen Identitäten“147 in den 1960er und 1970er Jahren in Frage zu stellen. Wesentlich dafür waren die eigenständigen religiösen Entscheidungen von Konvertiten aus islamischem Kontext und erste Ansätze inkulturierter christlicher Gemeinschaftsbildung z.B. im türkischsprachigen Migrationskontext. Obwohl diese Entwicklung quantitativ kaum ins Gewicht fiel, kann sie als zukunftsweisend verstanden werden, da diese Vorgänge bisherige „harte Synthesen“ aus Religion, Kultur und Nation148 hinterfragten und das Potential in sich trugen, Teil einer „entscheidenden Kohäsionskraft [zu] werden“, die ein vielfältiges und konstruktives gesellschaftliches Miteinander „quer zu den „Grenzen kultureller und ethnischer Identitäten“149 zu gestalten hilft. Darüberhinaus erweiterten eigene missionarische Perspektiven auf Seiten christlicher Gruppen meist das Verständnis und ermöglichten eine differenziertere Beurteilung fremder, in diesem Fall islamisch-missionarischer Haltungen und Aktivitäten.150 Schließlich waren die im Evangelium begründeten theologischen Perspektiven der ausnahmslosen151 Nächstenliebe und des versöhnlichen und selbstkritischen Perspektivenwechsels („vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“)152 sowie die in der missionarischen Kommunikation zugänglichen Einsichten in die relationale Komplexität religiöser Identitäten153 in der Lage, 146 147 148 149 150
Vgl. WCC/PCID/WEA, Witness, 2011, 194; Triebel / Becker, Code of Conduct, 2010. Feldtkeller, Perspektive der Religionswissenschaft, 2001, 112. Feldtkeller, Pluralistische Religionstheologie, 1998, 459. Siehe VI.D.4.b). Feldtkeller, Perspektive der Religionswissenschaft, 2001, 112. Während Höpfner und der Orientdienst im Migrationskontext der 1960er Jahre einem vorwiegend religiösen Missionsverständnis muslimischer Akteure gegenüberstanden, für das sie um Verständnis warben, haben sich in den letzten Jahren daneben zunehmend auch problematische politisierende Ausprägungen islamischer da‘wa gezeigt, vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, 365–375; Schirrmacher, Islam in Europa, 2008; Schirrmacher, Mission im Namen des Islam, 2010; Wrogemann, Aufruf, 2012, 238. 151 Vgl. das von Wilfried Härle formulierte „Kriterium der Ausnahmlosigkeit“ in religiösen Begründungen der Menschenwürde zit. bei Feldtkeller, Menschenbild, 2012, 107. 152 Mt 6, 12, vgl. Mt 18, 21–35 sowie Mt 7, 1–6, vgl. das Konzept einer double vision bei Volf, Exclusion and Embrace, 1996, 212.250ff. 153 Vgl. Feldtkeller, Identität und Synkretismus, 2002, 54–63.
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Räume der Verständigung und Versöhnung im interreligiösen und gesellschaftlichen Zusammenleben zu eröffnen.154 In diesem Sinn hatte Höpfner 1968 formuliert: „Wir müssen die Gegensätze zwischen Islam und christlicher Auffassung stehen lassen und können sie nicht überdecken mit dem Mantel einer Toleranz, die die Frage nach der Wahrheit aufgibt ... ; [aber] wir [sollten] uns hüten vor aller überlegenen Bezeugung des Heils, als hätten wir eine Erkenntnis, die in keinem Vergleich zur islamischen Glaubensanschauung steht, als seien wir die Besitzenden und Überlegenen. … Unser Zeugnis sollte unsere Antwort auf [Christi] unaussprechliche Liebe sein.“155
Insgesamt kann festgestellt werden, dass die vom christlichen Glauben inspirierte missionarische Begegnung mit muslimischen Migranten in den 1950er bis 1970er Jahren in ihrer kontroversen Komplexität und Transkulturalität mit zu den Bewegungen gehört, die nach 1945 dazu beitrugen, die kirchliche und gesellschaftliche Introversion in Deutschland zu überwinden, sich zu öffnen für die „Welt, [die] zu uns [kommt]“156 und Lernprozesse des differenzierten gegenseitigen Verstehens und Zusammenlebens mit religiös und kulturell Fremden einzuüben, die von Gästen zu Mitbürgern wurden. In diesem Sinn ist die vorliegende Studie mit der Hoffnung verbunden, dass eine differenzierte Wahrnehmung dieser Entwicklungen in der Vergangenheit zu weiteren Lernprozessen und einer offeneren Wahrnehmung des konstruktiven Potentials missionarischer Begegnungen in der Gegenwart beitragen kann. 2. Forschungsausblick Sowohl die Ergebnisse als auch die notwendigen Eingrenzungen der vorliegenden Studie eröffnen Räume für weitere Forschung im Bereich einer zeitgeschichtlich orientierten Missionsgeschichte. Einige davon seien abschließend genannt. In ökumenischer Perspektive ist deutlich geworden, dass die protestantischen missionarischen Bemühungen unter muslimischen Migranten nicht isoliert von römisch-katholischen Perspektiven und Initiativen erfolgten. Diese konnten nur am Rande in den Blick kommen (vor allem die ÖKNI) und würden eine eigene missionsgeschichtliche Untersuchung vermutlich rechtfertigen. In religionsgeschichtlicher Perspektive stellt die Entwicklung der komplexen Facetten eines „missionarischen Islam“157 in Deutschland ein in zeitgeschichtlicher und transnationaler Sicht noch wenig bearbeitetes Thema dar. Ansätze der Entwicklung wurden in der vorliegenden Untersuchung zwar als Bezugspunkte erarbeitet (I.B., I.C.4., I.D.3.), mussten aber skizzenhaft und fragmentarisch bleiben. 154 Vgl. Volf, Exclusion and Embrace, 1996, 215; Yong, Hospitality, 2008, 118ff; Schreiter, Reconciliation, 1992; Ders., Reconciliation, 2005. 155 Höpfner, Türken und Nordafrikaner, 1968, 6–7, s. IV.D.2. 156 Hermelink, Mission in unserer Zeit, 1958, 83. 157 Vgl. Wrogemann, Missionarischer Islam, 2006, zur „Begründung und Praxis des Aufrufs zum Islam“ in religionswissenschaftlicher Perspektive, siehe auch: Wrogemann, Der Aufruf zum Islam in Deutschland, 2012.
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Weitere missionsgeschichtliche Themenfelder tun sich auf, wenn die Perspektiven und die Praxis christlicher Begegnung mit weiteren religiösen Gruppierungen im Migrationskontext und den jeweiligen transnationalen Zusammenhängen in den Blick genommen werden. Bereits im Rahmen der ersten Zusammenkünfte der KfA in den 1950er Jahren wurde beispielsweise die christliche Begegnung mit Hindus in Deutschland thematisiert.158 Ob und wie sich solche Ansätze vertieften, bleibt eine offene Frage für eventuelle weitere Untersuchungen. Die geographische Eingrenzung auf die Bundesrepublik Deutschland ließ die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern nur am Rande in den Blick kommen. Sowohl europäische als auch transatlantische Kooperationen in der missionarischen Begegnung mit muslimischen Migranten könnten missionsgeschichtlich untersucht werden. Auch die zeitliche Eingrenzung der vorliegenden Arbeit eröffnet weitere Themenfelder. Die Studie endet vor den Ereignissen der islamischen Revolution im Iran 1979. Mit diesen Ereignissen beginnt für die Entwicklungen im Migrationskontext in Deutschland auch ein neues Kapitel der Missionsgeschichte. Nach der schiitischen Revolution 1979 flüchteten Tausende regimekritischer Iraner in die Bundesrepublik. Manchen erschien „die Hinwendung zu Jesus Christus als eine persönliche Befreiung aus der Bedrängnis, wie sie sie daheim erlebt haben“.159 In den 1980er Jahren entstand im Rahmen der Hannoverschen Landeskirche der „Evangeliumsdienst an Iranern“.160 Die 1978 im Rahmen der Evangelischen Allianz initiierte Arbeitsgemeinschaft für Ausländermission (AfA) (s. III.C.3.c), die als Weiterentwicklung des Südländerdienstes (s. IV.B.3.a) gelten kann,161 wäre in Zukunft sicherlich ebenso erforschenswert wie die Entstehung und Entwicklung der Islamreferate in der EKD162 und den evangelischen Landeskirchen.163 Dabei stellt sich auch die Frage nach der Konstanz und Veränderung des mitlaufenden missionstheologischen Diskurses und seiner Auswirkungen. Inwieweit im Rahmen der verstärkten missionswissenschaftlichen Wahrnehmung transnationaler Migrationskirchen in Deutschland164 auch die missionsgeschichtliche Erforschung der komplexen Zusammenhänge und Entwicklungen türkisch-, arabisch- oder persischsprachiger christlicher Gemeinden in Deutschland165 möglich und sinnvoll ist, bleibt ebenfalls eine Frage für weitere Forschungen im Bereich einer zeitgeschichtlichen Missionsgeschichte und einer interkulturellen kirchlichen Zeitgeschichte.
158 159 160 161 162 163 164
Vgl. KfA, Umgang mit Hindus, hg. v. Kirchl. Außenamt der EKD, Frankfurt, o.J. [1959]. Kutzner, Religion und Kirche im Iran, o.J.; vgl. Josua, Muslime, 2012, 77. Kahla, Geschichte, o.J; DEK, Persische Christen, 2005. Heute: Arbeitskreis für Migration und Integration (AMIN), www.nur-fuer-auslaender.de. Vgl. Mildenberger, Begegnung, 1982, 43; Klautke, Muslim and Christian Relations, 1988 Vgl. z.B. Dessien, Praxis des Islam-Referenten, 1980; Jasper, Unterwegs, 2008. Währisch-Oblau, Migrationskirchen, 2005, 23; Dies., Missionary Self-Perception, 2009; Penner, Ethnic Churches, 2006; Fischer, Pfingstbewegung, 2011. 165 Vgl. Stoldt, Konvertiten, 2008; Bickelhaupt, Orthodoxe Gemeinden, 2011; Josua, Muslime, 2012.
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAA AAS AEM AfIS AfA AfM AfW AKDAA AMD AMIN AP AWO BDA BMiD CBM CCME CDG CHP CIBEDO CIMADE CWME DBK DEA DEG DEMR DEMT DEO DFI DHCLO DMG DTG DÜ DWHN EAD EAGWM EfiD EKHN ELKB
Akademisches Auslandsamt Arbeitsausschusssitzung des Vorstands der EMO, Wiesbaden Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen Amt für Industrie- und Sozialarbeit Arbeitsgemeinschaft für Ausländermission der DEA Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse, Wiedenest Arbeitskreis für Weltmission der SMD Ausschuss für den Kirchlichen Dienst an ausländischen Arbeitnehmern Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste Arbeitskreis für Migration und Integration der Evangelischen Allianz Adalet Partisi = Gerechtigkeitspartei (Türkei) Arbeiterwohlfahrt Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bibelmission in Deutschland, Wuppertal Christoffel-Blindenmission Churches Commission for Migrants in Europe, Brüssel Carl Duisberg-Gesellschaft zur Betreuung ausländischer Industriepraktikanten Cumhurriet Halk Partisi = Republikanische Volkspartei (Türkei) Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle der DBK Comité Inter-Mouvements Auprès Des Evacués, Paris Commission for World Mission and Evangelism in the WCC Deutsche Bischofskonferenz Deutsche Evangelische Allianz Deutsche Evangelische Gemeinde (evangelische Auslandsgemeinde) Deutscher Evangelischer Missionsrat Deutscher Evangelischer Missionstag Deutsche Evangelische Oberschule, Kairo Dialogue with People of Living Faiths and Ideologies (ÖRK) Deutscher Hilfsbund für Christliches Liebeswerk im Orient Deutsche Missionsgemeinschaft, Sinsheim Deutsch-Türkische Gesellschaft Dienste in Übersee e.V. Diakonisches Werk in Hessen und Nassau Evangelischer Ausländerdienst, Dortmund Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission Evangelische Frauenarbeit in Deutschland Evangelische Kirche in Hessen und Nassau Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern
476 ELKWue EMJ EMM EMM EMO EMOK EMS EMW EMZ ESG ESGiD EZA EZW FE GFK GfW GM GMU IAP IBMR ICA IF IFES IMC IMH IMR IRM IST KA KAAD KBG KEK KfA KMÖ KRM KWME LCWE LDOM LIO MFB MHP MHW MSOE MSP NAM
Abkürzungen
Evangelische Landeskirche in Württemberg Evangelische Mission (Jahrbuch) Evangelisches Missions-Magazin (Basel) Evangelische Muhammedaner-Mission, Wiesbaden Evangelische Mission in Oberägypten, Wiesbaden Evangelische Mittelost-Kommission (früher: Nahostkommission) Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland Evangelisches Missionswerk Evangelische Missions-Zeitschrift Evangelische Studentengemeinde Evangelische Studentengemeinde in Deutschland Evangelisches Zentral-Archiv, Berlin Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen Frankfurter Erklärung 1970 Genfer Flüchtlingskonvention Gemeindedienst für Weltmission Goßner Mission, Mainz Gospel Missionary Union Islam-in-Afrika-Projekt International Bulletin of Missionary Research Islamisch-Christliche Arbeitsgruppe (im Kirchlichen Außenamt) Islamic Foundation, Leicester, UK International Fellowship of Evangelical Students International Missionary Council (= IMR) Innere Mission und Hilfswerk der EKD, Stuttgart Internationaler Missionsrat (= IMC) International Review of Mission(s) Internationale Studententreffen (SMD) Kirchliches Außenamt der EKD Katholischer Akademischer Ausländerdienst Konferenz Bekennender Gemeinschaften Konferenz Europäischer Kirchen Konferenz für Ausländerfragen (im Kirchlichen Außenamt) Kammer für Mission und Ökumene der EKHN Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland Kommission für Weltmission und Evangelisation im ÖRK Lausanne Committee for World Evangelization [Dr] Lepsius’ Deutsche Orient-Mission Missionsbund Licht im Osten, Korntal Missionstrupp Frohe Botschaft, Großalmerode bei Kassel Milliyetci Hareket Partisi = Partei der Nationalen Bewegung (Türkei) Missionshilfe Wiedenest Mission für Süd-Ost-Europa Milli Selamet Partisi = Nationale Heilspartei (Türkei) North Africa Mission
Abkürzungen
NECC NEST ÖAEJD OD ODT ÖKNI ÖRK PA PROCMURA SD SEAGWM SfM SIM SMD SPM SUM SWM TD TEAM UCBWM VDS VEM VELKD VEMK VIKZ VS WCC WEA WEC WGLFM WJMB WMK WUS ZA ZMiss ZMR ZVA
Near East Christian Council/ Near East Council of Churches Near East School of Theology, Beirut Ökumenischer Arbeitskreis der Ev. Jugend Deutschlands Orientdienst, Wiesbaden Orientdienst-Tagung Ökumenische Kontaktstelle für Nichtchristen (Diözese Köln) Ökumenischer Rat der Kirchen Politisches Archiv im Auswärtigen Amt, Berlin Programme for Christian-Muslim Relations in Africa Südländerdienst der DEA im Rahmen der MSOE Südwestdeutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission Studentenbund für Mission (ESGiD) Sudan Interior Mission Studentenmission in Deutschland Sudan-Pionier-Mission (später EMM und EMO) Sudan United Mission School of World Mission am Fuller Theological Seminary Türk-Daniş (= Türkische Beratungsstellen der AWO). The Evangelical Alliance Mission, USA United Church Board for World Ministries, USA Verband Deutscher Studentenschaften Vereinigte Evangelische Mission (früher: Rheinische Mission) Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands Verband deutscher evangelischer Missionskonferenzen Verband islamischer Kulturzentren Vorstandssitzung der EMO, Wiesbaden World Council of Churches (= ÖRK) World Evangelical Alliance WEC International (Weltweiter Einsatz für Christus) The Word of God and the Living Faiths of Men (ÖRK/IMR-Studienprojekt) Westdeutscher Jungmännerbund, Soziale Dienste, Dortmund Weltmissionskonferenz (IMR/ÖRK) World University Service Zentralarchiv der EKHN, Darmstadt Zeitschrift für Mission (bis 2007), Interkulturelle Theologie (ab 2008) Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft Zentralstelle für Arbeitsvermittlung
Hinweis: Weitere Abkürzungen unter Bibliographie C. (Lexika und Mitteilungsblätter)
477
BIBLIOGRAPHIE A. ARCHIVE Evangeliumsgemeinschaft Mittlerer Osten (EMO-Archiv), Wiesbaden Ordner Protokolle 1937–59 Feldkommission Ordner Protokolle EMO Vorstand 1948–1967 Ordner IV.7, Berichte 1933–1942 Personalunterlagen Willi Höpfner
Evangelisches Missionswerk (EMW-Archiv), Hamburg Bestand: DEMR 2 (1949–1964) Archivgruppen (AG): 0454 Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) 0543 Konferenz des Kirchlichen Außenamtes der EKD über Ausländerfragen 0544 Koordinierung der Arbeit für Ausländer in Deutschland 0509 DEMT Tagungen, Vorbereitung und Durchführung Bestand: DEMR 3 (1965–1976) Archivgruppen (AG): 0722 Protokolle DEMT 1965ff 0723 Protokolle DEMT 1965ff 0812 Islamkommission 0817 Orientdienst Sitzungsprotokolle 0818/1 Orientdienst (e.V.) – Korrespondenz, Vorträge, Stellungnahmen (1963–1976) 0818/2 Orientdienst (e.V.) – Korrespondenz, Vorträge, Stellungnahmen (1963–1976)
Evangelisches Zentralarchiv (EZA), Berlin Bestand 5013/10, Signatur: 6/8602 Konferenz für Ausländerfragen Bestand 5111/08, Signatur: 6/8602 Konferenz für Ausländerfragen
Evangelistenschule Johanneum (Archiv Johanneum), Wuppertal Höpfner-Korrespondenz 1929–1952, Auszüge, zusammengestellt durch Direktor Pfr. Burkhard Weber, 29. Mai 2009
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Bibliographie
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Studentenmission in Deutschland (SMD-Archiv), Marburg Bestand: Arbeitskreis für Weltmission (AfW): Ordner AfW-K (Anfänge ab 1963) Ordner AfW I (Briefwechsel etc.) Ordner AfW II Ordner Arbeitskreis für Weltmission [AfW III] Ordner AfW-TS (1978–81) Ordner AfW-P (Protokolle Kernkreis) AfW-T (Notizen des AfW, 1965–1972)
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B. INTERVIEWS, KORRESPONDENZ, MANUSKRIPTE Interviews, Korrespondenz, Gesprächsnotizen A.Y., Email an den Autor, 5.5.2010 A.Y., Autobiographische Notizen, Anhang zur Email vom 5.5.2010 Buttler, Paul Gerhardt, Brief an den Autor, 5.1.2010 Buttler, Paul Gerhardt, Email an den Autor, 10.1.2010 Cosmades, Thomas, Interview mit dem Autor (Transkript), 4.6.2009 F.L. (SMD), Interview mit dem Autor (Transkript), 26.4.2010 Ga.B., Interview mit dem Autor (Transkript), 26.4.2010 G.M. (SMD), Gesprächsnotiz, Telefonat mit dem Autor, 14.12.2009 Gü.B., Gesprächsnotiz, Telefonat mit dem Autor, 3.5.2010
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Unveröffentlichte Texte1 AfW, IB 10, 1965 = AfW, Dienst an ausländischen Studenten, Informationsblatt Nr. 10, Juni 1965, SMD-Archiv, AfW-K AfW, IB 11, 1965 = AfW, Tips für erste Kontakte mit ausländischen Studenten, Informationsblatt Nr. 11, Juni 1965, SMD-Archiv, AfW-K Avery, Robert, Der Hintergrund der Missionsarbeit in der Türkei, Anhang zum Protokoll der ODTagung am 17.1.1966, OD-Archiv, OP6475 Beaumont, Jacques, Die islamischen Arbeitnehmer in Frankreich, Referat auf der 18. KfA, 4.11.1965, EZA 5013/10 Sign. 6/8610 E.Ö., Bibelarbeit zu Offenbarung 3, 7–13, Anhang zum Protokoll der OD-Tagung am 18.5.1974, OD-Archiv, OP6475 E.Ö., Wie gestalten wir unsere Begegnung mit den Moslems?, Anhang zum Protokoll der ODTagung am 8.5.1975, OD-Archiv, OP6475 Hermelink, Jan, Die Verantwortung der Kirche und ihrer Glieder gegenüber den Gästen aus Asien und Afrika, Zusammenfassung des Referats von Pastor Hermelink im Kirchlichen Aussenamt, Frankf. am 21. Juni 1957 (von Kons.Rat. Posth, Berlin) [3 Seiten], EZA 6/8602 Heusser, Jürg., Besprechung des türkischen Buches „Garp Hizmeti“ von Osman Erkmen – Religionsbeauftragter der türkischen Regierung, Wiesbaden, 18.5.1974. OD-Archiv, Kopie Heusser, Jürg, Worum es ging und worum es geht, Oktober 1984, Privatbesitz Heusser, Kopie Heusser, Jürg, 33 Jahre Türkenarbeit in Deutschland, Manuskript 2001, Privatbesitz Heusser, Kopie Heusser, Jürg, Geschichte und Entwicklung der missionarischen Arbeit unter Türken [2002], Privatbesitz Heusser, Kopie
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Nur die in den Fußnoten in Kurzform belegten unveröffentlichten Texte sind hier aufgeführt.
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REGISTER DER PERSONEN UND ORGANISATIONEN Abadan, Nermin 55, 60 Abdullah, Muhammad S. 34, 37, 62, 356, 358–61, 368, 377, 386–87, 396, 443, 467 Adenauer, Konrad 41, 45 Adeney, David 191 Africanum, Ökum. Wohnheim, Frankfurt 177, 192 Ahmad, Khurshid (Islamic Foundation) 131, 134, 392 Ahmad, Mirza Ghulam (Ahmadiyya) 36 Ahmadiyya-Bewegung 35–41, 52, 59, 119, 172, 266, 359, 444 Akademisches Auslandsamt 49–50 Al-Aqqad, Abbas Mahmud 311 Al-Bakr, Hasan Ahmad (Irak) 48 Al-Banna, Hassan 84, 290, 298 Al-Faruqi, Ismail (USA) 35, 131–33 Al-Ghazali, Abu Hamid 73, 75, 216 Al-Hallag, Husein ibn Mansur 76 Allmen, Daniel von 379 Al-Maududi (Pakistan) 35 American Board of Commissioners (ABCFM) 85, 88, 243, 245–48, 259, 493 Amerikanische Mission, Ägypten Siehe United Presbyterian Mission Amerikanische Universität, Kairo 288 An-Naggar, Abdalwahab 298 Aramäische Freie Christengemeinde 431 Arbeiterwohlfahrt (AWO) 58, 67–69, 208, 335, 339, 351, 376, Siehe auch Türk Danis Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen (AEM) 228, 230, 275, 343 Arbeitsgemeinschaft für Ausländermission (AfA) 193, 474 Arbeitsgemeinschaft für freikirchliche Missionarskurse (AfM) 230, 242, 275, 343 Arbeitskreis für Migration und Integration (AMIN) 474 Arbeitskreis für Weltmission (SMD) 187– 93, 201–7 Armenisch-apostolische Kirche 55
Armenisch-evangelische Kirche 260 Aschke-Lepsius, Viola 217 Asian-African Conference 1955 (Bandung) 32, 42 Askari, Hassan 130, 363 Asmara-Konferenz 1959 109, 113, 117 Augustana-Hochschule Neuendettelsau 118 Auschuss für den Kirchlichen Dienst an Ausländischen Arbeitnehmern (AKDAA) 349, 350, 352, 374, 379, 447 Ausländerdienst der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) 235 Auswärtiges Amt (Bonn) 41, 154, 332–34 Avery, Robert (Istanbul) 245, 246 Baath-Partei 47 Badaliyya-Orden (Massignon) 76 Bagdad-Pakt 47 Balic, Smail 377, 378, 388–89, 396, 443, 467 Bandung (Asian-African Conference 1955) 32 Bars, Rudolf 220 Barth, Christian Gottlob 256 Barth, Karl 70, 85, 96, 107, 298 Basler Mission 96, 100, 286, 292, 345 Basler Missionsseminar 100, 285–87, 294 Beaumont, Jacques (CIMADE) 335 Beck, Johann Tobias 99 Becken, Hans-Jürgen 229, 236, 237, 316, 348 Beckmann, Klaus-Martin 230 Bethel-Mission 217 Beyerhaus, Peter 96, 97, 99, 137, 343, 345, 387 Bibelmission in Deutschland 218, 219, 234, 235, 250, 260 Bichon, Jean (Arabist, Algier) 254, 273 Bijlefeld, Willem A. 70, 101, 114–16, 128 Bischofberger, Otto 402 Bishop, Eric F.F. (CMS) 289 Bittighofer, Manfred 237 Bouman, Johan 232, 234, 271, 276, 346–47 Brandenburg, Hans 183 Brandt, Willy 57, 59, 349
526 Breklumer Mission 168, 217, 241 British Syria Mission 108 Brochet, Henri (Schriftsteller) 263 Brot für die Welt 223 Brown, David (Bischof) 124, 125, 278, 280 Brugman, Jan (Orientalist) 276 Buber, Martin 339, 340, 458 Bultmann, Rudolf 5, 338 Bund deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) 157 Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) 333 Bundesministerium des Inneren (BMI) 333 Bundesministerium für Arbeit (BMA) 157 Bundestreffen deutschsprachiger Muslime 394 Burkhardt, Paul (Johanneum) 285 Bürki, Hans 180, 191 Busse, Joseph (Bethel-Mission) 217 Buttler, Paul Gerhardt 125, 220, 238, 241, 242, 274, 275, 276, 326, 348, 361, 438 Caritas 67 Carl-Duisberg-Gesellschaft 159, 339, 357 Cash, Wilson (CMS) 83 Central College Canterbury 108 Central Turkey College 80 Centre Chrétien d´Etudes Maghrébines (Algier) 273 China Inland Mission 138 Christlicher Literaturfond (ÖRK) 246 Christlicher Studentenweltbund (WSCF) 51 Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle (CIBEDO) 377, 387 Christoffel-Blindenmission (CBM) 229, 235, 259 Church Missionary Society (CMS) 74, 82, 83, 106, 289 CIBEDO Siehe Ökumenische Kontaktstelle für Nichtchristen (ÖKNI), Siehe Christlich-Islamische Begegnungs- und Dokumentationsstelle CIMADE Siehe Comité Inter-Mouvements Auprès Des Evacués Comité Inter-Mouvements Auprès Des Evacués (CIMADE) 273, 335 Cosmades, Thomas 243, 251, 256–57, 263, 264, 265, 401 Cragg, Kenneth A. 95, 108–14, 117, 138, 215, 258, 466 und Holsten 340 und Höpfner 312, 320
Register und Jasper 370 und Lausanner Bewegung 137, 145, 150 und Löffler 365 und ÖRK 133 Crossley, John 379 Damm, Hans Heinz 178, 188, 190, 194, 195, 196, 200, 201, 202 Dammann, Ernst 217 Danckwortt, Dieter 42, 48, 51 Deitenbeck, Paul (DEA) 242 Demirel, Süleyman (Türkei) 57 Denffer, Ahmad von 21, 53, 389–95, 396, 397, 441, 443, 467 Deqani-Tafti, Hassan (Iran) 246, 248, 258, 318, 490 Dessien, Eberhard von 474 Deutsche Bibelgesellschaft 234 Deutsche Bischofskonferenz (DBK) 351, 377 Deutsche Bundesbahn 60, 195 Deutsche Evangelische Allianz 228, 235, 242–45, 244, 345, 445, 446 Deutsche Evangelische Oberschule Kairo 306 Deutsche Missionsgemeinschaft (DMG) 235, 236, 278 Deutsche Muslim-Liga 53 Deutsche Welle (Radio) 66 Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) 41, 47, 50 Deutscher Evangelischer Missionsrat (DEMR) 152, 156, 159, 167, 210, 216–18, 223, 226, 238–42, 273, 275, 333, 341, 345, 361–74 Islam-Handreichung 1977 368 Theologische Kommission (Dialogbericht) 341 und Türkische Botschaft 333 Deutscher Evangelischer Missionstag (DEMT) 48, 202, 345, 369 Breklum (1956) 32, 152 SMD 190 Spandau (1963) 216 Deutsches Orient-Institut (DOI) 212 Deutsch-Türkische Gesellschaft (DTG) 45 Diakonisches Werk (EKD) 349 Diakonisches Werk in Hessen und Nassau (DWHN) 235, 237 Diakonisches Werk Württemberg 235 Dienste in Übersee 223 Diyanet (türk. Religionsbehörde) 60, 63, 66
Register Dolmetscher-Ersatz- und Lehr-Kompanie 300 Dorman, Harry G. 117 Dulon, Günter (DEMR) 226, 227, 228, 238, 261 Ecevit, Bülent (Türkei) 56, 58 Eckmann, Janos (Turkologe) 245 Ehmke, Bernhard (BMA) 157 Enderlin, Samuel Jakob 81–84, 290 und Höpfner 287–300 Erkmen, Osman 61, 251, 264, 265, 356, 357, 358, 383–85, 443, 466, 481, 492 Esenkova, Enver (Soziologe) 269, 278, 378, 492 Evangelical Alliance Mission (TEAM) 243 Evangelische Akademie Arnoldshain 209, 214, 337 Evangelische Akademie Bad Boll 153, 158, 163, 193, 273 Evangelische Akademie Berlin 194, 356, 357 Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (EAGWM) 175, 219, 237, 341, 362 Evangelische Ausländerseelsorge (ELKWue) 236, 237 Evangelische Gesellschaft Stuttgart (eva) 218, 235 Evangelische Karmelmission 214, 217, 235, 260, 274 Evangelische Kirche der Union (EKU) 156, 159 Evangelische Kirche im Rheinland 198, 367 Evangelische Kirche in Ägypten (Nilsynode) 192, 289, 305, 309, 310, 431 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 16, 152, 154, 208, 214, 333, siehe Konferenz für Ausländerfragen, siehe Kirchliches Außenamt, siehe auch Hilfswerk der EKD Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) 218, 224, 225, 227, 229, 235, 236, 308, 316, 345, 379 Diakonisches Werk 237 Missionskammer 308, 337 und Höpfner 220–22, 315 Evangelische Kirche von Westfalen 367 Evangelische Landeskirche in Württemberg (ELKWue) 218, 225, 227, 235, 237, 267
527 Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) 22, 182, 209–13, 209–13, 218, 225, 284, 302, 305, 392, siehe Evangelische Muhammedaner-Mission (EMM), Siehe Sudan-Pionier-Mission (SPM) Evangelische Mittelostkommission (EMOK) 229, 230 Evangelische Muhammedaner-Mission (EMM) 100, 106, 284, Siehe Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) Evangelischer Ausländerdienst (EAD) 211, 215, 218, 226, 228, 235, 251 Evangelischer Kirchentag 159 1963 Dortmund 214, 313 1973 Düsseldorf 362–65 Evangelischer Verein für das Syrische Waisenhaus 217 Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW) 20, 369 Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS) 229, 230, 316, Siehe Südwestdeutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Schriesheim 235 Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (ELKB) 159, 175 Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers 117, 236, 474 Evangeliumsdienst an Iranern 474 Evangeliums-Rundfunk (ERF) 228, 229, 234, 262 Ewald, Günter (Mathematiker) 196 Faisal I. (König, Irak) 84 Faisal II (König, Irak) 47, 405 Falaturi, Abdoldjavad 44 Faruk (König, Ägypten) 84, 303 Fehler, Ernst (MSOE) 242, 244 Finnische Volksmission 228, 235, 250 Fitzgerald, Michael 378, 381 Foucauld, Charles de 213 Freiherr von Ehrenfels, Umar Rolf 357 Freytag, Walter 103–6, 107, 151, 202 Achimota 309 und Höpfner 308, 319 Fritz, Renate (OD) 223, 229, 268, 428 Fuller School of World Mission (SWM) 140 Fuller Theological Seminary, Pasadena 140
528 Gairdner, William H. T. 72, 74–76, 82 und Höpfner 257, 296 Ganns, Harald (WUS) 51 Geertz, Clifford 142 Gensichen, Hans-Werner 39, 159, 240, 315, 327, 341, 398, 452, 470 Gitari, David (Kenia) 196 Glasser, Arthur F. 140, 148, 191 Goebels, Karl (Probst) 177, 178 Gospel Missionary Union (GMU) 138, 184 Goßner Mission 117, 156, 158, 159, 163, 212 Grimm, Abdul Karim 54 Haar, Richard (AWO) 68 Hage, Wolfgang 276, 278 Hallencreutz, Carl 85, 94, 95, 125, 127, 216 Hamburger Abendblatt 37 Hanseatischer Missionsdirektor 103, 168, 176, 446 Hansen, Olav (Hermannsburg) 191 Harkness, Georgia 247 Harms, Hans Heinrich (Bischof, DEMR) 240, 345 Hartenstein, Karl 85, 96–100, 116, 286, 294, 296, 317, 450 Hartford Seminary Foundation 108, 115 Harvard University 126, 178 Heinemann, Gustav 351 Held, Johannes (EMO) 284 Herm, Bruno (DMG) 234, 278 Herm, Daniel (Wiedenest) 275 Hermann, Henning (WEC) 226, 228, 278 Hermelink, Jan (DEMR) 24, 156, 159–63, 170, 203, 443, 453, 468 Hess, Hans Erich (EKHN) 220 Heusser, Jürg (Orientdienst) 223, 229, 234, 267, 383, 424, 427, 430, 432–34, 443 Hilfsbund für das Liebeswerk im Orient 214, 217, 218 Hilfswerk der EKD 22, 151, 155, 159, 176, Siehe auch Diakonisches Werk (EKD), Siehe auch Innere Mission Hiller, Johannes 175 Hocking, William E. 74, 80, 84, 85–88 Hoekendijk, Johannes C. 107, 115, 116, 120, 128, 161, 450, 452, 456 Hoffmann, Gerhard (DEMR) 218, 231, 238, 246, 337 Höffner, Josef Kardinal (Köln) 375 Holsten, Walter 5, 29, 117, 195, 196, 219, 224, 232, 240, 272, 274, 276, 277, 336, 338–41, 457
Register Höpfner, Lotte (geb. Wawersik) 292, 300, 305, 307 Höpfner, Willi 5, 33, 220–22, 284–331, 391, 417, 429, 432, 456–57 Bekehrung/Konversion 327–29 Handreichung DEMR 371–73 Handreichung EKD 352 Interreligiöser Dialog 325–27, 346 Islamverständnis 294–300, 310–12, 319–21 Kirchentag 1963 214, 365 Orientalismus 321–23 Theologia crucis 323–24 Vorsitz DEMR-Islamkommission 239– 42, 315 Hussein, Muhammed Kamil (Schriftsteller) 311 Hutten, Karl 39 Idowu, Bolaij 48, 158, 173–74 Imam-hatip-Schulen 335 Innere Mission (EKD) 159 Inönü, Ismet (Türkei) 45, 56 Institut Biblique et Missionnaire Emmaüs (Vennes-sur-Lausanne) 181 Institut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart) 154 Institut Kerk en Wereld, Driebergen 216 International Fellowship of Evangelical Students (IFES) 178 Internationale Studententreffen (SMD) 193–201 Internationaler Missionsrat (IMR) 89, 103 Achimota, Ghana 1958 309 Islamkonferenzen 70, 77–79 Jerusalem 1928 70, 76, 80, 83, 85, 89, 96, 294 Staten Island NY 1954 104 Tambaram 1938 84, 88, 89, 103, 294, 297 Whitby 1947 98, 151, 301 Willingen 1952 5, 96, 99, 301 Iraqi Petroleum Company 47, 404 Iskandar, Mina 209 Islamic Foundation, Leicester 34, 131, 389, 392, 468 Islam-in-Afrika-Projekt 115, 217, 238, 377, 382 Islam-in-Europa-Auschuss (KEK) 217, 377, 382 Islamisch-Christliche Arbeitsgruppe (ICA) 355, 459 Islamische Konferenz (1972) 359
Register Islamische Weltliga 360 Islamisches Zentrum Aachen 53 Islamisches Zentrum München 53, 389 Islam-Rat für Europa (1973) 359 Islamreferat der EKD 208, 474 Islamreferat der Rheinischen und Westfälischen Landeskirchen 367 Jäger, Eugen (Diakon, eva) 218 Jantzen, Herbert 196 Jäschke, Gotthard (Turkologe) 278 Jasper, Gerhard 23, 100, 228, 283, 316, 367–68, 367–74, 443 und Höpfner 316 Jerusalemsverein 228 Johanneum Wuppertal 284–86 Kades, Tharwat 192, 195, 196, 232 Kaiserswerther Diakonie 302 Kandil, Fuad 54 Kaplan, Cemaleddin 64 Katholischer Akademischer AusländerDienst (KAAD) 155 Kellerhals, Emanuel 40, 82, 85, 100–103, 100, 117, 202, 318, 320, 353 Kemal, Mustafa (Atatürk) 45, 416 Khalid, Duran 18, 469 Khan, Zafrullah (Ahmadiyya) 38 Khodr, Georges 129, 347, 365 Kirchliches Außenamt (EKD) 67, 154, 155, 303, 349–56 und Höpfner 301–3 und Orientdienst 235 Klee, Ernst (Publizist) 351 Kohlbrugge, Hanna (Iranistin) 158, 281 Konferenz Bekennender Gemeinschaften 343 Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) 377 Konferenz für Ausländerfragen (EKD) 173, 175, 202, 206, 334–37, 334, 355 27. Konferenz 1972 349 Konföderation Iranischer Studenten 44 Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland 16, 441, 467 Koptische Kirche 47, 209, 277, 289, 291, 304, 309, 431 Kraemer, Hendrik 70, 89–96, 107, 108, 114, 216 Bethel 1959 117 Biblischer Realismus 461 und Cantwell Smith 127 und Holsten 339 und Höpfner 297, 312–14, 318
529 und Löffler 365 und SMD 204 Kraft, Charles H. 140–43, 144, 148, 461 Kretzmann, Martin (USA) 278 Ksara, Mehdi (Evangelist) 184–87, 505 Kunst, Hermann (EKD) 154 Kunze, Abdus-Schakoor (Ahmadiyya) 38 Lagershausen, Karl 193 Latif, Abdul (Ahmadiyya) 37–39 Latourette, Kenneth S. 88 Lausanner Bewegung (LCWE) 113, 136– 50, 448, 449, 451, 459 Lausanne 1974 143, 280, 366, 421 Lavigerie, Charles (Weiße Väter) 119 Le Coutre, Eberhard 151, 176 Leeuwen, Arend Theodor van 216 Lepsius Deutsche Orientmission 217, 234, 259, 486 Leudesdorff, René 350, 351 Levonian, Lutfi 247, 366 Löffler, Paul 135, 362–67, 369, 373–74, 378 Lüderwaldt, Detlev (DWHN) 350 Ludolph, Erica (DWHN) 237, 238 Mackey, John A. 88 Maechler, Winfried 356, 357 Malsch, Carl 176, 177 Margull, Hans Jochen 124, 125, 126, 128, 130, 160, 162, 169–71, 174, 215, 398, 450, 451 Markfield Institute of Higher Education siehe Islamic Foundation, Leicester Marquardt, Friedrich-Wilhelm 158 Marquardt, Horst (ERF) 262 Massignon, Louis 76–77, 121 McGavran, Donald 137 Menderes, Adnan (Türkei) 45, 56 Merklin, Hans (EMO) 258, 285, 291, 300 Merrill, John E. (Türkei) 80 Methodistische Kirche 173, 225, 228, 241, 267, 379 Meyer, Heinrich (Missionswissenschaftler) 191, 206, 331 Michel, Otto (Professor) 183, 278, 343, 517 Micksch, Jürgen (EKD) 16, 349, 352, 379, 448 Middle East Christian Council (MECC) 78, siehe Near East Christian Council Mildenberger, Michael 61, 208, 352, 358– 61, 360, 378, 383, 474 Milli Görüs 63
530 Mission für Süd-Ost-Europa (MSOE) 211, 226, 228, 235, 242 und Türkische Botschaft 333 Missionsakademie (Hamburg) 103 Missionsbund Licht im Osten 183, 215 Missionshaus Wiedenest Siehe Missionshilfe Wiedenest Missionshilfe Wiedenest 153, 183, 242 Mohammed V. (König, Marokko) 179 Moritzen, Niels-Peter 223, 232, 238, 276, 277, 282, 334, 341 Morrison, Stanley A. (CMS) 82, 83 Moscheen 59, 62 Ahmadiyya (Lahore)-Moschee (BerlinWilmersdorf) 37 Fazle Omar Moschee (Hamburg) 38 Imam-Ali-Moschee (Blaue Moschee, Hamburg) 52 Nuur-Moschee (Frankfurt) 38 Mossadegh, Muhammed (Iran) 43 Mott, John R. 71, 77–79, 82 Moubarac, Youakim 121 Mukti Ali, Abdul (Indonesien) 130 Mulder, D.C. 280 Müller-Krüger, Theodor (DEMR) 216, 224, 239, 508, 510, 511 Murad, Khurram 393, 395 Muslimbruderschaft 34, 47, 53, 54, 84, 303, 304, 310 Naguib, Muhammed 46, 304, 306 Nahostkommission der EKD Siehe Evangelische Mittelostkommission Nasser, Gamal Abdel 43, 46, 304, 313 Near East Christian Council (NECC) 72, 78, 85, 88–89, 89, 108, 258, 318 Near East School of Theology 106, 346 Nehru, Jawaharlal (Indien) 42 Neill, Stephen 341 Neuendettelsauer Mission 118 Newbigin, Lesslie 345, 470, 471 Newman School of Missions, Jerusalem 289 Nida, Eugene A. 140 Niemöller, Martin 154, 215 Nile Mission Press 72 Nirumand, Bahman (Iran) 44 Nordelbisches Missionszentrum (NMZ) 235 North Africa Mission (NAM) 138, 184 Nurculuk-Bewegung 65–66 Nursi, Said (Nurculuk-Bewegung) 65 Ohm, Thomas (Missionswissenschaftler) 119–21
Register Ökumenische Kontaktstelle für Nichtchristen (ÖKNI) 124, 375, Siehe auch CIBEDO Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK) 150, 151, 315, 326, 362 Addis Abeba 1971 347 Code Conversion 472 Dialogprogramm 70, 124–36 Evanston 1954 107 Literaturfond 246 Migrationskonferenz 1963 (Arnoldshain) 214 Missionsabteilung 131 Nairobi 1975 130, 135, 366, 387 Neu-Dehli 1961 302, 330 Uppsala 1968 137, 342, 346 Ökumenisches Studienwerk 175 Operation Mobilisation 249, 250, 365 Orientdienst (OD) 5, 209–83, 314–31 Bezeichnung 211 Präsenz-Arbeit 212–13 und AfM/AEM 228, 230, 275, 343, 348 und DEMR 210, 215, 216–20, 238, 361–62 und EKHN 220–22, 224, 237 und EMS 229, 236, 348 und Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (EAGWM) 237 und Frankfurter Erklärung 345–48 und Nahostkommission der EKD 229 und Walter Holsten 338–39 und Württembergische Landeskirche 225, 235, 236, 237, 267 Padwick, Constance E. 76, 296, 319 Papst Paul VI. 76, 121, 123 Paret, Rudi 318 Parshall, Phil 140 Parzany, Ulrich 272 Pfanschilling, Ernst (EMO) 209, 212, 214, 215, 263 Polat, Abdulkadir (VIKZ) 60 Pörksen, Martin 168, 166–69, 176, 177, 191, 202, 214, 215 Qasim, Abd al-Karim (Irak) 47, 405 Qutb, Sayyid 53 Raeder, Siegfried 33, 276, 281 Rafla Efendi (Assuan) 291 Ramadan, Said 53 Rapp, Ludwig (Afrikanist) 219 Rasjidi, Muhammad (Indonesien) 133 Rathgeber, Walter (DWHN) 221, 238
Register Redhouse Press (Istanbul) 245, 259 Rheinische Mission 96, 216 Richter, Julius (Missionswissenschaftler) 79–81, 88, 298 und Höpfner 296 Riggs, Henry H. (AB) 88 Ritschl, Albrecht 86 Rohrbach, Heiko (ESG) 158, 163, 178 Roloff, Ulrich (Brot für die Welt) 223, 263, 266 Rosenkranz, Gerhard 160, 299, 341, 343, 344, 345 Rudvin, Arne (Norwegen) 131, 281 Ruf, Walther 117, 168 Said, Edward 321 Samartha, Stanley J. 124 Sander, Gerhard (Hilfsbund) 217 Schaefer, Hans-Edgar (EMO) 284 Schah, Rezah (Iran) 43 Schäkir, Juhanna 288, 290, 292, 307, 321 Schick, Erich 287 Schimmel, Annemarie 117 Schleiermacher, Daniel F. 86 Schmiedinghoff, Erich (Karmelmission) 217 Schnauz, Alfred (MSOE) 264 Schober, Theodor (Diakonisches Werk) 349 Schoen, Ulrich 369, 370, 377, 409, 456 School of Oriental Studies, Kairo 78, 288 Schrupp, Ernst 40, 153, 178, 183, 241, 242, 275, 343 Schumann, Olaf 232, 274, 278, 311, 363, 457, 515 Selly Oak Colleges, Birmingham 131, 271, 315, 367 Sicard, Sigvard von 367 Siem, Tijn Hing (ESG) 158 Simon, Gottfried 96, 297 Sjollema, Boudewijn (ÖRK) 214 Slomp, Jan 279, 378, 388, 516 Smaadahl, Sverre (UBS) 236, 250, 260 Smith, Terrell (SMD) 193 Smith, Wilfred Cantwell 126–28, 131, 138, 451 und Höpfner 318 und Kellerhals 101 Sookhdeo, Patrick 378 Sözeri, Mustafa Sabra 61 Sözeri, Salahaddin (AWO) 68 Spuler, Bertold 275 Stacey, Vivianne 278 Steppat, Fritz 278
531 Stieglecker, Hermann 318 Stott, John R. 137, 143 Stratenwerth, Gerhard 154, 157, 335, 334– 37 Studd, C.T. 225 Studentenbund für Mission (SfM) 105, 170 Studentenkonferenz für Weltmission (SMD) 190, 193 Studentenmission in Deutschland (SMD) 178–206, 271–72 Sudan-Interior-Mission (SIM) 138 Sudan-Pionier-Mission (SPM) 21, 81, 138, 284, Siehe Evangelische Muhammedaner-Mission (EMM), Siehe Evangelische Mission in Oberägypten (EMO) Sudan-United-Mission (SUM) 138 Südländerdienst 211, 242–43, Siehe Deutsche Evangelische Allianz, Siehe Mission für Süd-Ost-Europa (MSOE) Südwestdeutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Weltmission (SEAGWM) 229, 235, 273, 274 Sukarno (Indonesien) 42 Süleyman Hilmi Tunahan Efendi 64 Süleyman-Bewegung (VIKZ) 64–65 Sundermeier, Karl 178, 180 Symanowski, Horst 158, 163, 213, 450 Syrisch-orthodoxe Kirche 55, 223, 277, 429, 430 Tansania-Kommission 241 Taylor, Hudson 138 Taylor, John B. (ÖRK) 232, 271, 315, 378, 513 Technische Hochschule Darmstadt 308 Theologischer Konvent Bekennender Gemeinschaften 343 Thomas, M.M. 128 Tillich, Paul 116 Toynbee, Arnold 160 Trimingham, John Spencer 106, 107, 329 Troeger, Eberhard 168, 187, 190, 192, 234, 272, 379, 380 Türk Danis (AWO) 67–69 Türkische Botschaft (Bonn) 332–34 Türkische Religionsbehörde (Diyanet) 61 Türkisch-Islamische Union (DITIB) 66 Tüylüoğlu, Harun Reşhit (VIKZ) 35, 65 Union muslimischer Studentenorganisationen 53 United Bible Societies (UBS) 250, 260
532 United Church Board for World Ministries 245 United Nations Organization (UNO) 114 United Presbyterian Church in the U.S.A 113 United Presbyterian Mission (Amerikanische Mission) 71, 289, 304, 310, 431 Universitäten 45, 49, 119, 177, 339 Algier 273 Berlin 158, 198 Birmingham 315 Bochum 346 Erlangen 118, 190 Frankfurt 177, 308 Freiburg 51 Gießen 308 Göttingen 185 Hamburg 42, 103, 171, 176 Heidelberg 159 Ibadan (Nigeria) 108 Istanbul 421 Kairo (Al-Azhar) 209, 290 Kairo (Amerikanische) 72, 288, 312 Kiel 103 Mainz 117, 308, 409 Marburg 276 München 175 Tübingen 180, 276 Unruh, Margarete (EMO) 82, 182, 184, 211, 284, 428 Urbana-Missionskonferenzen 188 Vatikanum II 70, 77, 121–24, 177, 375 Verband deutscher evangelischer Missionskonferenzen (VEMK) 117 Verband deutscher Studentenschaften (VDS) 157 Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) 35, 60, 64 Verein für Ökumenische Studentenwohnheime (Hamburg) 176 Vereinigte Evangelische Mission (VEM) 23, 367 Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) 20, 156, 167, 217 Vereinigung Irakischer Studenten (VIS) 48 Vicedom, Georg 33, 40, 118, 168, 191, 202, 344
Register Missio Dei 107, 203 Vöcking, Hans 377 Volkmann, Bodo (Mathematiker) 196 Wanzura, Werner (Weiße Väter) 275, 375– 77, 459 Warneck, Gustav 79 Warren, Max 104, 108, 112, 213 Wassermann, Walter 232, 233, 273, 274 WEC International 225, 228, 235 Weigle-Haus, Essen 192 Welter, Adolf B. 226, 244, 336 Weltfriedensdienst 212 Weltkongress für Evangelisation (Berlin 1966) 342 Weltmissionskonferenz (IMR) Siehe Internationaler Missionsrat Weltmissionskonferenz (ÖRK) 1963 Mexico-City 138, 206, 223, 230, 330–31, 341 1973 Bangkok 125, 128, 129, 326, 342, 345, 348, 386, 387 Weltmissionskonferenz Edinburgh 1910 77, 79 Westdeutscher Rundfunk (WDR) 58, 61 Wiedenester Mission Siehe Missionshilfe Wiedenest Wiesinger, Siegfried (CBM) 217 Wilder-Smith, Ernest 179 Wischmann, Adolf (KA) 154, 156, 349 Wolff, Hans Walter (Alttestamentler) 280 Woods, Stacey (IFES) 196 World Association for Christian Communication (WACC) 246 World Evangelical Alliance (WEA) 17, 472 World University Service (WUS) 50–51 Yüksel, Ali Sait (AWO) 46, 68, 335 Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) 155 Zentralstelle für Arbeitsvermittlung, Frankfurt 157 Zentralverband für Äußere Mission (Bayern) 168, 202 Ziemendorff, Wilhelm (Dekan) 287 Zwemer Institute of Muslim Studies 150 Zwemer, Samuel M. 71–74, 80, 82, 86, 137, 139, 150 in Wiesbaden 287 und Höpfner 296, 299, 309, 313, 317
Die Bildungs- und Arbeitsmigration der 1950er bis 1970er Jahre hat zu neuen Formen der interkulturellen und interreligiösen Wahrnehmung in der Bundesrepublik Deutschland geführt. Friedemann Walldorf beleuchtet hier die missionarischen Entwicklungen, die sich in diesem Kontext auf transnationaler, institutioneller und individueller Ebene zwischen Christen und Muslimen vollzogen, erstmals als Aspekt der religiösen und kirchlichen Zeitgeschichte. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen die Initiativen und Diskurse protestantischer Islambegegnung im Rahmen
des Deutschen Evangelischen Missionsrats (DEMR) und des 1963 von Willi Höpfner begründeten Orientdienstes in Wiesbaden sowie damit zusammenhängende Kontroversen, Konversionen und Gemeinschaftsbildungen als Ausdruck selbstbestimmter Identitätskonstruktion. Die missionarische Begegnung beschreibt der Autor als transkulturellen Prozess, der zu neuen Wahrnehmungen und Selbstverständnissen führte und zugleich Herausforderungen und Ressourcen für ein friedliches Zusammenleben zwischen religiösen Gruppen in einer pluralen Gesellschaft aufzeigt.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11293-2
9
7835 1 5 1 1 2932