Religion und Religionskritik: Ein Arbeitsbuch 9783825237325, 382523732X

Das neuzeitliche Religionsverständnis hat seine Wurzeln im Humanismus der Renaissance und entwickelt sich im 17. Jahrhun

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Vorwort
§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff
1. Ein grundlegender Bedeutungswandel
1.1 Religio - das vorneuzeitliche Religionsverständnis
1.2 Die Entdeckung des Menschen - der Renaissance-Humanismus
1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis
2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion
2.1 Definitionen
2.2 Wie sinnvoll ist eine Definition von Religion?
§ 2 Die Kritik der Religion
1. Die Aufklärung
2. Thomas Hobbes
3. Baruch de Spinoza
4. John Locke
5. John Toland
6. Voltaire
7. Jean-Jacques Rousseau
8. Gotthold Ephraim Lessing
9. Immanuel Kant
10. Der Idealismus
10.1 Johann Gottlieb Fichte
10.2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel
11. Kurze Zwischenbilanz
§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung
1. Die Neologie
1.1 Friedrich Germanus Lüdke
1.2 Johann Joachim Spalding
1.3 Johann Salomo Semler
2. Der Rationalismus
2.1 Hermann Samuel Reimarus
2.2 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus
3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
4. Philipp Konrad Marheineke
5. Kurze Zwischenbilanz
§ 4 Die Religionskritik
1. Eine vorläufige Begriffsbestimmung
2. Die philosophische Religionskritik
2.1 Religionskritik in der Antike
2.2 Die Aufklärung
2.2.1 Jean Meslier
2.2.2 David Hume und der Empirismus
2.2.3 Paul Thiry d’Holbach
2.3 Auguste Comte
2.4 Ludwig Feuerbach
2.5 Max Stirner
2.6 Friedrich Nietzsche
2.7 Philosophische Religionskritik im 20. Jahrhundert
2.7.1 Nicolai Hartmann
2.7.2 Helmuth Plessner
2.7.3 Ludwig Wittgenstein und die analytische Philosophie
2.7.4 Der kritische Rationalismus
3. Die gesellschaftskritische Religionskritik
3.1 Moses Heß
3.2 Pierre Joseph Proudhon
3.3 Karl Marx
3.4 Friedrich Engels
3.5 Vladimir Iljitsch Lenin
4. Die psychologische Religionskritik
4.1 Sigmund Freud
4.2 Theodor Reik
4.3 Wilhelm Reich
4.4 Tilmann Moser
4.5 Horst Eberhard Richter
5. Der radikale Existenzialismus
5.1 Albert Camus
5.2 Jean-Paul Sartre
6. Kurze Zwischenbilanz
§ 5 Die Ambivalenz der Religion
1. Differenzierungen im Umgang mit der Religion
2. Arthur Schopenhauer
3. Emile Durkheim
4. Max Weber
5. Ernst Bloch
6. Karl Jaspers
7. Karl Löwith
8. Kritische Theorie
8.1 Max Horkheimer und Herbert Marcuse
8.2 Theodor Wiesengrund Adorno
9. Vítezslav Gardavsky
10. Kurze Zwischenbilanz
§ 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion
1. Die funktionale Konzentration der Religion
2. Die philosophische Verteidigung: Hermann Lübbe
3. Die soziologische Verteidigung
3.1 Niklas Luhmann
3.2 Peter Ludwig Berger
4. Die psychologische Verteidigung: Erich Fromm
5. Kurze Zwischenbilanz
§ 7 Religion als Thema der neueren Theologie
1. Theologiegeschichtliche Entwicklung und systematische Typologie
2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt
2.1 Religion als frommes Selbstbewusstsein: Friedrich Schleiermacher
2.2 Religion als Konstitution der sittlichen Persönlichkeit: Wilhelm Herrmann
2.3 Religion als anthropologisches Spezifikum
2.3.1 Otto Pfleiderer
2.3.2 Wolfhart Pannenberg
2.3.3 Paul Tillich
3. Die religionsgeschichtliche Schule
3.1 Ernst Troeltsch
3.2 Rudolf Otto
4. Theologische Religionskritik
4.1 Karl Barth
4.2 Das religionslose Christentum
4.2.1 Dietrich Bonhoeffer
4.2.2 Die Säkularisierung des Christentums
4.2.3 Dorothee Sölle
4.3 Helmut Gollwitzer
4.4 Hans-Joachim Kraus
5. Theologische Renaissance der Religion
5.1 Falk Wagner
5.2 Friedrich Wilhelm Graf
5.3 Wilhelm Gräb
6. Kurze Zwischenbilanz
§ 8 Die Religion und die Religionen
1. Zivilreligion
1.1 Civil Religion: Robert N. Bellah
1.2 Problemanzeigen
2. Wiederkehr der Religion?
2.1 Die Rückkehr der Religionen: Martin Riesebrodt
2.2 Problemanzeigen
3. Theologie der Religionen
3.1 Pluralistische Religionstheologie: John Hick
3.2 Problemanzeigen
4. Kurzer Ausblick
Ausgewählte Literatur
Abkürzungen
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Religion und Religionskritik: Ein Arbeitsbuch
 9783825237325, 382523732X

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Michael Weinrich

Religion und Religionskritik Ein Arbeitsbuch 2., durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. theol. Dr. h.c. Michael Weinrich ist Professor für Systematische Theologie, Ökumenik und Dogmatik an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied in zahlreichen ökumenischen Dialogen und Gremien der EKD (DÖSTA, Meißen-Kommission, Dialog mit der Orthodoxen Kirche), auf europäischer (KEK, GEKE) und auf Weltebene (ÖRK, RWB, jetzt: WGRK).

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ’ 2012, 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: h Hubert & Co., Göttingen Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Ulm UTB-Band-Nr. 3453 ISBN 978-3-8252-3732-5 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. Ein grundlegender Bedeutungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus . . 1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 13 15

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Wie sinnvoll ist eine Definition von Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 § 2 Die Kritik der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1. Die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Baruch de Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4. John Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 5. John Toland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 6. Voltaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 7. Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 8. Gotthold Ephraim Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 9. Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 10.

Der Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 10.1 Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 10.2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

11.

Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

1. Die Neologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1.1 Friedrich Germanus Lüdke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1.2 Johann Joachim Spalding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

6

Inhalt

1.3 Johann Salomo Semler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Der Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.1 Hermann Samuel Reimarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.2 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Philipp Konrad Marheineke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5. Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 § 4 Die Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

1. Eine vorläufige Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Die philosophische Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.1 Religionskritik in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.2 Die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.2.1 Jean Meslier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.2.2 David Hume und der Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.2.3 Paul Thiry d’Holbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2.3 Auguste Comte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2.4 Ludwig Feuerbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.5 Max Stirner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.6 Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2.7 Philosophische Religionskritik im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 129 2.7.1 Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.7.2 Helmuth Plessner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2.7.3 Ludwig Wittgenstein und die analytische Philosophie . . . . . . 136 2.7.4 Der kritische Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Die gesellschaftskritische Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1 Moses Heß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.2 Pierre Joseph Proudhon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.3 Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.4 Friedrich Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3.5 Vladimir Iljitsch Lenin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4. Die psychologische Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.1 Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.2 Theodor Reik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.3 Wilhelm Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.4 Tilmann Moser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4.5 Horst Eberhard Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5. Der radikale Existenzialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.1 Albert Camus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Inhalt

5.2 Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6. Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 § 5 Die Ambivalenz der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

1. Differenzierungen im Umgang mit der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Emile Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4. Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5. Ernst Bloch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 6. Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7. Karl Löwith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 8. Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 8.1 Max Horkheimer und Herbert Marcuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8.2 Theodor Wiesengrund Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 9. Víteˇzslav Gardavský . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 10.

Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

§ 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

1. Die funktionale Konzentration der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Die philosophische Verteidigung: Hermann Lübbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Die soziologische Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3.1 Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 3.2 Peter Ludwig Berger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4. Die psychologische Verteidigung: Erich Fromm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5. Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

1. Theologiegeschichtliche Entwicklung und systematische Typologie . . . . 237 2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . 239 2.1 Religion als frommes Selbstbewusstsein: Friedrich Schleiermacher 244 2.2 Religion als Konstitution der sittlichen Persönlichkeit: Wilhelm Herrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 2.3 Religion als anthropologisches Spezifikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2.3.1 Otto Pfleiderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2.3.2 Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2.3.3 Paul Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

7

8

Inhalt

3. Die religionsgeschichtliche Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3.1 Ernst Troeltsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3.2 Rudolf Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4. Theologische Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 4.1 Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4.2 Das religionslose Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.2.1 Dietrich Bonhoeffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.2.2 Die Säkularisierung des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.2.3 Dorothee Sölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 4.3 Helmut Gollwitzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 4.4 Hans-Joachim Kraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5. Theologische Renaissance der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 5.1 Falk Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 5.2 Friedrich Wilhelm Graf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 5.3 Wilhelm Gräb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 6. Kurze Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 § 8 Die Religion und die Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

1. Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1.1 Civil Religion: Robert N. Bellah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 1.2 Problemanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 2. Wiederkehr der Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 2.1 Die Rückkehr der Religionen: Martin Riesebrodt . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2.2 Problemanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3. Theologie der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 3.1 Pluralistische Religionstheologie: John Hick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3.2 Problemanzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4. Kurzer Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Vorwort Seit einiger Zeit – verstärkt nach dem 11. September 2001 – ist zu beobachten, dass die Religion wieder ein besonderes Interesse auf sich zieht und zwar weit über die mit ihr von Amts wegen befassten Zirkel hinaus. Damit wird eine Debatte (wieder-)belebt, welche die Neuzeit von ihren Anfängen an begleitet. Der heute verwendete allgemeine Religionsbegriff hat seine Wurzeln in den unversöhnlichen Konflikten des nachreformatorischen Konfessionalismus. Die aus den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Konfessionen erwiesen sich als unfähig, für ihre gegeneinander stehenden Wahrheitsansprüche eine gemeinsame Ebene für eine produktive Auseinandersetzung zu finden. Es waren vor allem Philosophen und sich gegenüber den Kirchen emanzipierende Politiker, die im Zuge des um sich greifenden Elends, das die Konfessionskriege anrichteten, disziplinierend auf die Streitparteien einwirkten. Ohne sich in den Wahrheitskonflikt einzumischen plädierten sie für eine den Konfessionen übergeordnete allgemeine Ebene, der sich diese unterzuordnen hatten. Das war die Religion. Im Horizont des allgemeinen Religionsverständnisses ging es um Spielregeln, die auf ein gedeihliches Zusammenleben ausgerichtet waren. Alle Glaubensrichtungen sollten sich ihnen fügen, wenn sie ihre öffentliche Akzeptanz nicht gefährden wollten. Die Streitparteien sollten dazu gebracht werden, jenseits ihrer vorläufig unabgleichbaren Wahrheitsansprüche anzuerkennen, eine Religion zu sein, von der grundlegende Standards eines friedlichen Zusammenlebens im entstehenden modernen Nationalstaat nicht in Frage gestellt werden. – Diese Frage nach den Standards der Religion hat übrigens durchaus ihre Aktualität behalten bzw. rückt heute wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit, beispielsweise in der Diskussion um die Gewaltbereitschaft fundamentalistischer Orientierungen (nicht nur im Islam) oder über die Verfassungsgemäßheit von Scientology. Ein Schlüsselproblem bleibt das Verhältnis zwischen Religion und Rechtsstaatlichkeit. Das vorliegende Arbeitsbuch führt in den neuzeitlichen Religionsdiskurs in seiner ganzen Breite ein. Sowohl die kritische Kraft des allgemeinen Regionsbegriffs gegenüber allen Selbstverabsolutierungen als auch die im 18. Jahrhundert vehement einsetzende Religionskritik werden in verschiedenen Facetten präsentiert, ebenso wie auch die verschiedenen Wege der sich gegen die Religionskritik behauptenden Religionsbegründung insbesondere seit dem 19. Jahrhundert. Dabei wird einerseits eine dem Gegenstand angemessene Differenzierung angestrebt, um nicht in konventionalisierten Typologisierungen stecken zu bleiben, wie sie sich etwa in der Religionskritik in der Kanonisierung von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud finden lässt. Anderseits bleibt das Arbeitsbuch weit davon entfernt, Vollständigkeit auch nur an-

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Vorwort

zustreben. Es bemüht sich um eine differenzierte Exemplarität, die gelegentlich auch Positionen mit geringerer theoretischer Explorationskraft, aber einem einflussreichen Wirkungspotenzial berücksichtigt. Nicht selten sind es die popularisierenden Vereinfachungen, die neuen Differenzierungs- und Vertiefungsbedarf aufdecken bzw. geradezu aufdrängen. Deshalb können schwache Positionen bisweilen auch von einem hohen didaktischen Rang sein. Die an Einzelpositionen orientierte Systematik des Buches stößt zum Ende hin mehr und mehr an ihre Grenzen, weil in der Gegenwart immer weniger einzelne Entwürfe und individuelle Religionsprofile die Diskussionen bestimmen als eben unterschiedliche Diskurse, die jeweils von verschiedenen Zuträgern leben. Eine systematisierende Präsentation kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Auch wäre diese angesichts des fehlenden Abstandes zu den gegenwärtig diskutierten Herausforderungen wohl zu sehr von eigenen Interpretationsoptionen geprägt. Gewiss greift der Anspruch auf eine vollständig neutrale Präsentation grundsätzlich zu hoch, aber im Blick auf die weiter zurückliegenden Debatten ermöglicht der größere Abstand aufgrund der bereits greifbaren Wirkungsgeschichte doch eine abgeklärtere Darstellung. Die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln geben über die Benennung der jeweils eingenommenen Perspektive hinaus einige Interpretationshinweise, die auch indirekt eine Auskunft über die getroffene Auswahl der vorgestellten Positionen erteilen. Es empfiehlt sich nach dem Durchgang durch ein Kapitel die jeweilige Einleitung erneut zu lesen, weil davon ausgegangen werden kann, dass die dort gegebenen Hinweise nach dem Gang durch die einzelnen Unterkapitel im Blick auf ihre ganze Reichweite noch differenzierter verstanden werden können. Die jeweiligen kurzen Zusammenfassungen am Ende der Kapitel stellen vor allem einen Diskussionsvorschlag dar und sollen zu eigenen, auch abweichenden Wahrnehmungen anregen. Es handelt sich bewusst um ein Arbeitsbuch und nicht im strengen Sinne um ein Lehrbuch mit abgepackten und einfach zu reproduzierenden Wissenspositionen. Wichtiger Hinweis: Die in Klammern gesetzten Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Literaturangabe in der jeweils letzten unmittelbar vorausgehenden Anmerkung. Im Fall von unvollständigen Literaturangaben in den Anmerkungen finden sich die vollständigen bibliographischen Hinweise im Verzeichnis der ausgewählten Literatur am Schluss des Arbeitsbuches. Mein Dank für stets verlässliche Unterstützung dieses Projektes gilt Karen Lutz, Ulrike Scholz und Holger Domas als meinen MitarbeiterInnen am Lehrstuhl und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, vornehmlich Ulrike Gießmann-Bindewald und Jörg Persch für die kompetente und professionelle Begleitung. Bochum, im Juli 2010

Michael Weinrich

§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff 1. Ein grundlegender Bedeutungswandel Wenn wir heute den Begriff „Religion“ in einer sehr allgemeinen Bedeutung verwenden, unter den sich recht verschiedene Phänomene fassen lassen, so geht das auf einen Bedeutungswandel zurück, der sich sachlich vor allem im 17. Jahrhundert vollzogen hat. Der historische Grund für die Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs liegt vor allem in den teilweise unerbittlichen nachreformatorischen Aggressivitäten zwischen den Konfessionen. Unterschiedliche Wahrheitsansprüche standen sich gegenüber oder prallten weithin unversöhnlich aufeinander. Die konfessionellen Antagonismen gefährdeten den inneren und äußeren Frieden, was sich in besonders drastischer Ausprägung in den Konfessionskriegen zeigt, aber weit darüber hinausgeht. Die überkommene enge Verknüpfung von Religion und Wahrheit ließ sich nicht weiter festhalten. Vielmehr wurden an das Religionsverständnis neue Ansprüche gestellt, die den gegeneinander stehenden Wahrheitsansprüchen übergeordnet wurden. Der dafür verwendete, nun konfessionsübergreifend verstandene, zum Oberbegriff gewordene Religionsbegriff entspringt gleichsam dem Friedensbedürfnis gegenüber den von der nachreformatorischen Konfessionalisierung ausgegangenen Gefährdungen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der allgemeine Religionsbegriff seinen Ursprung weniger in der Theologie als vielmehr in der modernen Staatsphilosophie (% § 2,2 Hobbes) hat.

1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis Zur Unterscheidung vom neuzeitlichen Religionsbegriff verwenden wir für das bis dahin geltende Religionsverständnis den lateinischen Begriff religio. Der Blick in ein Wörterbuch instruiert über die beiden Hauptbedeutungen dieses Begriffs. Sie lassen sich einerseits auf „Bedenken, Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht“ und andererseits auf „Gottesdienst, Kultus, Heiligkeit“ konzentrieren. Darin deuten sich die beiden für unseren Zusammenhang bedeutungsvollen Dimensionen der Verwendung des Begriffs religio an:1 1 Eine differenzierte und eingehende Darstellung des Religionsverständnisses bis in die Reformationszeit findet sich im ersten der vier Bände der

vor allem begriffsgeschichtlich ausgerichteten Gesamtdarstellung bis ins frühe 19. Jahrhundert von E. Feil, Religio.

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

1. Das Verständnis von religio war stets mit einem bestimmten Glaubensverständnis und dem damit verbundenen Wahrheits- und Legitimitätsanspruch verbunden. Es wurde zwischen ‚wahrer Religion‘ (religio vera) und ‚falscher Religion‘ (religio falsa) in Sinne einer Grenzziehung zwischen rechter und verkehrter Gottesverehrung unterschieden. In diesem Sinne steht religio für eine anzuerkennende Glaubensgewissheit (synonym gebraucht mit fides). Wenn Martin Luther schreibt: Extra 2 Christum omnes religiones sunt idola (Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst), so liegt der Akzent auf den Vollzügen der Gottesverehrung. Religio wird synonym zu cultus gebraucht. Aller Kult sei so lange zu verdammen, wie er sich nicht allein auf den Glauben an Christus stützt.3 – Kommen andere Glaubensgewissheiten in den Blick, so wurden als Oberbegriffe vor allem secta oder lex verwandt. Von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam wurde als den tres leges gesprochen – ein Sprachgebrauch, der bis in Gotthold E. Lessings Nathan der Weise nachgewirkt hat, wo es heißt: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?“4 2. Mit religio wurde in institutionellem Gebrauch derjenige Stand bezeichnet, der seiner beruflichen Bestimmung nach die rechte Gottesverehrung repräsentierte, nämlich die Orden. Noch für die Reformationszeit ist von diesen beiden Gebrauchsweisen von religio auszugehen. So stellt etwa Huldrych Zwingli seine grundlegenden Einsichten über den reformatorischen Glauben unter den Titel De vera et falsa religione commentarius (1525). Das gilt ebenso für die deutlich umfänglichere Dogmatik von Johannes Calvin mit dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion; letzte Fassung 1559). Es geht allein um die (reine) Lehre ([sana] doctrina) zur rechten Verehrung Gottes nach dem christlichen Glauben, ohne dass Calvin dabei auf die Idee gekommen wäre, eine interkonfessionelle oder gar interreligiöse Dimension ins Auge zu fassen. Die älteste Verteidigungsschrift des christlichen Glaubens, die religio im Titel führt, stammt von Augustin (um 390): De vera religione. Die Etymologie von religio lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Der Religionswissenschaftler Carsten Colpe schreibt: „Das lat. Wort religio wird schon von den Alten verschieden abgeleitet, z. B. von Cicero (De natura Deorum 2, 28, 72) von relegere‚ (wieder)zusammennehmen (was sich auf die Verehrung der Götter bezieht)‘; und von einem beim Grammatiker Gellius (4, 9, 1) zitierten Etymologen von der Nebenform religere ‚rücksichtlich beachten‘; dagegen von Servius (ad Verg. Aen. 8, 349), Lactantius (Inst. 4,28) und Augustinus (Retract. 1, 13,9) von religare ‚zurückbinden, an etwas befestigen‘. Moderne Etymologen neigen der letzteren Ableitung zu (Wurzel lig- ‚binden‘); religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich ‚Verbindlichmachung, Verpflichtung‘. Daneben wird aber auch die Ableitung von leg- ‚sich kümmern um‘ vertreten; dann wäre religio etwas Ähnliches wie diligentia ‚Achtsamkeit‘.“5 Andere Religionswissenschaftler verzichten ganz auf eine Herleitung des Begriffs, nicht nur weil sie sich nicht tatsächlich klären lässt. Sie weisen darauf hin, dass eine inhalt2 WA 40 II, 110 f.; vgl. WA 40 I, 514. 3 Vgl. WA 25,383. 4 Dritter Aufzug, fünfter Auftritt.

5 Art. Religion und Religionswissenschaft, in: TRT4, Bd. 4, Göttingen 1983, 238–243, 239.

1. Ein grundlegender Bedeutungswandel

liche Ableitung den problematischen Eindruck erwecken könne, der Begriff lasse sich auch in nichteuropäische Sprachen übersetzen, um dann zur Selbstbezeichnung entsprechender Inhalte empfohlen zu werden. Die Reichweite des Religionsbegriffs wird dann ausdrücklich auf die europäische Religionsgeschichte begrenzt.6

1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus Eine fundamentale Voraussetzung sowohl für die Neuzeit als auch für das neuzeitliche Religionsverständnis liegt in der Entdeckung der besonderen Herausgehobenheit und somit des von Gott ausgezeichneten Adels des Menschen, wie sie sich im Humanismus der Renaissance vollzogen hat. Die verschiedentlich vorgetragene Annahme, dass es bereits hier zu einer verallgemeinernden Neufassung des Religionsverständnisses gekommen sei, ist zwar nahe liegend, lässt sich aber nicht tatsächlich ausreichend belegen.7 Aber zweifellos kommt es im Humanismus zu Weichenstellungen, ohne die der allgemeine neuzeitliche Religionsbegriff nicht denkbar ist. Dies gilt vor allem für den mit Pathos vorgetragenen Aufbruch zu einem grundlegend neuen Selbstbewusstsein des Menschen. Verstand sich der Mensch bisher als hineingestellt in eine fest gefügte, Gott gegebene Ordnung, so tritt er nun aus diesem Gefüge hervor und beansprucht die Freiheit zu eigener Gestaltung seiner Wirklichkeit. Es verbreitet sich ein Überdruss an den nur noch mühselig nachzuvollziehenden Entwicklungen der scholastischen Theologie des Spätmittelalters, die sich immer mehr in Detailfragen verlor oder eben ein spekulativ konstruiertes Wirklichkeitsverständnis propagierte, das sich nicht mehr mit den Erfahrungen der Menschen plausibel vermitteln ließ. Im Rahmen der zunehmenden Verrechtlichung der Kirche, die durch die Anzeichen des Humanismus dann noch beschleunigt wurde, verschärfte sich die Betonung der zu bewahrenden Tradition. Das führte zu einer rückwärtsgewandten Formalisierung der Autorität der Kirche, die sich einer rapide anwachsenden Kritik gegenübergestellt sah. Gegen diese sich abstrahierende Autorität der Kirche kommt es im Rückgriff auf die Antike (deshalb Renaissance), wo die verstandesmäßige Durchdringung der den Menschen betreffenden Fragen an die Stelle der mythischen und symbolischen Erfassungsversuche der Weltwirklichkeit trat (Demokrit: „Der Mensch ein Kosmos im kleinen.“8), zu einer selbstbewussten Entdeckung des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit. Während in der Antike die hervorgehobene Anthropologie bis zur ausdrücklichen Kritik des Gottesglaubens reichte (% § 4,2.1), gestaltete sich ihre Wiederentdeckung im Humanismus in einer teilweise massiven Kirchenkritik. Im Humanismus wurde vor allem immer wieder der Vorwurf des Götzendienstes 6 Vgl. G. Ahn, Art. Religion: 1. Religionsgeschichtlich, in: TRE 28, Berlin/New York 1997, 513–522, 513.

7 Vgl. E. Feil, Religio I, 128–234. 8 Zit. n. Die Vorsokratiker, hg. v. W. Capelle, Stuttgart 1968, 422.

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

erhoben. Petrarca, Boccaccio, Michelangelo, Raffael, Budé, Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam heben gegenüber den Gängelungen von Seiten der Kirche die im Menschen liegenden Begabungen hervor. Dabei steht die über die Natur erhobene Freiheit im Zentrum, die den Menschen dazu befähigt und auch autorisiert, die Welt zu gestalten und zu beherrschen. – Das Epochejahr 1492 symbolisiert dabei sowohl den gefeierten Aufbruch (Entdeckung Amerikas, die Konstruktion des ersten Globus von Martin Behaim) als auch die Ambivalenz des für sich selbst in Anspruch genommenen Pathos (Beginn des Kolonialismus, Vertreibung der Juden aus Spanien). In das Epochejahr 1492 fällt möglicherweise Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) auch eine wirkungsgeschichtlich bedeutungsvolwar von der Idee durchdrungen, dass es eine fundamentale Übereinstimmung le Schrift (Datierung bleibt unsicher, wahrzwischen Philosophie und recht scheinlich allerdings erst posthum 1496) des itaverstandener Glaubenslehre gebe. Er lienischen Humanisten Giovanni Pico della Mibefand sich im permanenten Konflikt mit randola mit dem Titel De hominis dignitate der Kirche, wurde aber kurz vor seinem (Über die Würde des Menschen) – „eines der Tod rehabilitiert. edelsten Vermächtnisse“ der Renaissance.9 Diese Schrift soll als Exemplum der „dignitas-hominis“-Literatur ein Licht auf den Neuaufbruch des Humanismus werfen. Pico verstand sich zutiefst im Einklang mit dem christlichen Bekenntnis, wenn auch nicht mit der offiziellen Lehrmeinung der Kirche. Mit Hilfe des biblischen Motivs der Gottebenbildlichkeit sollte der Mensch auf seine eigenen Füße gestellt werden. Die traditionelle Kosmozentrik der Theologie soll in eine Anthropozentrik überführt werden. Dem Menschen werden bisher kaum geahnte Freiheiten zugesprochen und zwar von Gott selbst, der dem Menschen die Welt in seine Hände gelegt habe. Die traditionell dominierende Lehre der Sünde tritt in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt der triumphierende Christus, durch den die menschliche Seele erhoben wird. Nicht die Stimmigkeit mit der überkommenen theologischen Lehre steht im Vordergrund, sondern die praktische Lebendigkeit des Glaubens. All dies sind Elemente, die später von der Aufklärungstheologie aufgenommen und weitergeführt werden. Lassen wir Pico selbst zu Worte kommen: Also war er [Gott] zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‚Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevor9 J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1952, 330.

1. Ein grundlegender Bedeutungswandel

zugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.‘10

Gott hat dem Menschen alle Möglichkeiten gegeben, nun aber muss er selbst zusehen und daraus etwas machen. Er kann sich verfehlen, nicht nur bis zum Tier, sondern bis hin zur Pflanze, aber er kann sich eben auch erheben und unmittelbar neben Gott platzieren. Ein ungeheurer Optimismus spricht aus den Formulierungen: Wenn du nämlich einen Menschen siehst, der seinem Bauch ergeben auf dem Boden kriecht, dann ist das ein Strauch, den du siehst, kein Mensch; wenn einen, der blind in den nichtigen Gaukeleien der Phantasie . . . verfangen, durch verführerische Verlockungen betört und seinen Sinnen verfallen ist, so ist das ein Tier, das du siehst, kein Mensch. Wenn einen Philosophen, der in rechter Abwägung alles unterscheidet, kannst du ihn verehren: er ist ein himmlisches Lebewesen, kein irdisches. Wenn du aber einen reinen Betrachter siehst, der von seinem Körper nichts weiß, ins Innere seines Geistes zurückgezogen, so ist der kein irdisches, kein himmlisches Lebewesen; er ist ein erhabenes, mit menschlichem Fleisch umhülltes göttliches Wesen. (9)

Die Anstürme der Leidenschaft wollte Pico mit Hilfe der „Morallehre . . . zügeln“ (15), um „die Streitlust des Löwen“ in uns zu besänftigen (19). Er weiß um die Ambivalenz der Vernunft, die sowohl zum Guten, aber auch auf verderbliche Wege leiten kann, und erhofft sich deshalb von der Moral einen haltbaren Frieden. Nicht die Philosophie vermag hier wirklich Ruhe zu bringen, weil auch von ihr der Wettstreit befördert wird, „sondern dies sei Aufgabe und Vorrecht ihrer Herrin, der heiligen Theologie“ (19). Gegen die ordnungspolitische Verwaltung des Glaubens von Seiten der zeitgenössischen Kirche stellt Pico in seiner Anthropologisierung der Theologie entschieden die humanisierende Seite des Glaubens heraus.

1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis Es kann überall da von Ansätzen für ein tatsächlich neues Verständnis von religio gesprochen werden, wo sich die bisher charakteristische Bindung an eine bestimmte Wahrheit, einen bestimmten Glauben bzw. eine bestimmte Gottesverehrung zugunsten eines neutraleren, verschiedene Glaubensrichtungen übergreifenden Verständnisses zu lockern beginnt. Die ersten Belege, die in diese Richtung weisen, finden sich im 17. Jahrhundert. Es lässt sich kein klarer Schnitt ausmachen, sondern der Übergang vollzieht sich eher schleichend, auch wenn mit dem Grad der Veränderung die Entschlossenheit zu einer Neufassung des Religionsverständnisses wächst. Den ausschlaggebenden historischen Hintergrund bilden die zum Teil verheerenden gesellschaftlichen und politischen Folgen der unerbittlichen nachreformatorischen konfessionellen Auseinandersetzungen. Ernst Feil hat gezeigt,11 dass zunächst 10 Über die Würde des Menschen, hg. v. A. Buck (PhB 427), Hamburg 1990, 5 f.

11 Vgl. auch zum Folgenden: Religio II u. Religio III.

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

durchaus überraschend lang versucht worden ist, dieses Problem im entschlossenen Beharren auf der eigenen Wahrheit zunächst der Ethik zuzuweisen. Es wurde also an die Friedfertigkeit der je eigenen Überzeugung appelliert. Im theosophischen Denken von Jakob Böhme (1575–1624), einer Art Mystik des Geistes (im Unterschied zu einer Mystik des Herzens), kommt es gerade angesichts der herrschenden Finsternis darauf an, dem Licht der Herrlichkeit Gottes Geltung zu verschaffen, was nur gelingen kann, wenn konsequent der Friede über unsere immer begrenzt bleibende Einsicht in die Wahrheit gestellt wird. Damit beginnt die für die Neuzeit dann bald charakteristisch werdende Tendenz, in der mehr und mehr entschlossen die Bedeutung der Ethik vor die der Dogmatik gerückt wird. Es ist die größte Torheit in Babel, daß der Teufel hat die Welt um die Religionen zankend gemacht, daß sie um selbstgemachte Meinung zanken, um die Buchstaben, da doch in keiner Meinung das Reich Gottes stehet, sondern in Kraft und der Liebe. Auch sagte Christus und ließ es seinen Jüngern zuletzt, sie sollten einander lieben. Dabei würde jedermann erkennen, daß sie seine Jünger wären, gleichwie er sie geliebt hätte. Wenn die Menschen also sehr nach der Liebe und Gerechtigkeit trachteten als nach Meinungen, so wäre gar kein Streit auf Erden. Wir lebten als Kinder in unserem Vater und bedürften keines Gesetzes noch Ordens.12

Wenn Herbert von Cherbury (1583–1648) „als Vater der Religions- und Offenbarungskritik der Aufklärung“ bezeichnet wird,13 so liegt der Ton auf der rationalen Zähmung des Offenbarungsglaubens und nicht so sehr auf der Neutralisierung des Religionsbegriffs als eines allgemeinen Oberbegriffs. Auch Herbert verfolgt noch – ebenfalls zur Beförderung des Friedens – ein qualitatives Religionsverständnis, das sich zwar ähnlich wie bei Jakob Böhme aus der konfessionellen Bindung gelöst hat, nun aber eben eine übergeschichtliche rationalistische Bindung eingeht, die daraufhin angelegt ist, sich die verschiedenen Konfessionen unterzuordnen. Die Wahrheitsfähigkeit wird unter die Kontrolle der Vernunft gestellt. Die Vernunft vertraut der Natur, und dieses Vertrauen entspricht dem Vertrauen zu Gott: Vernunft-, Natur- und Gottvertrauen werden miteinander identifiziert. Nach De veritate (1624)14 sind es fünf Vernunftwahrheiten (notitiae communes – allgemeine Bemerkungen), an denen sich die Friedensfähigkeit der Religion entscheidet: 1. der Glaube an den einen Gott als ewige und allmächtige Ursache, Lenker und Ziel aller Dinge; 2. die Verehrung dieses einen Gottes – auf durchaus unterschiedliche Weise, d. h. unabhängig von den kirchlich erhobenen Machtansprüchen; 3. der sittliche Gottesdienst (cultus divinus) in der Gestalt frommer Gesinnung und tugendhafter Lebensführung, die sich am Gewissen orientieren; 4. die Wahrnehmung der eigenen Unvollkommenheit (Sündenschmerz) und die Bereitschaft zur Buße für schuldhaftes Fehlverhalten; 12 Christosophia [1624], hg. v. G. Wehr, Freiburg 1975, 137. 13 M. Seckler, Aufklärung und Offenbarung, Freiburg 1980, 41.

14 Vgl. Die Religionsphilosophie des Herbert von Cherbury, hg. v. H. Scholz, Gießen 1914.

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion

5. das Bewusstsein von einem zu erwartenden jenseitigen Leben mit der Vergeltung von Gut und Böse.

Die mit der Betonung der Vernunft verbundene Abwertung alles dessen, was zur Geschichte gehört, weist in die Richtung der Unterscheidung von ‚zufälligen Geschichtswahrheiten‘ und ‚notwendigen Vernunftwahrheiten‘ bei Gotthold E. Lessing etwa anderthalb Jahrhunderte später.15 Die Wahrheitsfähigkeit liegt nicht im überkommenen Glauben, sondern folgt der ratio des Menschen.

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion Neben dem historischen und geistesgeschichtlichen Zugang stellen wir uns nun der systematischen Frage nach dem Verständnis von Religion. Dabei stoßen wir auf den Umstand, dass wir hier nicht einfach auf eine allgemein anerkannte Definition zurückgreifen können (2.1). Die unüberschaubare Vielzahl möglicher Definitionen wirft zugleich die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, Religion definieren zu wollen (2.2).

2.1 Definitionen Theo Sundermeier weist darauf hin, „daß es Hunderte von Definitionen von Religion gibt“.16 Ein deutlicher Hinweis auf den nach wie vor bestehenden Klärungsbedarf zeigt sich darin, dass in der Literatur auffallend häufig die Überschrift „Was ist Religion?“ zu finden ist. In den recht unterschiedlichen Definitionen spiegeln sich einerseits die verschiedenen und die sich wandelnden Perspektiven wider, in denen die Religion in den Blick genommen wird, und andererseits die unterschiedlichen Verwendungsoptionen für die jeweilige Beschäftigung mit der Religion. Jeder dieser Definitionen eignet eine eigene Schwerpunktsetzung. Die folgende kleine Auswahl soll zur Diskussion der Akzente der unterschiedlichen Perspektiven auf die Religion anregen. Friedrich Schleiermacher (1799): Religion „begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“ – „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“17 15 Über den Beweis des Geistes und der Kraft [1777], in: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Bd. XIII, Leipzig 31897, 1–8.

16 Religion, 25. 17 Über die Religion, 49 u. 50.

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

Karl Gottlieb Bretschneider (1822): Das Wort Religion, das vom Lateinischen religio abstammt, wird zufolge der Erfahrung von dem Glauben an übermenschliche Macht (Götter), und an ihren Einfluß auf die Welt, und der dadurch entstehenden Verehrung derselben gebraucht. Im allgemeinen ist sie daher: Kenntnis und Verehrung Gottes, oder der Götter (. . .). Dieses ist der historische Begriff der Religion, und alle noch so verschiedenen Religionen haben zwei Hauptbestandtheile, a) den Glauben an erhabene Wesen, welche mit der Welt verbunden sind, und die Schicksale der Menschen leiten; und b) Verehrung dieser Wesen, oder die Bemühung der Menschen, das Wohlgefallen derselben zu erwerben und ihre Strafen abzuwenden.18 Albrecht Ritschl (1874): In aller Religion wird mit Hilfe der erhabenen geistigen Macht, welche der Mensch verehrt, die Lösung des Widerspruches erstrebt, in welchem der Mensch sich vorfindet als Theil der Naturwelt und als geistige Persönlichkeit, welche den Anspruch macht, die Natur zu beherrschen. Denn in jener Stellung ist er Theil der Natur, unselbständig gegen dieselbe, abhängig und gehemmt von den anderen Dingen; als Geist aber ist er von dem Antriebe bewegt, seine Selbständigkeit dagegen zu bewähren. In dieser Lage entspringt die Religion als der Glaube an erhabene geistige Mächte, durch deren Hilfe die dem Menschen eigene Macht in irgend einer Weise ergänzt oder zu einem Ganzen in seiner Art erhoben wird, welches dem Drucke der Naturwelt gewachsen ist.19 Wilhelm Herrmann (1905): Das Vertrauen, das die von uns erfahrene Macht sittlicher Güte in uns schafft, ist der Glaube an Gott, die wirkliche Religion. Jede andere Vorstellung von Gott muß schließlich von dem Menschen verlassen werden, dessen sittliche Erkenntnis sich entwickelt, und wird ihm dann ein Götzenbild. Diese eine kann die Menschheit durch ihre Geschichte leiten, deren ewiges Ziel die Gemeinschaft freier Personen ist, die Verwirklichung alles dessen, worauf die Energie des guten Willens geht.20 Paul Natorp (1908): Religion vertritt eine eigene Grundgestalt des Bewußtseins, nämlich das Gefühl, und zwar das Gefühl in seiner höchsten Potenz, in seinem Anspruch, die universelle, alle andern umfassende und vereinende Grundkraft, den ursprünglichsten, unerschöpflich lebendigen Quell alles Bewußtseins darzustellen.21 Religion, oder was sich unter diesem Namen bisher barg, ist genau so weit festzuhalten, als sie innerhalb der Grenzen der Humanität beschlossen bleibt, dagegen nicht mehr, sofern der ungemessene Drang des Gefühls sie verleitet, deren Grenzen zu durchbrechen und ihren ewigen Gesetzen den Gehorsam zu versagen. (121) Rudolf Otto (1917): Religion wird in der Geschichte erstens, indem in der geschichtlichen Entwicklung des Menschengeistes im Wechselspiel von Reiz und Anlage letztere selber Aktus wird, mitgeformt und mitbestimmt durch jenes Wechselspiel; zweitens, indem kraft der Anlage selber bestimmte Teile der Geschichte ahnend erkannt werden als Erscheinung des Heiligen, deren Erkenntnis auf Art und Grad des ersten Moments einfließt; und drittens, indem auf Grund des ersten und zweiten Momentes Gemeinschaft mit dem Heiligen in Erkenntnis Gemüt und Willen sich herstellt. So ist Religion allerdings durchaus Erzeugnis von Geschichte, sofern nur Geschichte einerseits die Anlage für die Erkenntnis des Heiligen entwickelt und

18 Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, Leipzig 2 1822, 1 f. 19 Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III, Bonn 41895, 189 f.

20 Religion und Sittlichkeit, 279. 21 Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, zitiert nach Chr. Elsas (Hg.), Religion, 116.

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion

andererseits selber, in Teilen, Erscheinung des Heiligen ist. ‚Natürliche‘ Religion, im Gegensatz zu geschichtlicher, gibt es nicht; angeborene Religion noch weniger.22 William James (1925): Sofern der Mensch unter dem Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung mit ihm ist, leidet, und er diesen seinen (natürlichen) Zustand selbst als unnormal empfindet, besitzt er die ahnende Vorstellung eines vollkommeneren Zustandes, und damit besteht die Möglichkeit, daß er zu einer höheren Realität in Beziehung tritt, wenn eine solche existiert. Potentiell liegt in ihm also bereits ein Prinzip des Besseren und Höheren, wenn auch nur als bloße Keimanlage. Mit welchem Teil er sein wahres Ich identifizieren soll, ist ihm auf der ersten Stufe noch durchaus undeutlich. Aber auf Stufe 2 identifiziert der Mensch sein wahres Ich mit dem keimhaften besseren Teil seiner selbst, und zwar in folgender Weise: Er wird inne, daß dieser bessere Teil mit etwas Höherem (einem ‚Mehr‘) derselben Art in engster Verbindung steht, das außer ihm im Universum wirkt, mit dem er sich in Beziehung setzen und zu dem er sich hinüberretten kann, wenn sein ganzes niederes Sein Schiffbruch erlitten hat.23 Alfred North Whitehead (1926): Aber im einen oder anderen Sinn ist Rechtfertigung die Grundlage aller Religion. Unser Charakter entwickelt sich im Verhältnis zu unserem Glauben. Das ist die grundlegende religiöse Wahrheit, der sich niemand entziehen kann. Religion ist die Kraft des Glaubens, die die inneren Seiten des Menschen reinigt. . . . Religion ist die Fähigkeit und die Theorie vom inneren Leben des Menschen, soweit dies vom Menschen selbst und von dem, was beständig ist im Wesen der Dinge, abhängt. Diese Einsicht bedeutet die direkte Verneinung der Theorie, daß Religion in erster Linie ein sozialer Vorgang sei. . . . Religion ist das, was das Individuum mit seiner eigenen Einsamkeit anfängt. Sie durchläuft drei Stadien, wenn sie sich zu ihrer endgültigen Erfüllung entwickelt. Es ist dies der Übergang von Gott dem Fernen zu Gott dem Feind, und von Gott dem Feind zu Gott dem Gefährten. Daher bedeutet Religion Einsamkeit, und wer niemals einsam ist, wird niemals religiös sein. Kollektive Begeisterung, Erweckungen, Institutionen, Kirchen, Rituale, Bibeln, Verhaltensregeln sind schmückende Beigaben der Religion, sind ihre Durchgangsformen.24 Paul Tillich (1955): Die Religion ist keine spezifische Funktion, sie ist die Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens. . . . Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes. Es wird offenbar in der Sphäre des Ethischen als der unbedingte Ernst der ethischen Forderung, . . . in dem Reich des Erkennens als das leidenschaftliche Verlangen nach letzter Realität; . . . in der ästhetischen Funktion des menschlichen Geistes als die unendliche Sehnsucht nach dem Ausdruck des letzten Sinnes. . . . Die Religion ist die Substanz, der Grund und die Tiefe des menschlichen Geistes.25 Carsten Colpe (1968): Religion sei die Qualifikation einer lebenswichtigen Überzeugung, deren Begründung, Gehalt oder Intention mit den innerhalb unserer Anschauungsformen von Raum [und] Zeit gültigen Vorstellungen und mit dem Denken in den dazu gehörenden Kategorien weder bewiesen noch widerlegt werden kann.26 22 Das Heilige, 203 f. 23 Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, bearb. von G. Wobbermin, Leipzig 41925, 393. 24 Religion in the Making, zit. n. Chr. Elsas (Hg.), Religion, 215–230, 216.

25 Funktion, 39–41. 26 Mythische und religiöse Aussage außerhalb und innerhalb des Christentums, in: Ders., Religionswissenschaft, 85–106, 88.

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

Thomas Luckmann (1972): Unter Religion verstehe ich . . . Wirklichkeitskonstruktionen – die gesellschaftlich-geschichtlich mehr oder minder bindend vorgegeben und subjektiv mehr oder minder modifizierbar sind. . . . Als religiös bezeichne ich jene Schichten der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen, die Transzendenzerfahrungen entspringen und mehr oder minder nachdrücklich als auf eine nicht-alltägliche Wirklichkeit bezogen erfasst werden.27 Kurt Rudolph (1976): Religion ist der von der Tradition bestimmte Glaube einer Gemeinschaft oder eines Individuums an die mehr oder weniger starke Abhängigkeit (Bestimmtheit) des natürlichen und gesellschaftlichen Geschehens von übermenschlich oder überirdisch wirkenden persönlichen Mächten und die daraus resultierende Verehrung derselben durch bestimmte kultisch geprägte Handlungen, die von der Gemeinschaft in festen Formen überliefert werden.28 Niklas Luhmann (ca. 1996): Religion scheint immer dann vorzuliegen, . . . wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gerne haben möchte [Luhmann verweist auf Hegel: ‚Religion ist nun eben dies, daß der Mensch den Grund seiner Unselbständigkeit sucht‘]. Gerade dies kann der Einzelne, da es seinem Selbstbewußtsein widerspricht, nicht durch Selbstreflexion herausfinden. Der Grund dafür muß ihm mitsamt der Problemstellung durch Kommunikation gegeben sein.29 Theo Sundermeier (1999): Religion ist die gemeinschaftliche Antwort des Menschen auf Transzendenzerfahrung, die sich in Ritus und Ethik Gestalt gibt.30

Schon diese kleine Auswahl verdeutlicht die Unabgleichbarkeit der verschiedenen Perspektiven auf die Religion. Es liegt im Wesen eines solchen Allgemeinbegriffs, dass er vorwiegend von formalen Merkmalen bestimmt wird. Die jeweilige Aufmerksamkeit wird auf einen bestimmten Phänomenbereich und einen entsprechenden Rezeptionszusammenhang gelenkt. Der Vielschichtigkeit des Phänomens entspricht die Vielfalt seiner Wahrnehmungsperspektiven. Religion kann aus soziologischer, psychologischer, philosophischer, gesellschaftspolitischer, anthropologischer, ethnologischer, kulturwissenschaftlicher, juristischer, historischer und theologischer Sicht wahrgenommen werden, um nur die Hauptinteressenten zu nennen. In den Religionswissenschaften werden verschiedene Perspektiven zu einem eigenen Konzept miteinander verknüpft, was aber keineswegs bedeutet, dass sie deshalb den Schlüssel für eine vollständige Erfassung in der Hand hätten. Der Mensch müsste schon gleichsam über sich selber stehen, wenn er eine letzte Antwort zu geben beanspruchen wollte.

27 Religion in der modernen Gesellschaft, in: W. Oelmüller u. a., Religion, 267–280, 272. 28 Zit. n. D. Pollack, Religion, 175.

29 Gesellschaft, 122. 30 Religion, 27.

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion

2.2 Wie sinnvoll ist eine Definition von Religion? Die Definitionen des Religionsverständnisses haben inzwischen ein Abstraktionsniveau erreicht, auf dem sie unwillkürlich in die Gefahr geraten, kaum noch eine unmittelbar identifizierte Aussage zu machen. Fritz Stolz spricht bereits im Blick auf die Religionswissenschaften von dem „Verlust ihres Gegenstandes“.31 Carsten Colpe beschränkt sich in dem ausgewählten Zitat auf eine negative Definition, sodass es nicht verwundert, wenn er an anderer Stelle auch grundsätzliche Skepsis gegenüber den Versuchen äußert, Religion definieren zu wollen: Eine völlig exakte und zugleich alles einschließende Religionsdefinition ist nicht möglich, da sie es weder, wie die Mathematik und die Logik, mit einem Objekt zu tun hat, bei dem man selbst bestimmen kann, was es enthalten soll, noch, wie die Naturwissenschaft, mit einem, bei dem man sich sicher sein kann, die Kategorie des Ganzen als selbständige Qualität neben der der Summe erfaßt zu haben.32

Schon Ernst Troeltsch hat die Definierbarkeit des Wesens der Religion grundsätzlich bestritten,33 und gegenwärtig wachsen aus unterschiedlichen Gründen die Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit, eine allgemeine Religionsdefinition aufstellen zu können. Provokant stellt Jonathan Z. Smith fest: „Religion is solely the creation of the scholar’s study.“34 Unabhängig von dieser Aussichtslosigkeit wird heute in den Religionswissenschaften ein spezifischer Einwand gegen die neuzeitliche Tendenz artikuliert, den Religionsbegriff immer weiter zu generalisieren, um ihm schließlich eine universelle Bedeutung zumessen zu können. Er läuft darauf hinaus, ihn auf den Kulturraum seiner Entstehung zu limitieren, da sich hier die von ihm bezeichneten Phänomene mit dieser Bezeichnung arrangiert haben (das steht im Hintergrund, wenn das Projekt einer Europäischen Religionsgeschichte annonciert wird). Es kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass der in Europa entwickelte neuzeitliche allgemeine Religionsbegriff universal angewendet werden kann. Die Ausweitung des Radius des Religionsverständnisses über die Grenzen Europas hinaus bleibt insofern von den eurozentrischen Denkkategorien geprägt, als sie eben das als Religion identifiziert, was mit bestimmten Klassifikationen und Implikationen (etwa ethischer Art) innerhalb der eigenen Kultur als Religion in Erscheinung tritt. In vielen außereuropäischen Kulturen gibt es kein Äquivalent zum allgemeinen Religionsbegriff.35 Die in fremden Kulturen als Religionen identifizierten Phänomene sagen deshalb mehr über unseren Zugang zu diesen Kulturen aus als über das Selbstverständnis der mit „Religion“ etikettierten beschriebenen Wirklichkeit.36 Die von den westlichen Wis-

31 Religionswissenschaft nach dem Verlust ihres Gegenstandes, in: E. Feil (Hg.), Streitfall, 137– 140. 32 Religion und Religionswissenschaft (s. Anm. 5), 239.

33 Religionswissenschaft, 1 ff. 34 Imagining Religion. From Babylon to Jonestown, Chicago 1982, XI. 35 Vgl. H.-M. Haußig, Religionsbegriff. 36 Vgl. dazu G. Ahn, Religion (s. Anm. 6).

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

senschaften bisher in Anspruch genommene Definitionshoheit impliziert die Gefahr, die Unterschiedlichkeit der Phänomene zu nivellieren, indem sie diese durch Kategorisierungen in eine problematische Vergleichbarkeit versetzt, die zumindest implizit von den jeweiligen Prägungen des eigenen Kontextes orientiert und somit dominiert wird. Werden beide Aspekte zusammen genommen – das nicht eindeutig zu lösende Problem der Definierbarkeit von Religion auf der einen Seite und die Kritik des Eurozentrismus im universalisierten Religionsbegriff auf der andere Seite –, so ergibt sich insofern eine deutliche Entspannung, als sich beide Tendenzen gegenseitig entschärfen und somit zu einer gewissen Relativierung der Problemkonstellation führen. Es bedarf schließlich einer gewissen Klarheit des Verständnisses, wenn der Gebrauch des Begriffs sinnvoll sein soll. Die kann sowohl durch positive Bestimmungen als auch durch negative Abgrenzungen gewonnen werden. Nur auf diese Weise kann die Religionswissenschaft ihren Gegenstand beschreiben. Allerdings bleibt zu konstatieren, dass es sehr unterschiedliche Methoden gibt, sich dem Gegenstand zu nähern, die je einem eigenen Reflexionsinteresse folgen. Ein ebenso grundlegender wie konsequenzenreicher Unterschied zeigt sich in der Frage, ob eine Religion verstanden oder erklärt werden soll. Das Verstehen setzt eine intime Einlassung voraus, die auch die jeweilige Theologie einzubeziehen hätte – es ginge damit über den Bereich der Religionswissenschaft im traditionellen Verständnis hinaus. Das Erklären wahrt dagegen eine kritische Distanz und blickt immer auch auf die jeweilige Einbettung der Religion, die zu der jeweiligen Erklärung beiträgt. Ihm eignet von vornherein eine ‚ideologiekritische‘ Dimension, die allerdings mit der religiösen Eigenperspektive in ein gespanntes Verhältnis treten kann. Dabei kann das Erklären sehr unterschiedliche Aufmerksamkeiten verfolgen.37 Diese wenigen Andeutungen zeigen bereits hinreichend den Justierungsbedarf, dem jede sinnvolle Frage nach der Religion unterworfen ist. Auch wenn Detlef Pollack selbst keine allumfassende Religionsdefinition vorschlägt, so stellt er doch vier Forderungen an eine den heutigen Ansprüchen genügende Religionsdefinition: Sie muß erstens so weit gefaßt sein, daß sie sich nicht nur auf die historisch gewachsenen Religionen, sondern auch auf pseudoreligiöse Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche, Okkultismus, Tischrücken, Wahrsagerei, Telepathie usw. zu beziehen vermag. Andererseits muß sie in der Lage sein, der damit entstehenden Gefahr der Beliebigkeit und Unbestimmtheit zu entgehen. Sie hat also die Aufgabe, Universalität und Konkretion miteinander zu kombinieren. Zweitens muß sie als eine universale Definition das jeweilige Selbstverständnis der Religionen überschreiten und im Rücken der Religionsangehörigen liegende, unreflektierte soziale, historische und psychische Umstände mitberücksichtigen. Andererseits wird sie die Eigenper-

37 Vgl. dazu D. Pollack, Religion, 175–182.

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion

spektive der Religionen, wenn es dem Gläubigen möglich sein soll, sich in den Darstellungen der Wissenschaft wiederzuerkennen, nicht einfach übergehen können. Auch hier kommt es auf die Kombination von Innen- und Außenperspektive der Religion an. Diese Kombination wird nur zu erreichen sein, wenn man die auf Außenanschlüsse bedachte funktionale Analysetechnik mit der von den religiösen Inhalten ausgehenden substantiellen Definitionsmethode zu koppeln versucht. Drittens stellt jede Religion einen verbindlichen Geltungs- und Wahrheitsanspruch, der von der Wissenschaft jedoch weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Mit ihren Methoden vermag die Wissenschaft nur zu bearbeiten, was sich intersubjektiv überprüfen läßt. Will der Religionsforscher sowohl dem existentiellen Anspruch der Religionen als auch der Forderung nach wissenschaftlicher Redlichkeit genügen, wird er also bei diesem Problem einen Ausgleich zwischen religiösem bzw. religionskritischem Engagement und wissenschaftlicher Neutralität finden müssen. Viertens muss die zu erstellende Religionsdefinition die unüberschreitbare Zirkularität von theoretischer und empirischer Arbeit berücksichtigen. Selbstverständlich wird man bei der Bestimmung der Eigenart von Religion von theoretischen Überlegungen ausgehen müssen. Der theoretisch gewonnene Religionsbegriff muß aber so aufgestellt sein, daß er sich der empirischen Überprüfbarkeit nicht entzieht. Er muss also als ‚problemanzeigender Begriff‘ [F.-X. Kaufmann], als heuristische Hypothese formuliert sein, die sich empirisch füllen und auch korrigieren läßt. (182 f.)

Alle vier Forderungen sind dadurch charakterisiert, dass sie Konkretheit und Allgemeinheit bzw. Gegenständlichkeit und Begrifflichkeit auf eine je besondere Weise miteinander in Beziehung setzen. Die Besonderheit dieser für alle Wissenschaften geltenden Grundmaxime liegt in der merkwürdigen Nicht-Gegenständlichkeit ihres Gegenstandes, der nur in Vermittlungen in Erscheinung tritt, sodass die Indirektheit seiner Erscheinungsweise stets sowohl auf seine Inhaltlichkeit als auch auf seine Funktion hin zu betrachten ist. Der Gedankenbogen soll mit einem zugegeben recht abstrakten letzten Schritt zugespitzt werden, mit dem wir weiter Detlef Pollack folgen (vgl. 184 ff.). Wenn Religion als eine Umgangsweise – neben anderen – mit dem Problem der Kontingenz – warum ist etwas, wie es ist, obwohl es auch anders sein könnte – zu betrachten ist, werden sich zumindest Charakteristika für Verhaltensweisen benennen lassen, die im Unterschied zu anderen als ‚religiös‘ zu bezeichnen sind. Eine Verhaltensweise weist sich darin als ‚religiös‘ aus, dass sie angesichts bewusster Kontingenzerfahrung einerseits die verfügbare Lebenswelt des Menschen überschreitet und andererseits eben diese Überschreitung kommunikativ auf diese Lebenswelt bezieht. Der Begriff ‚religiös‘ ist gegenüber dem Begriff der Religion insofern robuster, als sich auch der Fall einer verfassten Religion vorstellen lässt, die in ihrer Erstarrung das Moment des ‚Religiösen‘ im Sinne eines vitalen Umgangs mit dem Kontingenzproblem bis zur Unerkennbarkeit verdunkelt hat, sodass sie – etwa als äußere Tradition – zwar noch existiert, ohne aber tatsächlich eine vitale religiöse Sinnerschließung zu bieten. Wir bleiben im Horizont der zitierten Forderungen von Pollack, wenn wir in leichter Abwandlung sein Verschränkungsmodell für die Möglichkeiten einer Heuristik zur Wahrnehmung des Religiösen aufgreifen (189).

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

Konsistenz

Kontingenz

Immanenz

Pragmatismus (keine religiöse Frage, keine religiöse Antwort)

religiöse Suche (religiöse Frage, ohne religiöse Antwort)

Transzendenz

religiöse Routine (religiöse Antwort ohne religiöse Frage)

vitale Religiosität (religiöse Frage und religiöse Antwort)

Damit verfügen wir zwar nicht über eine Definition der Religion, wohl aber über ein Differenzierungsmodell, das bei der Frage der Abgrenzung des religiösen Phänomenbereichs eine flexible Hilfe darstellt, indem es zumindest idealtypisch ausweisbare Unterscheidungen anbietet. Das Modell lässt unterschiedliche Profile in Erscheinung treten, ohne Religion nur auf einen Typus zu beschränken und kann zugleich auch im Uhrzeigersinn gelesen werden, um dann auf wiederum idealtypische Dynamiken hinzuweisen. Das Modell ist ebenso einfach wie flexibel und verfügt daher über eine hohe Erklärungskraft. In jedem Falle werden – und darauf kommt es entscheidend an – die inhaltlichen und funktionalen Aspekte miteinander in Beziehung gehalten. Mit einer an dieser Stelle nicht auszudiskutierenden Problemanzeige soll dieses Kapitel abgeschlossen werden. Insbesondere die modernen Religionswissenschaften betonen weithin ihre Neutralität gegenüber den von ihnen erfassten und beschriebenen Gegenständen. Jede Gestalt der Komparatistik bringt größte Probleme mit sich, sodass versucht wird, sie auf das unvermeidliche Minimum zu beschränken, ohne welches das die Religionswissenschaften ausmachende Erklärungspotential gefährdet wäre. Am Ende stünde nur die reine und als solche verwirrende und schließlich ratlos machende Phänomenologie. Es stellt sich einerseits die Frage, inwiefern die Neutralitätsdisziplin nicht schon in sich eine Illusion ist, die permanent schon durch die angewandten Parameter und Kategorien der Beschreibungsraster unterlaufen wird. Andererseits ist angesichts des religiös motivierten Aggressions- oder gar terroristischen Gewaltpotentials auch zu fragen, ob sich das Ethos der Religionswissenschaft auf den deskriptiven Aspekt der Wissenschaft beschränken darf. Wenn die Religionswissenschaften auch ihre gesellschaftswissenschaftliche Dimension und das damit verbundene Ethos ernst nehmen wollen, werden sie nicht umhin kommen, auch wieder Wege zu erschließen, auf denen normative Fragen sinnvoll diskutiert und dann auch für die öffentliche Debatte diskutierbar gemacht werden können. Der gern an die Theologie gerichteten Relevanzfrage sollten sich alle mit der Religion und den Religionen befassten Wissenschaften stellen, gerade dann, wenn ihnen heute mit nicht unerheblichen Mitteln eine bisher kaum vorstellbare Aktivität ermöglicht wird. Es kann nicht darum gehen, ihnen eine normative Schiedsrichterrolle zuzuweisen, wohl aber darum, die Konsequenzen aus der nicht erst unserem Zeitalter bekannten Tatsache zu ziehen, dass die Religion in ihren höchst unterschiedlichen Erscheinungsweisen auch ein zutiefst ambivalentes und somit zutiefst abgründiges Phänomen ist.

§ 2 Die Kritik der Religion

Man könnte sagen, dass eine Überschrift, die zunächst erst einmal erläutert werden muss, eine schlechte Überschrift ist. In diesem Fall ist die Formulierung bewusst auf ihre Erläuterungsbedürftigkeit hin angelegt. Die Überschrift zu diesem Kapitel enthält einen Genitiv und somit eine durchaus missverständliche Formulierung – wer kritisiert da was? Sie soll unterstreichen, dass da, wo der neuzeitliche Religionsbegriff zur Zeit seiner Einführung in Anwendung kam, also in einem verallgemeinernden Sinne von Religion gesprochen wurde, immer auch eine Dimension der Kritik ins Spiel gebracht wird. Es handelt sich also bei dem Genitiv der Überschrift zunächst um einen genitivus subjectivus, d. h. die Religion ist das Subjekt und somit der Ausgangspunkt der zur Debatte stehenden Kritik. Ihrem Ursprung nach tritt mit der Religion ein gegen den sich selbst verabsolutierenden Dogmatismus der sich gegenseitig ihr Existenzrecht absprechenden Konfessionen kritischer Anspruch auf den Plan. Wir befinden uns im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der Konfessionskriege. Die Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs als eine den im Konflikt stehenden Konfessionen übergeordnete Ebene ist verbunden mit der Erwartung, von dieser übergeordneten Ebene aus auf die Konfessionen einen zähmenden Einfluss nehmen zu können, indem sie Minimalbedingungen benennt für das, was in einem Gemeinwesen als Religion anerkannt werden kann. Mit der von den Philosophen und Staatsphilosophen protegierten Religion ist ein eigenes kritisches Potenzial verbunden, das sie in die Lage versetzt, die Konfessionen mit eigenen Kriterien zu konfrontieren, ohne deren Erfüllung sie nicht mit öffentlicher Akzeptanz rechnen können. Etwa ein Jahrhundert später wird dann dieser Genitiv im Zusammenhang mit der Religionskritik (% § 4) zu einem genitivus objectivus, d. h. die Religion wird dann zum Gegenstand der artikulierten Kritik, sie wird zum Objekt einer sie angreifenden Argumentation. Nun hätte sich leicht eine auf den ersten Blick so missverständliche Formulierung als Überschrift vermeiden lassen. Allerdings wäre sie dann in jedem Falle kraftloser geworden. Mit ihr wird gleich zu Beginn annonciert, dass es da, wo im neuzeitlichen Sinne die Religion auftritt, in jedem Fall in besonderer Weise kritisch zugeht, eben bereits da, wo die Religion als neu geprägter Begriff überhaupt erst eingeführt wird. Die Kritik, die sich dann später auch gegen sie selbst erhebt, hat durchaus einen vergleichbaren Charakter mit derjenigen, die zunächst von ihr ausgeht. Eben dieser aufs Ganze gesehen enge Zusammenhang wird von dem ambivalenten Genitiv der Überschrift gleich zu Anfang angedeutet, auch wenn es in diesem Kapitel zunächst nur um das kritische Potenzial geht, das vom Religionsverständnis selbst ausgeht.

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§ 2 Die Kritik der Religion

1. Die Aufklärung Epochenabgrenzungen sind deshalb so schwierig, weil die Bestimmung der jeweils ins Auge zu fassenden Charakteristika umstritten ist. Wenn hier die Aufklärung als der entscheidende Entdeckungshorizont für den neuzeitlichen Religionsbegriff annonciert wird, wird diese im weitesten Sinne als die Transformationsphase zur Neuzeit angesehen. Als solche ist die Aufklärung einerseits davon geprägt, den Menschen konsequent aus den Bindungen apodiktisch gesetzter und somit unbefragbarer Autoritäten zu befreien, und andererseits von einem entschlossenen Gestaltungswillen sowohl des individuellen als auch des sozialen Lebens. Die entstehenden Nationalstaaten beanspruchen uneingeschränkte innen- und außenpolitische Selbstbestimmung und verstehen sich als souveräne Akteure der vom Menschen hervorzubringenden Geschichte. Für die Gestaltung des Gemeinwesens rückten die vor allem im Bürgertum aufblühenden wirtschaftlichen Interessen des Frühkapitalismus vor die Dringlichkeit, die konfessionellen Wirrnisse und Feindseligkeiten zu klären. Es waren nicht zuletzt die wirtschaftlichen Erfolge, deren Gefährdung durch Religionsstreitigkeiten, wie sie in besonders drastischer Weise in den Verheerungen der Konfessionskriege vor Augen standen, nicht mehr hingenommen wurde. Insgesamt verschwand die Bereitschaft, den Kirchen irgendeine Entscheidungsmacht in Fragen, die mit der inneren und der äußeren Sicherheit zu tun haben, zuzugestehen. Entschlossen trat die Politik und mit ihr die bürgerliche Gesellschaft – unterstützt durch die zu eigenem Selbstbewusstsein gegenüber der Theologie erstarkte Philosophie – mit einem deutlich artikulierten Souveränitätsanspruch aus dem Schatten der kirchlichen Bevormundung. Im Zusammenhang mit der Aufklärung kommt der Bestimmung des neuzeitlichen Religionsbegriffs eine besondere Rolle zu. Indem im Blick auf seinen Wahrheitsanspruch dem Bekenntnis des Glaubens konsequent jede verallgemeinerungsfähige Öffentlichkeitsrelevanz bestritten wurde, verliert es seine integrative Bedeutung für das Zusammenleben der Gesellschaft. Die verschiedenen Glaubensbekenntnisse, die nun unter dem Begriff der Religion in gewisser Weise neutralisiert wurden, werden dem aufgewerteten privaten Bereich zugewiesen, wo nach eigenem Gutdünken über die Wahrheitsfrage entschieden werden mag. Religion wird nicht weiterhin unter dem Blickpunkt ihrer angemessenen inhaltlichen und kultischen Gestaltung thematisiert, sondern sie wird zu einem formalen Begriff, unter dem sich sehr unterschiedliche inhaltliche Konkretionen vorstellen lassen. Vom Begriff der Religion als solchem geht keine Klärungsambition hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit mehr aus. Ihre Angemessenheit wird allein am Maßstab ihrer Sozialverträglichkeit bemessen. Diese Wahrheitsabstinenz des allgemeinen Religionsverständnisses bedeutet aber keineswegs, dass es sich bei der Religion um einen harmlosen und gleichsam reibungslosen Begriff handelt. Vielmehr ist der neuzeitliche Religionsbegriff – wie bereits angedeutet – gerade im Blick auf die Motivation seiner Einführung ein zutiefst kritischer Begriff, indem er sich gegen alle Absolutheitsansprüche stellt, wie sie in

1. Die Aufklärung

den konfessionellen Antagonismen aufeinander prallten. In der Neutralität der Wahrheitsfrage gegenüber verbirgt sich eine grundsätzliche Relativierung aller dogmatischen Exklusivismen, die den jeweiligen Bekenntnissen ihr besonderes Profil geben. Man geht nicht zu weit, wenn in der Neutralität eine Art neues Dogma gesehen wird, das mit dem Anspruch auftritt, an die Stelle der Letztinstanzlichkeit der kirchlich verantworteten Dogmatik zu treten. Die Intentionalität des allgemeinen Religionsbegriffs kann nur recht erfasst werden, wenn auch die von ihm ausgehende dezidierte Kritik in den Blick genommen wird. Es mag überraschen, wenn dieses Kapitel den deutschen Idealismus im Rahmen der Aufklärung thematisiert. Gewiss kann gesagt werden, dass der kritische Anspruch der Aufklärung bei Kant zu seinem Höhepunkt und Abschluss gekommen sei und dass der Idealismus weniger von einer aufklärerischen Kritik als vielmehr von einer über sie hinausgehenden systematisierten Positionalität geprägt sei. Ging es bei Kant um die kritische Frage nach den Kriterien, so präsentiert der Idealismus nun einen eigenen Standpunkt. Das ist die entscheidende Veränderung. Auf der anderen Seite wusste sich der Idealismus insofern an dem Projekt der Aufklärung beteiligt, als er sich gedrängt sah, der durch die Aufklärung etablierten Kritik einen die menschliche Vernunft übergreifenden und diese einschließenden geistphilosophischen Rahmen zu geben. Zwar geht der Idealismus auch entschlossen über Wesenszüge der Aufklärung hinaus, die auf eine Dynamisierung und Historisierung verfestigter Gesamtbilder ausgerichtet waren, aber er ist gerade in seinem Systematisierungsinteresse doch ganz und gar davon bestimmt, die Errungenschaften der Aufklärung so zu sichern, dass es auf solidem Weg grundsätzlich nicht mehr möglich sein sollte, diese infrage zu stellen. Es wäre nicht das erste Beispiel, wo aus dem verständlichen Sicherungsinteresse dann plötzlich ein architektonisch durchgestyltes Gebäude entsteht, in dem nur noch mit Mühe erkennbar bleibt, was es durch seine Errichtung zu sichern galt (als Beispiel kann etwa die ausdifferenzierte Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie gelten, die davon bewegt war, das Erbe der Reformation zu ‚sichern‘). Bei Kant zeigen sich ja längst auch dezidierte Systematisierungslinien der Aufklärung, denen dann im Idealismus noch eine grundsätzlich erweiterte Fundierung gegeben wurde. Philosophiegeschichtlich gesehen gibt es zudem mehr Gründe, im Idealismus den Abschluss einer Entwicklung zu sehen als den Anfang einer neuen Epoche, die dann wohl auf ihn selbst beschränkt werden müsste. Das entspricht auch seinem Selbstbewusstsein. Die Alternative zur Thematisierung in diesem Kapitel könnte daher nur ein eigenes Kapitel sein, was dann aber unweigerlich zu einer Überbewertung des Idealismus führen würde, wie sie allerdings immer wieder gern – insbesondere in apologetisch ausgerichteten Kreisen der Theologie – vorgenommen wird.

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§ 2 Die Kritik der Religion

2. Thomas Hobbes Der erste große Vertreter der neuzeitlichen Staatsphilosophie war Thomas Hobbes. Er stellte die ordnungspolitische Bedeutung des Staates heraus, um die erodierende Situation zu befrieden und verlässliche Verhältnisse für ein gedeihliches Zusammenleben zu sichern. Die erbittertsten Konflikte registrierte Hobbes unter den rivalisierenden christlichen Konfessionen, aber er hatte keineswegs nur diese im Blick. Vielmehr verweist Hobbes auf das zänkische Verhalten des auf Selbstdurchsetzung bedachten Menschen, das er mit der bekannten Wendung des Plinius charakterisiert: „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Individuelle Selbsterhaltung und das Streben nach Lustgewinn verstricken die Menschen in andauernde Rivalisierungen. Dieser als Naturzustand des Menschen verstandene Umstand beschreibt in aller Klarheit den vom Leistungsprinzip geprägten Konkurrenzindividualismus des neuzeitlichen Bürgertums. Der Hintergrund dafür, dass diese Situation als natürlich ausgegeben wird, ist in der sich durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsform zu suchen. Hobbes bringt das Lebensprinzip der vom Kapitalismus geprägten Wirklichkeit pointiert auf den Punkt: „Die Glückseligkeit daher, die wir als ein dauerndes Lustgefühl verstehen, besteht nicht darin, daß man Erfolg gehabt hat, sondern daß man Erfolg hat.“1 Dem Staat fällt die Aufgabe zu, die Individualinteressen mit dem Gemeinwohl so auszubalancieren, dass die Konkurrenzwirklichkeit in friedlichen Bahnen verläuft und das Eigentum des Einzelnen geschützt wird. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, wird der Staat mit besonderer Macht ausgestattet. Der staatliche Souveränitätsanspruch schließt auch die Bestimmungshoheit hinsichtlich der Religion ein, zumindest was ihre öffentliche Gestaltung anbelangt. Die als besonders friedensgefährdend angesehenen Religionen (gemeint sind hier zunächst vor allem die verschiedenen christlichen Konfessionen) werden hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs ganz und gar in die Privatheit verwiesen, während die Religion als gesellschaftsintegrative Kraft konsequent unter die Regie des Staates gestellt wird. Da es weniger auf den Charakter der Religion als vielmehr ihren Vollzug ankommt, konzentriert Hobbes seine Aufmerksamkeit auf den Kult:

Thomas Hobbes (1588–1679) gilt als einer der Begründer des Rationalismus, der sich auf die Natur und die menschliche Vernunft beruft. Der Öffentlichkeitsanspruch der Religion wird von Hobbes konsequent der Staatsraison unterstellt.

Der Kult ist nun entweder privat oder öffentlich. Privat ist der Kult, den die einzelnen Menschen nach eigenem Gutdünken ausüben; öffentlich der, den sie auf Geheiß des Staates ausüben. Der private wiederum wird entweder von einem einzelnen im geheimen ausgeübt oder von mehreren gemeinsam. Jener ist ein Zeichen aufrichtiger Frömmigkeit; denn wozu dient Heuchelei dem, den niemand sieht als nur der Eine, der auch die Heuchelei durchschaut? Der 1 Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, übers. v. F. Tönnies, Darmstadt 1976, 61.

2. Thomas Hobbes

gemeinschaftliche Kult dagegen kann erheuchelt sein und auf eigennützigen Nebenabsichten beruhen. Beim geheimen Kulte gibt es keine Zeremonien. Zeremonien nenne ich diejenigen Zeichen der Frömmigkeit von Handlungen, die nicht aus der Natur der Handlungen entspringen, sondern vom Staat willkürlich vorgeschrieben sind. . . . Öffentlicher Kult kann nicht ohne Zeremonien sein; denn öffentlicher Kult ist der, welcher auf Befehl des Staates als Zeichen der Verehrung, die man Gott entgegenbringt, von allen Bürgern, und zwar an bestimmten Stellen und zu bestimmten Zeiten, ausgeübt wird. Das Recht zu entscheiden, was geziemend ist, was nicht, steht beim öffentlichen Gottesdienst nur dem Staate zu. Zeremonien als Zeichen der Frömmigkeit von Handlungen fließen nicht nur, wie beim rein vernünftigen Kult, aus der Natur der Handlung selber, sondern können auch vom Staate willkürlich festgesetzt werden. Daher vieles sich im Gottesdienst bei einem Volke finden muß, was bei einem anderen nicht ist, so daß bisweilen der Kult der einen von den anderen verlacht wird. Einen von Gott unmittelbar angeordneten Kult hat es niemals gegeben außer bei den Juden, da er selbst ihr König war. Bei den anderen Völkern waren die Zeremonien zwar bei einigen vernünftiger als bei anderen, bei allen indessen gebot die Vernunft, die durch das staatliche Gesetz angeordneten Zeremonien auszuüben.2

In der Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion kommen die Kirchen auf der Seite der privaten Religion zu stehen. Die dogmatischen Fragen und mit ihnen eben auch alle konfessionellen Konflikte werden zu einer Privatangelegenheit erklärt. Diese Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion hat sich bis hinein ins 19. Jahrhundert ausgewirkt und ihre Nebenwirkungen lassen sich bis heute ausmachen. Die Religion, soweit sie von allgemeiner Relevanz ist, wird konsequent der Staatsraison unterworfen. Sie ist allein im Blick auf ihre praktischen Auswirkungen zugunsten des öffentlichen Lebens von Interesse. Der allein für den Frieden zuständige Souverän bestimmt die Art und Weise der öffentlichen Gottesverehrung. Die Kirchen haben sich uneingeschränkt den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen, da sich in ihren Grundlagen keine besondere Belehrung über die öffentlichen Angelegenheiten finden: Ferner hat unser Erlöser den Bürgern keine andern Gesetze in betreff der Staatsregierung gegeben, als die natürlichen Gesetze, d. h. das Gebot zum bürgerlichen Gehorsam. Deshalb darf kein Bürger für sich bestimmen, wer dem Staate als Freund oder Feind gelten soll, wann ein Krieg begonnen, wann ein Bündnis, wann Friede oder Waffenstillstand geschlossen werden soll; auch hat kein Bürger darüber zu entscheiden, welche Bürger, welche und welcher Menschen Machtbefugnisse, welche Lehren, welche Sitten, welche Reden, welche und welcher Menschen Verbindungen das Wohl des Staates fördern oder gefährden. Also gebührt die Entscheidung über alles dies und ähnliches, soweit es nötig ist, dem Staate, d. h. dem höchsten Herrscher.3

Der Text macht die Konsequenz deutlich, mit der Hobbes die Kirchen auf die Pflege der privaten Frömmigkeit beschränkt und ihnen jeden Öffentlichkeitsanspruch ent2 Vom Menschen [1658], in: Th. Hobbes, Vom Menschen – Vom Bürger, hg. v. G. Gawlick (PhB 158), Hamburg 21966, 47 f.

3 Vom Bürger [1642] in: s. Anm. 2, 285 f.

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§ 2 Die Kritik der Religion

zieht. Das, was für die Kirchen gilt, ist auch Gesetz für die anderen im Staate existierenden Religionen, die im christlichen Staat auch am christlichen Gottesdienst teilnehmen müssen. Die Radikalität, in der Hobbes die Souveränität des Staates sichert, zeigt sich darin, dass er mit der Machtzuschreibung an den Staat bis an die Grenze zur Euthanasie vorstößt, indem er ihm das Recht zumisst, darüber zu entscheiden, was ein Mensch oder eben keiner ist und daher auch getötet werden dürfe: Hat z. B. eine Frau ein Kind von ungewöhnlicher Gestalt geboren und verbietet das Gesetz die Tötung eines Menschen, so entsteht die Frage, ob dieses Kind ein Mensch sei, und es erhebt sich also die weitere Frage, was ein Mensch sei. Hier wird niemand zweifeln, daß die Entscheidung dem Staate zusteht, ohne daß man auf die Definition des Aristoteles, wonach der Mensch ein vernünftiges Geschöpf ist, Rücksicht nehmen kann. Von allen diesen Gegenständen, nämlich Recht, Politik und Naturwissenschaften, hat Christus erklärt, daß es nicht zu seinem Amt gehöre, darüber Vorschriften und Lehrsätze aufzustellen, bis auf den einen, daß die einzelnen Bürger bei allen Streitigkeiten hierüber den Gesetzen und Urteilssprüchen ihres Staates zu gehorchen hätten. (287)

Der despektierliche Umgang mit den Kirchen hat seine Ursachen nicht nur in ihrer flagranten Zerstrittenheit, sondern im Hintergrund steht auch eine rationalistische Ableitung der Religion aus der charakteristischen Eigenschaft des Menschen, über sich selbst hinaus zu fragen. Dort, wo keine Antworten mehr erreichbar sind, gibt schließlich die Phantasie die benötigten Antworten. Wo diese Antworten dann gemeinschaftsbildend werden, ist der Mutterboden für die Religionen zu suchen. Es sind drei Dimensionen des menschlichen Fragens, die in den Religionen auf unterschiedliche Weise entsprechende Antworten bereitstellen: Erstens ist es eine Eigenart der Natur des Menschen, den Ursachen der Ereignisse, die er sieht, nachzugehen, der eine mehr, der andere weniger. Aber alle Menschen besitzen sie so sehr, daß sie die Ursachen ihres eigenen Glücks oder Unglücks gerne wissen möchten. Zweitens. Sehen die Menschen ein Ding, das einen Anfang hat, so nehmen sie auch an, daß es eine Ursache hatte, die es dazu bestimmte, gerade zu diesem Zeitpunkt seinen Anfang zu nehmen und nicht früher oder später. Drittens. Während die Tiere kein anderes Glücksgefühl als den Genuß des täglichen Futters, von Ruhe und von Lust kennen, . . . beobachten die Menschen, wie ein Ereignis von einem anderen hervorgebracht wurde und erinnern sich dabei an das, was vorausgegangen war und was darauf folgte. Und kann er sich über die wahren Ursachen der Dinge keine Klarheit verschaffen (denn die Ursachen von Glück und Unglück sind meistens unsichtbar), so nimmt er Ursachen an, die entweder seiner eigenen Phantasie entstammen, oder er vertraut der Autorität anderer Menschen, die er für seine Freunde und für klüger als sich selbst hält.4

Während Hobbes ‚Gott‘ als die Bezeichnung einer ersten und ewigen Ursache alle Dinge ansieht, erkennt er in den Göttern eine menschliche Umgangsweise mit der ihn beschleichenden Furcht vor der Ungewissheit der Zukunft, sodass konsequent betrachtet „ebensoviel Götter erdichtet werden als es Menschen gibt, die sie erdichten.“ (83) 4 Leviathan, 82.

3. Baruch de Spinoza

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Gleich zu Beginn der Aufklärung schlägt Hobbes einen kräftigen Grundakkord an. Die Religion wird einerseits hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts dem privaten Glauben zugewiesen, der seinem Wesen nach die Grenzen der Rationalität zur eigenen Selbstvergewisserung überschreitet. Zugleich wird der moralische Nutzen der Religion in die souveräne Obhut des Staates gestellt, in der er im Rahmen der ihm zur Friedenssicherung zugewiesenen Machtbefugnisse frei über sie verfügen kann. &

W. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992 H. Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt/M. 2001

3. Baruch de Spinoza Die Linie der zunächst vernünftigen (% Herbert Der niederländische Philosoph Baruch von Cherbury; § 1,1.3) und dann politischen (% (Benedictus) de Spinoza (1632–1677) wurde bereits vor seiner öffentlichen Hobbes; § 2,2) Zähmung der Religion wird von Wirksamkeit mit dem Vorwurf Baruch de Spinoza aufgenommen und fortfreigeistiger Irrlehre aus der geführt. Auch für Spinoza ist der Staat eine verSynagoge in Amsterdam nünftige Einrichtung zum Schutze der Bürger, ausgeschlossen. Später wurde ihm die um dieses Schutzes willen ihre eigenen IntePantheismus oder gar Atheismus ressen zumindest in bestimmten Bereichen dem vorgeworfen. Erst Ende des 18. Jh.s Staat unterordnen. Über die Verantwortung für kommt es zu einer gelasseneren Rezeption. den äußeren und inneren Frieden hinaus hat der Staat die Gedankenfreiheit seiner Bürger zu schützen. Diese Forderung macht Spinoza in einer religiös immer noch unduldsamen Zeit zu einem Vorkämpfer der Toleranz, die sich allerdings mehr auf den freien Gebrauch der Vernunft als die Verteidigung der miteinander konkurrierenden Traditionen bezieht. Um dem modernen Staatsbürger ein aufgeklärtes Verhältnis zur Religion zu ermöglichen, will Spinoza die traditionelle Theologie durch eine Religionsphilosophie bzw. eine Gottesphilosophie beerben. Der Weg des Glaubens führt zwangsläufig in Aberglauben und Götzendienst und somit in Unfrieden und Unfreiheit, solange er sich vor der Kritik der Vernunft immunisiert. Gott und Wahrheit sind identisch, sodass sich im wahren Denken Gott selbst artikuliert. Vermittels des Denkens kann der Mensch geradezu die grenzenlose Vollkommenheit Gottes repräsentieren. Dabei wird Gott mit dem Akt identifiziert, der im wahren Denken von Vollkommenheit und Unendlichkeit vollzogen wird. Jede Verknüpfung mit einer bestimmten Gestalt soll auf diese Weise ausgeschlossen werden, weil diese immer nur mit endlichen und somit ungöttlichen Vorstellungen vorgenommen werden könnte. Zugleich bedeutet diese Bestimmung auch eine Loslösung von den biblischen Zeugnissen und allen überkommenen Lehrtraditionen. Die Bibel muss zum Gegenstand historischer Kritik werden, um den in ihr enthaltenen Geist Gottes, wie er sich besonders bei den Propheten findet, herauszustellen. Die Schrift wendet sich in ihrer moralisch-prakti-

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§ 2 Die Kritik der Religion

schen Bedeutung gleichsam an die ungebildeten Massen, indem sie „sich nach der Fassungskraft und den Anschauungen derer richtet, denen die Propheten und Apostel zu predigen pflegten, und zwar aus dem Grunde, damit es die Menschen ohne Widerstreben und mit ganzem Herzen annehmen möchten“.5 Spinoza verfolgt in seiner Philosophie die Vorstellung, dass es essenziell nur eine Substanz geben kann, die als Grund und Ursache für die ganze Wirklichkeit anzusehen ist. Ein streng verstandener Monotheismus wird mit dem cartesianischen Rationalismus verbunden, sodass schließlich Gott identisch wird mit dem in sich geschlossenen Kausalsystem der sich selbst erschaffenden und durch sich selbst geschaffenen Natur. Sowohl der Vorwurf des Pantheismus als auch der des Materialismus berufen sich auf diese Zuspitzung, treffen aber nicht das eigentliche Zentrum seines Anliegens. Alle Begriffe, die sich der Mensch von der Wirklichkeit in Ansehung ihrer Endlichkeit macht, kommen nicht über vage Vorstellungen hinaus, die als solche auch ständig zu revidieren sind. Das gilt in besonderer Weise im Blick auf die menschlichen Gottesvorstellungen. Jeder Mensch passt Gott seinem jeweiligen Vorstellungsvermögen an. Die Bibel ist ebenfalls nur der Ausdruck des Vorstellungsvermögens einer weit zurückliegenden Zeit, der als solcher nur historische Bedeutung haben und für den gegenwärtigen Menschen keineswegs als verbindlich angesehen werden kann. Aktuell bleibt allein das zugrunde liegende Anliegen, für eine humane Gestaltung des Zusammenlebens zu sorgen. Der rechte Lebenswandel und die Tugend werden in der Bibel in anschaulich ausgeschmückter Verpackung vorgetragen; allerdings ist die sich um die moralische Belehrung rankende Vorstellungswelt einschließlich aller Vorstellungen vom Handeln Gottes für den Glauben nicht essenziell. Was übrigens Gott oder jenes Vorbild des wahren Lebens ist, ob er Feuer, Geist, Licht, Gedanke usw. ist, gehört nicht zum Glauben, so wenig wie der Grund, aus dem er das Vorbild des wahren Lebens ist, ob deshalb, weil sein Sinn gerecht und barmherzig ist, oder weil alle Dinge durch ihn sind und handeln und infolgedessen auch wir durch ihn erkennen und durch ihn einsehen, was wahrhaft recht und gut ist. Es ist einerlei, was jeder davon hält. Es gehört ferner nicht zum Glauben, ob einer annimmt, daß Gott nach seinem Wesen oder nach seiner Macht allenthalben ist, daß er die Dinge aus Freiheit leitet oder nach Naturnotwendigkeit, daß er die Gesetze als Herrscher vorschreibt oder sie als ewige Wahrheiten lehrt, daß der Mensch aus freiem Willen oder aus der Notwendigkeit göttlichen Ratschlusses Gott gehorcht, und daß endlich die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Bösen auf natürlichem oder übernatürlichem Wege erfolgt. Bei diesen und ähnlichen Fragen ist es in Ansehung des Glaubens gleichgültig, wie ein jeder darüber denkt, solange er nicht zu dem Schlusse kommt, sich eine größere Freiheit zu sündigen herauszunehmen oder Gott weniger gehorsam zu sein. Ja, vielmehr ist ein jeder, wie schon gesagt, verpflichtet, diese Glaubenssätze seiner Fassungskraft anzupassen und sie sich so auszulegen, wie er glaubt, daß er sie leichter, ohne jedes Bedenken und mit ganzem Herzen annehmen kann, um dann Gott aus ganzem Herzen zu gehorchen. (218 f.)

5 Traktat [1670], 10.

3. Baruch de Spinoza

So sehr es ‚einerlei ist, was jeder davon hält‘, so wenig ist es offenkundig in das Ermessen des Einzelnen gestellt, sich möglicherweise auch gar nicht zum Glauben zu verhalten. Spinoza spricht von einer Pflicht, sich den Glauben so plausibel wie irgend möglich zurechtzulegen, wobei auch in Rechnung zu stellen bleibt, dass sich über die Zeiten hinweg die Vorstellungsweisen gründlich geändert haben, sodass der eingeräumten Freiheit durchaus eine eigene Gestaltungsmöglichkeit entspricht – wobei die Zielrichtung klar bleiben muss: Es geht um den Frieden der Gesellschaft im modernen Nationalstaat. In diesem Sinne spitzt Spinoza seinen Gedankengang zu: Denn, wie ich schon bemerkt, geradeso wie einst der Glaube entsprechend der Fassungskraft und den Anschauungen der Propheten und des Volkes jener Zeit offenbart und niedergeschrieben worden ist, so ist auch jetzt noch jedermann verpflichtet, ihn seinen Anschauungen anzupassen, um ihn auf diese Weise ohne inneres Widerstreben und ohne Zaudern annehmen zu können. Denn ich habe gezeigt, daß der Glaube nicht so sehr Wahrheit als Frömmigkeit fordert und nur in Ansehung des Gehorsams fromm und seligmachend ist und daß infolgedessen jeder nur in Ansehung des Gehorsams gläubig ist. Nicht wer die besten Gründe für sich hat, hat deshalb notwendig auch den besten Glauben, sondern derjenige, der die besten Werke der Gerechtigkeit und der Liebe aufzuweisen hat. Wie heilsam und notwendig diese Lehre im Staate ist, damit die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben, und namentlich wie viele Ursachen von Wirren und Verbrechen dadurch beseitigt werden, das überlasse ich jedem selbst zu beurteilen. (219)

Im Grunde werden der Staat bzw. die Inhaber der Regierungsgewalt zu den maßgeblichen Auslegern von Religion und Frömmigkeit, sodass auch umgekehrt gilt, dass sich die rechte Frömmigkeit in der Liebe zum Staat bzw. Vaterland zeigt. Und selbst dann, wenn sich die Inhaber der Regierungsgewalt als gottlos erweisen, hat niemand das Recht, gegen sie das göttliche Recht in Schutz zu nehmen. Spinoza kann pointiert sagen: Sicherlich ist die Liebe zum Vaterland die höchste Frömmigkeit, die man zeigen kann. Denn fällt die Regierung weg, so kann nichts Gutes mehr bestehen, alles kommt in Gefahr, und bloß die Wut und die Gottlosigkeit herrschen zum größten Schrecken aller. Daraus folgt, daß jedes fromme Werk am Nächsten sogleich gottlos wird, wenn dem ganzen Staat daraus ein Schaden erwächst, und daß umgekehrt eine gottlose Tat gegen den Nächsten als frommes Werk anzusehen ist, wenn sie um die Erhaltung des Staates willen geschieht. So ist es z. B. eine fromme Tat, wenn ich dem, der mit mir streitet und mir den Rock nehmen will, auch noch den Mantel gebe. Sobald man sich aber sagen muß, daß diese Handlungsweise verderblich ist für die Erhaltung des Staates, so ist es im Gegenteil eine fromme Tat, jenen vor Gericht zu ziehen, selbst wenn er ein Todesurteil zu gewärtigen hätte. (289 f.) Hier wird man mich nun vielleicht fragen: wer wird denn, wenn die Inhaber der Regierungsgewalt gottlos sein wollen, von Rechts wegen die Frömmigkeit in Schutz nehmen? Sind diese auch dann als die Ausleger der Frömmigkeit anzusehen? . . . Soviel ist sicher: wenn die Inhaber der Regierungsgewalt tun wollen, was ihnen beliebt, so ist es einerlei, ob sie das Recht in geistlichen Angelegenheiten haben oder nicht: alles, Weltliches wie Geistliches, wird ins Verderben stürzen; aber noch weit schneller wird das geschehen, wenn Privatleute in aufrüh-

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§ 2 Die Kritik der Religion

rerischer Weise das göttliche Recht beschützen wollen. . . . Ob wir nun die Wahrheit der Sache selbst oder die Sicherheit des Staates oder ob wir das Gedeihen der Frömmigkeit ins Auge fassen, jedenfalls müssen wir festhalten, daß auch das göttliche Recht oder das Recht in geistlichen Dingen von dem Beschluß der höchsten Gewalten ohne Einschränkung abhängig sein muß und daß nur diese seine Ausleger und Beschützer sind. Daraus ergibt sich, daß nur diejenigen Diener des göttlichen Wortes sind, die das Volk vermöge der Autorität der höchsten Gewalten die Frömmigkeit lehren, wie sie nach deren Entscheide dem öffentlichen Wohle angemessen ist. (294 f.) &

W. Bartuschat, Baruch de Spinoza, München 2006 W. Röd, Benedictus de Spinoza. Eine Einführung, Stuttgart 2002

4. John Locke Neben dem von Hobbes (% § 2,2) und Spinoza (% § 2,3) in den Vordergrund gestellten Motiv des Friedens und der Sicherheit hebt Locke nun auch mit entschlossener Emphase das Motiv der Freiheit hervor, deren Schutz der Regierung Grenzen auferlegt und die Forderung einer Gewaltenteilung aufscheinen lässt (voll ausgebildet erst bei Montesquieu). Zwar kann der Staat ausdrücklich nicht die Oberherrschaft über die Religion beanspruchen, aber zugleich sind die zu tolerierenden Religionsgemeinschaften zu Loyalität und sittlichem Wohlverhalten dem Gemeinwesen gegenüber angehalten. Zwei Aspekte gilt es besonders hervorzuheben: a) die staatsphilosophisch begründete Toleranzforderung und b) den besonderen Zugang zum Gottesglauben und somit zur Religion. a) Locke fordert, dass eine Gesellschaft so verfasst sein müsse, dass sie in Frieden und Sicherheit zusammenleben kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Forderung der Toleranz, ohne die es keinen haltbaren Frieden geben kann, verbunden mit einer konsequenten Trennung von Kirche und Staat.

Der englische Philosoph John Locke (1632– 1704) gilt sowohl als Begründer des Empirismus als auch der modernen liberalen Staatsauffassung unter der Maxime der Volkssouveränität.

Es ist nicht die Verschiedenheit der Meinungen (die nicht vermieden werden kann), sondern die Verweigerung der Toleranz (die hätte gewährt werden können) für die, die verschiedener Meinung sind, die alle die Tumulte und Kriege erzeugt hat, die es in der christlichen Welt wegen der Religion gegeben hat. Die Häupter und Leiter der Kirche, von Habsucht und unersättlichem Verlangen zu herrschen getrieben, haben die oft von maßlosen Ehrgeiz besessene Obrigkeit und das auf seinen Aberglauben jederzeit eitle Volk gegen die, die anders denken als sie, entflammt und aufgeregt, indem sie in ihrem Widerspruch mit den Gesetzen des Evangeliums und den Vorschriften predigen, daß Schismatiker und Häretiker um ihren Besitz gebracht und vernichtet werden müßten. Und so haben sie zwei Dinge, die an sich höchst verschieden sind, vermischt und verwirrt: die Kirche und das Gemeinwesen.6 6 Ein Brief über Toleranz [1689], übers. u. eingel. v. J. Ebbinghaus, Hamburg 1957, 109.

4. John Locke

Es ist eine gesellschaftliche und somit staatliche Aufgabe, die bürgerlichen Interessen zu schützen, worunter Locke versteht: „Leben, Freiheit, Gesundheit, Schmerzlosigkeit des Körpers und den Besitz äußerer Dinge wie Geld, Ländereien, Häuser, Einrichtungsgegenstände und dergleichen.“(13) Das Gewaltmonopol des Staates dient dem Schutz der bürgerlichen Rechte. Dabei fällt die Religion in die Freiheit des Bürgers, wobei sie sich selbst auch von jedem Zwang freizuhalten und auf die öffentliche Verehrung Gottes und den Erwerb des ewigen Lebens zu konzentrieren hat (vgl. 25 f.). In spekulativen Meinungen – so nennt Locke die Glaubensartikel – darf es weder von Seiten des Staates noch vonseiten der Religionsgemeinschaften irgendeinen Zwang geben, weil sie nicht in das Gebiet der menschlichen Macht fallen. Die Toleranz hat allein da ihre Grenze, wo die Existenz Gottes geleugnet wird, weil damit jede Verbindlichkeit infrage gestellt werde, durch welche die menschliche Gesellschaft zusammengehalten werde. Von den Religionsartikeln sind einige praktisch, einige spekulativ. Obwohl nun beide in der Erkenntnis der Wahrheit bestehen, so beziehen sich doch diese bloß auf den Verstand, jene beeinflussen den Willen und das Verhalten. Daher können spekulative Meinungen und sogenannte Glaubensartikel, an die bloßer Glaube gefordert ist, keiner Kirche durch das Gesetz des Landes auferlegt werden. Denn es ist absurd, daß Dinge durch Gesetze eingeschärft werden sollten, die zu Stande zu bringen nicht in menschlicher Macht liegt. Zu glauben, daß dies oder das wahr ist, hängt nicht von unserem Willen ab. . . . Ferner darf die Obrigkeit nicht das Predigen oder Bekennen von spekulativen Meinungen in einer Kirche verbieten, weil diese keinerlei Beziehungen auf die bürgerlichen Rechte der Untertanen haben. Wenn ein römischer Katholik glaubt, daß das, was ein andrer Brot nennt, wirklich der Leib Christi ist, so tut er dadurch seinem Nächsten kein Unrecht. Wenn ein Jude nicht glaubt, daß das Neue Testament Gottes Wort ist, so ändert er dadurch nichts an den bürgerlichen Rechten der Menschen. Wenn ein Heide beide Testamente bezweifelt, so darf er deswegen nicht als ein gefährlicher Bürger bestraft werden. Die Macht der Obrigkeit und die Besitztümer des Volkes können gleich sicher sein, ob nun einer diese Dinge glaubt oder nicht. Ich gestehe bereitwillig, daß diese Meinungen falsch und absurd sind. Aber es ist nicht die Aufgabe der Gesetze, für die Wahrheit von Meinungen, sondern für das Wohl und die Sicherheit des Gemeinwesens und der Güter und der Person jedes einzelnen Sorge zu tragen. So gehört es sich. (79 f.) Letztlich sind diejenigen ganz und gar nicht zu dulden, die die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, können keine Geltung für einen Atheisten haben. Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles dieses auflösen. Auch abgesehen davon können die, die durch ihren Atheismus alle Religion untergraben und zerstören, sich nicht auf eine Religion berufen, auf die hin sie das Vorrecht der Toleranz fordern könnten. Was andere praktische Meinungen, auch wenn sie nicht gänzlich von allem Irrtum frei sind, angeht, so kann es keinen Grund geben, sie nicht zu dulden, wenn sie nicht dahin zielen, eine Herrschaft über andere oder bürgerliche Straflosigkeit für die Kirche, in der sie gelehrt werden, einzuführen. (95)

In dem Text wird deutlich, dass Locke zwischen Heiden und Atheisten unterscheidet. Während die Atheisten das in Gott festgemachte Band des Zusammenhalts der Gesellschaft bestreiten und damit der Gesellschaft gleichsam ihren festen Rückhalt

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§ 2 Die Kritik der Religion

entziehen, sind mit den Heiden diejenigen gemeint, die an andere als eben den christlichen oder den jüdischen Gott glauben. b) Der besondere Zugang Lockes zur Religion hängt mit seinen philosophischen Grundentscheidungen zusammen, die ihn sowohl zum Begründer des englischen Empirismus als auch des aufklärerischen Rationalismus werden ließen. Alle Bewusstseinsinhalte werden durch äußere sinnliche oder innere Wahrnehmungen (Erfahrungen) hervorgerufen. Das Wissen um Gott ist dem Menschen nicht angeboren (wie bei Descartes oder Leibniz), aber unsere Vernunft führt uns „von der Betrachtung unserer selbst und dessen, was wir unfehlbar in unserer eigenen Beschaffenheit finden, zu der Erkenntnis dieser sicheren und offenkundigen Wahrheit, daß es ein ewiges, allmächtiges und allwissendes Wesen gibt.“7 Es handelt sich um ein Wissen, das „uns dann nicht entgehen kann, wenn wir uns nur mit unserm Denken ebenso darum bemühen wie um manche anderen Forschungen.“ (298) Auch wenn die biblische Überlieferung auf Offenbarung verweist, bleibt ihr Inhalt einer Prüfung nach bestimmten Kriterien der Vernunft ausgesetzt, die sich nicht einfach auf eine behauptete Autorität verlässt, sondern auf Klärung drängt. Nur so ist es möglich, ein klares Wissen von Gott zu erlangen. Ohne kritische Prüfung wird unsere Kenntnis über Gott „ebenso unvollkommen sein, wie die eines Menschen, dem man gesagt hat, die drei Winkel eines Dreiecks seien gleich zwei rechten, und der das auf Treu und Glauben hinnimmt, ohne den Beweis dafür zu prüfen. Er mag diesem Satz als einer glaubhaften Meinung zustimmen, hat aber keine Kenntnis von seiner Wahrheit, obwohl ihn seine Fähigkeit, sorgfältig angewandt, diese klar und einleuchtend machen könnte.“ (Bd. I, 101 f.) Die folgende Gedankensequenz legt dar, mit welchen Schritten Locke zu dem Gedanken vorstößt, dass die Vernunft als „natürliche Offenbarung“ anzusehen sei: Erstens behaupte ich, daß kein von Gott inspirierter Mensch durch irgendwelche Offenbarung andern Menschen neue einfache Ideen mitteilen könnte, die sie nicht schon vorher auf Grund von Sensation und Reflexion besaßen. . . . Denn Wörter verursachen durch ihre unmittelbare Einwirkung auf uns keine anderen Ideen in uns als die ihrer natürlichen Laute; erst dadurch, daß sie gewohnheitsmäßig als Zeichen gebraucht werden, kommen sie dazu, in unserem Geist latente Ideen wachzurufen und wiederzubeleben, aber auch dann immer nur solche, die sich schon vorher da befanden. (Bd. II, 393 f.) Zweitens behaupte ich, daß durch Offenbarung uns dieselben Wahrheiten enthüllt und überliefert werden können, die wir auch mit Hilfe der Vernunft und der auf natürlichem Wege erlangten Ideen entdecken können. So könnte Gott die Wahrheit irgendeines Satzes im Euklid ebensogut durch Offenbarung enthüllen, wie die Menschen durch den naturgemäßen Gebrauch ihrer geistigen Fähigkeiten von selbst dazu gelangen, ihn zu entdecken. Bei allen Dingen dieser Art ist die Offenbarung wenig vonnöten oder nützlich, weil Gott uns natürliche und sichere Mittel in die Hand gegeben hat, um zu ihrer Erkenntnis zu gelangen. Denn jede Wahrheit, die wir mit Hilfe der Kenntnis und Betrachtung unserer eigenen Ideen klar entdecken, wird für uns immer größere Gewißheit besitzen als die Wahrheiten, die uns durch überlieferte Offenbarung vermittelt werden. (395) 7 Über den menschlichen Verstand [1689] (PhB 74), Hamburg 1962, Bd. II, 297.

5. John Toland

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Alles, was Gott geoffenbart hat, ist sicherlich wahr; daran ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Das bildet den eigentlichen Gegenstand des Glaubens. Ob aber etwas als göttliche Offenbarung anzusehen ist oder nicht, darüber muß die Vernunft entscheiden. Und sie kann dem Geist niemals erlauben, eine größere Augenscheinlichkeit zu verwerfen, um etwas weniger Einleuchtendes zu akzeptieren; auch kann sie ihm nicht gestatten, im Gegensatz zur Erkenntnis und Gewißheit an der Wahrscheinlichkeit festzuhalten. Dafür, daß eine überlieferte Offenbarung in dem Wortlaut, in dem sie uns übermittelt ist, oder in dem Sinne, in dem wir sie verstehen, göttlichen Ursprungs sei, kann es kein Zeugnis geben, daß so klar und gewiß wäre wie das der Prinzipien der Vernunft. Deshalb kann nichts, was den klaren, von selbst einleuchtenden Aussagen der Vernunft widerspricht und mit ihnen unvereinbar ist, beanspruchen, als Glaubenssache, mit der die Vernunft nichts zu tun habe, geltend gemacht oder anerkannt zu werden. (402 f.) Vernunft ist natürliche Offenbarung, durch die der ewige Vater des Lichts und der Quell aller Erkenntnis den Menschen denjenigen Teil der Wahrheit vermittelt, den er ihren natürlichen Fähigkeiten zugänglich gemacht hat. Offenbarung ist natürliche Vernunft, erweitert durch eine Reihe neuer Entdeckungen, die Gott unmittelbar kundgegeben hat und für deren Wahrheit die Vernunft die Bürgschaft übernimmt, indem sie ihren göttlichen Ursprung bezeugt und beweist. Wer deshalb die Vernunft beseitigt, um der Offenbarung den Weg zu ebnen, der löscht das Licht beider aus. Er handelt ebenso wie jemand, der einen Menschen überreden will, sich die Augen auszustechen, um durch ein Teleskop das ferne Licht eines unsichtbaren Sternes besser beobachten zu können. (406) Wer sich darum nicht allen Maßlosigkeiten der Täuschung und des Irrtums ausliefern will, muß diesen Führer seines inneren Lichtes einer Prüfung unterziehen. Wenn Gott jemand zum Propheten macht, so vernichtet er deshalb noch nicht den Menschen in ihm. Er läßt dessen sämtliche Fähigkeiten in ihrem natürlichen Zustande, damit er fähig ist, zu beurteilen, ob die Inspirationen, die er erfährt, göttlichen Ursprungs sind oder nicht. Wenn Gott den Geist mit übernatürlichem Licht erhellt, so löscht er deshalb das natürliche Licht nicht aus. Wenn er will, daß wir der Wahrheit eines Satzes zustimmen sollen, so richtet er es entweder so ein, daß uns diese Wahrheit durch die gewöhnlichen Methoden der natürlichen Vernunft einleuchtet, oder aber er gibt uns zu verstehen, daß es sich um eine Wahrheit handele, der wir auf Grund seiner Autorität zustimmen sollen. Dann überzeugt er uns durch bestimmte Kennzeichen, bei denen sich der Verstand unmöglich irren kann, davon, daß diese Wahrheit von ihm stamme. Die Vernunft muß unser oberster Richter und Führer in allen Dingen sein. (414 f.) &

W. Euchner, John Locke zur Einführung, Hamburg 2004

5. John Toland Von den Religionsphilosophen und Gesellschaftstheoretikern der frühen Aufklärung wird der christliche Glaube vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Funktion für die menschliche Gemeinschaft betrachtet. Die praktische Notwendigkeit und die gesellschaftliche Nützlichkeit

Der irische Philosoph John Toland (1670– 1722) gilt als Begründer des Deismus, womit ein allein vernunftbegründetes Gottesverständnis im Horizont einer moralisch verstandenen natürlichen Religion bezeichnet wird.

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§ 2 Die Kritik der Religion

werden zum kritischen Maßstab für die Bestimmungen des Glaubens und der den Konfessionen übergeordneten Religion. Konsequent versucht John Toland den von John Locke (% § 2,4) eingeschlagenen Weg zu Ende zu gehen. Der von Toland geprägte Deismus betont die Schöpferrolle Gottes, wobei die Vernunft des Menschen als ein besonderes Werk dieser Schöpfung hervorgehoben wird, mit dem Gott den Menschen ausgezeichnet habe, um ihm dann auch die Schöpfung zur eigenen Gestaltung überlassen zu können. Gott selbst hat sich aus der Schöpfung weithin zurückgezogen, um den Menschen den Platz zu ihrer Selbstentfaltung zu überlassen. Das Christentum wird auf der Linie seiner Übereinstimmung mit der Vernunft als praktische Lebensorientierung gegen den von den Kirchen und ihren Amtsträgern gestützten Aberglauben verteidigt. Die sittlich-religiöse Kraft des Christentums, wie sie in den biblischen Quellen noch offenkundig ist, sei im Laufe der Kirchengeschichte verunstaltet und durch heidnische Elemente überlagert und geschwächt worden. In all seinen wesentlichen Aspekten stimme das Christentum vollkommen mit der natürlichen Religion des Menschen überein, was sich in einer konsequent vernünftigen Betrachtung unabweislich aufzeigen lasse. Wo Locke lediglich eine vernünftige Bewertung erwartet, fordert Toland eine Begründung durch die Vernunft. Die Tradition hat vor der Vernunft den Wahrheitsbeweis zu erbringen, wenn sie Gültigkeit beanspruchen und als Wort Gottes gewürdigt werden will. Christianity Not Mysterious ist der Titel seiner wirkungsvollsten Publikation (1696), mit der er zeigen will, dass es im christlichen Glauben nirgends darum gehe, irgendwelche Geheimnisse anerkennen zu müssen. Diese Schrift wurde in Dublin öffentlich verbrannt und brachte Toland auch in London in Bedrängnis. Im Gegensatz dazu sind wir der Ansicht, daß die Vernunft die eigentliche Grundlage aller Gewißheit ist, und daß nichts Offenbartes, mag es nun seine besondere Form oder seinen Inhalt angehen, von ihrer Prüfung mehr ausgenommen ist als die regelmäßigen Naturerscheinungen. So folgern wir denn in Übereinstimmung mit dem Titel dieser Abhandlung, daß im Evangelium nichts Widervernünftiges und nichts Übervernünftiges enthalten sei, und daß keine christliche Lehre eigentlich ein Mysterium genannt werden kann.

Und noch pointierter: Was in der Religion geoffenbart ist, das muß und kann, da es überaus nützlich und notwendig ist, ebenso leicht verstanden und mit unseren allgemeinen Begriffen in Übereinstimmung gefunden werden, wie das, was wir von Holz, Stein, Luft, Wasser oder dergleichen wissen.8

Soll etwas für den Menschen verbindliche Bedeutung haben und aufrichtigen Glauben konstituieren, muss es seinem Begriffsvermögen uneingeschränkt zugänglich sein. So kann es etwa nicht angehen, dass Gott mit seinen Wundern die von ihm selbst geschaffenen Naturgesetze überspringe; vielmehr lassen sich – wenn auch nicht in jedem Falle – Erklärungen beibringen, die ohne einen Widerspruch von Na8 Christentum ohne Geheimnis, hg. v. L. Zscharnack, Gießen 1908, 69 u. 101.

5. John Toland

tur und göttlichem Wirken auskommen. Am deutlichsten tritt die annoncierte kritische Spannung im Umgang mit den biblischen Texten hervor: Zunächst will ich bemerken, daß diejenigen, die sich kein Gewissen daraus machen, zu sagen, sie könnten auf das Zeugnis der Schrift hin einen handgreiflichen Widerspruch gegen die Vernunft glauben, eine jede Widersinnigkeit rechtfertigen; indem sie ein Licht dem anderen gegenüberstellen, machen sie unleugbar Gott zum Urheber aller Ungewißheit. Die bloße Annahme, daß die Vernunft das eine rechtfertigen könne und der Geist Gottes ein anderes, treibt uns in unvermeidlichen Skeptizismus; denn wir würden in beständiger Ungewißheit sein, wem wir folgen sollten, ja, wir könnten nichts sicher feststellen. Denn da der Beweis für die Göttlichkeit der Schrift von der Vernunft abhängig ist, wie sollten wir da, wenn auf irgendeine Weise das klare Licht der einen in Widerspruch treten sollte mit der anderen, von der Unfehlbarkeit der anderen überzeugt werden? Die Vernunft kann in diesem Punkte so gut irren wie in jedem anderen, und wir haben keine besondere Verheißung, daß es nicht so wäre, ebenso wie die Papisten sich nicht sicher sein können, daß ihre Sinne sie in jeder anderen Sache nicht ebensogut täuschen können, wie bei der Transsubstanziation. Zu behaupten, es trage sein Zeugnis in sich selbst, das hieße, auch den Koran oder die Puranas als Kanon anerkennen. Und auch dies wäre ein merkwürdiger Beweis, wollte man einem Heiden sagen: die Kirche hat’s entschieden; denn alle Gesellschaften werden ebensosehr für sich sprechen, wenn wir nur ihr Wort als sicheres Zeugnis annehmen. Außerdem würde er vielleicht fragen, woher die Kirche das Recht hat, in dieser Sache zu entscheiden? Und wenn ihm geantwortet werden würde: ‚von der Schrift‘, tausend gegen eins, er würde sich abwenden über diesen circulus: man soll glauben, daß die Schrift göttlich ist, weil die Kirche es so bestimmt, und die Kirche hat die entscheidende Autorität von der Schrift. Es wird bezweifelt, ob diese Fähigkeit der Kirche mit den zu diesem Zwecke angeführten Stellen bewiesen werden kann; aber die Kirche selbst (der betroffene Teil) behauptet es! Ei, sind denn nicht diese ewigen Rundläufe ganz ausgezeichnete Erfindungen, gedankenlose und schwachköpfige Leute schwindelig und verwirrt zu machen? Aber wenn wir glauben, die Schrift ist göttlich, nicht auf ihre bloße Zusicherung hin, sondern auf ein wirkliches Zeugnis, das in der offenkundigen Gewissheit der darin enthaltenen Dinge besteht, – in unbezweifelten Tatsachen und nicht in Worten und Buchstaben, – was ist das anderes, als es vermöge der Vernunft beweisen? Sie trägt in sich selbst durchaus den Charakter der Göttlichkeit, das gestehe ich zu. Aber die Vernunft ist es, die ihn ausfindig macht, ihn prüft und mit ihren Prinzipien beweist und für hinreichend erklärt; und dieses erzeugt in uns regelrecht die Zustimmung des Glaubens oder die Überzeugung. Wenn nun alle einzelnen Punkte scharf gesondert werden, wenn nicht nur die Lehren Christi und seiner Apostel betrachtet werden, sondern auch ihr Leben, ihre Weissagungen, ihre Wunder und ihr Tod, so würde sicher alle diese Mühe vergeblich sein, wenn wir bei einem einzigen Berichte Vernunftwidriges zuließen. (80 f.) Gegen alles das, was wir in diesem Abschnitt festgestellt haben, wird man sich mit großem Pomp auf die Autorität der Offenbarung berufen – ohne das Recht, die Vernunft zum Schweigen zu bringen und nichtig zu machen, – als ob alles insgesamt nutzlos und unstatthaft wäre. . . . Ich sage, die Offenbarung wäre nicht ein zwingendes Motiv der Zustimmung, sondern ein Mittel zur Kenntnis. Wir dürfen nicht den Weg, auf dem wir zur Kenntnis eines Dinges kommen, mit den Gründen verwechseln, die wir haben, daran zu glauben. Es kann mich jemand in tausend Dingen unterrichten, die ich nie zuvor gehört habe, und über die ich nicht soviel denken würde, wenn mir nicht davon berichtet wäre; dennoch glaube ich nichts auf sein bloßes Wort hin ohne offenbare Gewißheit in den Dingen selbst. Nicht die bloße Auto-

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rität dessen, der spricht, sondern die klare Vorstellung, die ich mir über das bilde, was er sagt, ist der Grund meiner Überzeugung. (83)

Mit seiner konsequent kritischen Haltung berief sich Toland auf das Neue Testament als die für den christlichen Glauben maßgebliche Quelle. Dieses stellt er gegen die Kirchengeschichte, welche aus sehr unterschiedlichen Interessen heraus die Mysterien insbesondere in der Gestalt von Zeremonien in die Kirche eingeführt und in ihr verbindlich gemacht habe. Schon beginnend im zweiten Jahrhundert wurde die Taufe angereichert durch Salbung und Kreuzeszeichen, Fragen und Antworten, Fasten und Waschungen, wobei man keine Scheu hatte, sich beim heidnischen Aberglauben zu bedienen: In späteren Zeiten aber fand man kein Ende mit all den Kerzen, Geisterbeschwörungen, Anblasungen und vielen anderen Absonderlichkeiten jüdischen und heidnischen Musters. Aus dieser Quelle entsprang nicht nur der Glaube an Ahnungen, Vorzeichen, Erscheinungen, die Sitte des Beerdigens mit drei Schaufeln voll Erde und andere vulgäre christliche Riten, sondern auch Kerzen, Feste oder heilige Tage, Einsegnungen, Bilder, die Sitte in der Richtung nach Osten hin zu beten, Altäre, Musik, Kirchweihen, Sonderung der Plätze für sogenannte Laien und Kleriker. Denn in den Schriften der Apostel gibt es nichts dergleichen, wohl aber ist all das deutlich enthalten in den Büchern der Heiden und gehörte zu ihrem Gottesdienst. . . . Aber es steht nichts von Natur so im Gegensatz wie Zeremonie und Christentum. Das letztere enthüllt die Religion klar und offen vor aller Welt, und die erstere liefert sie mystischen Darstellungen von rein willkürlicher Bedeutung aus. (135–137)

Es ist deutlich, dass für Toland die Berufung auf die Religion – verstanden als natürliche Religion – das kritische Potential zur Abweisung von Dogmatismus und Konfessionalismus der Kirchen darstellt. Religion überschreitet in diesem Gebrauch zwar nicht grundsätzlich die Grenzen des Christentums, sondern wird emphatisch mit ihm identifiziert, bezeichnet aber einen Zugang, der im Grundsatz auf Allgemeingültigkeit zielt und somit die Bindung an das Christentum immer auch transzendiert. &

D. Lucci, Scripture in John Toland’s Criticism of Revealed Religion, in: ders., Scripture and Deism. The Biblical Criticism of the Eighteenth-Century British Deists, Bern 2008, 65–133

6. Voltaire Mit Voltaire (1694–1778) erreicht die europäische Aufklärung ihren Höhepunkt. Trotz seiner rückhaltlosen Kritik an den abergläubischen Lehren der verfassten Religionen hält er doch unbedingt an der praktischen Bedeutung des Gottesglaubens fest.

Auch wenn Voltaire im Grunde keine neuen Argumente vorträgt, erreichen seine Kompilationen eine Schärfe und Aggressivität, die sich vor allem aus der vorrevolutionären Situation in Frankreich erklären lassen. Gleichwohl hat er durch seine Popularisierungen nicht unwesentlich zur weltweiten Ausbreitung der Ressenti-

6. Voltaire

ments gegenüber dem traditionellen Kirchenglauben beigetragen. Seine Kritik ist zugespitzt als Herrschaftskritik gegen die Kirchen, die er unverblümt für den Atheismus verantwortlich macht: Wenn es Atheisten gibt, ist niemand anders daran schuld als die gedungenen Zwingherrn der Seelen, die uns gegen ihre Schurkereien aufbringen und manche schwachen Geister dazu zwingen, den Gott zu leugnen, den diese Ungeheuer schänden.9

Schon das kurze Zitat verdeutlich, dass sich Voltaire auch angesichts seiner radikalen Kritik nicht zu den Atheisten rechnet, sondern diese eher als ‚schwache Geister‘ betrachtet. Vielmehr bleibt er in der Linie des Deismus und bezeichnet sich selbst als einen Vertreter der ‚natürlichen Religion‘: Zum Schluß stelle ich fest, daß jeder vernünftige, jeder anständige Mensch die christliche Sekte verabscheuen muß. Der große Name Theist, der nicht genügend verehrt wird, ist der einzige, den man annehmen sollte. Das einzige Evangelium, das man lesen sollte, ist das große Buch der Natur, das Gott mit seiner eigenen Hand schrieb und dem er sein Siegel aufdrückte. Die einzige Religion, zu der man sich bekennen sollte, ist die, Gott zu verehren und ein anständiger Mensch zu sein. Es ist dieser reinen und ewigen Religion ebenso unmöglich, Böses zu vollbringen, wie es dem christlichen Fanatismus unmöglich war, das Böse nicht zu tun. In dieser natürlichen Religion wird man nicht sagen können: Ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Das aber ist das erste Glaubensbekenntnis, das man dem Juden in den Mund legt, den man Christus genannt hat.10

Zugleich kann Voltaire Jesus als einen Theisten bezeichnen, der allerdings zu einem Opfer seiner Umstände und seiner späteren Dogmatisierungen geworden ist: Weder Jesus noch irgendeiner seiner Apostel hat je gesagt, er habe zwei Naturen und eine Person mit zwei Willen, seine Mutter sei die Mutter Gottes, sein Geist sei die dritte Person Gottes, und dieser Geist sei vom Vater und vom Sohne erzeugt. Wenn sich auch nur einer dieser Glaubenssätze in den vier Evangelien findet, so möge man ihn uns zeigen: Man streife alles von Jesu ab, was ihm fremd ist, was ihm zu verschiedenen Zeiten während der schändlichsten Glaubensstreitigkeiten und auf den sich voller Ingrimm wechselseitig mit Bannfluch belegenden Konzilien zugeschrieben worden ist; was bleibt dann von ihm übrig? Ein Vertreter von Gott, der die Tugend gepredigt hat, ein Feind der Pharisäer, ein Gerechter, ein Theist. Wir wagen zu behaupten, wir seien die einzigen, die seines Glaubens sind, der das Universum aller Zeit umfaßt und folglich der einzige wahrhafte Glaube ist. (485)

Es geht Voltaire darum, die Religion, die sich zu Recht so nennen darf und deshalb auch zu schützen ist, konsequent von dem Aberglauben zu trennen: Die Religion, sagt ihr, sei für eine Unmenge Missetaten verantwortlich; sagt lieber, es sei der Aberglaube, der auf unserer trüben Erde herrscht: Er ist der schlimmste Feind der reinen Verehrung, die wir dem höchsten Wesen schuldig sind. Verabscheut dieses Monstrum, das immer 9 Atheismus, in: Voltaire, Philosophisches Wörterbuch [1767], hg. v. K. Stierle, Frankfurt/M. 1967, 48. 10 Wichtige Untersuchung von Mylord Boling-

Broke oder das Grabmal des Fanatismus [1768], in: Voltaire, Kritische und satirische Schriften, München 1970, 369.

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wieder den Schoß seiner Mutter zerrissen hat. Wer es bekämpft, ist ein Wohltäter des Menschengeschlechts. Wie eine Schlange erstickt es die Religion mit seinen Windungen. Man muß ihr den Kopf zertreten, ohne die Religion, die von ihr vergiftet und zerfleischt wird, zu verletzen.11

Es ist deutlich, dass das aufklärerische Pathos selbst einen eigenen Exklusivismus mit sich bringt, der in einer unauflöslichen Spannung zu der zugleich betonten Forderung der Toleranz zu stehen kommt. Am deutlichsten treten die Grenzen dieser Toleranz in Erscheinung, wenn sich Voltaire – durchaus in weitreichender Übereinstimmung insbesondere mit den Vertretern der französischen Enzyklopädie12 – über die Juden äußert und dabei ohne Zögern auf das zeitgenössische Arsenal des Antisemitismus zugreift: Sie werden in ihnen nur ein unwissendes und barbarisches Volk treffen, das schon seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unüberwindlichsten Haß gegenüber allen Völkern verbindet, die sie dulden und an denen sie sich bereichern.13

Wenn Voltaire ausdrücklich an Gott und der Religion in der Prägung des Deismus festhalten will, sieht er in ihnen ein Instrument zur Wahrung der Moral und der Ordnung, das vor allem durch die Annoncierung von Lohn und Strafe funktioniert. Das ist der Hintergrund für seine berühmte Äußerung: Wenn es Gott nicht gäbe, dann müsse er erfunden werden. Allerdings wäre es eine Verkürzung, wenn Gott nur als der wachende Richter zur Disziplinierung der Menschen angesehen wird. Es findet sich vielmehr bei Voltaire auch noch eine andere Seite, die gegen jede Unterstellung eines Zynismus bei der Verordnung von Religion gefeit ist. Gott spricht nämlich nach Voltaire auch heilsam das Trostbedürfnis des Menschen an, denn ohne Gott hätte die Welt keinen Halt und keine Hoffnung. Eine Welt ohne Gott ist wie ein unendliches Meer ohne Hafen – ein ähnliches Bild taucht dann später bei Nietzsche (% § 4,2.6) wieder auf. Neben den gesellschaftspolitischen Gründen kennt Voltaire auch existenzielle Motive, an Gott festzuhalten. Diese sind ausreichend für eine entschlossene Verteidigung des Theismus. Alle anderen Gründe für den Glauben und die Religion weist er entschieden ab. Bei dem Zweifel, in dem wir uns befinden, rate ich euch nicht mit Pascal, euch an das Sicherste zu halten. Es gibt nichts Sicheres im Ungewissen. . . . Ich mache euch nicht den Vorschlag, ungereimtes Zeug zu glauben, um euch aus der Verlegenheit zu helfen. Ich sage nicht zu euch: Geht nach Mekka und küßt den schwarzen Stein, um euch zu erleuchten, nehmt einen Kuhschwanz in die Hand, legt ein Skapulier an, seid einfältig und fanatisch, um die Gunst des höchsten Wesens zu erlangen. Ich sage euch: Seid weiterhin tugendhaft und wohltätig, betrachtet weiterhin jeden Aberglauben mit Abscheu und Mitleid, aber verehrt mit mir den 11 Von der Notwendigkeit an ein höchstes Wesen zu glauben, in: Philosophisches Wörterbuch (s. Anm. 9), 96. 12 Zum Antisemitismus der Aufklärung vgl. L. Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 5:

Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, Worms 1983. 13 Jude, in: Philosophisches Wörterbuch, zit. n. L. Poliakov (s. Anm. 12), 101.

7. Jean-Jacques Rousseau

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Plan, der sich in der ganzen Natur offenbart, und dementsprechend den Urheber dieses Planes, die erste Ursache und den Endzweck des Ganzen; hofft mit mir, daß unser Wesen, welches auf das große ewige Wesen schließt, eben durch dieses große Wesen glücklich sein kann. Darin liegt kein Widerspruch. Ihr werdet mir nicht beweisen, daß dies unmöglich ist, und ich kann euch nicht mathematisch beweisen, daß es sich so verhält. In der Metaphysik schließen wir fast nur auf Wahrscheinlichkeiten; wir schwimmen alle in einem Meer, dessen Gestade wir nie gesehen haben. Wehe denen, die beim Schwimmen miteinander in Streit geraten! Jeder sehe zu, wie er an Land kommt; aber wer mir zuruft, Du schwimmst vergeblich, es gibt keinen Hafen!, der nimmt mir den Mut und raubt mir alle meine Kräfte.14 &

H. Baader (Hg.), Voltaire (WdF 276), Darmstadt 1980 G. Holmsten, Voltaire, Reinbek 142002

7. Jean-Jacques Rousseau Wenn Jean-Jacques Rousseau in die Reihe der Der Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Aufklärer gestellt wird, so ist er zugleich insofern Rousseau (1712–1778) weitet die deren Kritiker, als er die Aufklärung mit ihrer aufklärerische Kritik an der überkommenen Grenze konfrontiert. Dem von der Aufklärung Religion auf die Kultur aus und setzt auf das Glück eines naturnahen Lebens. in die Vernunft und den Verstand gelegten Pathos entzieht Rousseau seine Letztgültigkeit, indem er auf die besondere untrügliche Kraft der Intuition setzt, die in einem engen Zusammenhang mit seinem Verständnis von der natürlichen Religion steht. Die Intuition liefert unverfälschte und somit höchst zuverlässige Belehrung und Orientierung. Sie ist nicht mit dem traditionellen Verständnis von Offenbarung zu verwechseln, wie es in den Kirchen den Menschen entgegengehalten wird, sondern steht diesem vielmehr diametral entgegen. Während die Offenbarung in den aus ihr abgeleiteten umstrittenen Dogmen Parteiungen und Unfrieden schafft, beruft sich die Zuverlässigkeit der Intuition auf einen den Menschen auszeichnenden Instinkt, der ihm – wenn er nicht unterdrückt oder durch die Fixierung an die traditionellen Bindungen der Offenbarung dominiert wird – alle nötige verlässliche Orientierung für das Leben bereitstellt. Nach Rousseau ist die Rede von Offenbarung schlicht überflüssig und steht in ihrer Streitsucht dem wahren Geist des Evangeliums entgegen, denn dieser setzt auf Überzeugung und nicht auf die Akzeptanz von Wundern oder Dogmen. Rousseau bewegt sich vorbehaltlos auf der Linie der vernunftorientierten Aufklärung. Alles muss sich vor der Vernunft ausweisen, und was vor ihr nicht bestehen kann, darf auch keine Geltung beanspruchen. Doch diese durchaus anspruchsvolle Rolle der Vernunft macht sie nicht zugleich auch noch zur Quelle aller Orientierung und Einsicht. Vielmehr wird die Vernunft durch das Gefühl und die Intuition über14 Von der Notwendigkeit an ein höchstes Wesen zu glauben (s. Anm. 11), 95.

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boten – hier zeichnet sich eine Öffnung der Aufklärung hin zur Romantik ab. Das Verständnis der natürlichen Religion bekommt eine eigene Rolle zugewiesen, die sie für die Vernunft unentbehrlich macht. Rousseau legt in dem Erziehungsroman Emile sein eigenes Glaubensbekenntnis in den Mund eines ‚savoyischen Vikars‘, der leidenschaftlich eine intuitive moralische Religion des freien Menschen lehrt. Ort dieser Intuition ist das Gewissen. Jeder Mensch soll seinem Gewissen als dem Erregungsort frommer Subjektivität folgen. Es wird gleichsam als Sprachrohr der unverstellten Natur verstanden. Nicht allein schon in der Vernunft, sondern im Grunde erst im Gewissen erweist sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Im Gewissen zeigt sich wirkliche Lebenskraft, Tugend und Freiheit. Es gilt für Rousseau als der entscheidende Beleg dafür, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Gewissen! Gewissen! Göttlicher Instinkt! Unsterbliche und himmlische Stimme! Sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber verständigen und freien Wesens! Untrüglicher Richter über Gut und Böse, der den Menschen gottähnlich macht! Du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Sittlichkeit! Ohne dich fühle ich nichts in mir, das mich über die Tiere erhebt, als das traurige Vorrecht, mich mit Hilfe eines ungeregelten Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrtum zu Irrtum zu verlieren.15

Die Angewiesenheit von Verstand und Vernunft wird unmissverständlich hervorgehoben. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass die Intuition nicht einfach eine Inspektion der eigenen Subjektivität darstellt, sondern als Begegnung mit dem Wesen der Natur und somit der Wirklichkeit verstanden wird. Wichtig bleibt zu beachten, dass das Gewissen zwar in jedem Einzelnen spricht, aber es wird deshalb nicht zum Ausdruck individueller Subjektivität, sondern Rousseau misst dem Gewissen eine unhintergehbare Objektivität zu, der man sich im Grunde nicht entziehen könne. Das Gewissen wird nicht als eine hinzugewonnene Dimension der Individualität gefeiert, sondern als ein bildungsunabhängig gegebener Zugang zum Wahren und Guten. Dieser Zugang wird nicht durch die Erziehung erschlossen, sondern ist von Natur aus in jedem Menschen gegeben. Der Mensch ist von Natur aus gut und solange er sich der Führung seines Gefühls überlässt, vermag er auch gut zu bleiben. Von hier aus ergibt sich Rousseaus Konzept einer ‚natürlichen Religion‘, die an die Stelle der tradierten Offenbarungsreligion treten soll und all ihre Anstößigkeiten überwindet. Du findest in meinen Darlegungen nur die natürliche Religion, und es ist seltsam, daß auch noch eine andere notwendig sein soll. Woran soll ich diese Notwendigkeit erkennen? Wessen kann ich schuldig sein, wenn ich Gott nach der Vernunft, die er meinem Geist gibt, und nach den Gefühlen, die er meinem Herzen einflößte, diene? Welche Reinheit der Moral, welches Dogma, das dem Menschen nützt und seinen Schöpfer ehrt, kann ich aus einer positiven Glaubenslehre ziehen, die ich nicht auch ohne sie aus dem richtigen Gebrauch meiner Fähigkeiten ziehen könnte? Zeig mir, was man zur Ehre Gottes, zum Wohl der Gesellschaft und zu meinem eigenen Vorteil den Pflichten des natürlichen Gesetzes hinzufügen kann und welche Tugend du aus einem neuen Kult ziehen kannst, der nicht eine Konsequenz meines Kultes wä15 Emile [1762], 306.

7. Jean-Jacques Rousseau

re. Die höchsten Vorstellungen von der Gottheit gibt uns die Vernunft ein. Betrachte das Schauspiel der Natur, hör auf die innere Stimme. Hat Gott nicht alles vor unseren Augen, vor unserem Gewissen und unserem Urteil ausgebreitet? Was können uns die Menschen mehr sagen? Ihre Offenbarungen erniedrigen Gott nur, da sie ihm menschliche Leidenschaften beilegen, statt unsere Begriffe über das große Wesen aufzuklären. Ich sehe, wie die einzelnen Dogmen sie verwirren; statt sie zu erhöhen, ziehen sie sie herab; den unbegreiflichen Geheimnissen, die die Gottheit umgeben, fügen sie sinnlose Widersprüche hinzu und machen den Menschen stolz, unduldsam und grausam; statt den Frieden auf der Erde zu stiften, überziehen sie sie mit Feuer und mit Schwert. Ich frage mich, wozu das dienen soll, und weiß keine Antwort. Ich sehe nur die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts. Man sagt mir, daß eine Offenbarung notwendig sei, um die Menschen zu lehren, wie wir Gott dienen sollen. Als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeiten der seltsamen Kulte an, die sie eingeführt haben, und übersieht, daß alle Verschiedenartigkeit aus der Phantasie der Offenbarungen kommt. Seit die Völker auf den Gedanken kamen, Gott sprechen zu lassen, hat jeder ihn auf seine Weise reden lassen, was er hören wollte. Wenn man nur darauf gehört hätte, was Gott dem Menschen ins Herz sagt, so hätte es immer nur eine einzige Religion gegeben. (312) Suchen wir also aufrichtig die Wahrheit! Geben wir nichts auf das Vorrecht der Geburt, auf die Autorität der Kirchenväter und der Pfarrer, sondern unterziehen wir alles, was sie uns seit der Kindheit gelehrt haben, der Prüfung des Gewissens und der Vernunft. Und wenn sie schreien: Unterwirf deine Vernunft! Dasselbe könnte mir jeder Betrüger sagen. Wenn ich meine Vernunft unterwerfen soll, brauche ich vernünftige Gründe dazu. (314)

Alles, was von der Religion zu erwarten ist, bietet die natürliche Religion. Sie bedarf keiner Ergänzung. Die reine Moral, um die es in der natürlichen Religion geht, ehrt sowohl Gott als auch den Menschen. Zwar gesteht Rousseau zu, dass die überkommene Theologie in ihrem Umgang mit der Offenbarung auch manchen tiefsinnigen und sogar nützlichen Gedanken verbunden haben mag, aber jede Verpflichtung auf eine dieser Lehren ist grundsätzlich abzulehnen. Der alleinige Maßstab zur Beurteilung, der von allen Menschen bereits mitgebracht wird, ist die natürliche Religion. Neben dieser persönlichen Intuitionsreligion kennt Rousseau in Übereinstimmung mit den bisher besprochenen Vertretern der Aufklärung auch noch eine ‚bürgerliche Religion‘ bzw. ‚zivile Religion‘, die für das gesellschaftliche Zusammenleben von fundamentaler Bedeutung ist. Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion wird von ihm ausdrücklich geteilt. Für den Staat ist es allerdings wichtig, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihm vorschreibe, seine Pflichten zu lieben. Aber die Dogmen dieser Religion sind dagegen für den Staat wie für seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben, was er will, ohne daß der Souverän es zu wissen braucht. Da er für die andere Welt nicht zuständig ist, geht ihn das, was das Schicksal seiner Untertanen im Jenseits sein wird, nichts an, wenn sie nur in dieser Welt gute Bürger sind. Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän erlassen werden. Sie dürfen keine Dogmen sein, sondern Gemeinschaftsgefühle, ohne die es

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unmöglich ist, weder guter Staatsbürger noch treuer Untertan zu sein. Zwar kann niemand gezwungen werden, daran zu glauben, aber der Souverän kann jeden aus dem Staat verbannen, der nicht daran glaubt. Er kann ihn nicht als Ungläubigen verbannen, sondern als Feind der Gesellschaft, der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und notfalls sein Leben für seine Pflicht zu opfern. Wer diese Glaubenssätze anerkannt hat und sich dennoch benimmt, als glaube er nicht daran, der soll mit dem Tod bestraft werden. Er hat das größte aller Verbrechen begangen: er hat vor dem Gesetz einen Meineid geleistet.16

Es wird deutlich, dass nach wie vor die Frage der inneren Sicherheit ein zentrales Problem für den modernen Staat darstellt. Auch wenn keine spezifische Staatstheologie vorgetragen wird, so wird dennoch umgekehrt die religiöse Verankerung des Staats nach wie vor als unverzichtbar angesehen. Die nähere Betrachtung der Glaubenssätze der bürgerlichen Religion zeigt deutlich die Spuren der Kriterien, die wir bereits bei Herbert von Cherbury als wegweisend registriert haben (% § 1,1.3). Auffällig ist lediglich, dass nun die ausdrückliche Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages herausgestellt wird, was nochmals den hohen Rang der als notwendig erachten Staatsraison unterstreicht: Die Glaubenssätze der bürgerlichen Religion müssen einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen. Diese positiven Sätze sind: Die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; das künftige Leben; die Belohnung der Gerechten, die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze. Es gibt nur einen negativen Satz: Unduldsamkeit. Sie gehört den Kulten an, die wir ausgeschlossen haben. (207)

Es sind insbesondere diese Formulierungen Rousseaus, an die dann etwa 200 Jahre später die von Robert N. Bellah angestoßene Diskussion über die Gestalt und die Bedeutung einer civil religion in recht unterschiedlicher Weise immer wieder angeschlossen hat (% § 8,1.1). &

G. Mensching, Rousseau zur Einführung, Hamburg 2003 B. H. F. Taureck, Rousseau. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 2009

8. Gotthold Ephraim Lessing Gotthold E. Lessing (1729–1781) hat der deutschen Aufklärung einen besonderen Stempel aufgedrückt, indem er sich nicht in die institutionellen Konkurrenzen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft hineinziehen ließ, sondern der Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Wahrheit nachging. 16 Gesellschaftsvertrag [1772], 205 f.

Wenn wir in Lessing gleichsam einer milden Form der Aufklärung begegnen, so hat das seinen Hauptgrund darin, dass er sich kaum an den institutionell orientierten Positionierungen der englischen und französischen Aufklärung beteiligte. Wenn Lessing der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Religion nachgeht, beeindruckt ihn weder der Weg der Neologen mit ih-

8. Gotthold Ephraim Lessing

rer konsequent rationalen Schriftauslegung (% § 3) noch der der Deisten mit ihrem Postulat einer vor allem moralisch verstandenen natürlichen Religion. Vielmehr bewegt ihn die Frage, was einer Glaubensaussage ihre besondere Evidenz zu geben vermag. Die schlichte Berufung auf die Vernunft greift zu kurz, wenn nicht auch ihr spezifischer Gebrauch näher bestimmt wird. Zur Begründung einer Glaubensaussage bleibt die Berufung auf irgendwelche zurückliegenden Geschichtsereignisse entschieden zu schwach. Die Geschichte ist nicht der vermeintlich feste Boden, auf dem unverrückbare Tatsachen aufliegen, sondern sie ist im Gegenteil ihrem Wesen nach eine zufällige Berufungsinstanz, die prinzipiell nicht über die Kraft verfügt, „notwendige Vernunftwahrheiten“ zu begründen. Wenn keine historische Wahrheit demonstriret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriret werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden. Ich leugne also gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllet worden; ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder gethan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden; seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind, (mögen doch diese Nachrichten so unwidersprochen, so unwidersprechlich seyn, als sie immer wollen:) mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürffen. Diese anderweitigen Lehren nehme ich aus anderweitigen Gründen an.17

Von den geschichtlichen Ereignissen sieht sich Lessing getrennt; dazwischen liegt der gern immer wieder zitierte „garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe“ (7). Lessing bestreitet nicht die historische Stimmigkeit von bezeugten Ereignissen und den daraus gezogenen Lehren, wie beispielsweise das Wunder der nicht zu widerlegenden Auferstehung Jesu und dem von den Jüngern daraus abgeleiteten Bekenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Wenn ich zu Christi Zeiten gelebt hätte: so würden mich die in seiner Person erfüllten Weissagungen allerdings auf ihn sehr aufmerksam gemacht haben. Hätte ich nun gar gesehen, ihn Wunder thun; hätte ich keine Ursache zu zweifeln gehabt, daß es wahre Wunder gewesen: so würde ich zu einem, von so langeher ausgezeichneten, wunderthätigen Mann, allerdings so viel Vertrauen gewonnen haben, daß ich willig meinen Verstand dem Seinigen unterworfen hätte; daß ich ihm in allen Dingen geglaubt hätte, in welchen eben so ungezweifelte Erfahrungen ihm nicht entgegen gewesen wären. Oder; wenn ich noch itzt erlebte, daß Christum oder die christliche Religion betreffende Weissagungen, von deren Priorität ich längst gewiß gewesen, auf die unstreitigste Art in Erfüllung gingen; wenn noch itzt von gläubigen Christen Wunder gethan würden, die ich für echte Wunder erkennen müßte: was könnte mich abhalten, mich diesem Beweis des Geistes und der Kraft, wie ihn der Apostel nennt, zu fügen? (3 f.) 17 Über den Beweis des Geistes und der Kraft [1777], in: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Bd. XIII, Leipzig 31897, 1–8, 5 f.

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Lessing bestreitet nun aber in der Tat, dass zu seiner Zeit Lehren weiter anerkannt werden müssen, die ihre Begründung in geschichtlichen Ereignissen haben, für die es zur Zeit Lessings keine Analogien und Evidenzen mehr gibt, weil sich die Vorstellungswelt des menschlichen Geistes fortentwickelt hat, wie er es in seiner Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) beschreibt. Die geschichtlichen Offenbarungen werden von Lessing gleichsam als pädagogische Beschleunigungen eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses der Vernunft verstanden, der sich grundsätzlich auch ohne sie vollzogen hätte, dann aber entschieden langsamer. Die Religion hat vermittels der geschichtlichen Offenbarungen dem Menschengeschlecht die Möglichkeit geboten, eine neue Entwicklungsstufe zu erreichen und damit die Zeit der Entwicklung aufs Ganze gesehen zu verkürzen. Aber das Wesen der Religion kann weder aus diesen Offenbarungen abgeleitet noch gar an sie gebunden werden. Es macht keinen Sinn, diese geschichtlichen Katalysatoren nun an sich zu verehren, indem sie aus ihrer Geschichtlichkeit in die Grundsätzlichkeit einer überzeitlich anzuerkennenden Wahrheit gehoben werden. Vielmehr verlieren sie ihre Bedeutung, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben. Das Wesen der Religion ist jenseits von diesen geschichtlichen Offenbarungen zu suchen. Es liegt in einer dem Menschen entsprechenden tragfähigen Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens nach Maßgabe der Vernunft. Das Geheimnis der Religion – so legt es Lessing in der berühmten Ringparabel in seinem Drama Nathan der Weise (1779) dar – liegt in der Wunderkraft, in der sie die Menschen gegenseitig und vor Gott beliebt und angenehm macht. Daran wird sich die Echtheit einer Religion entscheiden. Blickt sie nur auf sich selbst und liebt somit auch nur sich selbst, so ist sie falscher Schein – es muss sich um einen unechten Ring handeln, der nur vorgibt, ein Geheimnis zu haben. Es ist der weise Rat des Richters über die drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam –, deren Erbe durch den jeweils gleichen Ring symbolisiert wird, dass sich die Echtheit nicht an der Religion selbst erweisen kann – möglicherweise sind alle drei Ringe Kopien und somit ‚unecht‘. Die Echtheit der Religion kann sich allein an dem erweisen, was von ihr für die Menschheit ausgeht. Hat von euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring den echten. – Möglich, daß der Vater nun die Tyranney des Einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß, Daß er euch alle drey geliebt, und gleich geliebt: indem er zwey nicht drücken mögen, Um einen zu begünstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochenen Von Vorurtheilen freyen Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmuth, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte Bey euern Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre,

9. Immanuel Kant

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Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, Als ich, und sprechen. Geht! – So sagte der Bescheidne Richter.18

Gern wird Lessing als Pionier der Toleranz zwischen den Religionen ausgegeben. Das wird man nur mit größter Zurückhaltung so aufrechterhalten können, denn ihm geht es mehr um die Verlagerung der Wahrheitsfrage von der Lehr- und Bekenntnisebene auf die Praxisebene als um die Anerkennung verschiedener Wahrheitsansprüche unterschiedlicher Religionen. Vielmehr ergibt sich aus der genannten Verlagerung mit innerer Notwendigkeit, dass die traditionell unterschiedenen Religionen gleichsam unversehens in einer Religion zusammenfallen, auch wenn sie sich dabei auf unterschiedliche Traditionen berufen. Nicht die Traditionen sind das Entscheidende – und deshalb stellt sich im Grunde auch gar nicht die Frage ihrer gegenseitigen Anerkennung –, sondern gerade der Erweis der einen gemeinsamen praktischen Wahrheit. &

M. Fick, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 22004 F. Niewöhner, Veritas sive varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Heidelberg 1988

9. Immanuel Kant Mit der Kritik der reinen Vernunft eröffnete Kant Die deutsche Aufklärung erreicht mit den 1781 die Reihe seiner berühmten Kritiken, mit Kritiken des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) ihren denen er gleichsam das ganze Themenfeld der Höhepunkt und zugleich auch ihre Philosophie abschreitet und auf einen selbstkriGrenze. Neben den Bedingungen der tisch revidierten Stand zu bringen versucht. Möglichkeit der Erkenntnis bewegte Ebenso wie in vielen anderen seiner Schriften Kant vor allem die Frage der Beerbung kommt der zumindest indirekten Auseinanderder traditionellen Metaphysik durch die setzung mit der Religion auch in dieser erkenntsittliche Selbstkonstitution des nistheoretischen Grundlagenschrift eine große Menschen. Bedeutung zu. Kant setzt sich mit den traditionellen Gottesbeweisen (dem ontologischen, dem kosmologischen und dem physikotheologischen Gottesbeweis) auseinander und kommt zu dem ebenso klaren wie schlichten Resultat, dass sie alle keinen tragfähigen Gehalt haben. Ich behaupte nun, daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind; daß aber die Prinzipien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen, 18 Nathan der Weise, 3. Aufzug, 5. Auftritt, in: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Bd. III, Stuttgart 31887, 94 f.

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§ 2 Die Kritik der Religion

folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt, oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne. Denn alle synthetischen Grundsätze des Verstandes sind von immanenten Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist. Soll das empirisch gültige Gesetz der Kausalität zu dem Urwesen führen, so müßte dieses in die Kette der Gegenstände der Erfahrung mitgehören; alsdann wäre es aber, wie alle Erscheinungen, selbst wiederum bedingt.19

Die auf möglichst nüchterne Erkenntnis ausgerichtete Vernunft bleibt auf Anschauung angewiesen, der es hinsichtlich der Thematisierung Gottes gerade ermangelt, sodass es keine Gotteserkenntnis im Sinne exakter unvoreingenommener Erkenntnis geben kann. Das Zitat benennt bereits den Horizont, in dem die Theologie ihren Gegenstand findet: das moralische Gesetz. Es ist der Horizont der praktischen Vernunft, die den Bestimmungen der für den Menschen essenziellen Möglichkeit moralischer Verantwortlichkeit nachgeht und in dem sich auf spezifische Weise nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit ergibt, Gott zu denken. Die Notwendigkeit, von der hier die Rede ist, erscheint als eine Implikation eben der Notwendigkeit, die eine Erweiterung der reinen Vernunft hin zur praktischen Vernunft erforderlich macht. Nicht schon die Erkenntnis macht den Menschen zum Menschen, sondern erst die Möglichkeit sittlich verantwortlicher und d. h. freier Verwirklichung. Ohne die Ausrichtung des Lebens auf ein sittlich zu erreichendes Ziel, das Kant das höchste Gut nennt, bleibt der Mensch fremdbestimmt und damit unter seinem eigentlichen Niveau. Die apriorische Gegebenheit dieses Erfordernisses verlangt nach einem entsprechenden Gebrauch der Vernunft, den Kant die praktische Vernunft nennt. Das folgende grundlegende Zitat erschließt sich nur bei langsamer und möglicherweise auch mehrfacher Lektüre: Um eine reine Erkenntnis praktisch zu erweitern, muß eine Absicht a priori gegeben sein, d. i. ein Zweck als Objekt (des Willens), welches unabhängig von allen theoretischen Grundsätzen, durch einen den Willen unmittelbar bestimmenden (kategorischen) Imperativ, als praktisch notwendig vorgestellt wird; und das ist hier das höchste Gut. Dieses ist aber nicht möglich, ohne drei theoretische Begriffe (für die sich, weil sie bloße reine Vernunftbegriffe sind, keine korrespondierende Anschauung, mithin auf dem theoretischen Wege keine objektive Realität finden läßt) vorauszusetzen: nämlich Freiheit, Unsterblichkeit und Gott. Also wird durchs praktische Gesetz, welches die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet, die Möglichkeit jener Objekte der reinen spekulativen Vernunft, die objektive Realität, welche diese ihnen nicht sichern konnte, postuliert; wodurch denn die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt, der aber bloß darin besteht, daß jene für sie sonst problematischen (bloß denkbaren) Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirkliche Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres und zwar praktisch schlechthin notwendigen Objekts des höchsten Guts, unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen.20

19 Kritik der reinen Vernunft, hg. v. R. Schmidt (PhB 37a), Hamburg 1956, 600 [B 664].

20 Kritik der praktischen Vernunft [1787], hg. v. K. Vorländer (PhB 38), Hamburg 1967, 154.

9. Immanuel Kant

Gott wird nicht aufgewiesen, sondern er ist – ebenso wie die Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele – ein zwingendes Postulat, ohne das die den Menschen ausmachende Sittlichkeit nicht recht gedacht werden kann. Gott wird verstanden als Ursache und Garant des höchsten Guts, in dessen Pflicht sich die Sittlichkeit weiß und um dessen willen der Mensch seine Freiheit betätigt. Religion entspringt nach Kant keiner Offenbarung, sondern sie ist das elementare Bedürfnis der Moral, die durch die reine praktische Vernunft bestimmt wird. Unter Glaubenssätzen versteht man nicht, was geglaubt werden soll (denn das Glauben verstattet keinen Imperativ), sondern das, was in praktischer (moralischer) Absicht anzunehmen möglich und zweckmäßig, obgleich nicht eben erweislich ist, mithin nur geglaubt werden kann.21

Seinem Wesen nach ist der Glaube anschauungslos und gegenstandslos, er dient tatsächlich vor allem der moralischen Erbauung des Menschen. Das ist der Hintergrund für Kants Unterscheidung zwischen einem vernünftigen Religionsglauben und dem Kirchenglauben. Die „wahre, alleinige Religion“ (der Singular ist bemerkenswert) ist von der statuarischen Religion, wie sie im Kirchenglauben in seinen verschiedenen Variationen auftritt, zu unterscheiden. Kant kann auch von der einen wahren Religion und den vielerlei Arten des Glaubens im Sinne der Konfessionen und verschiedenen Religionen sprechen, in denen je auf besondere Weise die wahre Religion verborgen enthalten ist.22 Zugespitzt heißt es: Die wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart erkennen. Nur zum Behuf einer Kirche, deren es verschiedene gleich gute Formen geben kann, kann es Statuten, d. i. für göttlich gehaltene Verordnungen, geben, die für unsere reine moralische Beurtheilung willkürlich und zufällig sind. Diesen statuarischen Glauben nun (der allenfalls auf ein Volk eingeschränkt ist und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung ein Afterdienst, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes ist, wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen gehandelt wird. (167 f.)

Die „sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut bespritzt haben, [sind] nie etwas anderes als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (108). Die verschiedenen kirchlichen Traditionen können immer nur partikulare Bedeutung beanspruchen, während die wahre Religion einen universalen Anspruch erhebt. Doch die Kirchen sind noch weit davon entfernt, ihre eigene Partikularität wahrzunehmen und daraus im Verhältnis zu den anderen die richtigen Schlüsse zu ziehen. 21 Streit der Fakultäten [1798], in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VII, Berlin 1968, 42. 22 Vgl. Religion innerhalb der Grenzen der blo-

ßen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, 107 f.

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§ 2 Die Kritik der Religion

Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die einige allgemeine ausgiebt (ob sie zwar auf einen besondern Offenbarungsglauben gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Theil (im Nichtwesentlichen) davon abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden. Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein Ketzer und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch (dergleichen die Römer über den aussprachen, der wider des Senats Einwilligung über den Rubicon ging) ausgestoßen und allen Höllengöttern übergeben. Die angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Lehrer oder Häupter einer Kirche in dem Punkte des Kirchenglaubens heißt Orthodoxie, welche man wohl in despotische (brutale) und liberale Orthodoxie eintheilen könnte. – Wenn eine Kirche, die ihren Kirchenglauben für allgemein verbindlich ausgiebt, eine katholische, diejenige aber, welche sich gegen diese Ansprüche anderer verwahrt (ob sie gleich diese öfters selbst gerne ausüben möchte, wenn sie könnte), eine protestantische Kirche genannt werden soll: so wird ein aufmerksamer Beobachter manche rühmliche Beispiele von protestantischen Katholiken und dagegen noch mehrere anstößige von erzkatholischen Protestanten antreffen; die erste von Männern einer sich erweiternden Denkungsart (ob es gleich die ihrer Kirche wohl nicht ist), gegen welche die letzteren mit ihrer eingeschränkten gar sehr, doch keineswegs zu ihrem Vortheil abstechen. (108 f.)

Nach Kants Vorstellung käme es darauf an, dass sich die historischen Religionen mehr und mehr der wahren Religion annähern. Nur so ist den anhaltenden widervernünftigen Streitereien wirksam zu begegnen. Faktisch geht der Vorschlag in die Richtung eines schrittweisen Abbaus der kultischen und gottesdienstlichen Elemente, die vor allem als Ausdruck eines Fron- bzw. Lohnglaubens zu bewerten seien, zugunsten der einen moralischen Religion. Vom Staat erwartet Kant religiöse Neutralität. Dass sich diese auch für Kant nicht einfach außerhalb der eigenen Interessen des Staates vollzieht, zeigt sich darin, dass die Neutralität ihre Grenzen da hat, wo es um die eigenen Ansprüche an seine Bürger geht: „Was den Staat in Religionsdingen allein interessieren darf, ist: wozu die Lehrer derselben anzuhalten sind, damit er nützliche Bürger, gute Soldaten und überhaupt getreue Unterthanen habe.“23 &

O. Höffe, Immanuel Kant, München 72007 U. Schultz, Immanuel Kant in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 2003

EXKURS: Eine Glosse über Kant von Heinrich Heine Auch wenn die eigene Stellung von Heinrich Heine (1797–1856) zur Religion ein eigenes interessantes Thema wäre, beschränken wir uns hier auf seinen Kommentar zu Kant, wie er sich in der überaus gewitzten Schrift Zur Geschichte der Religion und 23 Streit der Fakultäten (s. Anm. 21), 60.

10. Der Idealismus

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Philosophie in Deutschland (1834) findet. Mit journalistischem Schwung, scharfer Zunge, plastischer bis drastischer Bildlichkeit und ebenso umsichtiger wie treffsicherer Zuspitzung lässt Heine eine lebendige, ja beinahe spielerisch inszenierte Geschichte ablaufen, hinter deren großartiger Fassade sich allzumeist ganz ‚menschliche‘, und man kann wohl sagen, allzu menschliche Vorgänge verbergen. Doch es ist nicht nur die faszinierende Art, wie es Heine gelingt, die ‚große‘ Philosophie auf den Boden zu ziehen, sondern vor allem die scharfsinnige Diagnose der in seinen Augen eher verfahrenen Situation, die dem für die französische Zeitschrift Revue des deux mondes abgefassten Text einen besonderen Reiz gibt. Es werden ledig ein paar Beobachtungen zu Kant herangezogen und zwar zu seinem aus Gründen der praktischen Vernunft postulierten Gott auf dem Hintergrund seiner Kritik der reinen Vernunft: Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen trazirt, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es giebt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Thränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, halb gutmüthig und halb ironisch spricht er: ‚der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich seyn – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich seyn – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.‘ In Folge dieses Arguments, unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getödtet. Hat vielleicht Kant die Resurekzion nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der Polizei wegen unternommen? Oder hat er wirklich aus Ueberzeugung gehandelt?24

10. Der Idealismus 10.1 Johann Gottlieb Fichte Fichte ist als konsequenter Denker der Freiheit Die konsequente Entpersonalisierung Gottes in die Geschichte eingegangen. Anknüpfend an zu dem übersinnlichen Inbegriff allen Seins Kant, der Freiheit, Gott und die Unsterblichkeit brachte Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) den Vorwurf des Atheismus ein. der Seele aus einer Notwendigkeit der praktischen Vernunft heraus postulierte, bestimmt 24 H. Heine, Säkularausgabe, Bd. 8, Berlin 1972, 201 f.

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§ 2 Die Kritik der Religion

Fichte nun Gott als eine im Menschen liegende Idee des moralischen Gesetzgebers, in der die Freiheit des Menschen begründet ist. Der Glaube an Gott ist „nichts anderes, als der Glaube an jene Ordnung, deren Begriff sie nur, ihnen selbst unbewusst, . . . weiter entwickelt und bestimmt haben“.25 Im menschlichen Geist steht Gott für die intelligible Ordnung, die so wie die Naturordnung maßgeblich ist für seine äußerliche Praxis. Jeder außerhalb des Menschen existierende Gott bedeutete unweigerlich eine Gefährdung seiner Freiheit, sodass Fichte einen sich durch Offenbarung in Szene setzenden Gott für eine den Menschen entwürdigende Vorstellung hält.26 Eine angemessene ‚Bestimmung des Menschen‘ kann nicht aus irgendwelchen Abhängigkeiten gewonnen werden, sondern allein aus einer konsequenten Selbstbesinnung in der Perspektive auf die Gewinnung eines freien Selbstbewusstseins. Damit hat Fichte die Spaltung von Subjekt und Objekt als Grundlage für die Philosophie außer Kraft gesetzt. Die entscheidende Alternative, vor die Fichte den Menschen gestellt sieht, besteht auf der einen Seite in der Unterwerfung unter die Bestimmungen der Natur oder auf der anderen Seite in der freien Selbstkonstitution mit Hilfe des im Menschen liegenden Geistes. Ich wollte nicht Natur, sondern mein eigenes Werk seyn; und ich bin es geworden, dadurch dass ich es wollte. Ich hätte durch unbegrenzte Klügelei die natürliche Ansicht meines Geistes zweifelhaft machen und verdunkeln können. Ich habe mich der Freiheit hingegeben, weil ich mich ihr hingeben wollte. . . . Ich habe mit Freiheit und Bewusstseyn mich selbst in den Standpunct zurückversetzt, auf welchem auch meine Natur mich verlassen hatte. Ich nehme dasselbe an, was auch sie aussagt; aber ich nehme es nicht an, weil ich muss, sondern ich glaube es, weil ich will.27

Gott wird nicht als persönliches Wesen gedacht, sondern er erscheint in der Latenz der moralischen Praxis, d. h. in der lebendigen moralischen Ordnung. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen, und vermittels eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als Ursache desselben, anzunehmen; der ursprüngliche Verstand macht sonach diesen Schluss sicher nicht, und kennt kein solches besonderes Wesen; nur eine sich selbst misverstehende Philosophie macht ihn. Ist denn jene Ordnung ein Zufälliges, welches seyn könnte, oder auch nicht, so seyn könnte, wie es ist, oder auch anders; dass ihr ihre Existenz und Beschaffenheit erst aus einem Grunde erklären, erst vermittels Aufzeigung dieses Grundes den Glauben an dieselbe legitimieren müsstet? Wenn ihr nicht mehr auf die Forderungen eines nichtigen Systems hören, sondern euer eigenes Inneres befragen werdet, werdet ihr finden, dass jene Weltordnung das absolut Erste aller objectiven Erkenntnis ist, gleichwie eure Freiheit und moralische Bestimmung das absolut erste 25 Aus einem Privatschreiben, im Jänner 1800, in: Fichtes Werke, hg. v. I. H. Fichte, Bd. V, Berlin 1971, 377–396, 394. 26 Vgl. Versuch einer Kritik aller Offenbarung [1792], in: Fichtes Werke, Bd. V, 9–174.

27 Die Bestimmung des Menschen [1800], in: Fichtes Werke, Bd. II, 167–319, 256.

10. Der Idealismus

aller subjectiven; dass alle übrige objective Erkenntnis durch sie begründet und bestimmt werden muss, sie aber schlechthin durch kein anderes bestimmt werden kann, weil es über sie hinaus nichts giebt.28

Fichtes Kritik gilt insbesondere dem Schöpfergott, denn durch ihn würde das in sich selbst gründende Ich wieder auf einen außer ihm liegenden Grund zurückgeführt. So gewiss es eine moralische Weltordnung gebe, so gewiss gebe es auch Gott als den Willen zur Verwirklichung, als den im Gesetz enthaltenen und dieses tragenden reinen Akt der Sittlichkeit, der das Ich im Ruf zur Pflicht ins absolute Sein stelle, sodass sich das Ich nicht aus der Individualität, sondern aus seiner Partizipation am reinen geistigen Leben in seiner Freiheit begreift. Gott ist auf diese Weise unauflöslich mit dem Sichselbstwerden der Menschheit verquickt. Von hier aus gesehen erscheint Fichte der von den Kirchen gepredigte Gott als ein Götze, der durch menschliche Bestimmungen zu etwas Endlichem degradiert sei und damit der sinnlichen Genusssucht des Menschen angepasst worden sei. Dabei hat Fichte besonders die Gnadenlehre der Kirche (vor allem die auf Paulus zurückgehende Lehre der Reformation) im Auge, durch die ein übermächtiger – und damit heidnischer – Gott das Verderben der Menschheit noch unterstützt bzw. sogar verewigt. Diese Rechtfertigungsvorstellung wird durch die Vorstellung von der Wiedergeburt des Menschen ersetzt, die nicht im Horizont von Schuld und Vergebung, sondern – mit E. Hirsch gesprochen – „rein als der Akt, durch den der Mensch aus einem sinnlich-nichtigen Scheindasein in das wahre göttliche Leben, das Leben der das Heilige, Gute, Schöne ersehenden und verwirklichenden Freiheit tritt“,29 beschrieben wird. Wenn man so will, ist die Gewissheit, dass in der wahren menschlichen Freiheit Gott lebe, der einzige Haftpunkt für die Rede von der Gnade. So beabsichtigt Fichte mit seinem Religionsverständnis vor allem, dem Menschen alle Stützen seiner Trägheit, und alle Beschönigungsgründe seines Verderbens zu entreissen, alle Quellen seines falschen Trostes zu verstopfen; und weder seinem Verstande noch seinem Herzen irgendeinen Standpunct übrig zu lassen, als den der reinen Pflicht und des Glaubens an die übersinnliche Welt. . . . Unsere Philosophie läugnet nicht alle Realität; sie läugnet nur die Realität des Zeitlichen und Vergänglichen, um die des Ewigen und Unvergänglichen in seiner ganze Würde einzusetzen. Es ist sonderbar, diese Philosophie der Abläugnung der Gottheit zu bezüchtigen, da sie vielmehr die Existenz der Welt, in dem Sinne, wie sie vom Dogmatismus behauptet wird, abläugnet. . . . Unsere Philosophie läugnet die Existenz eines sinnlichen Gottes, und eines Dieners der Begier; aber der übersinnliche Gott ist ihr Alles in Allem; er ist ihr derjenige, welcher allein ist; und wir anderen vernünftigen Geister alle leben und weben nur in ihm.30

Entschlossen wehrt sich Fichte gegen den ihm vorgehaltenen Vorwurf, dass er Atheist sei, indem er den Spieß umdreht und nun seinerseits aller auf die eigene Glück28 Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung [1798], in: Fichtes Werke, Bd. V, 177–189, 186. 29 E. Hirsch, Geschichte IV, 394.

30 Appellation an das Publikum gegen die Anklage des Atheismus [1799], in: Fichtes Werke, Bd. V, 193–238, 223 f.

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seligkeit ausgerichteten Frömmigkeit offensiv vorwirft, dass sie ungeistlich und keiner ernsthaft so zu nennenden Religion würdig sei. Wer da Genuss will, ist ein sinnlicher, fleischlicher Mensch, der keine Religion hat und keiner Religion fähig ist; die erste wahrhaft religiöse Empfindung ertödtet in uns auf immer die Begierde. Wer Glückseligkeit erwartet, ist ein mit sich selbst und seiner ganzen Anlage unbekannter Tor; es giebt keine Glückseligkeit, es ist keine Glückseligkeit möglich; die Erwartung derselben, und ein Gott, den man ihr zufolge annimmt, sind Hirngespinnste. Ein Gott, der der Begier dienen soll, ist ein verächtliches Wesen; er leistet einen Dienst, der selbst jedem erträglichen Menschen ekelt. Ein solcher Gott ist ein böses Wesen; denn er unterstützt und verewigt das menschliche Verderben, und die Herabwürdigung der Vernunft. Ein solcher Gott ist ganz eigentlich ‚der Fürst der Welt‘, der schon längst durch den Mund der Wahrheit, welchem sie die Worte verdrehen, gerichtet und verurtheilt ist. Ihr Dienst ist Dienst dieses Fürsten. Sie sind die wahren Atheisten, sie sind gänzlich ohne Gott, und sie haben sich einen heillosen Götzen geschaffen. Dass ich diesen ihren Götzen nicht statt des wahren Gottes will gelten lassen, dies ist, was sie Atheismus nennen; dies ists, dem sie Verfolgung geschworen haben. Das System, in welchem von einem übermächtigen Wesen Glückseligkeit erwartet wird, ist das System der Abgötterei und des Götzendienstes, welches so alt, als das menschliche Verderben, und mit dem Fortgange der Zeit bloss seine äußere Gestalt verändert hat. Sey dies übermächtige Wesen ein Knochen, eine Vogelfeder, oder sey es ein allmächtiger, allgegenwärtiger, allkluger Schöpfer Himmels und der Erde; – wenn von ihm Glückseligkeit erwartet wird, so ist es ein Götze. . . . . . . Mir ist Gott ein von aller Sinnlichkeit und allem sinnlichen Zusatze gänzlich befreites Wesen, welchem ich daher nicht einmal den mir allein möglichen sinnlichen Begriff der Existenz zuschreiben kann. Mir ist Gott bloss und lediglich Regent der übersinnlichen Welt. Ihren Gott läugne ich und warne vor ihm, als vor einer Ausgeburt des menschlichen Verderbens, und werde dadurch keineswegs zum Gottesläugner, sondern zum Vertheidiger der Religion. Meinen Gott kennen sie nicht und vermögen sich nicht zu dessen Begriffe zu erheben. Er ist für sie gar nicht da, sie können ihn sonach auch nicht läugnen, und sind in dieser Rücksicht nicht Atheisten. Aber sie sind ohne Gott; und sind in dieser Rücksicht Atheisten. – Aber es ist fern von meinem Herzen, sie auf eine gehässige Weise mit dieser Benennung zu bezeichnen. Meine Religion lehrt mich vielmehr, sie zu bedauern, dass sie das höchste und edelste gegen das geringsfügigste aufgeben. Diese Religion lehrt mich hoffen, dass sie über kurz oder lang ihren bejammernswürdigen Zustand entdecken, und alle Tage ihres Leben für verloren betrachten werden, gegen das ganz neue und herrliche Daseyn, welches ihnen dann aufgehen wird. (219 f.)

Fichte unterscheidet im Blick auf das Christentum sein wahres Wesen, das identisch ist mit der von ihm vertretenen wahren Religion, und seiner historischen Erscheinung, den ‚Christianismus‘, zu dem er alles Dogmatische und Konfessionelle zählt. Es ist deutlich, dass er dabei an Kant anknüpft, dann aber in der Konzentration auf das absolute Selbstbewusstsein und die Freiheit seinen eigenen Weg beschreitet. &

Chr. Asmuth, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei J. G. Fichte, Stuttgart 1999 W. G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Reinbek 31998

10. Der Idealismus

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10.2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel In der integralen Geistphilosophie Hegels hat In seiner Geistphilosophie beerbt Georg W. F. der Idealismus zu seiner am vollkommensten Hegel (1770–1831) die Theologie, die er an ihr Ende gekommen sieht, indem er die ausgeprägten Gestalt gefunden. Zugleich war es gerade diese spekulative Geistphilosophie, von Wahrheit des Christentums als die absolute Religion auf ihren Begriff bringt. der sich dann die Religionskritik im 19. Jahrhundert (Ludwig Feuerbach [% § 4,2.4], Max Stirner [% § 4,2.5], Karl Marx [% § 4,3.3] u. a.) entschlossen abgekehrt hat. Es ist in gewisser Weise die Selbstüberschreitung der Aufklärung durch ihre eigene Apotheose, die Hegel mit seiner spekulativen Systematik ebenso eindruckvoll wie letztlich auch befremdend vor Augen stellt und damit einen Gipfel erklimmt, der bisher durchaus achtsam vor jeder Inbesitznahme geschützt worden ist. Es kann nur wenig verwundern, wenn der mit Hegel erreichte Höhepunkt auch einen Schlusspunkt in einer Entwicklung darstellt, der keine weiteren Entwicklungsperspektiven mehr eingeräumt werden können. In dem Moment, wo Zweifel an den Konstruktionsprinzipien dieses Wirklichkeitskonzepts Platz greifen, führt dies nicht zu Korrekturen, sondern es steht sofort das ganze Konzept in Frage. Es ist, wenn man so will, bei aller Systematik eben auch eine bekennende Philosophie, die ohne ihr tragendes Bekenntnis zum Geist in sich zusammenfällt. In seinen Frühschriften finden sich religionskritische Äußerungen im Sinne der französischen Revolution (insbesondere J.-J. Rousseau [% § 2,7]) und dem Geist von Lessing (% § 2,8) und Kant (% § 2,9).31 Hervorzuheben wäre die Abhandlung „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als kantische, jacobische und fichtische Philosophie“ (1802) mit der die gegenwärtige Glaubenssituation charakterisierenden berühmten, allerdings meist unangemessen interpretierten Formulierung „Gott selbst ist tot“.32 Hegels Überlegungen zur kritischen Grundlegung der Religionsphilosophie finden sich in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1821–1831) und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Das Christentum als die ‚absolute Religion‘ soll mit Hilfe der Philosophie von den Glaubensmysterien in eine vollkommene Gestalt einer reinen Geist-Religion überführt werden, in der sie von der überzeugten Vernunft einen verlässlichen Schutz in Anspruch nehmen kann. Religion wird dabei als das durch den endlichen Geist vermittelte Selbstbewusstsein des absoluten Geistes verstanden. Es ist keine andere Wahrheit in der Religion bestimmend, sondern es ist ein anderes Verhältnis zur Wahrheit, das die Religion von der Philosophie unterscheidet. Wie die Religion durch das Gefühl bestimmt wird, so rechtfertigt die Philosophie dieses Gefühl in denkendem Bewusstsein. 31 Vgl. dazu E. Hirsch, Geschichte IV, 455–490. 32 Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2, Frankfurt/M. 1970, 287–433, 432; vgl. dazu Chr. Link,

Hegels Wort ‚Gott selbst ist tot‘ (ThSt 114), Zürich 1974.

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§ 2 Die Kritik der Religion

Der Philosophie ist der Vorwurf gemacht worden, sie stelle sich über die Religion: dies ist aber schon dem Faktum nach falsch, denn sie hat nur diesen und keinen anderen Inhalt [sc. Die Wahrheit], aber sie gibt ihn in der Form des Denkens; sie stellt sich so nur über die Form des Glaubens, der Inhalt ist derselbe. Die Form des Subjekts als fühlenden Einzelnen usf. geht das Subjekt als einzelnes an; aber das Gefühl als solches ist nicht von der Philosophie ausgestoßen. Es ist die Frage nur, ob der Inhalt des Gefühls die Wahrheit sei, sich im Denken als der wahrhafte erweisen kann. Die Philosophie denkt, was das Subjekt als solches fühlt, und überläßt es demselben, sich mit seinem Gefühl darüber abzufinden. Das Gefühl ist so nicht durch die Philosophie verworfen, sondern es wird ihm durch dieselbe nur der wahrhafte Inhalt gegeben. Aber insofern das Denken anfängt, sich in Gegensatz zu setzen gegen das Konkrete, so ist der Prozeß des Denkens, diesen Gegensatz durchzumachen, bis er zur Versöhnung kommt. Diese Versöhnung ist die Philosophie: die Philosophie ist insofern Theologie; sie stellt dar die Versöhnung Gottes mit sich selbst und mit der Natur, daß die Natur, das Anderssein an sich göttlich ist und daß der endliche Geist teils an ihm selbst dies ist, sich zur Versöhnung zu erheben, teils in der Weltgeschichte zu dieser Versöhnung kommt.33

Hegel ist mit dem Anspruch aufgetreten, mit seiner Religionsphilosophie der rechtmäßige Erbe der Theologie zu sein, die definitiv an ihr Ende gekommen sei. Die Theologie sei nicht einmal mehr über ihre eigene Tradition wirklich auskunftsfähig oder ergehe sich in Historisierungen, sodass die von ihr zu vertretende Wahrheit unbedacht brachliegen würde, wenn sie nicht von der Philosophie aufgegriffen und auf ihren Begriff hin reflektiert würde. Die neuere Theologie habe den größten Teil der überkommenen christlichen Lehre zugunsten einer „beinahe universelle[n] Gleichgültigkeit“34 aufgegeben. Das deutlichste Zeichen für die Verlegenheit der Theologie zeige sich in der dominierenden Neigung, den Lehrbestand der Tradition zu historisieren. Das größte Zeichen aber, daß die Wichtigkeit dieser Dogmen gesunken ist, gibt sich uns darin zu erkennen, daß sie vornehmlich historisch behandelt und in das Verhältnis gestellt werden, daß es die Überzeugungen seien, die anderen angehören, daß es Geschichten sind, die nicht in unserem Geiste selbst vorgehen, nicht das Bedürfnis unseres Geistes in Anspruch nehmen. . . . Die absolute Entstehungsweise aus der Tiefe des Geistes und so die Notwendigkeit, Wahrheit dieser Lehren, die sie auch für unseren Geist haben, ist bei der historischen Behandlung auf die Seite geschoben: sie ist mit vielem Eifer und Gelehrsamkeit mit diesen Lehren beschäftigt, aber nicht mit dem Inhalt, sondern mit der Äußerlichkeit der Streitigkeiten darüber und mit den Leidenschaften, die sich an diese äußerliche Entstehungsweise angeknüpft haben. Da ist die Theologie durch sich selbst niedrig genug gestellt. Wird das Erkennen der Religion nur historisch gefaßt, so müssen wir die Theologen, die es bis zu dieser Fassung gebracht haben, wie Kontorbediente eines Handelshauses ansehen, die nur über fremden Reichtum Buch und Rechnung führen, die nur für andere handeln, ohne eigenes Vermögen zu bekommen; sie erhalten zwar Salär; ihr Verdienst ist aber nur, zu dienen und zu registrieren, was das Vermögen 33 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil II, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 17, Frankfurt/M. 1969, 342.

34 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil I, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 16, Frankfurt/M. 1969, 45.

10. Der Idealismus

anderer ist. Solche Theologie befindet sich gar nicht mehr auf dem Felde des Gedankens, hat es nicht mehr mit dem unendlichen Gedanken an und für sich, sondern mit ihm nur als einer endlichen Tatsache, Meinung, Vorstellung usf. zu tun. (47 f.)

Im Unterschied zu Fichte tritt bei Hegel die Polemik weitgehend in den Hintergrund zugunsten einer Systematisierung der gesamten Wirklichkeit, die im absoluten Geist Gottes sowohl ihren Zielpunkt als auch ihren Ausgangpunkt hat. Die Theologie wird zu einem Bestandteil der Philosophie, so wie die Philosophie ihrem Wesen nach nur dann recht Philosophie sein kann, wenn sie auch Religionsphilosophie ist, nicht nur irgendwo am Rande, sondern essenziell. Wenn es um eine Wahrheit geht, die unsere Subjektivität transzendiert und somit wirklich Anspruch auf Wahrheit erheben kann, so wird die Unterscheidung von Theologie und Philosophie redundant. Der Gegenstand der Religion wie der Philosophie ist die ewige Wahrheit in ihrer Objektivität selbst, Gott und nichts als Gott und die Explikation Gottes. . . . Die Philosophie expliziert daher nur sich, indem sie die Religion expliziert, und indem sie sich expliziert, expliziert sie die Religion. . . . So fällt Religion und Philosophie in eins zusammen, die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst, ist Religion, denn sie ist dieselbe Verzichtung auf subjektive Einfälle und Meinungen in der Beschäftigung mit Gott. (28)

Es wird noch einmal bestätigt, dass nicht der Gegenstand, sondern lediglich die begriffliche Art und Weise, in der sich die Philosophie mit Gott beschäftigt, von der Religion unterschieden ist. Gott ist seinem Wesen nach Geist – Geist als Geist. Indem ihm keine endlichen Bestimmungen zugemessen werden können und dürfen, ist er absoluter Geist, nach dem sich der Mensch mit seinem objektiven, weil immer auch bedingten Geist auszurichten vermag. Es wird gleichsam unter Wahrung größtmöglicher Nähe zum absoluten Geist ein umfassendes Gebäude errichtet, in dem in verschiedenen Abteilungen die ganze von Gott angestoßene und wieder auf ihn zulaufende Geschichte des Menschen so verwaltet wird, dass dem gegenwärtigen Selbstbewusstsein des Menschen – insbesondere wenn er sich dem Christentum zurechnen kann – die erhebende Verheißung zuwächst, ein tragendes Subjekt dieser Geschichte zu sein. Es ist der Geist in seinen unterschiedlichen Gestalten, der das Ganze zusammenhält und bewegt und somit als das eigentlich Wirkliche zu würdigen ist. Es geht um den Vollzug der Selbstbewegung und Selbstverwirklichung des all-einen unendlichen Geistes, der im endlich-unendlichen Selbstbewusstsein des freien Menschen seine geschichtliche Bestätigung erwirkt. Dem von allen Idealisten geteilten Grundanliegen, die gesamte Wirklichkeit systematisch begrifflich zu erfassen und der allein aus sich selbst heraus zu verstehenden Vernunft unterzuordnen, gibt Hegel in seiner dialektischen Geistphilosophie ein besonderes Gepräge, indem er allen denkbaren Widersprüchen dadurch ihr bedrohliches Potenzial entzieht, dass er sie in einem übergeordneten Ganzen im doppelten Sinne als aufgehoben vorstellt. Es ist hier nicht der Ort, Hegel Geschichtsphilosophie im Einzelnen zur Darstellung zu bringen.

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§ 2 Die Kritik der Religion

Im Blick auf die Religionen bleibt festzuhalten, dass sie sich an ihrem Verhältnis zu dem absoluten Geist qualifizieren. Für Hegel kommen hier spezifische Unterscheide zum Tragen, die zu dem Resümee führen, das Christentum als absolute Religion zu qualifizieren. Der jüdische Gott ist die Einzigkeit, die selbst noch abstrakte Einheit bleibt, noch nicht in sich konkret ist. Dieser ist zwar Gott im Geist, aber noch nicht als Geist, – ein Unsinnliches, Abstraktum des Gedankens, welches noch nicht die Erfüllung in sich hat, die es zum Geist macht. Die Freiheit, zu welcher sich der Begriff in der griechischen Religion zu entwickeln sucht, lebt noch unter dem Zepter der Notwendigkeit des Wesens, und der Begriff, wie er in der römischen Religion erscheint und seine Selbständigkeit gewinnen will, ist noch beschränkt, da er auf eine gegenüberstehende Äußerlichkeit bezogen ist, in der er nur objektiv sein soll, und ist so äußerliche Zweckmäßigkeit. . . . Der Geist, der an und für sich ist, hat nun in seiner Entfaltung nicht mehr einzelne Formen, Bestimmungen seiner vor sich, weiß von sich nicht mehr als Geist in irgendeiner Bestimmtheit, Beschränktheit; sondern nun hat er jene Beschränkungen, diese Endlichkeit überwunden und ist für sich, wie er an sich ist. Dieses Wissen des Geistes für sich, wie er an sich ist, ist das Anundfürsichsein des wissenden Geistes, die vollendete, absolute Religion, in der es offenbar ist, was der Geist, Gott ist; dies ist die christliche Religion. (86 f.)

In seiner Rechtsphilosophie thematisiert Hegel das neuzeitlich spätestens seit Hobbes (% § 2,2) immer wieder problematisierte Verhältnis von Religion und Staat. Mit Hilfe seiner Staatsmetaphysik gelingt es Hegel, dem vernünftigen Staat, der sich von dem allein weltlichen, endlichen und somit schlechten Staat in seiner Notwendigkeit durch eine eigene religiöse Dimension unterscheidet, eine eigenständige Autorität zu sichern. Indem aber die Religion, auf die er sich gründet, Religion der Freiheit ist, kann dem Staat keinerlei Direktive auf die Innerlichkeit des Menschen zukommen. Umgekehrt bleibt der Religion das dem Staat anvertraute Recht verschlossen, denn seine in Pflicht nehmende Geltung besteht unabhängig vom Gemüt des Menschen.35 &

H. Schnädelbach, G. W. F. Hegel zur Einführung, Hamburg 32007 M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970

11. Kurze Zwischenbilanz Die in diesem Kapitel durchschrittene Entwicklung verdeutlicht, dass es einiger Zeit bedurfte, bis der aufklärerische Religionsbegriff zu sich selbst gefunden hat. Auf dem Weg zwischen Hobbes und Kant und dann weiter zu Hegel, der gewiss auch noch sehr viel kleinschrittiger durchlaufen werden könnte, vollziehen sich signifi35 Vgl. dazu Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, 429 ff.

11. Kurze Zwischenbilanz

kante Veränderungen, die verdeutlichen, dass der zunächst als ein Instrument eingeführte Begriff schließlich selbst zum Gegenstand des Interesses und der sorgsamen Bestimmung wird. Lag zunächst das mit dem Begriff verbundene Interesse außerhalb seiner selbst, sodass auch die für ihn aufgewandte Sorgfalt mehr auf die von ihm erhoffte Wirkung als auf seine stimmige Konsistenz gelegt wurde, so zieht er im Laufe der Entwicklung immer mehr Bestimmungsmerkmale an, sodass er schließlich zu einem Stehvermögen erstarkt, in dem er sich als eine Alternative zu dem konfessionell gebundenen Glaubensverständnis präsentieren kann und schließlich auch ausdrücklich präsentiert. Von daher ist es ganz plausibel, wenn die begriffliche Kontur durchaus über längere Zeit über einen gewissen Schwebezustand nicht hinaus gekommen ist – wie es von Ernst Feil in seinen Untersuchungen betont reklamiert wird. Als eigenständiger Begriff kommt die Religion erst in dem Moment zu eigenen Kräften, in dem ihr eine eigene Attraktivität als mögliche Alternative zu den traditionellen konfessionell geprägten Glaubenverständnissen zugewachsen ist. Bei seiner Einführung steht die Frieden stiftende und die integrative Kraft im Vordergrund. Um das Ziel der Pazifizierung der Gesellschaft möglichst umweglos und effektiv zu erreichen, wird zunächst die merkwürdige Spannung in Kauf genommen, die durch die eingeführte Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion unweigerlich entsteht. In der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs der Religion spiegeln sich anfangs gleichsam die im Konflikt liegenden Dimensionen wider, zu deren Vermittlung er ebenso forsch wie eilig auf die Bühne gerufen wurde. Zwar war klar, welche Rolle er spielen solle, weniger klar war allerdings, woher diese Rolle ihre spezifische Überzeugungskraft beziehen solle. In dem Maße, in dem die neu kreierte Religion tatsächlich ihre Rolle zumindest teilweise erfolgreich auszufüllen begann, klärte sich auch ihre Konsistenz und ihr Profil, sodass sie instand gesetzt wurde, immer selbstbewusster auf der Bühne zu agieren. Da von den in unversöhnlichem Streit liegenden Konfessionen keine tragfähigen Lösungen zu erwarten waren und somit keine von innen begründete Überwindung des Konflikts in Aussicht stand, wird das zur Hilfe gerufene Religionsverständnis gleichsam von außen der verfahrenen Situation zugeführt, um die erforderlichen Moderationen vorzunehmen. Da die Konfessionen nicht selbst das nötige Heilmittel gegen ihre verheerende Unduldsamkeit zu entwickeln verstanden, musste ihnen dieses Heilmittel von außen verordnet und verabreicht werden. Es kann dann nicht verwundern, wenn dieses von außen dem Konflikt aufgedrängte Heilmittel sich vor allem aus Inhaltsstoffen zusammensetzt, die nicht aus den ungenutzten Ressourcen stammen, die den Konfessionen zur Überwindung ihres Dilemmas in ihrem eigenen Arsenal zur Verfügung gestanden hätten. Die konfessionelle Bindung war offenkundig nicht in der Lage, die theologischen Elemente in dem eigenen Selbstverständnis zu mobilisieren, die den irrationalen aggressiven Antagonismen wirksam etwas entgegensetzen konnten. Die Kirchen haben kaum etwas dazu beigetragen, die Geschichte über die Erosionen hinauszuführen, die in den eigenen Reihen ihren Ausgang genommen hatten.

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§ 2 Die Kritik der Religion

Das eingesetzte Heilmittel ist von den Philosophen, insbesondere den Staatsund Gesellschaftsphilosophen entwickelt worden. Seine Bestandteile zeichnen sich durch möglichst widerspruchsfreie Allgemeinheit und seine Wirkweise durch den Dominanzanspruch des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen aus. Dabei kommt die nahe liegende Affinität des Allgemeinen zum Natürlichen in besonderer Weise zum Tragen. Es ist also überaus plausibel, dass in dem Maße, in dem der Religion möglichst unbestreitbare Allgemeinheit zugeschrieben wird, sie zugleich in einer kaum bestreitbaren Natürlichkeit in Erscheinung tritt. Sie beerbt schließlich den vom Konfessionalismus zerstörten heiligen Singular des gemeinsamen Bekenntnisses zu dem einen Gott und präsentiert sich als natürliche Religion, als die eine wahre Religion, auf die sich die Vielfalt der Konfessionen und überkommenen Religionen unweigerlich zubewegen, wenn sie nicht in ihrer unduldsamen und streitsüchtigen Partikularität verharren wollen. Es ist deutlich, dass das von der Aufklärung hervorgebrachte Modell der Religion als natürliche Religion selbst einen bekenntnishaften Charakter bekommt, der vor allem in der prinzipiellen Kritik an allen dogmatischen Exklusivismen, die nicht unmittelbar aus der menschlichen Vernunft stammen, in Erscheinung tritt. Es ist das Credo der Dominanz des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen, wobei das Allgemeine die Evidenz des als unmittelbar zugänglich ausgegebenen Natürlichen ist. So sehr die Beschreibung dieses Natürlichen durchaus auf unterschiedlichen Wegen vorgenommen wird, so wenig scheint strittig zu sein, dass es eine solche von allen Menschen geteilte und sie einende Größe gibt, von deren Pflege die auf der Menschheit liegende Verheißung abhängig ist. Das Selbstbewusstsein des Idealismus verweist schließlich indirekt auf die Verlegenheit insbesondere derjenigen Theologie, die sich auf die veränderte Situation einzustellen versucht. Hier zeigt sich eine sich gegenseitig beschleunigende Dynamik, denn der Anschluss der Theologie an den aufklärerischen Diskurs scheint nur über eine weitreichende Selbstrelativierung und somit durch eine schlichte Anpassung an die neue Situation zu gelingen (% § 3), sodass der Philosophie das theologische Gegenüber zu entschwinden droht, was sie dann wiederum umso entschlossener dazu ermutigt, sich selbst als legitime Erbin der Theologie zu präsentieren, wie es dann von Hegel mit allen Konsequenzen vorgeführt wird.

§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

Der spätere Beginn der zu betrachtenden Epoche erklärt sich schlicht daraus, dass es sich um eine Reaktion und spezifische Form der Aneignung dessen handelt, was durch die philosophische Aufklärung in die Diskussion gebracht worden war. Mit einer gewissen Phasenverzögerung hat die Theologie nicht mehr allein ihre Tradition verteidigt, sondern sich auf die aufklärerischen Positionen eingelassen und diese teilweise sehr weitreichend übernommen oder sich zumindest von ihnen zu einem eigenen Weg anregen lassen. Zwar ließen sich in diesem Kapitel sehr viele Positionen anführen, aber das würde kaum zu einer Erweiterung des inhaltlichen Spektrums führen. Die Neologen und die Rationalisten können im engeren Sinne als Theologen der Aufklärung angesprochen werden, während Schleiermacher bereits darüber hinausgeht und ihr mit einem eigenen theologischen Weg antwortet, der allerdings ohne die Aufklärung und ihre theologische Rezeption so nicht denkbar gewesen wäre. Es handelt sich zunächst vor allem um einen mehr oder weniger konsequent und eigenständig vollzogenen Anpassungsvorgang, in dem wenig eigene sachliche Originalität zu finden ist, was sich dann aber bei Schleiermacher ändert, weil dieser zwar das Modernisierungsinteresse der Aufklärung teilt, aber für die Theologie schließlich doch eine eigenständige Perspektive sucht, mit der er sich von den Neologen und Rationalisten auch entschlossen trennt. Es ist eine Konsequenz der Entscheidung, den Idealismus als bekenntnishafte Selbstüberbietung der Aufklärung gleichsam als deren spezifischen Schlusspunkt zu thematisieren (% § 2,10), wenn nun auch die Erörterung der Aufklärungstheologie mit Marheineke als dem exponierten Vertreter der theologischen Hegelrezeption abgeschlossen wird. Wenden wir uns zunächst einigen theologiegeschichtlichen Aspekten zu. Nach der Reformation war die Theologie beider Konfessionen zunächst vorrangig mit der Verteidigung und Stabilisierung ihrer Position in dem aufgebrochenen Gegensatz beschäftigt. Die römisch-katholische Selbstvergewisserung vollzog sich vor allem im Konzil von Trient (1545–1563) und seiner weiteren Rezeption – allen historisch zu registrierenden Widrigkeiten beim Zustandekommen und der ordentlichen Durchführung zum Trotz handelt es sich für die römisch-katholische Kirche um eines der bedeutendsten Konzilien, dem nach wie vor in der Tradition ein herausgehobener Rang zugemessen wird. Auf der protestantischen Seite ist das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts von der Festigung des reformatorischen Bekenntnisses und seiner theologischen Vertiefung – nicht zuletzt in kritischer Auseinandersetzung mit den Beschlüssen des Konzils von Trient – geprägt, wie sie vor allem in der sogenannten altprotestantischen Orthodoxie betrieben wurde. Die Intensität der theologi-

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§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

schen Dezisionen führte zumindest teilweise zu einer erneuten scholastischen Entfremdung der Theologie von dem tatsächlichen Leben der Kirche. Der dadurch geweckte Überdruss ließ die Zeit reifen für entschlossene Schritte in die inzwischen allseits spürbare neue Zeit, die insbesondere in der Aufklärung zu eigenem Selbstbewusstsein gefunden hat. Insbesondere im 18. Jahrhundert kommt es vor allem in der protestantischen Welt zu unterschiedlichen Aufbrüchen, die darin einig sind, dem konkreten Leben ein eigenes Gewicht im Blick auf die theologische Urteilsbildung einzuräumen. Der reformatorische prinzipielle Primat der Lehre über das Leben muss einer differenzierteren Sichtweise Platz machen, die allerdings auf sehr unterschiedliche Weise verfolgt und zur Geltung gebracht wird. Das führt aufs Ganze gesehen zu einer mehrschichtigen Diskussionslage, in der sich bereits die unterschiedlichen theologischen Mentalitäten herauszubilden beginnen, die in gewisser Weise bis heute prägend geblieben sind und sich inzwischen in vergleichbarer Weise in allen Konfessionen finden: die meist eher konservativen Traditionalisten, die weltoffenen Liberalen und ethisch engagierten Praktiker. Während die Traditionalisten nun als die Altgläubigen gelten, werden die sich der Aufklärung zuwendenden liberalen Theologen ‚Neologen‘ genannt. Die Betonung des authentisch praktizierten Glaubens ist auch ein Hauptanliegen des Pietismus, der sich damit in seinem Ursprung durchaus als modern qualifiziert.

1. Die Neologie Schon der Begriff weist auf das zentrale Anliegen: Es geht um eine konsequente Erneuerung der Theologie und des Christentums. War für die Reformation, wie der Begriff bereits deutlich zu erkennen gibt, das Motiv der Wiederherstellung des rechten Glaubens und der Kirche – orientiert an ihren Ursprüngen – leitend, so wird nun alles Pathos in die entschlossene Erneuerung gelegt. Das wird vor allem darin erkennbar, dass diese Erneuerung ausdrücklich die Verabschiedung von überkommenen Lehren und Einstellungen einschließt. Die Bindung an die überkommenen Bekenntnisgrundlagen verliert an Überzeugungskraft und macht Platz für ein undogmatisch verstandenes Christentum, das sich dem Geist der Aufklärung verpflichtet weiß. Es beginnt die Zeit, in der sich zumindest ein Teil der Theologenschaft vor allem mit den Anpassungsproblemen der Theologie an die sich jeweils vollziehenden Veränderungen im allgemeinen öffentlichen Selbstbewusstsein beschäftigt. Es liegt in der Natur der in den Mittelpunkt gerückten (apologetischen) Intention, dass diese Erneuerungen nicht durch eine besondere Originalität auffallen, sondern vor allem in dem möglichst konsequent durchgeführten Nachweis bestehen, dass es der Theologie nicht nur keine Mühe mache, sondern ihr eben auch überaus gut anstehe, wenn sie sich diesen oder jenen Neuverortungen des Menschen in seiner Zeit anschließe und diese auch selbst für sich zur Grundlage für ihre eigenen Artikulationen und Positionierungen mache. Der Nachweis, auf der jeweiligen Höhe der Zeit

1. Die Neologie

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zu sein, wird vor allem dadurch erbracht, dass die Theologie – natürlich immer etwas zeitverzögert und somit auch niemals wirklich ganz modern – sich unter Zurücklassung bisheriger Bedenken zur Anwaltschaft für die epochalen Grundeinstellungen zur Verfügung stellt und sich daran beteiligt, diesen so zu einer möglichst flächendeckenden Resonanz zu verhelfen. Sie versucht auf diese Weise das altmodische Kleid prinzipieller Gestrigkeit loszuwerden, auch wenn natürlich die übernommenen neuen Kleider immer schon von anderen ein wenig abgetragen sind. Wann immer eine neue Mode in Sicht kommt, stellt sich die Theologie zunächst gern mit der stets beharrlichen Mehrheit warnend gegen diese, um sich dann aber im Zuge der sich durchsetzenden Akzeptanz auch dieser möglichst lautstark anzuschließen. Auch unabhängig von der hier anklingenden Kritik bleibt festzuhalten, dass mit der Neologie eine Theologie auf den Plan tritt, die sich programmatisch vor allem an ihrer aktuellen Resonanzfähigkeit und weniger an der Bewahrung der spezifischen Kontur des überkommenen christlichen Bekenntnisses orientiert. &

E. Hirsch, Geschichte IV, 89–119

1.1 Friedrich Germanus Lüdke Das Hauptanliegen des Engagements von FriedAls einflussreicher Protagonist der rich G. Lüdke besteht in der Ablösung des tradiumstrittenen Neologie war Friedrich Germanus Lüdke tionellen orthodoxen Kirchenglaubens in seiner (1730–1792) davon überzeugt, Bindung an die Bekenntnisse und insbesondere dass die Verpflichtung auf die die Bekenntnisschriften (die „symbolischen Büalten Bekenntnisse der Kirche cher“) durch ein an konsensfähigen Religionseinen gesetzlichen Religionseifer einsichten orientiertes Christentum. Während beförderten, der den eigentlichen im Pietismus die traditionelle Dogmatik unbeReligionslehren des christlichen rührt blieb, aber mehr oder weniger stillschweiGlaubens entgegenstehe. gend auf die zweite Stelle gerückt wurde, erheben die Neologen die Kritik der Dogmatik zu ihrem ausdrücklichen Programm. Von dem noch radikaleren Rationalismus (% § 3,2) unterscheiden sich die Neologen dadurch, dass sie sich auf den ethischen Gehalt des Glaubens konzentrieren und dabei – wie es ausdrücklich bei Johann Spalding der Fall ist (% § 3,1.2) – durchaus auch das Gemüt bzw. das moralische Empfinden einbeziehen, während für den Rationalismus allein die Plausibilitätsbestätigung durch die Vernunft zählt. Wie im Renaissance-Humanismus wird auch in der Neologie die Dogmen- bzw. Lehrkritik durch die Berufung auf die biblischen Grundlagen vollzogen. Der Berliner Diakonus an St. Nicolai, Lüdke, hebt in besonderer Weise das von der Bibel unmittelbar bereitgestellte Erneuerungspotential für das angemessene Verständnis des christlichen Glaubens hervor. Er wirft den Kirchen und der sie prägenden theologischen Lehre vor, dass sie komplizierte Bestimmungen und schulmeisterliche Unterscheidungen auf eine künstliche Weise mit biblischen Aussagen verknüpfe, anstatt umgekehrt von den klaren und lebensorientierten Aussagen der Bibel auszugehen.

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§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

Meines Bedünkens bleibt es ein sehr großer Fehler, daß unsere strengen Eiferer um die vermeinte Reinigkeit der Lehre, wenn jemand diesen und jenen Lehrsatz aus den symbolischen Büchern als unrichtig verwirft, nicht erst die Schrift fragen, und danach beurteilen, ob ihn die Verfasser jener Bücher auch recht bestimmt haben, sondern ihn schon immer als richtig ausgemacht voraussetzen und dann bemüht sind, ihn aus der Bibel heraus zu erklären; oder wenn das auf eine ungezwungene Art nicht angehen will, alsdenn auf allerhand Spitzfindigkeiten fallen und Gründe hervorsuchen, wodurch sie ihn schützen oder ihm einen solchen Sinn geben können, daß er doch vernünftig und biblisch herauskomme. Und dies soll denn der rechte Sinn sein, den jene dabei gehabt hätten. Diese Umschweife brauchte man gar nicht, wenn man den graden näheren Weg zur Quelle der Wahrheit, zur heiligen Schrift gehen wollte. Es ließe sich an manchen einzelnen harten Lehrsätzen einer herrschenden Kirche zeigen, zu was für Subtilitäten und scholastischen Distinktionen man seine Zuflucht nehme, um ihnen einen verständlichen Sinn zu geben, und auf was für erkünstelte Gründe man von Zeit zu Zeit studiere, um zu beweisen, daß in den Schriftstellen, die man dahin zieht, derselbe Satz wirklich gelehrt werde. Auf die Weise, welche aber Gang und Gebe unter uns ist, muß freiwillig aus der Hälfte unserer Theologie eine bloß polemische Wissenschaft werden. Man sollte doch, um richtig zu beurteilen, ob dieser oder jener Lehrsatz einer Kirche, wahr oder falsch sei, einmal überall vergessen, daß es eine Formula Concordiae und eine Synode von Dordrecht gäbe, und dann sehen, was man aus der heiligen Schrift und dem Zusammenhange der darin augenscheinlich gegründeten Wahrheiten herausbrächte, alsdenn würde der Streitsucht und der Sektiererei unter den protestantischen Christen weit weniger sein.1

Was für die Lehre gilt, ist dann auch auf das Leben zu beziehen. Was dem Verstehen der christlichen Wahrheit schadet, wirkt sich auch unmittelbar im christlichen Leben aus, weil die Aufrichtigkeit der zu erwartenden Gottesfurcht durch die unzugängliche Lehre unentwegt auf eine Probe gestellt wird. Ohne als richtig erkannte Grundsätze verliert der Glaube seine Überzeugungskraft und dann auch seine eigentliche, das Leben prägende Bedeutung. Wo der Erkenntnis keine rechte Chance zum Wachstum gegeben wird, wird auch „das Wachstum einer gereinigten und gewissenhaften Tugend“ (140) behindert. Daraus ergibt sich die Forderung, die theologische Lehre von allem überflüssigen Ballast zu befreien, sodass sie für das „tätige Christentum“ wieder ihrer dienenden Bedeutung gerecht werden kann. Wollte man also in der protestantischen Kirche heutzutage dem tätigen Christentum aufhelfen und eine reine Gottesfurcht und Tugend unter den Bekennern des Evangeliums befördern, so sollte man sich doch ja einer größeren Aufklärung seiner theoretischen Wahrheiten nicht widersetzen, sondern vielmehr die Christen zu verständlichen Religionsbegriffen anführen und die Bibel recht verstehen lehren; man sollte sie mit unfruchtbaren Ideen, die keinen Einfluß in die inneren Gemütsgesinnungen des Menschen haben, verschonen, die klar erkannten Grundsätze der Lehre Jesu ihrem Herzen tief einzuprägen suchen und allen Unterricht darauf anlegen, daß durch die Wahrheit eine Tugend in ihren Seelen angerichtet würde, die mehr als den äußerlichen Schein davon hätte, und einmal an jenem großen Tag der Rechenschaft die Probe halten könnte. (141 f.) 1 Vom falschen Religionseifer, Berlin 1767, 109– 111.

1. Die Neologie

Die traditionelle Dogmatik wird als rechthaberisch und zänkisch abgewiesen. Sie diene vor allem dem kirchlichen Stolz, nicht aber dem tugendhaften Leben der Kirche. Lüdke spricht von „blinden Eiferern“ und „orthodoxen Machtansprüchen“ (155). Dabei ließ es sich offenkundig problemlos mit dem dagegen mobilisierten aufklärerischen Pathos verbinden, wenn man für sich die menschenfreundliche Religion in Anspruch nahm und zugleich den Juden (und dem mit ihnen verbundenen eifernden Geist) die Schuld dafür zuwies, die Saat der Streitsucht gesät zu haben, die dann allerdings von machtbewussten Repräsentanten der Kirche weiter gepflegt wurde. Die Kreuzigung des Erlösers, die Bande der Apostel, die Hinrichtungen anderer Zeugen der Wahrheit mit ihnen, so viel Empörung in den Städten, so viel Aufwiegelung des Pöbels, wenn die ersten Lehrer des Evangeliums öffentlich predigten, das waren ja alles Wirkungen eines feindseligen Zorns aufgebrachter Juden, die mit ihrem Unverstand um Gott eiferten. Und als die Christen erst die Oberhand bekamen und mächtig wurden, da machten sie es zum Teil ebenso, da führten solche Lehrer unter ihnen, welche ganz den Geist der Pharisäer und Schriftgelehrten geerbt hatten, von einem blinden Eifer erhitzt, Ungerechtigkeiten in die Welt ein, die unbeschreiblich sind. (143 f.)

Der unchristliche Verfolgungsgeist, der mit den usurpierten und partikularisierten Wahrheitsansprüchen einhergehe, befördere vor allem den Aberglauben und die Streitsucht. Dagegen sei in Übereinstimmung mit den einfachen Lehren der Bibel – ohne weitere Ergänzungen und Konditionierungen – eine mit der Vernunft übereinkommende Harmonie anzustreben. Lüdke verfolgt dabei eine deutliche apologetische Absicht, die von der Sorge bestimmt ist, den christlichen Glauben in den Augen der ihm fern Stehenden nicht anstößig erscheinen zu lassen. Ich habe schon angemerkt, dass man die Fehler der Menschen, von denen die Religion gelehrt wird, nicht der Religion selbst zur Last legen sollte. Aber wie schwer ist es doch für Leute, die ohnehin eine Abneigung dagegen haben, das von einander abzusondern. Und wenn wir nun die Ungläubigen sehen lassen, wie wir in so manchen Fällen unsre Sache mit der Sache Gottes vermengen; wie wir manche unerweisliche väterliche Meinung mit so großer Heftigkeit verfechten; wie wir gegen andere Religionsparteien, oder in manchen Dingen von uns abgehende Glieder unserer eigenen Kirche, so gar wenig Nachsicht und Gelindigkeit im Urteilen beweisen; und uns in dem Eifer für die vermeinte Reinigkeit der Lehre so weit vergessen, daß wir Vernunft, Gewissen, Billigkeit, Menschenliebe und anständige Sitten darüber hintansetzen, grade als ob es in der Hitze des Streits darauf gar nicht ankäme; was müssen sie alsdenn, wenn ihre Seelen vielleicht von Natur sanfter und durch eine feine Erziehung edelmütiger gebildet worden sind, natürlicherweise wohl von uns denken? (154 f.)

In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass dieses ausdrückliche Bemühen um ein allgemein akzeptables Außenbild in aller Deutlichkeit darauf hinweist, dass im Zusammenhang mit der Verbreitung eines aufklärerischen Bewusstseins bereits im 18. Jahrhundert in erheblichen Maße von der Möglichkeit der Distanzierung von den Kirchen Gebrauch gemacht worden ist.

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§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

1.2 Johann Joachim Spalding Als Kollege von Fr. G. Lüdke (% § 3,1.1) und Oberkonsistorialrat in Berlin trat Johann Spalding für eine gemäßigte Rezeption der Aufklärung in der Kirche ein. In seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Pietismus stellt er der Kontingenz des individuellen Bekehrungserlebnisses, in dem der Gläubige aus seiner ausweglosen Schuldverstrickung befreit wird, und der lebenslangen Bedeutung, die diesem Bekehrungserlebnis zugemessen wird, die weitreichende Übereinstimmung des Christentums mit der natürlichen Religion gegenüber. Allerdings überlässt er der Vernunft nicht vollkommen die Regie, so sehr er auch ihre Urteilskraft herausstreicht, sondern verweist – durchaus vergleichbar mit J. J. Rousseau (% § 2,7), wenn auch mit weniger ausgeprägtem antidogmatischen Affront – auf die spezifische unverfälschbare Wahrnehmungsfähigkeit des Herzens bzw. des Gewissens (Spalding spricht auch vom Gemüt). Er teilt also sowohl die ethische Perspektivierung der Religion als auch deren grundsätzliche Vernünftigkeit mit der Aufklärung und weist zugleich über sie hinaus, indem er Gott im menschlichen Gefühl wirken sieht in dem Versuch, den Menschen von seinen falschen Wegen abzubringen und auf den rechten Weg zu lenken. Spalding geht es in seiner Argumentation nicht nur um die Resonanzen des Glaubens auf die Vernunft, sondern auch umgekehrt um die Anschlussfähigkeit der Vernunft an den Glauben. Er wirbt nicht – wie Lüdke – in der kirchenentfremdeten Welt für die Religion, sondern in der Kirche für die Anerkennung der von der Aufklärung auf den Schild gehobenen allgemeinen Vernunft. Diese Werbung kann nur Erfolg haben, wenn sie zugleich erkennbar macht, dass ein Festhalten an der Priorität des Glaubens nicht dazu genötigt ist, der Einsichtsfähigkeit der allgemeinen Vernunft die Anerkennung zu versagen. Vielmehr können beide zusammenstehen und sollten dies auch, wenn sie nur recht in ihren spezifischen Ausrichtungen unterschieden und aufeinander bezogen werden. – Ein paar einschlägige Textausschnitte mögen die Schritte seines Gedankengangs andeuten, bevor er mit einer abschließenden Interpretation noch einmal zusammengefasst wird.

Als Hauptvertreter einer praktischkirchlichen Neologie setzte sich Johann J. Spalding (1714–1804) vor allem mit dem Pietismus auseinander.

Alle Gedanken, alle Regungen, alle Gefühle, von welchen ich finde, daß sie darauf abzielen, mich von der Sünde zu Gott zu ziehen, die schreibe ich der göttlichen Wirkung zu. Wenn ich eine Verschuldung an mir erkenne, die ich sonst nicht geachtet; wenn der Abscheu gegen Ungerechtigkeit bei mir erweckt und gestärkt wird, wenn die überschwängliche Barmherzigkeit, womit mein ewiger göttlicher Mittler sich um mich verdient gemacht hat, stärkere Triebe der Anbetung, der Liebe, des Vertrauens und der willigsten Nachfolge in mir verursachet; wenn ich mehr Lust zu dem, was recht und gut ist, in mir spüre, so weiß ich daraus, daß der Geist der Gnade in mir geschäftig gewesen, weil doch einmal alles Gute ursprünglich von ihm herkommen muß.2 2 Gedanken über den Werth der Gefühle im Christentum, Leipzig 31769, 86.

1. Die Neologie

Die Erkenntnis von Gott, von seiner Gesinnung gegen uns, von unserer Verbindlichkeit gegen ihn, von den allgemeinen von ihm verordneten Mitteln zur Glückseligkeit kann richtig und wahr sein, wenn sie aus einer regelmäßigen Verbindung der Begriffe und Schlüsse, aus einer gehörigen Einsicht in die Bedeutung der göttlichen Zeugnisse entspringt; allein so lange sie noch in einer Entfernung von unserm Gewissen bleibt, so lange wir unsere eigene Schuld oder Unschuld, unsern eigenen Nutzen oder Schaden nicht zugleich dabei denken, so lange wird dies alles noch immer etwas Kaltes und Unkräftiges sein, welches uns unserm großen Zweck nicht um einen Schritt näher bringt . . . Man weiß es, wie groß und wichtig noch immer der Übergang ist von den besten allgemeinen Erkenntnissen und Regungen bis zu der unmittelbaren Anwendung auf sich selbst; und nur von diesem letzteren Schritte kann man sagen, daß er den Menschen unter die eigentliche Zucht des Geistes bringet. Das ist also die Hauptsache und das Entscheidende in den Wirkungen der göttlichen Gnade, um in der menschlichen Seele den Zweck ihrer Wiederherstellung zur Glückseligkeit wirklich zu erreichen. Alles, was sonst von Licht in dem Verstande und von Bewegung in dem Gemüte sein mag, das ist nur eine entferntere Vorbereitung zur Vereinigung mit Gott; und der eigentliche schätzbarste und vorteilhafteste Wert der Einsichten so wohl, als der Empfindungen zeigt sich darin, dass der Mensch das sich insbesondere gesagt sein lässet, dass er seine eigene Sache daraus macht, und daß er also dadurch an seinem Teile zu den Gesinnungen geleitet wird, in welchen er Gott gefallen und glücklich werden kann. (97–99)

Ausgangspunkt ist die generelle und plausible Einsicht, dass es Gottes Wille ist, den Menschen von seinem eigenwilligen Weg abzubringen und auf den Weg des Guten zu bringen. Alle Abneigung dem Bösen gegenüber kann als eine Wirkung Gottes verstanden werden. Die allgemeine Stimmigkeit dieses Gedankens lässt sich in der Theologie erweisen, die darin durchaus der allgemeinen vernünftigen Einsicht entspricht. Doch mit der Stimmigkeit der Einsicht ist es noch nicht getan. Es bedarf der Spezifizierung des Allgemeinen auf das Individuelle. Dies kann nun nicht darin bestehen, ein weiteres Mal die Stringenz des Arguments hervorzuheben – auch die traditionelle Dogmatik implizierte eine innere Stringenz –, vielmehr bedarf es gleichsam einer besonderen Bekräftigung der Einsicht durch einen individuellen Evidenzhinweis, durch den es dann auch dazu kommt, dass es nicht allein bei der richtigen Einschätzung bleibt, sondern auch zu dem rechten Handeln kommt. Weder die Dogmatik noch die Vernunft können als hinreichend angesehen werden, solange ihnen nicht über das Gefühl (Gewissen, Herz, Gemüt) ein entsprechender unausweichlicher Impuls die notwendige Gewissheit verleiht. Spalding verweist auf die „gewisse Sprache des Gewissens, die ohne Zweifel demjenigen bekannt und geläufig wird, der selbst aufrichtig mit seinem eigenen Herzen umgehet“ (331). Das principium individuationis liegt im Gewissen als der an den Einzelnen gerichteten Stimme Gottes, die darauf ausgerichtet ist, von dem Abwägen zur Handlung vorzudringen, deren Entschlossenheit sich nicht allein aus der Einsicht ableiten lässt, sondern gleichsam auf eine göttliche Ermutigung zurückzuführen ist. Spalding sieht es als eine Aufgabe des Menschen an, seine Gefühlsregungen kritisch zu prüfen, und geht davon aus, dass sich verlässlich ausmachen lässt, was göttlichen Ursprungs ist und was eben nicht. Es ist der moralische Nutzen, der darüber entscheidet, ob eine Gefühlsregung von Gott oder aus einer anderen Quelle kommt.

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§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

Im Gewissen findet diese Klärung unzweideutig statt und zugleich wird eine individuelle Identifikation mit dem jeweils angezeigten moralischen Ziel erwirkt. Im Hintergrund steht die Vorstellung einer grundsätzlichen Harmonie zwischen der menschlichen Natur und der göttlichen Gnade – eine ausweglose Verstrickung des Menschen in die Sünde hat in diesem Konzept keinen Platz mehr. Nach Spalding ist die Sünde die dem Mensch durchaus nahe liegende moralische Nachlässigkeit, die aber dem Willen stets einen Ausgang lässt. Die Vernunft weist im Blick auf das Gute in genau die gleiche Richtung wie der Glaube, ist diesem aber insofern unterlegen, als sie nicht die gleiche emotionale Tiefe wie der Glaube erreicht. Hier tritt das klassische Muster neuzeitlicher Apologetik auf, indem sich der Glaube als ein spezifisches Steigerungselement für etwas anbietet, was allgemein als sinnvoll oder auch notwendig angesehen, aber nur mit begrenztem Erfolg propagiert wird. Indem der Erfolg in besonderer Weise mit der erst von der Religion beförderten Steigerung verbunden wird, kann sie sogar von etwas Sinnvollem zu etwas Notwendigem werden, sodass sie sich einer allgemeinen Empfehlung möglichst sicher sein kann. &

J. Schollmeier, Johann Joachim Spalding: ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967

1.3 Johann Salomo Semler Mit Semler erreichen wir bereits die Grenze der Neologie, die in der Ernüchterung erkennbar wird, in der er sich mit den traditionellen Beharrungskräften in den Konfessionen zu arrangieren versucht. Die avisierte allgemeine Harmonie auf dem Boden der natürlichen Religion erwies sich als nicht realisierbar. Im Gegenteil haben sich mit dem Aufkommen der Neologie neue Gräben aufgetan, deren Überwindung sich vor allem deshalb vorläufig als illusorisch erwies, weil längst nicht alle politischen Machthaber als Sympathisanten der Aufklärung auftraten. Ein neuer Konflikt zwischen den sogenannten Altgläubigen und den Neugläubigen (so wurden die Anhänger der Neologie genannt) bahnte sich an. Semler, der selber der Neologie zuneigte, versuchte zwischen den sich formierenden Fronten zu vermitteln, indem er an dem Recht der traditionellen Bekenntnisse und Bekenntnisschriften festhielt, aber die Möglichkeit für ihre unterschiedliche Interpretation einforderte. Auf die Weise wollte er zwischen den unterschiedlichen Richtungen vermitteln, was ihn zum Initiator der sogenannten liberalen Theologie werden ließ, die nicht mehr – wie die Übergangstheologie – auf eine konsensuale allgemeine Entwicklung setzt, sondern für ein friedliches Nebeneinander von verschiedenen Optionen eintritt. Neben seinen bahnbrechenden historisch-kritischen Untersuchungen, die im Interesse des Nachweises standen, dass die Grundlagen des Christentums mit der unvoreingenommenen Ver-

Johann S. Semler (1725–1791) verbindet das Konzept der Neologie strategisch mit einer Vermittlungsoption mit traditionellen theologischen und kirchlichen Optionen, um die geistige Orientierungskraft des Christentums in der Gesellschaft zu sichern.

1. Die Neologie

nunft in Einklang stünden, steht das religionspolitische Vermittlungsinteresse im Mittelpunkt seines Engagements. Um dieses Vermittlungsinteresse praktische umsetzen zu können, greift Semler die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion auf (% Hobbes § 2,2; Spinoza § 2,3; Rousseau § 2,7), wobei er der Unterscheidung eine eigene Bestimmung gibt. Während es bei Hobbes um die Sicherung der Oberherrschaft des Staates in allen öffentlichen Angelegenheiten und in diesem Zusammenhang um die Abweisung aller konfessionellen Absolutheitsansprüche im öffentlichen Leben ging, setzt Semler auf die friedensstiftende Wirkung eines Raumes begrenzter Pluralisierung, um zwischen den Alt- und Neugläubigen zu einem lebensfähigen Arrangement gegenseitiger Duldung zu gelangen. Das gemeinsame Dach der öffentlichen Religion findet sich in den Glaubensbekenntnissen und den Bekenntnisschriften. Sie bilden den von allen zu akzeptierenden Raum und signalisieren eine deutliche Grenze gegenüber einer Nivellierung in die Beliebigkeit. Zugleich ist es der Raum, innerhalb dessen es erlaubt sein soll, die verschiedenen Glaubensaussagen unterschiedlich zu interpretieren, und der somit eine Pluralisierung der Theologie ermöglicht. Zwar sollen sich alle Christen allen Unterschieden zum Trotz auf die Bekenntnisse und die Bekenntnisschriften hin ansprechen lassen, aber wie sie im Einzelnen verstanden werden, darf nicht einfach von einer Richtung und eben auch nicht von der Kirche aus festgelegt werden. Ihren Ereignisort hat die öffentliche Religion in der Feier des gemeinsamen Gottesdienstes, während die private Religion sich in ganz unterschiedlichen Lehrverständnissen Ausdruck verschafft. Semler bleibt mit der Betonung der öffentlichen Religion insofern in der Tradition des bisherigen Gebrauchs dieses Begriffs, als er ihr auch eine auf den Staat ausgerichtete Bedeutung zumisst. Im Spiegel der Bekenntnisse und der Bekenntnisschriften kann der Staat erkennen, dass ihm aus der Kirche in ihren unterschiedlichen Artikulationsformen durchaus keine Gefahr erwächst. Die öffentliche Religion wird gleichsam offiziell von der Kirche veranstaltet. Ihr fügt sich der Einzelne um der Gemeinschaft willen, während ihm die private Religion auch die Möglichkeit bereithält, sich selber aktiv an der Wahrnehmung der Religion zu beteiligen. Die öffentliche Religionsform, woran die gemeinen Mitglieder, die nicht selbst Religionshandlungen verrichten [wie die offiziellen Amtsträger der Kirche (M. W.)], nur leidender Weise oder durch vorübergehende Subordination an die bestellten Religionsdiener teilnehmen, beruht ganz auf der Einrichtung oder Einwilligung der zusammengehörigen Gesellschaft, in Absicht der festgesetzten Umstände, unter welchen die Mitglieder die jedesmalige gemeinschaftliche Darstellung und Übung des Betragens wiederholen, welches sie also zur öffentlichen Verehrung der Gottheit rechnen, daß sie es für eine ihnen unerlaubte und sündliche Aufführung halten, wenn sie nicht diese kenntlichen feierlichen Merkmale ihrer gesellschaftlichen oder bürgerlichen Verbindung ebenso gegen andere darlegen, als von anderen annehmen wollten. Aber neben dieser öffentlichen Religionsform, welche alle Mitglieder durch ihre Einwilligung in einer besonderen Verbindung miteinander erhält, die mit ihrer bürgerlichen Verfassung immer zusammenhängt: gibt es unter allen Religionsparteien auch eine innere oder Privat-Religion vieler einzelner Menschen, die übrigens immer zu der öffentlichen Religions-

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§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

form, als öffentliche Mitglieder gehören können: wiewohl es auch bürgerlich hier und da (leider unter den Christen am wenigsten,) frei steht, seine Gegenwart jener öffentlichen feierlichen Versammlung zu entziehen; wenn nur sonst die bürgerlichen oder gesellschaftlichen Abgaben ferner entrichtet wurden, welcher zur Erhaltung der öffentlichen Religionsdiener, oder Gebäude, oder zu anderen legitimen Beiträgen, gehörten. In jedem Staat war eine öffentliche Religionsform zunächst zu festerem Bande der bürgerlichen Gesellschaft durch Gesetze eingeführt; ohne die freistehende moralische Privat-Religion den einzelnen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft hiermit zu untersagen; sie mußten sie nur der öffentlichen Religion nicht entgegenstellen und einen neuen Staat anfangen wollen. So rechtmäßig es also ist, dass jene größere Religionsgesellschaft, zur kenntlichen Unterscheidung ihrer einstimmigen Glieder, eine öffentliche Lehrformel durch die Religionslehrer zur öffentlichen gemeinschaftlichen Unterweisung festsetzt und beibehält: so falsch ist es doch, wenn irgendeine christliche Religionspartei die innere tausendfach verschiedene christliche Privatreligion in eben dieses bloß äußerliche Maß einfassen will; und es ist gar empörend, wenn sie behauptet, die ganze moralische Wohlfahrt und Seligkeit aller Menschen habe Gott selbst an eine einzige jüngere Lehrformel ebenso gebunden, wie die öffentlichen Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft an diese gesellschaftliche Religionsform durch die Obrigkeit so oder so gebunden worden. Man müßte alle christlichen Begriffe von Gott geradehin leugnen oder heimlich verspotten, welche Begriffe doch durchaus nun von allen Christen aus der Bibel nach eigenem Gewissen gesammelt werden, was die Gewißheit ihrer eigenen Überzeugung und Wohlfahrt betrifft . . . Es haben . . . alle . . . Bekenntnisschriften zunächst eine bürgerliche äußerliche Absicht, damit der Staat darin gewiß ist, daß dieses auch gute, ruhige, nützliche Bürger sind und bleiben wollen; und zugleich gehen alle solche Lehrbekenntnisse auf das eigene Gewissen, auf das daseiende Maß der Erkenntnis der Mitglieder einer Partei, in Absicht der gemeinschaftlichen Verehrung Gottes in ihren Versammlungen. Der Glaube der einzelnen Christen, das ist ihre eigene christliche Religion, ist frei aus den Lehren Christi und eigenem Nachdenken hergeleitet; hat keine dogmata weder von Rabbinen noch von Bischöfen zu seinen inneren Bestandteilen von Zeit zu Zeit anzunehmen. Alle sogenannten dogmata sind erst von Bischöfen auf ihren kirchlichen Landtagen zusammengesetzt worden, zunächst wider sogenannte Ketzer, und also für die Kandidaten ihrer Klerisei, nicht aber als neue Zusätze zu der christlichen Religion. . . . Die Symbole, als unveränderliche Formeln, gehören allemal zu einer besonderen gesellschaftlichen Religion, nicht aber zu allgemeinen eigenen Religion aller Christen . . . Es gab immerfort verständige Zeitgenossen, die es einsahen, daß diese Formeln zunächst eine äußerliche Absicht hätten, nicht aber den Grund und Inhalt der moralisch vollkommenen Religion, ausschließungsweise, in sich faßten. . . . Es ist allerdings zu hoffen, daß immer mehr eigenes Nachdenken und gewissenhafte Beurteilung dieser Hauptsache in aller Religion (um Gottes Willen moralisch zu handeln, und immer moralisch besser zu werden), die einzelnen Menschen vielmehr dahin bringen wird, die tätige reine Liebe Gottes und aller Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen lässt, immer mehr als das Wesen der wirklich würdigeren Religion anzusehen, es mag nun der besondere äußerliche Unterscheidungsname christliche, natürliche, jüdische etc. heißen; und also auch vornehmlich sich dieser einen reinsten Liebe Gottes und des nächsten zu befleißigen, weil diese Nachahmung Gottes der kenntlichste Charakter eines Gottesverehrers ist.3 3 Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, Königsberg 1792, zit. n.

M. Weinrich (Hg.), Theologiekritik in der Neuzeit, Gütersloh 1988, 26–29.

2. Der Rationalismus

Weitere Hauptschriften der Epoche der Neologie: J. D. Michaelis, Gedanken über die Lehre der heiligen Schrift von der Sünde als eine vernunftgemäße Lehre, Hamburg 1752; W. A. Teller, Lehrbuch des christlichen Glaubens, Helmstedt/ Halle 1764; ders., Die Religion der Vollkommnern, Berlin 1792; J. Fr. W. Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Braunschweig 1768; J. G. Töllner, Der tätige Gehorsam Jesu Christi, Breslau 1768; ders., Theologische Untersuchungen, 2 Bde, Riga 1772 u. 1774; A. F. Büschung, Allgemeine Anmerkungen über die symbolischen Schriften der lutherischen Kirche, Hamburg 1770; K. F. Bahrdt, Apologie der gesunden Vernunft, durch Gründe der Schrift unterstützt, in Bezug auf die christliche Versöhnungslehre, Basel 1781; Chr. M. Wieland, Über den freien Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen, o. O. 1787; F. Chr. Löffler, Über die christliche Genugtuungslehre, Züllichau und Freystadt 1796. &

K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit [1929], Hildesheim 1964 H. H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Ein Beitrag zur Erforschung der Theologie Semlers, Würzburg 1988

2. Der Rationalismus Mit seiner grundsätzlichen Abweisung allen Offenbarungsglaubens geht der Rationalismus im engeren Sinne noch über die Erneuerungsmotive der Neologie hinaus. Es reicht nicht der Nachweis, dass ein Glaubensinhalt vor der Vernunft standhält, sondern es gilt auch zu zeigen, dass er sich allein mit ihrer Hilfe restlos rekonstruieren lässt. Dahinter steht die rationalistische Grundannahme, dass die Vernunft über allen anderen Sinnen des Menschen steht, sodass sie als die durch nichts überbietbare Erkenntnisquelle herausgestellt wird. Ihr Erkenntnisvermögen wurzelt in einem dem Menschen in unvergleichlicher Weise zugeschriebenen Wissen um die Wirklichkeit, das unabhängig von den jeweiligen Sinneswahrnehmungen ist und im Zweifel von diesen nur bestätigt werden kann. Es ist die von René Descartes (1596– 1650) exponierte Fähigkeit des Menschen zu zweifeln, die ihm seine Souveränität verleiht. Der Zweifel ist die eigentliche Dynamik des berühmten „cogito ergo sum“ von Descartes, denn nirgends zeigt sich die Fähigkeit zu denken deutlicher als im Zweifel, sodass diese Formel angemessen rezipiert wird, wenn sie um der Prägnanz willen mit „Ich zweifle, also bin ich“ wiedergegeben wird. Dem Offenbarungsglauben wird gern das Adjektiv „blind“ zugeordnet, weil er von etwas redet, was sich nicht sehen bzw. – genauer gesagt – nicht durch das Wissen der Vernunft erreichen lässt. Der Gegensatz wurde gern mit den Begriffen Rationalismus und Supranaturalismus gekennzeichnet, wobei sich bei genauerem Hinsehen schnell zeigen ließe, dass die beiden Begriffe nur die extremen Pole eines weiten Spektrums darstellen, dass sich zwischen ihnen auftut.

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2.1 Hermann Samuel Reimarus Weil er seine Zeit noch nicht für reif hielt, hat Reimarus seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes als sein eigentliches Testament, das ihn etwa dreißig Jahre beschäftigt hat, nicht mehr selbst veröffentlicht, obwohl er seine aufklärerischen Vorstellungen über die Religion bereits 1755 in seinen Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion dargelegt hatte. Es geht ihm um eine konsequente Vernunftreligion, die eine ebenso konsequente Abkehr von jeder Offenbarungsreligion voraussetzt. Unter dem Einfluss Spinozas (% § 2,3), Bayles und vor allem der englischen Deisten, insbesondere Tolands (% § 2,5) und bei gleichzeitiger Abwehr der französischen Materialisten (% § 4,2.2.3) hebt Reimarus die Göttlichkeit der Schöpfung und der in ihr wirkenden Gesetze der Natur hervor. Die Natur bedarf über sich selbst hinaus keiner Offenbarungen und Wunder, ja sie muss sie sogar bestreiten, denn sie stehen im Widerspruch zur Vollkommenheit der Schöpfung und ihres Schöpfers und würden beide nur diskreditieren. Der Glaube an sie kann in den Augen von Reimarus nur schlicht als eine Dummheit angesehen werden: „Die Geburt hat uns zu vernünftigen Menschen gemacht; und so eine Religion die wahre ist, so muß sie vor allen Dingen mit der Vernunft bestehen können und nicht gezwungen seyn“.4 Die Religion, durch die sich der Mensch den Tieren gegenüber auszeichnet, könne nach Reimarus ihre Sektiererei und Streitereien nur überwinden, wenn sie sich als eine praktische Religion auf die Vernunft verlässt:

In einer konsequenten Abkehr von allem Offenbarungsglauben projektiert Hermann S. Reimarus (1694–1768) die Vorstellung einer reinen Vernunftreligion.

Ohne Vernunft und deren Gebrauch wären wir, wie das Vieh, gantz und gar keiner Religion fähig; und selbst die wahre Offenbarung wäre uns so unnütz, als wenn Ochsen und Eseln das Evangelium gepredigt würde. Es ist selber der Vernunft gemäß, nichts darum bloß [zu] verwerffen, weil es über unsern Begriff gehet; aber hergegen, wenn eine vorgegebene Offenbarung etwas enthält, das sich selbst klar und deutlich wiederspricht, oder das andere unwiedersprechliche Wahrheiten, besonders die unendliche Vollkommenheiten Gottes, seine Weißheit, Vorsehung, Güte und Allmacht, seine ewige Regeln des Natur- und Sitten-Gesetzes aufhebt: so mag auch ein Engel vom Himmel der Prediger eines solchen Evangelii seyn, wir können ihm dennoch unmöglich glauben. (54 f.)

Reimarus unterstreicht, dass es ihm um einen grundlegenden Wandel geht, der nicht einfach von heute auf morgen realisiert werden kann, sondern durch eine vollkommen veränderte Erziehung gleichsam großgezogen werden muss. Wer erst einmal mit dem traditionellen Offenbarungsglauben im Kindesalter indoktriniert wurde, ist nur schwer wieder davon abzubringen. Die Veränderung des Erziehungssystems ist die Voraussetzung für eine nachhaltige Grundlegung der Vernunftreligion. 4 Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. v. G. Alexander, Frankfurt/M. 1972, 180.

2. Der Rationalismus

Es wird nunmehr gantz augenscheinlich seyn, daß die Fortpflantzung und Erhaltung des heutigen Christenthums, selbst bey Protestanten, auf der eintzigen Maxime beruhet, den Menschen einen bloßen Glauben einzuflößen, welches in dem leichtgläubigen kindischem Alter, und bey dem unverständigem Hauffen am leichtesten zu bewirken ist, und ihnen dagegen alle vernünftige Religion sorgfältig zu entziehen, die Vernunft selbst, als blind und verdorben anzuschwärtzen, und wenn sie sich ja wieder den Glauben regen sollte, dieselbe, als eine allgemeine Feindin des Christenthums und aller Religion, bey dem Pöbel verhaßt zu machen, und durch die Macht der Könige, Fürsten und Obrigkeiten zu verfolgen. Man kann nichts anders daraus schließen, als daß sie ihr Glaubens-System für verloren achten, dafern die Leute vorher zu einer vernünftigen Religion angeführt wären, und dann die angedrungene Offenbarung, ohne Vorurtheil, nach den Regeln der Wahrheit und gesunden Vernunft untersuchen wollten. (145) Man müste die rohe Jugend zuerst auf die ihr angemessene sinnliche Erkenntniß der Natur, der darin sich zeigenden Mannigfaltigkeit, Vollkommenheit, Schönheit führen, damit sie die augenscheinlichen Spuhren einer unendlichen Weißheit, Güte und Macht darin bemerken lernte, und ihre Gedanken nachgerade von den sichtbaren Werken zu dem unsichtbaren Werkmeister erheben könnte. Man müste ihr die Beschaffenheit und Bestimmung des Menschen zu einer weit höheren Vollkommenheit und Glückseligkeit, als in diesem Leben zu erreichen ist, begreiflich machen. Und dazu würde nöhtig seyn, daß man ihr die Vorzüge der Vernunft und ihres rechten Gebrauchs zeigete, als wodurch der Mensch allein über alle Thiere des Erdbodens herrscht, allein einer Sprache, Sittlichkeit und Religion fähig wird, allein Wahrheiten einsiehet, Künste und Wissenschaft erfindet, seine Begierden in Ordnung hält, und solche Tugenden ausübt, die ihn über alles Viehische erheben, ihn selbst glücklich und andern Menschen gefällig machen. (147)

Reimarus setzt für seine Überlegungen die rationalistischen Gottesbeweise (ontologisch, kosmologisch, teleologisch und moralisch) voraus, die mindestens ebenso, wie sie den Gottesgedanken hervorheben und evident machen, auch den Menschen in besonderer Weise als das zu seiner Erkenntnis geadelte Wesen herausstellen. Tatsächlich ist aber unter den überkommenen Umständen der reine Ausblick auf Gott weithin verdunkelt und es bedarf der Behebung verschiedener Grundübel, unter denen Reimarus die Kirche leiden sieht und die er rückhaltlos anprangert. Dabei war Reimarus zeitlebens seiner Kirche zugewandt und nahm regelmäßig am Gottesdienst und auch am Abendmahl teil. Die Verstellung des Christentums durch verschiedene Erscheinungsweisen des Aberglaubens sah er als „eine alte noch aus dem Heydenthum und Judenthum stammende Krankheit“ (151) an, von der es vor allem zu genesen gelte, indem das eigentliche Wesen des Christentums und seines Stifters wieder zur Geltung gebracht werden. Die eingehende und offensive Kritik, die Reimarus hier über weite Strecken hin entfaltet, hat durchaus Vorbilder nicht nur bei den Reformatoren, sondern auch in der Kirchenkritik von Erasmus und anderen Humanisten. Es sind nicht nur die Marien- und Heiligenverehrung, der Bilderdienst, die Reliquien, die Wallfahrten, Gelübde, Seelenmessen und die Möncherey, die Reimarus mit Abgötterei in Verbindung bringt, sondern er greift ebenso die protestantischen Vorstellungen vom Teufel und den Engeln und die ihnen zugestandene Macht über die Seelen an. Die Instrumentalisierung des Teufels als Druckmittel hin zur Frömmigkeit empfindet Reimarus als besonders anstößig. Und es bleibt zu be-

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klagen, dass der Aberglaube den ganzen Alltag durchdrungen hat und beinahe alle menschlichen Handlungen bestimmt: „bey dem Ackerbau, der Viehzucht, Jägerey, Fischerey, Seefahrt, Bergmannschaft, bey Hochzeiten, Wöchnerinnen, Kindtauffen, Säugen, Erziehen, Krankheiten und Sterben“ (152). Der Aberglaube hält die Menschen gefangen und sie fürchten faktisch mehr den Teufel als Gott. Ebenso schlicht wie folgenreich schließt Reimarus seine Kritik mit der gelassenen Feststellung ab: „Wenn sie Gott, die Natur, sich selbst und ihre Pflichten nach der gesunden Vernunft kenneten: so würde aller Aberglaube als ein Schatten und eine Phantasey verschwinden.“ (153) Weitere abzustellende Grundübel sieht Reimarus auf der einen Seite in der falschen Glaubenssicherheit, die zu einem unbefangen lasterhaften Lebenswandel führe, und auf der anderen Seite in einer Werkheiligkeit im Blick auf äußere Frömmigkeitsübungen, die unweigerlich zu Heuchelei anhalten. Auch sieht er eine verbreitete Neigung zu Fanatismus, die gleich das nächste Übel mit sich bringt, nämlich die Sektiererei, die von Streitsucht und Verfolgung geprägt ist. Als letztes Übel führt Reimarus den Atheismus an, den er zwar nicht in der Kirche beklagt, aber von ihr verursacht sieht; er ist das Resultat all der zuvor aufgezählten Missstände, welche die Menschen gleichsam zwangsläufig in den Atheismus treiben. Ich will damit nicht sagen, daß die Atheisterey eine Lehre des Christenthums sey; aber ich behaupte, daß die Glaubens-Artikel, und die Art wie man sie einpflantzt, eine nahe Veranlassung geben, daß Leute, welche zu keiner vernünftigen Religion angeführt sind, wenn sie die Schwächen der väterlichen Religion einsehen, gar keine Religion über behalten, und folglich gar leicht in eine Atheisterey verfallen können . . . Weil sie denn von keiner vernünftigen Religion etwas wissen und überführt sind: so bleibt ihnen nichts übrig, sie halten alles für PfaffenBetrug, und für eine bloße Erfindung den blinden Pöbel zu lenken und im Zaum zu halten. . . . Das ist aber die Frucht der Methode des Christenthums, da man die Religion als einen blinden Glauben ohne vernünftige Erkenntniß zu pflantzen sucht, und eher Christen machen will bevor sie zu Menschen gebildet sind. Die schlagen dann sehr oft dermaßen aus der Art, daß, statt frommer Christen, Unmenschen daraus werden, welche ohne Gott in der Welt zu leben suchen. (168–170)

Der theoretische und praktische Atheismus kann nur wirksam abgewehrt werden, wenn in der Jugend die Grundlagen für einen verständigen und überzeugenden Umgang mit der Religion gelegt werden. Nur eine vernünftige Religion kann auf die Dauer ein wirksames Mittel gegen den von Reimarus nur mit Abscheu betrachteten Atheismus sein. Reimarus überschreitet mit seinen Überlegungen – ähnlich wie Lessing (% § 2,8) – die Grenzen des christlichen Glaubens und nimmt auch die anderen Religionen in den Blick. Dies ist – ebenso wie bei Lessing – weniger der Ausdruck einer geforderten Religionstoleranz als vielmehr der Ausdruck der Hoffnung, dass sich auch die anderen Religionen den gleichen Herausforderungen stellen mögen wie das Christentum, um aus ihren geschichtlichen Fixierungen herauszutreten auf den allen Religionen gemeinsamen Boden der natürlichen Religion. Der Blick auf die anderen Religionen bedeutet also streng genommen keine Pluralisierung, sondern – in Übereinstim-

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mung zu dem, was bereits für die Aufklärung gezeigt werden konnte – eine Angleichung in den Grundsätzen, durch welche die überkommenen Unterschiede ganz ihre Bedeutung verlieren. Reimarus blickt auf die Vernunftreligion als eine allgemein menschliche Angelegenheit, die sich in den verschiedenen Religionen nur unterschiedlich artikuliert. Die Gemeinsamkeit zu entdecken ist sein Appell für die Zukunft. Den Christen misst Reimarus allerdings eine Vorreiterrolle zu, da sie in unvergleichlicher Weise in Christus einen vorbildlichen Lehrer der Vernunftreligion aufzuweisen haben. Die vernünftige Religion ist . . . die Grundveste aller Religionen, und von Heyden, Juden, Christen, Türken, als wahr und unleugbar erkannt. Wenn auch irgend eine Religion die Haupt-Artikel der Vernünftigen nicht kennete oder leugnete und etwas denselben widersprechendes lehrete: so würden alle ihre Geheimnisse, Stiftungen und Gebräuche, welche sie als aus einer Offenbarung, hinzufügen wollte, nicht bestehen, noch den Namen einer Religion verdienen können. Daher wäre es zu wünschen, daß insonderheit Christen, nach dem Beyspiel ihres großen Lehrmeisters, die vernünftige Religion und ihre Pflichten mehr trieben, und ihr zuvörderst in dem Catechismo, nebst den Glaubens-Lehren so viel Platz gönneten, daß Kinder zuvor von Gott und göttlichen Dingen vernünftige Begriffe bekämen, ehe sie Geheimnisse zu glauben und dem Gedächtnisse einzuprägen angewiesen würden. (667 f.) &

D. Klein, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk, Tübingen 2009

2.2 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus Keiner hat je den Versuch angestrengt, den un- Als Biblizist war Heinrich E. G. Paulus (1761– angetasteten biblischen Textbestand so restlos ei1851) ein führender Vertreter des ner vernünftigen Erklärung zu unterwerfen, wie Rationalismus, der sich insbesondere durch den konsequenten Versuch ausgezeichnet dies von Heinrich E. G. Paulus unternommen hat, die Wunder rational zu erklären, was worden ist. Es waren gleichsam zwei Seelen in nicht selten zu merkwürdigen seiner Brust, die er miteinander zu versöhnen Gedankenkonstruktionen geführt hat. versucht hat. Einerseits wollte Paulus den biblischen Text verteidigen, um den etwa Reimarus (% § 3,2.1) treffenden Vorwurf zu widersprechen, die Rationalisten nähmen die Bibel nicht ernst und legten sie sich mit ihrer Kritik so zurecht, wie sie es jeweils für erforderlich halten. Ausdrücklich weist er deshalb jede Bibelkritik zurück. Andererseits wollte er aber auch dem Anliegen des Rationalismus gerecht werden und zeigen, dass die Bibel von der Vernunft keinerlei Zugeständnisse verlange, sondern restlos von ihr – mit entsprechendem Bemühen – im Horizont natürlicher Verstehenszusammenhänge verstanden werden kann – einschließlich all der in der Bibel überlieferten Wunder. Eine widerspruchsfreie wissenschaftliche Erklärung sollte gegeben werden, ohne dabei auf spekulative Argumentationen ausweichen zu müssen (in seiner Auseinandersetzung mit Schelling hat Paulus seine Ablehnung des Idealismus dargelegt). Die Vernunft wird streng im Sinne von Verstand in Anspruch ge-

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nommen, der sich auf die Rekonstruktion der jeweils in Frage stehenden Ereignisse beschränkt. Die Durchführung dieses kühnen Vorhabens dokumentiert zugleich sein Scheitern, das sich besonders in den zahlreichen Skurrilitäten zeigt, zu denen Paulus greifen muss, um sein Vorhaben voranzutreiben.5 Das systematische Profil seines Konzepts wird programmatisch im Titel des 1825 erschienenen Buches Der Denkgläubige angezeigt. Denken und Glauben sollen weder gegeneinander gestellt werden, noch in Konkurrenz miteinander gebracht werden. Vielmehr will Paulus zeigen, wie sich das Wahre aus beiden vereinige und ein für Verständige glaubwürdiges Ganzes bilde, indem das Denken zum Glauben an das Glaubwürdige hinführt, das Glauben aber als ein seiner Gültigkeit aus Gründen bewußtes Fürwahrhalten das Nachdenken unterstützt und durch Wollen und Handeln ins Leben hinüber leitet.6

Paulus sucht einen Weg jenseits von Aberglaube und Unglaube. Wenn er diesen Weg als vernünftig bezeichnet, dann grenzt er sich sowohl von übervernünftiger (superrationaler) als auch von unvernünftiger (irrationaler) Argumentationsweise ab. Es geht um das Erfassen des Übervernünftigen durch die Vernunft. Glaube wird als Hingebung definiert, aber „es darf, wenn es nicht trügliche Leichtgläubigkeit sein soll, nur eine Hingebung sein an die Leitung des Verstandes“ (97). Paulus will das Übervernünftige nicht auflösen und in Vernünftiges umformen und auf diese Weise einen gravierenden Eingriff vornehmen, sondern es geht ihm um die Harmonie zwischen Vernunft und Glaube, die sich gegenseitig ergänzen und stärken. Nur wenn wir erst aus Gründen gewiß sind, daß etwas (ursächliches) als wirklich sein muß, so halten wir diese Wirklichkeit als wahr fest, oder wir glauben sie sogar, alsdann, wenn wir die Weise, wie es sei und wie es wirke (sich als wirklich zeige) nicht wissen zu können einsehen. Mit einem Wort: Erst der, welcher über das unmittelbare Bewußtsein, das uns nur die Erscheinung eines innern Zustandes gibt, nachdenkend weiß, daß eine Welt, außer ihm selbst, sein und so sein muß, daß gewisse Erscheinungen in ihm von diesem Dasein der Außenwelt abhängen – ohne dasselbe nicht wären. Wäre dieses Wissen zugleich ein Wissen, wie jene Außenwelt, die da sein muß, an sich sei und wie sie mit unsern Vorstellungsgegenständen in Verbindung stehe, so würde gar nicht vom Glauben die Rede sein. Alles, was wir darüber dächten, wäre dann lauter Wissen oder ein Gewißsein aus hinreichenden Erkenntnisgründen. Dies aber ist nicht. Wir wissen vielmehr, daß wir uns das An-sich der Außenwelt und wie sie uns zu Erscheinungen oder zum inneren Gegenstand wird, nie zuverlässig vorstellen können. Was wir also nicht sehen, nicht erfahren zu können voraussetzen, dessen Wirklichkeit halten wir dennoch als wahr fest und glauben sie. (96 f.)

Zugleich hüten wir uns vor Aberglauben, insofern nur das, was wir über die Wirklichkeit der Außenwelt denken mußten, glaubend festhalten, nun aber nicht uns bereden, daß wir auch noch das, was durch das 5 Vgl. Das Leben Jesu als Grundlage der einen Geschichte des Christentums, Bd. 1–2, Heidelberg 1828; Exegetisches Handbuch über die ersten drei Evangelien, Bd. 1–3, Heidelberg 1830–33.

6 Der Denkgläubige, Heidelberg 1825, 11.

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denkende Betrachten unsers Bewußtseins nicht erreichbar war (nämlich das Wissenwollen, wie die Außenwelt sei und wie sie in uns wirke) etwa durch das Glauben zu erreichen und zu erfassen vermöchten. Wir machten vielmehr hier das erstemal die – nur allzu oft anwendbare und vielumfassende – Bemerkung, daß das Abergläubigsein dort anfange, wo man nicht zufrieden ist, dem Denken, ungeachtet seiner Beschränktheit, soweit es reicht, vertrauensvoll zu glauben, bei demselben aber auch, als dem einzig gewiß gewordenen stehen zu bleiben; dort, wo man vielmehr, einer für das Praktische unnützen und an sich unbescheidenen Neugierde nachgehend, sich beredet, das, was durch das Denken nicht zu erreichen ist, dennoch durch ein Festhalten weiterer Vermutungen eben so fest machen zu können. Der Aberglaube fängt an, wo das Glauben über die Grenzen des Denkens (des Gründewissens, des Wissens: warum!) hinausgeht und die Lücken des Denkens durch das bloße Festhalten eingebildeter Möglichkeiten auszufüllen behauptet. Das Denken führt sicher zum Glauben. Wer glaubt, hält das durch das Denken erreichbare und glaubwürdig gewordene als wahr fest. Das eigentümliche des Glaubens besteht nicht in einem Abweisen von dem Denkbaren oder im Mehrwissen, als nach Erfahrungen und Schlüssen denkbar und dadurch glaublich wird. Im echten Glauben ist das Eigentümliche nur dieses, daß das seinen Denkkräften vertrauende Gemüt nun die wohlüberlegte Resignation hat, sich dem Gedachten zuversichtlich hinzugeben und redlich danach zu handeln, wenn es gleich weiß, wie manches es darüber noch wissen möchte, aber vermittelst seiner menschlich wirkenden Kräfte weder selbst noch durch andere, die doch auch nur als Menschen denken können, zu wissen nicht vermöge. (106 f.) Auch wer, statt denkgläubig werden zu wollen, auf umgekehrten Wege ein gläubigdenkender zu sein, das ist, vom vorgefaßten Glauben zum (künstlich dialektischen) Denken zu gehen, für nötig, oder wenigstens – aus (vermeintlicher) Demut – für ratsamer halten möchte, kann allerdings sehr gutmeinend sein. Immer aber setzt er sich in Gefahr, weil er das Denken nicht zum voraus zum Leiter nimmt, sich leicht mancherlei Aberglauben und der Gottheit unwürdiges Meinen anzugewöhnen, sich im vorgefaßten Irrwahn, als in Voraussetzungen, die keiner Prüfung mehr anzusetzen wären, fest zu verstricken, und dagegen die bedeutenden Schwierigkeiten, die das Richtigdenken für den Ungeübten hat, sich nicht aufhellen zu können. (164)

Der Glauben ist eine Art Affirmationsinstanz zur Vergewisserung der Wirklichkeitsfähigkeit des denkenden Verstandes. Solange der Glauben dem Denken die Treue hält, sichert dieses ihm umgekehrt sein ausweisbares Begründetsein. Das Modell ist so konzipiert, dass sich Denken und Glauben gleichsam gegenseitig auf die Beine helfen, und zwar genau da, wo sie jeweils offenkundig schwächeln und somit angreifbar bleiben. Der Glauben trägt im Grunde inhaltlich nicht wirklich etwas zur Erkenntnis bei, wohl aber gibt er ihr eine Standfestigkeit, die sie von sich aus niemals erreichen könnte. Umgekehrt wird das Denken nicht dazu gezwungen, sich zu überheben und mehr als den Verstand an sich zu binden, sodass es auch zu weiterer Vertiefung und selbstkritischer Differenzierung frei bleibt, denn die ins Auge zu fassenden Bindungen und Verpflichtungen werden nicht von seinen Gesetzen bestimmt, sondern gehören in das Reich des Glaubens. Den Vorrang des Denkens vor dem Glauben demonstriert Paulus am Beispiel des Zornes bzw. Eifers Gottes: Einerseits muss Gott, wenn er das Gute ernsthaft will, das Böse abweisen, d. h. der Eifer, den Gott zur Abweisung des Bösen aufbringt, wird zur Vollkommenheit Gottes zu rechnen sein. Doch dann stellt sich sofort eine ande-

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re Frage ein, nämlich ob Gott in seinem Eifer mit Heftigkeit und Leidenschaft agiert? Heftigkeit und Leidenschaft stehen nach Paulus vollkommen der Würde Gottes entgegen. Und so kommt es schließlich dazu, das der ‚eifrige Gott‘ denkgläubig so vorzustellen ist, dass er nicht in einen Widerspruch mit seiner göttlichen Vollkommenheit gerät. Dann wird der Denkgläubige abergläubische Attribute von Gott fernhalten und somit dem rechten Verständnis auf die Spur kommen, d. h. die Vorstellung des Glaubens muss durch das Denken so weit gereinigt werden, dass der Glaube nicht an gottunwürdige Vorstellungen gebunden wird. Aber ohne vernünftige oder rationale Glaubensberichtigung würde es [das Volk, M. W.], wie gewöhnlich, einen leidenschaftlich zürnenden Gott glauben, den es dann auch wie einen leidenschaftlichen oder dadurch unvollkommenen Menschen nur zum Schein zu achten und durch allerlei Schein zu gewinnen, das heißt, täuschen zu wollen fortfahren würde; wie dieses in dem Unvernunftglauben aller Zeiten zu beobachten ist und von der pfäffisch täuschenden Bigotterie irrational genug, aber aus wohlbekannten Absichten, sogar noch oft zum Christenglauben gerechnet und in denselben eingeschwärzt wird. (16) Weitere Hauptschriften des Rationalismus: J. H. Tieftrunk, Einzigmöglicher Zweck Jesu, aus dem Grundgesetze der Religion entwickelt, 2., vermehrte Aufl., Berlin 1793; H. Ph. K. Henke, Lineamenta institutionum fidei Christianae historico-criticarum, Helmstedt 1793; Fr. J. Niethammer, Versuch einer Begründung des vernunftmäßigen Offenbarungsglaubens, Leipzig/Jena 1798; J. Fr. Röhr, Briefe über den Rationalismus, Aachen 1813; als theologisches Lehrbuch des Rationalismus kann gelten: J. A. L. Wegscheider, Institutiones theologiae christianae dogmaticae [1815], Leipzig 81844 (n. d. 6. Aufl. übers. v. Fr. Weiß, Leipzig 1831).

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Auf dem Höhepunkt seines Wirkens schreibt Schleiermacher ein Sendschreiben – einen offenen Brief – an seinen Schüler, Freund und Kollegen Friedrich Lücke, in dem er über die weitere theologische Entwicklung insbesondere für das evangelische Christentum auf dem Hintergrund der sich verändernden kulturellen Gesamtlage nachdenkt. Er beklagt die Abkoppelung der Theologie von den sich weiter entwickelnden Wissenschaften, die bereits von Zeit zu Zeit einem „Bombardement des Spotts“ ausgesetzt sei, sodass sich ihm die – dann immer wieder zitierte – Frage aufdrängte: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen; das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“7 Nur wenn der Glaube kon-

Als der wohl einflussreichste Theologe des 19. Jahrhunderts hat Friedrich D. E. Schleiermacher (1768–1834) der Theologie neben den Naturwissenschaften und der Philosophie zu einem eigenständigen Weg verholfen, der weniger an den Vorgaben der Tradition als vielmehr an den dem modernen Menschen gebliebenen Glaubensmöglichkeiten orientiert ist.

7 Zweites Sendschreiben über die Glaubenslehre an Dr. Lücke [1829], in: Sämtliche Werke, Erste Abteilung, Bd. 2, Berlin 1836, 605–653, 614.

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

sequent unter den Bedingungen des modernen Menschen reflektiert werde, ist der in der Frage steckenden These zu entkommen. Die traditionelle an den Loci orientierte Dogmatik ist durch eine Glaubenslehre zu ersetzen, in welcher der christliche Glaube auf eine Weise von sich selbst Rechenschaft ablege, die weder durch historische Bindungen – wie beispielsweise den Kanon oder dem jüdischen Ursprung des Christentum – noch durch spekulative Anstrengungen bestimmt sein sollte, sondern als eine Reflexion des religiösen Selbstbewusstseins innerhalb der Kirche vorzunehmen sei. Theologie habe sich neu zu konstituieren als die kritische Selbstreflexion des christlichen Frömmigkeitsbewusstseins. Richtungweisend war für Schleiermacher seine Neubestimmung des Religionsverständnisses, das er bereits 30 Jahre vorher vorgetragen hat und das zeitlebens für ihn bestimmend blieb, auch wenn sich verschiedene terminologische Veränderungen eingestellt haben. Einerseits ging es ihm um eine spezifisch theologische Bestimmung der Religion, die sich nicht damit zufrieden geben darf, die philosophischen Einsichten über ein allgemeines Religionsverständnis zu wiederholen, und andererseits musste dieses Religionsverständnis aber doch so allgemein sein, dass es nicht nur von denjenigen verstanden werden konnte, die sich bereits positiv mit ihr arrangiert haben. Schleiermacher gibt sich nicht damit zufrieden, dass nun die Philosophen die Ebene der Allgemeinheit für sich reserviert haben und verteidigt seinerseits entschlossen die Theologie auf dem Feld der Allgemeinheit: Das spezifisch Theologische wird mit dem gleichen Anspruch an Allgemeingültigkeit vorgetragen wie das philosophische Argument. Schleiermacher wendet sich vor allem an die Menschen, die sich entweder längst von der Religion abgewandt haben oder eben im Begriffe stehen, sich von ihr zu lösen. Das macht bereits der Titel seiner Religionsschrift deutlich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Angesprochen werden sollte der moderne aufgeschlossene Zeitgenosse, der sich über die Religion erhaben weiß. Von alters her ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen, von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden, . . . Jetzt besonders ist das Leben der gebildeten Menschen fern von allem, was ihr auch nur ähnlich wäre. Ich weiß, daß Ihr eben so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht, daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgötter gibt, als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter, und daß Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn Ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem Gemüte Besitz genommen haben, daß für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm. Es ist Euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben, an dasjenige zu denken, welches Euch schuf. Ihr seid darüber einig, ich weiß es, daß nicht Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann über diese Sache, die von Philosophen und Propheten, und dürfte ich nur nicht hinzusetzen, von Spöttern und Priestern, nach allen Seiten zur Genüge bearbeitet ist. Am wenigsten – das kann niemandem entgehen – seid Ihr geneigt, von den letzteren darüber etwas zu hören, welche sich Eures Vertrauens schön längst unwürdig gemacht haben, als solche, die nur in den verwitterten Ruinen des Heiligtums am liebsten wohnen, und auch

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dort nicht leben können, ohne es noch mehr zu verunstalten und zu verderben. Dies alles weiß ich, und bin dennoch von einer innern und unwiderstehlichen Notwendigkeit, die mich göttlich beherrscht, gedrungen, zu reden, und kann meine Einladung, daß gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurücknehmen.8

Die empathische Zeitdiagnose ist eine wichtige Voraussetzung für Schleiermachers Neufassung des Religionsverständnisses. Sie hat bis heute ihre Aktualität nicht verloren. Kunst und Wissenschaft sind für den modernen Menschen ebenso zureichend wie das Diesseits als der Ort der Lebenserfüllung. Die Frage nach der Ewigkeit bewegt die Menschen nicht mehr, weil sie ganz in der Zeit aufgehen. Die Kirche ist von einem Geruch von Gestrigkeit und Unverbesserlichkeit umwittert, sodass sie kaum mehr als beiläufige Aufmerksamkeit zu wecken vermag. Schleiermacher benennt diese Situation klar und nüchtern und durchaus verständnisvoll. Es ist erkennbar, dass es für ihn durchaus nachvollziehbar ist, warum es einen drastischen Niedergang der überkommenen Religion zu registrieren gibt. Aber Schleiermacher möchte sich mit dieser Entwicklung nicht einfach abfinden. Allerdings kann eine Lösung nicht darin bestehen, diese verloren gegangenen modernen Menschen einfach wieder zurückzurufen, indem sie mit dem Vorwurf konfrontiert werden, dass sie es sich zu leicht machen würden. Vielmehr möchte er ihnen die Religion in einem anderen als dem gewohnten Gewande vorstellen und bittet nun um die Aufmerksamkeit, dies tun zu dürfen in der Überzeugung, dass sich diese neu gefasste Religion selbst empfehlen werde. Grundlegend für diese Empfehlung ist, dass sie nicht von einer Forderung an die Hörerinnen und Hörer ausgeht, sondern ihre Kirchenferne akzeptiert, um ihnen dennoch die Religion als eine Bereicherung auch des Lebens eines aufgeklärt gebildeten Zeitgenossen anzubieten. Entschieden setzt sich Schleiermacher von der religionskritischen Position ab, dass die Religion etwas für das ungebildete Volk sei. Das Gegenteil sei der Fall, denn dem einfachen Volk fehlt schon schlicht der Müßiggang, um sich mit den edlen Höhen des Heiligtums der Religion zu beschäftigen. „Nur Euch also kann ich zu mir rufen, die Ihr fähig seid, Euch über den gemeinen Standpunkt der Menschen zu erheben, die ihr den beschwerlichen Weg in das Innere des menschlichen Wesens nicht scheuet, um den Grund seines Tuns und Denkens zu finden.“ (30) Schleiermacher ist durchaus bereit, den Gebildeten in ihrer Verachtung der Religion recht zu geben, doch er führt diese Verachtung auf die pervertierte Gestalt zurück, in der ihnen die Religion bisher begegnet ist. Und so fordert er nun die Gebildeten auf, von allem abzusehen, was ihnen bisher als Religion begegnet ist. Dabei bezieht er ausdrücklich die aufklärerischen Bestimmungen der Religion als Stütze für Recht und Ordnung im Staate oder als Basis der Moral mit ein: Besorget nur nicht, daß ich am Ende doch noch zu jenen gemeinen Mitteln meine Zuflucht nehmen möchte, Euch vorzustellen, wie notwendig sie sei, um Recht und Ordnung in der Welt zu erhalten, und mit dem Andenken an ein allsehendes Auge und eine unendliche Macht der Kurzsichtigkeit menschlicher Aufsicht und den engen Schranken menschlicher Gewalt zu 8 Über die Religion [1799], 18 f.

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Hilfe zu kommen; oder wie sie eine treue Freundin und eine heilsame Stütze der Sittlichkeit sei, indem sie mit ihrem heiligen Gefühlen und ihren glänzenden Aussichten den schwachen Menschen den Streit mit sich selbst und das Vollbringen des Guten gar mächtig erleichtere. So reden freilich diejenigen, welche die besten Freunde und die eifrigsten Verteidiger der Religion zu sein vorgeben; ich aber will nicht entscheiden, gegen wen in dieser Gedankenverbindung die meiste Verachtung liege, gegen Recht und Sittlichkeit, welche als eine Unterstützung bedürftig vorgestellt werden, oder gegen die Religion, welche sie unterstützten soll, oder gegen Euch, zu denen also gesprochen wird. (36 f.)

Es wird deutlich, dass Schleiermacher sich einen Weg für die Religion bahnen will, der jenseits der Ethik verläuft. Damit geht er auf Distanz zu dem zentralen Bestimmungsmoment des aufklärerischen Religionsverständnisses, nach dem die Religion individuell der Sittlichkeit und gesellschaftlich dem gemeinschaftlichen Frieden zugeordnet wird. Neben dieser wird noch eine zweite Abgrenzung für Schleiermacher wesentlich: die Abgrenzung von der Metaphysik als der spezifischen Aufgabe der Philosophie, die in ihrem Denken unausweichlich auf die Spekulation angewiesen ist. Er bestreitet damit in keiner Weise die Wichtigkeit von Ethik und Spekulation, aber sie sind weder als die spezifischen Charakteristika der Religion zu annoncieren, noch sind sie dazu in der Lage, dem menschlichen Leben den Grund zu geben, den es in der recht verstandenen Religion finden kann. Folgende Grundbestimmungen gibt Schleiermacher der Religion: Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. (49) So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beiden hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. (50) Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. (51) Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genaueste bestimmen lassen. Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird. (52)

Moral und Metaphysik haben die Religion zänkisch gemacht, die Anschauung bringt sie zurück zu ihrem wahren Wesen. Aus der Wahrnehmung unserer Partikularität, die auch für unsere Anschauung des Universums gilt, resultiert eine fundamentale Duldsamkeit bzw. Demut, die für das vorgeschlagene Religionsverständnis wesentlich ist. Schleiermacher geht davon aus, dass jeder Mensch ein Gespür da-

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für habe, dass die stärksten Gefühle, die einen Menschen bewegen, nicht einfach von irgendwelchen Gegenständen erregt werden, sondern dass sie von einer außer uns liegenden Macht geweckt werden, d. h. von dem nicht näher bestimmten Universum ausgehen. So wie sich das Universum im Menschen impressiv macht, so gestaltet sich auch die individuelle Religion des Menschen. Im Inneren des Menschen bildet sich gleichsam ein Universum ab und etabliert die Religion im Gemüt des Menschen. Im Gegenüber zum Universum steht der Mensch jedoch nicht allein, sondern hier finden die Menschen zusammen, hier bildet sich Menschheit, die dann auch eine über die Individualität hinausreichende Religion ausbildet: „Zur Menschheit also laßt uns hintreten, da finden wir Stoff für die Religion.“ (73) Im Menschen selbst bildet sich all das ab, was auf ihn einwirkt, sodass der Mensch eben auch die Religion in sich selbst findet. Glauben, was man gemeinhin so nennt, annehmen, was ein anderer getan hat, nachdenken und nachfühlen wollen, was ein anderer gedacht und gefühlt hat, ist ein harter und unwürdiger Dienst, und statt das Höchste in der Religion zu sein, wie man wähnt, muß er gerade abgelegt werden von jedem, der in ihr Heiligtum dringen will. Ihn haben und behalten wollen, beweiset, daß man der Religion unfähig ist; ihn von andern fordern, zeigt, daß man sie nicht versteht. Ihr wollt überall auf Euren eigenen Füßen stehn und Euren eigenen Weg gehn, aber dieser würdige Wille schrecke Euch nicht zurück von der Religion. Sie ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch selbst angehören, ja, dies ist sogar die einzige Bedingung, unter welcher Ihr ihrer teilhaftig werden könnt. (92)

Von der Anerkennung des menschlichen Selbstständigkeitsbedürfnisses versucht Schleiermacher nun auch eine Brücke zur Tradition und ihrer Bedeutung zu schlagen. Dabei geht es nicht darum, gleichsam durch die Hintertür wieder eine bindende Autorität zu installieren, sondern er versucht die Tradition so zu präsentieren, dass sie unter dem Aspekt zu beurteilen sei, welche Hilfestellungen ihr entnommen werden können. Jeder Mensch, wenige Auserwählte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers, der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung gebe, aber dies soll nur ein vorübergehender Zustand sein; mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zutage fördern zu den Schätzen der Religion, sonst verdient er keinen Platz in ihrem Reich und erhält auch keinen. Ihr habt recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem andern ableiten, oder an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum, der Religion ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte. (92 f.)

Religion kann und darf niemandem aufgedrängt werden – das widerspräche ihrem Wesen. Auf den menschlichen Geist kann man einwirken, aber nicht auf das Gemüt

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

des Menschen. „Darum ist jedem, der die Religion so ansieht, Unterricht in ihr ein abgeschmacktes und sinnleeres Wort.“ (103) Eine ihres Begriffs würdige Religion entwickelt sich von selbst, da sich in jedem Menschen dazu die Anlage findet. Die jetzigen Religionsverwalter, eben auch die Protagonisten der Aufklärung (Neologen und Rationalisten), hindern mit ihrem Eifer mehr die Entfaltung der im Menschen liegenden Religion, als dass sie diese befördern. Wer hindert das Gedeihen der Religion? Nicht die Zweifler und Spötter; wenn diese auch gern den Willen mitteilen, keine Religion zu haben, so stören sie doch die Natur nicht, welche sie hervorzubringen will; auch nicht die Sittenlosen, wie man meint; ihr Streben und Wirken ist einer ganz andern Kraft entgegengesetzt als dieser; sondern die verständigen und praktischen Menschen, diese sind in dem jetzigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion, und ihr großes Übergewicht ist die Ursache, warum sie eine so dürftige und unbedeutende Rolle spielt. Von der zarten Kindheit an mißhandeln sie den Menschen und unterdrücken sein Streben nach dem Höheren. (106)

Schleiermacher stellt die Religion an die Seite der Kunst und bringt sie damit in eine Verwandtschaft zur Ästhetik: „Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen.“ (120 f.) Um die Religion ganz und gar in das Leben der Menschen hineinzustellen, hebt Schleiermacher ihre wesentliche Geselligkeit hervor und stellt diese dem überkommenen Gelehrtentum und seiner akademischen Praxis gegenüber. Religion zielt auf lebendige Mitteilung und lebendigen Austausch. Aber religiöse Mitteilung ist nicht in Büchern zu suchen, wie etwa andre Begriffe und Erkenntnisse. Zu viel geht verloren von dem ursprünglichen Eindruck in diesem Medium, worin alles verschluckt wird, was nicht in die einförmigen Zeichen paßt, in denen es wieder hervorgehen soll, wo alles einer doppelten und dreifachen Darstellung bedürfte, indem das ursprüngliche Darstellende wieder müßte dargestellt werden und dennoch die Wirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit nur schlecht nachgezeichnet werden könnte durch vervielfältigte Reflexion; nur wenn sie verjagt ist aus der Gesellschaft der Lebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen in toten Buchstaben. (128)

Als Lebensausdruck bringt die Religion einen eigenen Anspruch mit sich, der sich nicht einfach im Vorübergehen und beiläufig einlösen lässt, sondern einer eigenen ausdrücklichen Wahrnehmung und Pflege bedarf. Indem die Religion auf das Innerste des Menschen zielt, gilt ihr eine eigene Sensibilität, die auch bereit ist, ihre eigenen Grenzen und Verlegenheiten wahrzunehmen und sich dann auch einzugestehen. Religion ist keine einfach zur Verfügung stehende und somit selbstverständlich handhabbare Lebenspraxis oder gar eine bestimmte Lebenstechnik, sondern sie tangiert stets den ganzen Menschen und bedarf deshalb einer spezifischen Behutsamkeit. Schleiermacher hebt unter den verschiedenen Äußerungs- und Darstellungsformen des Menschen die sprachliche Mitteilung hervor, die in besonderer Weise dazu in der Lage ist, die Tiefe ihres Anspruchs zu wahren. Religiöse Ansichten, fromme Gefühle und ernste Reflexionen darüber kann man sich auch nicht so in kleinen Brosamen einander zuwerfen, wie die Materialien eines leichten Ge-

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sprächs: wo von so heiligen Gegenständen die Rede wäre würde es mehr Frevel sein als Geschick, auf jede Frage sogleich eine Antwort bereit zu haben, und auf jede Ansprache eine Gegenrede. In dieser Manier eines leichten und schnellen Wechsels treffender Einfälle lassen sich göttliche Dinge nicht behandeln: in einem größeren Stil muß die Mitteilung der Religion geschehen, und eine andere Art von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist, muß daraus entstehen. Es gebührt sich, auf das Höchste, was die Sprache erreichen kann, auch die ganze Fülle und Pracht der menschlichen Rede zu verwenden, nicht als ob es irgend einen Schmuck gäbe, dessen die Religion nicht entbehren könnte, sondern weil es unheilig und leichtsinnig wäre, nicht zu zeigen, daß alles zusammen genommen wird, um sie in angemessener Kraft und Würde darzustellen. Darum ist es unmöglich, Religion anders auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend den Dienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können. (129)

Mit der protestantischen Tradition hebt Schleiermacher das Priestertum aller Glaubenden hervor, nach dem alle Glaubenden für die anderen in vollem Sinne Einweisung und Vorbild für die Religion sein können. Faktisch finden sich allerdings in der Kirche derzeitig mehr Menschen ohne wirkliche Religion, sodass sich auch wenig religiöse Vorbilder antreffen lassen. Schleiermacher kann sogar davon sprechen, dass die Kirche zum Ersatz von Religion geworden sei, d. h. sie ersetzt lediglich auf unzureichende und irreführende Weise das, was die Religion den Menschen geben sollte. Diese skeptische Diagnose erdrückt jedoch nicht die Hoffnung auf eine erneuerte Kirche, in der die Religion wieder ihren Ort und ihre Gemeinschaft findet. Rechte Kirche wird als eine Institution für Lehrlinge der Religion verstanden. Um aber die zur Ausfüllung dieser Rolle erforderliche Freiheit erlangen zu können, müsse die Kirche vollkommen vom Staat getrennt werden. Schleiermacher bewegt sich ihm Rahmen des Konsenses seiner Zeit, wenn er dem Christentum unter den Religionen den höchsten Rang bescheinigt. Dabei legt er – wie sollte es anders sein – seine Religionsdefinition zugrunde. In keiner anderen Religion kommen die Bestimmungen der Religion, wie er sie vorgetragen hat, in so idealisierter Gestalt in den Blick wie im Christentum. Zwar bleibt auch einzuräumen, dass historisch das Christentum auch zur Trübung der rechten Religion beigetragen habe, aber in seiner Tradition liegt alles verborgen, was zur Ausgestaltung einer dem Menschen angemessenen Religion erforderlich ist. Der entscheidende Punkt liegt in der den christlichen Glauben prägenden Freiheit, deren Dialektik es zu verstehen gilt. Die Anschauung des Universums und das Beeindrucktsein von ihm, worin sich – wie gezeigt wurde – das Grundwesen der Religion zeigt, beschreibt Schleiermacher später in seiner Glaubenslehre als Abhängigkeitsgefühl. In seinem Grundbestand ist Glaube als frommes Selbstbewusstsein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl.9 Im Unterschied zu allen anderen Religionen wird in der christlichen Religion der Glaube als Abhängigkeitsbewusstsein zugleich als das spezifische Freiheitsbewusstsein bestimmt. Die Quelle meiner gefühlten Ab9 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube [1830/31], hg. v. M. Redeker, Berlin/New York 1999.

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

hängigkeit ist zugleich die Quelle meiner Freiheit, die mir in meiner Frömmigkeit zu Bewusstsein kommt. Da wo dem Menschen am deutlichsten seine Grenzen vor Augen gerückt werden, erfährt er die Ermöglichung seiner Freiheit. Eben dies lässt sich an Jesus als der Zentralfigur des Christentums in vorzüglicher Weise in den Blick nehmen: Wenn ich das heilige Bild dessen betrachte in den verstümmelten Schilderungen seines Lebens, der der erhabene Urheber des Herrlichsten ist, was es bis jetzt gibt in der Religion: so bewundere ich nicht die Reinigkeit seiner Sittenlehre . . . nicht die Eigentümlichkeit seines Charakters . . . aber das wahrhaft Göttliche ist die herrliche Klarheit, zu welcher die große Idee, welche darzustellen er gekommen war, die Idee, daß alles Endliche höherer Vermittlung bedarf, um mit der Gottheit zusammenzuhängen, sich in seiner Seele ausbildete. . . . Laßt uns die lebendige Anschauung des Universums, die seine ganze Seele erfüllte, nur so betrachten, wie wir sie in ihm finden, zur Vollkommenheit ausgebildet. . . . Aber nie hat er behauptet, das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein, und nie hat er seine Schule verwechselt mit seiner Religion – er mochte es dulden, daß man seine Mittlerwürde dahingestellt sein ließ, wenn nur der Geist, das Prinzip, woraus sich seine Religion in ihm und andern entwickelte, nicht gelästert ward . . .10

Jesus erscheint als vorbildlicher Lehrer einer Frömmigkeit, welche die Grenzen dessen, was in der christlichen Tradition bisher gegolten hat, souverän überschreitet. In der Bibel lassen sich entsprechende Orientierungen finden, die aber prinzipiell durch andere Vermittlungen ersetzt werden können; ihr kommt im strengen Sinne keine normative Bedeutung zu. Der Ton liegt stets auf der Frömmigkeit selbst und nicht auf den Medien, die diese hervorrufen und ausbilden helfen. Wenn Schleiermacher seine Dogmatik als Glaubenslehre vorträgt, soll diese folgenreiche Akzentverschiebung von den überkommenen Glaubensinhalten und der Verpflichtung, diese treu zu bewahren, hin zu dem anthropologisch bestimmten Ermöglichungshorizont eines tatsächlich religiösen Glaubens angezeigt werden. Er teilt mit der sonstigen Rezeption der Aufklärung den für die Religion zu erhebenden Anspruch auf Allgemeingültigkeit, gibt der Religion aber einen spezifischen Akzent, der für die Kirche und die Theologie und indirekt auch die anderen Religionen ein von der Staatsraison und der Philosophie unabhängiges eigenes Terrain sichert. Das eingangs erwähnte Sendschreiben an Fr. Lücke lässt erkennen, dass mit der Apologetik von Schleiermacher eine eigene gesellschaftspolitische und kritische kulturstrategische Option verbunden ist, die sich gegen die sich ausbreitende Verödung eines entleerten Lebens und vor allem Zusammenlebens stellt und einer ausschließlich an den empirischen Wissenschaften bemessenen Orientierung entgegenwirken will. &

U. Barth / C.-D. Osthövener (Hg.), 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft. Halle, 14.–17. März 1999, Berlin / New York 2000 M. Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996

10 Über die Religion, 199–201.

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4. Philipp Konrad Marheineke Es liegt in der Konsequenz der Entscheidung in § 2.1, den Idealismus als den Schlusspunkt des aufklärerischen Religionsverständnisses zu thematisieren, wenn nun die theologische Rezeption dieses aufklärerischen Aufbruchs nicht mit der wirkungsgeschichtlich herausragenden Konzeption von Schleiermachers Religionsverständnis, sondern mit einem wirkungsgeschichtlich nur wenig rezipierten Vorschlag abgeschlossen wird, der in möglichst konsequenter Weise versucht hat, insbesondere die Hegel’sche Philosophie für die Theologie fruchtbar zu machen. Marheineke reagiert ebenso wie Schleiermacher auf die um sich greifende Distanzierung insbesondere der Gebildeten von der Kirche. Er setzt ihr jedoch nicht die Entdeckung eines ästhetisch-erbaulichen Religionsbegriffs entgegen, mit dessen Hilfe der Überdruss an dem kirchlich gepflegten dogmatischen Traditionalismus im Interesse des die Tiefe seiner Existenz erfassenden, im besten Sinne kulturbeflissenen Zeitgenossen überwunden werden könne, sondern er setzt auf eine Rehabilitierung der Theologie durch den Erweis ihrer am Verstehen orientierten Wissenschaftlichkeit. Rationalismus und Supranaturalismus sollen nicht durch das Gefühl auf eine höhere Ebene gebracht werden, sondern es gilt das theologisch unausweichliche Moment der Offenbarung geschichtlich in einer Weise zu denken, die sowohl ihrem spezifischen Charakter als auch den Möglichkeiten des menschlichen Verstehens in überzeugender Weise gerecht wird. Wo Schleiermacher in seiner subjektivitätstheoretischen Perspektive gerade eine fundamentale Differenz der Theologie zur Philosophie etabliert, bemüht sich Marheineke in seiner spekulativen Theologie um den Nachweis einer essenziellen Stimmigkeit zwischen beiden. Der seinerzeit allseits erhobene Anspruch auf Verstehen führt in seiner Vorstellung zu einem mit der Reformation vergleichbaren Perspektivenwechsel, in dem die Religion ihren Frieden mit der Vernunft zu schließen versucht.

Im konsequenten Anschluss an Hegel unterbreitet Philipp K. Marheineke (1780– 1846) eine Konzeption für die Theologie, in der Glauben und Wissen jenseits von Supranaturalismus, Rationalismus und Gefühlsreligion miteinander versöhnt werden.

Was nun der Religion die Vernunft, das ist der Theologie die Philosophie. In der Wissenschaft hat man es mit der Religion nicht blos als dieser subjectiven Empfindung, sondern auch mit einem Inbegriff von Lehren und Wahrheiten zu thun und diese wollen erkannt, bewiesen d. h. begriffen sein, was ohne Philosophie unmöglich ist.11

In der Wissenschaft kann es nicht zureichend sein, sich mit Vorstellungen zufrieden zu geben; vielmehr komme es darauf an, die Inhalte und deren Gehalt zu erfassen.12 Marheineke ging es um die Überwindung des kausal enggeführten Immanentismus des Rationalismus wie auch der assertorischen Disziplinierung der Vernunft durch 11 Einleitung in die öffentlichen Vorlesungen über die Bedeutung der Hegelschen Philosophie in der christlichen Theologie, Berlin 1842, 12.

12 Vgl. ebd., 57 f.

4. Philipp Konrad Marheineke

die kontingente Autorität der Offenbarung, wie sie im Supranaturalismus propagiert wurde. Im Anschluss an Hegel sah er eine begrifflich stringente Perspektive, die sicherstellt, dass die zu denkende Wahrheit dem an sie zu stellenden Objektivitätsanspruch in plausibler Weise gerecht zu werden vermag. Die Offenbarung schützt die Religion, ganz in die Verfügung des Menschen zu geraten oder gar als seine Kreation angesehen zu werden.13 Sie ist der Ausdruck für die dem Menschen gegebene Möglichkeit der Gotteserkenntnis, der er sich dann aber auch zu stellen hat, indem er seine Erkenntnis in den Horizont des Absoluten stellt und von dort aus gleichsam organisiert (das ist die Bedeutung des Spekulativen). Der moderne Skeptizismus beweist weniger die Unmöglichkeit eines Wissens um Gott, sondern allein die Gewissheit der Ungewissheit, die intellektuell niemals befriedigend sein kann, zumal sie implizit – wenn auch mit negativem Vorzeichen – von seiner Möglichkeit ausgeht. Das Religionsverständnis von Marheineke sucht seine Evidenz nicht auf einer der Theologie entgegengestellten Ebene einer abstrakten Verallgemeinerung, sondern in der systematisch-spekulativen Vertiefung der christlichen Wahrheitsperspektive durch den Versuch ihrer konsequenten wissenschaftlichen Bestimmung, in dem es dann – ebenso wie bei Hegel – freilich auch eine über das christliche Selbstverständnis hinausreichende prinzipielle Bedeutung bekommt. Universalität und Objektivität des christlichen Gottesverständnisses lassen sich mit Hilfe der Hegel’schen Dialektik auf eine Weise zur Geltung bringen, dass die Theologie wieder den Anschluss an die Wissenschaft findet, ohne dabei die geschichtlichen Gebrochenheiten und sogar Widersprüche einfach ignorieren zu müssen. Zugleich verhilft diese Philosophie auch der Wissenschaft gleichsam zu einem neuen Format, als sie diese aus ihrem Immanentismus befreit und ihr zu einer auf das Absolute ausgerichteten Perspektive verhilft. Wenn Barth Marheineke schließlich „eine tragische Gestalt“ nennt,14 so deshalb, weil er die redliche theologische Absicht, mit der sich Marheineke mit guten Gründen gegen die Hauptströmungen der Theologie seiner Zeit gestellt hat, dann eben auch in der allzu konsequenten Anlehnung an die Philosophie scheitern sieht. Die Religion steht für die Wirklichkeit und die Wahrheit des Glaubens im Leben des Menschen, die Theologie bedenkt das Wissen dieser Wirklichkeit und Wahrheit, indem sie dieses auf den Begriff zu bringen versucht. Die Religion, welche die Wahrheit an sich ist, hat an und für sich an dem im Glauben mit enthaltenen Wissen genug und bedarf an sich der Theologie nicht, sondern diese bedarf jener, um auch nur anzufangen. Allein sie fängt nicht auch nur an, ohne weiter zu gehen, und den Glauben in sich, als dem Wissen, aufzuheben. Es ist dieses im Glauben und dem Glauben selbst verborgene Wissen, welches in ihr sich entwickelt zu einem Wissen von ihm und welchem der Glaube selbst mit seinem ganzen, reichen Inhalt gegenständlich wird.15 13 Vgl. Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft, 2., völlig neu ausgearbeitete Aufl., Berlin 1827, 18 (§ 32).

14 Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon/Zürich 1947, 443. 15 Grundlehren, 7 (§ 10).

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Die Theologie dient ebenso der Abgrenzung von Aberglauben und Unglauben wie der Versöhnung des Glaubens mit dem Wissen. Die Rede von der Offenbarung kommt darin zu ihrem Sinn, dass sich Gott erkennbar gemacht hat, sodass der Mensch ihn auch tatsächlich erkennen soll, und zwar mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Das Gefühl fällt dabei für Marheineke insofern aus, als es aus der Natur stammend nur Naturgefühl sein kann, das Gott niemals zu erreichen vermag (vgl. 19). Es ist individuell und partikularisiert und führt zur „Auflösung aller Gemeinschaft und gegenseitigen, vernünftigen Verständigung“ (21), weil es ohne die Läuterung durch den Verstand nur zu bloßen Meinungen bzw. zu „Wahngedanken“ und „Gaukelei“ führt (29). Aber auch die abstrakte Rationalität eröffnet noch keine verlässliche Perspektive. „In der Dunkelheit des bodenlosen Gefühls und der Oberflächlichkeit des scharfsinnigen Verstandes ist das Wissen nur erst noch in seiner Möglichkeit, nicht in seiner Wahrheit und Wirklichkeit.“ (37) Im Menschen, so wie er zu Verstande kommt, geht das Sinnliche und Gemüthliche in das Verständige über und dieses ist das Denken, das eigentliche Element der Religion, die, als die wahre, nicht die Religion des Gefühls oder Gemüths, sondern die Religion des Geistes und der Wahrheit ist. (22) Die Wahrheit des religiösen Gefühls ist also nicht dieses, sondern der Gedanke, und dieser in seiner Unmittelbarkeit ein betrachtendes Thun, das an dem in der Religion gegebenen seinen Gegenstand hat. (25)

Indem sich das Absolute im Endlichen erkennbar macht, gibt es dem Endlichen die Möglichkeit am Absoluten zu partizipieren; es ist die Möglichkeit des menschlichen Geistes, den absoluten Geist Gottes zu thematisieren. In mehr theologischer Wendung heißt es noch genauer: Das vernünftige Wissen der Wahrheit ist zunächst als ein Wissen von Gott das Wissen durch Gott, das Wissen in seinem Geiste und durch ihn. Von dem endlichen, relativen Denken kann Gott, der nichts endliches und relatives ist, nicht gedacht und gewußt werden. In diesem Wissen hingegen ist das Ich über sich und die Subjectivität des isolierten Bewußtseins seiner selbst hinaus, es ist in Gott und Gott in ihm. In dem menschlichen Geiste ist Gott sich nicht durch diesen, sondern durch sich selbst offenbar. Dieser als Vernunft ist in ihm aufgehoben. Dies ist das Schwerste, was die Wissenschaft jedem zumuthet, der sich auf sie einläßt, daß die reine Substanz selbst sich als Subject zeige, er sich mit seinem Geiste sich dem göttlichen subjicire und ihm gelassen sei. Sein wahres Wissen vom Absoluten ist selber ein absolutes. (67)

Denken und Sein sind aufeinander zu beziehen; wo das nicht geschieht, bleiben beide nichtig. Die Spekulation unterscheidet sich nun darin von einem ins Leere führenden abstrakten Denken, dass sie sich an dem abarbeitet, was ihr ins Bewusstsein zu heben aufgegeben ist, um den Glauben in Wissen zu überführen (im Wissen aufzuheben). In diesem Wissen, welches das speculative ist, sind die ersten beiden Arten des Wissens, im Gefühl und im Verstande, zu Grunde gegangen, d. h. in ihren wahren Grund zurückgegangen und es allein ist die Wahrheit jener beiden Wissensarten. In ihm erst kommt das Denken über das Endliche hinaus und hört auf, selber ein endliches Denken zu seyn. Je mehr daher der Geist aus seinem Äußerlichseyn (im Endlichen, in der Natur, im Gefühl) erwacht wie aus ei-

5. Kurze Zwischenbilanz

nem dumpfen Traum (denn alle Religion des Gefühls ist die Religion des Traumes) und im Selbstgefühl (im Bewußtseyn und Vorstellen) zu sich selbst kommt (denn das Element der Vorstellung und des Bewußtseyns ist schon eine wesentliche Bedingung der reineren und wahrhaftigen Existenz des Geistes), um so mehr ist er endlich in und bei sich selbst nur im Element des Wissens, als seinem wahrhaftigen, d. i. allein Wahrheit habenden Elemente, von wo aus auch alle, wenn noch so dürftige und entstellte, aber auch alle wahrhaftige Wahrheit im Gefühl und der Vorstellung ist. Die wahre Religion ist allein die des Geistes: in ihm allein gewinnt sie eine ihrem wahren Wesen adäquate Zuständlichkeit. (34 f.)

In der Überwindung des Spannungsverhältnisses von Glauben und Wissen liegen die entscheidende Pointe und zugleich die Problematik des Vorschlags von Marheineke. Für ihn steht keine Verschiedenheit, sondern nur ein Unterschied zur Debatte (vgl. 38 f.). Zugespitzt kann es sogar heißen: „denn etwas wissen von Gott, dem vollkommensten Wesen, heißt glauben.“ (40) Wo der Glaube als Gewissheit gewusst wird, ist er im qualifizierten Sinne ein Wissen als die Partizipation des wissenden Geistes an dem allwissenden (vgl. 41 f.). &

K. Krüger, Der Gottesbegriff der spekulativen Theologie, Berlin 1970 E.-M. Rupprecht, Kritikvergessene Spekulation. Das Religions- und Theologieverständnis der spekulativen Theologie Philip K. Marheinekes, Frankfurt/M. u. a. 1993

5. Kurze Zwischenbilanz In § 2 wurde die Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs in einen fundamentalen Zusammenhang mit der Kritik gestellt, die mit ihm verbunden ist. Es wurde gezeigt, dass der Zugriff des allgemeinen Religionsbegriffes in der konsequenten Entschärfung aller konfessionellen Wahrheitsansprüche liegt. Indem die Religion als eine über den verschiedenen Konfessionen liegende allgemeine Ebene etabliert wird, kann sich nur diejenige Wahrheit behaupten, die über den partikularkonfessionellen Anspruch hinaus auch allgemeine Evidenz bescheinigt bekommt und zwar in der Beurteilung von außen und eben nicht von dem eigenen internen Anspruch aus. Nur allgemein zugängliche und d. h. der Vernunft zugängliche Einsichten und deren moralischer Nutzen können ihre Bedeutung behaupten. Somit ist mit der Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs essenziell eine weitreichende Dogmenkritik verbunden, die der späteren Religionskritik keineswegs nachsteht. Vermutlich ist der Schritt von dem traditionell dogmatischen Wahrheitsverständnis hin zum allgemeinen Religionsbegriff qualitativ deutlich markanter als der dann folgende Schritt der Religionskritik, in dem auch die Religion selbst in die zunächst von ihr ausgehende Kritik einbezogen wird. Bei der theologischen Rezeption dieses konfessionsübergreifenden Religionsverständnisses bleibt auffällig, dass eindeutig das Interesse, mit dem neuen Religionsverständnis zu einem möglichst engen und somit unauflöslichen Schulterschluss zu kommen, beinahe vollkommen jedes Interesse erodiert, nach tragfähigen Motiven

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der Traditionsverteidigung auch nur Ausschau zu halten. Vielmehr bahnt sich unverzüglich eine Polarisierung zwischen Alt- und Neugläubigen an, von der nichts anderes auszugehen scheint als die apodiktisch zu entscheidende Frage, auf welcher Seite man sich befinde. Und so ist es auch keineswegs verwunderlich, wenn die Konzepte sowohl der Neologen als auch der theologischen Rationalisten weniger durch besondere theoretische Profile in Erscheinung treten als vielmehr einerseits durch strategisch-praktische Adaptionen oder andererseits durch eine vollkommene Anpassung. Mag bei den Neologen immerhin noch Apologetik mit im Spiele sein, so liegt dem konsequent verstandenen theologischen Rationalismus nur noch an der Anpassung und d. h. an dem rückhaltlosen Einschwenken auf die von außen vorgegebene Linie, die für die allein zukunftsweisende gehalten wird. Es ist eine Selbstverteidigung durch eine Art Selbstauflösung, die kaum mehr zu bewirken in der Lage ist, als den eingetretenen massiven Gesichtsverlust wieder zu beheben. Indem man sich auf die Seite der Ankläger stellt, wird die Anklage gegenstandslos und der Normenkonflikt durch die Eliminierung des einen der beiden Konfliktpartner ohne weitere Bearbeitung aufgehoben. Bei Semler zeigt sich allerdings, dass die Geschichte anders verläuft als ihre konzeptionelle Vision. Offenkundig war es nicht nur eine störrische Minderheit, der die optimistische Anpassungsgeschwindigkeit Mühe machte, sondern der mit den Neuerungen erhoffte Gewinn stand in der Gefahr, dadurch gänzlich zu verpuffen, dass beim Zuschütten der alten Gräben zwischen den Konfessionen unwillkürlich neue zwischen den unterschiedlichen theologischen Konzepten innerhalb der zu äußerlicher Ruhe gebrachten Konfessionen ausgehoben wurden, deren Konfliktpotenzial dem überwundenen keineswegs nachstand. Der erreichte Nutzen drohte von einem neuen Schaden gleichsam wieder aufgezehrt zu werden, sodass es auf ein Nullsummenspiel hinauszulaufen drohte, wenn es zu keiner tragfähigen Vermittlung zwischen den Traditionalisten und den Aufklärern kommen würde. Dieser Vermittlung galt Semlers ganzes Engagement. Einen nicht nur in pragmatischer, sondern auch in systematischer Hinsicht tatsächlich weiterführenden Vorschlag unterbreitet allein Schleiermacher mit der spezifischen Wendung, die er dem aufklärerischen Religionsbegriff gibt. Mit seiner Bestimmung der Religion als ganzheitlicher Anschauung, als ein vertiefter Modus der Wirklichkeitsbegegnung, entwindet er sowohl den Philosophen als auch den Gesellschaftstheoretikern den von ihnen der Theologie entwundenen Religionsbegriff und stellt ihn wieder entschlossen zurück in den Horizont der Theologie, die allerdings auch bereit sein muss, den für diese Operation zu entrichtenden Preis zu bezahlen. Die Aussicht, den begehrten Anspruch auf Allgemeinheit für die Theologie wieder zurückgewinnen zu können, muss erkauft werden durch die Anerkennung, dass sich die Zuständigkeit der Theologie nur auf einen ganz bestimmten Ausschnitt des Allgemeinen beschränkt. Sie wird weder wieder die Mutter aller Wissenschaften noch die Quelle aller Wahrheit, sondern sie hat sich auf den nun spezifisch charakterisierten Bereich der Religion zu beschränken, weil dieser von keiner anderen Disziplin in Anspruch genommen wird. Schleiermacher gibt der Religion eine Wendung, durch

5. Kurze Zwischenbilanz

die sie ein Element des Allgemeinen des menschlichen Lebens wird, das der Theologie die Gelegenheit gibt, nun auch ein eigenes besonderes Betätigungsfeld reklamieren zu können, das als ein Element des Allgemeinen anzusehen ist. Damit sollte einer weiteren Marginalisierung der Theologie ein Riegel vorgeschoben werden, der nicht einfach durch eine weitere Ausweitung des Wissens überrollt werden konnte. Es ist diese konsequente Partikularisierung, die von vornherein im modernen Religionsverständnis bestimmend war, die hier bei Schleiermacher nun zu einem im Allgemeinen verankerten Ausgangspunkt einer Theologie wird, von der ein eigener und besonderer Beitrag zum Ganzen zu erwarten ist. Der Preis der Beschränkung auf einen Teilbereich der Wirklichkeit scheint angesichts der damit erkauften Teilhabe am Allgemeinen vertretbar zu sein. Die Tatsache, dass dieses Konzept bis heute auf erhebliche Resonanz stößt, scheint ihm Recht zu geben. Wenn schließlich Marheineke gerade nicht auf die Eigenständigkeit der Theologie setzt, sondern auf ihre konsequente philosophische Läuterung jenseits von Rationalismus und Supranaturalismus, weiß er sich in strikter Opposition zu dem Entwurf Schleiermachers, dessen Religionsverständnis er für hoffnungslos unterbestimmt und somit diffus und subjektivistisch hält. Gegen eine letztlich in der Subjektivität des Menschen verrechnete Religion stellt er die Forderung eines Religionsverständnisses, das auf der Selbstmitteilung des der menschlichen Wirklichkeit gegenüber seienden Gottes gegründet ist. Erst in der transsubjektiven Bedeutung kann Wahrheit intersubjektive Relevanz beanspruchen, ohne welche die Religion zu einem Vexierbild wird, das sich weder vom Aberglauben noch vom Unglauben plausibel abzugrenzen vermag. Indem Marheineke die Gegenstandsverwiesenheit des Glaubens, seinen Anspruch auf Objektivität, mithilfe der Philosophie als spekulativ gewonnenes Wissen im Sinne einer allgemein vernünftigen Wahrheit zu verteidigen versucht, stößt er unwillkürlich auf eine Grenze, an der die Durchführung unbemerkt die Bedingungen der in der Offenbarung liegenden Voraussetzungen überschreitet. Die theologisch redliche Absicht verdunstet gleichsam im Zuge ihrer vollständigen philosophischen Systematisierung.

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§ 4 Die Religionskritik

1. Eine vorläufige Begriffsbestimmung Die von dem eingeführten allgemeinen Religionsbegriff mobilisierte Kritik, wie sie in den zwei vorausgegangenen Kapiteln thematisiert wurde, erfasst im 18. Jahrhundert nun auch die Religion selbst. Dabei geht es nicht um eine grundsätzlich neue Qualität der Kritik, sondern vor allem um eine Ausweitung der bereits im allgemeinen Religionsbegriff liegenden Kritik an den konfessionellen Wahrheitsansprüchen und religiösen Exklusivismen. Die Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs hat es mit sich gebracht, dass sich das Glaubensverständnis und die von ihm geprägten Inhalte einer bestimmten Form fügen mussten, und was in ihr nicht unterzubringen war, galt es zu verabschieden. Faktisch hat damit der allgemeine Religionsbegriff den Anspruch erhoben, den bisher von den sich bekämpfenden Konfessionen beanspruchten Platz einnehmen zu können, um die Aggressivität der gegeneinander stehenden Kirchen in ihre Schranken zu weisen. Doch er hat sich darin nur teilweise als erfolgreich erwiesen, weil sich die Beharrungskräfte des konfessionellen Selbstverständnisses nicht einfach einreihen ließen, sodass die neue duldsame Religion faktisch dazu genötigt wurde, ein Arrangement mit dem traditionellen exklusivistischen Modell einzugehen (vgl. Semler % § 3,1.3). Neben dieser wirkungsgeschichtlichen Blessur verschärft sich die Kritik der Religion (genitivus subjectivus) insofern, als nun die Frage aufkommt, ob dasjenige, was in der Disziplinierung durch den neuen Begriff gleichsam ersetzt wurde bzw. werden sollte, überhaupt einer Ersetzung und somit Prolongation durch Reform wert ist oder nicht überhaupt ersatzlos zu streichen ist. Da die Optimierung des gegenseitigen Verhältnisses mit Hilfe des aufgeklärten Religionsverständnisses nicht wirklich funktioniert hat, steht nun das Ganze infrage, auf das dieses Religionsverständnis gleichsam angesetzt war. Da das mit der Optimierung avisierte Ziel nicht erreicht wurde, muss es mit radikaleren Mitteln angestrebt werden. Nicht nur die absoluten Wahrheitsansprüche der Konfession seien zu verabschieden, sondern es sei ein grundsätzlicher Abschied angesagt, der den ganzen Vorstellungs- und Handlungszusammenhang suspendiert, in dem die dogmatischen Wahrheitsansprüche ihre Bedeutung entfalten konnten. Es kommt zur grundsätzlichen Kritik der Religion (genitivus objectivus), zur Religionskritik. Es spielt keine Rolle, ob die Vertreter der Religionskritik aus den Reihen der traditionellen Konfessionen und des modernen Religionsverständnisses kommen oder auch einen anderen Hintergrund mitbringen, in jedem Falle setzen sie einen moder-

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§ 4 Die Religionskritik

nen Religionsbegriff voraus – auch wenn sie ihn teilweise faktisch nur auf das Christentum anwenden – und haben ihn für zu leicht befunden. Auch die Erwartungen, die gesellschaftspolitisch oder moralisch mit der Religion – zumindest mit der öffentlichen Religion – verbunden waren, lösten sich aus ihrer Bindung an das ohnehin recht schwache Instrument der Religion und suchten nach anderen Wegen, diesen effektiver und nachhaltiger gerecht werden zu können. In ihren verschiedenen Ausprägungen kommt die Religionskritik darin überein, dass die Religion ein mehr oder weniger probates Mittel zur Kompensation von bestimmten, näher zu bestimmenden Defiziten sei. Der den jeweiligen Defiziten zugrunde liegende Mangel wird nicht selbst angegangen, sondern wird durch ein allemal unzureichendes Ersatzmittel soweit befriedigt, dass sich die von ihm bewirkte Defizienz nicht weiter als bearbeitungsbedürftig bemerkbar macht, ohne aber eben wirklich behoben zu sein. Dass der Glaube des Menschen für bestimmte außer ihm liegende Zwecke benutzt und auch missbraucht werden konnte, ist keine Einsicht, die sich erst in der Neuzeit eingestellt hat. Zu offenkundig und dreist haben Machthaber immer wieder mit der Religion agiert, als dass diese Möglichkeit verborgen bleiben konnte. Indem der neuzeitliche Religionsbegriff in seiner lange währenden Entstehungszeit geradezu unter dem Gesichtspunkt seines Nutzens gleichsam ‚designed‘ wurde, war nun allseits offenkundig, dass Religion einen instrumentellen Charakter hat und – zumindest im begrenzten Umfang – einer bedachten Steuerung folgt, um ihre funktionale Effektivität zu steigern. Indem das neuzeitliche Religionsverständnis ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt seines Nutzens kreiert wurde, gibt es ungleich offener seinen instrumentellen Charakter zu erkennen, als dies bisher der Fall gewesen ist. Diese Redlichkeit wird ihm aber zugleich insofern zu einer Gefährdung, weil das Zugeständnis der Funktionalität zwar nicht die Frage aufwirft aber eben doch zulässt, wenn nicht gar nahe legt, ob die angestrebte Funktion nicht durch ein anderes Instrument besser, einfacher und effektiver erreicht werden könne. Die auf die Transzendenz ausgeschriebenen Schecks, mit denen die Religion ihre Ziele verfolgt, haben nur so lange eine gewisse Plausibilität, wie die Religion unter Beweis stellt, dass die mit ihr verbundenen Ziele auch tatsächlich erreicht werden und dabei nicht andere Ziele, die sich die Gesellschaft gesetzt hat, behindert werden. Wo aber Zweifel an der funktionalen Wirksamkeit aufkommen, lässt sich auch die Frage nicht zurückhalten, ob die ausgegebenen Schecks der Religion überhaupt die nötige Deckung aufweisen oder nicht vielmehr einen mehr oder weniger plumpen Betrug darstellen, weil es die Adresse ihrer Einlösung gar nicht gibt. Die mit der Formalisierung des Religionsverständnisses einhergehende Offenlegung ihres instrumentellen Charakters kommt einem Entmythologisierungsvorgang gleich, der im Grunde von vornherein auf die Austauschbarkeit angelegt ist, auch wenn diese nicht absichtlich verfolgt wird. In jedem Fall wird die Religion, wenn ihre Funktionalität und ihre Lenkbarkeit herausgestellt werden, ihrer unnahbaren Dignität beraubt und somit antastbar. Zwar bleibt einzuräumen, dass sie immer antastbar war, aber nun will sie geradezu angetastet werden, sodass es keinen Anlass

1. Eine vorläufige Begriffsbestimmung

gibt, sich allzu sehr zu wundern, wenn dabei auch sehr grundsätzlich zugegriffen wird. Die von der neuzeitlichen Staatsphilosophie, beginnend mit Hobbes (% § 2,2), eingeforderte Funktionalisierung der Religion für das Gemeinwohl des Staates bedeutete eine Abkehr von einem das ganze Leben prägenden Glaubensverständnis zu einer auf eine bestimmte Teilfunktion konzentrierten Religionspraxis. Zunächst ging es negativ darum, der Religion die beanspruchte Allzuständigkeit zu bestreiten und ihr insbesondere die Bereiche zu verstellen, in denen über das Geschick der ganzen Gesellschaft entschieden wurde. Ihr werden also bestimmte Grenzen gezogen. Doch das führt unversehens positiv dazu, dass ihr dann auch innerhalb ihrer Grenzen klar artikulierte Erwartungen angetragen und gesellschaftlich relevante Aufgabenbestimmungen zugewiesen werden. Auf diese Weise reduziert die neuzeitliche Religion die Frömmigkeit gleichsam auf einen bestimmten Dienst, der mit ihrer Pflege verbunden wurde. Die damit demonstrierte Inszenierbarkeit, Veränderbarkeit und gezielte Einsetzbarkeit von Religion für Zwecke, die nicht unmittelbar ihrem Selbstverständnis entnommen werden, wirft mehr oder weniger zwangsläufig die Frage auf, ob sich die jeweiligen mit der Religion verknüpften Zwecke nicht auch ohne die Religion auf anderen Wegen erreichen lassen bzw. ob die Religion nicht doch nur eine trügerische und fragile Scheinlösung darstellt, die als solche nicht zu einem tatsächlichen und dauerhaften Erreichen der ins Auge gefassten Ziele führen kann. Nach allgemeiner Schulbildung gilt Ludwig Feuerbach als der Begründer der radikalen Religionskritik, die dann durch Karl Marx und Siegmund Freud fortgeführt und vollendet worden sei. Zweifellos handelt es sich bei diesen drei Protagonisten um profilierte Vertreter der Religionskritik, auch wenn Marx nicht den Anspruch erhoben hat, der in seinen Augen bereits abgeschlossenen Religionskritik wirklich neue Gesichtspunkte hinzugefügt zu haben. Vielmehr sei sie in einen über sie hinausgehenden Zusammenhang einzuordnen, durch den dann auch deutlich werde, dass sie in ihrer jeweiligen Zeit auf eine konkrete Diskussionslage zu reagieren habe. Die drei Namen stehen für die drei hier zu thematisierenden Dimensionen der Religionskritik: die philosophische, die soziologische und die psychologische Religionskritik. Damit ist die Struktur dieses umfänglichen Kapitels über die Religionskritik vorgegeben. Die hier thematisierte harte, d. h. auf die Eliminierung der Religion ausgerichtete Religionskritik wird bis in das 20. Jahrhundert in einer exemplarischen Auswahl und Differenzierung durch ihre unterschiedlichen Entwicklungen nachgezeichnet. Sie weitet sich von der Philosophie über die Soziologie – insbesondere sozialistisch-materialistischer Prägung – bis hin in die Psychologie aus und erreicht damit alle Dimensionen, die einen prägenden Einfluss auf das individuelle und gesellschaftliche Selbstbewusstsein des modernen Menschen genommen haben.

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§ 4 Die Religionskritik

2. Die philosophische Religionskritik 2.1 Religionskritik in der Antike Auch wenn es sich bei dem allgemeinen Religionsbegriff um eine Konstruktion der Neuzeit handelt, die sich in vergleichbarer Weise nicht für die Zeit vorher nachweisen lässt, so ist aber selbstverständlich das tendenziell allgemeine Phänomen des Gottesglaubens in seiner unterschiedlichen Gestalt durchaus bekannt. Und so ist auch das Anliegen der Religionskritik in der Sache keine Erfindung der aufgeklärten Neuzeit. Nur für ein Beispiel soll der Fokus auf die Neuzeit verlassen werden, um eine für sich selbst sprechende Stimme der Antike zu Wort kommen zu lassen, die uns darauf hinweist, dass die philosophische Religionskritik als Kritik des Gottesglaubens sehr alte Wurzeln hat. Die These vom Priesterbetrug ist ein bis zu den Vorsokratikern zurückreichendes Motiv, das sich in klassischer Gestalt bei dem Sophisten Kritias findet: Es gab einmal eine Zeit, da war das Leben der Menschen jeder Ordnung bar, ähnlich dem der Raubtiere, und es herrschte die rohe Gewalt. Damals wurden die Guten nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft. Und da scheinen mir die Menschen sich Gesetze als Zuchtmeister gegeben zu haben, auf daß das Recht in gleicher Weise über alle herrsche und den Frevel niederhalte. Wenn jemand ein Verbrechen beging, so wurde er nun gestraft. Als so die Gesetze hinderten, daß man offen Gewalttat verübte, und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder (auch nur) dächten. – Er führte daher den Gottesglauben ein: Es gibt einen Gott, der ewig lebt, voll Kraft, der mit dem Geiste sieht und hört und übermenschliche Einsicht hat; der hat eine Natur und achtet auf dies alles. Der hört alles, was unter den Menschen gesprochen wird und alles, was sie tun, kann er sehen. Und wenn du schweigend etwas Schlimmes sinnst, so bleibt es doch den Göttern nicht verborgen. Denn sie besitzen eine übermenschliche Erkenntnis. – Mit solchen Reden führte er die schlauste aller Lehren ein, indem er die Wahrheit mit trügerischem Worte verhüllte. Die Götter, sagte er, sie wohnen dort, wo es die Menschen am meisten erschrecken mußte, von wo, wie er wußte, die Angst zu den Menschen herniederkommt wie auch der Segen für ihr armseliges Leben: aus der Höhe dadroben, wo er die Blitze zucken sah und des Donners grauses Krachen hörte, da, wo des Himmels gestirntes Gewölbe ist, das herrliche Kunstwerk der Zeit, der klugen Künstlerin, von wo der strahlende Ball des Tagesgestirns seinen Weg nimmt und feuchtes Naß zur Erde herniederströmt. Mit Ängsten solcher Art schreckte er die Menschen und wies so passend und wohlbedacht der Gottheit an geziemender Stätte ihren Wohnsitz an und tilgte den ungesetzlichen Sinn durch die Gesetze. Und kurz darauf setzte er noch hinzu: So hat jemand, glaube ich, zuerst die Menschen glauben gemacht, daß es ein Geschlecht von Göttern gibt.1

1 Kritias, Sisyphos, zit. n. W. Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, 378 f.

2. Die philosophische Religionskritik

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2.2 Die Aufklärung Wir verdanken der Aufklärung nicht nur die Prägung des allgemeinen Religionsbegriffs, sondern auch die darüber hinausgehende Religionskritik als den radikalisierten Zugriff auf die verschiedenen Glaubensbekenntnisse, die in mehr oder weniger offenkundiger Konkurrenz nebeneinander existieren.

2.2.1 Jean Meslier Längst vor der Blüte der französischen Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich in dem Testament des Abbé Meslier eine scharfzüngige Religionskritik, in der die Haupteinwände gegen die Religion bereits versammelt sind:

Der Abbé genannte, getreue Priester seiner Kirche Jean Meslier (1664–1729) hat in seinem Nachlass eine rückhaltlose und derbe Religionskritik hinterlassen, in der viele der später verwandten Motive der Religionskritik bereits enthalten sind.

Wißt also, meine lieben Freunde, wißt, daß all dies, was in der Welt als Gottesdienst und Andacht feilgeboten und praktiziert wird, nichts als Irrtum, Täuschung, Einbildung und Betrug ist; alle Gesetze, alle Vorschriften, die im Namen und mit der Autorität Gottes oder der Götter erlassen werden, sind in Wahrheit nichts als menschliche Erfindungen, nicht weniger als alle diese schönen Schauspiele der Festlichkeiten und Meßopfer oder Gottesdienste und alle diese anderen abergläubischen Verrichtungen, die von Religion und Frömmigkeit den Göttern zu Ehren vorgeschrieben sind; alle diese Dinge da, sage ich Euch, sind nur menschliche Erfindungen, von schlauen und durchtriebenen Politikern erfunden, dann von lügnerischen Verführern und Betrügern gepflegt und vermehrt, schließlich von den Unwissenden blind übernommen und dann endlich aufrechterhalten und gutgeheißen durch die Gesetzte der Fürsten und der Großen dieser Erde, die sich solch menschlicher Erfindungen bedient haben, um das Volk dadurch leichter im Zaum zu halten und mit ihm zu machen, was sie wollten. Aber im Grunde sind alle diese Erfindungen nichts als Kälberhalfter, wie Montaigne sagte, denn sie dienen nur dazu, den Geist der unwissenden und einfachen Gemüter zu zügeln; die Weisen gängeln sich selbst damit bestimmt nicht und lassen sich dadurch auch nicht gängeln, weil in der Tat nur die unwissenden und einfachen Gemüter dazu fähig sind, so etwas Glauben zu schenken und sich dadurch führen zu lassen.2

In eigener Variante taucht hier die bei Kritias (% § 4,2.1) thematisierte These vom Priesterbetrug auf, die in diesem Fall in besonderer Weise auch insofern wörtlich genommen werden kann, als Meslier seinem Beruf nach ein unbescholtener, treuer und sorgfältiger Priester in einem kleinen französischen Dorf gewesen ist, der niemals irgendwelche Abschätzigkeiten über die Kirche geäußert hat. Und dieser ordentliche und geschätzte Priester überrascht nun mit der Enthüllung: Die Religion ist nichts weiter als ein spezifisches Machtinstrument der Herrschenden einschließ2 Das Testament des Abbé Meslier, hg. v. G. Mensching, Frankfurt/M. 1976, 85.

100 § 4 Die Religionskritik

lich der zu ihnen gehörenden Religionsdiener. In der Sache finden sich die gleichen Vorwürfe später bei den Enzyklopädisten (% § 4,2.2.3), aber in der Regel werden sie dort erheblich moderater vorgetragen). Diese exzeptionelle und prophetisch vorgetragene Religionskritik scheint zwar im weiteren Verlauf der Geschichte durchaus bekannt geblieben zu sein (das lässt sich daran erkennen, dass das Testament des Abbé immer wieder erwähnt wird), aber es hat kaum eine direkte Rezeption erfahren, was vermutlich damit zusammenhängt, dass man bei einer Berufung auf Meslier befürchten musste, sofort mit dem Stempel indiskutabler Radikalität versehen zu werden, was dann auch mit konkreten negativen Konsequenzen verbunden sein konnte – es ist ja kein Zufall, dass Meslier sein Manuskript selbst nicht veröffentlichte. Seine Treue zur eigenen Kirche war in keinerlei Hinsicht ein Zeichen dafür, dass sich seine Kritik nur nach außen gegen die anderen Religionen richtete, um dann die Vorzüge der eigenen davon auszunehmen. Das Gegenteil ist der Fall; es ist insbesondere das Christentum seiner eigenen Kirche, das im Zentrum seiner Kritik steht. Ihr, meine lieben Freunde, werdet wohl annehmen, daß ich die Absicht habe, aus der großen Zahl falscher Religionen, die es auf der Welt gibt, das römisch-apostolische Christentum auszunehmen, die Religion, zu der wir uns bekennen und die wir für die einzige halten, die die reine Wahrheit lehrt, die einzige, die den wahren Gott gebührend bezeugt und verehrt, und die einzige, die den Menschen auf den wahren Weg des Heils und ewiger Glückseligkeit führt. Doch, meine lieben Freunde, laßt Euch eines Besseren belehren, laßt von diesem Irrtum ab und überhaupt von allem, was Eure frommen Dummköpfe, Eure zynischen und eigensüchtigen Priester und Doctores nur allzu eifrig Euch lehren und Euch unter dem Schein der unfehlbaren Gewißheit ihrer angeblich heiligen und göttlichen Religion glauben machen. Ihr seid nicht weniger verführt und betrogen, als es die Verführtesten und Betrogensten sind. Ihr seid nicht weniger im Irrtum, als es jene sind, die darin zutiefst versunken sind. Eure Religion ist nicht weniger nichtig, nicht weniger Aberglaube als irgendeine andere, sie ist nicht weniger falsch in ihren Prinzipien, noch ist sie weniger lächerlich und absurd in ihren Dogmen und Maximen. Ihr seid nicht weniger Götzendiener als jene, die Ihr selbst verdammt und des Götzendienstes anklagt; die Götzen der Heiden und die Euren unterscheiden sich bloß im Namen und Aussagen. Mit einem Wort, alles was Eure Priester und Doctores Euch mit so viel Beredsamkeit über die Größe, Erhabenheit und Heiligkeit der Mysterien, die sie Euch verehren lassen, predigen, alles, was sie Euch mit so viel Ernst und Gewißheit von ihren vorgeblichen Wundern erzählen, und alles, was sie Euch mit so viel Eifer und so vielen Beteuerungen vorschwätzen über die Fülle der himmlischen Belohnungen und die schrecklichen Strafen der Hölle, ist im Grunde nichts als Wahn, Irrtum, Lüge, Erfindung, Betrug, ausgedacht zunächst von listigen Politikern, weitergeführt von Verführern und Betrügern, schließlich aufgenommen und blind geglaubt vom unwissenden und gemeinen Volk und dann endlich aufrecht erhalten durch die Autorität der Großen und der Herrscher dieser Erde, welche Mißbrauch, Irrlehren, Aberglauben und Betrug begünstigt, ja sogar durch ihre Gesetze sanktioniert haben, um damit die gesamte Menschheit am Zügel zu halten und mit ihr alles machen zu können, was sie wollen. (71 f.)

In seinem Testament bekennt sich Meslier zu einem konsequenten materialistischen Atheismus mit einem Gesellschaftsentwurf, der in die Richtung des Kommunismus weist. Tatsächlich trägt er eine revolutionäre Option in einer Zeit vor, in der es noch

2. Die philosophische Religionskritik 101

keine realen gesellschaftlichen Kräfte gab, die sich mit revolutionärem Gedankengut beschäftigten – insofern erscheint diese Schrift auch in dieser Hinsicht zu früh. Meslier lehnt jede Religion ab, auch die natürliche Religion des Deismus. Der Mensch soll sich allein auf seine Vernunft stützen, mit der er in der Lage ist, die ‚Materie‘ als das in sich selbst gründende Prinzip der Natur zu erkennen. Die Religion sei vor allem deshalb abzulehnen, weil sie sich immer wieder als eine korrupte Stütze der Herrschenden erwiesen hat. Anstatt die Menschen gegen die Mächtigen in Schutz zu nehmen, haben sich die Priester immer wieder entweder als Kollaborateure der Macht oder eben selbst als machtgierige Potentaten erwiesen. Ihnen ist es in Ausnutzung der „Leichtgläubigkeit und Unwissenheit der Schwächsten und am wenigsten Aufgeklärten“ (65) gelungen, sich selbst wie Götter verehren zu lassen. Hier sieht Meslier „die wahre Ursache und [den] wahre[n] Ursprung aller Übel, die das Wohl der menschlichen Gesellschaft stören und das Leben der Menschen so unglücklich machen“ (66). Meslier tritt für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel ein, der alle Privilegien von Kirche und Adel überwinden soll. Der ganze Pomp und die sich in den Titeln auslebende Eitelkeit, all die Heuchelei und die lächerlichen Zeremonien gilt es abzutun, denn dahinter verbirgt sich vor allem rohe Gewalt. Die Priester und Bischöfe kommen in seiner Wahrnehmung am schlechtesten weg: Sie sind es, die Euch unter dem Vorwand, Euch geistliche Güter aus göttlicher Gnade und Gunst zu verleihen, Eure irdischen Güter rauben, die unvergleichlich wertvoller und dauerhafter sind als jene, die sie Euch zu geben scheinen. Sie sind es, die unter dem Vorwand, Euch in den Himmel zu führen und ewiges Glück zu verschaffen, Euch daran hindern, irgendein wirkliches Glück auf der Erde zu genießen. Sie sind es schließlich, die Euch zwingen, in dem einzigen Leben, das Ihr habt, wahre Höllenqualen zu leiden, unter dem Vorwand, Euch dadurch ewiges Leben zu verbürgen und Euch vor den eingebildeten Qualen einer Hölle bewahren zu wollen, die es genauso wenig gibt wie ein ewiges Leben. (67)

Im Zuge der Realisierung der von Meslier geforderten gesellschaftlichen Veränderungen werde sich die Religion im Grunde von selbst erledigen – eine Einschätzung, die wir später bei Karl Marx (% § 4,3.3) und dem Marxismus wiederfinden werden. Die Durchsetzung dieser Veränderungen brachte Meslier mit zwei grundlegenden Wahrheiten in Verbindung, denen alle Menschen folgen sollten: 1) daß die Menschen ihr Hauptinteresse im Leben darauf richten sollten, Kunst und Wissenschaften weiterzubringen, und dabei allein dem Lichte der menschlichen Vernunft zu folgen haben; 2) daß sie, um gute Gesetze aufzustellen, nur den Regeln der menschlichen Klugheit und Weisheit folgen dürfen, das heißt den Regeln der Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und natürlichen Gleichheit, ohne sich fruchtlos mit dem abzugeben, was ihnen Betrüger sagen oder was die abgöttischen und abergläubischen Gottesanbeter machen: was im allgemeinen allen Menschen tausend und abertausendmal mehr Güter, mehr Zufriedenheit und mehr Ruhe für Geist und Körper verschaffen würde, als alle die falschen Maximen und unnützen Verrichtungen ihrer abergläubischen Religionen ihnen je gewähren können. (81)

Meslier hatte – das ist deutlich – keine emanzipatorische Vision mehr für eine erneuerte Gestalt der Religion, sondern sie soll mit dem ganzen gesellschaftlichen Sys-

102 § 4 Die Religionskritik

tem, dessen Ausdruck sie ist, überwunden werden. In dieser Perspektive formuliert er eine fundamentale Kritik der ideologischen Säulen des sogenannten christlichen Abendlandes. Entschlossen geht er einen Schritt über die aufklärerischen Versuche einer Neuperspektivierung der Religion hinaus und betritt damit den Boden der Religionskritik in ihrer radikalen Gestalt. &

F. Hagen, Jean Meslier oder: Ein Atheist im Priesterrock, Leverkusen/Köln 1977 G. Mensching, Cartesianischer Materialismus und Revolution, in: Das Testament des Abbé Meslier, hg. v. G. Mensching, Frankfurt/M. 1976, 11–56

2.2.2 David Hume und der Empirismus Ähnlich kategorische Abweisungen der Religion finden sich im Grunde nur noch im Empirismus, jedoch aus vollkommen anderen Gründen. Hier geht es nicht um das Kalkül der Macht und die religiöse Disziplinierung der unterdrückten Massen, sondern um die aufklärerische Frage nach begründeter Orientierung für die Vernunft. Es war David Hume, der entschlossen den Schritt über den abstrakten Deismus hinaus tat, indem er konsequent jeder Gestalt der Transzendenz eine Absage erteilte und alle verlässlichen Wirklichkeitsaussagen strikt an die immanente Erfahrung gebunden hat. Insofern gehört er in die Geschichte der sich Bahn brechenden Aufklärung. Dem Empirismus ist dann über Hume hinaus eine eigene Wirkungsgeschichte beschieden gewesen, indem sich einerseits der Positivismus seiner bediente und er sich andererseits besonders in populistischen Trivialtheorien ausbreitete. Diese prägen teilweise bis heute den weltanschaulichen Horizont vieler Menschen, die sich zugute halten, mit der modernen Wissenschaft Schritt zu halten. Auch wenn dadurch die Chronologie der geistesgeschichtlichen Entwicklung verlassen wird, sollen zwei Beispiele solcher weithin gefeierten und somit recht wirkungsvollen Trivialtheorien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang vorgestellt werden, da sich sonst kein sinnvoller systematischer Zusammenhang für ihre Präsentation anbietet: Ludwig Büchner und Ernst Haeckel. Ernüchternd weist Hume darauf hin, dass der von Locke (% § 2,4) und Toland (%§ 2,5) vorgetragene Gott des Deismus nur noch eine abstrakte Chiffre ohne konkrete Wirklichkeit sei, sodass es nun keines großen weiteren Mutes mehr bedürfe, auch diese Chiffre zu verabschieden. Mit wünschenswerter Deutlichkeit wird hier erkennbar, dass es sich bei dem Schritt vom aufklärerischen Religionsverständnis hin zur Religionskritik um keinen besonders spektakulären Schritt handelt, auch wenn seine Betätigung durch das vollkommene Entschwinden des längst verblassten Gottes mit verbreiteter Beunruhigung registriert wird. Mit seiner naturalistischen und materialistischen Kritik, die

Als konsequenter Empirist stellt David Hume (1711–1776) den Deisten eine prinzipielle Skepsis entgegen, die ihre Wirkung bis hinein in die Religionskritik des Positivismus des 20. Jahrhunderts behält.

2. Die philosophische Religionskritik 103

auch den Deismus einschließt, bildet Hume die Brücke zu den französischen Enzyklopädisten, mit denen er in unmittelbarer Verbindung stand. Die Vernunft soll sich streng und konsequent mit dem Erfahrbaren bescheiden (Empirismus). Nur das, was sich auch wissenschaftlich beschreiben lasse, könne auch als vernünftig und als real angesehen werden – damit wird eine Linie beschrieben, die dann später vom Positivismus (aber auch von B. Russell) wieder aufgenommen und weiter ausgezogen wird. Alle Wundervorstellungen fallen in sich zusammen, denn sie haben vor den Naturwissenschaften keinen Bestand. Im Grunde aber benötigt man zur Wunderkritik überhaupt keine wissenschaftlichen Einsichten, sondern ihre Widersinnigkeit wird schon durch die schlichte Berufung auf die Alltagserfahrung evident. Mit dem Hinweis auf die Wunder wird die Bibel insgesamt zu einem unglaubwürdigen Dokument; sie ist „das Machwerk eines bloß menschlichen Verfassers und Geschichtenschreibers“, das uns diverse Märchenerzählungen überliefert, wie sie in jedem Volk im Blick auf seinen Ursprung aufzufinden sind: Beim Lesen dieses Buches stoßen wir überall auf Naturwidrigkeiten und Wunder. Es berichtet von einem Zustand der Welt und der Menschennatur, der völlig von dem gegenwärtigen abweicht; von unserer Vertreibung aus diesem Zustande; von einer Lebensdauer des Menschen, die fast tausend Jahre erreicht; von der Zerstörung der Welt durch eine Sintflut; von der willkürlichen Erwählung eines Volkes als Günstling des Himmels – und dies Volk sind die Landsleute des Verfassers; von seiner Befreiung aus der Knechtschaft durch Naturwidrigkeiten der erstaunlichsten Art. Nun bitte ich einen jeden, Hand aufs Herz und nach reiflicher Erwägung zu bekennen, ob es ihn dünkt, daß die Falschheit eines solchen Buches, das durch solches Zeugnis gestützt wird, außerordentlicher und wunderbarer sein würde als alle die Wunder, die es berichtet; und doch wäre dies gemäß dem vorher aufgestellten Wahrscheinlichkeitsmaßstab notwendig, um ihm Anerkennung zu verschaffen.3

Humes Naturalismus stellt sich gegen jede Form von Metaphysik, weil diese prinzipiell nicht von der Erfahrung bestätigt werden kann. In diesem Punkt ist Hume sogar radikaler als die französischen Aufklärer. Die Orientierung an der Erfahrung und dem erfahrungswissenschaftlichen Denken vollzieht auch eine deutliche Abgrenzung gegenüber dem Rationalismus mit seinem Versuch, den christlichen Glauben vollständig mit den Prinzipien der Vernunft in Einklang zu bringen. Daraus folgt, das Hume nicht nur das traditionelle konfessionsgebundene Christentum ablehnt, sondern auch die natürliche Religion, die von der Aufklärung als die befreiende Alternative ausgegeben wurde. Glaube lasse sich vielmehr seinem Wesen nach nicht mit der Vernunft zusammenbringen, weil er über den Bereich des Erfahrbaren hinausgehe und somit den Boden der Verlässlichkeit verlasse. Alle deistischen Mutmaßungen sind in diesem Sinne unvernünftige Konstruktionen. Um die Unsinnigkeit religiöser Überschreitungen des Bereichs der Erfahrung zu demonstrieren, erzählt Hume skurrile Anekdoten, wie die Geschichte von dem missionierten Türken Mustafa, der in diesem Fall kein Beispiel für die Konversion eines 3 Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand [1748] (PhB 35), Hamburg 1964, 155.

104 § 4 Die Religionskritik

Moslem zum Christentum, sondern vor allem einen Repräsentanten für den gesunden Menschenverstand darstellt: Ein berühmter General, der damals in russischen Diensten stand und zur Ausheilung seiner Wunden nach Paris gekommen war, brachte einen jungen Türken mit sich, den er gefangengenommen hatte. Einige Doktoren der Sorbonne (die allesamt genauso rechthaberisch sind wie die Derwische in Konstantinopel) hielten es für bedauerlich, daß der arme Türke mangels rechter Unterweisung der Verdammnis anheimfallen sollte und drangen daher mit großer Heftigkeit auf Mustafa ein, zum Christentum überzutreten. Um ihn zu ermutigen, versprachen sie ihm eine Menge guten Weines für diese Welt und das Paradies für die kommende. Diese Verlockungen waren zu stark als daß er hätte widerstehen können. Nachdem er also gründlich unterrichtet und katechisiert worden war, willigte er schließlich ein, die Sakramente der Taufe und des Abendmahls zu empfangen. Um jedoch alles zuverlässig und gründlich zu machen, setzte der Priester seine Unterweisungen fort und begann am darauffolgenden Tag mit der üblichen Frage: ‚Wie viele Götter gibt es?‘ ‚Gar keinen‘, antwortete Benedict, denn so hieß er jetzt. ‚Wie? Gar keinen?‘ schrie der Priester. ‚Aber gewiß doch‘, sagte der treuherzige Proselyt. ‚Ihr habt mir die ganze Zeit über immer wieder gesagt, daß es nur einen Gott gibt; und den habe ich gestern aufgegessen.‘4

Ihre Wurzeln hat die Religion nach Hume in der Anfangsgeschichte der Menschheit, wo sie mit ihrer Furcht vor unbekannten und unbezwingbaren Mächten fertig werden musste. Die Mächte bedurften einerseits einer Benennung und im Zusammenhang damit einer Erklärung, und andererseits mussten sie milde gestimmt werden, wozu der religiöse Kult eingerichtet wurde. Von ihren ersten Anfängen an besteht die Religionsgeschichte aus Aberglauben und Götzendienst. Es liegt auf der Hand, dass Hume die Religion nur als ein vorübergehendes Phänomen ansehen kann, das für eine Menschheit steht, die noch nicht zu vernünftigem Selbstbewusstsein gekommen ist. Am Anfang habe der Polytheismus gestanden, der sich dann später zu einer monotheistischen Religion umformt, die allerdings zugleich mit dem kaum ausräumbaren Mangel behaftet ist, intolerant und fanatisch zu sein – eine bis heute immer wieder diskutierte These (vgl. in der gegenwärtigen Diskussion die Monotheismuskritik von Jan Assmann5). Allerdings findet sich diese intolerante und in gewisser Weise absolutistische Seite auch bei dem leidenschaftlichen Aufklärer Hume, wie das abschließende Zitat deutlich belegt: Sehen wir, von diesen [sc. Vernunft-]Prinzipien durchdrungen, die Bibliotheken durch, welche Verwüstungen müssen wir da nicht anrichten? Greifen wir irgendeinen Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen: Enthält er irgend einen abstrakten Gedankengang über Größe oder Zahl? Nein. Enthält er irgend einen auf Erfahrung gestützten Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.6 4 Die Naturgeschichte der Religion [1757], übers. u. hg. v. L. Kreimendahl (PhB 341), Hamburg 1984, 45. 5 Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998; Die Mosaische Un-

terscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003; Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006. 6 Untersuchung über den menschlichen Verstand, 193.

2. Die philosophische Religionskritik 105 &

E. Topitsch / G. Streminger (Hg.), Hume (EdF 151), Darmstadt 1981. M. Jung, Hume, Die englische Aufklärung, Lahnstein 2006.

Ludwig Büchner, der sich insbesondere für Der Arzt und Schriftsteller Ludwig Fr. K. Chr. die Popularisierung naturwissenschaftlicher ForBüchner (1824–1899) greift die schungsergebnisse einsetzt, bemüht sich – ähn- Widersinnigkeit aller Religionen an, weil sie der frei denkenden Vernunft Grenzen lich wie der Physiologe Jakob Moleschott (1822– auferlegt, die den wissenschaftlichen und 1893; Der Kreislauf des Lebens, 2 Bde., Mainz gesellschaftlichen Fortschritt hemmen. 1852) und der Zoologe Carl Vogt (1817–1895; Köhlerglaube und Wissenschaft, Gießen 1855) – in zahlreichen Publikationen um die Verbreitung eines mechanistisch-materialistischen Weltbildes. Es geht dabei um eine konsequente Abkehr von allen spekulativen Momenten, wie sie in der zeitgenössischen Philosophie vertreten wurden. Er plädiert für eine auf den Naturwissenschaften gründende Weltanschauung, was ihm nach Erscheinen seines Hauptwerkes 1855 Kraft und Stoff, oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung einerseits die Suspendierung von seiner Lehrtätigkeit an der Universität Tübingen und andererseits zahlreiche Ehrenbekundungen vor allem von freidenkerischen Vereinen im In- und Ausland einbringt. Dieses Werk erreicht in Deutschland 21 Auflagen und wird in 17 Sprachen übersetzt. In seiner Begeisterung für die naturwissenschaftlichen Erfolge – besonders von Charles Darwin – sieht Büchner die Welt kurz vor einer wissenschaftlichen Lösung aller ihrer Probleme, einschließlich der religiösen. Zwar entwickelt sich die von den Gesetzen der Natur bewegte Welt ziellos, aber der Mensch ist dazu privilegiert, mit Hilfe seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten auf ihre Entwicklung Einfluss zu nehmen. Es verwundert nicht, dass Büchner in seiner Mission insbesondere gegen die Religion opponiert. Gegen die These, dass dem Menschen von Natur aus ein Bewusstsein Gottes eigne, verweist er auf „eine nicht geringe Anzahl von Völkern, welche . . . gar keine Spur von religiösem Glauben besitzen“.7 Man müsste diesen Menschen den menschlichen Charakter absprechen, wenn die Behauptung stimmen würde, dass die Religion essenziell zur menschlichen Natur gehöre. Unter Berufung auf Darwin sei es im Gegenteil viel nahe liegender, einen allgemeinen Glauben an Dämonen anstatt einen Glauben an einen liebenden Gott zu unterstellen. Auch in der christlichen Religion komme dem Teufelsglauben eine nicht geringe Bedeutung zu, durch welche die Gottesidee vollkommen diskreditiert werde, weil sie sowohl die Güte des Schöpfers als auch die Allmacht Gottes in Frage stelle (vgl. 232). Tatsächlich aber sei Gott nichts anderes als eine Selbstidealisierung des Menschen. Unter Berufung auf Feuerbach („Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde“; % § 4,2.4) attackiert Büchner die ebenso schlichte wie hilflose Abhängigkeit der jeweiligen Gottesvorstellung von den sie hervorbringenden Menschen. Nicht schonender geht er mit den Philosophen um, deren verschiedene Gottesdefinitionen sich 7 Kraft und Stoff [1855], Leipzig 1894 (50.–60. Tausend), 230.

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gegenseitig konterkarierten, sodass von ihnen keinerlei Hilfe zu erwarten sei. Die als letzter Ausweg propagierte These, dass Gott der Welt nicht gegenüberstehe, sondern das innere Wesen der Welt bezeichne, verurteilt sich schlicht durch das Faktum der offenkundigen Unvollkommenheit der Welt. Wenn Gott in uns Allen und gewissermaßen die Seele der Welt ist, so nimmt er in der That an allen ihren Schlechtigkeiten und Unvollkommenheiten unmittelbaren Antheil. Er bekommt in uns allen Zahn- oder Leibweh, er läugnet oder lästert in dem Mund des Einen sich selbst, während er in dem des Anderen sich ehrt und anbetet. Er thut in dem Einen das Gute, während er in dem Andern das Schlechte vorzieht und damit seine eignen Gesetze bekämpft. Er quält sich selbst mit unlösbaren Räthseln, stirbt in jedem Einzelnen unter Zweifeln und Schmerzen, belohnt oder bestraft sich selbst in einem künftigen Leben usw. oder muß all den grenzenlosen Unsinn verdauen, der bereits von den Menschen über ihn selbst ausgekramt worden ist und fortwährend ausgekramt wird. (235 f.)

Im Pantheismus Spinozas (% § 2,3) bricht schließlich die ganze Konstruktion in sich zusammen und wir werden ganz und gar auf den Boden von Stoff und Kraft gestellt, auf dem wir eben auch ohne den Gottesgedanken stehen. Es bleibt allein das geistige Prinzip der menschlichen Vernunft übrig. Diese Vernunft steht daher ganz allein auf sich selbst und ist die einzige Richterin über sich und die Wahrheit. Alle Wahrheit liegt daher lediglich in uns selbst und in unserem freien Denken, welches unverträglich ist mit jeder Art von Autoritätsglauben, und welchem Niemand (und sei er auch der gelehrtesten einer) wagen darf, bestimmte Grenzen setzen zu wollen. Wenn sich dieses freie Denken ebenso wie das persönliche Bewußtsein auf eine allerdings unerklärliche und vielleicht immer unerklärt bleibende Weise aus dem ewigen Spiel der Atome nach und nach losringt, so ist dieses an und für sich nicht wunderbarer oder unbegreiflicher, als alle übrigen, wenn vielleicht auch weniger verwickelten Naturvorgänge und als die gesammte Entwicklung der Welt selbst. Nicht Gott erschafft die Welt, sondern der Gottgläubige schafft Gott und damit auch alle aus diesem Glauben entspringenden nachtheiligen Folgen und Folgerungen, während umgekehrt das freie und durch keine Autorität bestimmte Denken zur Freiheit, zur Vernunft, zum Fortschritt, zur Anerkennung der Rechte des Menschen und des echten Menschenthums, mit einem Wort zum Humanismus führt. Dieser Humanismus aber strebt die volle freie Menschheit an und sucht die Beweggründe seiner Sittlichkeit nicht in äußeren Beziehungen zu einem außerweltlichen oder übermenschlichen Gott, sondern in sich selbst und dem Glück der Menschheit. (236 f.) &

L. Büchner, Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung, Leipzig 1887. F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, Berlin u. a. 1977.

Ernst Haeckel (1834–1919) erweist den modernen Naturwissenschaften eine weltanschauungsbegründende Referenz, die einen neuen Zugang zu einer im Gemüt verankerten, ganz und gar weltlichen Religiosität eröffnet.

Die Religionskritik von Ernst Haeckel beruft sich ebenso wie die von L. Büchner auf eine weltanschaulich in Anspruch genommene Wahrnehmung der Naturwissenschaften, die allein den von ihr erkannten Naturgesetzen normative Bedeutung einräumt. Sie führt zwar nicht zu einer generellen Verabschiedung der Religion, aller-

2. Die philosophische Religionskritik 107

dings kann die Frage gestellt werden, ob das, was Haeckel schließlich als Religion avisiert, im traditionellen Sinne noch sinnvoll als Religion bezeichnet werden kann. Durch ihre Verankerung im Gemüt gibt es zumindest einen gewissen Anschluss an die allgemeine Religionsdebatte im 19. Jahrhundert, zugleich aber dominiert die Polemik gegen die verfassten Religionen seine Argumentation, dass seine Neuansätze für die Religion vor allem von der Abgrenzung gegenüber allen Konventionen leben. Die weitreichende Wirkungsgeschichte der weltanschaulichen Gedanken Haeckels nicht nur im Nationalsozialismus und auch im Sozialismus, sondern auch weit darüber hinaus, ist durchaus erstaunlich. Zu den zweifelhaftesten Verdiensten Haeckels gehört die weltanschauliche Überhöhung und Propagierung der Erkenntnisse des selbst eher bescheiden votierenden Darwin, wobei er sich bis in die Konsequenzen im Blick auf Rassenhygiene und Eugenik vorwagte. Bis heute kann man seinen vergleichsweise schlichten und vordergründigen Stilisierungen begegnen. Sein mechanistisch-monistisches Weltbild führt ihn über eine radikale Kritik der christlichen Religion zu einem evolutionistischen Pantheismus, in dem sich Materie und Geist vereinen. Haeckel lässt alle Vorsichten, die sich Darwin auferlegt hatte, fallen und entwickelt über die im Grunde weithin künstliche Alternative ‚Schöpfung oder Entwicklung‘, die merkwürdigerweise bis heute immer wieder die Geister scheidet, seinen Monismus, mit dem er meint, die richtigen Konsequenzen aus den Fehlern sowohl der vielgestaltigen Theismen als auch des Atheismus zu ziehen. Wenn man erst einmal darauf aufmerksam geworden sei, biete die Natur eine reichhaltige und unversiegbare Quelle, aus der sich ein den Menschen tragender Glaube schöpfen lasse. Es entsteht ein bis dahin nicht ausgesprochener platter Pantheismus, der Gott, Welt und Kausalgesetz miteinander identifiziert, um dann unter Berufung auf Spinoza und Goethe das Wahre, Gute und Schöne als wahre „Trinität des Monismus“8 zu propagieren. Der moderne Mensch, welcher ‚Wissenschaft und Kunst‘ besitzt – und damit zugleich auch Religion – bedarf keiner besonderen Kirche, keines engen eingeschlossenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo er seine Blicke auf das unendliche Universum oder auf einen Teil desselben richtet, überall findet er zwar den harten ‚Kampf um’s Dasein‘, aber daneben auch das ‚Wahre, Schöne und Gute‘; überall findet er seine ‚Kirche‘ in der herrlichen Natur selbst.9

Alles in der Religion, bei dem die Vernunft einen Widerspruch zu den feststehenden Lehrsätzen der empirischen Naturerkenntnis feststellt, insbesondere Wunder und Offenbarungen, ist als unhaltbar auszuscheiden. Auch die Vorstellung eines ‚persönlichen Gottes‘ trägt nichts bei zu einer wirklich vernünftigen Weltanschauung. Haeckel setzt seine ‚monistische Gottesidee‘ dagegen, wobei die Naivität des Konzeptes bei der Abweisung Gottes mindestens ebenso in die Augen springt wie bei der Vorstellung der von ihm eingeführten Gottesidee: 8 Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft [1892], Bonn 81899, 36.

9 Die Welträtsel [1899], Bonn 1903 (18.–37. Tausend), 138.

108 § 4 Die Religionskritik Unsere ‚monistische Gottesidee‘, welche allein mit der geläuterten Naturerkenntnis der Gegenwart sich verträgt, erkennt ‚Gottes Geist in allen Dingen‘. Sie kann nimmermehr in Gott ein ‚persönliches Wesen‘ sehen, d. h. mit anderen Worten, ein Individuum von beschränkter räumlicher Ausdehnung oder gar von menschlicher Gestalt. ‚Gott‘ ist vielmehr überall. . . . Jedes ‚Atom‘ ist dergestalt beseelt, und ebenso der ‚Weltäther‘; man kann demnach ‚Gott‘ auch als die unendliche Summe aller Naturkräfte bezeichnen, als die Summe aller Atomkräfte und aller Ätherschwingungen. . . . Nicht auf den Namen kommt es bei diesem höchsten Glaubenssatze an, sondern auf die Einheit der Grundvorstellung, auf die Einheit von Gott und Welt, von Geist und Natur.10

Diesen Monismus sieht Haeckel im Pantheismus vorbereitet, inzwischen habe er allerdings „durch die erstaunlichen Fortschritte der Naturerkenntnis in den letzten drei Decennien eine früher nicht geahnte empirische Begründung erfahren“ (33). Ob Fernrohr oder Mikroskop, wo man auch hinschaut, überall erschließt sich die ‚Gott-Natur‘ und spricht nicht nur den Verstand, sondern eben auch das Gemüt an, weshalb Haeckel seiner radikalen Religionskritik zum Trotz an dem Begriff der Religion festhält – gleichsam als ästhetisches Pendant zur exakten Wissenschaft. Die Anknüpfungspunkte für neureligiöse Bewegungen bis hin zu New Age liegen offen zutage. Die monistische Naturforschung als Erkenntnis des Wahren, die monistische Ethik als Erziehung zum Guten, die monistische Aesthetik als Pflege des Schönen – das sind die drei Hauptgebiete unseres Monismus; durch ihre harmonische und zusammenhängende Ausbildung gewinnen wir jenes wahrhaft beglückende Band zwischen Religion und Wissenschaft, das heute noch von vielen schmerzlich vermisst wird. Das Wahre, das Gute und das Schöne, das sind die drei hehren Gottheiten, vor denen wir anbetend die Knie beugen; in ihrer naturgemässen Vereinigung und gegenseitigen Ergänzung gewinnen wir den reinen Gottesbegriff. Diesem ‚dreieinigen Gottes-Ideale‘, dieser naturwahren Trinität des Monismus wird das herannahende zwanzigste Jahrhundert seine Altäre bauen! (35 f.) &

G. Altner, Charles Darwin und Ernst Haeckel (ThSt 85), Zürich 1966

2.2.3 Paul Thiry d’Holbach Im Unterschied etwa zu Claude A. Helvétius oder Denis Diderot, die auch zu den Vertretern der französischen Aufklärung zu zählen sind, die in dem universalistischen Projekt der Enzyklopädie zusammengekommen sind, nimmt Paul Th. d’Holbach der Religion gegenüber eine radikale Position ein. Er sah zwischen Aufklärung und Religion einen unversöhnlichen Gegensatz, sodass man sich für das eine oder das andere zu entscheiden hat. Unter diesen Umständen konnte eine Entscheidung für die Religion für einen Aufklärer

Unter den Vertretern der französischen Aufklärung, die sich um die Enzyklopädie versammelt haben, tritt Paul Th. d’Holbach (1723–1789) als der radikalste Kritiker der Religion auf.

10 Der Monismus, 33.

2. Die philosophische Religionskritik 109

grundsätzlich nicht in Frage kommen. Die Religion sei das entscheidende Hemmnis der Aufklärung. Erst durch ihre Überwindung könne die Aufklärung die ihr zukommende Bedeutung tatsächlich entfalten. Da sich alle religiösen Überzeugungen unschwer durch natürliche Ursachen erklären ließen – auch dort, wo sie der Natur widersprechen –, war d’Holbach davon überzeugt, dass sich die Religion auch tatsächlich bald überwinden lasse. Sie bestehe vor allem aus ebenso aberwitzigen wie leichtsinnigen Beruhigungsversuchen, die zudem dazu geeignet seien, den Herrschenden jede Form willkürlicher Machtusurpation zu ermöglichen. Die Religion ist die Kunst, die Menschen mit Schwärmerei zu betäuben, um sie daran zu hindern, sich mit jenen Übeln zu befassen, mit denen sie von denen, die sie regieren, überladen werden. Mit Hilfe der unsichtbaren Mächte, mit denen man ihnen droht, zwingt man sie, mit Stillschweigen das Elend zu erdulden, das ihnen von den sichtbaren Mächten auferlegt wird; man läßt sie hoffen, daß sie in einer anderen Welt glücklicher sein werden, wenn sie sich damit abfinden, in dieser Welt unglücklich zu sein.11

Die beiden Hauptstoßrichtungen der Religionskritik von d’Holbach werden in diesem Zitat deutlich: 1. in die Richtung des naturwissenschaftlichen Rationalismus, inklusive seiner radikalen Dogmenkritik und 2. in die Richtung der Abschaffung der totalitären feudalistischen Herrschaftsverhältnisse, die sich der Religion als Stütze zur Selbststabilisierung bedienen. Gott stehe in der Menschheitsgeschichte stets für einen unerkannten und unerklärlichen Bereich oder eben als letzte Ursache, die hinter der ganzen Wirklichkeit steht. Durch die Fortschritte der Erkenntnis befindet sich Gott gleichsam auf einem ständigen Rückzug, um sich dorthin zu retten, wo unsere Erkenntnis – zumindest vorläufig – noch an ihre Grenze stößt. Es entspricht dem wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus, wenn d’Holbach davon ausgeht, dass der bereits in Platznot geratene Gott bald gar keinen Platz mehr zur Verfügung haben werde. Doch auch jetzt schon ist evident, dass Gott unbekannt ist, weil er immer nur an den Grenzen der Erkenntnis auftaucht, wo er dann schlicht als die unbekannte Ursache agiert. Wenn wir uns über unsere Ideen von der Gottheit Aufklärung verschaffen wollen, so werden wir zugeben müssen, daß die Menschen mit dem Wort Gott immer nur die verborgenste, entfernteste und unbekannteste Ursache der ihnen sichtbaren Wirkungen bezeichnen konnten: sie machten von diesem Wort nur Gebrauch, wenn sie das Spiel der natürlichen und bekannten Ursachen nicht mehr durchschauen können; sobald sie den Faden dieser Ursachen verlieren oder sobald ihr Geist deren Kette nicht mehr verfolgen kann, gehen sie der Schwierigkeit aus dem Wege und beenden ihre Nachforschungen, indem sie sich auf Gott als die letzte aller Ursachen berufen, das heißt auf diejenige, die über allen Ursachen steht, die sie kennen; auf diese Weise geben sie einer unbekannten Ursache, vor der sie auf Grund ihrer Trägheit oder auf Grund der Begrenztheit ihrer Kenntnisse innehalten müssen, lediglich einen leeren Na11 Le christianisme dévoilé, Londres 1790 zit. n. M. Naumann, D’Holbach und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung, Einleitungstext in: Paul Thiry d’Holbach, System

der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt [1770], Berlin 1960, XXIII.

110 § 4 Die Religionskritik men. Immer dann, wenn man uns sagt, Gott sei der Urheber irgendeiner Erscheinung, so bedeutet das, daß man nicht weiß, wie ein solches Ereignis mit Hilfe der uns in der Natur bekannten Kräfte und Ursachen zustande kommen konnte. So legt der Durchschnitt der Menschen, deren Los die Unwissenheit ist, der Gottheit nicht nur die ihnen ungewohnten Wirkungen bei, sondern auch die einfachsten Ereignisse, deren Ursache für jemanden, der über die nachzudenken imstande ist, sehr leicht zu erkennen sind. Kurz: der Mensch hat immer die unbekannten Ursachen solcher erstaunlichen Wirkungen verehrt, die er aus Unwissenheit nicht zu enträtseln vermochte.12

So wie die Unwissenheit die Götter hervorgebracht hat, so wird nun die Kenntnis der Natur die Götter wieder zum Verschwinden bringen. Im Vertrauen auf die weiteren Erkenntnisgewinne der Wissenschaft gibt es schon jetzt keinen Grund mehr zur Furcht und zum Aberglauben, sodass jedes Festhalten an der Religion zum Anachronismus geworden ist. Nicht nur im Grundsatz wird die Religion angegriffen, sondern d’Holbach sieht auch die Theologie nur mit Widersinnigkeiten hantieren, die unfreiwillig die Widersprüchlichkeit und Absurdität der Religion demonstrieren. Die Theologen oder die Schöpfer der Gottheit mögen die angeblichen Vollkommenheiten dieser Gottheit noch so gut unterscheiden, ausspinnen, übersteigern und unverständlich machen, so viel ist immer sicher: ein Wesen, welches sich erzürnen oder durch Gebete beschwichtigen läßt, ist kein unwandelbares Wesen; ein Wesen, welches man beleidigen kann, ist weder allmächtig noch vollkommen glücklich; ein Wesen, welches das Übel, das es verhindern könnte, nicht verhindert, unterstützt das Übel; ein Wesen, welches die Freiheit gibt zu sündigen, hat in seine ewigen Ratschlüsse die Sünde mit einbezogen; ein Wesen, welches die Vergehen bestraft, die es zugelassen hat, ist höchst ungerecht und unvernünftig; ein unendliches Wesen, das unendlich viele widersprüchliche Eigenschaften in sich vereinigt, ist ein unmögliches Wesen und nichts als ein Hirngespinst. Man sage uns also nicht, die Existenz eines Gottes sei zumindest eine zweifelhafte Frage. Ein Gott, so wie ihn uns die Theologie darstellt, ist völlig unmöglich; alle die Eigenschaften, die man ihm beilegt, alle die Vollkommenheiten, mit denen man ihn schmückt, widersprechen sich in jedem Augenblick. . . . Sobald die Menschen sich an einer Sache sehr interessiert glauben, bemühen sie sich, sich eine Idee von ihr zu machen; stoßen sie dabei auf große Hindernisse oder ist es ihnen unmöglich, sich Aufklärung zu verschaffen, so neigen sie auf Grund ihrer Unwissenheit und des geringen Erfolges ihrer Nachforschungen zur Leichtgläubigkeit; daraus ziehen dann geschickte Betrüger oder Schwärmer Nutzen und treten mit ihren Erfindungen oder ihren Träumereien auf, die sie als beständige Wahrheiten ausgeben, die nicht in Zweifel gezogen werden dürfen. So gerät das Menschengeschlecht durch die Unwissenheit, die Verzweiflung, die Trägheit und durch die Tatsache, daß es nicht ans Nachdenken gewöhnt ist, in die Abhängigkeit derer, die es auf sich genommen haben, ihm über Gegenstände, von denen es keine Ideen hat, Systeme vorzuschreiben. (409 f.)

D’Holbach geht mit seiner Kritik deutlich über Voltaire (% § 2,6) oder Rousseau (% § 2,7) hinaus, indem er auch die natürliche Religion und den Theismus (Voltaire) ausdrücklich von seiner Kritik nicht ausnimmt. 12 System der Natur, 283 f.

2. Die philosophische Religionskritik 111

Vom Theismus zum Aberglauben wird es immer nur ein Schritt sein. Die geringste Umwälzung in der Maschine, eine leichte Krankheit, ein unvorhergesehener Kummer genügen, um die Säfte und das Temperament zu verändern und um das System der Anschauungen des Theisten oder des glücklichen Frommen umzustoßen; sobald er das Bild seines Gottes entstellt findet, sobald wird für ihn die schöne Ordnung der Natur nicht mehr bestehen, und die Melancholie wird ihn nach und nach dem Aberglauben, der Verzagtheit und den Widersinnigkeiten in die Arme treiben, die vom Fanatismus und von der Leichtgläubigkeit erzeugt werden. (421)

Die Deisten und Theisten (die Begriffe können in diesem Zusammenhang durchaus synonym verstanden werden) gelten in den Augen von d’Holbach sogar als inkonsequenter als die Anhänger des Aberglaubens, da sie mit diesen die Grundannahme teilen, aber dann nicht bereit sind, die aus dieser Grundannahme resultierenden Folgerungen zu ziehen, und sich stattdessen auf die Vernunft berufen, die sie bei der Anerkennung der Grundannahme gerade erst desavouiert haben. Wenn nur an einer Stelle ein die Vernunft überschreitendes Prinzip anerkannt wird, gibt es grundsätzlich keine überzeugende Möglichkeit mehr, sich an einer anderen Stelle auf diese zu stützen. Indem sich zudem der Deismus und der Theismus vor allem auf die Kritik des Aberglaubens konzentrieren, sind sie negativ vom Aberglauben abhängig, sodass sie zwangsläufig selbst zu einer Gestalt des Aberglaubens werden. Der Unterschied zwischen ihnen und den Abergläubischen ist lediglich ein Unterschied des Temperaments, aber eben keine grundlegende Differenz – beide werden als äußerst leichtgläubig beurteilt. D’Holbach bezeichnet die Theisten als Schwärmer, während er die Abergläubischen – damit sind vor allem die traditionellen Kirchenchristen gemeint – als ungesellige Eiferer ansieht: „die einen sehen Gott in der Verzückung ihrer Liebe nur von der günstigen, die anderen immer nur von der schlechten Seite“ (420). Beide werden von falschen Voraussetzungen gefangen gehalten, sodass auch ihre Urteile und Bewertungen zwangsläufig falsch sein müssen. Dagegen setzt D’Holbach zusammen mit Hume (% § 4,2.2.2) ganz und gar auf die Natur als die einzige tatsächlich wirklichkeitserschließende Orientierung, die konsequent an die Stelle der Religion und aller spekulativen Weltanschauungen zu setzen sei. &

E. Feil, Religio, Bd. 4, 351–360

2.3 Auguste Comte Auguste Comte gilt als Begründer der modernen Der Mathematiker und Philosoph Auguste Soziologie (auf ihn geht der Begriff ‚Soziologie‘ Comte (1798–1857) greift in den überkommenen Religionen den Rückgriff zurück). Er sah die Menschheit in ein neues auf metaphysische Begründungen an, Zeitalter eintreten, das positive Stadium der welche eine verlässliche und geordnete Wissenschaft des erwachsenen Menschen, das Entwicklung mehr gefährden als fördern. nun die beiden vorausgehenden Stadien ablöse, nämlich das kindliche Stadium der Religion und das jugendliche Stadium der Metaphysik. „Indem die moderne Gesellschaftsform das industrielle Leben immer mehr

112 § 4 Die Religionskritik

zur Geltung bringt, muß sie also die große geistige Umwälzung mächtig fördern, die heutzutage unsere Intelligenz von der theologischen zur positiven Denkweise erhebt.“13 Bezogen auf das Soziale, das im 19. Jahrhundert weithin Beachtung auf sich zog, setzte Comte auf die Soziologie als eine neue Wissenschaft, in der alle anderen Wissenschaften zusammengefasst und zu ihren humanen Ziel geführt werden sollen. Wenn er sich schließlich selbst als den Gründer und Oberhirten einer „Religion der Menschheit“ bezeichnete, die den Prinzipien der Liebe, der Ordnung und des Fortschritts verpflichtet sei, so steht diese kategorisch gegen die überkommenen Religionen, die insbesondere in ihrem Gottesglauben den Gesetzen der natürlichen Wirklichkeit widersprechen. Die von ihm gegründete Positivistische Gesellschaft hat seinen Ideen zu einer durchaus erstaunlichen Wirkungsgeschichte verholfen. Die Geschichte habe verdeutlicht, dass es dem Menschen unmöglich ist, zu absoluten Begriffen zu gelangen. Daher sei es müßig, über Ursprung und Bestimmung der Welt zu spekulieren, wie es der Mensch im theologischen Zustand unentwegt getan hat. Vielmehr gilt es, durch Vernunftgebrauch und Erfahrung die tatsächlich wirkenden Gesetze zu ermitteln. Dies ist die Aufgabe der Menschheit im positiven Zustand, den Comte für seine Zeit heraufziehen sieht. Es wird dem Menschen dann möglich sein, die jeweiligen Handlungsoptionen mit zuverlässigen Prognosen für die Zukunft zu verknüpfen. Nur diejenigen Hypothesen können Geltung beanspruchen, die durch Beobachtung kontrolliert werden können. Damit stellt er sich gegen jede Form der Metaphysik. Auch kommt dem Menschen nicht als individueller Person die entscheidende Bedeutung zu, sondern vor allem als Glied der Menschheit, die ihrerseits in ihrer positiven Gestalt als neues ‚höchstes Wesen‘ an die Stelle Gottes tritt (vgl. L. Feuerbach % § 4,2.4). Sein Positivismus, der nicht einfach als der Vorläufer des logischen Positivismus oder des kritischen Rationalismus (% § 4,2.7.4) angesehen werden kann, richtet sich konsequenterweise auch gegen den Atheismus, denn er stellt nur eine unzulängliche Befreiung des menschlichen Geistes dar, da er weiterhin die gleichen Fragen wie die Theologie bearbeitet und somit nur als eine Art inkonsequente Theologie anzusehen sei. Der Atheismus ist, selbst in geistiger Hinsicht, nur eine sehr unzulängliche Emanzipation, da er, anstatt alles Forschen nach Unerreichbarem als durchaus fruchtlos aufzugeben, unaufhörlich neuen Lösungen theologischer Probleme nachhängt, und hierdurch das metaphysische Stadium ins Unabsehbare verlängert. Der wahre positive Geist zeichnet sich vor allem aus, daß er stets die unabänderlichen Gesetze der Erscheinungen erforscht und nie ihre sogenannten ersten oder Endursachen, kurzum die Bestimmung des Warum durch jene des Wie ersetzt. . . . Die Atheisten können daher als die inkonsequentesten Theologiegläubigen betrachtet werden, da sie mit letzteren die gleichen Probleme verfolgen und die einzig hierfür geeignete Methode verwerfen.14

13 Rede über den Geist des Positivismus [1844], hg. v. I. Fetscher (PhB 244), Hamburg 21966, 65. 14 Der Positivismus in seinem Wesen und seiner

Bedeutung [1848], übers. v. E. Roschlau, Leipzig 1894, 42 f.

2. Die philosophische Religionskritik 113

Seine schärfste Kritik gilt dem Protestantismus und dem aufklärerischen Theismus, weil ihr strenger Monotheismus über den individuellen Heilsegoismus der Glaubenden unweigerlich auf einen Anarchismus zulaufe. Die moralische Verschwommenheit der Evangelien zeige, dass Jesus ein Scharlatan gewesen sei. Die Heiligen- und Marienverehrung des Katholizismus werden dagegen einerseits als strukturfördernde polytheistische Elemente gewürdigt, andererseits wird dem Katholizismus eine Altersschwäche bescheinigt, in der er nicht in der Lage sei, wirksam den herrschenden anarchistischen Tendenzen in der Gesellschaft entgegenzutreten. Und so stellt sich Comte ausdrücklich gegen alle historischen Erscheinungen der Religion, um an ihre Stelle seine Weltreligion etablieren, die im Horizont einer beweisbaren Moral die erforderliche Ordnung schaffen werde. Keinerlei Geheimnis soll die natürliche Gewißheit beeinträchtigen, welche dem neuen höchsten Wesen eigen ist. Man wird es vielmehr nur gehörig feiern, lieben und ihm dienen können, wenn man eine hinlängliche Kenntnis der verschiedenen Naturgesetze erlangt hat, welche das Dasein regeln. (319)

Jenseits der Religionskritik erscheint diese neu zu etablierende Religion mit eigenen Festen, einem Kult und sogar eigenen Priestern und Priesterinnen, die neben der wissenschaftlichen Wirklichkeitserfassung und -gestaltung einerseits die ästhetische Dimension des Lebens befriedigen und andererseits eine erzieherische Funktion ausüben soll. Ein Beispiel aus dem neuen Festkalender, der sich ausdrücklich an den Katholizismus anlehnt, sei hier genannt: Ich meine zuvörderst das ergreifende Fest, welches, von mir auf den letzten Tag des Jahres verlegt, auch ferner alle Bewohner des Abendlandes einladen wird, zur gleichen Zeit an theuren Gräbern zu weinen und ihren Schmerz durch diesen gemeinsamen Gefühlserguß zu erleichtern . . . Aufgabe des Systems der Gedenktage ist vor allem, das natürliche Verlangen der Verewigung unseres Daseins auf diesem uns einzig offenstehenden Wege zu verwirklichen. (331 f.)

Die Religion sei nicht, wie ihr gern nachgesagt werde, ein unverzichtbarer Anwalt der Moral; ganz im Gegenteil habe sie sich mehr und mehr unter dem Einfluss der Theologie zu ihrer Gefährdung entwickelt: Weit davon entfernt, daß die theologische Unterstützung für immer den moralischen Vorschriften unentbehrlich wäre, beweist die Erfahrung im Gegenteil, daß sie ihnen in der Neuzeit immer schädlicher geworden ist, indem sie dieselben, auf Grund jener verderblichen Abhängigkeit, an der wachsenden Zersetzung der monotheistischen Denkweise vor allem während der letzten drei Jahrhunderte teilhaben ließ. . . . Abgesehen von diesem wachsenden Unvermögen, die moralischen Vorschriften zu schützen, hat der theologische Geist ihnen häufig auch auf aktive Weise durch die Schwankungen geschadet, denen er ausgesetzt war, seit er bei dem unvermeidlichen Aufschwung der freien individuellen Kritik nicht mehr hinlänglich fest geordnet werden konnte. Durch solche ungeordnete Betätigung hat er tatsächlich zahlreiche antisoziale Verirrungen veranlaßt und gefördert, die der gesunde Menschenverstand, sich selbst überlassen, vermieden oder zurückgewiesen hätte. . . . Endlich ist diese alte Verbindung mit der Theologie auch noch unter einem dritten Gesichtspunkt für die Moral

114 § 4 Die Religionskritik notwendig verhängnisvoll geworden, indem sie sich ihrem soliden Neuaufbau auf rein menschlicher Basis widersetzte. Bestünde dieses Hindernis nur in den blindwütigen Deklamationen, wie sie heute oft von den verschiedenen zeitgenössischen Schulen der Theologie oder Metaphysik gegen die angebliche Gefahr eines solchen Unternehmens ausgehen, könnten sich die positivistischen Philosophen damit begnügen, diese schändlichen Unterstellungen durch das unwiderlegliche Beispiel ihres eigenen persönlichen, häuslichen und sozialen Alltagslebens zu widerlegen. Aber diese Opposition geht zum Unglück weit tiefer; denn sie geht aus der notwendigen Unvereinbarkeit dieser beiden Arten der Systematisierung der Moral hervor. Da die theologischen Motive in den Augen der Gläubigen natürlich eine weit höhere Intensität als alle beliebigen anderen haben müssen, können sie niemals bloße Hilfsmittel für rein menschliche Motive werden . . . Es gibt also keine dauernde Alternative zwischen dem endlichen Aufbau der Moral auf der positiven Kenntnis der Menschheit und ihrem Beruhen auf übernatürlichem Befehl: rationale Überzeugungen konnten theologische Glaubensformen stützen oder vielmehr Schritt für Schritt an deren Stelle treten, in dem Maße als der Glaube erlosch; die umgekehrte Verbindung stellt aber sicherlich nur eine widerspruchsvolle Utopie dar, in der die Haupt- der Nebensache untergeordnet wäre.15 – Jede theologische Richtung, ob katholisch, protestantisch oder deistisch, trägt in Wahrheit nur zur Verlängerung und Verschärfung der sittlichen Anarchie bei, da sie die wirksame Entfaltung des Gemeingefühls und weiter Anschauungen hindert, die allein feste Überzeugungen und ausgeprägte Sitten zu schaffen vermögen. Keine der gegenwärtigen umstürzlerischen Utopien, die nicht auf dem Monotheismus fußte oder nicht seine Billigung fände. Selbst der Katholizismus hat die Macht verloren, bei einigen seiner hervorragendsten Vertreter dem natürlichen Fortschreiten der verschiedenen revolutionären Verirrungen Einhalt zu thun.16

Die Schlussbemerkung gibt zu erkennen, dass Comte sich mit seiner fortschrittsorientierten Religionskritik in der revolutionären Entscheidungszeit eindeutig auf die ordnungspolitisch konservative Seite geschlagen hat. &

J. Brankel, Theorie und Praxis bei Auguste Comte. Zum Zusammenhang zwischen Wissenschaftssystem und Moral, Wien 2008 G. Wagner, Auguste Comte zur Einführung, Hamburg 2001

2.4 Ludwig Feuerbach Unter dem Einfluss von Hegel (% § 2,10.2) wechselt Feuerbach, der zunächst das Studium der Theologie aufgenommen hatte, zur Philosophie, die sich als die legitime Erbin der Theologie verstand, indem sie in der Gestalt der Religionsphilosophie ihre Themen auf der Ebene allgemeingültiger Bestimmungen erörtert. Doch bald kehrt sich Feuerbach auch von der idealistischen Philosophie Hegels ab, die er eine ‚betrunkene Philosophie‘ nennt, um die Philosophie durch eine radikale Er-

Als Klassiker der philosophischen Religionskritik kritisiert Ludwig Feuerbach (1804– 1872) die Verschwendung der edelsten Kräfte des Menschen an einen imaginären Himmel und fordert anstelle des Gottesglaubens einen Glauben an den Menschen.

15 Rede über den Geist des Positivismus, 135– 139.

16 Der Positivismus in seinem Wesen, 383.

2. Die philosophische Religionskritik 115

nüchterung des spekulativen Denkens wieder mit beiden Beinen auf die Erde zu stellen. Der Hegel’schen Vergöttlichung des menschlichen Bewusstseins stellt Feuerbach die Vermenschlichung des Bewusstseins Gottes gegenüber. Damit verabschiedet er das absolute Wahrheitsverständnis Hegels, um es durch ein anthropologisches zu ersetzen. Ausgangspunkt der Philosophie muss der Mensch sein, wobei die Engführung auf die Vernunftbegabung des Menschen zu überwinden ist. Die Anthropologie muss auch dem sinnlichen Charakter des menschlichen Wesens sein Recht einräumen. Verstand und Herz müssen zu einer Einheit zusammenfinden, wenn die Anthropologie tatsächlich die Wirklichkeit des menschlichen Lebens in den Blick bekommen will – wir würden heute von einer ganzheitlichen Wahrnehmung des Menschen sprechen. An die Stelle des Absoluten bei Hegel tritt nun bei Feuerbach der Mensch, der zum Maß aller Dinge, ja der Wirklichkeit überhaupt wird. In diesen Horizont ist auch die Religionskritik von Feuerbach zu stellen. Im Grunde wäre eher von Theismuskritik zu sprechen, denn was er beenden will, ist der schädlich eingeschätzte Gottesbezug des Menschen und nicht generell die religiöse Orientierung. Es geht Feuerbach um eine konsequente Transformation des Glaubens an Gott in einen Glauben an den Menschen. Die Religion, die in dieser Perspektive noch Geltung beanspruchen darf und auch soll, kann nur eine Religion des Menschen sein. Damit verlässt er jedoch so grundsätzlich auch den Konsens des allgemeinen neuzeitlichen Religionsbegriffs, für den in jedem Falle ein – durchaus unterschiedlich verstehbarer – Transzendenzbezug des Menschen konstitutiv ist, dass wir trotz seines Festhaltens an einer anthropologisch-immanenten Religion in dem eingangs benannten Sinne von Feuerbach als einem Religionskritiker sprechen müssen. Indem er der Selbstfeier des Menschen einen religiösen Charakter zuweist, weist er der Religion einen konsequent immanenten Charakter zu, sodass sie in einer Gestalt gerettet wird, die nur noch in vermittelter Weise mit ihren bisherigen Bestimmungen in Verbindung steht; der Bruch ist größer als die Kontinuität, und es ist auch der konsequente Bruch, dem sein zentrales intellektuelles und rhetorisches Engagement gilt. Zweifellos lässt sich auch eine Kontinuität zwischen Feuerbach und den Vertretern der natürlichen Religion aufzeigen, indem er aber konsequent Gott, Transzendenz und alle metaphysischen Kategorien streng aussperrt, um nun den Menschen selbst zu vergöttlichen, vollzieht er eine radikale Abkehr von allem, was bisher unter Religion verstanden wurde – er steht in dieser Hinsicht sachlich ganz und gar an der Seite der anderen Religionskritiker (ein vergleichbares Problem stellte sich bereits bei Haeckel [% § 4,2.2.2] oder Comte [% § 4,2.3]). Eine gewisse Ermutigung ist Feuerbach daraus erwachsen, dass sich im Zuge der Aufklärung und ihrer theologischen Rezeption die Theologie längst weithin anthropologisiert hatte. Feuerbach hat also keineswegs nur das traditionelle konfessionelle Christentum und seine nicht verallgemeinerungsfähige dogmatische Lehre vor Augen, sondern auch das den neuzeitlichen Erwartungen angepasste Christentum im Sinne der Aufklärung, das sich weithin den Glaubensbedürfnissen des Menschen angepasst hat. In die hier bereits erkennbare Richtung will er entschlossen weitergehen, wozu er noch einen eher kleinen, aber eben sehr folgenreichen Schritt für erfor-

116 § 4 Die Religionskritik

derlich hält, mit dem er nun auch den Bezug auf einen transzendenten Gott als letzte Konsequenz hinter sich lassen will. Die Theologie ist längst zur Anthropologie geworden. . . . Obgleich aber ‚die unendliche Freiheit und Persönlichkeit‘ der modernen Welt sich also der christlichen Religion und Theologie bemeistert hat, daß der Unterschied zwischen dem produzierenden Heiligen Geist, der göttlichen Offenbarung und dem konsumierenden menschlichen Geist längst aufgehoben, der einst übernatürliche und übermenschliche Inhalt des Christentums längst völlig naturalisiert und anthropomorphisiert ist, so spukt doch immer noch in unserer Zeit und Theologie, infolge ihrer unentschiedenen Halbheit und Charakterlosigkeit, das übermenschliche Wesen des alten Christentums wenigstens als ein Gespenst im Kopf.17

Feuerbach sieht hier den zwingend zu gehenden nächsten Schritt in der vorgegebenen Richtung der vorgeprägten Entwicklung, wenn man nicht auf halbem Wege stecken bleiben will (was von Feuerbach mit einer durchaus nachvollziehbaren Evidenz als Charakterlosigkeit diagnostiziert wird; ähnlich psychologisierende Gegenwartbeschreibungen finden sich in deutlicher Intensivierung bei Friedrich Nietzsche [% § 4,2.6]). Dennoch ist es eben dieser kleine Schritt, der Feuerbach nun in einen grundsätzlich neuen Orientierungs- und Begründungshorizont versetzt und damit zugleich in eine prinzipielle Distanz zu den aufklärerischen Religionspositionen. Die Unendlichkeit des menschlichen Bewusstseins, dass sich der Mensch vom Tier unterscheidet, ist der Ursprungsort der Religion. Feuerbach beklagt den Grundfehler, dass die vom Menschen erdachte Religion einen dem Menschen gegenüber seienden Gott etabliert und auf diese Weise eine Entzweiung etabliert habe, in der alle Probleme der Religion ihre Wurzel haben. Der sich an Gott hingebende und von sich selbst entfremdete Mensch verehrt in einem von sich selbst getrennten, ja einem ihm entgegengesetzten Wesen sein eigenes Wesen. Die Religion ist das bewußtlose Selbstbewußtsein des Menschen. In der Religion ist dem Menschen sein eignes Wesen Gegenstand, ohne daß er weiß, daß es das seinige ist; das eigne Wesen ist ihm Gegenstand als ein andres Wesen. Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich: Er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen, Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen, Gott ewig, der Mensch zeitlich, Gott allmächtig, der Mensch unmächtig, Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten. Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eignes, geheimes Wesen. Es muß also nachgewiesen werden, daß auch dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt, mit welchem die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eignen Wesen ist. (47)

17 Das Wesen des Christentums [1841], in: Werke in sechs Bänden, hg. v. E. Thies, Bd. 5, Frankfurt/M. 1976, 13 f.

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In diesem Zwiespalt liegt nach Feuerbach auch die Wurzel der Vereinzelung, in die sich der Mensch in seiner individuellen Fixierung auf das Gegenüber zu Gott begibt, um sich vor Gott zu verantworten bzw. von Gott rechtfertigen zu lassen. Es wird verbreitet von Feuerbachs Projektionstheorie gesprochen, nach der die Menschen ihre Wünsche und Idealvorstellungen in den Himmel projizieren und nun in Gott verehren, was sie an sich selbst vermissen. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass sich bei Feuerbach selbst die Projektionsterminologie nicht findet. Die so genannte Projektionstheorie ist also bereits eine Feuerbachinterpretation, über deren Angemessenheit zu diskutieren bleibt. Es kann die Frage gestellt werden, ob mit dieser Begrifflichkeit eine gewisse Engführung und sachliche Verharmlosung einhergeht.18 Es kann aber zugleich festgestellt werden, dass das zentrale Anliegen Feuerbachs in dieser Interpretation nicht verstellt wird.

Mit ihren religiösen ‚Projektionen‘ greifen die Menschen allen Möglichkeiten voraus, ihre Wünsche irdisch mit den Mitteln ihrer eigenen Möglichkeiten zu realisieren, indem sie alle so zu nennende Vollkommenheit allein Gott beilegen. Wie der Mensch sich Gegenstand, so ist ihm Gott Gegenstand; wie er denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott. Soviel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus dem Gott erkennst du den Menschen, und hinwiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist identisch. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion ist die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse. . . . Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst oder richtiger: zu seinem [. . .] Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem anderen Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, gereinigt, befreit von den Schranken des individuellen Menschen, verobjektiviert, d. h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum menschliche Bestimmungen.19

Faktisch verhält sich der Mensch aber nicht zu sich selbst, sondern richtet seine Aufmerksamkeit auf den transzendenten Gott und beschäftigt sich mit der Pflege seines Verhältnisses zu ihm. „Der Mensch gibt seine Person auf, aber dafür ist ihm Gott, das allmächtige, unbeschränkte Wesen, ein persönliches Wesen; . . . Der Mensch ist schlecht, verdorben, unfähig zum Guten; aber dafür ist Gott nur gut, Gott das gute Wesen.“ (41 f.) Die für Gott aufgewendete religiöse Energie wird auf der anderen Seite aus der Pflege des Verhältnisses zum Mitmenschen abgezogen, die das eigentliche Betätigungsfeld menschlicher Verantwortung und Rechtfertigung darstellt. Die positiven 18 Vgl. T. Holzmüller, Projektion – ein fragwürdiger Begriff in der Feuerbach-Rezeption? in: NZSTh 28 (1986), 77–100.

19 Das Wesen des Christentums, 30–32.

118 § 4 Die Religionskritik

Kräfte des Menschen werden gleichsam an den Himmel verschleudert und somit der Erde entzogen. In diesem Sinne ist Religion asozial, weil sie die Menschen dazu verführt, ihre besten Fähigkeiten dem Jenseits und eben nicht dem Diesseits zu widmen, wo sie so dringend gebraucht würden. Zudem ist die Religion regressiv, weil sie die Menschen in ihren Unvollkommenheiten und Unzulänglichkeiten gefangen hält, diese sogar in gewisser Weise besonders pflegt, anstatt die Menschen dazu anzuleiten, ihre Schwächen und Fehler im zwischenmenschlichen Verkehr zu bearbeiten und auszugleichen. Während der Mensch im Gegenüber zu Gott nur seine Endlichkeit und Unvollkommenheit, ja Verderbtheit erfährt, könnte er in der zwischenmenschlichen Beziehung seine Unendlichkeit und Vollkommenheit verwirklichen und erfahren. Zwar bleibt einzugestehen, dass nicht der einzelne Mensch für sich genommen bereits diese Vollkommenheit beanspruchen kann, aber das ist allemal kein Grund, die Vollkommenheit ins Jenseits zu verlagern. Vielmehr geht es darum, dass der einzelne Mensch aus seiner Isolation heraustritt und sich seinen Mitmenschen zuwendet, sodass die Schwächen des einen durch die Stärken des anderen kompensiert werden. Kein Mensch ist für sich vollkommen, aber alle Menschen zusammengenommen lassen die menschliche Vollkommenheit in Erscheinung treten. Feuerbach spricht von der Gattung, in der Unendlichkeit und Vollkommenheit des menschlichen Wesens beschlossen sei, weil in ihr die Endlichkeit des Einzelnen und seine Unvollkommenheit ausgeglichen werden. Dabei bedient er sich eines personalistischen Basisarguments, in dem er dem umsorgten Ich des Menschen ein Du gegenüberstellt, an dem es sich bewährt und von dem her es zu sich kommt. Es fehlt hier [sc. im Christentum] gänzlich die objektive Anschauung, das Bewußtsein, daß das Du zur Vollkommenheit des Ich gehört, daß die Menschen erst zusammen den Menschen ausmachen, die Menschen nur zusammen das sind und so sind, was und wie der Mensch sein soll und sein kann. Alle Menschen sind Sünder. Ich gebe es zu; aber sie sind nicht Sünder alle auf gleiche Weise; es findet vielmehr ein sehr großer, ja wesentlicher Unterschied statt. Der eine Mensch hat Neigung zur Lüge, der andre aber nicht: Er würde eher sein Leben lassen als sein Wort brechen oder lügen; der dritte hat Neigung zur Trinklust, der vierte zur Geschlechtslust, der fünfte aber hat alle diese Neigungen nicht – sei es nun durch Gnade der Natur oder die Energie seines Charakters. Es kompensieren sich also auch im Moralischen, wie im Physischen und Intellektuellen, gegenseitig die Menschen, so daß sie, im ganzen zusammengenommen, so sind, wie sie sein sollen, den vollkommenen Menschen darstellen. (184) – Eben deswegen, weil das Christentum aus überschwenglicher Subjektivität nichts weiß von der Gattung, in welcher allein die Lösung, die Rechtfertigung, die Versöhnung und Heilung der Sünden und Mängel der Individuen liegt, bedurfte es auch einer übernatürlichen, besonderen, selbst wieder nur persönlichen, subjektiven Hilfe, um die Sünde zu überwinden. (189)

Da im Christentum das Individuum bereits die Gattung repräsentiert, bleibt es unausweichlich mit seinen Mängeln behaftet, die allein von Gott ausgeglichen werden können, sodass der Mensch in der Religion zum Opfer seiner eigenen Wünsche wird. Zugleich dient ihm Gott dazu, das Motiv der Gattung durch das Individuum repräsentiert zu sehen. Die Mängel lassen ihn zu Gott aufblicken, der ihm dann den Blick auf seine Bestimmung und somit auch auf die Gattung freigibt.

2. Die philosophische Religionskritik 119

Aber das Gefühl der Schranke ist ein peinliches; von dieser Pein befreit sich das Individuum in der Anschauung des vollkommnen Wesens; in dieser Anschauung besitzt es, was ihm außer dem fehlt. Gott ist nichts andres bei den Christen als die Anschauung von der unmittelbaren Einheit der Gattung und Individualität, des allgemeinen und individuellen Wesens. Gott ist der Begriff der Gattung als eines Individuums, der Begriff oder das Wesen der Gattung, welche als Gattung, als allgemeines Wesen, als der Inbegriff aller Vollkommenheiten, aller von den Schranken, die in das Bewußtsein und Gefühl des Individuums fallen, gereinigten Eigenschaften oder Realitäten, zugleich wieder ein individuelles, persönliches Wesen ist. (181)

Feuerbach stellt in keiner Weise die Gott beigelegten Prädikate in Abrede, wohl aber die Göttlichkeit dieser Prädikate, die nur deshalb bei Gott gelandet seien, weil der Mensch sie selbst dorthin gleichsam ausgelagert habe. Nun aber sollen sie wieder zurückgewonnen werden für die diesseitige Geschichte der Menschheit, wo sie konsequent auf den Menschen anzuwenden sind. Wenn überhaupt von Gott die Rede sein soll, dann kann es – wie bereits deutlich geworden ist – nur der Mensch sein, der dem Menschen Gott sein soll. Hier blicken wir auf das Credo Feuerbachs: „Homo homini deus est“ – „Der Mensch ist des Menschen Gott“. Im Zusammenhang: Aber was der Religion das erste ist, Gott, das ist an sich, der Wahrheit nach das zweite, denn er ist nur das sich gegenständliche Wesen des Menschen, und was ihr das zweite ist, der Mensch, das muß daher als das erste gesetzt und ausgesprochen werden. Die Liebe zum Menschen darf keine abgeleitete sein; sie muß zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Hinter die religiöse Liebe kann sich, wie bewiesen, auch der Haß sicher verbergen. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muß auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte. Die Verhältnisse des Kindes zu den Eltern, des Gatten zum Gatten, des Bruders zum Bruder, des Freundes zum Freunde, überhaupt des Menschen zum Menschen, kurz, die moralischen Verhältnisse sind per se wahrhaft religiöse Verhältnisse. Das Leben ist überhaupt in seinen wesentlichen, substantiellen Verhältnissen durchaus göttlicher Natur. Seine religiöse Weihe empfängt es nicht erst durch den Segen des Priesters. (318)

Hier liegt auch der Ansatz für Feuerbachs eigenen Vorschlag einer Religion des Menschen. Er versucht zu zeigen, dass sich alle traditionellen Inhalte der Religion für die Anthropologie fruchtbar machen lassen, ohne dass es dazu eines außermenschlichen Wesens bedarf. Alle auf Gott bezogenen religiösen Inhalte sind auf ihren anthropologischen Kern zu befragen, sodass sie vom Himmel zurückgenommen und auf der Erde zur Wirkung gebracht werden können. Die in ihnen enthaltenen anthropologischen Wahrheiten, die bisher gleichsam im Himmel verpufften, sollen im zwischenmenschlichen Bereich ihre heilsamen Wirkungen entfalten. Und wir dürfen nur die religiösen Verhältnisse umkehren, das, was die Religion als Mittel setzt, immer als Zweck fassen, was ihr das Untergeordnete, die Nebensache, die Bedingung ist, zur Hauptsache, zur Ursache erheben, so haben wir die Illusion zerstört und das ungetrübte Licht der Wahrheit vor unsern Augen. (322 f.)

120 § 4 Die Religionskritik

Die in die Unendlichkeit schweifenden Wünsche des Christentums gilt es zu erden und für das diesseitige Leben fruchtbar zu machen. Feuerbach erinnert an die Griechen, deren Wünsche bescheidener waren, indem sie nur das von ihren Göttern erwarteten, was sich mit den Grenzen der Natur vereinbaren ließ.20 Die Unendlichkeitsvisionen und Illusionen der christlichen Wunschprojektionen gilt es auf das Maß zu transformieren, das sich dann auch irdisch realisieren lässt. Der Mensch verwirklicht sich durch die Liebe über seinen Mitmenschen, der es ihm ermöglicht, seine individuellen Grenzen zu überschreiten und damit das gemeinschaftliche Leben zu befördern. Selbst den Sakramenten gewinnt Feuerbach einen rein anthropologisch bestimmten Sinn ab: Die Taufe versteht er als ein natürliches Gnadenmittel für ein umfassendes und regelmäßig zu wiederholendes Reinigungsbad des Leibes und der Seele (Moral) des Menschen – es ist Ausdruck des Dankes an die Natur. Das Abendmahl behält seine zeichenhafte Bedeutung darin, dass es in Brot und Wein den Menschen als Kulturwesen herausstellt, das sich mit Hilfe des Geistes der Natur zu bedienen weiß, um sein Leben zu gestalten – es ist Ausdruck des Dankes an den Menschen. Bei aller Radikalität der Kritik bleibt Feuerbach zugleich dicht an der christlichen Tradition, sodass im Blick auf die von ihm unterbreitete Religion der Erde von einer negativen Abhängigkeit von der überkommenen Religion ‚des Himmels‘ gesprochen werden kann. Sie beschreibt den Versuch einer konsequenten Anthropologisierung der Theologie, die nun das Glückseligkeitsbedürfnis des Menschen ganz und gar in die Natur und die Möglichkeiten des Menschen integriert, um endlich sich des Zwanges zu entledigen, in dem der Mensch bisher meinte, die Abhängigkeit von der Natur überwinden zu müssen. Karl Barth hat wegen dieser negativen Abhängigkeit von der christlichen Theologie das Werk Feuerbachs als ‚Anti-Theologie‘ bezeichnet.21 Das folgende Zitat kann durchaus in diese Richtung verstanden werden: Wer von mir nichts weiter sagt und weiß als: Ich bin Atheist, der sagt und weiß soviel von mir als wie nichts. Die Frage, ob ein Gott ist oder nicht ist, der Gegensatz von Theismus und Atheismus, gehört dem achtzehnten und siebzehnten, aber nicht mehr dem neunzehnten Jahrhundert an. Ich negiere Gott, das heißt bei mir: Ich negiere die Negation des Menschen, ich setze an die Stelle der illusorischen, phantastischen, himmlischen Position des Menschen, welche im wirklichen Leben notwendig zur Negation des Menschen wird, die sinnliche, wirkliche, folglich notwendig auch politische und soziale Position des Menschen. Die Frage nach dem Sein oder Nichtsein Gottes ist eben bei mir nur die Frage nach dem Sein oder Nichtsein des Menschen.22 &

H.-M. Saß, Ludwig Feuerbach. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978 E. Thies (Hg.), Ludwig Feuerbach (WdF 438), Darmstadt 1976 Chr. Weckwerth, Ludwig Feuerbach. Zur Einführung, Hamburg 2002

20 Das Wesen der Religion [1846], in: Werke in sechs Bänden, hg. v. E. Thies, Bd. 4, Frankfurt/M. 1975, 150 ff.

21 Ludwig Feuerbach, in: ZZ 5 (1927), 11–33, 11. 22 Das Wesen der Religion, 162 f.

2. Die philosophische Religionskritik 121

2.5 Max Stirner Die Ich-Philosophie von Max Stirner (Pseudo- Freiheit kann sich der Philosoph Max Stirner nym für Johann Caspar Schmidt) gilt einerseits (1806–1856) nur vorstellen, wenn sich der als eine Wurzel des Anarchismus und hat ande- Mensch konsequent allen von außen an ihn gestellten Ansprüchen – insbesondere rerseits einen besonderen Einfluss auf Friedrich denen der Religion – verweigert und nur Nietzsche (% § 4,2.6) ausgeübt. Wenn der seinen eigenen Bedürfnissen nachgeht. Mensch sich dazu durchringt, keine außer ihm selbst liegende Autorität anzuerkennen, erkennt er im Ich die exklusive Realität seines Seins. Will der Mensch tatsächlich frei sein, muss er sich zum Egoismus bekennen, denn nur der Egoist kann sagen, dass er frei ist. Außerhalb des Ichs darf nichts Absolutes anerkannt werden, eben auch nicht die Verehrung des Menschen als Gattung, wie Stirner ausdrücklich gegen Feuerbach (% § 4,2.4) hervorhebt. Nur wer sich das Gefühl der Einzigkeit bewahrt, kann sich einen Weg zur Freiheit bahnen. Es geht um dieses Gefühl der Selbstbehauptung, das sich gegen all die anderen Gefühle durchsetzen muss, die dem Menschen von der geschichtlichen Wirklichkeit zugemessen sind und sich seiner bemächtigen wollen. Es werde – insbesondere in der Erziehung – jeder erdenkliche Aufwand betrieben, um den Menschen fremden Gefühlen zu unterwerfen, damit er dann so agiert, wie das von ihm erwartet wird. Hören Wir den Namen Gottes, so sollen Wir Gottesfurcht empfinden, hören Wir den der fürstlichen Majestät, so soll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Untertänigkeit aufgenommen werden, hören Wir den der Moral, so sollen Wir etwas Unverletzliches zu hören meinen, hören Wir von dem und dem Bösen, so sollen Wir schauern usw. . . . Wir dürfen nicht bei jeder Sache und jedem Namen, der Uns vorkommt, fühlen, was Wir dabei fühlen möchten und können, dürfen z. B. bei dem Namen Gottes nichts Lächerliches denken, nichts Unerbietiges fühlen, sondern es ist Uns vorgeschrieben und eingegeben, was und wie Wir dabei fühlen und danken sollen.23

Es sind diese Manipulationen durch die Tradition, welche die Einzigkeit des Menschen zerstören und damit den Menschen überhaupt. Dagegen setzt Stirner auf die Herrschaft des ‚unumschränkten Ich‘, dem gegenüber nichts von sich aus Heiligkeit beanspruchen kann. Jede Heiligsprechung ist ausschließlich eine Angelegenheit des eigenen Gewissens. Karl Marx (% § 4,3.3) hat Stirner vorgeworfen, im Horizont kleinbürgerlicher Wünsche verhaftet zu bleiben, weil er seine Kritik ohne die Berücksichtigung der realen gesellschaftlichen Machtstrukturen und Klassenverhältnisse formuliere. Er bleibe in einem extensiv konsumistischen Verhältnis zum Leben verhaftet, das dann schließlich gar nicht so weit vom modernen Alltag der Konsumgesellschaft entfernt sei, wie es die steilen Formulierungen vielleicht vermuten lassen könnten (Die deutsche Ideologie, 1844). Die durchaus bemerkenswerte Wir-

23 Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften (1842–48), hg. v. H. G. Helms, München 1970, 60.

122 § 4 Die Religionskritik kungsgeschichte von Stirner ist dann auch recht diffus; sie verläuft über den Anarchismus, die Anthroposophie, den Existentialismus bis hin zum Faschismus.24

Stirner geht es um die Aufklärung des Scheins, durch den die überkommenen Lebensverhältnisse des Menschen zusammengehalten werden. Dabei sieht er den Menschen umstellt von Ansprüchen, denen er gerecht werden soll und die ihn dazu nötigen, seinen eigenen Anspruch immer weiter zurückzunehmen. Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. ‚Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!‘25

Stirner geht nun die verschiedenen Instanzen durch, die vom Menschen verlangen, von ihm zu seiner Sache gemacht zu werden und sich auf diese Weise seiner bemächtigen und ihn dann womöglich gänzlich verschleißen. Sie alle sind selbstbezogen und benutzen rücksichtslos den Menschen für ihre Selbstpflege. Es gibt nur einen Schluss, der sich aus dieser Betrachtung nahe legt. Und an diesen glänzenden Beispielen wollt Ihr nicht lernen, daß der Egoist am besten fährt? Ich Meinesteils nehme Mir eine Lehre daran und will, statt jenen großen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber ein Egoist sein. . . . Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache ‚des Menschen‘. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie u.s.w., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin. (36 f.)

Gott wird als das entscheidende Freiheitshindernis des sich selbst verwirklichenden Ichs angegriffen. Er steht hinter allem, ohne aber je recht greifbar zu sein, sondern folgt der religiösen Frage nach dem Wesen, die eben unweigerlich zu Spuk und Gespenstern führt. Was in dem Weltall spukt und sein mysteriöses, ‚unbegreifliches‘ Wesen treibt, das ist eben der geheimnisvolle Spuk, den Wir höchstes Wesen nennen. Und diesem Spuk auf den Grund zu kommen, ihn zu begreifen, in ihm die Wirklichkeit zu entdecken (das ‚Dasein Gottes‘ zu beweisen), – diese Aufgabe setzten sich Jahrtausende die Menschen; mit der gräßlichen Unmöglichkeit, der endlosen Danaidenarbeit, den Spuk in einen Nicht-Spuk, das Unwirkliche in ein Wirkliches, den Geist in eine ganze und leibhaftige Person zu verwandeln, – damit quälten sie sich ab. Hinter der daseienden Welt suchten sie das ‚Ding an sich‘, das Wesen, sie suchten hinter dem Ding das Unding. . . . Die Wesen allein und nichts als die Wesen zu erkennen und anzuerkennen, das ist Religion: ihr Reich ein Reich der Wesen, des Spukes und der Gespenster. (51 f.)

Die hier als höchstes Wesen avisierte leibhaftige Person hat dann das Christentum in Christus hervorgebracht, was für Stirner einen Spuk darstellt, der alles übersteigt, 24 Vgl. dazu H. G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners ‚Einziger‘ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußt-

seins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik, Köln 1966. 25 Der Einzige und sein Eigentum, 35.

2. Die philosophische Religionskritik 123

was sich je in der Phantasie der Schamanen abgespielt hat. Das Resultat dieser Konklusion ist nun, dass in diesem Leib gewordenen Gott der Mensch sich selbst gegenübersteht in einer Gestalt, die ihn das Grauen über sich lehrt. Damit zeigt sich auch unversehens, was es tatsächlich mit der Religion auf sich hat. Allein durch Christus war zugleich die Wahrheit der Sache zu Tage gekommen, daß der eigentliche Geist oder das eigentliche Gespenst – der Mensch sei. Der leibhaftige oder beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder Dasein. Fortan graut dem Menschen nicht eigentlich mehr vor Gespenstern außer ihm, sondern vor ihm selber: er erschrickt sich vor sich selbst. In der Tiefe seiner Brust wohnt der Geist der Sünde, schon der leiseste Gedanke (und dieser ist ja selber ein Geist) kann ein Teufel sein u.s.w. – Das Gespenst hat einen Leib angezogen, der Gott ist Mensch geworden, aber der Mensch ist nun selbst der grausige Spuk, hinter den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirklichkeit und zum Reden zu bringen sucht: der Mensch ist – Geist. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geist gerettet wird: auf den Geist kommt Alles an, und das Geistes- oder ‚Seelenheil‘ wird alleiniges Augenmerk. Der Mensch ist sich selbst ein Gespenst, ein unheimlicher Spuk geworden, dem sogar ein bestimmter Sitz im Leibe angewiesen wird (Streit über den Sitz der Seele, ob im Kopf u.s.w.). (52 f.)

Die letzte Antriebskraft der Religion ist freilich der Egoismus, der allerdings, weil er sich um das ewige Seelenheil kümmert, auf einem heillosen Umweg sein illusionäres Ziel verfolgt und damit ganz und gar die eigenen Möglichkeiten eines freien Lebens verspielt. &

W. Eßbach, Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst. Eine Studie über die Kontroverse zwischen Max Stirner und Karl Marx, Frankfurt/M. 1982 B. A. Laska, Ein dauerhafter Dissident. Wirkungsgeschichte des „Einzigen“, Nürnberg 1996

2.6 Friedrich Nietzsche Auch bei Nietzsche hat die Religionskritik vorFriedrich Nietzsche (1844–1900) wollte nehmlich die Gestalt der Christentumskritik. Sie keine Interpretationstheorie der Religion lässt aber in ihrer Grundsätzlichkeit auch erken- vorlegen. Seine vernichtende Kritik versteht sich eher als eine diagnostische nen, dass sie sich keineswegs auf diese beBetrachtung des Faktischen, wo die zu schränkt. Weder greift Nietzsche die Religion an erwartenden Brüche und Widersprüche der sich an, noch erledigt er sie durch einen neuen Moderne bei genauem Hinsehen bereits Interpretationsvorschlag, sondern er ist eher als erkennbar sind. psychologisch orientierter Zeitdiagnostiker zu verstehen, der sich auf die Erhellung von sprechenden Konstellationen und die in ihr liegenden Prognosen konzentriert. Es entspricht dieser Rolle, dass er keine neue philosophische Theorie oder ein neues systematisches Interpretationsinstrumentarium entwickelt hat, sondern vornehmlich in Aphorismen und szenischen Konstruktionen scharfsinnig und entlarvend auf die Risse und Brüche hinweist, die sich derzeitig erst andeuten mögen, aber ein durchaus bedrohliches Erosionspotential ansammeln, dessen Durchbruch die weithin besinnungslose Fassadenhaftigkeit der unkritischen

124 § 4 Die Religionskritik

und deshalb höchst leichtsinnigen Selbstfeier der Moderne schnell mit einem überaus unsanften Erwachen konfrontieren kann. Gewiss ist die Interpretation von Nietzsche nach wie vor umstritten – von seiner kontroversen Rezeption ganz zu schweigen –, aber es herrscht doch Einigkeit hinsichtlich seines Anliegens, seine Zeitgenossen darauf aufmerksam zu machen, dass sie weit unter dem Niveau ihrer Zeit leben, d. h. sich weit unter dem Niveau der in der Gegenwart liegenden Herausforderungen in einer überlebten und verspielten Wirklichkeit festzuhalten versuchen. Mehr als Diagnostiker und weniger als Therapeut betrachtet Nietzsche den Krankheitszustand der Gesellschaft, der aber eben nicht offen zutage liegt, sondern im besten Falles das Unterbewusste befallen hat, sodass es darum geht, ihn dort aufzusuchen und ins Bewusstsein zu heben. Das kann jedoch nur dann gelingen, wenn eine Bereitschaft dazu da ist, sich auf die meist unbequemen Einsichten, die von dort her zu erwarten stehen, tatsächlich einlassen zu wollen. Auch unser Wahrheitsbewusstsein folgt einer bestimmten Psychologie mit der Neigung, sich die Wirklichkeit jeweils so zurechtzulegen, dass alles in bester Ordnung sei. Nietzsche wirft gleichsam einen Blick hinter die Fassaden und fragt nach dem tatsächlichen Zustand, wobei er häufig zu recht deprimierenden Erkenntnissen kommt, die meist auf eine ablehnende Leserschaft stoßen, was wieder nur eine Bestätigung der eben benannten psychologischen Neigung darstellt. In der Religion und d. h. im zeitgenössischen Christentum zeigt sich in besonderer Weise der Krankheitszustand der Gesellschaft. Wenn Nietzsche feststellt, dass ‚Gott tot ist‘, so steht dahinter keine philosophische Widerlegung oder Auflösung des Gottesgedanken, sondern es geht ihm um ein im allgemeinen Leben ablesbares Faktum. Außer zur festlichen Inszenierung des ‚Glückes des Gegensatzes‘ haben die Menschen Gott aus ihrem Leben verdrängt, so sehr sie sich auch bemühen mögen, den Anschein zu wahren, als lebten sie im Glauben an einen Gott. Nietzsche sieht sich am ‚Sterbebette des Christenthums‘, wo nur noch ein ‚sanfter Moralismus‘ die im Grunde verwaiste Stelle markiert: Am Sterbebette des Christenthums. – Die wirklich activen Menschen sind jetzt innerlich ohne Christenthum, und die mässigeren und betrachtsameren Menschen des geistigen Mittelstandes besitzen nur noch ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich vereinfachtes Christentum. Ein Gott, der in seiner Liebe alles so fügt, wie es uns schließlich am besten sein wird, ein Gott, der uns unsere Tugend wie unser Glück giebt und nimmt, sodass es im Ganzen immer recht und gut zugeht und kein Grund bleibt, das Leben schwer zu nehmen oder gar zu verklagen, kurz, die Resignation und Bescheidenheit zur Gottheit erhoben, – das ist das Beste und Lebendigste, was vom Christenthum noch übrig geblieben ist. Aber man sollte doch merken, dass damit das Christenthum in einen sanften Moralismus übergetreten ist: nicht sowohl ‚Gott, Freiheit und Unsterblichkeit‘ sind übrig geblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, dass auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden: es ist die Euthanasie des Christenthums.26 26 Morgenröthe [1881], in: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, V. Abt., Bd. 1, Berlin 1971, 3–335, 81.

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Nietzsche verweist auf die drei Postulate der reinen praktischen Vernunft von Kant (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) (% § 2,9) als einer Verfallserscheinung eines sich selbst eliminierenden Christentums. Sprach Kant – äußerst unglücklich – von der Forderung einer ‚Euthanasie des Judentums‘27 (wohlgemerkt: nicht der Juden), so verweist Nietzsche schlicht und unbeteiligt auf das Faktum der ‚Euthanasie des Christenthums‘. Der Mensch hat durch seine Gestaltung des Lebens mehr unbewusst als bewusst, aber eben faktisch Gott getötet. Nietzsche geht es zunächst nicht um die Bewertung, sondern vor allem darum, diese schleichend durchgesetzte Veränderung wahrzunehmen. Deshalb gibt er der Feststellung dieser Veränderung keine Wertung, indem er weder sagt, dass dieser Gottesmord ein wenig voreilig geschehen sei, noch dass er nun endlich gelungen sei. Wohl aber hebt er hervor, dass die Menschen noch nicht einmal ahnen, dass sie Gott getötet haben und dass es nun an der Zeit sei, die weitreichenden Konsequenzen aus dem Tod Gottes zu ziehen, denn bisher wird noch so getan, als sei nichts geschehen, so als ließe sich jederzeit wieder auf Gott zurückgreifen, wenn es nötig sein sollte. Die Menschen haben in keiner Weise realisiert, dass die Anforderungen an sie erheblich gestiegen sind, denn nun sind sie gezwungen, auch all das zu übernehmen, wozu ihnen sonst Gott zur Verfügung gestanden hat. Anstatt konzentriert die Kräfte für die durch die Großtat angebrochene ‚höhere Geschichte‘ des Menschen zu sammeln, trägt der Mensch eine sorglose Heiterkeit zur Schau, die in keinem Verhältnis zu den nun auf den freien und zugleich orientierungslos gewordenen Menschen zukommenden Aufgaben steht. Das scheint mir der Kontext zu sein, in dem der ‚tolle Mensch‘ in der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ zu verstehen ist, der auf dem Marktplatz den Tod Gottes den untätig herumstehenden Menschen schreiend bekannt gibt: Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott 27 Streit der Fakultäten [1798], A 81 (Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9, 321).

126 § 4 Die Religionskritik bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!‘ – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘ –28

Unmittelbar vor diesem Aphorismus über den ‚tollen Menschen‘ findet sich ein gegenwartsdiagnostisches Bild für die Welt ohne Gott, das bereits in ähnlicher Weise bei Voltaire (% § 2,6) auftaucht: Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das LandHeimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, – und es giebt kein ‚Land‘ mehr! (158)

In einer Welt ohne Gott ist das Christentum untauglich. Die unüberhörbare Melancholie der eben zitierten Texte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nietzsches Bild vom Christentum alles andere als positiv gewesen ist. Vielmehr gründet es nach seiner Ansicht auf einer ‚ungeheuren Erkrankung des Willens‘, die aus dem Christentum eine Religion des Ressentiments gemacht habe, in der sich der Mensch Gott opfere. Und es ist diese Demuts- und Leidensmentalität des Christentums, die nun nach dem Tode Gottes den Menschen zum Verhängnis werde, weil sie mehr am Jenseits als am Diesseits orientiert sind. Die von Jesus proklamierte Seligkeit hat sich die Kirche bereits von Paulus ins Jenseits verlegen lassen, und sie hat gleichzeitig die konkrete Lebensanweisung der Bergpredigt und die Botschaft vom Reiche Gottes eschatologisch ausgehöhlt, sodass schließlich das Gegenteil von dem herauskomme, was das Evangelium ursprünglich besagte. Diese Überlegungen lassen erkennen, 28 Die fröhliche Wissenschaft [1882], in: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G.

Colli u. M. Montinari, V. Abt., Bd. 2, Berlin 1973, 13–335, hier: 158–160.

2. Die philosophische Religionskritik 127

dass Nietzsche – ähnlich wie es auch andere gern gemacht haben – einen fundamentalen Unterschied zwischen Jesus und dem sich auf ihn berufenden Christentum macht und nun dem pervertierten Christentum das ursprüngliche Evangelium entgegenhält. Allerdings geschieht dies bei Nietzsche nicht in der Hoffnung, dass sich heute aus den Ursprungskräften des Christentums noch etwas Positives gewinnen lasse, vielmehr soll lediglich angezeigt werden, dass es nie eine Kirche gegeben habe, die in angemessener Weise das Evangelium aufgenommen habe. Es ist ebenfalls psychologisch zu verstehen, wenn Nietzsche – ähnlich wie Dostojewski – Jesus als Idiot beschreibt: Er hat dezidiert nichts gelehrt, sondern war mit seiner ganzen Existenz selbst die Verkündigung; die Botschaft ist seine „Praktik“ in unmittelbarer und bedingungsloser Gegenwärtigkeit.29 Aus Jesus einen Helden machen! – Und was für ein Missverständnis ist gar das Wort ‚Genie‘! Unser ganzer Begriff, unser Cultur-Begriff ‚Geist‘ hat in der Welt, in der Jesus lebt, gar keinen Sinn. Mit der Strenge des Physiologen gesprochen, wäre hier ein ganz anderes Wort eher noch am Platz: das Wort Idiot. Wir kennen einen Zustand krankhafter Reizbarkeit des Tatsinns, der dann vor jeder Berührung, vor jedem Anfassen eines festen Gegenstandes zurückschaudert. Man übersetze sich einen solchen physiologischen habitus in seine letzte Logik – als InstinktHaß gegen jede Realität, als Flucht in’s ‚Unfassliche‘, in’s ‚Unbegreifliche‘, als Widerwille gegen jede Formel, jeden Zeit- und Raumbegriff, gegen alles, was fest, Sitte, Institution, Kirche ist, als Zu-Hause-Sein in einer Welt, an die keine Art Realität mehr rührt, einer bloss noch ‚inneren‘ Welt . . . ‚Das Reich Gottes ist in euch‘ . . . (198)

Es gehört zu den bis heute nur unzureichend realisierten Erkenntnissen Nietzsches, dass er gegenüber der im 19. Jahrhundert aufkommenden Sinnfrage eine prinzipielle Abneigung aufgerichtet hat. Der Mensch ‚litt am Problem seines Sinns‘ und war deshalb zu Unterwürfigkeit und Leiden bereit. Dem interpretierten Leiden vermochte der Mensch einen Sinn abzugewinnen – das evoziert die Schwäche und Empfindungslosigkeit und schließlich auch die Dekadenz des Christentums. Anstatt sich gegen das Leiden aufzulehnen, sucht es der christliche Mensch um des Sinnes willen ausdrücklich auf – eine von Nietzsche in verschiedenen Zusammenhängen angeprangerte Perversität, die er nur als Masochismus interpretieren kann, denn sie hat allein den absurden Nutzen, dass sich der Mensch offensiv und willentlich gegen sich selbst wendet. Hier liegt die eigentliche Wurzel für Nietzsches tiefe Verachtung des Christentums, die mit zunehmendem Alter immer aggressiver und rückhaltloser wird: „Was ehemals bloss krank war, heute ward es unanständig, – es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel.“ (208) Es ist der Ekel, den Nietzsche gegenüber heuchlerischen Menschen empfand, die kein Gespür mehr dafür haben, was die Zeit von ihnen verlangt. Nietzsche spricht davon, dass den Menschen jeder Sinn für das Vornehme verlorengegangen sei – damit wird keine elitäre Arroganz angesprochen, sondern die vom Mensch zu erwartende nüchterne Distanz 29 Vgl. Der Antichrist, Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, VI. Abt., Bd. 3, Berlin 1969, 163–252.

128 § 4 Die Religionskritik

für den klaren Blick. Es gehört in diesen Zusammenhang, wenn Nietzsche fragt: „Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsere Staatsmänner sogar, eine sonst sehr unbefangene Art Menschen und Antichristen der Tat durch und durch, sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehen?“ (209) Wenn man diesen eher sensiblen Kontext der Diagnosen Nietzsches beachtet, kann man sich nur jeder christlich-apologetischen Nietzsche-Kritik entgegenstellen, die in meist steiler Denunzierung des ‚Willens zur Macht‘ flink den Vorwurf der Selbsterlösung erhebt, ohne sich in der Regel auch nur einer der vielen allzu berechtigten Anfragen Nietzsches gestellt zu haben. In der anhaltenden Neigung des Menschen zu glauben zeigt sich die Erkrankung des menschlichen Willens. Hier greift nun Nietzsche ausdrücklich über das Christentum hinaus und attackiert das sich in den Religionen aber auch in den ideologischen Gewissheiten artikulierende menschliche Bedürfnis nach Glauben. Das „ungestüme Verlangen nach Gewissheit, welches sich heute in den breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet“, verführt sie zu Leichtgläubigkeit. Charakteristisch für diese Leichtgläubigkeit des Glaubens ist, dass an ihm auch wider bessere Einsicht festgehalten wird. Aber nicht nur die Massen sind anfällig für den Glauben, sondern es handelt sich um einen „Instinkt der Schwäche“, der in den unterschiedlichsten Ausdrucksformen die Mehrzahl mit Beschlag belegt und sie daran hindert, konsequent ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Nietzsche spricht von einer psychologischen Unfehlbarkeit der Religionsstifter (er hat vor allem Jesus [Paulus] und Buddha vor Augen), die in einem „Wissen um eine bestimmte DurchschnittsArt von Seelen“ besteht, „die sich noch nicht als zusammengehörig erkannt haben“30 – Religion als eine Vergemeinschaftung seelenverwandter Menschen. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in erbärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die Vaterländerei [. . .] oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme [. . .] oder in Nihilismus nach Petersburger Muster [. . .] zeigt immer vorerst das Bedürfnis nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt . . . Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dinglichsten nöthig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. [. . .] Fanatismus ist nämlich die einzige ‚Willensstärke‘, zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zu Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nunmehr dominirt – der Christ heisst ihn seinen Glauben. Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden muss, wird er ‚gläubig‘; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence. (264 f.) 30 Die fröhliche Wissenschaft, 272.

2. Die philosophische Religionskritik 129

Die eigentliche Erfindung der Religionsstifter ist einmal: eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als disciplina voluntas wirkt und zugleich die Langeweile wegschafft; sodann: gerade diesem Leben eine Interpretation zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werthe umleuchtet scheint, so dass es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und, unter Umständen, sein Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei Erfindungen die zweite die wesentlichere: die erste, die Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten und ohne Bewusstsein davon, was für ein Werth ihr innewohne. Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie sieht, dass er sie auswählt, dass er zum ersten Male erräth, wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. (271)

Der radikalen Ernüchterung gegenüber dem Christentum und der Religion überhaupt korrespondiert eine nicht weniger pointierte Ernüchterung dem Menschen und seinem Selbstverständnis gegenüber. Darin wird die Entschiedenheit seiner Gegenwartsdiagnose besonders deutlich: Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘, von der ‚Gottheit‘ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Thier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andererseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die grosse Hinterabsicht der thierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung, jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit . . . Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: Der Mensch ist, relativ genommen, das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichste abgeirrte – freilich, mit all dem, auch das interessanteste! –31 &

G. Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999. W. A. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982. W. Ries, Nietzsche zur Einführung, Hamburg 2004.

2.7 Philosophische Religionskritik im 20. Jahrhundert Es gibt vor allem zwei Gründe, die im 20. Jahrhundert zu einem Abflauen der Religionskritik in dem hier ins Auge gefassten strengen Sinne geführt haben. Der erste und wohl entscheidende liegt darin, dass die Religion für die Philosophie kein Gegenstand eines besonderen Interesses mehr ist. Faktisch hat sich die Religion im Blick auf die von ihr zu führenden Debatten inzwischen so verflüchtigt, dass ihr keine eigene Aufmerksamkeit mehr gewidmet werden muss. Der zweite Grund ist darin zu suchen, dass sich da, wo die Religion noch in den Blick genommen wird, die Kritik weithin gemäßigt hat und mehr die aktuelle Erscheinungsweise der Religion beklagt, aber nicht grundsätzlich ihre Existenz infrage stellt (% § 5). Der als Krise oder gar als Bruch empfundene Erste Weltkrieg hat auf unterschiedlichen Ebenen ein neues Interesse an der Ontologie geweckt, gerade auch da, wo je31 Der Antichrist, 178.

130 § 4 Die Religionskritik

der Metaphysik eine entschlossene Absage erteilt wird. Sowohl der Personalismus (Martin Buber) als auch die Existenzphilosophie (Martin Heidegger) ringen mit dem Versuch einer Neubestimmung der Frage nach dem Sein. Nur wenig beeindruckt von den grundsätzlichen Erschütterungen des verbreiteten Krisenbewusstseins trägt Nicolai Hartmann eine erfahrungsorientierte ontologische Perspektive vor, die dem Menschen wieder die Souveränität der Verfügung über die Wirklichkeit sichert, indem sie seine Anhängigkeit nach unten akzeptiert und den Raum oberhalb des Menschen ganz und gar eliminiert, weil sich sonst die Freiheit des Menschen als eine Illusion erweisen würde. Wo Hartmann dem Menschen unter den Bedingungen einer in unterschiedliche Schichten bzw. Ebenen hierarchisch gestuften Wirklichkeit seine Souveränität sichert, sieht Helmuth Plessner den Menschen eher darin gesichert, dass er um seine Unsicherheit und seine Selbstverborgenheit weiß. Die Religion ist der leichtfertige und wirklichkeitsfremde Versuch, den Menschen auf einen sicheren Boden zu stellen, was ihn aber in einen prinzipiellen und somit folgenreichen Widerspruch zu seiner Vernunft versetzt. Plessner weist in seinem anthropologischen Realismus darauf hin, dass der Atheismus alles andere als eine beiläufig zu realisierende Selbstverständlichkeit ist. Sodann werden zwei miteinander zusammenhängende Argumentationsprofile zur Debatte gestellt, die den bereits erörterten Argumenten der Religionskritik weitere neue Aspekte hinzufügen. Das erste findet sich in der analytischen Philosophie, die sich aus der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins entwickelt hat. Das zweite Argumentationsprofil bietet der kritische Rationalismus, der wiederum seine Wurzeln in der analytischen Philosophie hat. Beide haben sich von umfassenden Wahrheitskonzeptionen verabschiedet und fragen nach den spezifischen Wahrnehmungsmodalitäten, mit denen sich der Mensch seine Wirklichkeit möglichst verlässlich begehbar macht. Welcher Grad von Verlässlichkeit kann einer Aussage zugemessen werden bzw. welcher Grad von Verlässlichkeit muss von einer Aussage erwartet werden? In einem grundsätzlichen Unterschied zur Religionskritik im 19. Jahrhundert erscheint hier die Religion nicht mehr als ein gefährliches Verführungspotential zu einer bedrohlichen Wirklichkeitsverklärung bzw. -verfremdung, sondern lediglich als ein theoretischer bzw. intellektueller Skandal, der ihre Repräsentanten und vor allem ihre Lehrer eines unredlichen und absurden Umgangs mit der Vernunft überführt. Entsprechend moderater fällt deshalb auch der Zugriff auf das Phänomen der Religion aus, indem vor allem die intellektuellen Apologeten der Religion – d. h. in erster Linie die Theologenschaft – und ihre Ansprüche auf allgemeine Wahrnehmung ins Visier geraten und weniger die Harmlosigkeit der verbreiteten religiösen Lebenspraxis. In ihrem Fortbestand hat die These vom Priesterbetrug eine neue, milder gestimmte Unterstützung erhalten.

2. Die philosophische Religionskritik 131

2.7.1 Nicolai Hartmann Die Problemstellung bei Nicolai Hartmann ist Nur der Sinn, den der Mensch sich und der vergleichbar mit der bei Kant (% § 2,9). Wie ist Welt in der unvollkommenen Endlichkeit gibt, kann nach Ansicht des Philosophen es möglich, den Menschen als ein ethisch hanNicolai Hartmann (1882–1950) der delndes und somit freies Wesen zu denken, wenn Sinnleere wirksam widersprechen. alles Geschehen durch nicht suspendierbare Naturgesetze bestimmt ist. Anders als Kant stellt Hartmann diese Frage jedoch im Horizont einer hierarchisch geschichteten Ontologie, in der die jeweils niedrigere Schicht zwar den Bedingungshorizont für die darüber liegende darstellt, die jeweils darüber liegende allerdings die Möglichkeit mit sich bringt, die Mittel der niedrigeren für eigene Zwecke einzusetzen und sie somit einer bestimmten Verwendung zuzuführen. Solange der Mensch in der Welt mit seinen herausgehobenen geistigen Fähigkeiten Repräsentant der obersten Seinsschicht und somit nicht einer noch höheren (göttlichen) Instanz unterworfen ist, kann ihm die letzte Bestimmungspotenz für das Geschehen in der Welt zugemessen werden. Seine herausgehobene Stellung liegt in der allein ihm eignenden Möglichkeit, die von sich aus kraftlosen idealen Werte in der tatsächlichen Welt zu realisieren. Das setzt eine Welt voraus, die nicht final determiniert ist. Der Kausalnexus, der für Hartmann grundlegend und unumgehbar bleibt, ist teleologisch richtungslos, d. h. er kann, ohne außer Kraft gesetzt zu werden, in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Die Realwelt an sich ist wertfrei und richtungslos. Wäre jedoch die Welt etwa durch ein über den Menschen stehendes Wesen final determiniert, so müsste sich auch der Mensch ohnmächtig einer über ihn verhängten Teleologie unterwerfen, er wäre entscheidungsunfähig und damit ethisch nicht belangbar. In einer durchgehend final determinierten Welt, wie die ältere Metaphysik sie unter dem Banne altehrwürdiger Vorurteile fast einstimmig annahm, ist sittliche Freiheit ein Ding der Unmöglichkeit. . . . Stünde die Teleologie der Seinsprozesse ontologisch fest, so bliebe für das Sein der Sittlichkeit schlechterdings kein Spielraum in der Welt, und alle ethischen Phänomene wären Scheinphänomene. Der Mensch wäre in seinem Willen, seiner Stellungnahme, ja in allem Verhalten überhaupt, schon prädestiniert; und alle Zurechnung, alles Verantwortungsgefühl wäre Täuschung – vielleicht eine gnädige Täuschung, aber eben doch Täuschung. Für ein sittliches Wesen wäre kein Raum. Der ‚Mensch‘ ist nur möglich in einer nicht teleologisch determinierten Welt.32

Es ist also für den Menschen essenziell, dass er keiner oberhalb seiner selbst agierenden weiteren Instanz untersteht. Die Ontologie muss mit dem Menschen nach oben hin unbedingt abgeschlossen sein. Nur so eröffnet sich der für den ethisch verstandenen Menschen essenzielle Freiheitsspielraum, in dem es ihm möglich wird, den richtungslosen Mechanismus der realen Welt durch teleologisches Denken und Handeln in diese oder jene Richtung zu lenken. Die Richtung wird – soll sie sich ethisch ausweisen können – in den idealen an sich seienden, aber von sich aus kraft32 Ethik [1926], Berlin 41962, 663.

132 § 4 Die Religionskritik

losen Werten angezeigt, die sich dem Menschen in seinem untrügbaren Wertbewusstsein bzw. Wertgefühl erschließen. Diese idealen Werte, die Hartmann auch materialiter beschreibt (mit Bezugnahme auf E. Husserl und M. Scheler), geben der Ethik ihre Orientierung. Der Mensch verfügt mit seinem Willen über die erforderliche Kraft, die an sich ohnmächtigen Werte zu realisieren und somit dem Geschehen eine Richtung zu geben. Das ist die einzige Möglichkeit, die der Mensch hat, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Sie setzt voraus, dass es keine transzendente Macht gibt, von der die Sinngebung zu erwarten ist. Der Sinn ist nicht jenseits der realen Welt zu suchen, sondern konsequent im Diesseits durch ethische Bewährung in der ontologisch dem Menschen zukommenden Freiheit zu realisieren. Hineingestellt in den Dualismus von realer und idealer Welt wird der Mensch zum Weltenlenker mit dem in seinem Willen beschlossenen Vorrecht der Wertrealisation. Die Ethik tut – und muß tun – was in den Augen des Frommen Gotteslästerung ist: sie gibt dem Menschen die Attribute der Gottheit. Sie gibt ihm wieder, was er, sein eigenes Wesen verkennend, von sich abgetan und Gott beigelegt hat. Oder, wenn man es anders ausdrücken will, sie läßt die Gottheit herabsteigen von ihrem Weltenthron und im Willen des Menschen wohnen. Dem Menschen fällt das metaphysische Erbe Gottes zu. (199)

Ein spezifischer Reiz der Religion besteht in der von ihr angebotenen Vergebung der Schuld; sie gipfelt in der Erlösung, in welcher dem Menschen die Last abgenommen wird, die er im Leben unausweichlich auf sich lädt: die moralische Schuld. Doch Hartmann sieht in der Schuldabnahme eine Aufhebung der sittlichen Freiheit. Zwar kann gegenseitige Vergebung selbst ein Akt der Sittlichkeit sein, aber sie bedeutet niemals eine Elimination der Schuld, die aus sittlichen Gründen auch nicht gewollt werden darf. Daher ist zu sagen: nicht nur daß es sittlich keine Schuldabnahme gibt – das würde dem nicht widerstreiten, daß es sie im religiösen Sinne gibt, denn was der Mensch nicht kann, das kann Gott können –, sondern die Schuldabnahme ist auch ethisch falsch, verkehrt; sie ist nicht ein solches, das der Mensch wollen darf und als sittliches Wesen wollen kann. Sie wäre, selbst wenn sie möglich wäre – und sei es selbst durch göttliche Gnade – ein Übel, und zwar das größere Übel im Vergleich mit dem Tragenmüssen der Schuld; denn sie wäre wirklich ein moralisches Übel, die Entmündigung und Entwürdigung des Menschen, seine Unfreiheitserklärung. Sie ist im sittlichen Sinne Nichtseinsollendes. Der sittlich Freie kann sie nicht wollen. Der sittlich Freie muß ihr den Willen zur Schuld, den berechtigten sittlichen Stolz der Selbstbestimmung entgegensetzen. (819)

Hier zeigt sich für Hartmann der Angriff der Religion auf den Menschen, die ihm genau das nimmt, was ihn als Menschen auszeichnet. Sie bedeutet eine Erniedrigung des Menschen, so sehr sie auch dessen Erhöhung propagieren mag. Allerdings muss der Mensch bereit sein, den Sinn weder im Ursprung noch im Ziel der Welt zu suchen; auch beziehe sie ihre Güte nicht von außerhalb. Wenn der Mensch hinter dem Gegebenen in einem Dauernden, Ewigen oder Unendlichen nach dem Sinn sucht, greift er in einen Bereich, in dem er grundsätzlich nichts zu fassen bekommt, und missachtet die Möglichkeiten, die sich ihm im Zeitlichen, Vergänglichen und Ephe-

2. Die philosophische Religionskritik 133

meren bieten.33 Es handelt sich lediglich um Projektionen, deren Fiasko sich im unlösbaren Theodizeeproblem zeigt. Eben nur weil die Welt unvollkommen ist, ist der Mensch in ihr nicht überflüssig und ihm kommt die Möglichkeit und Aufgabe der Sinngebung zu. Immer hat der Mensch gemeint, sich über die Sinnlosigkeit der Welt beklagen zu müssen. Er hat mit der Gottheit gerechtet um sie. Er hätte ihr auf Knien danken sollen für sie. Er verwarf um ihretwillen die Welt; er wurde an der Seele krank um sie, wurde weltflüchtig und lebensüberdrüssig. Er begriff nicht, daß er verwarf, was ihm frommt und ihn erhob, daß er ersehnte, was ihn entrechten und vernichten mußte. Er ermaß nicht, daß er gerade so – in solcher Welt, und nur in ihr – ein Heimatrecht hat, daß sie gerade so und nur so die seinige ist. Sein Heil, daß sein Sehnen ohnmächtig war; daß kein Gott war, seine Gebete im Zorn zu erhören. (271) &

H. M. Baumgartner, Die Unbedingtheit des Sittlichen, München 1962 M. Morgenstern, Nicolai Hartmann zur Einführung, Hamburg 1997 W. Harich, Nicolai Hartmann – Größe und Grenzen, Würzburg 2000

2.7.2 Helmuth Plessner Die Anthropologie stand im Mittelpunkt des InDer Philosoph und Soziologe Helmuth teresses von Helmuth Plessner. Einerseits bleibt Plessner (1892–1985) sieht die Herausforderung des Menschen darin, in er grundsätzlich skeptisch gegenüber jeder Geseiner Selbstverborgenheit zu verharren, stalt einer Metaphysik, aber andererseits verweiweil jede Selbstdefinition ihn auf einen gert er sich auch einer rein empirischen BetrachGlauben verweisen würde, der ihn tungsweise des Menschen. Vielmehr hält er nach unweigerlich in einen Gegensatz zu seiner gründlicher Auslotung der sich anbietenden ZuVernunft bringt. gangsmöglichkeiten das Wesen des Menschen für unergründlich. Die flehende Bitte des Archimedes: „Gib mir (einen Ort), wo ich stehe!“, wird auf Dauer unerhört bleiben. Der Wunsch weckt eine höhere Erwartung, als sich je verlässlich befriedigen lassen wird. Es lässt sich keine auf den Menschen passende Definition formulieren, sodass Plessner ihn in Anspielung auf die Rede vom verborgenen Gott, dem ‚deus absonditus‘, als ‚homo absconditus‘ bezeichnet – diese Formulierung findet sich in anderer Verwendung auch bei E. Bloch (Atheismus im Christentum % § 5,5). Plessner stellt sie auch ausdrücklich der marxistischen Vorstellung gegenüber, nach der sich das Wesen des Menschen nur deshalb nicht erkennen lasse, weil ihm die Bedingungen, unter denen er lebt, nur eine entfremdete Lebensweise ermöglichen. Als ein in der Welt ausgesetztes Wesen ist der Mensch sich verborgen – Homo absconditus. Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen Gottes zugeschriebene Begriff entspricht 33 Vgl. Sinngebung und Sinnerfüllung [1934], in: Kleinere Schriften Bd. 1, Berlin 1955, 245–279, 266.

134 § 4 Die Religionskritik der Natur des Menschen. Sie läßt sich nur als eine von ihrer biologischen Basis jeweils begrenzte und ermöglichte Lebensweise fassen, die den Menschen weiter festlegender Bestimmung entzieht. Darum müssen alle Versuche scheitern, seine Natur zu definieren, das heißt auf bestimmte, angeblich ausschlaggebende Faktoren einzuschränken. Niemand wird bestreiten, daß die Sorge um Nahrung zu den materiellen Konstanten eines auf keine Umwelt spezialisierten Lebewesens gehört. Daraus aber Folgerungen im Sinne des Marxismus zu ziehen, ist falsch. Gerade wenn man die vom europäischen Menschen der Neuzeit hervorgerufene Finalität stetigen Fortschritts einer Wissenschaft, die Industrie wird, zugibt, muß man sich davor hüten, die in Sicht kommende neue Phase in Richtung auf das Nahen einer heilsgeschichtlichen Wende zu extrapolieren. Selbstentfremdung suggeriert Heimkehr aus der Fremde. Das ist die ins Heroische gewandte Verweisung auf eine innerhalb der Geschichte Europas sich abzeichnende zweite Geschichte. Aber der Mensch hat sich nie verlassen. Keine Art von Arbeit hat ihn je von sich entfremdet. Und keine Art von Arbeit kann ihn um seine Möglichkeiten bringen. So kehrt der Mensch auch nie zurück. Auf die dem Marxismus inhärente Romantik von Entfremdung und Heimkehr müssen wir verzichten. Wir müssen uns, so hart es uns ankommt, ihren illusionären Charakter eingestehen. In seiner optimistischen Koppelung von Fortschritt und Heimkehr ruht der Marxismus auf einer überholten Anthropologie, die, noch immer im Banne Hegels, vor der Konsequenz einer Einsicht in die Unergründlichkeit des Menschen und das Wesen seiner Geschichte die Augen verschließt.34

Plessner zerstreut jeden auf die Geschichte gesetzten Optimismus; jede auf die historische Evolution gesetzte Hoffnung ist unbegründbar. Es bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als eben in der Spannung von kontingent traditionsgehaltenem Kulturwesen und rückhaltlos skeptischem Vernunftwesen zu leben. Es sind die Versuche des Menschen, sich in Verkennung seiner tatsächlichen Lage selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen, die ihn unweigerlich in einen Widerspruch zu seiner nur aktualiter vollziehbaren Lebendigkeit versetzen – die Vergegenständlichung steht bereits gegen sein Wesen. Jede Selbstbetrachtung erfordere einen Standpunkt, der jenseits des tatsächlichen Lebensvollzugs liegt. Einen solchen Standpunkt kann der Mensch aber prinzipiell nicht einnehmen. Diese Situationsbeschreibung ist der Ausgangspunkt für Plessners Religionskritik. Die Religion ist der aussichtslose Versuch, den eben beschriebenen Mangel, seine „konstitutive Wurzellosigkeit“,35 zu beheben, denn in ihr schafft sich der exzentrische Mensch je nach geschichtlicher Situation ein ‚Definitivum‘ als letzte Begründung, an das er seinen Glauben hängt. Die Religion geht zwar auf den oben zitierten Wunsch des Archimedes ein, indem sie Menschen mit einem letzten Grund in Verbindung bringt, aber sie erreicht durch den von ihr geweckten Glauben nur das Gefühl des Menschen. Damit entsteht der anstößige und allein zugunsten der Vernunft zu entscheidende prinzipielle Gegensatz von Glaube und vernünftiger Reflexion. 34 Homo absconditus [1971], in: R. Rocek / O. Schatz (Hg.), Philosophische Anthropologie heute, München 21974, 37–50, 49 f.

35 Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin 21965, 341.

2. Die philosophische Religionskritik 135

Man kann darüber streiten, ob Religion wesensmäßig ein Erlösungsbedürfnis voraussetzt oder auch nur eine Erlösungsfunktion de facto am Gläubigen ausübt. Die Vorstellungen vom Göttlichen wechseln mit denen vom Heiligen und Menschlichen. Eins bleibt für alle Religiosität charakteristisch: sie schafft ein Definitivum. Das, was dem Menschen Natur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie ihm geben. Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion. Zwischen ihr und der Kultur besteht daher trotz aller geschichtlichen Friedensschlüsse und der selten aufrichtigen Beteuerungen, wie sie z. B. heute so beliebt sind, absolute Feindschaft. Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück. (342)

Indem die Vernunft jeden fixierten Halt als eine eigene Setzung erkennt, bleibt Plessner jedem festen Standpunkt des Menschen gegenüber skeptisch. Zwar erkennt er das menschliche Bedürfnis nach einer fest gegründeten Identität an, auf der anderen Seite zeigen sich ihm alle erprobten Wege, die zu einer solchen Identität führen könnten, als untauglich und irreführend. Was Plessner fordert, ist eine nicht verführbare Nüchternheit des Menschen sich selbst gegenüber, die sich nicht einfach von attraktiven Scheinangeboten ansprechen lässt. Es muss eben bereits als ein Scheinangebot bewertet werden, wenn der Mensch glaubt, eine exzentrische Position einnehmen zu können. Zugleich sieht Plessner, dass angesichts der bleibenden Haltlosigkeit des Menschen der Atheismus keineswegs ein sich selbst empfehlender Weg ist. Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander. An der eigenen Haltlosigkeit, die dem Menschen sogleich den Halt an der Welt verbietet und ihm als Bedingtheit der Welt aufgeht, kommt ihm die Nichtigkeit des Wirklichen und die Idee des Weltgrundes. Exzentrische Positionsform und Gott als das absolute, notwendige, weltbegründende Sein stehen in Wesenskorrelation. Nicht das Bild ist entscheidend, das sich der Mensch von Gott macht, ebensowenig wie das Bild, das der Mensch von sich selbst macht, entscheidend ist. Dem Anthropomorphismus der Wesensbestimmung des Absoluten entspricht notwendig ein Theomorphismus der Wesensbestimmung des Menschen – ein Schelersches Wort –, solange der Mensch an der Idee des Absoluten auch nur als des Weltgrundes festhält. Diese Idee aufgeben, heißt aber die Idee der Einen Welt aufgeben. Atheismus ist leichter gesagt als getan. (345 f.) &

K. Haucke, Plessner zur Einführung, Hamburg 2000 O. Mitscherlich, Natur und Geschichte. Helmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin, 2007

136 § 4 Die Religionskritik

2.7.3 Ludwig Wittgenstein und die analytische Philosophie Für die gesamte analytische Philosophie ist der Tractatus logico-philosophicus (1921) von Ludwig Wittgenstein (1889–1951)36 grundlegend. M. Schlick, R. Carnap, O. Neurath, H. Feigl, F. Weismann, V. Kraft bildeten zusammen mit den Mathematikern H. Hahn, K. Menger und K. Gödel den Kern des ‚Wiener Kreises‘. Außerdem werden A. J. Ayer, K. Popper, H. Albert, W. W. Bartley, A. Flew, R. B. Braithwaite, R. M. Hare, M. Bense, J. Wisdom, J. T. Ramsey und J. C. Austin zur analytischen Philosophie bzw. zum darauf aufbauenden kritischen Rationalismus gerechnet.

Bei seiner Forderung nach einer klaren Sprache geht Wittgenstein davon aus, dass jeder Satz eine bestimmte Wirklichkeit abbilden will. Die Struktur der Wirklichkeit entspricht der Struktur des Denkens und der Sprache. Es sei nicht die Sprache, die eine logische Struktur der Wirklichkeit behauptet oder diese gar erst implementiert, sondern es komme darauf an, dass sich in der Sprache die tatsächliche Logik der Wirklichkeit abbildet. „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. . . . Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.“ (Tractatus 4.121) Im Grunde wird mit dieser Grundthese das Sagbare auf die Grenzen der Naturwissenschaften verwiesen. Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige. (Tractatus 6.53)

Wittgenstein räumt jedoch später die Möglichkeit verschiedener Sprachspiele ein, die jeweils ihren eigenen Aussage- und Wirklichkeitshorizont haben. Die Philosophie bekommt die Aufgabe zugewiesen, die Aussagefähigkeit von Sätzen und somit von Sprache kritisch ins Visier zu nehmen, ohne selbst über ein lehrhaftes Instrumentarium für die Lösung materialer Probleme zu verfügen. „Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen. Das Resultat der Philosophie sind nicht ‚philosophische Sätze‘, sondern das Klarwerden von Sätzen“ (Tractatus 4.112). So bleibt der berühmte Schluss des Tractatus für Wittgenstein durchaus programmatisch: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ (Tractatus 7) Zur Religion hat sich Wittgenstein wenig geäußert. Das blieb seinen Schülern überlassen. Aber es ist deutlich, dass die Sprache der Religion nach den Kriterien von Wittgenstein ohne eine eigene Aussage dasteht; sie redet über etwas, über das man nicht sprechen kann. Da, wo aber nichts gesagt werden kann, gibt es dann im 36 L. Wittgenstein, Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1969, 7–83.

2. Die philosophische Religionskritik 137

Grunde auch nichts zu kritisieren, d. h. die Religion steht vollkommen jenseits dessen, was für Philosophie Relevanz beanspruchen kann. In dem Maße, in dem Wittgenstein allerdings anerkennt, dass sich Lebensprobleme nicht im Horizont wissenschaftlicher Fragen stellen, in dem Maße kann die Religion durchaus einen Platz beanspruchen, aber eben als Lebensfrage und nicht als Aussagezusammenhang. Wittgenstein zögert, im Blick auf die Religion die praktische Konsequenz aus seiner philosophischen Einsicht zu ziehen, d. h. er leitet aus seiner theoretischen Religionskritik keine praktischen Forderungen ab. Rudolf Carnap (1891–1970) wendet sich mit seinem logischen Positivismus gegen jede Form der Metaphysik, da sich ihre Aussagen einer kritischen Prüfung entziehen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen würde. Sind aber Aussagen einer solchen kritischen Prüfung nicht zugänglich, so sind sie in toto sinnlos, d. h. es handelt sich um Scheinsätze, auch wenn sie noch so sehr von einer langen Tradition oder von besonderen Affekten des Menschen getragen sein mögen. Carnap hebt das Verifikationsprinzip hervor, nach dem alle Aussagen einer rationalen Bestätigung bedürfen, ohne die sie eben Scheinaussagen bleiben. Am Beispiel des Satzes „Cäsar ist eine Primzahl“ zeigt Carnap auf, dass es grammatikalisch unanfechtbare Sätze gibt, die aber unterschiedliche logische Sphären miteinander vermischen und somit zu absurden Sätzen werden. Auch Carnap hat die Religion als Lebensgefühl akzeptiert, aber sie hat keinen eigenen theoretischen Gehalt und wäre deshalb besser durch Kunst zu ersetzen.37

2.7.4 Der kritische Rationalismus Der kritische Rationalismus kann als eine pointierte Zuspitzung der analytischen Philosophie angesehen werden, indem er in Fortsetzung des logischen Positivismus behauptet, dass etwas, das sich prinzipiell nicht falsifizieren lässt, auch nicht verifizierbar ist. Dieser Art sind alle Aussagen über Gott. Das folgende Gleichnis, das Antony Flew (*1923) von John Wisdom übernimmt, will zeigen, dass Gott nach einer so lange währenden kritischen Geduld nun schließlich doch als eine Illusion erwiesen sei. Es waren einmal zwei Forscher, die stießen auf eine Lichtung im Dschungel, in der unter vielem Unkraut allerlei Blumen wuchsen. Da sagt der eine: ‚Ein Gärtner muß dieses Stück Land pflegen.‘ Der andere widerspricht: ‚Es gibt keinen Gärtner.‘ Sie schlagen daher ihre Zelte auf und stellen eine Wache aus. Kein Gärtner läßt sich jemals blicken. ‚Vielleicht ist es ein unsichtbarer Gärtner.‘ Darauf ziehen sie einen Stacheldrahtzaun, setzen ihn unter Strom und patrouillieren mit Bluthunden. (Denn sie erinnern sich, daß ‚Der unsichtbare Mann‘ von H. G. Wells zwar gerochen und gefühlt, aber nicht gesehen werden konnte.) Keine Schreie 37 Vgl. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: ders., Erkenntnis 2, Hamburg 1931.

138 § 4 Die Religionskritik aber lassen je vermuten, daß ein Eindringling einen Schlag bekommen hätte. Keine Bewegung des Zauns verrät je einen unsichtbaren Kletterer. Die Bluthunde schlagen nie an. Doch der Gläubige ist immer noch nicht überzeugt: ‚Aber es gibt doch einen Gärtner, unsichtbar, unkörperlich und unempfindlich gegen elektrische Schläge, einen Gärtner, der nicht gewittert und nicht gehört werden kann, einen Gärtner, der heimlich kommt, um sich um seinen geliebten Garten zu kümmern.‘ Schließlich geht dem Skeptiker die Geduld aus: ‚Was bleibt eigentlich von deiner ursprünglichen Behauptung noch übrig? Wie unterscheidet sich denn das, was du einen unsichtbaren, unkörperlichen, ewig unfaßbaren Gärtner nennst, von einem imaginären oder von überhaupt keinem Gärtner?‘38

Gott wird gleichsam als Hypothese Schritt für Schritt eingeschränkt, bis er schließlich als widerlegt gelten muss, auch wenn er sich nicht tatsächlich widerlegen lässt. Gott stirbt in der Geschichte den „Tod durch tausend Modifikationen“ (85), mit denen immer wieder versucht wird, ihn der Skepsis zu entziehen. Der zu einer abstrakten Idee verflüchtigte Gott der Theisten lässt sich zwar nicht wirksam bezweifeln, aber er spielt faktisch auch keine Rolle mehr, in der ihm eine bedeutungsvolle Relevanz zugemessen wird. Den Theisten bleibt jedoch entgegenzuhalten, dass „eine Behauptung, um überhaupt eine Behauptung zu sein, den Anspruch erheben [muss], dass die Dinge sich auf eine bestimmte Weise und nicht anders verhalten. . . . Und dennoch . . . übersehen dies intellektuell religiöse Menschen leicht und weigern sich im allgemeinen, nicht nur tatsächliche, sondern auch denkmögliche Ereignisse als Gegenargument gegen ihre theologischen Behauptungen und Erklärungen zuzulassen. Aber soweit sie das tun, sind ihre angeblichen Erklärungen tatsächlich bloßer Schein und ihre scheinbaren Behauptungen in Wirklichkeit gehaltlos“ (93).

Als Überprüfungsinstanz führt Flew die Erfahrung an, die sich nicht durch Behauptungen suspendieren lasse. Nichtreligiösen Menschen scheint es nun oft so, daß kein denkbares Ereignis und keine denkbare Ereignisfolge einen zureichenden Grund abgeben könnten, weniger naive religiöse Menschen zu dem Eingeständnis zu bewegen: ‚Es gab also doch keinen Gott‘, oder ‚Gott liebt uns also in Wirklichkeit doch nicht‘. Man sagt uns, Gott liebt uns wie ein Vater seine Kinder liebt und wir sind beruhigt. Doch dann sehen wir ein Kind an nichtoperierbarem Kehlkopfkrebs sterben. Während sein irdischer Vater sich verzweifelt bemüht zu helfen, zeigt sein himmlischer Vater kein sichtbares Zeichen der Anteilnahme. Eine Modifikation wird vorgenommen – vielleicht die, daß Gottes Liebe ‚keine nur menschliche Liebe‘ oder daß sie ‚eine unerforschliche Liebe‘ ist – und wir begreifen, daß solche Leiden sich durchaus mit der Wahrheit der Behauptung, ‚Gott liebt uns wie ein Vater (aber natürlich . . .)‘, vertragen. Wir sind wiederum beruhigt. Aber dann fragen wir vielleicht: welchen Wert hat denn die Zusage von Gottes (angemessen modifizierter) Liebe überhaupt, wofür gibt diese scheinbare Garantie nun eine wirkliche Garantie? Was müßte eigentlich geschehen, um uns nicht nur (moralisch und zu Unrecht) in Versuchung zu bringen, sondern uns auch (logisch und zu Recht) zur Aussage zu berechtigen: ‚Gott liebt uns nicht‘, oder sogar ‚Gott existiert nicht‘? Ich stelle daher den fol38 Theologie und Falsifikation [1951], in: I. U. Dalferth (Hg.), Sprachlogik des Glaubens, München 1974, 84–95, 84.

2. Die philosophische Religionskritik 139

genden Teilnehmern des Symposiums einfach die zentrale Frage: ‚Was müßte geschehen oder geschehen sein, das für Sie einen Gegenbeweis gegen die Liebe oder Existenz Gottes darstellen würde?‘ (86 f.)

Die Beweislast liegt nicht bei den Atheisten, sondern bei den Theisten, denn sie behaupten die reale Geltung eines Gottesbegriffs. Flew entzieht mit seinen Überlegungen der Theologie, die sich mit dem Hinweis zufrieden gibt, dass sich ihre Annahmen im letzten Sinne nicht falsifizieren lassen, jede Möglichkeit einer Selbstimmunisierung und fordert eine kritische Überprüfung ihrer Aussagen durch das Allgemeinbewusstsein. In seinem Traktat über kritische Vernunft wirft Hans Albert (*1921) der Theologie ein selbsttrügerisches Verfahren vor, nach dem sie sich wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen versuche. Sie stelle unausweisbare und infallible Behauptungen auf, mit denen sie sich unangreifbar zu halten versuche. Obwohl sich Albert nicht mehr für die Verifikation von Aussagen interessiert, sondern sich mit dem Falsifikationsprinzip zufrieden gibt – eine Erkenntnis gilt, solange sie sich bewährt und nicht falsifiziert ist –, wirft er ähnlich wie Flew der Theologie vor, dass sie sich als Theorie nicht dem Risiko des Scheiterns aussetze. Stattdessen nutze sie ihre Position auch an den Universitäten zur „Ausarbeitung, Verfeinerung und ‚wissenschaftlichen‘ Abstützung von Ideologien“39. Damit greift er vor allem das gesellschaftspolitische Engagement der Theologie an, trifft aber im Grunde alle Geisteswissenschaften, von denen sich der reine Funktionalismus des kritischen Rationalismus – vor allem politisch – einem anhaltenden Widerspruch ausgesetzt sieht. Es drängt sich die Frage auf, ob nicht Albert seinerseits den Versuch unternimmt, sich gegenüber einer an den kritischen Rationalismus gerichteten Kritik zu immunisieren, indem er nur eine monistische Methode zur Wirklichkeitserfassung zulässt. Mit dieser kritischen Rückfrage bekommt der folgende Textauszug eine schillernde Bedeutung: Die Tugenden des Fanatikers und des Inquisitors finden in autoritären Systemen offenbar die Anerkennung, die ihnen für die Erhaltung solcher Systeme zukommen mag. Die seltsame Idee, man sei einem speziellen Glaubensbestand verpflichtet und nicht der unvoreingenommenen Wahrheitssuche, die Unterdrückung von Zweifeln – die in solchen Zusammenhängen die Bezeichnung ‚Anfechtung‘ zu erhalten pflegen – sei unter Umständen hier von positiver moralischer Bedeutung und ein Glaube, der sich möglicherweise unter kritischen Gesichtspunkten als fragwürdig herausstellen mag, sei auf jeden Fall vor derartigen Argumenten zu schützen, – diese Idee mag einem Parteiliniendenker und Parteigänger einleuchten, sie klingt seltsam, wenn man sie mit der Idee der Wahrheit zusammenbringt und dabei von einem Wahrheitsethos spricht. Eine besonders einfache Art, ein Erkenntnisprivileg des Gläubigen herzustellen, ist die These, daß nur dieser eigentlich verstehen könnte, so daß das Verständnis des Glaubensinhalts schon seine Annahme impliziert und der den Glauben Ablehnende ihn nicht verstanden haben kann. (107 f.) 39 Traktat über die kritische Vernunft, Tübingen 4 1980, 130.

140 § 4 Die Religionskritik

Max Bense (1910–1990) fügt nun ausdrücklich dem Rationalismus eine eigene existentielle Dimension hinzu, die ihn dazu bringt, für den selbstbewussten rational orientierten Menschen ein Bekenntnis zum Atheismus geradezu zu fordern. Dabei geht er auch angesichts der Wahrnehmung der eigenen Begrenzungen von einer apodiktisch formulierten Distinktion aus: Die rationale Situation des Geistes wird zu einer zugespitzten existentiellen: entweder man entschließt sich zur im Prinzip möglichen Fortsetzbarkeit des Denkens, dann verschwindet das religiös hypostasierte Reich der Transzendenz, oder man entschließt sich, das Denken abzubrechen und den Glauben zuzulassen, dann verschwindet das denkende Wesen als ein Prinzip der Welt, wie die gesamte Weltobjektivität hinter die gläubige Subjektivität zurücktritt.40

Er nennt dabei selbst den Atheismus „ein spirituelles Merkmal menschlicher Existenz“ (66), so sehr dessen Gründe auch rein rationaler Art sind. Wenn Bense von der spirituellen Reinheit dieses Atheismus spricht, geht es ihm darum, dass sich die Existenz in aller Konsequenz – d. h. rückhaltlos – im Blick auf ihr Fundament, ihre Kritik und ihre Utopie auf die Vorgaben des Rationalismus verlässt. Die Philosophie bekommt zur Orientierung die fundierende, kritische und utopische Aufgabe zugewiesen, die sie diesseits von systembildenden Ambitionen und jeder Neigung zur Weltanschaulichkeit auszufüllen hat. Die existenzielle Bedeutung des Atheismus sieht Bense darin, dass es nicht ausreicht, sich der Rationalität zu bedienen. Vielmehr komme es darauf an, aus dieser Betätigung der Rationalität auch ein entsprechendes Selbstbewusstsein zu beziehen. Eben das wird durch das Bekenntnis zum Atheismus vermittelt. Ich verteidige also den Atheismus als die notwendige und selbstverständliche Form menschlicher Intelligenz, als menschlichen Sinn der geistigen Arbeit unter der Voraussetzung, daß der Mensch wesentlich Schöpfer seiner erweiterungsfähigen geistigen Welt und Realität ist, und indem ich dabei nie die Produktivität des denkenden Wesens aus dem Auge verliere, lenke ich den Blick auf das alte Doppelantlitz menschlicher Rationalität, die genau in dem Maße Seiendes, Welt, Wesenheiten, Dinge usw. gewinnt, als sie auch das kartesianische Ich, das denkende Bewußtsein, den existierenden Denker ‚in Fleisch und Blut‘ gibt. Rationalität, man versteht, ist also in jedem Falle existentielle Rationalität. Wir sprechen vom intelligiblen Effekt der Existenz und vom existentiellen Effekt der Intelligenz oder, um es einfacher zu sagen, von der existenzsetzenden Kraft der Vernunft und der vernunftsetzenden Kraft der Existenz. Mir scheint nun, daß jede Darstellung und Verteidigung des Atheismus in diesen, der Idee des Menschen angemessenen existentiellen Rationalismus eingebettet werden kann und muß. (67) &

W.-D. Just, Religiöse Sprache und analytische Philosophie. Sinn und Unsinn religiöser Aussagen, Stuttgart 1975 G. Ebeling, Kritischer Rationalismus? (Beiheft Nr. 3 zu ZThK), Tübingen 1973

40 Warum man Atheist sein muß, in: Club Voltaire I, hg. v. G. Szczesny, München 1963, 66–71, 69.

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik 141

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik Nachdem der imaginäre Charakter der Religion vor allem in Intellektuellenkreisen zu einem Gemeingut geworden war, die Religion aber weiterhin allgemein in Geltung stand, hat sich die Frage der gesellschaftlichen Konsequenzen der Religionskritik mehr und mehr in den Vordergrund geschoben. Nachdem die Interpretation klar zu sein schien, ging es nun um die Tat, um das Wirksamwerden der Ernüchterung der Religion gegenüber und darum, die in Angriff zu nehmenden Veränderungen auch geschichtlich zu realisieren. Man sah sich vor die Aufgabe gestellt, Lebensverhältnisse zu schaffen, in denen es keinen Grund mehr gab, einen religiösen Halt bzw. eine religiöse Kompensation zu suchen. Es galt diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen zu benennen, die den Bestand der Religion in besonderer Weise begünstigen oder gar befördern. In diesem Kapitel geht es geistesgeschichtlich um einen Perspektivenwechsel von der Philosophie zur Soziologie, die sich in dieser Zeit zu formieren begann. Allerdings kann deshalb nicht einfach von der soziologischen Religionskritik gesprochen werden, weil es lediglich der sozialistisch-positionelle Zweig der sich erst formierenden Gesellschaftswissenschaft gewesen ist, der für eine konsequente Überwindung der Religion eingetreten ist, während etwa Emile Durkheim (% § 5,3) und dann auch Max Weber (% § 5,4) eine neutralere Haltung gegenüber der Religion einnahmen. Um deutlich zu machen, dass hier zunächst nur ein Flügel der soziologischen Religionskritik ins Auge gefasst wird, verwendet die Überschrift das zweifellos mehrdeutige Adjektiv ‚gesellschaftskritisch‘, weil die Alternative ‚sozialistisch‘ gewiss noch sensibler gewesen wäre. Der Übergang von der Philosophie zur Gesellschaftswissenschaft kann durch die Position von Moses Heß angedeutet werden.

3.1 Moses Heß Wegen der damit verbundenen Sonderexistenz Moses Heß (1812–1875) kritisierte als einer in der christlich dominierten Umwelt wandte der Pioniere des Sozialismus die Symbiose von Religion und Politik, mit der sich sich Moses Heß schon bald von seinem jüdigesellschaftliche Unrechtsverhältnisse zu schen Glauben ab, in dem er vor allem von dem stabilisieren versuchen. orthodoxen Großvater erzogen worden war. Von einem aufgeklärten Christentum als einer auf unbegrenzter Liebe gründenden, vernünftigen Weltreligion erhoffte er eine umfassende Staatsreform, zu der auch die politische Emanzipation der Juden gehörte. Seine Forderung nach politischer Freiheit war verbunden mit der Forderung nach sozialer Gleichheit. Als einer der frühen Sozialisten gründete er in Köln eine der ersten sozialistischen Tageszeitungen. In seiner Frühschrift Die heilige Geschichte der Menschheit (1837) findet sich das erste dezidiert sozialistische Forderungsprogramm für die Umgestaltung der Gesellschaft. Heß fühlt sich in einer vorrevolutionären Zeit. Der Kapitalismus ist in seiner Tendenz zur Konzentration auf wenige Groß-

142 § 4 Die Religionskritik

unternehmen nur dazu in der Lage, Elend zu verbreiten. Ähnlich wie dann auch Karl Marx (% § 4,3.3) in seinen Thesen zu Feuerbach fordert er die Tat, die zur rechten Philosophie des Menschen notwendig hinzukommen müsse, wenn Deutschland nicht verloren gehen soll. Es kann nicht darum gehen, dem Volk die Philosophie nahe zu bringen, ohne ihm nicht auch die soziale Freiheit zu geben. Mit eben diesem Impetus äußert sich auch seine Religionskritik, die alles anprangert, was keinen praktischen Realitätsbezug im Blick auf die konkrete Zukunftsgestaltung hat. Die traditionellen Religionen seien darin mit der Politik verwandt, dass sie sich in abstrakter Allgemeinheit und nicht in der Wirklichkeit des Lebens ergehen und so die Menschen in der Knechtschaft einer unwirklichen Wahrheit gefangen halten. Die Lüge der Religion und Politik muß mit einem Schlage und schonungslos entlarvt, die Schlupfwinkel, Verschanzungen, Esels- und Teufelsbrücken der Gegner müssen zumal verbrannt und vernichtet werden. – Wir wissen wohl, daß es zahme und lahme Philosophen gibt, die, weil ihnen der Zornmut der Tat abhanden gekommen ist, in dem Lügendreckhaufen der Religion und Politik mit ihrer Diogeneslaterne umherstöbern, um womöglich noch einige brauchbare Gegenstände hier aufzugabeln. Aber es lohnt sich nicht der Mühe, die armseligen Lumpen der Vergangenheit hervorzusuchen, um sie in die Papiermühle der Dialektik zu bringen und metamorphosiert zu Markte zu tragen, vorgebend, es sei das alte, bekannte Material, nur anders formiert.41

Es handelt sich tatsächlich um einen Zustand des Schlummerns, zu dem die Religion schon deshalb eine ihr eigene Neigung habe, weil sie stets über die Gegenwart hinaus in die Zukunft weise, um nicht als widerlegt dazustehen. Sie ist im Verbund mit der Politik bereit, Opfer hinzunehmen, ja „Menschenopfer bilden überall den Grundton des Gottesdienstes und des Staatsdienstes“ (136). Religion und Politik stehen zusammen, wenn es darum geht, die Menschen in der Knechtschaft zu halten, in die sie vom materiellen Egoismus nur einiger Individuen getrieben worden sind. Religion und Politik sind als Gegengewicht gegen den rohen Materialismus der Individuen, die sich, bevor sie zum Selbstbewußtsein gelangt sind, einander bekämpfen, ins Leben getreten und haben Repräsentanten allgemeiner Interessen geschaffen, die als unwirkliche Wahrheit der unwahren Wirklichkeit feindlich entgegengetreten sind. Im ‚Gottesdienst‘ warfen sich die Priester, im ‚Staatsdienste‘ die Könige, Aristokraten und sonstige Ehrgeizige und Egoisten, Narren und Betrüger als die Repräsentanten ‚allgemeiner‘ Interessen auf, lebten vom Schweiße und Blute ihrer Untergebenen und schrien die Aufopferung als höchste Tugend aus. . . . Solange die Völker und Individuen noch nicht zur Sittlichkeit oder Selbsterkenntnis gelangt waren, mußten sie sich’s gefallen lassen, von ihresgleichen wie das liebe Vieh behandelt zu werden; solange sie sich selbst nicht zu beherrschen verstanden, wurden sie von äußern Mächten beherrscht. Das ist klar. Aber klar ist auch, daß, wenn Religion und Politik das Produkt eines viehischen Zustandes, sie selbst oder ihre Repräsentanten eben nur die andere Seite jenes Ma41 Philosophie der Tat [1843], in: Ausgewählte Schriften, hg. v. H. Lademacher, Köln 1962, 131– 147, 135.

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik 143

terialismus sind, in welchem Individuen und Völker befangen. [. . .] – und beklagenswert sind nur die, welche nicht einsehen, daß aus diesem geschlossenen Kreise der Knechtschaft nur durch radikalen Bruch mit der Vergangenheit herauszukommen ist. (136 f.) – Der Unterschied zwischen der geistigen und sozialen Knechtschaft, zwischen der religiösen und politischen Regierungskunst ist nur ein formaler; jene will den Menschen einer überirdisch-irdischen, diese will ihn einer irdisch-überirdischen Macht unterwerfen. Beide vernichten alle sittliche Macht, alle Freiheit im Menschen und in der Welt, im Geiste und in den objektiven Schöpfungen desselben. An die Stelle des Rechtes und der Gerechtigkeit setzen sie die Gnade und das Vertrauen auf äußere Mächte. Die himmlische Regierung ist die beste Stütze der irdischen und diese wiederum der himmlischen.42

Schon Heß benutzt für die Religion die Metapher vom Opium, das die Schmerzen der gesellschaftlichen Krankheit lindern helfe. Damit stellt er den engen Zusammenhang von geistiger und materieller Knechtschaft heraus, die nur gemeinsam überwunden werden können. Die Religion kann wohl das unglückliche Bewußtsein der Knechtschaft dadurch erträglich machen, daß sie dasselbe bis zur Zerknirschtheit steigert, in welcher jede Reaktion gegen das Übel und somit jeder Schmerz aufhört – wie das Opium in schmerzlichen Krankheiten gute Dienste leistet – der Glaube an die Wirklichkeit der Unwirklichkeit und an die Unwirklichkeit der Wirklichkeit kann wohl den Leidtragenden eine passive Gefühlsseligkeit, eine tierische Bewußtlosigkeit, aber nicht die aktive Energie, nicht die männliche Tatkraft geben, bewußt und selbständig gegen das Unglück zu reagieren und sich vom Übel zu befreien. . . . Denn die Religion betrachtet die wirklichen Güter der Welt als äußerliche, die Religion spaltet das eigene Leben entzwei, weil sie eben ein Produkt des unglücklichen Bewußtseins ist. (149 f.)

Heß hält es für möglich, dass die Zustände noch unerträglicher werden müssen, „daß die Giftbrut so lange anschwellen muss, bis sie von selber berstet und die Lüge also noch eine kleine Weile Frist hat“ (151). Aber der revolutionäre Umbruch werde nicht mehr lange zurückzuhalten sein. &

E. Silberner, Moses Heß. Geschichte seines Lebens, Leiden 1966 B. Frei, Im Schatten von Karl Marx. Moses Hess – Hundert Jahre nach seinem Tod, Wien 1977

3.2 Pierre Joseph Proudhon Die sozialistische Gesellschaftskritik von Pierre J. Proudhon zielt in ihren Konsequenzen auf eine anarchistische Gesellschaftsform, weshalb Proudhon als Begründer des Anarchismus gilt, zumal auch der Begriff von ihm stammt. Innerhalb der 42 Die eine und ganze Freiheit [1843], in: Ausgewählte Schriften, 148–152, 150.

Der Kampf gegen die Religion schließt für Pierre J. Proudhon (1809–1865) den Kampf gegen das Eigentum ein, weil dieses eine besonders knechtende Religion der Gewalt darstelle.

144 § 4 Die Religionskritik

vorfindlichen gesellschaftlichen Antagonismen wird die Religion beschuldigt, auf der Seite der Besitzenden zur Rechtfertigung des Eigentums zu stehen. Sein berühmter Satz „Eigentum ist Diebstahl“ bekommt auf diesem Hintergrund eine zusätzliche religionskritische Spitze. Die Kirchen haben vollkommen ihren Auftrag verfehlt, denn sie unterstützen die Unfreiheit und diskreditieren die neuzeitliche Freiheit als Gottesfeindschaft. Proudhon hat jedoch kein Interesse an der Unterscheidung zwischen angemessenen und unangemessenen Gottesvorstellungen, sondern verwirft jede außerhalb des Menschen gedachte Gottesvorstellung als eine Illusion. Was ist Gott? . . . Wie viel ist er? Was will er? Was kann er? Was verspricht er? Und seht da, bei der Fackel der Analyse schrumpfen alle Gottheiten des Himmels, der Erde und der Hölle zu einem unkörperlichen, unrührbaren, unbeweglichen, unverständlichen, unerklärlichen Etwas, mit Einem Worte, zu einer Negation aller Attribute der Existenz zusammen. In der That, schreibe nun der Mensch jedem Gegenstande einen speziellen Geist oder Genius zu, oder betrachte er das Universum als von einer einzigen Macht regiert, immer setzt er nur ein bedingungsloses, d. h. unmögliches Wesen voraus, um daraus irgendeine Erklärung von Erscheinungen abzuleiten, die er sonst für unbegreiflich hält. Geheimnis Gottes und der Vernunft! Um den Gegenstand seines Götzendienstes mehr und mehr rationell zu machen, säubert ihn der Gläubige nach und nach von allem dem, was ihn reell machen könnte; und nach Wundern von Logik und Genie sind die Attribute des Wesens par excellence zuletzt nur die des Nichts. Diese Entwicklung ist unvermeidlich und nothwendig: auf dem Grunde jeder Theodicee lauert der Atheismus.43

Wenn sich Proudhon Feuerbach (% § 4,2.4) anschließt, so liegt der Ton weniger auf der Entdeckung, dass der Mensch selbst der von ihm gepriesene Gott sei, sondern dass er sich faktisch von Gott zu emanzipieren habe, um nun endlich selbst die notwendigen irdischen Aufgaben in Angriff nehmen zu können. Dabei stellt er die Überwindung der gesellschaftlichen Antagonismen durch die Brechung der Herrschaft des Eigentums in das Zentrum seines Plädoyers. Als Konsequenz ergibt sich unausweichlich die Forderung einer Revolution, deren Fortschritt Proudhon in einer Symbiose von Gerechtigkeit und Freiheit annonciert. In diesem Horizont spielt die Differenz von Theismus und Atheismus keine gewichtige Rolle mehr, denn beide gehören in das gleiche ‚theologische Drama‘, dem keine Relevanz mehr zukomme. Der Geist der Analyse, der unermüdliche Satan, der unaufhörlich fragt und widerspricht, mußte früher oder später den Beweis für den religiösen Dogmatismus fordern. Mag nun aber der Philosoph die Idee Gottes bestimmen, oder sie für unbestimmbar erklären; mag er sie der Vernunft näher bringen, oder sie von ihr entfernen; ich sage, daß diese Idee darunter leidet: und da es unmöglich ist, daß die Spekulation stille stehe, so muß nothwendig auf die Dauer die Idee Gottes verschwinden. Also ist die atheistische Bewegung der zweite Akt des theologischen Dramas; und dieser zweite Akt ist durch den ersten gegeben, wie die Wirkung durch die Ursache. (VIII)

43 Philosophie und Staatsökonomie oder Notwendigkeit des Elends [1846], deutsch bearb. v.

K. Grün, Neudruck der Ausgabe Darmstadt 1947, Bd. 1, Aalen 1966, VIIf.

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik 145

Die Systeme des Atheismus sind insofern götzendienerisch, als sie die Gottesidee einfach auf sich selbst übertragen und dabei mit Unsterblichkeitsideen und Selbstapotheosen den Unendlichkeits- und Absolutheitswahn fortsetzen und auf diese Weise das hierarchisierte Wirklichkeitsverständnis prolongieren. Die Blickrichtung bleibt die der Bibel, nur dass der Mensch nun gleichsam für sich selbst die Rolle Gottes beansprucht; zwar wird er nicht direkt den Posten Gottes für sich beanspruchen, wohl aber den Anspruch, Gott in sich zu tragen. Der Mensch soll nicht Gott beerben, sondern ihn leugnen; allein so sei aus dem überkommenen Dilemma herauszukommen. Damit schlägt Proudhon einen Weg ein, der nicht identisch ist mit dem des philosophischen Atheismus, der vielmehr für eine neue freie Gesellschaft optiert. So wie dieser freien Gesellschaft eine gerechte Ökonomie entspricht, so entspricht der Leugnung Gottes eine Desavouierung des religiösen Charakters des Eigentums, dessen Verfallsgeschichte Proudhon parallel zur Verfallsgeschichte der Religion beschreibt. Das Eigenthum gehört zu der großen Familie der instinktmäßigen Glaubenssätze, die unter dem Mantel der Religion und der Autorität noch allenthalben über unser hochgemüthiges Geschlecht herrschen. Das Eigenthum ist mit Einem Worte selbst eine Religion: es hat seine Theologie, die politische Oekonomie; seine Kasuistik, die Jurisprudenz; seine Mythologie und seine Symbole an den äußeren Formen der Justiz und der Kontrakte. Der historische Ursprung des Eigenthums, wie jeder Religion, verliert sich in der Dunkelheit der Zeiten: fragt man es über sich selbst, so antwortet es mit der Thatsache seines Vorhandenseins; es bringt Legenden zu seiner Erklärung, und gibt Allegorien als Beweise. Endlich ist das Eigenthum noch, wie jede Religion, dem Gesetz der Entwicklung unterworfen. So erblickt man es bald als einfaches Nutznießungs- und Bewohnungsrecht, wie bei den Germanen und Arabern; bald als erblichen ewig unveräußerlichen Besitz, wie bei den Juden; feudal und erbpachtlich, wie im Mittelalter; absolut und veräußerlich nach Belieben des Eigenthümers, ungefähr wie es die Römer konnten, und wie wir es heute haben. Aber schon beginnt das zu seiner Höhe gelangte Eigenthum auf seinen Verfall loszuschreiten: angegriffen von der Kommandite, von den neuen Hypothekengesetzen, von der Expropriation um des öffentlichen Nutzens willen, von den Neuerungen im Bodenkredit, von den neuen Miettheorieen, so rückt der Augenblick für es heran, wo es nur noch der Schatten seiner selbst sein wird.44

Die ‚Entmythologisierung‘ des Mythos des Eigentums ist nicht mit einigen Reformen zu bewerkstelligen, ebenso wenig wie die Religionsphilosophie das Dilemma der Theologie zu lösen vermochte. So wie die Monarchie und die Demokratie als die Religion der Autorität und die Philosophie als die Religion der Vernunft zu verstehen sind, so gilt es für das Eigentum hervorzuheben, dass es die Religion der Gewalt sei, weil es sich durch endlose Besitzergreifung und Ausbeutung manifestiert (vgl. 284). Es steht alles andere zu erwarten, als dass es seine Machtposition kampflos aufgeben werde:

44 Philosophie und Staatsökonomie, Bd. 2, Aalen 1966, 281 f.

146 § 4 Die Religionskritik Wir stehen am Vorabende einer Schlacht, wo alle Feinde des Menschen gegen ihn zusammenverschworen sein werden: die Sinne, das Herz, die Phantasie, der Hochmuth, die Faulheit, der Zweifel: Es traten zusammen die Könige der Erde wider Christum! . . . Die Sache des Eigenthums ist die Sache der Dynastieen und der Priesterschaften, der Demagogen und Sophisten, der Unproduktiven und der Schmarotzer. Keine Heuchelei, keine Verführung wird gespart werden, um es zu vertheidigen. Um das Volk zu gewinnen, wird man damit anfangen, sich über sein Elend zu erbarmen; man wird in ihm Liebe und Gefühligkeit erwecken, Alles, was den Muth feige und den Willen beugsam machen kann; man wird seinen glücklichen Instinkt über die philosophische Reflekzion und die Wissenschaft erheben. Sodann wird man ihm den Nazionalruhm predigen; man wird seinen Patriotismus warm machen; man wird ihm von seinen großen Männern sprechen, und nach und nach wird man an die Stelle des Kultus der immer geächteten Vernunft, den Kultus der Ausbeuter, den Götzendienst vor Aristokraten setzen. (301) Karl Marx hat Proudhon mit seiner Schrift Das Elend der Philosophie (1847) scharf angegriffen und ihm eine vollkommen unzureichende Dialektik und kleinbürgerlichen Utopismus vorgeworfen. &

H. de Lubac, Proudhon et le christianisme, Paris 1945

3.3 Karl Marx Da die Religionskritik als vollzogen gelten kann, fordert Karl Marx (1818–1883) nun die Durchsetzung gesellschaftlicher Verhältnisse, die keiner Religion mehr bedürfen. Aus der Religionskritik wird Gesellschaftskritik.

Die Religion gehört nicht zu den Hauptthemen, mit denen sich Karl Marx intensiv beschäftigt hat. Er sieht die Religionskritik im Zuge der Hegelkritik vor allem durch Feuerbach (% § 4 2.3), aber auch durch David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Max Stirner philosophisch als abgeschlossen an.

Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist Voraussetzung aller Kritik.45

Indem die Religionskritik als Voraussetzung aller Kritik vollzogen ist, gilt es nun die Kritik da fortzusetzen, wo sie dazu in der Lage ist, wirksam einzugreifen. Für Marx war die Religion nicht nur philosophisch, sondern eben auch faktisch weithin erledigt, sodass sie in ihrer Bedeutung überschätzt würde, wenn die ganze Energie der Kritik auf sie konzentriert wird, denn auf diese Weise blieben die wirklich bedrohlichen Missstände unbearbeitet. Dass die Religion – gemeint ist vornehmlich das Christentum – als fortschrittshemmend und freiheitsfeindlich einzuschätzen sei, war im politisch-aufklärerischen Zusammenhang, in dem sich Marx bewegte, eine Selbstverständlichkeit, die keiner argumentativen Stütze mehr bedurfte. So verwundert es auch nicht, wenn sich – im Gegensatz zu dem weithin von Marx kolportier45 Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung [1844], in: MEW 1, Berlin 1972, 378– 391, 378.

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik 147

ten Bild, das ihn als einen engagierten Religionskritiker darstellt – bei ihm kaum tatsächlich neue religionskritische Argumente finden. Vielmehr hat sich für Marx die Fragestellung verschoben, indem er die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Gründe lenkt, die den Menschen dazu veranlassen, sein Glück in den Himmel zu projizieren anstatt es auf der Erde zu suchen. Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. . . . Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. (378 f.)

Es muss nach wie vor darauf aufmerksam gemacht werden, dass Marx hier nicht – wie immer wieder zu vernehmen ist – vom Opium „für“ das Volk spricht, sondern vom Opium des Volkes, zu dem es gleichsam in seinem Elend greift, um sich in einem erträglichen Zustand wähnen zu können. Natürlich wusste auch Marx, dass dieses Opium auch verabreicht wird, wie es die These vom Priesterbetrug und der Kollaboration der Priester mit den Herrschenden besagt. Entscheidend aber bleibt für ihn die Feststellung, dass es offenkundig des Opiums bedarf. Es wird vom ‚Volk‘ tatsächlich benötigt und dieses greift selbst danach, worin Marx sogar eine Form des Protestes gegen das Elend anzuerkennen bereit ist. Es kommt darauf an, dass die „Kritik des Himmels“ zu einer „Kritik der Erde“ wird, d. h. zu einer „Kritik des Rechts“, einer „Kritik der Theologie“ und einer „Kritik der Politik“ (379). Und so geht es auch nicht darum, gleichsam die Verabreichung zu stoppen – also gegen die Religion zu kämpfen –, sondern es gilt Verhältnisse zu schaffen, in denen es keines Opiums mehr bedarf, dann wird sich auch die Religion von selbst auflösen. Es war im Marxismus immer Gegenstand von Auseinandersetzungen, ob die Religion offensiv bekämpft werden solle oder darauf zu setzen sei, dass sie sich mit der Besserung der Verhältnisse selbst verflüchtige (% Lenin § 4,3.5).

In noch moderater Gestalt lassen sich die Grundsätze der materialistischen Weltsicht bereits bei Marx erkennen, der nicht die Welt im menschlichen Bewusstsein aufsucht, sondern das menschliche Bewusstsein als einen Spiegel der darauf einwirkenden Welt betrachtet. „Feuerbach sieht . . . nicht, daß das ‚religiöse Gemüt‘ selbst

148 § 4 Die Religionskritik

ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“46 Soll das Bewusstsein geändert werden, so muss die Welt verändert werden. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ (535, These 11) Marx fordert, über die philosophische Religionskritik hinauszugehen und zu einer soziologischen Religionskritik voranzuschreiten, sodass die gesellschaftlichen Bedingungen angegangen werden können, die entweder die Religion hervorrufen oder aber unterhalten. Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse, vorgestellte und eine wirkliche Welt. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Er übersieht, daß nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch die Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden. (534, These 4)

Dazu ist es erforderlich, dass diejenigen die Lenkung des Geschicks der Welt übernehmen, die den gegenwärtigen Zustand durchschauen und aufgrund der dadurch gewonnenen Überlegenheit und Freiheit dazu in der Lage sind, die erforderliche Orientierung für die Aufhebung des gesellschaftlichen Entfremdungszustandes zu geben. Das ist eine Frage, die praktisch angegangen werden muss und nicht durch eine theoretische Antwort gelöst werden kann. Die zweite und dritte These über Feuerbach melden diesen spezifischen Anspruch an die Praxis an: Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage. (533, These 2) Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. (. . .) Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden. (533 f., These 3)

Marx interessiert sich nicht für irgendwelche religiösen Wahrheitsansprüche oder Begründungsstrategien des Glaubens. Wenn überhaupt, dann ist es das konkrete Erscheinungsbild der Religion (hier: des Christentums), dem er aufgrund der spezifischen Verflechtungen in die gesellschaftlichen Spannungen und Widersprüche aus konkretem Anlass eine äußerst zweifelhafte Rolle bescheinigt. Auf den gegen den 46 Thesen über Feuerbach [1845], in: MEW 3, Berlin 1969, 533–535, 535 (These 7).

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik 149

Kommunismus gerichteten Verweis eines preußischen Konsistorialrates auf die sozialen Prinzipien des Christentums reagiert er mit einer entschiedenen Replik: Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln, und bedürfen keiner ferneren Entwicklung durch preußische Konsistorialräte. Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein. Die sozialen Prinzipien des Christentums setzen die konsistorialrätliche Ausgleichung aller Infamien in den Himmel und rechtfertigen dadurch die Fortdauer dieser Infamien auf der Erde. Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker gegen die Unterdrückten entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstigen Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner unendlichen Weisheit verhängt. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch viel nötiger als sein Brot. Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duckmäuserisch, und das Proletariat ist revolutionär. Soviel über die sozialen Prinzipien des Christentums.47 &

I. Fetscher, Marx, Freiburg/Basel/Wien 1999 H. Fleischer, Marx und Engels. Die philosophischen Grundlinien ihres Denkens, Freiburg/ München 21974 H. Gollwitzer, Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, Hamburg 5 1974

3.4 Friedrich Engels In einer streng reformiert-pietistischen Familie In seiner Religionskritik prangert der erzogen, wird Friedrich Engels tief erschüttert pietistisch erzogene Friedrich Engels (1820–1895) die Symbiose der Religion von dem schrecklichen sozialen Elend (Kinder(des Christentums) mit der bürgerlichen arbeit) in Wuppertal-Elberfeld, sodass er in Herrschaft an. Zweifel über die gesellschaftliche Rolle des Christentums gerät. Angeregt durch die Christentumskritik von David Fr. Strauß wendet er sich zunächst der Philosophie zu und kommt über Hegel zu Feuerbach, 47 Der Kommunismus des ‚Rheinischen Beobachters‘ [1847], in: MEW 4, Berlin 1972, 191– 203, 200.

150 § 4 Die Religionskritik

was dann zu einem völligen Bruch mit dem Christentum führt. Dieser Ablöseprozess vom pietistisch geprägten Christentum ist von einem immer wieder auftauchenden Zweifel begleitet und vollzieht sich keineswegs konfliktfrei. Da der Glaube für ihn zunächst eine zentrale Bedeutung in seinem Leben hat, gilt auch nach seiner Abkehr vom Christentum der Religion immer wieder seine Aufmerksamkeit. Was für Marx als selbstverständlich erledigt gilt, musste von Engels immer wieder neu widerlegt und seiner Widersinnigkeit überführt werden. Engels versucht zu zeigen, dass sich die religiösen Erscheinungen auf natürliche Bedürfnisse und Lebenserfahrungen der Menschen zurückführen lassen. Die Religion entsteht durch die Phantasie des Menschen, indem unbeherrschte Mächte zunächst der Natur, dann aber auch der Geschichte und der Gesellschaft, personifiziert und zu Göttern erhoben werden. Die Folge davon ist, dass sich der Mensch durch fremde Mächte beherrscht fühlt, denen er nun zu dienen beginnt, um in den Augen der Götter Gnade zu finden. Nun ist alle Religion nichts anderes als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedenen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen. . . . Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die dem Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehen, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen wie die Naturmächte selbst. Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesellschaftliche Attribute, werden Repräsentanten geschichtlicher Mächte. Auf einer noch weiteren Entwicklungsstufe werden sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute der vielen Götter auf Einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. So entstand der Monotheismus . . . Wir haben aber mehrfach gesehn, daß in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die Menschen von den von ihnen selbst geschaffenen ökonomischen Verhältnissen, von den von ihnen selbst produzierten Produktionsmitteln wie von einer fremden Macht beherrscht werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen Reflexaktion dauert also fort und mit ihr der religiöse Reflex selbst. . . . Die bürgerliche Ökonomie kann weder die Krisen im ganzen verhindern noch den einzelnen Kapitalisten vor Verlusten, schlechten Schulden und Bankrott oder den einzelnen Arbeiter vor Arbeitslosigkeit und Elend schützen. Es heißt immer noch: der Mensch denkt und Gott (das heißt die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt.48

Die Abhängigkeitsverhältnisse, die sich in der Religion finden und von ihr gepflegt und somit stabilisiert werden, spiegeln schließlich die Abhängigkeitsverhältnisse wider, die durch die gesellschaftlichen, insbesondere die ökonomischen Verhältnisse geschaffen werden. 48 Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring) [1878], in: MEW 20, Berlin 1968, 5–303, 294 f.

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik 151

Die Religion, einmal gebildet, enthält stets einen überlieferten Stoff, wie denn auf allen ideologischen Gebieten die Tradition eine große konservative Macht ist. Aber die Veränderungen, die mit diesem Stoff vorgehen, entspringen aus den Klassenverhältnissen, also aus den ökonomischen Verhältnissen der Menschen, die diese Veränderungen vornehmen.49

Religionskritik hat bei Engels vor allem die Gestalt von Herrschaftskritik, wie sie in vergleichbarer Weise bereits aus der Tradition der englischen und besonders französischen Aufklärung bekannt war. Das Hauptaugenmerk gilt dem Nachweis der vom Christentum ausgehenden geschichtlichen Belastungen, von denen die ganze Geschichte gezeichnet sei und die das Zusammenspiel von christlicher Religion mit der jeweiligen Machtentfaltung und somit Beherrschung der Massen deutlich vor Augen rücke. Strategisch stimmt Engels mit Marx darin überein, dass der direkte Kampf gegen die Religion unsinnig sei; er verhilft der Religion zum Märtyrertum und verlängert damit ihre Selbstbehauptung. Was zählt ist vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat vollzogen, wenn die Gesellschaft durch Besitzergreifung und planvolle Handhabung der gesamten Produktionsmittel sich selbst und alle ihre Mitglieder aus der Knechtung befreit hat, in der sie gegenwärtig gehalten werden durch diese von ihnen selbst produzierten, aber ihnen als übergewaltige Macht gegenüberstehenden Produktionsmittel, wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt.50

In der Vision, auf die diese „gesellschaftliche Tat“ ausgerichtet ist, geht es ausdrücklich nicht nur um Ökonomie, so grundlegend diese auch ist, sondern um die konsequente Verwirklichung menschlicher Selbstbestimmung (der Mensch lenkt), zu der auch die Politik und andere Ausdruckformen der gesellschaftlichen und individuellen Existenz des Menschen wie etwa die Philosophie gehören. Die Religion gehört deshalb nicht dazu, weil sie per se Unterwerfung und damit die Selbstentfremdung des Menschen darstellt. &

K. Kupisch, Vom Pietismus zum Kommunismus, Berlin 1953 H. Hirsch, Friedrich Engels in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1979

49 Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie [1886], in: MEW 21, Berlin 1973, 259–307, 305.

50 Anti-Dühring, 295.

152 § 4 Die Religionskritik

3.5 Vladimir Iljitsch Lenin Unter den Marxisten zählt Vladimir I. Lenin zu den entschiedendsten Gegnern jeder Religion, was allerdings nicht bedeutet, dass er den Kampf gegen die Religion seinem politischen Kampf übergeordnet hätte. Auch wenn Lenin nicht davon ausgeht, dass sich die Religion von selbst auflösen werde, wenn erst einmal gesellschaftliche Verhältnisse etabliert sind, die keiner religiösen Kompensation bzw. Abrundung mehr bedürfen, bleibt er auf der marxistischen Linie, den Kampf gegen die Religion nicht in den Vordergrund zu stellen. Allergisch allerdings reagiert Lenin auf die politische Option, sich zwischenzeitlich zur Durchsetzung der politischen Ziele aus taktischen Gründen der Religion zu bedienen, um schneller ans Ziel zu gelangen. So macht seine Kritik auch vor den religiösen Sozialisten (insbesondere Hermann Kutter und Leonhard Ragaz) nicht halt, denn sie wenden in seiner Wahrnehmung eine Methode an, die

Trotz seiner kompromisslosen Haltung gegen die Religion hat Vladimir I. Lenin (1870–1924) stets die politischen Ziele dem Kampf gegen die Religion übergeordnet.

den Hokuspokus des Pfaffentums wiederholt: Aus der Gottesidee wird herausgenommen, was aus der Geschichte und dem Leben in sie eingegangen ist (Geisterglaube, Vorurteile, Heiligsprechung der Unwissenheit und Unterwürfigkeit einerseits, der Leibeigenschaft und Monarchie andererseits), wobei in die Gottesidee statt der aus der Geschichte und aus dem Leben bezogenen Realität eine sanftmütige, spießbürgerliche Phrase hineingelegt wird (Gott = ‚Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren‘) . . . Gott ist (historisch wie im Leben) vor allem ein Komplex von Ideen, die von der dumpfen, sowohl durch die äußere Natur als auch durch die Klassenunterdrückung bewirkten Niedergedrücktheit des Menschen erzeugt wurden – von Ideen, die diesen Zustand der Niedergedrücktheit festigen, die den Klassenkampf einschläfern.51

Gottesidee und Klassenkampf lassen sich nicht miteinander vereinen, vielmehr ist jede „Rechtfertigung der Gottesidee eine Rechtfertigung der Reaktion“ (103). Und so wehrt sich Lenin auch dagegen, „die Pfaffen mit behördlicher Bestallung zu ersetzen durch Pfaffen aus sittlicher Überzeugung, d. h. Kultivierung der raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pfäfferei“.52 Lenin schreibt gegen Tolstoi, den er bei aller Anerkennung für seine künstlerischen Leistungen und die scharfe Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung schließlich doch deshalb als gefährlich einstuft, weil er wegen seiner apologetischen Haltung gegenüber der Religion von den verschiedenen Seiten gleichermaßen unter Überspringung oder großzügiger liberaler Duldung des jeweils anstößigen anderen Teils in Anspruch genommen werden könne. Tolstoi hat in den Augen Lenins eben in seiner Abstinenz der Politik gegenüber politisch verhängnisvoll gewirkt. Diese politisch-pragmatische Schärfung des Urteils von Lenin durchzieht alle seine Äußerungen zur Religion, auch wenn er 1919 ein wenig moderater für den Kampf gegen die religiöse Überzeugung empfiehlt, „je51 Brief an A. M. Gorki im November 1913, in: V. I. Lenin Werke, Bd. 35, Berlin 1973, 102 f.

52 Werke, Bd. 15, 198.

4. Die psychologische Religionskritik 153

de Verletzung der Gefühle der Gläubigen zu vermeiden, da sie lediglich zur Stärkung des religiösen Fanatismus führt.“53 Lenin wirft A. M. Gorki in einem Brief vor, dass er in seinem Kampf gegen die Religion nicht entschieden genug sei, ja er vertrete im Grunde einen spießbürgerlichen Standpunkt, weil er die Religion nicht prinzipiell ablehne und sogar seine Kritik aus pragmatischen Gründen vorläufig zurückstelle, um mit der Demokratie ins Gespräch zu kommen. Er fragt Gorki, wie er zu einem solchen Schritt kommen konnte: Vielleicht wollten Sie, um mit der ‚Demokratie überhaupt‘ ins Gespräch zu kommen, ein wenig (entschuldigen Sie den Ausdruck) säuseln, wie man mit Kindern säuselt? Vielleicht wollten Sie ‚zwecks populärer Darlegung‘ für Spießer auf einen Augenblick dessen oder deren, der Spießer, Vorurteile gelten lassen?? Aber das ist doch in jedem Sinne und in jeder Beziehung falsche Methode! . . . Warum für den Leser einen demokratischen Schleier über die Dinge breiten, statt klar zu unterschieden zwischen Spießbürgern (den schwächlichen, wehleidig wankelmütigen, müden, verzweifelten, sich selbst betrachtenden, Gott betrachtenden, Gott schaffenden, Gott gewährenlassenden, sich selbst bespeienden, stupid-anarchistischen – ein prachtvolles Wort!! und so fort und so fort) – und den Proletariern (die nicht nur in Worten mutig zu sein verstehen und die auch die ‚Wissenschaft und Öffentlichkeit‘ der Bourgeoisie von ihrer eigenen, die bürgerliche Demokratie von der proletarischen zu unterscheiden wissen)?54 &

L. Fischer, Das Leben Lenins, aus dem Amerikanischen übers. v. I. Kutscher, Köln/Berlin 1965 H. Weber, Lenin in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 182004

4. Die psychologische Religionskritik Es gibt gewissermaßen eine natürliche Skepsis der Psychologie der Religion gegenüber, die etwas mit der Sensibilität der menschlichen Seele zu tun hat, mit der sich beide auf eine unterschiedliche Weise befassen. Zugleich könnte erwartet werden, dass die Psychologie in besonderer Weise für die Religion Verständnis aufbringt, auch wenn sie dabei möglicherweise ganz bestimmte Erwartungen mit der Religion verbindet. Damit deuten sich zwei Optionen des Verhältnisses der Psychologie zur Religion an, die von den beiden Schulrichtungen der Psychologie bestätigt werden, die den Beginn des 20. Jahrhunderts besonders geprägt haben. Hier geht es zunächst um die der Religion gegenüber skeptische Linie, die ihre Wurzeln in der grundsätzlichen Abweisung der Religion als einer Entwicklungsverweigerung hat. Sigmund Freud und seine Schule tragen eine Religionskritik aus psychologischer Perspektive vor. 53 Werke, Bd. 29, 118.

54 Werke, Bd. 35, 100 f.

154 § 4 Die Religionskritik

4.1 Sigmund Freud Für Sigmund Freud gilt insofern Ähnliches wie für K. Marx (% § 4,3.3) als auch für ihn der Kampf gegen die Religion nicht sein Hauptanliegen ausmacht. Im Grunde habe sich die Religion längst überlebt, und der noch existierende Rest werde sich von selbst erledigen, ohne dass dazu eine besondere Unterstützung erforderlich sei. Ebenso wie Marx und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit ihm trägt Freud seine Religionskritik weithin in dem Bewusstsein vor, dass er nichts sage, was nicht längst auch an anderen Stellen gesagt worden ist. Gleichwohl verleiht er ihr durch eine spezifische Erweiterung der Fragestellung einen radikalen Schliff, durch den sie dann auch eine spezifische Wirkung erzielt hat. Religion ist im Grunde nichts weiter als ein Wunsch- und Phantasieprodukt des unersättlichen Menschen, die Illusion eines in der Welt unstillbaren unendlichen Glücksverlangens. Sie will mehr als in der Welt befriedigt werden kann und erweist sich darin als unbescheiden und unrealistisch. An ihre Stelle haben konsequent die von Natur aus bescheideneren Wissenschaften zu treten, die keine illusionären Orientierungen predigen und, wenn im Vergleich auch eher holprige, so doch verlässlichere Wege weisen. Gewiss stößt die Wissenschaft auch immer wieder an ihre Grenzen, aber das ist kein Grund, nun den Weg der Wissenschaft auf einem religiösen Weg fortzusetzen, sondern die Grenzen können nur als ein Appell für weitere wissenschaftliche Anstrengungen wahrgenommen werden. Auch wenn die Wissenschaft nicht immer ihr Ziel sofort erreicht, sondern dafür unter Umständen viel Zeit benötigt, ist allein ihr Weg dem Menschen angemessen.

Auch wenn wir noch nicht in alle Wirkungszusammenhänge ausreichende wissenschaftliche Einsicht haben, setzt Sigmund Freud (1856–1939) auf eine restlose Ersetzung religiöser Wahrnehmungsweisen durch wissenschaftliche Erkenntnisse, wie sie in der Psychoanalyse vorgetragen werden.

Diese Zuspitzung auf einen reinen Wissenschaftsoptimismus fand u. a. in O. Pfister, Th. Reik (% § 4,4.2) und C. Müller-Braunschweig bald ihre Kritiker, die Freud vorwarfen, dass seine Argumentation schließlich weniger auf Erkenntnis als vielmehr auf ein Bekenntnis zulaufe.55

Mit der Religion hat sich der Mensch ein System erdacht, mit dessen Hilfe er sich von einer vernunftorientierten Begegnung mit der Wirklichkeit fernhalten kann. Die Vernunft wird von den Triebwünschen dominiert. Insofern ist die Religion als eine Gestalt der Triebbefriedigung anzusehen und es stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, diese durch Vernunfteinsichten zu ersetzen. Freud geht davon aus, dass es leichtfertig wäre, die Bestimmung der Natur des Menschen an der historischen Erscheinungsgestalt der Menschheit ablesen zu wollen, denn es könnte ja auch sein, dass der Mensch historisch nur in deformierter Gestalt in Erscheinung tritt. Das, was für die Menschheit insgesamt zu unterstellen ist, lässt sich deutlich in der Entwicklung des einzelnen Menschen ablesen. 55 Vgl. die Texte in: E. Nase u. J. Scharfenberg (Hg.), Psychoanalyse.

4. Die psychologische Religionskritik 155

Denken Sie an den betrübenden Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen. Wäre es so ganz unmöglich, daß gerade die religiöse Erziehung ein großes Teil Schuld an dieser relativen Verkümmerung trägt? Ich meine, es würde sehr lange dauern, bis ein nicht beeinflußtes Kind anfinge, sich Gedanken über Gott und Dinge jenseits dieser Welt zu machen.56

Zwar schließt Freud nicht aus, dass die Kinder dann doch – ähnlich wie ihre Vorfahren – den Weg der Religion einschlagen, aber indem diese Entwicklung nicht abgewartet wird, werden die Menschen alternativlos mit den Bandagen ihrer Vorfahren gebunden. Die beiden Grunddogmen dieser verfehlten Erziehung sind nach Freud die „Verzögerung der sexuellen Entwicklung und Verfrühung des religiösen Einflusses“ (180), sodass sich die religiösen Lehren möglichst früh in den Kindern festsetzen und dann allen Anfechtungen trotzen. Das gesellschaftliche Interesse an der Triebregulierung wird somit in den Bereich der Irrationalität geschoben (Androhung von Höllenstrafen), was für die Bedeutung der Vernunft im menschlichen Leben eine fundamentale Schwächung bedeutet. Hier hat die Denkschwäche des Menschen ihren Grund und sie ist für Freud keineswegs verwunderlich: „Wer sich einmal dazu gebracht hat, alle die Absurditäten, die die religiösen Lehren ihm zutragen, ohne Kritik hinzunehmen und selbst die Widersprüche zwischen ihnen zu übersehen, dessen Denkschwäche braucht uns nicht arg zu verwundern.“ (181) Nicht ohne Pathos setzt Freud dagegen die menschliche Intelligenz als das einzige geeignete Mittel zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit. Sein Kampf gegen die Religion wird ein Kampf gegen die Denkverbote, die unmittelbar mit ihr verbunden sind, und seine Hoffnung richtet sich auf den psychologischen Gewinn, den sich der Mensch von der Befreiung der Intelligenz erwarten kann. In Freuds Psychoanalyse spielt der Übergang des Kindes aus seiner Kinderwelt in die Welt der Erwachsenen eine exponierte Rolle. Der Übergang funktioniert meistens nicht so entschieden, wie er funktionieren sollte, sondern der angehende Erwachsene versucht sich einige Elemente seiner Kinderwelt zu erhalten, was dann dazu führt, dass er in Konfliktfällen in die Kinderwelt zurück flieht, um dort eine möglichst einfache Lösung in Anspruch nehmen zu können. Die religiösen Vorstellungen, „die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen 56 Die Zukunft einer Illusion [1927], in: S. Freud, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M. 1982, 135–189, 180.

156 § 4 Die Religionskritik Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wißbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Köperlichem und Seelischem, werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden.“ (164)

Psychologisch betrachtet kann sich dieser religiöse Konstitutionszusammenhang zu einer Neurose entwickeln, in der sich der erwachsene Mensch mit unbewältigten oder nicht einmal wahrgenommenen Kindheitskonflikten herumschlägt. Das ist der entscheidende Schlüssel zu Freuds Religionskritik: Lebensenttäuschung lässt den Menschen in die Wunschwelt des Kindes entfliehen, sodass in gesellschaftlicher Perspektive die Religion in der menschlichen Kultur die Rolle eines kollektiven Fluchhelfers übernimmt, indem sie ein Angebot an Ersatzbefriedigung für gesellschaftlich geforderten Triebverzicht bereithält. Ähnlich wie bei Marx sind es auch bei Freud die gesellschaftlichen Umstände, welche die Religion hervorbringen und stabilisieren, und es ist weniger die Religion, die hier knechtet. Die Religion hat den Charakter eines Kollaborateurs mit den auf Selbststabilisierung ausgerichteten Machtstrukturen der bestehenden Gesellschaft. In der Suche nach den Wurzeln der Religion und des Gottesglaubens wendet sich Freud in seinem Buch Totem und Tabu (1913) dem Totemismus als der Urform der Religion zu, die sich latent in allen weiteren Ausprägungen und Veränderungen der Religion und ihrer theologischen Erfassung erhalten habe. Die ganze psychoanalytische Bewegung wird von diesem Buch nachhaltig geprägt. Der ‚allmächtige‘ Vater der menschlichen Urhorde wird von den neidgetriebenen Söhnen im ödipalen Affekt umgebracht. Doch der Schrecken dieser im Affekt vollzogenen Tat holt die Söhne wieder ein, sodass sie nun ihren toten Vater, der in ihrem Über-Ich lebendig geblieben ist, als Gott-Vater verehren und damit lebendig halten. Das interpretatorische Grundmotiv von ‚Totem und Tabu‘ bleibt auch in den späteren Schriften Freuds erhalten, wobei er zwar die humanisierende Bedeutung dieses religionsproduzierenden Ereignisses anerkennt, das sich als historische Reminiszenz in der Religion bis heute verborgen hält, aber andererseits herausstellt, dass die Religion nicht über die in der Entwicklung des Menschen durchzustehende Neurose hinausgekommen ist und nun diesen in eben dieser Neurose gefangen hält. Der Übergang zum vernunftbestimmten Menschen ist immer noch nicht abgeschlossen – die nach wie vor festgehaltene Religion belegt dies, auch wenn ihre Bindungskraft inzwischen kontinuierlich nachlässt. Rein vernünftige Motive richten noch beim heutigen Menschen wenig gegen leidenschaftliche Antriebe aus; um wieviel ohnmächtiger müssen sie bei jenem Menschentier der Urzeit gewesen sein! Vielleicht würden dessen Nachkommen noch heute hemmungslos, einer den andern, erschlagen, wenn unter jenen Mordtaten nicht jene eine gewesen wäre, der Totschlag des primitiven Vaters, die eine unwiderstehliche, folgenschwere Gefühlsreaktion heraufbeschworen hat. Von dieser stammt das Gebot: du sollst nicht töten, das im Totemismus auf den Vater-

4. Die psychologische Religionskritik 157

ersatz beschränkt war, später auf andere ausgedehnt wurde, noch heute nicht ausnahmslos durchgeführt wird. Aber jener Urvater ist . . . das Urbild Gottes gewesen, das Modell, nach dem spätere Generationen die Gottesgestalt gebildet haben. Somit hat die religiöse Darstellung recht, Gott war wirklich an der Entstehung jenes Verbots beteiligt, sein Einfluß, nicht die Einsicht in die soziale Notwendigkeit hat es geschaffen. Und die Verschiebung des menschlichen Willens auf Gott ist vollberechtigt, die Menschen wußten ja, daß sie den Vater gewalttätig beseitigt hatten, und in der Reaktion auf ihre Freveltat setzten sie sich vor, seinen Willen fortan zu respektieren. Die religiöse Lehre teilt uns also die historische Wahrheit mit, freilich in einer gewissen Umformung . . . Über das Menschenkind wissen wir, daß es seine Entwicklung zur Kultur nicht gut durchmachen kann, ohne durch eine bald mehr, bald minder deutliche Phase von Neurose zu passieren. Das kommt daher, daß das Kind so viele der für später unbrauchbaren Triebansprüche nicht durch rationelle Geistesarbeit unterdrücken kann, sondern durch Verdrängungsakte bändigen muß, hinter denen in der Regel ein Angstmotiv steht. Die meisten dieser Kinderneurosen werden während des Wachstums spontan überwunden, besonders die Zwangsneurosen der Kindheit haben dies Schicksal. . . . In ganz ähnlicher Weise hätte man anzunehmen, daß die Menschheit als Ganzes in ihrer säkularen Entwicklung in Zustände gerät, welche den Neurosen analog sind, und zwar aus denselben Gründen, weil sie in den Zeiten ihrer Unwissenheit und intellektuellen Schwäche die für das menschlichen Zusammenleben unerläßlichen Triebverzichte nur durch rein affektive Kräfte zustande gebracht hat. Die Niederschläge der in der Vorzeit vorgefallenen verdrängungsähnlichen Vorgänge hafteten der Kultur dann noch lange an. Die Religion wäre die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung. Nach dieser Auffassung wäre vorauszusehen, daß sich die Abwendung von der Religion mit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen muß und daß wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase befinden. (176 f.)

Wenn Freud die Religion als Illusion bezeichnet, so unterscheidet er die Illusion vom Irrtum. „Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee“ (165). Sie ist nicht an der Wirklichkeit orientiert und somit auch nicht durch die Wirklichkeit widerlegbar, was nicht bedeutet, dass sie nicht durchaus eine Verbindung zur Wirklichkeit herzustellen vermag. Der religiöse Mensch will seiner Wirklichkeit entfliehen und so den tatsächlichen Realitäten entkommen. Er stellt sich nicht seiner Wirklichkeit mit ihren Unberechenbarkeiten und Gefährdungen, sondern verharrt in einem neurotischen Zustand, der durch die Religion überdeckt wird und nicht wirklich in Erscheinung tritt. Der Mensch jedoch, der erfolgreich die auf dem Weg zum Erwachsenwerden liegenden Neurosen zu seinem Gewinn durchstanden hat, bedarf aller Wahrscheinlichkeit nach keiner Religion mehr. Die damit verbundene Ernüchterung bedeutet im Gefälle dieser Darlegungen schlicht, dass sich der Mensch über seine Wirklichkeit keine Illusionen macht und sich auch den Widersinnigkeiten und Abgründen stellt. Wenn Freud hier relativ vorsichtig formuliert, so kann daraus nicht geschlossen werden, dass die Religion sich schließlich doch als unverzichtbar herausstellen könnte, wohl aber deutet sich an, dass die zu

158 § 4 Die Religionskritik

gehende Wegstrecke, die an der Wissenschaft zu orientieren ist, noch nicht klar absehbar ist. Vielleicht braucht der, der nicht an der Neurose leidet, auch keine Intoxikation, um sie zu betäuben. Gewiß wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus ins ‚feindliche Leben‘. (182)

Freud setzt – wie bereits angedeutet – auf die Wissenschaft, die keine Illusionen nährt, sondern zu nüchternem Realismus anhält: „Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswo bekommen können, was sie uns nicht geben kann.“ (189) Freud sieht der Wissenschaft drei Mächte entgegenstehen, von denen die Philosophie insofern die harmloseste ist, als sie sich teilweise selbst wissenschaftlicher Disziplin unterwirft, sich dann aber zu der Illusion versteigt, ein das Ganze in den Blick bekommendes Weltbild präsentieren zu können. Außerdem hat sie nur auf sehr wenige Menschen Einfluss. Die zweite der Wissenschaft entgegenstehende Macht ist die Kunst, die sich aber in gewisser Weise selbst zur Illusion bekennt und daher „fast immer harmlos und wohltätig“ ist. Der eigentliche und ernsthafte Feind der Wissenschaft ist die Religion, die darin eine ungeheure Macht entwickelt, dass sie „über die stärksten Emotionen der Menschen verfügt . . . und eine Weltanschauung von unvergleichlicher Folgerichtigkeit und Geschlossenheit geschaffen hat“.57 Als solche liefert die Religion Belehrung (Welterklärung), Tröstung (Heilsversprechen) und praktische Anweisungen (ethische Orientierung), mit denen sie der Wissenschaft den Boden streitig macht: Will man sich vom großartigen Wesen der Religion Rechenschaft geben, so muß man sich vorhalten, was sie den Menschen zu leisten unternimmt. Sie gibt ihnen Auskunft über Herkunft und Entstehung der Welt, sie versichert ihnen Schutz und endliches Glück in den Wechselfällen des Lebens, und sie lenkt die Gesinnungen und Handlungen durch Vorschriften, die sie mit ihrer ganzen Autorität vertritt. Sie erfüllt also drei Funktionen. In der ersten befriedigt sie die menschliche Wißbegierde, tut dasselbe, was mit ihren Mitteln die Wissenschaft versucht, und tritt hier in Rivalität mit ihr. Ihrer zweiten Funktion verdankt sie wohl den größten Anteil ihres Einflusses. Wenn sie die Angst des Menschen vor den Gefahren und Wechselfällen des Lebens beschwichtigt, sie des guten Ausgangs versichert, ihnen Trost im Unglück spendet, kann die Wissenschaft es nicht mit ihr aufnehmen. Diese lehrt zwar, wie man gewisse Gefahren vermeiden, manche Leiden erfolgreich bekämpfen kann; es wäre sehr unrecht zu bestreiten, daß sie den Menschen eine mächtige Helferin ist, aber in vielen Lagen muß sie den Menschen seinem Leid überlassen und weiß ihm nur zur Unterwerfung zu raten. In ihrer dritten Funktion, wenn sie Vorschriften gibt, Verbote und Einschränkungen erläßt, 57 Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1932], in: S. Freud, Studi-

enausgabe Bd. I, Frankfurt/M. 51974, 448–608, 588 f.

4. Die psychologische Religionskritik 159

entfernt sie sich von der Wissenschaft am meisten. Denn diese begnügt sich damit, zu untersuchen und festzustellen. Aus ihren Anwendungen leiten sich allerdings Regeln und Ratschläge für das Verhalten im Leben ab. Unter Umständen sind es dieselben, die von der Religion geboten werden, aber dann mit anderer Begründung. (589)

Die genetische Analyse dieser drei Funktionen der Religion weist nach Freud nun auf, dass alle drei überhöhte Vaterprojektionen darstellen. Die Entstehung des Menschen wird auf die Weltentstehung übertragen. Das überschätzte Vaterbild der Kindheit findet sich in den Schutzversprechungen Gottes wieder. Die Fortdauer der Schutzbedürftigkeit des Menschen gibt dieser Funktion ein besonderes Gewicht. Schließlich folgt aus den beiden ersten Funktionen, dass der Gott beigelegten Autorität nun auch die nötige Orientierungskraft im Blick auf das eigene Verhalten zugemessen wird und der Mensch die Einschränkungen seiner Triebwünsche nach den hier ergehenden Orientierungen akzeptiert. Genauso wie bei der Erziehung der Kinder hält die Religion durch ein System von Anreiz und Strafandrohungen diese ethische Orientierungsfunktion lebendig, vor allem eben den Wunsch, der Liebe Gottes nicht verlustig zu gehen. Werden die verschiedenen Aspekte zusammengenommen, so resümiert Freud: Das zusammenfassende Urteil der Wissenschaft über die religiöse Weltanschauung lautet also: Während die einzelnen Religionen miteinander hadern, welche von ihnen im Besitz der Wahrheit sei, meinen wir, daß der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden darf. Religion ist ein Versuch, die Sinneswelt, in die wir gestellt sind, mittels der Wunschwelt zu bewältigen, die wir infolge biologischer und psychologischer Notwendigkeiten in uns entwickelt haben. Aber sie kann es nicht leisten. Ihre Lehren tragen das Gepräge der Zeiten, in denen sie entstanden sind, der unwissenden Kinderzeiten der Menschheit. Ihre Tröstungen verdienen kein Vertrauen. Die Erfahrung lehrt uns: Die Welt ist keine Kinderstube. Die ethischen Forderungen, denen die Religion Nachdruck verleihen will, verlangen vielmehr eine andere Begründung, denn sie sind der menschlichen Gesellschaft unentbehrlich und es ist gefährlich, ihre Befolgung an die religiöse Gläubigkeit zu knüpfen. Versucht man, die Religion in den Entwicklungsgang der Menschheit einzureihen, so erscheint sie nicht als ein Dauererwerb, sondern als ein Gegenstück der Neurose, die der einzelne Kulturmensch auf seinem Wege von der Kindheit zur Reife durchzumachen hat. (595)

Der Religionssoziologe und Philosoph Jacob Taubes (1923–1987) gibt zu Freud, der in der Debatte um die Religionskritik nach wie vor eine bedeutende Rolle spiele, folgenden geistesgeschichtlichen Kommentar, in dem eine enge Verbindung von Freud zu Nietzsche (% § 4,2.6) hervorgehoben wird. Freuds Option für die Wissenschaft erscheint in der Interpretation Taubes nicht als eine Gestalt des allgemeinen Wissenschaftsoptimismus, sondern vielmehr als ein offensives Eingeständnis der Verlorenheit des Menschen, der einmal die Illusionen durchschaut, auf denen sich das Leben als begründet und gegründet begriffen hat. Die atheistische Prämisse in Freuds psychoanalytischer Theorie und Therapie ist nicht einfach ein Rest des optimistischen, bürgerlichen Humanismus, der in den gebildeten Klassen des 19. Jahrhunderts noch fortlebte, sondern gehört zur Geschichte des tragischen Humanismus

160 § 4 Die Religionskritik seit Nietzsche. . . . Freuds psychoanalytische Methode entwickelt sich im Horizont des tragischen dionysischen Humanismus. Wenn es hier Fortschritt gibt, dann allein den, daß die Augen des Menschen für die tragische Struktur der Realität geöffnet werden. So liegt der Unterschied zwischen der Religion als einem Weg des Heils und der Psychoanalyse als einer therapeutischen Methode in der Hoffnung auf Versöhnung. . . . Freud war wie Nietzsche überzeugt, daß das Ende der christlichen Religion den Weg von 2000 Jahren des Irrtums und der Illusion zu einem Abschluß bringen würde. Die Religion war eine Illusion, weil die Hoffnung auf Versöhnung, auf Sühne der Schuld, letztlich eine Illusion ist. Schuld kann nicht überwunden, sondern nur anerkannt werden. . . . Mit Nietzsche und Freud wird diese wahre Hoffnung [sc. auf Versöhnung] unter den Verdacht der Illusion gestellt. Der Erfolg der Freudschen Psychoanalyse deutet dem Historiker somit an – sofern solche Andeutungen überhaupt noch nötig sind –, daß das Abendland in eine nachchristliche Ära eingetreten ist.58 &

E. Wiesenhütter (Hg.), Freud und seine Kritiker (EdF 24), Darmstadt 1974 Hans-Martin Lohmann, Sigmund Freud, Reinbek 22006

4.2 Theodor Reik Obwohl Theodor Reik, der als jüdischer Psychoanalytiker zur Zeit des Nationalsozialismus aus Wien in die USA emigrierte, parallel und in Korrespondenz zu S. Freud eine eigenständige und differenzierte Religionskritik (vornehmlich Christentumskritik) vorgelegt hat, sind seine Arbeiten heute weithin in Vergessenheit geraten. Tief beeindruckt von Freuds Totem und Tabu – dieses Buch hat auf die psychoanalytische Bewegung insgesamt nachhaltig gewirkt –, wendet sich Reik der Religionspsychologie zu. In seinen beiden Hauptschriften – Der eigene und der fremde Gott (1923) und Dogma und Zwangsidee (1927) – präsentiert Reik eine kritische Interpretation des Christentums als eine vom Judentum abgespaltenen Religion, die in eigentümlicher Weise mit der jüdischen Tradition verbunden bleibt. Er sieht in der unverdauten und in ihren Konsequenzen nicht hinreichend realisierten Abspaltung vom Judentum den eigentlichen Wurzelgrund für die Selbstverkrümmungen des Christentums. Einerseits sehen die Christen in den Juden ihre Geschwister, die bisher die in Christus vollzogene Revolution gegen die Tradition nicht gewagt haben, andererseits erheben sie aus einem Schuldgefühl heraus Jesus zum Gott und schieben den Juden die Schuld an seinem Tode zu. In den Evangelien wird bereits implizit das Interpretationsmuster für die dogmatischen Streitereien in der Alten Kirche angegeben, denen sich Reik in Dogma und Zwangsidee zuwendet.

Beeinflusst von Freuds ,Totem und Tabu‘ entwickelt Theodor Reik (1888–1969) ein eigenes mehr sozialpsychologisches Konzept einer psychoanalytischen Religionskritik, das in der Ablösung des Christentums aus dem Judentum die Wurzeln für den zwanghaften Dogmatismus angelegt sieht.

58 J. Taubes, Die Religion und die Zukunft der Psychoanalyse [1957], in: E. Nase u. J. Scharfenberg (Hg.), Psychoanalyse, 167–175, 174 f.

4. Die psychologische Religionskritik 161

Vergegenwärtigen wir uns die Entstehung des Christentums, so erkennen wir, daß sich in ihm, den Gesetzen des Wiederholungszwangs folgend, der alte Sohnesputsch unter dem kombinierten Einflusse religiöser, ökonomischer und politischer Momente wieder durchgesetzt hatte. Es ist noch gezeigt worden, wie noch in den synoptischen Evangelien die Haltung Jesus gegenüber dem Althergebrachten durchaus zwiespältig ist, daß Jesus zur Gesetzesreligion, zur Thora und zur Synagoge ambivalent eingestellt erscheint. Derselbe Jesus, der die Thora als sakrosankt erklärt und der nicht gekommen ist, aufzulösen, sondern zu erfüllen, der prophezeit, daß nicht ein Jota vom Gesetz vergehen solle, bis daß vergehen Himmel und Erde, derselbe Jesus proklamiert, daß der Mensch auch Herr sei über Speiseverbote und Sabbathaltung. Derselbe Jesus, der den Gehorsam gegenüber den Schriftgelehrten predigt, hält große Strafreden gegen sie; seine Pietät gegen den ererbten Vaterglauben ist kaum weniger groß als sein Eifer für dessen Aufhebung. Er, der seinen Jüngern verbietet, zu Heiden und Samaritern zu gehen, und das kananäische Weib, das um die Heilung ihrer Tochter fleht, hart zurückweist („Ich bin zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel geschickt“), hat das nationale Selbstbewußtsein des jüdischen Volkes radikal zerbrochen und reißt die Sonderstellung der Juden nieder. Bald als konservativer, pietätvoller Anhänger der Vaterreligion, bald als Revolutionär, dem keine Tradition und keine rabbinische Lehrautorität heilig ist, erscheint Jesus in den frühen Urkunden. ‚Der Vater und ich sind eines‘ hat doppelte Bedeutung; es zeigt die zärtliche Identifizierung nur stärker im Vordergrunde als die feindliche, welche den Platz des Vaters einzunehmen wünscht. Wirklich erweist sich der Sohn nach Tod und Sühnung siegreich: er wird Gott neben dem Vater, eigentlich an seiner Stelle. Immer höher stieg die Bedeutung der Sohnesreligion. Wir haben in der Geschichte des Christentums jene Wandlungen und Äußerungsformen der Ambivalenz verfolgt, bis sich die einander entgegengesetzten Triebströmungen im Dogma vereinigen, und die gegensätzlichen Vorstellungen dort einen Kompromißausdruck erreichen, dessen widerspruchsvoller, absurd klingender Inhalt noch Zeugnis von seiner Genese und psychischen Zusammensetzung ablegt. Die Genese des Dogmas ist von ambivalenten Triebströmungen beherrscht. Der Ausdruck ihres Ringens um die Herrschaft ist der Zweifel. Das Dogma ist eine zwanghafte Bemühung, den religiösen Zweifel zu überwinden.59

Das dogmatische Dilemma besteht in der Verhältnisbestimmung der revolutionären Tat des Sohnes zu der unbestrittenen Herrschaft des Vaters. Das altkirchliche Christusdogma ist ein Dokument dieser unlösbaren Spannung. Erich Fromm (% § 6,4), der nur wenig später ebenfalls eine psychologische Interpretation des Christusdogmas vorlegt, kommt zu ganz anderen Ergebnissen.60

Die dogmatisierte Christologie ist nicht Ausdruck souveräner Glaubensgewissheit, sondern Spiegel des prädominaten Zweifels. Sie ist „ein gedanklicher Kompromissausdruck von verdrängten und verdrängenden Vorstellungen. In seiner historischen Entwicklung wird der Anteil der Wiederkehr des Verdrängten ebenso wie der der verdrängenden Instanzen alternierend erkennbar.“61 Eben diese Verwicklungsstruktur weist in die Richtung einer vom Zweifel getriebenen Zwangsidee, in der „zuerst der eine Gedanke bis zum Extrem durchgeführt wird, um dann gerade dem ent59 Dogma und Zwangsidee, eingel. v. Y. Spiegel u. J. Scharfenberg, Stuttgart 1973, 45. 60 vgl. Die Entwicklung des Christusdogmas

[1930], in: Gesamtausgabe, hg. v. R. Funk, Bd. VI, Stuttgart 1980, 11–68. 61 Dogma und Zwangsidee, 51.

162 § 4 Die Religionskritik

gegengesetzten zu weichen“ (50). Als signifikant wird die altkirchliche Auseinandersetzung mit Marcion angesehen, der die ganze Tradition über Bord werfen wollte, was dann die Kirche dazu veranlasste, durch das Dogma die beiden Traditionsströme in der überlieferten paradoxalen Gestalt miteinander zu verknüpfen. Die Verteidigung des Glaubens hat sich der Waffen und der Technik seines Angreifers bemächtigt und verwendet sie zur Abwehr. Die Logik, das ganze Arsenal von Beweisführungen, das Ziehen von Konklusionen, die Herstellung von Zusammenhängen hat die Dogmatik von den Zweiflern, Häretikern und Gegnern genommen und zu ihren Zwecken benützt. Auch dies ganz in Analogie mit den Erscheinungen beim Zwangsdenken: die sekundäre Bearbeitung geschieht dort mit denselben Mitteln, welche den zersetzenden Bewußtseinsfaktoren eignen. (80)

Der peinlich genaue Schutz, der dem Dogma vonseiten der Kirche gewährt wird, macht nach Reik deutlich, dass es nicht nur den eigenen Glauben den Gegnern gegenüber verteidigen soll, sondern eben auch potenziellem Widerspruch von den Gläubigen selbst entgegentritt. „Aber ist nicht, was so sorgfältig beschützt wird, des Schutzes sehr bedürftig?“ (101) Im Unterschied zu Freud nimmt Reik nicht den ödipalen Vatermord als das religionsproduzierende Urverbrechen an, sondern plädiert auf Kannibalismus als Wurzel der Religion, wie er auch im Mythos vom Verzehren der Frucht am Baum des Lebens enthalten sei.62 Besonders die alttestamentliche Religionsgeschichte könne geradezu als eine Kriminalgeschichte rekonstruiert werden. Schuldgefühl und Strafbedürfnis werden durch die zwanghafte Beobachtung der Tora und durch die Leiden, die den Juden von außen zugefügt werden, abgearbeitet. Aber auch im Christentum ist das Schuldgefühl der treibende Motor sowohl für die masochistischen, als auch die sadistischen Neigungen, die von ihm ausgegangen sind und weiterhin ausgehen. &

Einleitung zu der zitierten Ausgabe von Dogma und Zwangsidee von Y. Spiegel u. J. Scharfenberg

4.3 Wilhelm Reich Die Religionskritik des amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers Wilhelm Reich schließt eng an Freud an, orientiert sich dann jedoch weniger am Individuum, sondern an den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen. Als ein organisierter Mystizismus weise die Religion eine große Ähnlichkeit zum Faschismus auf, weshalb dieser sie auch gern als Stütze in Anspruch nehme. Ihre Stabilität bezieht die Religion daraus, dass sie den sexuell

Nach Wilhelm Reich (1897–1957) weist die Religion mit ihrem sexualitätshemmenden Einfluss eine Verwandtschaft zum Faschismus und seinem Anspruch auf die Triebe des Menschen auf.

62 Vgl. Myth and Guilt – The Crime and Punishment of Mankind, New York 1957.

4. Die psychologische Religionskritik 163

erregten Gefühlsbedürfnissen des Menschen eine Teilbefriedigung gewährt, die jedoch über die Weckung einer endlosen Vorlustspannung nicht hinausführt. Durch die religiös-metaphysische Usurpation wird die gesunde natürliche Sexualität deformiert und zum Zwecke der Herrschaftsstabilisierung in strengen Grenzen gehalten. In konsequenter und freilich auch einseitiger Konzentration auf Freuds Libido, die sich bei Reich schließlich in einem konkreten Stoff (dem Orgon) manifestiert, der die sogenannte Orgonenergie freisetzt, plädiert er für eine Gesellschaft, die eine „sexualökonomische Regelung der sexuellen Bedürfnisse“ zulässt. Die religiöse Grundidee ist in sämtlichen patriarchalischen Religionen das Negativ des sexuellen Bedürfnisses. . . . Nur aus diesem Widerspruch der religiösen Gefühlserregung, daß sie nämlich gleichzeitig antisexuell und Sexualitätsersatz ist, läßt sich die Kraft und Beharrlichkeit der Religionen begreifen. Die Affektstruktur des echt religiösen Menschen läßt sich kurz wie folgt beschreiben: Biologisch ist er den sexuellen Spannungszuständen genauso unterworfen wie alle anderen Menschen und Lebewesen. Doch er hat durch die Aufnahme der sexualverneinenden religiösen Vorstellungen und im besonderen durch die Strafangst, die er erwarb, jede Fähigkeit zu natürlicher sexueller Spannung und Befriedigung verloren. Er leidet daher an einem chronisch überspannten körperlichen Erregungszustand, den er unausgesetzt zu meistern gezwungen ist. . . . Da er aber ein biologisches Wesen ist und auf Glück, Entspannung und Befriedigung unter keinen Umständen verzichten kann, sucht er das illusionäre Glück auf, das ihm die religiösen Vorlustspannungen zu geben vermögen, also die uns bekannten vegetativen Strömungen und Erregungen im Körper. Er wird daher zusammen mit seinen Glaubensgenossen Veranstaltungen treffen und Einrichtungen schaffen, die ihm diesen körperlichen Erregungszustand erleichtern und dessen eigentliches Wesen gleichzeitig verschleiern können. Sein biologischer Organismus baut sich daher eine Orgel, deren Klänge derartige Strömungen im Körper hervorrufen können. Das mystische Dunkel der Kirchen erhöht die Wirkung einer überpersönlich aufgefaßten Empfindsamkeit für das eigene Innere und für die darauf zugeschnittenen Klänge einer Predigt, eines Chorals etc. Der religiöse Mensch ist in Wirklichkeit völlig hilflos geworden, da ihm die Glücksfähigkeit und die Aggressivität Schwierigkeiten des Lebens gegenüber durch Unterdrückung seiner Sexualenergie verlorengingen. In Wirklichkeit hilflos, muß er um so mehr an übernatürliche Kräfte glauben, die ihn stützen und beschirmen. Wir verstehen daher, daß er in manchen Situationen auch eine unglaubliche Kraft der Überzeugung, ja des passiven Todesmuts entwickeln kann. Er schöpft diese Kraft aus der Liebe zu der eigenen religiösen Überzeugung, die ja von sehr lustbetonten Körpererregungen getragen wird. Er glaubt freilich, seine Kraft stamme von ‚Gott‘. Seine Sehnsucht nach Gott und zu Gott ist also in Wirklichkeit die Sehnsucht, die seiner sexuellen Vorlusterregung entstammt und nach Auslösung ruft.63

Auf den entscheidenden Punkt gebracht, kann es zusammenfassend heißen: Die unwiderlegbare klinische Erfahrung besagt, daß das religiöse Empfinden gehemmter Sexualität entspringt, daß in gehemmter Sexualerregung die Quelle der mystischen Erregung zu suchen ist. Daraus folgt der zwingende Schluß, daß klares sexuelles Bewußtsein und natürliche 63 Die Massenpsychologie des Faschismus [1933], Köln 21972, 157 f.

164 § 4 Die Religionskritik Ordnung des sexuellen Lebens das Ende des mystischen Erfindens jeder Art sein muß, daß also die natürliche Geschlechtlichkeit der Todfeind der mystischen Religion ist. (185) &

M. Konitzer, Wilhelm Reich zur Einführung. 2., überarb. Aufl., Hamburg 1992

4.4 Tilmann Moser „Meine Augen lernen sehen, seit du mir nicht mehr den Horizont verdunkelst“, teilt Tilmann Moser in dem autobiographischen Buch Gottesvergiftung dem aus seinem Leben verdrängten, aber offenkundig immer noch vorhandenen Gott mit. In diesem seinerzeit sehr verbreiteten Buch erzählt Moser, auf welche Weise sich Gott in sein Kinderleben eingeschlichen und sich seiner bemächtigt habe. Aus der persönlichen Radikalität seiner Religionskritik zieht Moser jedoch keine verallgemeinernden Schlüsse. Vielmehr teilt er dem aus seinem Leben verbannten Gott mit, er wisse darum, dass nicht alle die gleichen Erfahrungen mit ihm machten, und verspricht ihm rhetorisch, sich öffentlich zurückzuhalten:

Der Psychoanalytiker Tilmann Moser (*1938) rechnet in einer Art Selbstanalyse und Selbsttherapie mit dem Gott ab, von dem er sich in seiner Kindheit in Beschlag genommen sah.

Dich überstanden zu haben gibt mir Selbstbewußtsein; von der riesigen Krücke nicht erschlagen worden zu sein, ein Gefühl von Kraft. Zutrauen werde ich nie mehr zu dir finden können. Aber ich weiß auch, daß du anderen freundlicher begegnet bist. Soweit sie dich brauchen, um nicht noch mehr zu leiden, werde ich nicht gegen dich sprechen. Es genügt mir, daß ich dich nicht mehr brauche. Wieviel Gewicht dir andere belassen wollen, darin will ich ihnen nicht dreinreden.64

Mosers Kritik ist die Kritik einer religiösen Sozialisation, die Gott als eine unnahbare Disziplinierungsautorität einsetzt, der nur der unbedingte Gehorsam gerecht zu werden vermag. Gott bemächtigt sich gleichsam als ‚big brother‘ der Seele des Kindes und übernimmt damit eine das ganze Leben bestimmende Rolle. Du warst so fürchterlich real, neben Vater und Mutter die wichtigste Figur in meinem Kinderleben. Nein, obwohl es mich wundert, wie leicht es mir fällt, dich immer noch so direkt anreden zu können. Du hast überlebt in meiner seelischen Struktur: ganze Gewölbe, Verehrungsthrone, innere Zimmer- und Kapellenfluchten wurden für dich angelegt. Du haustest in mir wie ein Gift, von dem sich der Körper nie befreien konnte. Du wohntest in mir als mein Selbsthaß. Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit, als mein Körper und meine Seele klein waren. Beide wurden, entgegen einer freieren Bestimmung, zu deiner Wohnung gemacht, und ich war so stolz, daß du auch in mir kleinem Jungen Wohnung nehmen würdest. Es gab Jahre, wo ich dir mein Leben weihen wollte, wo zwischen dir und mir verhandelt wurde über einen Erwählungsvertrag. Du hast schon ganz früh mit meinem Größenwahn gespielt, ihn genährt, ihn an geheiligten Vorbildern gesteigert, die mir in deinem Namen vor Augen gehalten wurden. Ich habe dir so schreckliche Opfer gebracht an Fröhlich64 Gottesvergiftung, Frankfurt/M. 1976, 100.

4. Die psychologische Religionskritik 165

keit, Freude an mir und anderen, und der Lohn war, neben der Steigerung des Erwähltheitsgefühls, oder dem Kampf darum, ein Quentchen Geliebtsein vielleicht, vielleicht ein Quentchen weniger Verdammnis. (9 f.)

Auch wenn es sich nicht um eine akademisch vorgetragene Position handelt, illustriert Moser einen bestimmten religiösen Sozialisationstypus, der sich zwar inzwischen wahrscheinlich weithin verflüchtigt hat, aber auf der anderen Seite recht genau den Phänomenhorizont aufgreift, der Freud in seinen entwicklungspsychologischen Beobachtungen vor Augen gestanden hat. Es ist diese Hintergründigkeit, die der eher literarischen Selbstanalyse auch für den in diesem Buch geführten Diskurs Relevanz verleiht. Meine Grundgefühle dir gegenüber scheinen mir Wut und Trauer: Wut über die jahrzehntelange Täuschung, die Qualen, die Zweifel, die vergeblichen Hoffnungen; Wut über die Beschämung, die mich überkommt, sobald ich mir vergegenwärtige, daß ich wie ein Bettler hinter dir hergelaufen bin, mich selbst verleugnet habe. So wie du es mit mir getan hast, könnte ein Mensch den anderen nicht zum Narren halten. Als ich zu spüren begann, daß ich jahrelang einer Fata Morgana nachgelaufen bin, einem Gerücht, einer Geborgenheitsfiktion, die doch so sehr mit Drohung und Angst vermischt war, versuchte ich lange Zeit krampfhaft, die Augen vor der demütigenden Entdeckung zu verschließen. Ich intensivierte die Glaubensanstrengungen, um nicht völlig ins Wanken zu geraten, und weil sich kein diesem erhofften Glauben ähnlicher Halt bot. Vielleicht kann ich überhaupt erst heute anfangen zu ertragen, daß es dich nicht gibt, ich meine, nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Seelenleben, den erhalten gebliebenen Kindergefühlen, und mußte das Thema unberührt lassen, solange ich für die große Wut und die große Trauer nicht stark genug war. Denn der Trotz, in dem ich lebte, hat ja unbewußt noch mit dir gerechnet; der sich Auflehnende weiß, daß es den Gegner gibt, dem man trotzt oder den man herausfordern will. Ich habe mich in den Therapien mit den frühen Bildern der Eltern herumgeschlagen, aber nicht mit dir, obwohl oder weil du die weit ungeheuerlichere Person warst. Die frühen Elternfiguren, selbst wenn sie zu Phantomen und Monstren verzerrt erscheinen, haben Konturen, während du konturlos allumfassend bist, unheimlich in der Vielfalt der angemaßten Funktionen: als überväterliche oder übermütterliche Person, liebevoll und bergend; als zorniger Richter, Schöpfer, Abgrund, allesdurchdringende Substanz und totales Objekt, verwirrend und erschreckend. (79 f.)

Religion perpetuiert nach Moser überkommene Entwicklungsverweigerungen und Entfremdungen des Menschen in gesellschaftlichen Verhältnissen, die den Menschen an der Selbstentfaltung hindern. Sie wird als Bevormundung und Einschränkung empfunden. Durch die Weitergabe an Kinder hat sie einen hohen manipulativen Anteil (ein Motiv, das bereits bei Reimarus [% § 2,2.1] eine Rolle spielt und seitdem immer wieder auftaucht).

166 § 4 Die Religionskritik

4.5 Horst Eberhard Richter Horst Eberhard Richter ist in diesem Zusammenhang insofern ebenfalls ein Sonderfall, als er kein Religionskritiker im engeren Sinn des Wortes ist. Wohl macht auch er auf eine fatale subkutane Wirkmacht religiöser Verblendung aufmerksam, aber diese konnte sich bisher deshalb verborgen halten, weil sie sich gerade mit plakativer Religionslosigkeit in Szene setzt. Es gibt eine bestimmte Religion der Religionslosigkeit, die sich weithin des Selbstbewusstseins des modernen Menschen bemächtigt hat und ihn nun ebenso unbewusst wie äußerst effektiv in Beschlag nimmt. Richter trägt eine sozialpsychologisch orientierte Neuzeitkritik vor, in deren Diagnose sowohl der Religion als auch der Religionslosigkeit eine besondere Bedeutung zukommt. Wenn Religion als eine Art von Gottesverehrung verstanden wird, so hat nach Richter die Neuzeit gezeigt, dass diese Verehrung sich nicht notwendigerweise auf einen dem Menschen gegenüberstehenden Gott richten muss. Vielmehr könne der Mensch auch in sich selbst auf höchst problematische Weise Gott verehren, ohne jemals dabei von Gott reden zu müssen, indem der Mensch die Letztinstanzlichkeit seines eigenen Ichs zum Lebensprogramm erhebt. Die verabschiedete Religion fällt dem gegen Gott vordrängenden Menschen gleichsam in den Rücken, ohne dass dieser den religiösen Charakter seines neuen Credos auch nur ahnte. So wie Horkheimer und Adorno von einer Dialektik der Aufklärung gesprochen haben und damit auf die verheerenden Implikationen einer nicht ausreichend über sich selbst aufgeklärten Aufklärung aufmerksam gemacht haben,65 so ließe sich hier von einer Dialektik der Religionskritik sprechen, in der sich in einem neuen und deshalb verborgen haltenden Gewand genau eben das zurückmeldet, was gerade nicht ohne einen gewissen Triumph als überwunden ausgegeben wurde. Der Religionskritiker wird selbst zum Objekt der Religionskritik – und zwar aus einer psychoanalytischen Perspektive, welche die Wechselwirkung von gesellschaftlichen Entwicklungen und individuellen Selbstwahrnehmungen im Blick hat. Der Mensch im ausgehenden Mittelalter schüttelt nicht nur die Bevormundung durch Gott ab, sondern vor allem auch zunehmend den mit Gott verbundenen Schutz, dessen Erhalt ihm keine religiöse Sorge mehr wert ist, sodass er sich selbst für ausreichend autorisiert hält, das Geschick seines Lebens und eben auch der Lebensbedingungen übernehmen zu können. Der Abschied von der Allwissenheit und der Allmacht Gottes ist begleitet von dem Anspruch, nun selbst die Rolle des Allwissenden und Allmächtigen übernehmen zu können. Der ohnmächtige Mensch des Mittelalters, der sich seinem Schicksal ausgeliefert sah, wird in der Neuzeit zum all-

Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (*1923) sieht den neuzeitlichen Menschen in seinem Schwanken zwischen Ohnmachtsangst und Allmachtswahn auf eine Katastrophe zusteuern.

65 Vgl. M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente,

in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt/M. 1981.

4. Die psychologische Religionskritik 167

mächtigen Menschen, der sich alles unterwirft und damit an die Stelle des zuvor angerufenen Gottes tritt. Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn. Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär selbst in eine allmächtige Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals zahlreiche Merkmale einer krampfhaften Selbstüberforderung. Der verunsicherten Beziehung zu Gott, die einen langen Prozeß schmerzhafter Auseinandersetzung erfordert hätte, hat man sich durch Identifizierung entzogen. Aber das durch diese Gleichsetzung erzeugte großartige Selbstbewußtsein ist stets trügerisch geblieben, und das auf die technische Naturbeherrschung fundierte Machtgefühl verleugnet seit je die tatsächliche infantile Abhängigkeit von eben dieser Natur, ohne deren Ressourcen ein Überleben der Menschheit undenkbar ist. Dies ist eben der Pferdefuß der neurotischen Überkompensation: Da die Ohnmachtsangst nur durch unkritische Selbstüberschätzung, die passive Auslieferung nur durch gewaltsame Überaktivität in Schach gehalten wird, hat sich eine verhängnisvolle Unfähigkeit fixiert, noch diejenigen natürlichen Abhängigkeiten zu registrieren und zu akzeptieren, welche die menschliche Existenz begrenzen. Aber es liegt eben im Wesen dieses unbewußten Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, daß die Brüchigkeit des größenwahnsinnigen Selbstbildes so schwer durchschaut werden kann. Nachdem die Gewißheit der Geborgenheit in Gott entfallen ist und das Ich nur noch in seiner Selbstgewißheit und in der egozentrischen Naturbeherrschung Halt sucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das illusionäre Moment dieser Selbstvergötterung zu verleugnen.66

Richter spricht von dem ‚Gotteskomplex‘ des wahnhaft an sich selbst glaubenden Menschen. Er ist das Resultat einer „narzißtischen Identifikation“, in welcher der Mensch das bisher von Gott bezogene Sicherheitsgefühl dem Selbstbewusstsein des Ich anvertraut. Die grandiose Selbstgewißheit des Ich ist an die Stelle der Geborgenheit in der großen idealisierten Elternfigur getreten. Deren gewaltige Macht taucht nun als maßlose Überschätzung der eigenen Bedeutung und Möglichkeiten auf. Das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes. Die höchste und zentrale Wahrheit steckt infolgedessen in dem berühmten Satz: Cogito ergo sum; ich denke, also bin ich. Was wie ein logischer Schluss aussieht, ist im Grunde eine intuitive Entscheidung. Das Ich setzt seine Selbstgewißheit obenan. (27)

Dieser Rollenwechsel, den Richter in einer aus philosophischer Sicht recht eigenwillig zusammengesetzten Ahnenreihe (u. a. Descartes, Hobbes, Kant, Schopenhauer, Nietzsche) beschreibt, ist in psychologischer Hinsicht mit gefährlichen Begleitumständen verbunden, denn der sich wahnhaft seiner Allmacht versichernde Mensch ist leidensunfähig und damit sich selbst und der Menschheit gegenüber höchst gefährlich geworden. Der am ‚Gotteskomplex‘ erkrankte Mensch ist sowohl individuell in seinen emotionalen Empfindungen als auch sozial in der Kommuni66 Gotteskomplex, 29 f.

168 § 4 Die Religionskritik

kation mit seiner natürlichen Umgebung beeinträchtigt. Die Balance zwischen Rationalität und Emotionalität ist durcheinander geraten, was dazu führt, dass Vernunfteinsichten, die auf ein Umdenken drängen, nicht zu vernünftigen Reaktionen führen, sondern nun ausgerechnet damit abgewehrt werden, dass der Mensch sein Vertrauen nicht allein auf Zahlen und quantifizierbare Perspektiven setzen dürfe. Hier zeigt sich ein Unverhältnis, dessen erodierende Dynamik sich immer ungebremster entfalten kann, je mehr sich Widerstandslosigkeit zu einem allgemeinen Habitus auswächst. Wenn man nicht macht, was man als notwendig, wenn auch mit persönlichen Unannehmlichkeiten behaftet, erkannt hat, dann kann man irgendwann auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wer Anpassungszwängen taktisch nachgibt, wohl wissend, dass er ihnen mit vertretbarem Risiko widerstehen könnte und auch sollte, wird nach und nach die Unzumutbarkeit von Anpassungsforderungen gar nicht mehr wahrnehmen, d. h., die eigene Gefügigkeit auch nicht mehr als Fluchtreaktion durchschauen. Alles erscheint normal: die Verhältnisse, denen er sich ergibt, und der Verzicht auf Gegenwehr, den er eben gar nicht mehr erlebt.67

Um nicht sein überhöhtes Selbstbild revidieren zu müssen, ignoriert der moderne Mensch die unbequemen Einsichten und setzt damit partiell genau das Instrument außer Kraft, auf das er sich in seiner Selbsterhebung vornehmlich berufen hat. Diese Irrationalität der Rationalität zeigt den illusionären Charakter der Situation, in die sich der Mensch hineinmanövriert hat. Das undurchschaute magische Moment dieser phantastischen Illusion wird gegenwärtig eklatant durch die Tatsache deutlich, daß nur die allerwenigsten vernünftig auf die Tatsache reagieren können, daß derzeit gerade die exakte naturwissenschaftliche Forschung die Zwangsläufigkeit eines kollektiven Selbstzerstörungsprozesses prognostiziert, die mit einer automatischen Fortsetzung der bisherigen expansionistischen Naturbeherrschungsstrategie verbunden wäre. Die Menschen sind unfähig zu akzeptieren, daß eben die Mittel, die bislang unumstritten zur unaufhörlichen Erweiterung unserer Selbstsicherheit tauglich sein sollten, nun auf einmal ganz anders bewertet werden müssen. Es ist eine mit der hintergründigen neurotischen Dynamik verbundene Paradoxie, daß den so lange idealisierten quantitativen Methoden in dem Augenblick nicht mehr vertraut werden kann, in dem diese beweisen, daß der Anspruch einer immer vollständigeren naturwissenschaftlich-technischen Inbesitznahme der Natur gleichbedeutend mit Selbstvernichtung ist. Die Angst, sich die seit dem Mittelalter nur verdrängte infantile Abhängigkeitsposition einzugestehen, ist fatalerweise momentan immer noch viel größer als die Angst, mit einem objektiv selbstmörderischen Größenwahn unterzugehen. Das ist der Fluch dieses kollektiven Komplexes, des Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, den man auch zusammenfassend als ‚Gotteskomplex‘ bezeichnen kann.68

Die unablässige Tätigkeit des Menschen ist der spezifische Ausdruck seines Selbstbewusstseins; er ist der Macher, d. h. er konstituiert sich durch seine Produktivität, in der ständig der Nachweis geführt wird, unabhängig und selbstständig zu sein. In der Rivalitätsgesellschaft reiben sich ständig solche Unabhängigkeitsansprüche anei67 Vorwort zu Psychoanalyse und Politik, Gießen 2003.

68 Gotteskomplex, 31.

4. Die psychologische Religionskritik 169

nander, die nur auf die Durchsetzung der eigenen Interessen des überhöhten Ichs orientiert sind und nicht das Ganze in den Blick nehmen. Richter nennt dies eine Art „Besessenheit“ (36). Als man am Ende des Mittelalters nicht mehr sicher war, Gott zu haben, und sich statt dessen anschickte, selber Gott sein zu wollen, ging es darum, alles zu wissen, alles selber zu machen, um sich nicht mehr abhängig fühlen zu müssen. In diesem Augenblick fiel eine historische Grundsatzentscheidung zugunsten der Aktivität und gegen die Passivität. Von damals an wurde Passiv-sein als ein mangelhafter Zustand diskriminiert. Die Zukunft sollte vorausberechnet werden, damit man sich einreden konnte, sie durch vollständige Erkenntnis kontrollieren zu können. Schwierig wurde das Verhältnis zum Körper und zu den von ihm ausgehenden passiven Empfindungen und Regungen. Denn aus dem krampfhaften Bestreben, nur noch aktiv und nicht mehr passiv sein zu wollen, ging der Zwang hervor, sich vom Körper und dessen Bedürfnissen zu distanzieren. Zumindest sich einzubilden, die aus dem Körper stammenden Empfindungen, Impulse und Gefühle genau wie Naturvorgänge der Außenwelt vollständig berechnen und lenken zu können. Die Flucht aus der unerträglichen Passivität in den Zwang zu radikaler Aktivität, aus der kindlichen Ohnmacht in die Illusion göttlicher Allwissenheit und Allmacht, führte zu jener Isolierung des denkenden und berechnenden Ichs vom Körper, die als geistige Voraussetzung späterhin die moderne naturwissenschaftlich-technische Medizin möglich machte. Die erste Bedingung war die Anstrengung des Ichs, den Körper zu ‚vergegenständlichen‘. Das Ich machte sich daran, den Körper als ein äußerliches Gebilde wie andere Gegenstände der natürlichen Welt zu betrachten und zu analysieren. (81 f.)

Richter sieht in der Gesundung von diesem ‚Gotteskomplex‘ eine entscheidende Überlebensfrage der Menschheit, was er nicht zuletzt an der Friedensfrage im hochgerüsteten atomaren Zeitalter verdeutlicht.69 Es ist deutlich, dass sich Richters Kritik nicht auf eine der verfassten Religionen richtet. Vielmehr diagnostiziert er eine latente, als solche bisher kaum wahrgenommene und dennoch äußerst durchschlagende und krank machende Religion der aufgeklärten Neuzeit, in der sich der Mensch vorgenommen hat, sich selbst genug zu sein. Die Kritik zielt nicht auf die Reorganisation einer theistischen Religion, sondern jenseits jeden religiösen Interesses auf die kritische und solidarische Vollendung der Aufklärung, in der der Mensch als sterbliches Wesen auch die Grenzen seiner Fähigkeiten und die Gefahren seines Allmachtswahns in den Blick bekommt. Die Aufgabe wäre, ein völlig neues Grundverhältnis von Macht und Leiden zu erarbeiten und die dreihundert Jahre gültige Norm der Verdrängung von Ohnmacht und Endlichkeit fallenzulassen.70

Dabei zielt Richter auf das Bild von Menschen mittlerer Größe, die sich in einer Gemeinschaft miteinander auf gleicher Stufe befinden, die ihre Freiheit in dieser Gemeinschaft und nicht gegen sie verwirk69 Vgl. H. E. Richter, Zur Psychologie des Friedens, Reinbek 1982; ders., Alle redeten vom Frieden. Versuch einer paradoxen Intervention, Reinbek 1984.

70 Der Gotteskomplex, 215.

170 § 4 Die Religionskritik lichen wollen und die ihre Abhängigkeit untereinander nicht als einseitige Unterdrückungsverhältnisse hassen oder fürchten müssen, sondern sinnvolles symmetrisches Aufeinanderangewiesensein bejahen können. (218) &

E. Kohls, Anthropologie der Erziehung bei Horst Eberhard Richter, Frankfurt/M. u. a. 2002

5. Der radikale Existenzialismus Obwohl die Philosophie schon eingehend zur Sprache gekommen ist, kommen wir noch einmal auf sie zurück in der Gestalt des Existenzialismus, der sich zumindest in seiner radikalen Gestalt auch als Antiphilosophie verstanden hat. Der Grund dafür, dass der Existenzialismus erst jetzt zu Worte kommt, liegt darin, dass er sich nur dann recht verständlich machen kann, wenn auch die marxistische/soziologische und die psychologische Religionskritik bereits als bekannt vorausgesetzt werden können. Der Existenzialismus war eine äußerst einflussreiche philosophische Richtung im 20. Jahrhundert, die einerseits radikalisierende Auswirkungen hatte und andererseits anarchistische Tendenzen beförderte. Indem der Existenzialismus in der hier thematisierten radikalen Gestalt alle Sinnunterstellungen des individuellen wie kollektiven menschlichen Lebens in Frage stellt, impliziert er eine radikale Religionskritik, die es kaum noch für nötig hält, ausdrücklich der Religion den Kampf anzusagen, da diese ohnehin längst den größten Teil ihres Einflusses eingebüßt habe. Als klassisch für den Existenzialismus mag das Bild des ‚Reisenden ohne Fahrkarte‘ stehen, wie es von Satre prägnant formuliert wurde: Der Schaffner ist in mein Abteil gekommen und schaut mich an, weniger streng als einst. Er möchte am liebsten wieder hinausgehen, damit ich meine Reise in Frieden beenden kann; doch ich soll ihm nur eine annehmbare Entschuldigung sagen, ganz gleich, welche, damit ist er zufrieden. Unglücklicherweise finde ich keine und habe übrigens auch keine Lust, eine zu suchen. So bleiben wir miteinander im Abteil, voller Unbehagen, bis zur Station Dijon, wo mich, wie ich genau weiß, niemand erwartet.71

5.1 Albert Camus Nach Albert Camus (1913–1960) kann nur dann ein realistisches Verhältnis zur Wirklichkeit gewonnen werden, wenn deren Absurdität und somit auch die Absurdität der menschlichen Existenz als unüberwindlich anerkannt werden.

Camus versteht den Existenzialismus weniger als Philosophie, sondern er sieht in ihm im Grunde die Philosophie auf ihr definitives Ende stoßen: Ich nehme mir die Freiheit, die existentielle Haltung hier ‚philosophischen Selbstmord‘ zu nennen. Das schließt aber kein Urteil ein. Es ist nur eine bequeme

71 Zit. n. R. Neudeck, Satre, in: K. H. Weger (Hg.), Religionskritik, 268–274, 271.

5. Der radikale Existenzialismus 171

Art, die Regung zu kennzeichnen, mit der ein Gedanke sich selber leugnet und dazu neigt, sich zu seiner Verneinung zu überschlagen. Für die Existentialisten ist die Verneinung Gott. Genau genommen behauptet dieser Gott sich nur durch die Verneinung der menschlichen Vernunft. Aber die Götter ändern sich – wie die Selbstmorde – mit den Menschen. Man kann auf vielerlei Art springen, wesentlich aber bleibt immer, daß man springt. Diese erlösenden Verneinungen, diese endgültigen Widersprüche, die das noch nicht übersprungene Hindernis leugnen, können (das ist das Paradox, das diese Überlegung im Auge hat) ebensogut aus einer gewissen religiösen Inspiration wie aus einer rationalen Weisung kommen. Sie trachten immer nach dem Ewigen, und das eben heißt hier: sie machen den Sprung.72

Nicht der Abschied von der Vernunft ist gemeint, wohl aber das Eingeständnis, dass sie nichts auszurichten vermag, sodass sie nur dann im rechten Gebrauch ist, wenn sie eben dieses dabei nicht vergisst. Es gibt nichts Verlässliches, auf das sich das Leben gründen ließe. Wer dieser Einsicht ausweicht, lebt in einer künstlich drapierten Wirklichkeit, die in der andauernden Gefahr besteht, als solche entlarvt zu werden, was dann schnell zu einem Sturz in die Verzweiflung führt. Realistischer und somit auch lebensfähiger ist die Einsicht in die Haltlosigkeit der Wirklichkeit, auch wenn diese keine Mut machende und hoffnungsvolle Perspektive eröffnet. Diese Einsicht ist gleichsam enttäuschungsresistent und deshalb nachhaltiger lebensfähig, auch wenn sie den Menschen vor allem mit der Absurdität der Existenz konfrontiert. Damit sind wir bei dem Schlüsselwort für den Existenzialismus von Camus: das Absurde. Es bezeichnet die illusionslose Wahrnehmung der Existenz, in der sich der in sein Leben ‚verstoßene‘ Mensch befindet. Schon von seinen Voraussetzungen her ist das menschliche Leben vor allem ein Selbstentfremdungsvorgang, durch den der Mensch in ein von ihm kaum beeinflussbares Leben ‚verstoßen‘ wird. Alle überkommenen religiösen oder philosophischen Lebensperspektiven, die den Menschen einer ihm übergeordneten Idee untergeordnet haben, halten einer redlichen rationalen Betrachtung nicht stand, sondern erweisen sich als Selbstbetrug. Erst wenn der Mensch damit anfängt, der Absurdität seiner Existenz ins Auge zu blicken und sich mit ihr auseinanderzusetzen, beginnt er, sich mit dem wirklichen Leben zu beschäftigen, d. h. er muss dem Faktum standhalten können, dass alle Versuche, seiner Existenz eine Bestimmung zu geben, ihn nicht aus seiner Absurdität herauszuführen vermögen. Es gibt keinen Ausblick auf eine Harmonie, in der der Mensch die Absurdität hinter sich lassen könnte, sondern er muss sich dem Absurden stellen, wenn er der Wirklichkeit seines Lebens gerecht werden will. Die existenzialistische Religionskritik von Camus steht in der Spannung von griechischer und jüdisch-christlicher Weltwahrnehmung. Religion und Metaphysik haben versucht, dem Leben Sinn und Hoffnung zu geben, indem sie es einer hohen Idee unterordneten. Es komme entscheidend darauf an, welchen Gebrauch der

72 Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde [1942], Hamburg 1959, 39 f.

172 § 4 Die Religionskritik

Mensch von seiner Vernunft macht und welchen Geist er in ihr zum Zuge kommen lässt. Die Vernunft hat durchaus ein menschliches Gesicht, kann sich aber auch dem Göttlichen zuwenden. Seit Plotin, der sie als erster mit dem Klima des Ewigen auszusöhnen verstand, hat sie es gelernt, sich von ihrem liebsten Prinzip, dem Widerspruch, loszusagen und dafür das fremdeste, durchaus magische Prinzip des Teilhabens aufzunehmen. Das Denken des Menschen ist vor allem seine Sehnsucht. Wie die Vernunft die Melancholie Plotins zu besänftigen verstand, so gibt sie auch der modernen Angst die Möglichkeit, sich in den vertrauten Kulissen des Ewigen zu beruhigen. Der absurde Geist hat weniger Möglichkeiten. Für ihn ist die Welt weder rational in diesem Grade noch irrational. Sie ist unvernünftig, nichts weiter. Bei Husserl hat die Vernunft schließlich keine Grenzen mehr. Das Absurde dagegen fixiert ihre Grenzen, da sie nicht imstande ist, die Angst zu beruhigen. Andererseits behauptet Kierkegaard, eine einzige Grenze genüge, um sie zu leugnen. Soweit aber geht das Absurde nicht. Diese Grenze zielt für das Absurde nur auf den Ehrgeiz der Vernunft. Das Thema des Irrationalen, wie es von den Existenzphilosophen verstanden wird, ist die Vernunft, die in Verwirrung gerät und sich durch Selbstverneinung befreit. Das Absurde ist die erhellte Vernunft, die ihre Grenze feststellt. (45)

Der Mensch muss sich mit der Absurdität seiner Existenz auseinandersetzen; nur so kann er sich sein Leben selbst verdienen. Diese Auseinandersetzung drängt nun gerade nicht auf gesicherte philosophische Erkenntnisse – über die Beschreibung von miteinander unvermittelbaren Erscheinungsformen kann er grundsätzlich nicht hinauskommen –, sondern setzt den unversöhnten Menschen in ein realistisches Verhältnis zu seiner Wirklichkeit, für die allein das Motto gilt: „Dem Absurden treu bleiben“ (85). Besonders provokant und widersprüchlich stellt sich für Camus die Freiheit des Menschen dar, die er wie ein über ihm liegendes Verdikt wahrnimmt. Der Mensch ist dazu verdammt, angesichts der wahrgenommenen Absurdität seiner Existenz etwas zu tun und d. h. Entscheidungen zu fällen, denn nur so kann er leben. Hier liegt die eigentliche Botschaft von Camus, dass er dieser unausweichlichen Nötigung zur Praxis eine Bestimmung zu geben versucht, ohne dabei in die Unmöglichkeit zu verfallen, eine Erklärung des Absurden zu liefern. In diesem Zusammenhang greift er auf den Mythos des Sisyphos zurück: Der wegen seiner listigen Verschlagenheit, in der er sogar den Tod überlistete, in die Unterwelt verbannte Sohn des Königs Aiolos von Korinth war dazu verdammt, immer wieder von Neuem einen Felsbrocken auf einen Berg zu wälzen, von dem er stets kurz vor dem Ziel wieder herunterrollte. Sisyphos ist für Camus gleichsam eine Elementarbeschreibung der menschlichen Existenz, denn der Mensch gibt allen unablässigen Rückschlägen zum Trotz nicht auf und beginnt immer wieder von neuem, den Stein den Berg hinaufzurollen. Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. . . . Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben

5. Der radikale Existenzialismus 173

zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder. Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steines, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. (100 f.)

Es geht nicht um dieses oder jenes erreichbare Ziel, sondern um die Ausnutzung des gerade Möglichen, um – wenn auch nur punktuell – die Leiden des Menschen zu verringern. Der Kampf gegen das Leiden ist die eigentliche Legitimation für das Leben, auch wenn im Blick auf die Erfolgsaussichten die Skepsis gewiss dominant bleiben wird. Die Flucht in die Religion hängt der Illusion einer positiven Zielperspektive an und verdirbt damit eben das, was dem Menschen im Moment zu tun aufgegeben ist. Alle Anstrengungen des menschlichen Lebens haben allein darin eine Perspektive, dass sie sich gegen das Leiden aufbäumen, gegen das Leiden revoltieren, ohne sich dabei von der Warum-Frage ablenken zu lassen. Allein in der Revolte – das ist ein weiterer Schlüsselbegriff bei Camus – kann es so etwas wie eine Bestimmung des Lebens geben: Dieser unerhörte Großmut ist der Revolte eigen, die ohne zu zögern ihre Kraft der Liebe gibt und unverzüglich die Ungerechtigkeit abweist. Ihre Ehre ist, nichts zu berechnen, alles an das jetzige Leben und ihre lebenden Brüder zu verteilen. So spendet sie für die kommenden Menschen. Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben.73

Diese rückhaltlose und unkalkulierte Hingabe erkennt Camus etwa in Jesus, der schließlich am Kreuz ohne Antwort auf seine Warum-Frage endet. Jesus hat weder in Gott noch in der Geschichte Frieden gefunden, sondern verlor sich in einer sonderbaren Liebe an die Gegenwart. Aber von Jesus bleibt die Kirche und das Christentum deutlich zu unterscheiden, denn sie begibt sich nicht in die Leidensgemeinschaft, sondern partizipiert im Gegenteil an der Leiden produzierenden Macht, sodass Camus ihr eine scharfe Kritik entgegenstellt. Allerdings sieht er keinen Sinn darin, sich mit der Kritik an der Kirche festzubeißen, weil sie schließlich doch der falsche Adressat sei. In der Neuzeit sei der Staat an die Stelle der Kirche getreten. Er hat die Gestalt einer säkularisierten Religion angenommen, deren ‚neues Evangelium‘ der ‚Contrat social‘ darstellt, womit Camus auf J. J. Rousseau (% § 2,7) anspielt 73 Der Mensch in der Revolte. Essays [1953], Hamburg 1969, 246.

174 § 4 Die Religionskritik

(Rousseau spricht ausdrücklich von der „Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages“ und der von ihm begründeten „bürgerlichen Religion“). Dieses ‚neue Evangelium‘ versucht nun ebenfalls, die einzelnen Menschen einem Gesamtwillen zu unterstellen und somit Herrschaft auszuüben. Den „Messen des neuen Glaubens“ stellt sich Camus schroff entgegen, zumal sie ebenfalls wieder mit Blut gefeiert werden. Die Religionskritik von Camus gipfelt in der Kritik dieser säkularisierten Religion, die das Christentum beerbt habe, und setzt auch ihr die ‚Revolte‘ entgegen. Somit stellt er sich gegen die politische Religion des modernen Bürgertums, der er bescheinigt, dass sie der alten Religion des Christentums in nichts nachstehe. Der ‚Contrat social‘ ist in erster Linie eine Untersuchung über die Legitimität der Macht. . . . Der ‚Contrat social‘ ist zugleich ein Katechismus und hat dessen Ton und dogmatische Sprache. Wie das Jahr 1789 die Eroberungen der englischen und amerikanischen Revolution vollendet, treibt Rousseau die Theorie des Vertrages, die man bei Hobbes findet, an ihre äußerste Grenze. Der ‚Contrat social‘ verbreitet eine neue Religion, deren Gott die Vernunft ist, und entwickelt ihre Dogmatik; die Vernunft wird von der Natur nicht unterschieden, und der Repräsentant des neuen Gottes auf Erden ist statt des Königs das Volk, erfaßt in seinem Gesamtwillen . . . Es ist offensichtlich, daß wir mit dem ‚Contrat social‘ der Geburt einer Mystik beiwohnen, wird doch der Gesamtwille als Gott selbst postuliert. . . . Das ist der Grund, weshalb im ‚Contrat social‘ am häufigsten die Worte ‚absolut‘, ‚heilig‘, ‚unantastbar‘ vorkommen. Der so definierte politische Leib, dessen Gesetz heiliges Gebot ist, ist nur ein Ersatz des mystischen Leibs des zeitlichen Christentums. Der ‚Contrat social‘ endet im Übrigen mit der Beschreibung einer bürgerlichen Religion und macht Rousseau zum Vorläufer der heutigen Gesellschaften, die nicht nur die Opposition, sondern auch die Neutralität ausschließen. Als erster in der Tat richtet Rousseau das bürgerliche Glaubensbekenntnis ein. Als erster rechtfertigt er die Todesstrafe in einer bürgerlichen Gesellschaft und die absolute Unterwerfung des Untertans unter die Königsmacht des souveränen Volkes. ‚Um nicht das Opfer eines Mörders zu werden, willigt man ein zu sterben, wenn man einer wird.‘ Sonderbare Rechtfertigung, die jedoch mit Bestimmtheit festlegt, dass man zu sterben bereit sein muss, wenn der Souverän es befiehlt, und dass man ihm nötigenfalls recht geben muss gegen sich selbst. . . . Wir erkennen hier die Morgenröte einer Religion mit ihren Märtyrern, Asketen und Heiligen. (94 f.)

In Texten wie diesem deuten sich die anarchistischen Züge im Denken Camus an, die sich dann bei Sartre in noch expressiverer Gestalt finden. Sie bildeten in den 60er und 70er Jahren eines der Grundmotive der Studentenbewegung und ihres Kampfes gegen das Establishment. &

H. R. Lottman, Camus. Eine Biographie, Hamburg 1986 B. Sändig, Albert Camus. Autonomie und Solidarität, Würzburg 2004 H. R. Schlette (Hg.), Wege der deutschen Camus-Rezeption (WdF 441), Darmstadt 1975

5. Der radikale Existenzialismus 175

5.2 Jean-Paul Sartre Unter den Existenzialisten kann man Jean-Paul Der radikale atheistische Existenzialist JeanSartre wohl den radikalsten Exponenten nennen. Paul Sartre (1905–1980) sah den Menschen zu der Freiheit verurteilt, dem Leben im Er war eine sehr schillernde und höchst umstritHorizont seiner Vergeblichkeit etwas tene Figur, die insbesondere im Zusammenhang abringen zu müssen. mit dem Linksterrorismus in die allgemeine Kritik geriet. Zugleich war er ein viel gelesener und häufig auf die Bühne gebrachter politischer Literat und Dramatiker, der den ihm 1964 zuerkannten Nobelpreis für Literatur abgelehnt hat. Wenn er den Menschen zur Freiheit verurteilt sieht, impliziert dies die immer nahe liegende Möglichkeit des Scheiterns; das Scheitern ist kein Gegensatz zur Freiheit, sondern eine ihr inhärente Möglichkeit. Wie das oben zitierte Bild vom ‚Reisenden ohne Fahrkarte‘ zeigt, bleibt die menschliche Sehnsucht nach Sinn ungestillt. Dabei zielt die Kritik Sartres – ebenso wie bei Camus – nicht auf die Religion, sondern greift über diese hinaus alle Sinnbestimmungen des menschlichen Lebens an. „Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt.“74 Ausdrücklich in Richtung des Christentums heißt es bereits in seinem philosophischen Hauptwerk vor seiner Hinwendung zum Marxismus: Jede menschliche Wirklichkeit ist eine Leidenschaft, insofern sie entwirft, sich selbst zu vernichten, um das Sein zu gründen und um zugleich das An-sich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das Ens causa sui, das die Religionen Gott nennen. Die Leidenschaft ist somit die Umkehrung der Leidenschaft des Christus, denn der Mensch richtet sich als Mensch zugrunde, damit Gott entstehe. Aber die Idee Gottes ist widerspruchsvoll, und wir richten uns umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Leidenschaft.75

Wenn sich Sartre andererseits ausdrücklich zu einer humanistischen Form des Existenzialismus bekennt, bleibt genau darauf zu achten, was damit gemeint ist, denn weder liegt ihm an der Betonung einer bestimmten Kontinuität der humanistischen Tradition, noch möchte er sich an einem modischen Existenzialismus beteiligen, der für „skandal- und bewegungssüchtige Leute“ zu einer Art sensationslüsternen Wichtigtuerei geworden ist.76 Vielmehr geht Sartre von zwei Arten von Existenzialisten aus: „die ersten, welche Christen sind, unter die ich Jaspers und Gabriel Marcel (dieser katholischer Konfession) einreihen würde; und auf der anderen Seite die atheistischen Existentialisten, zu denen Heidegger und auch die französischen Existentialisten und ich selber zu stellen sind.“ Beiden Arten ist die Überzeugung gemeinsam, „daß die Existenz der Essenz vorangehe“ (10 f.). Zwar habe die französische Aufklärung den Begriff ‚Gott‘ abgeschafft, aber sie hat in widersinniger Weise an der alten Vorstellung des Vorrangs der Essenz vor der Existenz festgehalten, indem sie von ei74 Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Zürich 1947, 67. 75 Das Sein und das Nichts [L’être et le néant, 1943], Hamburg 81982, 770.

76 Vgl. Ist der Existentialismus ein Humanismus?, 10.

176 § 4 Die Religionskritik

nem Begriff des Menschen bzw. der menschlichen Natur ausgegangen ist. Das hält Sartre – immer noch zusammen mit den anderen Existenzialisten – für eine trügerische Bestimmung, denn im Blick auf den Menschen sei festzustellen, dass er zuerst existiere und sich erst dann zu definieren versuche. Die entscheidende Frage ist, ob er bei diesem Versuch, sich zu definieren, auf eine ihm gegebene Bestimmung zugreifen kann oder ob er ganz auf sich gestellt dazu verurteilt ist, sich unter seinen jeweiligen Bedingungen eine solche Bestimmung zumessen zu müssen, ohne dabei auf irgendwelche Verlässlichkeiten zurückgreifen zu können. Vor diese letzte Perspektive sieht sich Sartre gestellt. Der Mensch hat nicht einfach eine ‚Natur‘, die sich nur entfalten muss, wie es bisher stets angenommen wurde. Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert – ja nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht. (14)

Diese Fundamentalaussage impliziert, dass eben auch alle Werte keine Instanzen darstellen, auf die sich der Mensch berufen könne, sondern sie sind vom Menschen erfunden und haben folglich auch nur so viel Bedeutung, wie der Mensch bereit ist, ihnen tatsächlich zuzumessen. Der traditionelle Humanismus habe aus der Wertfähigkeit des Menschen einen Kult des Menschen gemacht, der davon ausgeht, dass sich der Mensch selbst positiv beurteilen könne. Faktisch aber ende dieser Humanismus im Faschismus, sodass er grundsätzlich abzuweisen ist. Aber man kann nicht zugeben, daß der Mensch ein Urteil über den Menschen fällen könne. Der Existentialist erläßt ihm jegliches Urteil solcher Art; der Existentialist wird den Menschen nie als einen Zweck nehmen, denn der Mensch ist immer neu zu schaffen. Und wir dürfen nicht glauben, daß es ein Menschentum gibt, dem wir in der Art Auguste Comtes einen Kultus widmen könnten. Der Menschheitkultus endet bei dem in sich geschlossenen Humanismus Comtes und, das muß gesagt sein, beim Faschismus. Das ist ein Humanismus, von dem wir nichts wissen wollen. Aber es gibt einen anderen Begriff des ‚Humanismus‘, welcher im Grunde dies bedeutet: Der Mensch ist dauernd außerhalb seiner selbst; indem er sich entwirft und indem er sich außerhalb seiner verliert, macht er, daß der Mensch existiert, und auf der anderen Seite, indem er transzendente Ziele verfolgt, kann er existieren; der Mensch ist diese Überschreitung und erfaßt die Gegenstände nur in Beziehung auf diese Überschreitung, und so befindet er sich im Herzen, im Mittelpunkt dieser Überschreitung. Es gibt kein anderes All als ein menschliches All, als das All der menschlichen Ichheit. (64 f.)

Dieser Humanismus besteht im Grunde aus der ständigen Erinnerung des Menschen daran, „daß es außer ihm keinen andern Gesetzgeber gibt und daß er in seiner Verlassenheit sich selber entscheidet“ (66). In diesem Sinn ist der Mensch zur Frei-

6. Kurze Zwischenbilanz 177

heit verurteilt. Dabei ergibt es keinen Sinn, in Rückwendung auf sich selbst zu leben, d. h. den Versuch zu unternehmen, sich einen tragfähigen und dauerhaft verlässlichen Sinn zu verleihen, sondern der Mensch muss sich Ziele außerhalb seiner selbst setzen, um sich als humanes Wesen begreifen zu können. Es ist die existenzialistische Dimension dieses Humanismus, dass er von der Urverzweiflung ausgeht, in der sich der Mensch selbst finden muss in dem Wissen, dass ihn nichts vor ihm selber erretten wird. In diesem Sinne ist der Existentialismus ein Optimismus, eine Lehre der Tat, und nur aus Böswilligkeit können die Christen, ihre eigene Verzweiflung mit der unsern verwechselnd, uns zu Verzweifelten stempeln. (67) &

M. Suhr, Sartre zur Einführung, Hamburg 22004 A. Cohen-Solal, Sartre 1905–1980, Reinbek b. Hamburg 2002

6. Kurze Zwischenbilanz In systematischer Perspektive lassen sich sechs in sich stimmige Argumentationsmodelle der Religionskritik deutlich voneinander unterscheiden. Ihnen gemeinsam ist die Grundannahme, dass die Religion faktisch einen ganz anderen Zweck verfolge bzw. einer ganz anderen Bestimmung diene, als sie durch ihr Erscheinungsbild und ihre Praxis zu erkennen gibt. Was äußerlich als Gottesdienst und Frömmigkeit in Erscheinung tritt, folgt tatsächlich einer verborgenen Agenda, die zu erkennen gibt, dass sie auf mehr oder weniger angemessene Weise allein dem Menschen bzw. bestimmten Interessen des Menschen dient. Der Mensch, dem die Religion dienen soll, ist auch der Veranstalter und der Regisseur der Religion, wobei es in dem jeweils aufgeführten Stück darauf ankommt, dass am Ende nicht eine Inszenierung in Erinnerung steht, sondern die von der Inszenierung suggerierte Wirklichkeit. Alle sechs Argumentationsmodelle gehen davon aus, dass es in der Religion darum gehe, möglichst erfolgreich bestimmte Bedürfnisse oder Defizite zu kompensieren, ohne dass diese kompensatorische Funktion der Religion ihren Anhängern bewusst wird. Sowohl die in der Religion bearbeiteten Defizite des menschlichen Lebens sind real, wie auch nicht bezweifelt wird, dass die Religion tatsächlich im Blick auf diese Defizite etwas ausrichtet, aber es handelt sich in jedem Fall um inadäquate Scheinlösungen, durch die eine wirkliche Bearbeitung der Probleme mehr behindert als befördert wird, bzw. um Irreführungen, die es verhindern, dass sich der Mensch nüchtern der tatsächlichen Realität stellt. Was die Religion anbietet, sind in erster Linie Ersatzhandlungen, deren Lösungen die Probleme nicht wirklich angehen, sondern vor allem dazu dienen, die von ihr nicht tatsächlich bearbeiteten, sondern nur umgangenen bzw. unkenntlich gemachten Defizite gleichsam auf Dauer zu stellen. Die Anhänger der Religion sind entweder dazu verführt, desorientiert oder darauf angewiesen, sich der Religion zu bedienen, mit deren Hilfe sie ihrem Leben ei-

178 § 4 Die Religionskritik

nen vermeintlich haltbaren Boden bzw. eine tragfähige Perspektive zu geben versuchen. So sehr sich die Religion mit himmlischer Autorisierung für ihre irdische Evidenz präsentieren mag, so hat sie doch faktisch einen instrumentellen Charakter, durch den sie andere Zwecke bedient als diejenigen, die sie explizit macht. Indem sie sich dem Menschen mit einer unnahbaren Heiligkeit eindrücklich macht, gelingt es ihr, sich von aller Kritik freizuhalten. Es ist eben dieser sich selbst immunisierende Charakter, mit dem sich die Religion der Menschen bemächtigt, ohne ernsthaften Widerspruch erwarten zu müssen. Die Religionskritiker gehen noch weiter, indem sie der Religion vorwerfen, dass sie die Menschen von ihrem in ihnen liegenden Widerstandspotenzial abschneidet und sie damit einer entscheidenden Gestaltungsund Lebenskraft beraubt. Das Resultat der Betrachtung ist, dass die Religion dem Menschen eindeutig mehr nimmt, als sie ihm zu geben vermag, sodass ihr grundsätzlich der Kampf angesagt werden muss. In einer Typologie, die wie jede Typologie auch eine Vereinfachung darstellt, lassen sich sechs Abweisungsstrategien gegen die Religion nebeneinander stellen, in denen der Religion jeweils ein anderer wirklichkeitsentstellender Kompensationsdienst vorgeworfen wird, der abzustellen und durch eine wirklichkeitsnähere und dann eben auch effektivere Problembearbeitung zu ersetzen sei. 1. Der älteste Typ wendet sich gegen die mit der Religion einhergehende Herrschaftsausübung, mit der die Massen von einer Minderheit diszipliniert und beherrschbar gehalten werden sollen. Es ist das Legitimationsdefizit von Herrschaft, in dem sich eine privilegierte Minderheit der Religion bedient, um ihre Machtinteressen gegenüber der Mehrheit zu sichern, indem sie die faktisch von ihr ausgeübte Herrschaft dadurch verschleiert, dass sie ihre Herrschaftsinteressen in die Hände eines vermeintlichen Gottes verlegen, der es ihnen nun abnimmt, ihre eigennützigen Herrschaftsinteressen näherhin legitimieren zu müssen. Das ist die bereits aus der Antike belegte These vom Priesterbetrug, nach welcher die Religion eine Erfindung machtgieriger Menschen sei, die sich mit ihrer Hilfe als Kultagenten in eine machtvolle und einträgliche Position aufschwingen, von der aus sie die Gläubigen unterdrücken und dienstbar halten, wobei diese Priesterkaste eben auch lediglich der Kollaborateur einer auf Selbststabilisierung bedachten Oligarchie sein kann. In jedem Fall geht es um eine politische und ökonomische Nutzung der religiösen Disziplinierung. Der Religion wird die Aufgabe zugewiesen, die negativen Begleiterscheinungen bei der exzessiven Durchsetzung oligarchischer Machtinteressen zu kompensieren, indem sie die tatsächlichen menschenverachtenden Motive verbirgt und mit Hilfe eines weltanschaulichen Gesamtkonzeptes überspielt und somit außerhalb der zu erwartenden Kritik hält. Diese These vom Priesterbetrug taucht in verschiedenen Variationen immer wieder auf, wobei in der Neuzeit vor allem die säkularisierte Priesterschaft der politischen Obrigkeit des Staates in den Blick genommen wird, die mit Hilfe der Religion die gesellschaftliche Ordnung und innere Sicherheit herzustellen und zu wahren versucht. Neben Meslier wäre auch die Kritik von Camus an Rousseau als exemplarisch anzusehen. Die Religion liefert gleichsam ein ef-

6. Kurze Zwischenbilanz 179

fektives Verführungspotenzial, mit dem sich partikulare Machtinteressen oder Herrschaftsideen etablieren und erhalten lassen. Das Besondere des in diesem Typ von der Religion bearbeiteten Defizits besteht darin, dass nicht nur die Bearbeitung des Defizits inadäquat ist, sondern dass das Defizit bereits selbst einen usurpatorischen und somit illegitimen Charakter hat. Das gibt diesem Einspruch trotz der in ihm enthaltenen Wahrheitsmomente allerdings auch eine gewisse kategorische Schlichtheit, die sich so in den folgenden Typen nicht wiederholt. 2. Die Religion gilt als ein Kompensationsmittel für anthropologische Defizite. Der seine Endlichkeit und Schwächen realisierende Mensch strebt nach Vollkommenheit, die er allerdings statt bei sich selbst und den Möglichkeiten, die in ihm selber liegen, in den Himmel projiziert und dann in Gott zu finden meint. Nichts anderes wird in diesem Gott verehrt, als was der Mensch an sich selbst und seinen Lebensumständen erfahren und erkannt hat. Der Himmel erscheint ihm als Ausgleich für irdisch erfahrene Unvollkommenheit und so unterwirft er sich willenlos dem dort vermeintlich angetroffenen Gott, um die erstrebte Vollkommenheit durch ihn zu erlangen. Der Mensch entzieht den irdischen Möglichkeiten zugunsten des Himmels seine Aufmerksamkeit, um im religiösen Verkehr mit dem dorthin versetzten Gott gleichsam sein eigenes individuelles Glück auszuhandeln. Dabei entzieht diese vertikale Fixierung menschlich-göttlicher Intimität dem zwischenmenschlichen Bereich die wertvollsten Kräfte, die, anstatt für eine optimierte Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens genutzt zu werden, an den Himmel verschleudert werden. Auf diese Weise wird die Unendlichkeit und Vollkommenheit für die Religion reserviert, sodass die Verwirklichung der Unendlichkeit und Vollkommenheit des Menschen keine Chance bekommt, in Erscheinung zu treten. Die Religion verhindert die Verwirklichung der Unendlichkeit des Menschen, die sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwar nicht als Eigenschaft des Individuums, wohl aber als eine der menschlichen Gattung zeigen ließe. Gegenseitig gleichen die Menschen einander ihre Defizite aus, sodass die Gattung aufs Ganze gesehen als die Verwirklichung der Vollkommenheit des Menschen zu nutzen wäre. Der aufklärerischen und idealistischen Emphase zur Vergöttlichung des menschlichen Geistes (mit ihrem Höhepunkt bei Hegel) wird von der Religionskritik die Forderung nach einer konsequenten Vermenschlichung des Bewusstseins Gottes entgegengestellt. Die Religionskritik plädiert für eine Abschaffung der Religion, um die von ihr praktizierte inadäquate Kompensation menschlicher Defizite durch eine adäquate zu ersetzen, indem der Gottesdienst konsequent zu einem Menschendienst transformiert wird. Es geht darum, dass die Religion den Menschen nicht weiter daran hindert, auf die tatsächliche Höhe seiner selbst zu gelangen. 3. Es ist nicht verwunderlich, wenn sich im Horizont des philosophischen Ringens um das rechte Verständnis des Menschen neben diesem eher idealistischen Typus zumindest auch noch ein zweiter anführen lässt, den ich den realistischen nennen möchte. Hier bezieht sich die in der Religion kritisierte Kompensation nicht auf die

180 § 4 Die Religionskritik

den Menschen von außen bestimmenden Defizite, die ihn in die Religion treiben, anstatt diese seinen Fähigkeiten entsprechend aus der Welt zu schaffen, sondern genau umgekehrt auf die vom Menschen mit Hilfe vor allem der Religion selbst produzierten idealistischen Selbststilisierungen, mit denen er einem von seinen Wünschen gesteuerten Selbstbild anhängt, hinter dem sich jeweils ein illusionäres Credo verbirgt. Es gibt also nicht nur die problematische Erniedrigung des Menschen und sein Gott auf den Plan rufendes Elend, von denen sich die Religion ernährt, um sie zugleich mit der Behinderung der Entfaltung ihres vollen Menschseins Frieden schließen zu lassen. Die hier von der Religion angebotene Erlösung bzw. Versöhnung schiebt Gott die Verwirklichung aller Hoffnung zu und fixiert den Menschen unterhalb der ihm eignenden Fähigkeiten, mit denen er dazu in der Lage wäre, die Rolle Gottes zumindest überflüssig zu machen, wenn nicht gar selbst zu übernehmen. Dem von der Religion erniedrigten Menschen wird der geschichtsmächtige und souveräne Mensch gegenübergestellt, der auf die aufhelfende Unterstützung durch Gott nicht angewiesen ist. Es gibt daneben auch genau die umgekehrt perspektivierte Religionskritik, die sich der besonders von dem aufklärerischen Religionsverständnis beförderten Versuchung entgegenstellt, den Menschen zu idealisieren und zu verklären, indem er sich mit Hilfe der Religion an die Seite Gottes gestellt sieht, ohne noch seine ihm prinzipiell gesetzten Grenzen nüchtern und wirklichkeitsgerecht wahrzunehmen. Dem mit Hilfe der Religion vor allem an sich selbst glaubenden Menschen wird die tatsächliche Verlegenheit des Menschen gegenüber gestellt, in der er sich eingestehen muss, nicht tatsächlich über sich selbst Auskunft geben zu können, solange er sich an die Vernunft hält und nicht schon einem bestimmten Glaubensbekenntnis aufsitzt. Die vor allem mit Hilfe der Sittlichkeit vorgenommene optimistische Selbststilisierung verkennt die faktische Ratlosigkeit des Menschen hinsichtlich seiner selbst und der Weltwirklichkeit, in die er hineingestellt ist. Die Religion hält den Menschen in der Illusion eines Selbstbildes fest, das er faktisch permanent unterbietet. Die Religionskritik dient dem Menschen nun dazu, ihn zu ernüchtern und ihm auf diese Weise zu einem realistischen Verhältnis zu sich selbst und der ihn umgebenden Wirklichkeit zu verhelfen. 4. Eine besondere Zuspitzung und Ausweitung erfährt der zuletzt bedachte Typus im radikalen Existenzialismus: Wenn er jede Sinngebung als wirklichkeitsfremd abweist, wird die Religion insofern besonders getroffen, weil sie in exponierter Weise als metaphysischer und somit illusionärer Sinnlieferant notorisch ist. Es sind im Grunde alle Versuche, dem seinem Wesen nach defizitären Leben eine Bestimmung und Perspektive zu geben, maßlose Überhebungen und als solche inadäquat. Allein im Einstellen dieser Versuche kann eine Verheißung zu einem Wirklichkeitsgewinn liegen, wobei im Existenzialismus auch die bisher gern auf die Vernunft gesetzte Hoffnung als desavouiert gelten muss. Der Hinweis auf die faktische Wirkungslosigkeit von Religion sollte eigentlich ausreichen, ihr jeden Kredit konsequent zu entziehen, wie es faktisch auch bereits weithin geschieht. Jenseits ihrer traditionellen Verfasstheit ist die Religion längst zu einem sich selbst prostituierenden Agenten

6. Kurze Zwischenbilanz 181

machtbewusster Akteure verkommen, die ohne Hemmungen gegenüber zynischen Handlungsweisen vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen. Religionskritik muss in der Perspektive des radikalen Existenzialismus zu einer Entlarvung der fassadenhaften Wirklichkeitsillusionen werden, um den Blick auf eine illusionslose und bestimmungslose Wirklichkeit frei zu bekommen. Diese aller Perspektiven beraubte Freiheit ist das Los des Menschen im Wissen um die immer am nächsten liegende Möglichkeit des Scheiterns. Es geht eigentlich nicht um eine Ersetzung der Religion und ihres inadäquaten Umgangs mit der menschlichen Lebensbewältigung, sondern es geht um die grundsätzliche Abweisung aller Sinnunterstellungen, weil diese den Blick auf den tatsächlichen Charakter der Realität verstellen und somit Ideologie betreiben. 5. Die Religion wird als ein Kompensationsmittel für das vor allem ökonomisch bedingte gesellschaftliche Elend kritisiert. Auf der Basis der anerkannten philosophischen Religionskritik („Kritik des Himmels“) werden nun auch die soziologischen Bedingungen in den Blick genommen („Kritik der Erde“), in denen die Religion eine bestimmte Rolle übernommen hat. Indem die Religion auch dem sich im Elend befindlichen Menschen das Leben erträglich zu machen hilft, stabilisiert sie die dieses Elend produzierenden Umstände und perpetuiert auf diese Weise die von wenigen Nutznießern ökonomisch gewollte Unterdrückung eines großen Teils der Gesellschaft. In der materialistischen Geschichtsbetrachtung ist das Faktum der Religion ein zuverlässiger Indikator für den Entfremdungszustand, in dem sich eine Gesellschaft bzw. ein großer Teil von ihr befindet. Die Kritik gilt nicht in erster Linie der Religion, sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen, die zu ihrer Aufrechterhaltung der Religion bedürfen. Das inadäquate Kompensationsmittel der Religion ist zu ersetzen durch wirksame und menschenwürdige Umgestaltung der Bedingungen des menschlichen Wirtschaftens in einer partizipatorischen Gesellschaft, in deren Verwirklichung sich die Religion von selbst verflüchtigen werde, weil der von ihr gedeckte Kompensationsbedarf nicht mehr ansteht. Der politische Umbau der Gesellschaft ist das adäquate Mittel, welches das inadäquate Mittel der Religion ersetzen soll. 6. Auch in der psychologischen Religionskritik wird die Religion als ein unangemessenes und als solches eben auch schädliches Kompensationsmittel attackiert, das dem Menschen als ein Instrument zur Ersatzbefriedigung dient, mit dem er psychische Defizite – insbesondere psychisch unbewältigte Konflikte – zu kompensieren versucht. Die Religion wird als eine Art kollektiver Fluchthelfer verstanden, mit dem der Mensch den für sein Erwachsenwerden notwendig zu bestehenden Konflikten ausweicht und regressiv seine Kinderwelt zu bewahren versucht. So erscheint die Religion in psychologischer Perspektive als Entwicklungsverweigerung mit einem hohen neurotischen Potential. Sie dient der Verklärung der Wirklichkeit und hilft als massenpsychologisches Phänomen, die bestehenden Unrechtsverhältnisse zu stabilisieren. Die psychoanalytische Religionskritik zielt ebenso wie die marxistisch-so-

182 § 4 Die Religionskritik

ziologische Religionskritik über die Religion hinaus auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die psychischen Defizite ihre Wurzeln haben. Der psychisch gesunde Mensch findet ohne die Illusion der Religion ein realistisches und somit gesundes Verhältnis zu seinen Möglichkeiten und Grenzen. Die Religion ist auf die Dauer ersatzlos zu streichen und durch einen wirklichkeitsgerechteren Umgang mit den psychischen Konflikten zu ersetzen.

§ 5 Die Ambivalenz der Religion

1. Differenzierungen im Umgang mit der Religion Neben den in § 4 erörterten sechs Perspektiven einer entschlossenen und konsequenten Religionskritik, der es um eine Verabschiedung der Religion bzw. nur noch um einen Abgesang auf die bereits in ihrer behaupteten Ermüdung irrelevante Religion geht, findet sich auch ein Umgang mit der Religion, der sich in deutlich ruhigerem Fahrwasser bewegt. Zwar geht es auch um eine Religionskritik, die über das bereits im allgemeinen Religionsbegriff liegende kritische Potential (% § 2) hinausgeht. Auch hier wird die Religion in bestimmter Hinsicht einer scharfen Kritik ausgesetzt und grundsätzlich in Frage gestellt. Aber die Kritiker kennen auch eine andere Seite der Religion, die allerdings entweder durch ihre gegenwärtige Wahrnehmung in den Hintergrund gedrängt wird oder bereits vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Möglicherweise hat diese visionäre und herausfordernde Seite nur ganz in den Anfängen der Religion eine Rolle gespielt und sei dann sehr schnell durch die Institutionalisierung oder durch ihre politische Usurpation entstellt oder gar in ihr Gegenteil verdreht worden. In jedem Fall gibt es eine anzuerkennende und möglicherweise sogar wünschenswerte Seite der Religion, um derer willen die Kritik ergeht. Die Kritiker messen die Religion nicht nur an ihrem augenblicklichen Auftritt, sondern erinnern sie an die verdrängten bzw. verschütteten Potenziale, die ihr eine grundsätzlich andere Gestalt und Rolle für das Leben und die Gesellschaft geben könnten. Die Religionskritik zielt nicht auf Abschaffung bzw. Ersetzung der Religion, sondern auf die Abweisung ihrer destruktiven und lähmenden Anteile und auf die ebenfalls in der Religion erkannten herausfordernden und mobilisierenden Elemente, die es neu zu entdecken und entsprechend zu bewerten gelte. Es wird also von einer Ambivalenz der Religion ausgegangen. Von der Religion können grundsätzlich hemmende und knechtende Kräfte, aber eben auch belebende und ermutigende Perspektiven ausgehen, je nachdem wie die Religion wahrgenommen und gepflegt wird. Die Religion steht in der permanenten Gefahr, in das Schlepptau von bestimmten Interessen und Machtkonstellationen zu geraten, so wie umgekehrt in ihr die Kraft verborgen liegt, solche Interessen und Machtkonstellationen offenkundig zu machen und anzugreifen. Es hängt sehr von der jeweiligen Situation ab, ob die Religion als eine Hemmung bzw. Blockade oder als eine Mobilisierung bzw. Motivation in Erscheinung tritt. Bei genauerem Hinsehen gehen die Ambivalenzen noch sehr viel weiter, denn was in der einen Situation als eine Hemmung wirkt, kann in einer anderen durchaus ermutigend und herausfordernd sein.

184 § 5 Die Ambivalenz der Religion

Hier öffnet sich ein weites Feld für weitere Differenzierungen, die jetzt aber nicht in Betracht gezogen werden sollen. Die Differenzierung, die in diesem Kapitel orientierend ist, unterscheidet zwei Seiten der Religion, sodass die entschlossene Religionskritik nicht der Abschaffung der Religion, sondern der Freilegung und Wahrnehmung der verdrängten positiven und hoffnungsvollen Seite der Religion dient oder ihr aber zumindest ein ungenutztes Potenzial bescheinigt, dessen Nichtbeachtung für die gegenwärtig festzustellende Irrelevanz verantwortlich zu machen ist. Die Systematisierung einzelner Positionen und ihre Zuordnung in eine bestimmten Struktur ist stets eine heikle Angelegenheit. Immer gibt es Grenzfälle, für die sich auch eine andere Zuordnung plausibel vertreten lässt. Das soll an einem Beispiel illustriert werden. Im Blick auf das letzte Kapitel könnte die Frage gestellt werden, ob es nicht Feuerbach doch vor allem um eine Reinigung der Religion – eben der Religion, in der sich der Mensch selbst Gegenstand seiner Verehrung ist – gegangen sei und eben nicht um eine Abschaffung der Religion. Zweifellos spielt diese Intention bei Feuerbach eine deutlich erkennbare Rolle. Für die Zuordnung stellt sich allerdings die Frage, welche Reichweite Feuerbachs Bruch mit der Tradition hat. Die destruktive Diskontinuität ist in diesem Fall – das ist der Grund für die hier vorgenommene Zuordnung zur radikalen Religionskritik, der auch der Hauptstrom der Feuerbachrezeption gefolgt ist – gegenüber der konstruktiven Kontinuität so dominant, dass es schwer fällt, den Beitrag Feuerbachs nicht als Bekämpfung der Religion, sondern als einen Beitrag zu deren Läuterung zu sehen. Es wäre darüber zu debattieren, ob das, was Feuerbach als Religion des Menschen angestrebt hat, überhaupt unter den traditionellen Bestimmungen in angemessener Weise als Religion bezeichnet werden kann oder nicht eher als ein Vorschlag für eine kulturelle Neuorientierung des menschlichen Selbstbewusstsein zu verstehen ist. Das soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Möglicherweise war die Intention Feuerbachs eine andere, aber sie passte nicht in die seinerzeitige Diskussionslage, sodass die Feuerbach-Rezeption, die sich dann eingestellt hat, zwar als einseitig und unzulänglich betrachtet werden könnte, aber eben auch eine hohe historisch plausible Evidenz hat. Wenn dieses Kapitel nun mit Arthur Schopenhauer einsetzt, könnte umgekehrt darauf hingewiesen werden, dass auch bei Schopenhauer der Abbruch eindeutig im Vordergrund steht und die Vision einer gereinigten Religion nur als eine recht schmale Linie in seinen Überlegungen auftaucht. Aber diese schmale Linie bewegt sich – und das ist der entscheidende Unterschied zu Feuerbach – grundsätzlich in dem Horizont dessen, was gemeinhin unter Religion verstanden wird. Obwohl auch die Schopenhauer-Rezeption mehr die Radikalität seiner Religionskritik herausgestellt hat – E. Hirsch sieht in ihm den ersten bedeutenden atheistischen Philosophen in Deutschland1 –, so bleibt doch erkennbar, dass Schopenhauer dabei eine eigene, an den östlichen Religionen orientierte Vision und eben nicht einen grundsätzlichen Abbruch von religiöser Orientierung im Blick hatte – in diesem Sinne

1 Geschichte, Bd. V, 601.

2. Arthur Schopenhauer 185

nennt ihn W. Weimer einen religiösen Atheisten.2 Ebenso wie bei Feuerbach ließe sich also eine andere Zuordnung vorstellen. Die Gründe für die hier vorgenommene Zuordnung sind damit benannt.3 Dieses Kapitel bringt religionskritische Positionen zur Sprache, die unter Wahrnehmung der Ambivalenz der Religion neben ihrer Kritik auch ein Potenzial der Religion sehen, mit dem zumindest eine konstruktive Auseinandersetzung als lohnenswert betrachtet wird. Das Verhältnis von Kritik und Vision fällt in den verschiedenen Konzeptionen sehr unterschiedlich aus. Es mag verwundern, dass in diesem Kapitel vornehmlich Positionen aus dem 20. Jahrhundert zur Sprache gebracht werden. Dazu ist zweierlei anzumerken: 1. Das religionskritische Klima des 19. Jahrhunderts war von der Überzeugung bestimmt, dass die Zeit der Religion an ihr Ende gekommen sei. Daher zielt die Kritik der Religion, wie sie in der Philosophie, den sich formierenden Gesellschaftswissenschaften und der Psychologie aufgeworfen wird, auf die Bestätigung dieses unmittelbar bevorstehenden bzw. auf absehbare Zeit zu erwartenden Endes. Diese grundsätzliche Einschätzung ändert sich im 20. Jahrhundert. 2. Die Verteidigung der Religion wurde im 19. Jahrhundert der Theologie überlassen und ist deshalb in diesem Kapitel nicht thematisch. Die in sich differenzierte theologische Debatte wird in § 7 thematisiert.

2. Arthur Schopenhauer In seiner Kritik des verfassten Christentums nimmt Arthur Schopenhauer kein Blatt vor den Mund, aber auch den anderen Religionen gegenüber hegt er eine prinzipielle Skepsis. Und so kann Schopenhauer in klassischer Manier die Hauptregister der Religionskritik vollkommen ungedämpft erklingen lassen:

Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788– 1860) kann als ein idealistischer Pessimist bezeichnet werden. Er setzt – wie später die Lebensphilosophie – auf eine innere Religiosität, die ohne die Vorstellung von irgendeiner Gottheit auskommt.

Hingegen das Grundgeheimnis und die Urlist aller Pfaffen auf der ganzen Erde und zu allen Zeiten, mögen sie brahmanische oder mohammedanische, buddhaistische oder christliche sein, ist folgendes. Die haben die große Stärke und Unvertilgbarkeit des metaphysischen Bedürfnisses des Menschen richtig erkannt und wohl gefaßt: nun geben sie vor, die Befriedigung desselben zu besitzen, indem das Wort des großen Rätsels ihnen auf außerordentlichem Wege direkt zugekommen wäre. Dies nun den Menschen einmal eingeredet, können sie solche leiten und beherrschen nach Herzenslust. Von den Regenten gehen daher die klügeren eine Allianz mit ihnen ein: die andern werden selbst von ihnen beherrscht.4 2 Vgl. Schopenhauer und der Atheismus, in: W. Schirmacher (Hg.), Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung, FS A. Hübscher, Stuttgart 1982, 364–373. 3 Vergleichbare Überlegungen gelten auch für die Zuordnung von Karl Löwith (% § 5,7), der zwar kein erkennbares Interesse an der Religion

entwickelt, aber um eine verloren gegangene diskussionswürdige Dimension der Religion weiß, ohne sich diese selber zueigen zu machen. 4 Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II, in: Sämtliche Werke, hg. v. W. Frhr. v. Löhneysen, Bd. V, Darmstadt 1965, 427.

186 § 5 Die Ambivalenz der Religion

Allerdings wäre es ein Missverständnis, Schopenhauer mit der These des Priesterbetruges zu identifizieren und einfach auf der Seite der radikalen Religionskritiker zu platzieren. Vielmehr ist diese schroffe Kritik eingebettet in einen weltanschaulichen Gesamtzusammenhang, in dem Religion sogar einen durchaus wichtigen Platz einnimmt, aber eben – wie sich zeigen wird – keine Religion, die der abendländischen Tradition entsprungen ist. Schopenhauer geht es um eine der Wirklichkeit tatsächlich entsprechende Einschätzung und Ausrichtung des Lebens. Beides ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr sieht Schopenhauer die zeitgenössische idealistische Philosophie einen gern aufgenommenen Optimismus ausbreiten, den er nur als eine unbegründbare Verklärung der tatsächlichen Wirklichkeit und Wahrheit anzusehen vermag. Das Werk Schopenhauers kreist um den Gedanken, dass die Welt in ihrem Wesen als Wille zu betrachten sei, der in seiner höchsten Objektivationsstufe dem Menschen als Vorstellung vor Augen tritt – programmatisch angezeigt im Titel seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung (zuerst 1818). Der grundlose und ziellose Wille beherrscht die Welt und verursacht in seiner Unersättlichkeit Leiden und Sterben. Wenn Nietzsche, der von einer ähnlichen Weltbetrachtung ausgeht, den Menschen dazu auffordert, diesen Willen in entschlossener Verzweiflung an sich zu reißen, zieht Schopenhauer genau den entgegengesetzten Schluss: Es gelte den Willen zu verneinen und sich asketisch soweit wie nur irgend möglich aus der Welt zurückzuziehen (Weltüberwindung durch Pessimismus). Dagegen nimmt Schopenhauer ein Christentum wahr, das sich mit ‚niederträchtigem Optimismus‘ den Menschen anempfehle.5 Von dem gegenwärtigen Christentum bleibt das ursprüngliche zu unterscheiden, das von einem stoisch-mystischen Weltverhältnis geprägt gewesen sei. In der Frage nach einem optimistischen oder einem pessimistischen Weltverhältnis liegt für Schopenhauer ein fundamentales Kriterium. An der Art ihres Weltverhältnisses entscheidet sich für ihn grundsätzlich die Wahrnehmung aller Religionen: Den Fundamentalunterschied aller Religionen kann ich nicht, wie durchgängig geschieht, darin setzen, ob sie monotheistisch, polytheistisch, pantheistisch oder atheistisch sind; sondern nur darin, ob sie optimistisch oder pessimistisch sind, d. h. ob sie das Dasein der Welt als durch sich selbst gerechtfertigt darstellen, mithin es loben und preisen oder aber es betrachten als etwas, das nur als Folge unserer Schuld begriffen werden kann und daher eigentlich nicht sein sollte, indem sie erkennen, daß Schmerz und Tod nicht liegen können in der ewigen, ursprünglichen, unabänderlichen Ordnung der Dinge, in dem, was in jedem Betracht sein sollte. Die Kraft, vermöge welcher das Christentum zunächst das Judentum und dann das griechische und römische Heidentum überwinden konnte, liegt ganz allein in seinem Pessimismus, in dem Eingeständnis, daß unser Zustand ein höchst elender und zugleich sündlicher ist, während Judentum und Heidentum optimistisch waren. Jene von jedem tief und schmerzlich gefühlte Wahrheit schlug durch und hatte das Bedürfnis der Erlösung in ihrem Gefolge. (219 f.) 5 Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung II. Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Ban-

des, in: Sämtliche Werke, hg. v. W. Frhr. v. Löhneysen, Bd. II, Darmstadt 1961, 216.

2. Arthur Schopenhauer 187

Schopenhauer beklagt die Synthese, welche die Religion mit der Philosophie einzugehen bemüht ist, wie es in besonderer Weise vom Christentum vorexerziert werde. Der Wahrnehmungshorizont und die Artikulationsebene der Religion seien ihrem mystischen Wesen entsprechend allegorischer Natur (sensus allegoricus) im Unterschied zur Philosophie, die zu strengem Denken (sensus proprius) angehalten sei. Den Höhepunkt solcher heillosen Vermischungen beklagt er in der zeitgenössischen idealistischen Religionsphilosophie: Beiden Arten der Metaphysik wäre es am zuträglichsten, daß jeder von der andern rein gesondert bliebe und sich auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um daselbst ihr Wesen vollkommen entwickeln zu können. Statt dessen ist man schon das ganze christliche Zeitalter hindurch bemüht, vielmehr eine Fusion beider zu bewerkstelligen, indem man die Dogmen und Begriffe der einen in die andere überträgt, wodurch man beide verdirbt. Am unverhohlensten ist dies in unsern Tagen geschehn in jenem seltsamen Zwitter oder Kentauren, der sogenannten Religionsphilosophie, welche als eine Art Gnosis bemüht ist, die gegebene Religion zu deuten und das sensu allegorico Wahre durch ein sensu proprio Wahres auszulegen. Allein dazu müßte man die Wahrheit sensu proprio schon kennen und besitzen: alsdann aber wäre jene Deutung überflüssig. (217)

Die Weltzugewandtheit des Protestantismus trifft in besonderer Weise die Kritik von Schopenhauer, weil er mit der Aufgabe der Askese den eigentlichen Kern des Christentums verspiele und mit seiner Zuwendung zum Rationalismus einen Selbsterlösungsglauben propagiere, der sich nicht mehr mit dem Christentum vereinbaren lasse – eine durchaus scharfsinnige Analyse, die nicht einfach von der Hand zu weisen ist: Der protestantische Abfall vom Christentum hat sich in unsern Tagen herausgestellt in dem allmäligen Übergang desselben in den platten Rationalismus, diesen modernen Pelagianismus, der am Ende hinausläuft auf eine Lehre von einem liebenden Vater, der die Welt gemacht hat, damit es hübsch vergnügt darauf zugehe (was ihm dann freilich mißraten sein müßte), und der, wenn man nur in gewissen Stücken sich seinen Willen anbequemt, auch nachher für eine noch viel hübschere Welt sorgen wird (bei der nur zu beklagen bleibt, daß sie eine so fatale Entrée hat). Das mag eine gute Religion für komfortable, verheiratete und aufgeklärte protestantische Pastoren sein: aber das ist kein Christentum. Das Christentum ist die Lehre von der tiefen Verschuldung des Menschengeschlechts durch sein Dasein selbst und dem Drange des Herzens nach Erlösung daraus, welche jedoch nur durch die schwersten Opfer und durch die Verleugnung des eigenen Selbst, also durch eine gänzliche Umkehr der menschlichen Natur erlangt werden kann. (802)

Da wo die Askese in Frage gestellt wird, fasst unwillkürlich der Optimismus Fuß, und damit hält der Grundirrtum Einzug, der sowohl die Religion als auch die Philosophie von der Wahrheit abbringt. Zunehmend konzentriert sich die Kritik Schopenhauers an den Religionen auf den Gottesglauben. Der Pantheismus wird zwar mit besonderer Aversion bedacht, aber auch sonst seien die Gottesvorstellungen vor allem ein Produkt der schicksalhaften Nöte des Menschen, aus denen er sich mit Hilfe des erdachten Gottes zu befreien versucht. Gott wird nicht als ein Gegenstand der Erkenntnis angesehen, son-

188 § 5 Die Ambivalenz der Religion

dern er ist nach Schopenhauer ein Produkt des Willens. Deshalb wird auch verständlich, weshalb alle seine Beweise grundsätzlich unhaltbar sind. Das Wesentliche jedoch ist der Drang des geängsteten Menschen, sich niederzuwerfen und Hülfe anzuflehen, in seiner häufigen, kläglichen und großen Not und auch hinsichtlich seiner ewigen Seligkeit. Der Mensch verläßt sich lieber auf fremde Gnade als auf eigenes Verdienst: dies ist die Hauptstütze des Theismus. Damit also sein Herz (Wille) die Erleichterung des Betens und den Trost des Hoffens habe, muß sein Intellekt ihm einen Gott schaffen; nicht aber umgekehrt, weil sein Intellekt auf einen Gott logisch richtig geschlossen hat, betet er. Laßt ihn ohne Not, Wünsche und Bedürfnisse sein, etwan ein bloß intellektuelles, willenloses Wesen; so braucht er keinen Gott und macht auch keinen. Das Herz, d. i. der Wille, hat in seiner schweren Bedrängnis das Bedürfnis, allmächtigen, folglich übernatürlichen Beistand anzurufen: weil also gebetet werden soll, wird ein Gott hypostasiert; nicht umgekehrt. Daher ist das Theoretische der Theologie aller Völker sehr verschieden an Zahl und Beschaffenheit der Götter: aber daß sie helfen können und es tun, wenn man ihnen dient und sie anbetet – dies haben sie alle gemein; weil es der Punkt ist, auf den es ankommt. Zugleich aber ist dieses das Muttermal, woran man die Abkunft aller Theologie erkennt, nämlich, daß sie aus dem Willen, aus dem Herzen entsprungen sei, nicht aus dem Kopf oder der Erkenntnis, wie vorgegeben wird.6

Der Theismus fällt unter das Niveau des sich selbst achtenden Menschen; er folgt nicht der Einsicht, sondern dem Begehren (dem Herzen = Willen). Unweigerlich läuft ein solches Unterfangen auf Idolatrie hinaus: Ob man sich ein Idol macht aus Holz, Stein, Metall oder es zusammensetzt aus abstrakten Begriffen, ist einerlei: es bleibt Idolatrie, sobald man ein persönliches Wesen vor sich hat, dem man opfert, das man anruft, dem man dankt. Er ist auch im Grunde so verschieden nicht, ob man seine Schafe oder seine Neigungen opfert. Jeder Ritus oder [jedes] Gebet zeugt unwidersprechlich von Idolatrie. Daher stimmen die mystischen Sekten aus allen Religionen darin überein, daß sie allen Ritus für ihre Adepten aufheben.7

Der letzte Satz lässt Schopenhauers eigene Option anklingen: eine ritenfreie mystische Religion ohne einen Gottesglauben, wie sie beispielhaft im Buddhismus zu finden sei. &

A. Hübscher, Arthur Schopenhauer, ein Lebensbild, Mannheim 31988 H. Hasse, Schopenhauers Religionsphilosophie, Stuttgart 1932 V. Spierling, Arthur Schopenhauer zur Einführung, Hamburg 22006

6 Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften I, in: Sämtliche Werke, hg. v. W.

Frhr. v. Löhneysen, Bd. IV, Darmstadt 1963, 147. 7 Kleine philosophische Schriften II, 446.

3. Emile Durkheim 189

3. Emile Durkheim Emile Durkheim gilt nicht nur als einer der BeDer Soziologe und Ethnologe Emile gründer der empirischen Soziologie, sondern Durkheim (1858–1917) sieht in der Religion eine für jede Gesellschaft unverzichtbare auch der Religionssoziologie. Im Anschluss an Integrationskraft. Sie lebt nicht von ihren Impulse von A. Comte (% § 4,2.3) zielt sein soTraditionsbindungen, sondern aus der ziologisches Interesse auf eine neue moralische jeweiligen Anpassung an die sich Konstitution der Gesellschaft. Der Religion verändernden zeitgenössischen kommt dabei insofern seine besondere AufmerkRahmenbedingungen. samkeit zu, als sie als das zentrale traditionelle Element zur Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts angesehen wird. Sie wird also unter funktionalen Gesichtspunkten (und nicht unter substanzialen) betrachtet. Als ihr Kernelement wird die integrative und identitätsbildende Funktion angesehen, was dann in einem Strang der späteren Religionssoziologie dazu führte, dass immer dann Religion gewittert wurde, wenn es um die Benennung der Elemente ging, die in besonderer Weise für den Zusammenhang und die Identität einer Gesellschaft stehen. Zugespitzt kann gesagt werden, dass nicht die Gesellschaft von der Religion geprägt wird, sondern die Gesellschaft bringt die ihr adäquate Religion und den sie charakterisierenden Kult hervor. Wir haben gesehen, daß diese Wirklichkeit, die sich die Mythologien unter so vielen verschiedenen Formen vorgestellt haben, die aber die objektive, universale und ewige Ursache dieser Empfindungen sui generis ist, aus denen die religiöse Erfahrung besteht, die Gesellschaft ist. Wir haben gezeigt, welche moralischen Kräfte sie entwickelt und wie sie diese Gefühle der Anlehnung, des Schutzes, der schützenden Abhängigkeit erweckt, die den Gläubigen an seinen Kult binden. Sie hebt ihn über sich hinaus: sie selbst tut das. Denn was den Menschen ausmacht, ist jene Summe von intellektuellen Gütern, die die Zivilisation bilden und die Zivilisation ist das Werk der Gesellschaft. So kann man die überragende Rolle des Kults in allen Religionen erklären, welche es auch seien. Die Gesellschaft kann ihren Einfluß nicht fühlbar machen, außer sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln. Durch die gemeinsame Tat wird sie sich ihrer bewußt und realisiert sie sich: sie ist vor allem aktive Kooperation. Selbst die kollektiven Ideen und Gefühle sind nur durch äußere Bewegungen möglich, die sie symbolisieren, so wie wir es festgestellt haben. Es ist also die Tat, die das religiöse Leben dadurch allein schon beherrscht, daß die Gesellschaft deren Ursache ist.8

Die überkommenen Religionen stehen für Aussagezusammenhänge hinsichtlich der Glaubensinhalte und Handlungen, die das Heilige betreffen und das Kollektivbewusstsein einer Glaubensgemeinschaft (Kirche) bestimmen. Die religiösen Verhaltensweisen unterscheiden sich spezifisch von praktisch profanen Handlungsweisen, indem sie der Verklärung der tatsächlichen Situation dienen und sich auf eine über8 Die elementaren Formen des religiösen Lebens [1912], übers. v. L. Schmidts, Frankfurt/M. 1981, 560.

190 § 5 Die Ambivalenz der Religion

natürliche Welt richten, mit deren Hilfe ein gemeinschaftliches Leben ermöglicht wird. Die Religion entspricht also einem Bedarf zur Sicherung der Sozialität des Lebens. Unsere Definition des Heiligen besagt, daß es das Wirkliche übersteigt. Das Ideale kann genauso definiert werden: Man kann das eine ohne das andere nicht erklären. In der Tat haben wir gesehen, daß das kollektive Leben, wenn es einen bestimmten Intensitätsgrad erreicht hat, das religiöse Denken erweckt, weil es einen Gärungszustand erregt, der die Bedingungen der physischen Tätigkeit verändert. Die Vitalenergien sind überreizt, die Leidenschaften lebendiger, die Eindrücke stärker. Manche entstehen überhaupt nur in diesem Augenblick. Der Mensch erkennt sich nicht wieder; er glaubt, verwandelt zu sein und folglich verwandelt er sein Milieu, das ihn umgibt. Um sich über diese außergewöhnlichen Eindrücke Rechenschaft zu geben, die er empfindet, verleiht er den Dingen, mit denen er in den engsten Beziehungen steht, Eigenschaften, die sie nicht haben, Ausnahmekräfte, Tugenden, die die Gegenstände der täglichen Erfahrung nicht besitzen. Mit einem Wort: Der wirklichen Welt, in der er sein profanes Leben lebt, stülpt er eine andere über, die gewissermaßen nur in seinem Denken existiert, der er aber, gegenüber der ersteren, eine Art höhere Würde zumißt. Sie ist also im doppelten Sinn eine ideale Welt. (565)

Durkheim glaubt, dem inneren Zusammenhang zwischen der realen Welt und ihrer kollektiven Begehung auf der Spur zu sein, wenn er unterstreicht, dass die Gesellschaft davon lebt, dass sie Ideale hervorbringt. Das ist der Modus der Selbstkonstitution und auch der Erneuerung. Erst durch die Etablierung einer über die Erfahrungen hinausgehenden Welt kommt sie über den Augenblick hinweg und vermag in eine Zukunft zu blicken. Das ist eine Bedingung für die menschliche Vergesellschaftung. Durkheims Betrachtungen der Religion beschränken sich nicht auf eine phänomenologische Registratur, sondern sind durchdrungen von einer eigenen gesellschaftlichen Vision, in welcher schließlich der Transzendenzbezug der Religion durch eine innerweltliche moralisch konstituierte Transzendenz zu ersetzen ist. Die festzustellende religiöse Krise kann allein dadurch überwunden werden, dass sich die Religionen den jeweiligen gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedürfnissen anpassen und dazu eben nicht mehr adäquate, überkommene Vorstellungen preisgeben. Die großen Dinge, die unsere Väter begeistert haben, erzeugen bei uns nicht das gleiche Feuer, weil sie entweder so alltäglich wurden, daß sie uns unbewußt bleiben, oder weil sie nicht mehr unsren heutigen Wünschen entsprechen. Aber bislang gibt es nichts, das sie ersetzen könnte. . . . Mit einem Wort: die alten Götter werden alt und sterben, und andere sind noch nicht geboren. . . . Aber dieser Zustand der Unsicherheit und der verwirrenden Unruhe kann nicht ewig dauern. Ein Tag wird kommen, an dem unsere Gesellschaften aufs neue Stunden der schöpferischen Erregung kennen werden, in deren Verlauf neue Ideen auftauchen und neue Formen erscheinen werden, die eine Zeitlang als Führer der Menschheit dienen werden. . . . Es gibt keine unsterblichen Evangelien; aber nichts rechtfertigt den Glauben, daß die Menschheit unfähig wäre, in der Zukunft neue zu erschaffen. (571 f.)

Und Durkheim gibt schließlich auch die Bedingungen an, unter denen er sich eine religiöse Erneuerung vorstellen kann. Für ihn gibt es nur eine rein immanente Exis-

3. Emile Durkheim 191

tenzdeutung, in welcher der Mensch mit seinen eigenen Grenzen zu leben lernen kann. Zwar muss es Raum für die utopische Kraft der Religion geben, in der sie über das hinausgeht, was die Wissenschaften registrieren, aber die Spekulation wird sich heute in einem stetigen Kontakt an das zu halten haben, was nicht mit den Wissenschaften in Widerspruch gerät. Obwohl sie [sc. die Religion] sich das Recht anmaßt, über die Wissenschaft hinauszugehen, muß sie damit beginnen, sie zu kennen und sich von ihr inspirieren zu lassen. Ist die Autorität der Wissenschaft hergestellt, so muß mit ihr gerechnet werden. Man kann zwar, unter dem Druck der Notwendigkeit, weiter als sie gehen, aber man muß von ihr ausgehen. Man kann nichts behaupten, was sie verneint, nichts verneinen, was sie behauptet, nichts annehmen, was sich nicht direkt oder indirekt auf die Prinzipien stützt, die man von ihr geborgt hat. Damit übt der Glaube auf das System der Vorstellungen, das man weiterhin religiös nennen kann, nicht dieselbe Vorherrschaft aus wie früher. Ihr gegenüber steht eine rivalisierende Macht, die, aus ihr entstanden, sie von nun an ihrer Kritik und ihrer Kontrolle unterwirft. Alles läßt die Voraussage zu, daß diese Kontrolle immer weitgespannter und wirksamer wird, ohne daß es möglich wäre, ihrem zukünftigen Einfluß eine Grenze zu setzen. (577)

Was Durkheim vor Augen steht, entspricht wohl am ehestem dem, was dann später als Zivilreligion bezeichnet wird (% § 8,1): Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen. Diese moralische Wiederbelebung kann nur mit Hilfe von Vereinigungen, Versammlungen und Kongregationen erreicht werden, in denen die Individuen, die einander stark angenähert sind, gemeinsam ihre gemeinsamen Gefühle verstärken. Daher die Zeremonien, die sich durch ihren Zweck, durch die Ergebnisse, die sie erzielen, durch die Verfahren, die dort angewendet werden, ihrer Natur nach nicht von den eigentlichen religiösen Zeremonien unterscheiden. Welchen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen einer Versammlung von Christen, die die wesentlichen Stationen aus Christi Leben feiern, oder von Juden, die den Auszug aus Ägypten oder die Verkündigung der Zehn Gebote zelebrieren, und einer Vereinigung von Bürgern, die sich der Errichtung einer neuen Moralcharta oder eines großen Ereignisses des nationalen Lebens erinnern? (571) &

H. G. Kippenberg, Émile Durkheim (1858–1917), in: A. Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, 103– 119 R. König, Der Soziologe als Moralist, in: D. Käsler (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 1: Von Comte bis Durkheim, München 1976, 312–364

192 § 5 Die Ambivalenz der Religion

4. Max Weber Mit seinen soziologischen Untersuchungen und Reflexionen hat sich Max Weber besonders Wirtschaftsfragen zugewandt. Er forderte für die Soziologie als Wissenschaft, sich aller Werturteile zu enthalten (Werturteilsfreiheit), was nicht ausschließt, dass sie bei konkreten Herausforderungen Überlegungen anstellt über den Erfolg und die Konsequenzen verschiedener möglicher Mittel zur Erreichung eines favorisierten Zwecks; allerdings sind konkrete Entscheidungen keine wissenschaftliche, sondern eine politische Aufgabe. Zumindest für die Vergangenheit geht Weber davon aus, dass die Religion in einem heute kaum noch vorstellbaren Maße eine geschichtsprägende Macht gewesen ist. Der moderne Mensch kann sich kaum noch ein angemessenes Bild von der prägenden Bedeutung machen, die in vergangenen Zeiten religiösen Bewusstseinsinhalten für die gesamte Lebensführung zugemessen wurde. Sowohl die Moderne als auch das singuläre Phänomen des neuzeitlich-westlichen Kapitalismus als der „schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens“,9 die alle Daseinsverhältnisse des gegenwärtigen Lebens zutiefst geprägt hat, können ohne den Einfluss der Religion nicht angemessen verstanden werden. Für die westliche Kultur geht Weber davon aus, dass die Religion in einem weiträumigen historischen Prozess als essenzielles Ferment zur Entzauberung der Welt gewirkt habe, der schließlich im Protestantismus und seiner Ethik zum Ziel gelangt sei.

Der Soziologe Karl Emil Maximilian Weber (1864–1920) sieht in der Religion, insbesondere in ihrer jüdisch-christlichen Prägung, eine treibende Kraft der Entzauberung der Welt, auf welche die entzauberte Welt nun weithin glaubt verzichten zu können.

Jener große religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenistischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier [sc. in der protestantischen Ethik] seinen Abschluß.10

Es kann durchaus als eine innere Konsequenz der religiösen Entzauberung angesehen werden, wenn die entzauberte Welt schließlich die religiöse Triebkraft der Entzauberung nicht mehr braucht. Die Rationalisierungen der Religion wenden sich am Ende gegen sie, indem die nun durchrationalisierte Welt die Religion mit dem Vorwurf der Irrationalität konfrontiert. Die moderne Form der zugleich theoretischen und praktischen intellektuellen und zweckhaften Durchrationalisierung des Weltbildes und der Lebensführung hat die allgemeine Folge gehabt: daß die Religion, je weiter diese besondere Art von Rationalisierung fortschritt, desto mehr ihrerseits in das – vom Standpunkt einer intellektuellen Formung des Weltbildes aus gesehen: – Irrationale geschoben wurde.11 9 Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920, 1–16, 4. 10 Die protestantische Ethik und der Geist des

Kapitalismus, in: GS zur Religionssoziologie I, 17–206, 94 f. 11 Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: GS zur Religionssoziologie I, 237–573, 253.

4. Max Weber 193

Diese Diagnose wäre allerdings missverstanden, wollte man annehmen, dass Weber optimistisch einem Ende der Religion entgegengeblickt habe. Dagegen stehen sowohl seine Skepsis gegenüber einer dauerhaften Funktionstüchtigkeit des Kapitalismus als auch die nüchterne Erwartung, dass sich der Mensch wohl dauerhaft mit dem Sinn-Problem zu beschäftigen haben wird. Weber ist mit seiner in Abgrenzung zu Marx (% § 4,3.3) ausgearbeiteten These bekannt geworden, dass es einen genuinen Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus gebe. Mit dieser These wollte Weber eine Erklärung dafür liefern, warum sich der konsequent durchrationalisierte Kapitalismus besonders in Europa – und innerhalb Europas in den protestantischen Gegenden – durchzusetzen vermochte. Dazu bedurfte es eines Geistes, der die Kraft aufbrachte, die traditionellen Hemmnisse zu überwinden. Vor allem die calvinistisch-puritanische Glaubens- und Lebensauffassung angelsächsischer Prägung aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts habe mit ihrem Arbeits- und Berufsethos und ihrem Erwählungsverständnis, nach dem Erfolg als ein Zeichen der Erwähltheit verstanden werde, den wirtschaftlichen Erfolg mit dem Willen Gottes in Einklang gebracht.12 Die innerweltliche Askese dieser Variante des Protestantismus habe es ermöglicht, die erwirtschafteten Gewinne zugunsten weiterer Gewinnsteigerung im wirtschaftlichen Kreislauf zu halten. Darin seien sowohl die strikte Rationalität als auch der Erfolg des Kapitalismus begründet. Es handelt sich aber keineswegs um eine Einbahnstraße, auf welcher allein die Religion den Lebensverhältnissen ihre Prägung aufdrückt. Webers Abgrenzung gegenüber Marx sollte nicht überschätzt werden. Auch er geht von einem prägenden Einfluss der Lebensumstände auf die Religion aus. Die Religion ist ein Rationalisierungsinstrument nicht nur für irrationale Grenzerlebnisse, sondern auch für jeweils gegebene Lebensumstände, in denen sich der Mensch vorfindet und denen er sich ausgesetzt sieht. Sie erwägt die Frage nach dem Sinn einer Welt, die als unvollkommen und ungerecht erlebt wird. Ähnlich wie in Max Schelers wissenssoziologischer Typologie der klassenbedingten Denkarten13 werden die religiösen Einstellungen bzw. die Stellung zur Religion in eine enge Beziehung zu den jeweils bestimmenden Erfahrungen und Intentionen der verschiedenen gesellschaftlichen ‚Schichten‘ gebracht. Auch wenn sich der Ursprung der Religion nicht wie bei Marx mit den gesellschaftlichen Bedingungen verrechnen lasse, so hebt auch Weber in den Religionen ‚schichtenspezifische‘ Artikulationen und Akzentsetzungen hervor. Die Religionen nehmen also eine sich an den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen orientierende Funktion wahr. Weber beschränkt sich in seinen Wahrnehmungen

12 Vgl. – auch zur Diskussion um diese These – M. Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I u. II, hg. v. J. Winckelmann, Gütersloh 61981 (I), 3 1978; K. Lichtblau / J. Weiß (Hg.), Max Weber. Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, Bodenheim 1993; D. Schellong, Der

‚Geist‘ des Kapitalismus und der Protestantismus. Eine Max-Weber-Kritik, in: R. Faber / G. Palmer (Hg.), Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur?, Würzburg 2003, 231–253. 13 Vgl. M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Bern/München 21960.

194 § 5 Die Ambivalenz der Religion

nicht nur auf die europäische Situation, sondern bemüht sich um eine möglichst globale Orientierung. „Je weiter man auf der sozialen Stufenleiter nach unten gelangt, desto radikalere Formen pflegt das Heilandsbedürfnis, wenn es einmal auftritt, anzunehmen.“14 So fällt etwa in den unteren ‚Schichten‘ die Rede von der Erlösungsbedürftigkeit des Lebens auf einen fruchtbareren Boden als bei den Privilegierten, die eher dazu neigen, mit Hilfe der Religion ihre privilegierte Lebensführung zu legitimieren. Die spezielle Bedeutung der Erlösungsreligiosität für die politisch und ökonomisch negativ privilegierten Schichten im Gegensatz zu den positiv privilegierten läßt sich nun unter noch allgemeinere Gesichtspunkte bringen. . . . Jedes Erlösungsbedürfnis ist Ausdruck einer ‚Not‘, und soziale und ökonomische Gedrücktheit ist daher zwar keineswegs die ausschließliche, aber naturgemäß eine sehr wirksame Quelle seiner Entstehung. Sozial und ökonomisch positiv privilegierte Schichten empfinden unter sonst gleichen Umständen das Erlösungsbedürfnis von sich aus kaum. Sie schieben vielmehr der Religion die Rolle zu, ihre eigene Lebensführung und Lebenslage zu ‚legitimieren‘. Diese höchst universelle Erscheinung wurzelt in ganz allgemeinen inneren Konstellationen. Daß ein Mensch im Glück dem minder Glücklichen gegenüber sich nicht mit der Tatsache jenes Glücks begnügt, sondern überdies auch noch das ‚Recht‘ seines Glücks haben will, das Bewußtsein also, es im Gegensatz zu dem minder Glücklichen ‚verdient‘ zu haben – während dieser sein Unglück irgendwie ‚verdient‘ haben muß –, dieses seelische Komfortbedürfnis nach der Legitimität des Glückes lehrt jede Alltagserfahrung kennen, mag es sich um politische Schicksale, um Unterschiede der ökonomischen Lage, der körperlichen Gesundheit, um Glück in der erotischen Konkurrenz oder um was immer handeln. Die ‚Legitimierung‘ in diesem innerlichen Sinn ist das, was die positiv privilegierten innerlich von der Religion verlangen, wenn überhaupt irgend etwas. Nicht jede positiv privilegierte Schicht hat dies Bedürfnis in gleichem Maße. . . . Andererseits ist der Zusammenhang von Unglück mit dem Zorn und Neid von Dämonen oder Göttern ganz universell verbreitet. Wie fast jede Volksreligiosität, die altjüdische ebenso wie ganz besonders nachdrücklich z. B. noch die moderne chinesische, körperliche Gebrechen als Zeichen, je nachdem magischer oder sittlicher Versündigung ihre Trägers oder (im Judentum) seiner Vorfahren behandelt . . . Entgegengesetzt entsprechend ist die Lage der negativ Privilegierten. Ihr spezifisches Bedürfnis ist Erlösung vom Leiden. Sie empfinden dies Erlösungsbedürfnis nicht immer in religiöse Form, – so z. B. nicht das moderne Proletariat. Und ihr religiöses Bedürfnis kann, wo es besteht, verschiedene Wege einschlagen. Vor allem kann es sich in sehr verschieden ausgeprägter Art mit dem Bedürfnis nach gerechter ‚Vergeltung‘ paaren, Vergeltung von eigenen guten Werken und Vergeltung fremder Ungerechtigkeit. Nächst der Magie und verbunden mit ihr ist daher eine meist ziemlich ‚rechenhafte‘ Vergeltungserwartung und Vergeltungshoffnung die verbreitetste Form des Massenglaubens auf der ganzen Erde und sind auch die Prophetien, welche ihrerseits wenigstens die mechanischen Formen dieses Glaubens ablehnten, bei ihrer Popularisierung und Veralltäglichung immer wieder dahin umgedeutet worden. (299 f.)

Wenn Weber zugleich einräumt, dass auch innerhalb positiv privilegierter Schichten die Erlösungsreligionen keineswegs erfolglos sind, kommen weitere Differenzierun14 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1921], hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1972, 296.

4. Max Weber 195

gen ins Spiel, in diesem Fall die Unterscheidung von äußerer und innerer Not, wobei den positiv privilegierten Schichten eine entsprechende intellektuelle Interpretationsfähigkeit zugeschrieben wird, mit der sie dazu in der Lage sind, konstruktiv mit der Frage des Sinns umzugehen. Der vornehmen, aus den privilegierten Klassen stammenden Erlösungssehnsucht ist generell die Disposition für die, mit spezifisch intellektualistischer Heilsqualität verknüpfte . . . ‚Erleuchtungs‘-Mystik eigen. Das ergibt eine starke Deklassierung des Naturhaften, Körperlichen, Sinnlichen, als – nach psychologischer Erfahrung – einer Versuchung zur Ablenkung von diesem speziellen Heilsweg. Steigerung, anspruchsvolle Raffinierung und gleichzeitig Abdrängung der normalen Geschlechtlichkeit zugunsten von Ersatz-Abreaktionen dürften dabei ebenfalls . . . zuweilen eine . . . Rolle spielen, wie gewisse Erscheinungen, namentlich der gnostischen Mysterien – ein sublimer masturbatorischer Ersatz für die Orgien des Bauern –, handgreiflich nahezulegen scheinen. Mit diesen rein psychologischen Bedingungen einer Irrationalisierung des Religiösen kreuzt sich das natürliche rationalistische Bedürfnis des Intellektualismus, die Welt als sinnvollen Kosmos zu begreifen, deren Produkt ebenso die . . . indische Karmanlehre und ihre buddhistische Abwandlung, wie etwa in Israel das vermutlich aus vornehmen Intellektuellenkreisen stammende Hiobbuch, verwandte Problemstellungen in der ägyptischen Literatur, die gnostische Spekulation und der manichäische Dualismus sind. Stets ist die Erlösung, die der Intellektuelle sucht, eine Erlösung von ‚innerer Not‘ und daher einerseits lebensfremderen, andererseits prinzipielleren und systematischer erfaßten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den nicht privilegierten Schichten eignet. Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden ‚Sinn‘ zu verleihen, also ‚Einheit‘ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der ‚Welt‘ als eines ‚Sinn‘-Problems vollzieht. Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt ‚entzaubert‘ werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ‚sind‘ und ‚geschehen‘, aber nichts mehr ‚bedeuten‘, desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und ‚Lebensführung‘ ja als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und ‚sinnvoll‘ geordnet seien. (307 f.)

Es ist diese subtile Konstellation, die Weber für die moderne, sich beschleunigende Pluralisierung der Religionen in Anschlag bringt. Es gehe unter den spezifischen Bedingungen der Moderne darum, einen der Intellektualität standhaltenden Sinn zu benennen, der eben auch in einer der Natur unterstellten Ordnung, in einer romantischen Weltflüchtigkeit oder in einer völkischen Orientierung bestehen kann. Bei aller Konsequenz, mit der Weber seine Rationalisierungsthese auf die Religion – vornehmlich jüdisch-christlicher Prägung – anwendet, wehrt er sich zugleich gegen alle monokausalen Verrechnungen religiöser Einstellungen. Auf dem Boden seiner Grundannahme hat er vor allem eine deskriptive soziologische Analyse der Religion vorgelegt; die eigene kritische Distanz zur beschriebenen Religion bleibt dabei durchaus erkennbar. &

B. Giesing, Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie, Opladen 2002 D. Kaesler, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M. 3 2003

196 § 5 Die Ambivalenz der Religion

5. Ernst Bloch Gewiss ist jede Vorsicht geboten, Ernst Bloch nicht zu sehr aus der Perspektive seiner Wirkungsgeschichte wahrzunehmen. Er war ein entscheidender Impulsgeber für die Neuentdeckung der fundamentalen Bedeutung der Eschatologie und der mit ihr verbundenen Politisierung der theologischen Ethik in der deutschen Nachkriegstheologie seit den 60er Jahren (insbesondere: J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1964). Auf der anderen Seite würde man Bloch ebenso wenig gerecht werden, wenn man nicht wahrnehmen würde, dass er, der selbst aus einer jüdischen Familie aus der Pfalz stammte, nicht nur expliziten Gebrauch von alttestamentlichen Traditionselementen macht, sondern auch eine konstruktive Auseinandersetzung vor allem mit dem Christentum gesucht hat. Bloch hat sich sowohl historisch als auch in den zeitgenössischen Debatten erkennbar positioniert, wobei ihn sein Atheismus nicht daran gehindert hat, das revolutionäre Potenzial der Religion zu annoncieren, wie er es gerade in ihrem Transzendenzbezug entdeckt und hervorgehoben hat. Kritisiert wird dagegen die Religion, die ihre eigene revolutionäre Tradition verdrängt oder verleugnet und sich zum Anwalt der bestehenden Verhältnisse gemacht hat. Bloch erinnert an die ersten christlichen Märtyrer, die am Hofe Neros ‚Atheoi‘ – Atheisten – genannt wurden, weil sie den Kaiserkult und den vom Staat erwarteten Kult für die Götter verweigerten, wenn er ebenso programmatisch wie enigmatisch formuliert: „Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, gewiß aber auch: nur ein Christ kann ein guter Atheist sein.“15 Verbunden sind beide – Atheismus und Christentum – in ihrer Zuversicht auf das kommende Reich. Die Vorstellung dieses Reiches der Freiheit beruft sich auf die subversive Predigt der Propheten, die Rebellion Hiobs und die Verkündigung Jesu, der auch den Einsatz für das Reich propagiert habe.

Mit seiner Exposition der Hoffnung als einer Philosophie des ,Noch-Nicht‘ hat Ernst Bloch (1885–1977) im Anschluss an Karl Marx die Aufmerksamkeit auf die mobilisierende Kraft der Real-Utopie gelenkt – eine Religion des Reiches Gottes.

Die Schrift . . . ist voll von ‚Rütteln an den Stäben dieser Todeswelt‘; mythologisch gewiß, doch voll später unterdrückter oder verfälschter Aufstände, Namenszüge zur Menschwertung, Menschwerdung – contra Pharao und eine Herrn-Hypostase, die Jeremiae Klagelieder unverhohlen ‚unseren Feind‘ nennen, die Jesaja ‚einen neuen Himmel, eine neue Erde‘ beschwören läßt, ‚damit man der vorigen nicht mehr gedenke‘. Und ist da nicht, vergebens verleugnet und offiziell umgewertet, gerade am Anfang die Sache mit der Schlange, mit dem rebellischunabgegoltenen Ruf ‚Eritis sicut deus, scientes bonum et malum‘, dem geschichtsbildenden, heraus aus dem Garten bloßer Tiere? Und steht nicht für den späteren Gott des Dornbuschs kein Präsens, sondern ein daraus rettendes Futurum, ein ‚ich werde sein, der ich sein werde‘ als Sprengung in der angeblichen Gottesvorstellung selber? Subversive, eschatologische Finalwelle genug, mit unternommenem Exodus, utopischem Reich am vollen Novum des Ufers. (24 f.) 15 Atheismus im Christentum, in: Gesamtausgabe, Bd. 14, Frankfurt/M. 1968, 24.

5. Ernst Bloch 197

Wenn Bloch als Philosoph so exponiert die Hoffnung herausstellt, will er mit seiner Philosophie die Religion in der Eigenschaft beerben, Träger von Wunschträumen zu sein, wie es in seinen Augen das Theater und die Musik, aber auch der Jahrmarkt und der Zirkus sind. In der Bibel sucht Bloch die Spuren der ‚Sklavensprache‘, in der sich die profanen und revolutionär orientierten utopischen Potenziale der Reichshoffnung finden, die dann von den Priestern sakramentalistisch entstellt und ins Jenseits eschatologisiert worden sei. Für Bloch impliziert die recht verstandene Reichshoffnung den Atheismus, der Gott als ens perfectissimum ersetzt durch einen vollziehbaren Messianismus als das Ziel menschlicher Geschichte. Auf diese Weise werde die Religion vom Aberglauben befreit, ohne dabei selbst der Kritik zum Opfer zu fallen. Die Religion schüttelt gleichsam ihre Ambivalenz ab, um wieder zum Träger einer geschichtsprägenden Hoffnung zu werden. Der bisher in Gott enthaltene Hoffnungsinhalt bleibt als Sinn des Lebens ohne den beigemengten Aberglauben erhalten. Bloch spricht von der „Wohnlichkeit im Dasein“, die das Wunschbild aller Religionen ausmache. Sie gehen damit deutlich über Moralität und Orientierung hinaus, indem sie eine die Empirie transzendierende Utopie bereithalten. Wunschbild der Religion bleibt Wohnlichkeit im Geheimnis des Daseins, als einem mit dem Menschen vermittelten und seinem tiefsten Wunsch, bis zur Wunsch-Ruhe, zugeneigten. Und je weiter gerade das Subjekt mit seinen Religions-Stiftern ins Objekt-Mysterium eines als höchstes Außen oder höchstes Oben gedachten Gottes eindringt und es überwältigt, desto mächtiger wird Mensch in Erdhimmel oder Himmelserde mit Ehrfurcht der Tiefe und Unendlichkeit geladen. Der wachsenden Humanisierung der Religion entspricht so keinerlei Entspannung ihrer Schauer, sondern konträr: das Humanum gewinnt nun das Mysterium eines Göttlichen, eines Vergottbaren hinzu und gewinnt es als Zukunftsbildung des Reichs, aber als des rechten. . . . Mehr: die das Humanum einbeziehende und mit ihm kulminierende Ehrfurcht braucht noch das im Sterndienst einmal besonders hoch erfahrene, an der Größe der Natur erfahrene Numinosum als Korrektiv, um die religiöse Gegenständlichkeit seiner selbst zu bewahren, das ist eben, um vom Menschen nicht groß und nicht geheimnisvoll genug zu denken.16

Es ist die anthropologische Abzweckung des besonders im Gottesmotiv bewahrten Geheimnisses, die Bloch nun gleichsam aus der geschichtlichen Präsentation herauszulösen und zu bewahren versucht, um sich zugleich entschlossen von den nicht mehr zu vermittelnden Formen zu verabschieden, in denen sie überliefert sind. Dabei liegt ihm daran, den auch für das Motiv des Reiches konstitutiven utopischen Überschuss zu bewahren, damit dieses nicht einfach in einem empiristischen Futurismus verkommt. Die Abgrenzung zum Positivismus bestimmt die eine Seite des von Bloch geforderten Atheismus, und die andere Seite wendet sich gegen den Aberglauben, der im Grunde auch nur eine Spielart des Positivismus darstelle. Der religiöse Reichsbegriff bleibt das entscheidende Bestimmungsmoment seines Atheis16 Das Prinzip Hoffnung [1938–1947], Kap. 38– 55, in: Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt/M. 1959, 1408 f.

198 § 5 Die Ambivalenz der Religion

mus, so wie der Atheismus umgekehrt die Vorstellung des Reiches vom Aberglauben freihält. Die religiöse Reichsintention als solche involviert Atheismus, endlich begriffenen. Sofern dieser ja nicht nur den Aberglauben vertreibt, um an dessen Stelle ein ebenso dürftiges Negativum zu setzen, wie der Aberglaube ein windiges Positivum war. Sondern sofern Atheismus das unter Gott, das heißt unter einem Ens pefectissimum Gedachte besetzt aus dem Anfang und aus dem Prozeß der Welt entfernt und es statt eines Faktums zu dem bestimmt, was es einzig sein kann: zum höchsten utopischen Problem, zu dem des Endes. Die Stelle, die in den einzelnen Religionen durch das unter Gott Gedachte besetzt, durch das zu Gott Hypostasierte scheinreal ausgefüllt worden ist, ist nach Wegfall ihrer scheinrealen Ausfüllung nicht selber weggefallen. Denn sie erhält sich allemal als Projektionsort an der Spitze utopisch-radikaler Intention; und das metaphysische Korrelat zu dieser Projektion bleibt das Verborgene, das noch UndefiniertIndefinitive, das real Mögliche im Geheimnis-Sinn. Die durch den ehemaligen Gott bezeichnete Stelle ist so nicht selber ein Nichts; das wäre sie erst, wenn Atheismus Nihilismus wäre, und zwar nicht bloß einer der theoretischen Hoffnungslosigkeit, sondern der universal-materiellen Vernichtung jedes möglichen Ziel- und Vollkommenheitsinhalts. (1412)

Gerade im recht verstandenen Atheismus bleibt das Reich „messianischer FrontRaum auch ohne allen Theismus“ (1413). Die religiöse Utopie – Bloch spricht offensiv vom Reich Gottes – kommt erst wirklich zu sich selbst, wenn sie sich von dem abergläubischen Verhältnis zu einem Gott als einer eigenen Wesenheit verabschiedet hat. Religion ist entweder Aberglaube oder „unbedingteste Utopie, Utopie des Unbedingten“ (1413). Ähnlich wie Schopenhauer (% § 5,2) verweist auch Bloch auf die fernöstlichen Religionen, die ohne die Hypostase Gott auskommen. Und es klingt schließlich unüberhörbar nach Feuerbach (% § 4,2.4), wenn es heißt: „Die Geschichte des Bewußtseins der Menschen von Gott ist so keineswegs die Geschichte des Bewußtseins Gottes von sich selbst, wohl aber des jeweils höchst-möglichen Front-Inhalts der in ihrem Vorwärts, ihrem Oben, ihrer Tiefe offenen Existenz.“ (1414) Die eigentliche auf das Reich hin treibende Kraft der Religion ist das Messianische, das Bloch als das entscheidende menschliche Verwirklichungspotenzial ansieht und damit grundsätzlich von allen Gottesvorstellungen unterscheidet, die ihrem Wesen nach nicht mehr als tatsächlich kraftlose Versprechungen seien. Allerdings darf im Blick auf das Reich Gottes das, was durch das Messianische vor Augen gestellt wird, in keinem Sinne hinter dem zurückbleiben, was in der Gottesvorstellung als Versprechen vor Augen gestellt wurde. Eben das macht den religiösen Charakter des von Bloch avisierten Messianismus aus. Es ist nicht ganz frei von einem etwas schwärmerisch klingenden Ton, wenn Bloch hervorhebt: Der Messianismus ist das Salz der Erde – und des Himmels dazu; damit nicht nur die Erde, sondern auch der intendierte Himmel nicht dumm werde. Was das Numinose versprach, das will das Messianische halten: sein Humanum und die ihm adäquate Welt sind nicht nur das Ungewohnte, gar Unbanale durchaus, sondern die ferne Küste im Frühlicht. Und es war ein langer Weg, bis die Stifter sich selbst, mit der menschlichen Latenz, in den Namen ihres Gottes begeben haben. Bis die Geschichte der Gottesvorstellungen vom Fetisch zum Stern, zum Exodus-

6. Karl Jaspers 199

licht, zum Reichsgeist durchlaufen worden ist und abgelaufen ist. Bis der Glaube von den Projizierungen eines göttlichen Dunkels und himmlischen Throns zum Inkognito und zum Verweile-doch in die Nähe gekommen ist oder kommen wird. Alle Religion war Wunschwesen, mehr bemengt als irgendwo mit Aberglaube und Illusionen, aber sie war kein zersplittertes oder begrenztes Wunschwesen, sondern totales, und keine völlig nichtige Illusion, sondern versucherische, mit einer Vollendung im Sinn, die nicht ist. . . . Der unter Gott gedachte und ersehnte Inhalt ist der vorhandenen Wirklichkeit so überlegen, daß er, trotz aller RealitätsHypostasen, wachsend ein utopisches Ideal darstellt, das von seinem Nicht-Sein nicht widerlegt wird. Ein Noch-Nicht-Sein, wie es die Realitätsart konkreter Ideale bezeichnet, ist zwar nie und nimmer ein Noch-Nicht-Sein Gottes; die Welt ist keine Maschine zur Erzeugung solch oberster Person, als eines gasförmigen Wirbeltiers, wie Häckel sie mit Recht bezeichnet hat. . . . Atheismus, der weiß, was das heißt, geht nicht, in kärglicher Imitation der Stifter, zur Gottmacherei zurück, wohl aber geht er, mit ein für allemal weggefallener Gott-Hypostase, zu dem unbedingten und totalen Hoffnungsinhalt, der unter dem Namen Gottes so wechselnd experimentiert worden ist. Experimentiert mit einer Unmenge von Aberglaube, Illusion, Unwissenheit, wie allbekannt, mit einer Hypostase der undurchschauten Gesellschafts- und Naturmächte zu jenseitigem Schicksal. Aber es waren doch ebenso hochbedürftige Menschen, die in Protestation gegen dies Schicksal es magisch-mythisch wenden oder zum Guten beschwören wollten; – so ist die religiöse Phantasie keinesfalls in toto durch die erlangte Entzauberung des Weltbildes zu erledigen, sondern einzig durch einen spezifischen philosophischen Begriff, der dem letzthinnigen Intentionsinhalt dieser Phantasie gerecht wird. (1415 f.) &

D. Horster, Ernst Bloch: Eine Einführung, Wiesbaden 2005 A. Jäger, Reich ohne Gott. Zur Eschatologie E. Blochs, Zürich 1969

6. Karl Jaspers Anders als die radikalen Existenzialisten (% § Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers 4,5), auf die er zunächst durchaus einen gewis(1883–1969) will mit seinem philosophischen Glauben den für die recht sen Einfluss ausgeübt hat, stößt Karl Jaspers in verstandene Transzendenz zu erhebenden der Fraglichkeit der menschlichen Existenz nicht Anspruch zurückgewinnen und weist auf das Absurde (% Camus; § 4,5.1) oder die fadeshalb alles Offenbarungswissen als talistische Verurteilung zu einer Freiheit, die den Anmaßung ab. Menschen gerade darin adelt, dass er seines Scheiterns gewahr wird, sondern auf das unbestimmbare Geheimnis der Transzendenz. Es ist gerade in seiner Unbestimmbarkeit zu wahren, sodass Jaspers auch als Philosoph von einem Glauben spricht. Aber dieser Glaube unterscheidet sich von der überkommenen christlichen Variante darin, dass er im besten Fall in Chiffren (Jaspers spricht von Chiffern) zu reden vermag, durch die der Mensch erst in das ‚Selbstsein‘ des je besonderen menschlichen Lebens versetzt wird. Wie die Gegenstände zum denkenden Bewußtsein, verhält sich die Transzendenz zur Existenz. Die Vorstellungen, Bilder, Gedanken im Medium des Bewußtseins überhaupt, in denen ich als mögliche Existenz eine Sprache der Transzendenz höre, nennen wir Chiffern der Transzendenz. –

200 § 5 Die Ambivalenz der Religion Was Erscheinung ist, wird in Begriffen beschrieben und gedacht. Was ich eigentlich bin und sein kann als ich selbst, wird durch Signa getroffen. Was eigentliche Wirklichkeit und nur für die Existenz erfahrbar ist, wird in Chiffern gegenwärtig. . . . Die Aufeinanderfolge der drei: Phänomene, Signa, Chiffern ist derart, daß das je Folgende auf das Frühere als Mittel des Verständnisses angewiesen ist. Daher ist von uns im Sprechen gefordert, die Leitfäden zu benutzen, ohne die keine Sprache der Chiffern wirklich wird, so die Phänomene für die Signa und Chiffern, so die Signa der Existenzerhellung für die Beziehung zur Transzendenz. Aber auch im Ineinander der drei ist die Trennung des Sinns nicht zu vergessen. Sonst geraten wir in existentielle Konfusion von Wissen (der Phänomene), von Existenzerhellung (durch Signa), von Beschwören der Transzendenz (durch Chiffern).17

Jaspers entwirft seine existenzialistische Religionsphilosophie in klarer Grenzziehung zur christlichen Theologie. Sein kritischer Glaube soll den Offenbarungsglauben des Christentums beerben. Wie schon bei Schopenhauer und dann auf ganz andere Weise bei Ernst Bloch entzündet sich Distanzierung gegenüber der überkommenen Religion am Gottesglauben. Jaspers lehnt Gott jedoch nicht grundsätzlich ab, wehrt sich aber gegen alle Gottesvorstellungen. Philosophischer Glaube und Offenbarungsglaube, beide sprechen von Gott. Der philosophische Glaube weiß nicht von Gott, sondern hört nur die Sprache der Chiffern. Gott selber ist ihm eine Chiffer. Der Offenbarungsglaube meint die Handlungen Gottes im Sichoffenbaren zum Heil des Menschen zu kennen; Gott wirkt hinein in die Welt als ein besonderes Geschehen, sich bindend an Ort und Zeit. Der philosophische Glaube macht mit der biblischen Forderung Ernst: du sollst dir kein Bildnis und Gleichnis machen, und weiß, was er tut, wenn er im Hören und Entfalten der Chiffern die Forderung nicht erfüllt. (196)

An die Stelle des personalen Gottes tritt bei Jaspers das seinem Wesen nach unbestimmbare Geheimnis der Transzendenz. Wenn Jaspers davon spricht, dass sich die Wirklichkeit dieser Transzendenz in Chiffren artikuliere, so setzt er sich damit deutlich von den Dogmen in der christlichen Tradition ab. In seinem Leben stößt der Mensch auf Grenzsituationen, die sich nicht vernünftig fassen lassen und so dem Menschen seine Begrenztheit aufzeigen. In diesen Grenzsituationen (Tod, Leiden, Schuld) sieht Jaspers den Menschen vor der Transzendenz stehen, die der menschlichen Existenz erst ihre Tiefe gibt, die sich allerdings niemals wirklich ausloten lässt. Allerdings gibt die existenzielle Erfahrung der übermächtigen Transzendenz als Jenseits hinter allen Gegenständen, Begriffen und Ideen dem menschlichen Leben erst sein spezifisches Selbstsein. Die Chiffren der Transzendenz geben aller Undeutbarkeit zum Trotz der Transzendenz eine immanente Sprache in der jeweiligen konkreten Gegenwart. In ihr artikuliert sich die Transzendenz in der Gestalt eines philosophischen Glaubens als Bestimmungsmoment der von ihr betroffenen Existenz. Jaspers erhebt den Vorwurf, dass der christliche Glaube im Unterschied zum philosophischen Glauben sich allzu sicher in der Transzendenz bewege und damit den Anschein erwecke, als ließe sich wissen, was sich von dort aus über den Menschen 17 Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 21963, 157.

6. Karl Jaspers 201

und die Welt aussagen lasse. Schließlich sei die Kunde von der Transzendenz in der dogmatischen Tradition der Theologie zu einem System wissbarer Begriffe erstarrt, das nun zum Gegenstand des Glaubens erhoben worden sei. Damit sei aber die Grenze des Vernünftigen bei Weitem überschritten, denn diese ist per definitionem vor der Transzendenz gezogen, wenn dem Begriff noch etwas Sinnvolles zugemessen wird. Der philosophische Glaube gibt sich nun deutlich bescheidener und nimmt dabei für sich in Anspruch, den spezifischen Charakter der Transzendenz zu wahren. Der Offenbarungsglaube wird von Jaspers verworfen, weil er ihn für eine „Verletzung der Gottheit“ (197) hält. Es geht im strengen Sinne um keine Realität, für die eine bedingungslose Autorität in Anspruch genommen werden kann. Die Kritik von Jaspers ist entschieden keine Kritik an Gott, „sondern Kritik an den Instanzen in der Welt, die die Vollmacht in Anspruch nehmen, im Namen Gottes zu sprechen.“ (480 f.) Alles, was hier behauptet und festgelegt wird, kann seinem Wesen nach nicht mehr sein als ein menschliches Produkt, dem gegenüber niemand Gehorsam verlangen kann. Jaspers stellt die schwebende Sprache der Transzendenz als Deutungsoption eines möglichen Sinns den behaupteten Gottesrealitäten und dem ihnen zu zollenden Gehorsam gegenüber. Der verborgene Gott wird gegen den vermeintlich offenbaren gestellt. Wir müssen aussprechen, was für uns gilt: – negativ: es gibt keine direkte Realität Gottes in der Welt, das heißt keinen Gott, der in der Welt durch eine ihn vertretende Instanz von Amt, Wort, Sakrament spräche, dem Gehorsam durch Gehorsam gegen dieser Ämter zu leisten wäre –, positiv: Gott hat uns geschaffen zur Freiheit und Vernunft, in denen wir uns geschenkt werden, in beiden verantwortlich vor einer Instanz, die wir in uns selbst finden als das, was unendlich mehr ist als wir selbst und indirekt spricht. (481)

Jaspers beruft sich auf die biblischen Schriften – jedenfalls in ihren Höhepunkten –, wenn er die philosophische Zurückhaltung gegen die bis in den Aberglauben hineinreichenden theologischen Verleiblichungen Gottes verteidigt. Die Behauptung der Menschwerdung Gottes sei im Grunde eine Gotteslästerung, als welche sie auch von Jesus selbst angesehen worden wäre (483). Erst wenn in der Kirche die Verkündigung den Charakter von Offenbarungsrealität, Dogma und Bekenntnis abstreift, das heißt, wenn sie selbst zur Beschwörung der Chiffern würde, dann würde der Widerstreit zwischen Theologie und Philosophie verschwinden. Das aber ist eine Verwandlung, die heute in allen Kirchen utopisch aussieht und in der Tat vielleicht das aufheben würde, ohne das eine Kirche nicht sein kann: die geschichtliche Vollmacht selber als Element des Glaubens. Die Frage wäre, ob die Sprache der Chiffern den Ernst der Existenz nicht schwächen, sondern steigern könnte, und ob die Vollmacht als selber geschichtliche Chiffer und nicht als Anspruch der Allgemeingültigkeit für alle Menschen ihre Tragkraft zu behaupten vermöchte. (528) &

H. Saner, Karl Jaspers. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 122005 W. Schüssler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995

202 § 5 Die Ambivalenz der Religion

7. Karl Löwith Das Engagement von Karl Löwith richtet sich weniger gegen die Religion als vielmehr auf die vollkommene Emanzipation der Philosophie von der Theologie und ihrem religiösen Hintergrund. Da sich die Religion selbst disqualifiziert hat, verdient sie auch keine weitere Aufmerksamkeit mehr; in diesem Sinne ließe sich Löwith auch mit guten Gründen unter die Religionskritiker einreihen. Von Franz Overbeck übernimmt er die Unterscheidung eines ursprünglich lebendigen Christentums von dem sich dann in der Geschichte präsentierenden, das sich kaum tatsächlich als solches ausweisen lässt. In dieser Unterscheidung zeigt sich, dass die Abneigung der Religion gegenüber keinen prinzipiellen Charakter hat, sondern besonders von ihrer modernen Erscheinungsweise genährt wird. Die Art und Weise, in der Löwith seine Religionskritik vorträgt, lässt mehr indirekt als direkt eine alternative Vorstellung einer sich selbst recht verstehenden Religion erkennen; allerdings sollte man mit solchen Rekonstruktionen stets sehr zurückhaltend sein, weil sie schnell in die Gefahr einer unangemessenen Vereinnahmung geraten, der insbesondere die Apologeten gerne erliegen. Löwith macht auf ein Dilemma aufmerksam, das sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte zwischen Theologie und Philosophie in zunehmender Deutlichkeit eingestellt habe: Die kritische Abgrenzung der Philosophie von der Theologie, die sich insbesondere am Gottesglaubens festgemacht hat, hat im Laufe der Zeit ihren Gegenstand verloren.

Der von den Nazis als Jude verfolgte Philosoph Karl Löwith (1897–1973) verweist mehr auf die noch zu wenig realisierte Unhaltbarkeit überkommener Zuständigkeiten von Philosophie und Theologie, als dass er sich in der Lage sieht, bereits neue Zuweisungen vorzunehmen.

Der nachchristliche Atheismus bemißt sich an seinem Gegenüber, am Offenbarungsglauben, und wenn er an diesem keinen echten Gegner mehr hat, dann fällt auch er in sich selbst zusammen. Andererseits verliert auch die christliche Apologie an Boden, wenn sie nicht mehr einen Gegner hat, an den sie sich wenden könnte. Paulus sprach als bekehrter Jude zu unbekehrten Juden und Heiden; Origenes als philosophisch gebildeter Christ zu philosophisch gebildeten Heiden; Augustin als ein die Wahrheit suchender Zweifler zu römischen Skeptikern und christlichen Häretikern; Thomas als ein an Aristoteles geschulter Denker zu arabischen Aristotelikern; Luther als Reformator zu scholastisch geschulten Theologen und unmittelbar zu Laien; Pascal als Skeptiker und Gläubiger zu skeptischen Weltleuten; Kierkegaard als ein an Hegel geschulter christlicher Autor zu Hegelianern, die das Christentum philosophisch begriffen zu haben meinten, und zu einer verweltlichten Christenheit, die nicht mehr wußte, was Christsein heißt. Es fragt sich, in welcher Sprache eine heutige Apologie sprechen müßte, um wirksam und verständlich zu sein.18

18 Atheismus als philosophisches Problem, in: Moderner Atheismus und Moral, hg. v. d. Ar-

beitsgemeinschaft Weltgespräch (Weltgespräch 5), Freiburg 1968, 9–21, 12.

7. Karl Löwith 203

Indem die Theologie selbst ihre offenbarungstheologische Basis zur Disposition gestellt hat, bietet sie der Philosophie kein tatsächliches Gegenüber mehr, sodass der philosophische Atheismus ins Leere greift, was sich in der Philosophie aber erst zum Teil herumgesprochen hat. Die Theologie hat sich dem allgemeinen Bewusstsein angepasst, das heute geprägt ist von den Naturwissenschaften und der historischen Denkweise. Naturwissenschaft und Historie prägen die Präsentation des Stoffes für das, was Menschen heute glauben und worauf sie meinen, sich verlassen zu können. D.h. faktisch, dass sich der Mensch konsequent auf sich selbst und seine Möglichkeiten beschränkt. Diese Mentalität hat auch längst Einzug gehalten in die Theologie, die sich auch vor allem in historischen Rekonstruktionen ergeht. Im Zuge seiner Liberalisierung hat das Christentum es weithin aufgegeben, sich gegenüber dem Atheismus zu verteidigen, zumal es sich längst die aufklärerische Maxime der Toleranz zu eigen gemacht hat. Das werde vor allem indirekt in der verbreiteten Motivlosigkeit des deklamatorisch gewordenen Atheismus der Philosophie deutlich. Dieser Bodenlosigkeit der modernen christlichen Apologie entspricht die Motivlosigkeit eines Atheismus, der sich schon längst von seinem Gegenüber emanzipiert hat, nämlich zu dem, was sich Wissenschaft nennt. Was diese wissen will, bezieht sich auf Welt und Mensch, und sonst nichts. Denn an den Gott der Bibel kann man nur glauben; er läßt sich nicht wie die Dinge der Welt sehen und wissen. Der ‚wissenschaftliche Atheimus‘, in dem Nietzsche ein gesamteuropäisches Ereignis erkannte, impliziert als ein freigewordener Wille zum menschlichen Wissen den Unglauben an eine Gehorsam fordernde göttliche Offenbarung. (13)

Der Atheismus greift ins Leere, wenn sich Weltweisheit und Gottesgelehrsamkeit nicht mehr kritisch gegenüberstehen. Das inzwischen weithin säkularisierte „Christentum“ hat vor allem die Philosophie in Verlegenheit gebracht, die sich bisher von ihrem Gegenüber, der Religion und ihren Offenbarungsbehauptungen, ihre Aufgaben geben ließ. Löwith argwöhnt in die Richtung der zeitgenössischen Theologie und ihrer neuzeitlichen Geschichte, dass sie sich vornehmlich in Anpassungsanstrengungen zur Welt und Kultur ergehe, ohne überhaupt noch die prinzipielle Differenz von Glauben und Nachfolge Christi zu Wissenschaft und Weltanschauung recht zu berücksichtigen. Darin sieht er auch die faktische Wirkungslosigkeit des Christentums begründet, auf die vom Atheismus keineswegs grundlos ständig verwiesen werde. Doch indem sich die Theologie in ihrer apologetischen Existenz nun sogar mit dem Tod Gottes – das ist nicht nur eine Anspielung auf die in den 60er Jahren diskutierte Gott-ist-tot-Theologie (% § 7,4.2.2) – versöhnt zu haben scheint, hat sie sich völlig aufgegeben und dem Einspruch der philosophischen Opponenten Recht gegeben, der allerdings seinerseits gegenstandslos wird. Im Grunde sei dieser Endzustand bereits mit Hegel (% § 2,10.2) erreicht, der die Philosophie als Erbe der christlichen Tradition mit seiner spekulativen Versöhnung von Glauben und Wissen jeder kontrovers argumentierenden Apologie den Boden entzogen hat. Was jetzt ansteht, kann allein die konsequente Emanzipation der Philosophie von der Theologie sein, in welcher die Philosophie begreifen und realisieren muss, dass sie weder in der Theologie noch in der christlichen Tradition überhaupt ein bedeutungsvolles

204 § 5 Die Ambivalenz der Religion

Orientierungsmoment für ihre eigenen Fragestellungen finden kann. Erst jenseits des Atheismus wird man von einer wirklich freien Philosophie sprechen können. Im Blick auf das Christentum legt es sich unausgesprochen nahe, sich von der überkommenen Theologie zu trennen, weil diese nach Löwith genau das nicht vermag, was sie zu können beansprucht. Kann der Gott des ursprünglichen und lebendigen Glaubens, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der sich in Jesus Christus vermenschlicht hat, jemals ein Gott der theologischen Wissenschaft sein? Ist christliche Theologie ein mit der Nachfolge aus dem Glauben vereinbares Unternehmen? Diese Frage von F. Overbeck erhielt bis heute keine Antwort. Overbeck selbst kam als Historiker des ursprünglichen und vergehenden Christentums zu der Überzeugung, daß der ‚prähistorische Embryo‘ des ursprünglichen Christentums niemals eine historische Existenz gehabt habe, das man ‚Christentum‘ nennen könnte, und daß sich das Urchristentum nach zweitausend Jahren in der Geschichte der mit der Welt und ihrer Kultur verbundenen Kirche ausgelebt habe. . . . Wenn es heute so aussieht, als verstünden sich Welt und Christentum, wenigsten von seiten des letzteren, so nur deshalb, weil sich das Christentum, um sich in der säkularen Welt zu behaupten, selber aufgibt, indem es den ‚Tod Gottes‘ allzu verständnisvoll akzeptiert. (13 f.) &

A. H. Meyer, Die Frage des Menschen nach Gott und Welt inmitten seiner Geschichte im Werk Karl Löwiths, Würzburg 1977 W. Ries, Karl Löwith, Stuttgart 1992

8. Kritische Theorie Der Begriff „Kritische Theorie“ geht auf eine Schrift von Max Horkheimer aus dem Jahr 1937 zurück: Traditionelle und kritische Theorie. Es geht um einen neuen Blick auf die bürgerliche Gesellschaft und die Mechanismen ihres Funktionierens auf dem Fundament des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Wenn im Blick auf die Kritische Theorie auch von einer nachkopernikanischen Wissenschaft gesprochen wird, dann steht dabei eine Wissenschaft vor Augen, die nicht nur ihren immanenten Gesetzen Folge leistet, sondern sich auch ihrer gesellschaftlichen Einbindung und Verantwortung bewusst wird. Die Kritische Theorie versucht die gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen ebenso zu erfassen wie die zu ihnen gehörigen Ideologien, mit denen sie sich behaupten. Wird die Kritische Theorie der Philosophie zugeordnet, so könnte man sie als praktische Philosophie bzw. praktische Gesellschaftsphilosophie in ausdrücklicher Unterscheidung von der traditionellen theoretischen Philosophie bezeichnen (Horkheimer). Tatsächlich aber wird sie besser als eine komplexe Gesellschaftstheorie verstanden, in der eben auch soziologische und sozialpsychologische Aspekte eine essenzielle Bedeutung haben. Die Vertreter der Kritischen Theorie sind unter der Bezeichnung Frankfurter Schule bekannt. Im Blick auf die hier interessierende Thematik sind ihre Hauptvertreter Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno.

8. Kritische Theorie 205

Zu den Voraussetzungen der Kritischen Theorie gehört, dass das Kapitel der kategorischen Religionskritik als abgeschlossen gelten kann. Das hat auch eine faktische Seite: Die ‚Verblendungszusammenhänge‘ (Adorno), in denen sich die bürgerliche Gesellschaft bewegt und unbemerkt auf einen Abgrund zusteuert, werden längst nicht mehr von der Religion dirigiert, selbst dann nicht, wenn diese daran beteiligt sein mag. Das Wissen um die Ambivalenz der Religion erfordert einen differenzierteren Blick, zumal auch die Religion längst nicht mehr einfach von den sie repräsentierenden Großinstitutionen (den volkskirchlich organisierten Kirchen) definiert wird. Die zu registrierende Milde wäre jedoch missverstanden, wenn sie als ein Votum für die Religion bewertet wird. Eher zeigt sich, dass der Begriff der Religion, der sich im Grunde erst im 19. Jahrhundert für den allgemeinen Gebrauch durchgesetzt hat, zu unkonturiert ist, um zu klaren Unterscheidungen und Bestimmungen zu kommen. Es bleibt jeweils hinzusehen, was mit ihm bezeichnet und in welchem Zusammenhang er in Anspruch genommen wird. In der Regel ist man dann dazu genötigt, über den großflächigen Religionsbegriff hinauszugehen und die Aspekte genauer zu benennen, über die dann eine lohnende Auseinandersetzung stattfinden kann. Hier kommt zu Bewusstsein, was faktisch schon lange der Fall gewesen ist, nämlich dass es im Grunde selten um das Abstraktum der Religion, sondern vor allem um bestimmte mit der Religion verbundene Phänomene und Artikulationen gegangen ist, wie etwa den Offenbarungsglauben, das Gottesverständnis oder die Anthropologie. Indem auch Ideologien einen religiösen Charakter annehmen können, verliert die allgemeine Reklamation der Religion die nötige Klarheit. Um zu aussagekräftigen Beobachtungen kommen zu können, bedarf es mehr als einer Fokussierung auf die Religion. &

R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 62001

8.1 Max Horkheimer und Herbert Marcuse Die Kritik von Horkheimer gilt der „instrumen- Max Horkheimer (1895–1973) und Herbert tellen Vernunft“ und die Kritik von Marcuse Marcuse (1898–1979) unterscheiden in ihrer Kritik der Religion die ursprünglich in dem „eindimensionalen Menschen“ – um es einihr liegende utopische Dynamik von dem mal formelhaft mit Wendungen aus den Titeln deprimierenden Erscheinungsbild ihrer von Hauptschriften der beiden Vertreter der Krigeschichtlichen Wahrnehmung. tischen Theorie zu benennen. Der Gegenstand der Kritik ist nicht die Religion, sondern sie zielt auf die affirmativen Theorien, wie sie in besonderer Weise durch den Positivismus repräsentiert werden. Die Kritik wendet sich gegen die mechanisierte Eindimensionalität des bürgerlichen Lebens, dessen blauäugige Kurzsichtigkeit in hohem Maße für die Katastrophen des Jahrhunderts verantwortlich gemacht wird. In dem Maße, in dem sich die Religion – mit entgegengesetzten Mitteln wie der Positivismus – durch Metaphysik an der ge-

206 § 5 Die Ambivalenz der Religion

sellschaftlichen Affirmation der bestehenden Verhältnisse beteiligt, gilt ihr ebenfalls die Kritik. Der affirmative Charakter bezeichnet aber nicht das Wesen der Religion, sondern hat sich historisch unter bestimmten Bedingungen ausgeprägt, während etwa die Ursprünge des Christentums in eine andere Richtung gewiesen haben. Dieses Unterscheidungsmodell, das im Laufe der neuzeitlichen Diskussion immer wieder benutzt worden ist, ermöglicht eine Differenzierung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sodass die Kritik an der Wirklichkeit nicht automatisch auch den Anspruch treffen muss. Zwar hat sich das institutionelle Christentum an das herrschende Bürgertum angepasst, sodass die Kritik des Bürgertums auch seiner Religion gilt, aber der Religion wird eine mobilisierende und kritische Kraft eingeräumt, die von einzelnen Vertretern des Christentums auch ins Spiel gebracht wird, selbst wenn dies eher die Ausnahme darstellt. Die Religion lebt ebenso wie der materialistische Realist von einer utopischen Perspektive, welche die Kräfte für den Einsatz zur Durchsetzung gerechter Verhältnisse nährt. Der Gegensatz von Atheismus und Theismus ist nicht mehr aktuell. . . . Atheismus umfaßt höchst Verschiedenes, der Begriff Theismus dagegen ist bestimmt genug, um alle, die in seinem Namen andere hassen, zu Heuchlern zu stempeln. Wenn dieser ewige Gerechtigkeit zum Vorwand für das zeitliche Unrecht nimmt, ist er so schlecht wie jener, sofern er dem Gedanken an ein Anderes keinen Raum gewährt. In europäischer Geschichte jedenfalls ist Schreckliches und Gutes von beiden angerichtet worden, beide haben ihre Gewaltherren und ihre Märtyrer. Als Hoffnung bleibt die Arbeit daran, daß in der anbrechenden Weltperiode der Blöcke verwalteter Massen noch einige Menschen sich finden, die Widerstand leisten wie die Opfer der Geschichte, zu denen der Stifter des Christentums gehört.19

Darin sieht Horkheimer die Kraft des Gottesbegriffs, dass er die Vorstellung aufbewahrt, „daß es noch andere Maßstäbe gebe als diejenigen, welche Natur und Gesellschaft in ihrer Wirksamkeit zum Ausdruck bringen“.20 Doch das Christentum hat mehr und mehr Gott mit dem irdischen Geschehen in Einklang gebracht und ihm auf diese Weise den Einspruch verboten. Indem das Christentum zur Stütze des Staates geworden ist, hat es jegliche Widerstandkraft eingebüßt. Der Kampf gegen das Elend und das Engagement für eine bessere Welt „haben ihr religiöses Gewand abgeworfen“, während sich die Kirchen mit der Macht arrangiert haben. Die Kirche erklärt sich für die Innerlichkeit und der Staat für das Äußerliche zuständig – eine verheerende Arbeitsteilung, die sich gegenseitig in die Hände spielt. „Der bloße geistliche Widerstand ist ein Rad im Getriebe des totalen Staats.“ (375 f.) Wenn Herbert Marcuse behauptet, dass in Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen zum ersten Mal die spezifischen ideologischen Elemente des bürgerlichen Freiheitsbegriffs beisammen seien, dann zielt er auf die Zuweisung der Freiheit auf „den ‚innerlichen Menschen‘ bei gleichzeitiger Unterwerfung des ‚äu19 M. Horkheimer, Theismus – Atheismus [1963], in: ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. v. A. Schmidt, Frankfurt/M. 1985, 216–228, 228.

20 M. Horkheimer, Gedanke zur Religion [1935], in: Kritische Theorie, Bd. 1, hg. v. A. Schmidt, Frankfurt/M. 21968, 374–376, 374.

8. Kritische Theorie 207

ßerlichen Menschen‘ unter das System der weltlichen Obrigkeiten“.21 Die Simultanität von ‚Herr‘ und ‚Knecht‘ eröffnet die Legitimation von unanfechtbaren Autoritätsstrukturen, wie sie für die bürgerliche Mentalität dann charakteristisch werden. Hier sieht Marcuse die Grundlage für die spezifisch bürgerliche Doppelmoral, die zwischen Person und Amt unterscheidet und unter Berufung auf die innere Freiheit und Gleichheit die tatsächliche Unfreiheit und Ungleichheit rechtfertigt. Für Marcuse hat der Begriff Religion grundsätzlich auch einen bewahrenswerten Klang, der allerdings höchst gefährdet ist. Zwar stimmt er der Religionskritik Freuds zu und kann in der verfassten Religion nichts Bewahrenswertes entdecken, aber in der Substanz des Christentums sieht er eine gegen die Knechtung des Menschen gerichtete Befreiungsbotschaft. Die gegenwärtig zu registrierende ‚eindimensionale‘ Gesellschaft werde dagegen mehr oder weniger oppositionslos von technischen Apparaten beherrscht, sodass sich jeder Pessimismus leicht begründen ließe. Weder die Wissenschaft noch die verfasste Religion können dem deformierten Menschen noch hoffnungsvolle Perspektiven eröffnen. Beide haben sich im Grunde mit der Entfremdung abgefunden und geben sich damit zufrieden, sie ein wenig erträglicher zu machen. Der Wissenschaftsoptimismus, der sich bei Freud noch fand (% § 4,4.1), ist bei Marcuse vollkommen verflogen. Die Wissenschaft ist in ihrer perspektivlosen Manie gleichsam ein strategisches Bündnis mit der Religion eingegangen, von dem aber außer weiterer Zerstörung nichts zu erwarten stehe. Die Funktion der Wissenschaft und der Religion hat sich verändert – und so auch ihre wechselseitige Beziehung zueinander. Innerhalb der totalen Mobilisierung von Mensch und Natur, die unsere Zeit auszeichnet, ist die Wissenschaft zu einem der destruktivsten Instrumente geworden – zerstörerisch gegenüber jener Freiheit, die sie einst versprach. Während dies Versprechen sich in eine Utopie auflöste, wird der Begriff ‚wissenschaftlich‘ fast identisch mit der Aufkündigung der Vorstellung eines irdischen Paradieses. Die wissenschaftliche Haltung hat längst aufgehört, ein kämpferischer Gegner der Religion zu sein, die ebenfalls mit Erfolg ihre explosiven Elemente preisgegeben hat und häufig den Menschen an ein gutes Gewissen angesichts von Leid und Schuld gewöhnt hat. Im Haushalt der Kultur tendieren die Funktionen von Wissenschaft und Religion dahin, einander zu ergänzen; in ihrer augenblicklichen Haltung verleugnen sie beide die Hoffnungen, die sie einst erregten und lehren die Menschen, die Tatsachen in einer Welt der Entfremdung hinzunehmen. In diesem Sinne ist die Religion keine Illusion mehr und ihre akademische Forderung steht im Einklang mit der herrschenden positivistischen Tendenz.22

Wenn es zu grundlegenden Änderungen kommen soll, bedarf es eines ‚neuen Menschen‘ und einer ‚neuen Erde‘, d. h. es bedarf einer die Gegebenheiten transzendierenden Perspektive, durch welche die Zwangsläufigkeit des gegebenen Zustands in wirksamer Weise bestritten wird. &

H. Brunkhorst / G. Koch, Herbert Marcuse. Eine Einführung, Wiesbaden 2005

21 H. Marcuse, Studie über Autorität und Familie [1936], in: Schriften Bd. 3, Frankfurt/M. 1979, 85–185, 89.

22 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft [1955], in: Schriften Bd. 5, Frankfurt/M. 1979, 54–71, 67.

208 § 5 Die Ambivalenz der Religion W. Post, Kritische Theorie und metaphysischer Pessimismus, München 1971 R. Wiggershaus, Max Horkheimer zur Einführung, Hamburg 1998

8.2 Theodor Wiesengrund Adorno Nicht nur die Revolution frisst ihre eigenen Kinder, sondern auch die Aufklärung impliziert einen Rigorismus, der schließlich zurückschlägt und damit ihren Voraussetzungen den Boden entzieht. Die damit angedeutete Skepsis gegenüber der neuzeitlichen Entwicklung bildet den sich durchhaltenden Kontrapunkt, der in allen Werken Adornos mit unterschiedlicher Intensität zu vernehmen ist. Der aufklärerische Geist der Neuzeit hat sich längst gegen sich selbst gewandt. Die instrumentelle Vernunft verteidigt ihren durchgesetzten Herrschaftsanspruch vermittels des von ihr geprägten Begriffs, dem sie nach dem Gesetz der Identität die Natur unterworfen hat. Alles Besondere wird vom Allgemeinen umfasst und in gewisser Weise zum Verschwinden gebracht. Auf diese Weise hat sich die Vernunft von der Natur emanzipiert und geriert sich nun als ihre Beherrscherin. Inzwischen hat die gleichmacherische Dimension der Herrschaft den Erkenntnisanspruch der sich emanzipierenden Vernunft überlagert, sodass alles, was sich nicht ihrer strengen Begriffslogik unterwirft, zugunsten des unangetasteten Herrschaftsanspruchs der Vernunft unerkannt bleibt. Die auf diesem Weg zur Macht gelangten Naturwissenschaften haben dem Menschen nicht die erwartete Freiheit gebracht. Vielmehr steht das befreite Subjekt mehr und mehr in der Gefahr der Versklavung durch die von ihm geschaffenen Objekte. Die „vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen des triumphalen Unheils“.23 Der Fortschritt verzehrt den an ihn immer noch glaubenden verblendeten Menschen. Die Negative Dialektik – so der Titel eines der Hauptwerke Adornos (1966) – sprengt mit ihrem Hinweis auf die Nichtidentität den monomanen Vernunftanspruch der philosophischen Tradition, die den neuzeitlichen instrumentellen Geist ausgeprägt hat. Damit wendet sich Adorno – ebenso wie Horkheimer – vor allem gegen den Positivismus und den sogenannten kritischen Rationalismus (% § 4,2.7.4).

Als bedeutender Vertreter der Kritischen Theorie ist Theodor W. Adorno (1903– 1969) vor allem als ein Kritiker der neuzeitlichen Kultur aufgetreten, die er auf einen Geist fixiert sah, dessen selbstzerstörerisches Potenzial noch gar nicht zu Bewusstsein gekommen sei.

Das als vorwissenschaftlich Klassifizierte ist nicht einfach, was durch die von Popper urgierte selbstkritische Arbeit der Wissenschaft noch nicht hindurchgegangen ist oder sie vermeidet. Vielmehr fällt darunter auch alles an Rationalität und Erfahrung, was von den instrumentellen Bestimmungen der Vernunft ausgeschieden wird. Beide Momente sind unabdingbar ineinander. Wissenschaft, welche die vorwissenschaftlichen Impulse nicht verwandelnd in sich aufnimmt, verurteilt sich nicht weniger zur Gleichgültigkeit als die amateurhafte Unverbind23 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung [1947], in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt/M. 1981, 19.

8. Kritische Theorie 209

lichkeit. Im verrufenen Bereich des Vorwissenschaftlichen versammeln sich die Interessen, welche der Prozeß der Verwissenschaftlichung coupiert, und es sind nicht die unwesentlichen. . . . Je mehr Wissenschaft zu dem von Max Weber der Welt prophezeiten Gehäuse erstarrt, desto mehr wird das als vorwissenschaftlich Verfemte zum Refugium der Erkenntnis.24

Bei allem Verweisen auf die Negativität erscheint bei Adorno am Horizont auch ein schmaler Silberstreif einer unbenennbaren Utopie der Versöhnung, ein namenloser Messianismus, der ähnlich wie bei Ernst Bloch, wenn auch erheblich zurückhaltender, die lebensnotwendige Hoffnung des Menschen allem Augenschein zum Trotz wachhält. Dieser utopische Messianismus enthält Adornos Religionskritik, die er vornehmlich als Christentumskritik und hier als Offenbarungskritik vorträgt. Die Orientierungskrise nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Religion eine Renaissance beschert. Nicht die Überzeugungskraft von Offenbarung hat sich der Menschen bemächtigt, sondern das Defizit an verlässlicher Orientierung lässt nach etwas fest Vorgegebenem greifen. Die Apologetik versucht rational den Irrationalismus zu etablieren und neigt dabei zu einem „Obskurantismus, der viel bösartiger ist als alle beschränkte Orthodoxie von dazumal“.25 Man macht es sich gleichsam mit der Dialektik der Aufklärung ein wenig zu einfach, weil nicht recht erkannt wird, dass das zu Recht beklagte Zuviel an Rationalität tatsächlich ein Zuwenig darstellt, weil die Unvernunft der über die Vernunft verfügenden Machtkonstellationen nicht aufgegriffen wird. Die Vernunft wird gleichsam zu früh zum Opfer angeboten zugunsten der Befriedigung eines Bedürfnisses an Bindungen, wie sie von der Religion propagiert werden. Die Rede von der transzendentalen Obdachlosigkeit, die einmal die Not des Individuums in der individualistischen Gesellschaft aussprach, ist zur Ideologie geworden, zur Ausrede für den schlechten Kollektivismus, der sich, solange gerade kein autoritärer Staat zur Verfügung steht, auf andere Institutionen mit überpersonalem Anspruch stürzt. (612)

Auf diese Weise setzt sich das überkommene Missverhältnis zwischen gesellschaftlicher Macht und gesellschaftlicher Ohnmacht fort, und das Ich wird dazu angehalten, sich mit dem zu identifizieren, was es in der Ohnmacht festhält. Die Verteidigung der bestehenden fetischisierten Verhältnisse funktioniert mit der Inszenierung des Eingeständnisses, dass der Mensch zur Menschheit nicht fähig sei. Die Hinwendung zur Transzendenz ist nicht mehr als die Verdrängung der nicht tätig in Angriff genommenen Hoffnungslosigkeit. Die Angst sucht sich schlicht die kürzesten Wege, und das sind in der Regel alte Wege, die ihr noch irgendwie in Erinnerung sind. Über die seinerzeit aktuelle Krise hinaus bleibt grundsätzlich überaus bedenkenswert: 24 Th. W. Adorno, Einleitung in: ders. u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 31974, 27.

25 Stichworte. Kritische Modelle 2 [1957], in: Gesammelte Schriften Bd. 10/2, Frankfurt/M. 1977, 595–782, 610.

210 § 5 Die Ambivalenz der Religion Die Siege, welche die Offenbarungsreligion im Namen solcher Angst erficht, sind Pyrrhussiege. Wird Religion um eines andern als ihren eigenen Wahrheitsgehalts willen angenommen, so unterminiert sie sich. Daß darauf neuerdings die positiven Religionen so willig sich einlassen und womöglich mit anderen öffentlichen Institutionen wetteifern, bezeugt bloß die Verzweiflung, die latent ihrer eigenen Positivität innewohnt. (613)

Für die Religion wird es entscheidend darauf ankommen, dass der Glaube in essentiellem Kontakt zur Erkenntnis bleibt, wie es insbesondere in der großen Scholastik des Mittelalters zu finden sei. Da, wo die Vernunft in Misskredit gerät, disqualifiziert sich auch der Glaube. Hat aber einmal der Glaube die Übereinstimmung mit der Erkenntnis, oder wenigstens die fruchtbare Spannung zu ihr verloren, so büßt er die Verbindlichkeit, jenen Charakter der ‚Nötigung‘ ein, den Kant noch im Sittengesetz, als einer Säkularisierung der Glaubensautorität, zu retten sich anschickte. . . . Ist einmal die Religion nicht länger Volksreligion, nicht länger im Hegelschen Sinne substantiell, wofern sie das überhaupt je gewesen ist, so wird sie zu einem unverbindlich Ergriffenen, einer autoritären Weltanschauung, in der Zwang und Willkür sich verschränken. . . . Die Ausscheidung des objektiven Elements aus der Religion ist ihr nicht weniger verhängnisvoll als die Verdinglichung, die das Dogma, die Objektivität des Glaubens, starr und vernunftfeindlich dem Subjekt aufzwingen will. Das objektive Moment aber ist nicht länger zu behaupten, weil es selbst dem Maß von Objektivität, der Erkenntnis, sich zu stellen hätte, deren Anspruch es arrogant abfertigt. (613 f.)

Es ergibt sich schließlich eine Dilemmasituation, aus der sich die Offenbarungsreligion nicht entwinden kann. Einerseits kann die Religion ihren Sachgehalt nicht preisgeben, ohne sich ganz aufzugeben oder sich in bloßer Symbolik zu verflüchtigen, andererseits befindet sich ihr Sachgehalt in einem nicht einfach durch Umdeutung zu überwindenden prinzipiellen Widerspruch zu der veränderten globalisierten Welt. Weder funktioniert die Anpassung der Aussagen an die heute gegebenen Lebensverhältnisse und Bedingungszusammenhänge, noch können die veränderten Lebensverhältnisse und Bedingungszusammenhänge weiterhin mit den alten Forderungen erfasst und erreicht werden. Und auch das schlichte und zugleich ambitionierte ‚Nota bene‘ Kierkegaards bietet keinen wirklich begehbaren Ausweg: Würde man aber schlechterdings von all jenen konkreten, gesellschaftlich-historisch vermittelten Bestimmungen absehen und buchstäblich dem Kierkegaardschen Diktum gehorchen, das Christentum sei nichts anderes als ein NB, das Nota bene, daß einmal Gott Mensch geworden wäre, ohne daß jener Augenblick als solcher, nämlich als auch seinerseits konkret geschichtlicher, ins Bewußtsein träte, so zerginge im Namen paradoxer Reinheit die Offenbarungsreligion ins ganz Unbestimmte, in ein Nichts, das von ihrer Liquidation kaum sich unterscheiden ließe. Was mehr wäre als dies Nichts, führte sogleich zum Unlösbaren, und es wäre ein bloßer Trick des eingesperrten Bewußtseins, Unlösbarkeit selber, das Scheitern des endlichen Menschen, als religiöse Kategorie zu verklären, während sie die gegenwärtige Ohnmacht der religiösen Kategorien bezeugt. Darum sehe ich keine andere Möglichkeit als äußerste Askese jeglichem Offenbarungsglauben gegenüber, äußerste Treue zum Bilderverbot, weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle meinte. (616)

9. Víteˇzslav Gardavský 211 &

T. Koch / K.-M. Kodalle / H. Schweppenhäuser, Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung, Stuttgart 1973 Hartmut Scheible, Theodor W. Adorno mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1989

9. Víteˇzslav Gardavský So wie Tertullian bekennt, dass dem Glauben eiDer tschechische Philosoph Víteˇzslav ne Absurdität anhafte (Credo quia absurdum), so Gardavský (1923–1978) stand als neomarxistischer Sympathisant des Prager sekundiert der tschechische Philosoph Víteˇzslav Gardavský, dass auch der Unglaube nicht frei Frühlings zwischen den Fronten des Kalten Krieges und brachte mit seinem von Absurdität sei.26 Weil der Mensch noch differenzierenden Blick auf die Religion die nicht ganz lebendig ist, ist Gott als Inbegriff der politische Orthodoxie gegen sich auf. Hoffnungen des Menschen nicht ganz tot – beide Thesen gehören „wie die zwei Seiten einer Medaille“ (28) zusammen. In dem Maße, in dem die Frage aufgeworfen wird, ob sich die gesellschaftlichen Ideale des Marxismus jemals geschichtlich realisieren lassen, hält Gardavský das von der Gottesfrage angezeigte Problem dauerhaft für unumgänglich. Auch wenn sich der Marxist Gardavský als Atheist ganz und gar auf der Seite des Menschen weiß, so räumt er der Religion dennoch eine spezifische Potenzialität ein, deren Wahrnehmung der Menschheit zugute kommen kann. Es ist der prometheisch verstandene Kampf Jakobs mit Gott, wie er in Gen 32 erzählt wird, von dem er sich in besonderer Weise angesprochen wusste und den er als kennzeichnend für den nicht einfach nur angepassten modernen Menschen ansieht.27 Gardavský zählt wie Milan Machovec und Leszek Kolakowski zu den Hauptvertretern des seinerzeit geführten christlich-marxistischen Dialogs. Es bleibt nüchtern festzustellen, dass sich die Religion auf breiter Front in der Krise befindet, aber eben darin kann auch die Chance einer neuen Konzentration auf die ihr eignende kritische Kraft liegen. Die Unterscheidung der Religion als Ausdruck des menschlichen Elends von der Religion als Protest gegen das Elend (% Marx § 4,3.3) eröffnet einen differenzierten Umgang mit der Religion, der die in der Religion verborgenen menschlichen Bedürfnisse, Interessen und Hoffnungen in den Vordergrund stellt. Die Gottesidee wird als ein Moment des Kampfes um menschliche Selbstverwirklichung solange wirksam bleiben, wie die Politik mit der Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht an ihr Ziel gekommen ist. „Es ist nahezu gewiss, daß wir noch lange unter gesellschaftlichen Bedingungen leben werden, die der Religion Nahrung geben.“28 26 Vgl. Gott ist nicht ganz tot. Ein Marxist über Religion und Atheismus, München 168, 17. 27 Vgl. dazu sein Theaterstück Ich, Jakob, hg. v. M. Augustin, Essen 1987.

28 Gott ist nicht ganz tot, 188.

212 § 5 Die Ambivalenz der Religion

Gardavský beschreibt verschiedene Varianten des Atheismus, denen er unterschiedliche Beziehungen zur Religion attestiert. Der von der Laisierung des Lebens geprägte ideenlose praktische Atheist verhält sich der Religion gegenüber indifferent, verliert sich aber in seiner Ohnmacht möglicherweise in das Betäubungsmittel der pseudoreligiösen Manie des Sportfans. In ihrer extremisierten Gestalt sieht Gardavský die Sportfans und die ihren Eifer nährenden Clubs beispielhaft als „kryptoreligiöse Sekten“ an, in deren fanatischem und aggressivem Verhalten zum Konkurrenten sich offenbart, was von der feigen Subjektivität zu erwarten wäre, wenn sie Zugang zur Macht hätte. Faktisch aber artikuliert sich in dieser Hingabe ein uneingestandener Hunger, der für die industriellen Gesellschaften charakteristisch ist. Dieser Hunger ist in den industriell entwickelten Gesellschaften, die auf einer hohen Stufe des Verbrauchs stehen, immer verdeckt vorhanden. Solange man ihn äußerlich stillen kann, indem man sich Gegenstände aneignet, kommt sein wahres Wesen nicht immer zum Vorschein: nämlich die Sehnsucht nach etwas, das dem Menschen die Möglichkeit gäbe, über sich hinauszugreifen, sich voller, vollkommener zu verwirklichen. Statt dessen scheint es ihm, daß die Gegenstände ihm den Wert vermitteln, den er nicht hat. Ein gottesfürchtiger Mensch schreibt Gott eine übernatürliche Macht und Vollkommenheit zu; der pseudoreligiöse Mensch, der schon längst nicht mehr an Gott glaubt, oder niemals an ihn geglaubt hat, tut das gleiche mit den Dingen und erwartet von ihnen Hilfe in seinem Streben nach gesellschaftlichem Prestige. Er verwandelt sie in Fetische. Mehr zu haben bedeutet ihm, mehr zu sein. (208 f.)

Der konformistische Atheist sieht in der Missachtung der Religion ein politisches Erfordernis, aus dem er einen Teil seiner Selbstachtung bezieht, ohne aber deshalb ein bewusstes Verhältnis zum Atheismus zu unterhalten. Prinzipielle Widersacher der Religion sind dagegen im Antiklerikalismus und im Antitheismus anzutreffen, die aber vor allem aus dem umfangreichen abschreckenden Material der Geschichte schöpfen, ohne allerdings kritisch zu prüfen, ob die Religion ihrem Wesen nach fortschrittsfeindlich ist. Sie blenden alles aus, was in ihre Wertung nicht hineinpasst, und geben sich mit den „dürftigen philosophischen Grundlagen“ des Rationalismus zufrieden (vgl. 217 f.). Der abstrakt humanistische Atheist unterzieht sich dagegen der Mühe, die aus welchen Gründen auch immer verabschiedete Religion durch ein eigenes geistiges Gefüge zu ersetzen, das der Religion gegenüber einen gewissen Respekt wahrt, auch wenn er ihre Grundlagen als illusorisch betrachtet. Der marxistische Atheist schließlich wird den Erscheinungsformen der Religion zwar ebenfalls kritisch gegenübertreten, aber gleichzeitig überall dort seine Kritik zurückstellen, wo die Religion – Gardavský hat dabei vor allem das Christentum vor Augen – sich an der Lösung der die Menschheit derzeitig bedrohenden Probleme beteiligt, oder pointierter gesagt, ist der marxistische Atheist überzeugt, daß der Christ, je radikaler er seine eigene Sache vertritt, umso näher an den Sozialismus herankommen kann. Die Kritik des Christentums und der christlichen Kirche, die der marxistische Atheist vornimmt, ist demnach eine besondere Form klassenbewußter Kri-

9. Víteˇzslav Gardavský 213

tik: er wendet sich gegen die Religionen, insoweit sie irgendein partikulares Klasseninteresse als gemeinsames, allgemein verbindliches, universales durchsetzen wollen. Er verficht aber auch keineswegs ein in sich abgeschlossenes Interesse der Arbeiterklasse: denn deren besonderes Interesse war und ist immer, daß sie für sich den Ehrentitel der Menschheit in Anspruch nehmen könne und auf diese Weise der im Verlauf der Geschichte entstandene gesellschaftliche Bruch zwischen den Klassen vernarbe. (217)

Der marxistische Atheismus sieht die in den Religionen liegende kritische Potenz, so wie er auch anerkennt, dass die Protagonisten der Religion zu kritischer Selbstreflexion in der Lage sind. Er sieht einerseits die Neigung zu illusionären Lösungen, weiß aber auch um die Möglichkeit, dass Gott . . . für den Christen nicht nur ein Prisma sein [muß], in dem sich für ihn die Welt abspiegelt, sondern er kann auch unmittelbar der Aufruf zu einer gesellschaftlich und menschlich verantwortbaren Entscheidung für eine Tat sein. Dann verliert die Gottesvorstellung ihren traumhaften Charakter und ruft mit menschlicher Stimme das Handeln wach. (218)

Wenn Gardavský schließlich nach einer Metaphysik des marxistischen Atheismus fragt, versucht er dem menschlichen Bedürfnis nach umfassender Weltanschauung gerecht zu werden, ohne dabei auf irgendwelche illusionären Elemente zurückgreifen zu müssen. Die fiktionsfreie Metaphysik kommt ohne Spekulationen aus, wenn sie ihren Blick über die jeweiligen Gegebenheiten hinaus immer wieder den hinzugewonnenen Möglichkeiten anpasst. Diese vom Marxismus weithin vernachlässigte Frage nach der Zukunft der Zukunft gilt es um der langfristigen Perspektive willen aufzugreifen, damit es für das den Menschen abverlangte entbehrungsreiche Engagement eine tragfähige Begründung gibt. Der Kommunismus kann nicht als ein Ziel verherrlicht werden, dem es zustünde, alles vor ihm zu einem Mittel zu degradieren. Es stellt sich vielmehr die Frage „was und wer der Mensch ist, wem der Ehrentitel Mensch zukommt“ (227). Zwar wird sich jeder Mensch nüchtern eingestehen müssen, dass er ersetzbar ist, aber niemals darf eine Gesellschaft das Individuum für ersetzbar erklären; im Gegenteil ist Unersetzbarkeit des Einzelnen ihre nicht hintergehbare Voraussetzung. Gibt es ein Motiv für den Menschen, den Tod zu akzeptieren ohne dabei zugleich sein Menschsein aufzugeben? Mit welcher Kraft ist der Mensch dazu in der Lage, die eigene Endlichkeit zugunsten einer Hoffnung für die Menschheit zu akzeptieren? Es muss etwas Grundlegenderes als die Wissenschaft sein. – Nur mit verständlichem Zögern verweist Gardavský auf die Liebe als die alles tragende zwischenmenschliche Beziehung. In der vorliegenden Erwägung fassen wir sie als die unerläßliche existentielle Vorbedingung aller menschlichen Beziehungen auf: als den Kompensationsschlüssel, den die Subjektivität in Händen hält, wenn sie die gegenständlichen Beziehungen und ihre eigene Innenwelt zu einer Harmonie zusammenklingen lassen will; als das Schlüsselwort, welches die Arbeit zum Schöpfertum werden läßt und das Schöpfertum zur menschlichen Selbstverwirklichung, sowohl beim Einzelnen als auch bei einer geschichtlichen Bewegung. (234 f.)

214 § 5 Die Ambivalenz der Religion

10. Kurze Zwischenbilanz Zwar kann es als eine Gemeinsamkeit der betrachteten Positionen angesehen werden, dass sie von der Ambivalenz von Religion ausgehen und ihr zumindest potenziell auch dann eine gewisse Perspektive einräumen, wenn ihre jeweiligen Vertreter für sich selbst keine religiöse Orientierung reklamieren. Aber zugleich bleibt es erforderlich, im Blick auf die für die Religion eingeräumten Perspektiven weiter zu differenzieren. Die Frage, weshalb es – wenn auch möglicherweise nur für eine begrenzte Zeit – als sinnvoll angesehen wird, der Religion trotz ihrer offenkundigen geschichtlichen Mangelhaftigkeit einen näher zu bestimmenden Raum zu reservieren, wird sehr unterschiedlich beantwortet. Die Antwort hängt sowohl an dem jeweils vorausgesetzten Religionsverständnis als auch an der jeweils eingenommenen Blickrichtung auf das, was als die Wirklichkeit und die in ihr aktuell zu betätigenden Handlungsspielräume angesehen wird. Es handelt sich um höchst konditionierte Optionen, die mit größter Selbstverständlichkeit umweglos auf den funktionalen Charakter der Religion zugreifen und diesen in die jeweils eingenommene Weltsicht integrieren. Die theistischen Rückzugsstrategien der Aufklärung, die mit ihrer formalisierenden Tendenz sowohl eine emanzipatorische als auch eine apologetische Dimension hatten, haben im 19. Jahrhundert vollkommen ihren Reiz eingebüßt. An ihre Stelle sind inhaltliche Kondensate getreten, welche die Religion mit einer mehr oder weniger konkreten Erwartung konsultieren, die sich ohne ihre Unterstützung entweder nur mit zusätzlichen Schwierigkeiten oder eben gar nicht realisieren lässt. Insbesondere die einzugestehende Entfremdungssituation, die sich erst im Ausblick über sie hinaus relativiert, ruft die visionäre Kraft der Religion auf den Plan. Sie erschließt im Kontrast zum Ist-Zustand der konkreten Kritik an den bestehenden Verhältnissen einen Horizont, der nicht sofort vom empirischen Realismus so sehr gezügelt wird, dass in ihm wieder alle Motivationsimpulse erliegen. Es gehört auch noch zu den Gemeinsamkeiten der in diesem Kapitel versammelten Positionen, dass sie in unterschiedlich prägender Form zu einem Realismus ernüchtert sind, der sich von der Religion nun nicht einfach die Rettung verspricht – spätestens im 20. Jahrhundert haben systematisierte Gesamterklärungen jeden Kredit verloren –, wohl aber eine mobilisierende Motivierung bzw. bekräftigende Begleitung. Hier endet dann die Gemeinsamkeit, und es werden recht unterschiedliche Wege eingeschlagen, auf denen die jeweils wahrgenommene Entfremdung einer ihr entgegenzustellenden Bestimmung auf eine Weise zugeführt werden kann, die einerseits dem gerade gewonnenen Realitätssinn seine Orientierungskraft belässt und andererseits wirksam den Beharrungskräften ihre angemaßte Legitimität entzieht. Der besondere Realismus Schopenhauers bleibt weitgehend in einer negativen Abhängigkeit von der abgewiesenen Wirklichkeitsillusion. Sowohl seine Religionskritik als auch die ins Auge gefasste Religionsoption beziehen ihr Stehvermögen aus der Ernüchterung gegenüber der idealistischen Philosophie, die er für eine verklä-

10. Kurze Zwischenbilanz 215

rende Stilisierung hält. Sein Realismus fordert eine Ernüchterung des Menschen sich selbst gegenüber, indem er sich vor allem gegen den die Wirklichkeit verklärenden Optimismus der idealistischen Anthropologie wendet. Anstatt den Menschen mit immer neuen Weihen zu bedenken, gelte es seinem Willen im Eingeständnis des von ihm verursachten Elends entgegenzutreten und einem asketischen Weltverhältnis das Wort zu reden, welches den verdrängten Kern des Christentums ausmache, aber in einer nicht-theistischen Religion durchaus optimiert konventionalisiert werden könne. Jaspers geht es um die Anerkennung und zugleich um die Wahrung der Transzendenz, ohne welche der Mensch die Tiefe seiner Existenz verliere. Der Theologie wirft er vor, sich allzu selbstverständlich in der für den Menschen prinzipiell unzugänglichen Transzendenz zu bewegen. Es bleibt eine im besten Fall chiffrierte Wirklichkeit eines philosophischen Glaubens, die uns unter Abweisung aller Offenbarungsvorstellungen eine Bescheidenheit insbesondere im Blick auf alle Gottesspekulationen auferlegt, die sich gleichsam heilsam für das menschliche Selbstverhältnis sowie auch sein Wirklichkeitsverhältnis auswirkt. Damit ist der Horizont bezeichnet, in dem die Religion ihre spezifische Funktion haben kann. Bei Löwith geht es mehr um einen nüchternen Nachruf auf eine sich selbst auflösende Religion als um deren Kritik – gemeint ist die jüdisch-christliche Tradition. Allerdings mischt sich in diesen Nachruf auch verhalten die Klage ein, dass die rückhaltlose Anpassung der Religion an das moderne Selbstbewusstsein alle Angriffspunkte der Kritik aus ihrem Selbstverständnis ausgeräumt habe, sodass sie als Gesprächspartner für die ihrerseits inzwischen profillos gewordene Philosophie nun ausfällt, denn ihr deklamatorischer Atheismus geht längst ins Leere. Auch wenn Löwith mehr an der nun konsequent zu vollziehenden Befreiung der Philosophie gelegen ist als an der Analyse des Verlustes, der mit der Selbstauflösung der Theologie als dem kritischen Anwalt der Religion einhergeht, gibt er doch indirekt zu erkennen, dass die Preisgabe der Offenbarung vonseiten der Theologie die heute zu registrierende Wirkungslosigkeit des Christentums begründe. Es wird sich erst erweisen müssen, welche Auswirkungen der Verlust der Spannung von Glauben und Wissen tatsächlich mit sich bringt. Es ist der spezifische Realismus dieser Position, dass diese Frage offen bleibt. Die Soziologen Durkheim und Weber sind sich zwar einig in der Hervorhebung der unüberspringbaren Bedeutung der gesellschaftsprägenden Kraft der Religion, aber zugleich blicken sie in recht unterschiedliche Richtungen. Während Durkheim im Grunde eine ambitionierte Zivilreligion als essenzielles Ingrediens seiner Gesellschaftstheorie vor Augen steht, hebt Weber im Blick auf die jüdisch-christliche Tradition die Selbstsäkularisierungsdynamik der Religion hervor, der trotz allem zu verzeichnenden Gewinn in der Geschichte insofern eine auch zu beklagende Tendenz anhaftet, als mit der Verflüchtigung der Religion auch ein Sinnvakuum entstehen könnte, das dann möglicherweise die für die zu erwartenden gesellschaftlichen Herausforderungen benötigten Kräfte schwächen könnte.

216 § 5 Die Ambivalenz der Religion Für die Psychologie hätten in diesem Kapitel sowohl Carl Gustav Jung (1875–1961) als auch Viktor E. Frankl (1905–1997) angeführt werden können. Indem jedoch beide ihre Vorstellung von Religion nirgends tatsächlich klar bestimmen – was sich dann auch deutlich an der zumindest kontroversen, wenn nicht gar diffusen Wahrnehmung ihrer Perspektiven in der Diskussion zeigt –, ist es nicht möglich, ein auch nur einigermaßen verlässliches Profil zu rekonstruieren. Zweifellos spielen in ihren psychotherapeutischen Optionen religiöse Dimensionen eine durchaus wichtige Rolle, aber sie haben jenseits ihrer eklektischen psychologischen Verwendung keinen eigenen belastbaren systematischen Zusammenhang, was einzelne Stimmen in der Theologie allerdings nicht daran gehindert hat, sich von dieser Seite aus in besonderer Weise unterstützen zu lassen.

Wie schon die Aufklärung schließlich im Verweis auf das Gefühl die Grenzen der Vernunft in den Blick rückt (%Rousseau; § 2,7), so hebt auch die Aufklärung der Aufklärung in der kritischen Theorie (im weiteren Sinne) die Notwendigkeit einer die Vernunft orientierenden Perspektive hervor, die zwar nicht einfach mit der Religion gegeben ist, aber in ihrem Horizont entdeckt werden kann. Einerseits hat die Religionskritik unabweislich auf die Abgründe der Religion hingewiesen, und andererseits lässt die veräußerlichte Mechanisierung der religionsindifferenten bürgerlichen Gesellschaft keine zukunftsfähige Perspektive erkennen. Diese beiden Ernüchterungen lenken zumindest eine gewisse Sensibilität auf das kritische und mobilisierende Potenzial, das sich neben den Affirmationsneigungen ebenfalls in der Religion antreffen lässt und das es in seiner humanisierenden Kraft neu zu entdecken gilt.

§ 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion

1. Die funktionale Konzentration der Religion Die Verallgemeinerung der Religion brachte unweigerlich eine Distanz zu ihren konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen mit sich. Diese Distanz gehört zu den Voraussetzungen für die dann auch genutzte Möglichkeit, die Religion als solche in Frage zu stellen. Die damit eröffnete Religionskritik richtete sich gegen das Phänomen Religion in toto als ein dem aufgeklärten Menschen nicht mehr adäquates Instrumentarium für ein verheißungsvolles und belastbares Lebensmanagement im Horizont vernünftiger Orientierungs- und Entscheidungsoptionen. Es war der Eindruck bestimmend, dass sich die Religion unter den Bedingungen des nun endlich zu sich selbst gekommenen Menschen nicht weiter halten lasse; sie werde sich gleichsam von selbst erledigen, wenn erst einmal die ihr zugrunde liegenden Zusammenhänge nüchtern analysiert und durchschaut sein würden. Die Voraussetzungen dafür seien nun gegeben; es könne sich im Grunde nur um eine Frage der Zeit handeln. Die generalisierende Außenwahrnehmung hat unversehens zur Abkehr vom Betrachtungsgegenstand geführt bzw. zu seiner Verabschiedung, der dann nur noch das tatsächliche Verschwinden zu folgen hat, was mehr oder weniger gelassen abgewartet werden könne. Aus der distanzierten Wahrnehmung der Religion widerfährt ihr aber nicht nur Kritik. Dem strengen religionskritischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wurde im 20. Jahrhundert eine nicht weniger distanzierte Thematisierung der Religion zur Seite gestellt, in welcher der Religion die Wahrnehmung einer ganz bestimmten Aufgabe zugewiesen wird, die unbearbeitet bliebe, wenn es zu einer grundsätzlichen Abkehr von der Religion käme. Gewiss ist vieles an der Religion zu kritisieren, aber sie ist eben auch der Kritik würdig, um an deren Ende in einer verbesserten und tatsächlich wirksamen Gestalt fortwirken zu können und sogar zu sollen. Wenn es darum geht, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, so wird einerseits der Bedarf an Kritik anerkannt, ohne aber andererseits damit zugleich den Gegenstand der Kritik zu eliminieren. Diese Linie war bereits in § 5 bestimmend. In diesem Kapitel wird nun insofern über diese systematische Konstellation hinausgegangen, als hier Konzeptionen in Betracht gezogen werden, die der Religion nicht nur eine möglicherweise erst freizulegende kritische und lebensdienliche Potenz bescheinigen, sondern diese als unersetzlich einfordern. Es geht um eine spezifische Inanspruchnahme der Religion um einer bestimmten Funktion willen, die

218 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion

durch nichts anderes als eben Religion erfüllt werden kann. Die hier geäußerte Kritik ergeht ganz und gar zugunsten der Optimierung der jeweils der Religion zugemessenen Funktion. Es ist diese Funktion, um deren willen sich die Religion gleichsam neu aufzustellen habe, wenn sie auf die Dauer ihre Relevanz sichern und nicht von den gesellschaftlichen Veränderungen marginalisiert und schließlich ganz eliminiert werden will. Die Erkenntnis der kompensatorischen Funktion der Religion wird nicht einfach als Argument für ihre Destruktion genommen, um die Aufgaben der Religion nun auf eine nichtreligiöse Weise zu meistern. Im Gegenteil wird der spezifische Charakter ihrer Kompensationsmöglichkeiten bzw. Deutehorizonte zu einem entschlossenen Schutzargument für die Religion. Die Kritik der Religion wird in dezidierter Weise auf ihre Verteidigung in einer bestimmten Perspektive zugespitzt. Die Religion erscheint aller mit ihr verbundenen Problematik zum Trotz nicht nur als ein geeignetes Mittel, mit dem sich tatsächlich diese oder jene Zwecke erreichen lassen, sondern sie wird sogar als ein unersetzliches Mittel angesehen. Die Religion wird darin gewürdigt, einen bestimmten Dienst zu leisten bzw. eine sonst unausgefüllte oder gar unausfüllbare Funktion zu erbringen – nicht als eine vorläufig hinzunehmende Verlegenheit oder gar aus dem Interesse heraus, die Härten der Realität zu verschleiern, sondern als ein tatsächlich adäquates und somit ‚heilsam‘ wirkendes Instrumentarium. Für die Religion bedeutet dies freilich, dass sie diese ihre Funktion klar erkennt und sich entsprechend reorganisiert, indem sie sich aufgefordert sieht, all das zurückzustellen oder gar abzutun, was der jeweils von ihr erwarteten Funktion im Wege oder gar entgegensteht. Die hier ergehende Religionskritik gilt dem dekonzentrierten diffusen Charakter der Religion, die sich ihrer eigenen Funktion nicht ausreichend bewusst ist, und drängt auf eine funktionale Optimierung, damit sie den von ihr zu erbringenden Dienst nicht nur zufällig und beiläufig und somit ohne eine spezifische Aufmerksamkeit erbringt, sondern den zu Recht auf ihr liegenden Erwartungen auf eine angemessene Weise entspricht. Es geht um eine möglichst klare Benennung der Funktion der Religion, an der sich dann die entsprechenden Gestaltungsdirektiven der verantwortlichen Akteure orientieren können. Die Intention wäre allerdings missverstanden, wenn ihr unterstellt würde, dass es im Grunde um eine überhaupt erst zu schaffende neue Religion gehe, gleichsam um ein ganz und gar auf die erwartete Funktion hin ausgerichtetes synthetisches Produkt etwa in der Art, wie es von Feuerbach (% § 4,2.4) oder auch von Comte (% § 4,2.3) gleichsam als anthropologisch konzipierte Ersatzreligion anvisiert wurde. Ganz im Gegenteil komme es in der Religion gerade auf das nicht von Menschen Inszenierbare und ihre rationalitätsüberlegene Deutungspotenz an, die ihr als einem intentional zu inszenierenden Produkt niemals zuwachsen könnte. Insofern gehen die vorzustellenden Positionen von den überkommenen und gewachsenen Religionen aus, ohne die jeweilige Kontur ihres Traditionsprofils zu kommentieren; – Erich Fromm durchbricht allerdings diese Zurückhaltung. Die Kritik und die Optimierungsoption konzentrieren sich auf die geschichtliche Selbstpräsentation und die Entwicklungsrichtung, auf welche die Religionen setzen, um ihren Wirkungskreis

2. Die philosophische Verteidigung: Hermann Lübbe 219

und ihre Resonanzfähigkeit halten oder sogar steigern zu können. In milder Formulierung ließe sich sagen, dass es um eine Art Einmischung von außen geht in Fragen, die sich die Religionen ohnehin stellen, um sie auf wichtige Aspekte aufmerksam zu machen, denen sie von sich aus zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Zugespitzt ließe sich von einer funktionalen Intervention sprechen, die den Selbstreorganisationsprozessen der Religionen ihre geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorhält. Die drei Dimensionen der Religionskritik – philosophische, soziologische und psychologische Religionskritik – finden in dieser Variante ihre Entsprechungen, denen wir uns im Folgenden nur exemplarisch zuwenden wollen. Diese aus der Religionskritik neu hervorgegangenen Formen funktionaler Religionsbegründung unterstreichen das oben herausgehobene innere Verwandtschaftsverhältnis zwischen Religion als einem mehr oder weniger abstrakten Allgemeinphänomen der Religionskritik. Hier kommen, wenn man so will, in ganz besonderer Weise die beiden Varianten des Genitivs ‚Kritik der Religion‘ (% § 2)in einer allerdings entradikalisierten Gestalt zusammen.

2. Die philosophische Verteidigung: Hermann Lübbe Aus philosophischer Perspektive postuliert Hermann Lübbe die Notwendigkeit der Religion als unersetzliche Hilfestellung zur Kontingenzbewältigung. Die Religion verhilft den Menschen zu einem adäquaten Modus der Anerkennung der unausweichlichen Unverfügbarkeiten des Lebens.

Die Religion ist für den Philosophen Hermann Lübbe (*1926) ein probates Mittel zur Bewältigung von rational nicht zu bewältigenden Lebenskrisen.

Die radikale Religionskritik erklärt die Religion für ein Pseudokompensat von Lebensmängeln, die sich im Verlauf gesellschaftlich-politischer und intellektueller Emanzipationsprozesse, statt illusionär, schließlich real beheben lassen, so daß, mit dem Wegfall ihrer vormodernen, voraufgeklärten Nötigkeitsgründe die Religion selber verschwindet. . . . Der Realität religiösen Lebens bleibt man indessen näher, wenn man, statt dessen, von der umgekehrten These ausgeht, daß die Religion die kulturelle Form humaner Beziehung auf genau die Lebenstatsachen ist, auf die sich intellektuelle und politische Aufklärungs- oder Emanzipationsprogramme prinzipiell gar nicht beziehen können.1

Lübbe geht davon aus, dass sich das Gegenstandsfeld der Religion nicht mit den unbedingt zu wahrenden Perspektiven der Aufklärung reibt, sondern auf Lebensfragen verweist, die von der Aufklärung gar nicht berührt werden. Es ist bestimmt durch Lebenskrisen, die sich nicht einfach mit unserem Verstehen bearbeiten lassen oder 1 Religion nach der Aufklärung, Graz 1986, 144 f.

220 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion

durch Praxis aus der Welt geschafft werden können, sondern zu denen sich der Mensch auf eine andere Art ins Verhältnis setzen muss. Lübbe spricht hier von Kontingenzbewältigung als der spezifischen Funktion der Religion, die nicht einfach durch andere kulturelle oder gesellschaftliche Einrichtungen ersetzt und übernommen werden kann. Exponierte Bedeutung liegt auf der Bearbeitung der Daseinskontingenz, die sich weder über ein triviales Maß hinaus durch unsere Vernunft erhellen lässt, noch durch unser Handeln grundlegend verändert werden kann. Wir verdanken unser Dasein nicht einem Akt der Zustimmung zu ihm; es ist kein Diskursresultat, und zwar, was uns selbst betrifft, auch dann nicht, wenn wir ein Wunschkind sein sollten: Der einschlägige Wunsch war ja nicht unser eigener.2

Wenn Lübbe von Kontingenzbewältigung spricht, wird nicht in Aussicht gestellt, mit bestimmten Fragen und Herausforderungen so fertig zu werden, dass man sie als beherrschbar ansieht, sondern es geht um das Problem der Anerkennung und Akzeptanz anstelle von Leugnung und Verdrängung, einer „Anerkennung aus Erfahrung des Sinns, und zwar des handlungssinntranszendenten Sinns dieser Anerkennung.“ (79) Damit kommt Lübbes Verständnis von Religion in den Blick: Religion ist – das ist trivial – weder Technik noch Politik, nicht Wissenschaft und auch kein Weltbild, und sie ist auch nicht – und das ist weniger trivial – fortschrittsabhängig in die perfektionierten Gestalten unseres wirklichkeitsbeherrschenden Handelns und Wissens hinein transformierbar. Eben damit bleibt die Autonomie, die Eigengesetzlichkeit des technischen oder politischen Handelns seinerseits unberührt, das heißt, die Religion ist nichts, was uns lehrte, eine Technik gegen eine andere technologisch zu validieren oder einer wissenschaftlichen Hypothese einer anderen gegenüber den Vorzug einzuräumen. Nichtsdestoweniger ist ihre Zuständigkeit sektoral unbegrenzt; das Verhalten zum Unverfügbaren hat nicht sektorale, vielmehr integrale Bedeutung. Das läßt sich, einfach, auch folgendermaßen ausdrücken: Die Religion ist nicht für alles im Leben zuständig, aber fürs Ganze.3

Ganz unabhängig von ihrem jeweiligen Wahrheitsanspruch zeige sich hier eine Funktion der verschiedenen Religionen, „in der sie nicht durch irgendetwas anderes substituierbar“ (227) sind, auch wenn die einzelnen Religionen „als funktionsäquivalente Größen“ gegeneinander bzw. „gegen solches, was seinerseits religiösen Status hat“, austauschbar sind (242). Das heißt: „Jede Nicht-Religion ist eo ipso als Religionsersatz ungeeignet.“4 Lübbe ist mit seiner funktionalen Religionstheorie nicht am Selbstverständnis und dem jeweiligen Wahrheitsbewusstsein einer Religion interessiert, ebenso wenig wie er nun von außen zu sagen wagt, was die Religionen im Kontrast zu ihrem jeweiligen Selbstverständnis in Wahrheit repräsentieren. Es geht ihm vielmehr ausschließlich um die jeweilige kulturelle Funktion der Religion. Auch ist nicht intendiert, nun aufgrund der Einsichten in die funktionale Bedeutung der Religion gleichsam eine Idealreligion schaffen zu wollen, die dann allen an sie zu stellenden funktionalen An2 Philosophie nach der Aufklärung, Düsseldorf/ Wien 1980, 77.

3 Religion nach der Aufklärung, 171. 4 Aufklärung anlaßhalber, Gräfeling 2001, 121.

2. Die philosophische Verteidigung: Hermann Lübbe 221

sprüchen genügt. Keine erst zu kreierende Religion für die inzwischen von den verfassten Religionen enttäuschten Menschen steht vor Augen. Eine solche Religion könne nicht über die notwendige Materialität verfügen, an die man sich dann auch tatsächlich halten und die auch die Grundlage für eine eigene Religionspraxis darstellen könnte. Schließlich verteidigt die funktionale Religionstheorie aber auch keine Religion, geschweige denn, dass sie Mission betriebe. Sie mischt sich nicht in die kontroverstheologischen Debatten ein – jedenfalls ihrem Anspruch nach. Sie repräsentiert nichts anderes als eine Position im Kontext kontroverser Religionstheorien. Ihre Absicht ist, . . . die Religion auf diejenige Funktion zu beziehen, die erkennbar macht, wieso in der Erfüllung dieser Funktion nicht die Religion illusionär ist, vielmehr die Erwartung, daß diese Funktion sich über Leistungen nicht-religiöser Kultur eines Tages auflösen werde. . . . Für die Religion gibt es kein funktionales Äquivalent.5

Dabei ist es die Aufgabe der funktionalen Religionstheorie, so weit es möglich ist den Nachweis zu erbringen, dass sich die Religion durch nichts anderes ersetzen lässt. Die Wahrheitsproblematik der Religion ist keine philosophisch zu erörternde Frage, sondern gehört als Bekenntnisfrage zu dem konstitutionellen Selbstbewusstsein jeder einzelnen Religion. Es geht entschieden nicht um ‚Gott‘, sondern um den ‚Glauben an Gott‘. Um die Unwichtigkeit der Gottesfrage für die eingenommene Perspektive hervorzuheben, spricht Lübbe provokativ in diesem Zusammenhang von einem „Placebo-Argument“: Der Glaube an Gott ist nur so lange wirksam, wie tatsächlich an einen Gott geglaubt wird (vgl. 219). In aller Offenheit bekennt sich Lübbe in diesem Zusammenhang zu einer betrügerischen Attitüde, die ihrer heilsamen Wirkung wegen allerdings ihr Recht habe. Anders als der Priesterbetrugstheoretiker, der entlarvende Absichten hat, sind hiernach die Repräsentanten funktionalistischer Religionstheorie nicht Feinde der Religion. Sie sind vielmehr Freunde der Religion. Sie schätzen sie wegen ihrer funktional beschreibbaren Dienlichkeit – individuell und sozial, ja politisch. Aber nicht anders als der Priesterbetrugstheoretiker wissen sie das Funktionieren der Religion an die subjektive Bedingung der Unaufgeklärtheit über ihren Funktionsmechanismus gebunden – genau wie der Arzt die günstige Wirkung der in seiner Klinik verabreichten Placebos. Unter den zeitgenössischen Freunden der Religion sind die Repräsentanten der funktionalen Religionstheorie selbstlos-freundlich betrügerische Freunde. Ihr Betrug ist kein böser Betrug, vielmehr ein frommer Betrug. Aber Betrug ist er eben doch und daher, im Interesse des Glaubens der Gutgläubigen entlarvungsbedürftig. Dieser Entlarvung dient das zitierte Placebo-Argument. (220)

Der Religionstheoretiker handelt wie ein Arzt, der im Wissen um die psychologische und dann eben auch physiologische Wirkung ein garantiert nebenwirkungsfreies Placebo verordnet, das offenkundig sogar die Aufklärung über die Wirkstofflosigkeit des Medikaments überdauert. Die Religion als Placebo verändert nicht die Wirklichkeit, wohl aber unser Verhältnis zu ihr, und eben darauf kommt es an. 5 Religion nach der Aufklärung, 227 f.

222 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion

Wenn sich Lübbe ausdrücklich von der Wahrheitsfrage fernhält, schließt er nicht aus, dass sie sich möglicherweise auf einer anderen Ebene durchaus sinnvoll stellen ließe. Philosophisch kann es bestenfalls zu einer Einschätzung der „Lebensdienlichkeit“ der verschiedenen religiösen Orientierungen kommen, unter dem Kriterium, „ob sie uns . . . zu einem guten Leben tauglich mache oder nicht“ (251). Für Lübbe steht das Projekt Aufklärung auf dem Spiel, dass es zu verteidigen gelte. Wenn Lübbe „die Religion zu den Erhaltungsbedingungen aufgeklärter Kultur“ zählt, dann steht dahinter das Eingeständnis, dass unsere Wahrnehmung der wirklichen Lage und ihrer Prognose grundsätzlich defizitär bleibt. Dieses Defizit kann auch nach der Aufklärung nur durch die Gegebenheit einer Kulturreligion aufgefangen werden, da diese zu den Voraussetzungen der Aufklärung gehört (vgl. 281). So oder so ist ohne Religion und somit ohne stabile Kultur der Akzeptanz dessen, was unabwendbar ist, wie es ist, Aufklärung gar nicht dauerhaft lebbar, und zwar um so weniger, je prekärer unsere Lage angesichts dessen, was ist, sich darstellt, und je unübersehbarer wird, daß zu dem, was ist, orientierungskrisenträchtig auch dieses gehört zu wissen, daß man nicht zureichend weiß, was man wissen müßte, um die Lage verläßlich meistern zu können. (279)

Es drängt sich die hier nicht zu beantwortende Frage auf, ob die Religion bei Lübbe nicht vor allem ein Instrument zur Verteidigung der in die Bedrängnis geratenen Aufklärung darstellt; sein Eintreten für die Religion bedarf nicht der Aufklärung, wohl aber sein Eintreten für die Aufklärung der Religion. Im Blick auf den gesellschaftstheoretischen Hintergrund beruft sich Lübbe immer wieder auf Luhmann, dessen Konzept im folgenden Unterkapitel erörtert wird. &

M. Weeber, Hermann Lübbe, in: V. Drehsen u. a. (Hg.), Religionstheorie, 226–238

3. Die soziologische Verteidigung 3.1 Niklas Luhmann Niklas Luhmann stellt als Soziologe fest, dass die Religion ein unverzichtbares Funktionselement lebensfähiger Gesellschaften sei. Dabei versteht er unter Religion, ganz formal ausgedrückt, ein Instrumentarium zur Reduktion von Komplexität, das in einem gesellschaftlichen System die Funktion hat, „die unbestimmbare, weil nach außen (Umwelt) und nach innen (System) hin unabschließbare Welt in eine bestimmbare zu transformieren, in der System und Umwelt in Beziehung stehen können, die auf beiden Seiten Beliebigkeit der Veränderung ausschließen.“6

Der Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Niklas Luhmann (1927–1998) hält Religion für selbstsubstitutiv, d. h. sie kann nur durch Religion ersetzt werden. Sie gehört zu den Selbsterhaltungsbedingungen der systemtheoretisch beschriebenen Gesellschaft.

6 Funktion, 26.

3. Die soziologische Verteidigung 223

Diese sehr offene und formale Bestimmung von Religion trägt der Einsicht Rechnung, dass der Soziologe mit seiner Außenbetrachtung der Religion nur eine „Beobachtung zweiter Ordnung“ vornimmt; eine Definition der Religion aber kann nur das Resultat einer „Beobachtung ihrer Selbstbeobachtung“ sein, d. h. innerhalb des jeweils autopoietischen Systems vollzogen werden.7 Sobald jemand meint sagen zu können, was Religion ist und wie man Religiöses von Nichtreligiösem unterscheiden kann, kann im nächsten Augenblick jemand kommen und dieses Kriterium (etwa den Bezug auf den existierenden Gott) negieren und genau dafür religiöse Qualität in Anspruch nehmen. Denn was sonst soll es sein wenn nicht Religion, wenn jemand das negiert, was jemand für Religion hält? . . . Religion [scheint] zu jenen Sachverhalten zu gehören, sie sich selbst bezeichnen, sich selbst eine Form geben können. Aber das heißt dann auch, daß die Religion sich selber definiert und alles, was damit inkompatibel ist, ausschließt. Aber wie das, wenn es zum Beispiel um andere Religionen, um Heiden, um die civitas terrena, um das Böse geht? Selbstthematisierung ist nur mit Einschließen des Ausschließens, nur mit Hilfe des negativen Korrelats möglich. Das System ist autonom nur, wenn es mitkontrolliert, was es nicht ist. (14 f.) Alle Versuche, das ‚Wesen‘ der Religion ‚objektiv‘ (und sei es: phänomenologisch) zu bestimmen, können als gescheitert gelten. Sie sind jedenfalls in langen Debatten gründlich entmutigt worden. Es war nicht schwierig herauszufinden, daß Religionsdefinitionen immer schon einem religiösen Standpunkt verpflichtet sind, also die jeweils eigene Religion vertreten, obwohl es auch andere gibt. (320)

Daraus ist allerdings nicht der Schluss zu ziehen, das sich die Bedeutung des Funktionssystems, das von der Religion wahrgenommen wird, als Subsystem für die Weltgesellschaft nicht ausmachen ließe. Die vermutlich in den Religionen selbst liegende „Generalisierungsschranke“ nötigt allerdings zu dem Eingeständnis, dass über den religionsspezifischen Code der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz nicht hinausgegangen werden kann (vgl. 341 f.). Indem der Religion eine Deutungsfunktion zuwächst, bleibt sie genötigt Unterscheidungen vorzunehmen, sodass es ihr verwehrt bleibt, die Einheit des Ganzen zu benennen, denn jede Unterscheidung impliziert eine Grenzziehung und somit Abgrenzung. Die Leitunterscheidung der Religion zwischen Transzendenz und Immanenz markiert einerseits den Unbestimmtheitsüberschuss im Blick auf die Umwelt und bietet zugleich eine Überführung in Bestimmheit an. Sie ermöglicht Entscheidungen, die „im Prinzip unentscheidbar“ sind und deshalb auch strittig bleiben. Luhmann sieht die Religion mit Paradoxien beschäftigt, die nicht vom Wissen aufgelöst werden können und in diesem Sinne sich dem Wissen gleichsam unbedingt aufdrängen (vgl. 132), wobei es bemerkenswert ist, dass die Paradoxien nicht einfach selbstevident sind, sondern durch Beobachtung erzeugt und im Medium ‚Sinn‘ wieder aufgelöst werden (vgl. 137). Auch die jeweils herangezogenen Kontingenzformeln (Gott oder Nirwana etc.) differieren, kommen aber darin überein, dass sie einen Zugang zur Transzendenz in Aussicht stellen (vgl. 150), ohne dabei selbst tat7 Vgl. Gesellschaft, 15.

224 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion

sächlich kommunikativ durchdringbar zu sein (vgl. 168) – „Stopsignale des Mysteriums“, „Neugierverbote“ (185). Der etwa den Theologien zugemessenen Konsistenzkontrolle der Selbstbeschreibung einer Religion bleiben deutliche Grenzen gesetzt, weil alles, was zu streng gefasst wird, unversehens eine andere Seite produziert, die Widerspruch einlegt. Das folgenreichste Beispiel für diese Spannung findet man in der katholischen Theologie des Mittelalters und den Versuchen ihrer kirchenpolitischen Kontrolle mit organisatorischen und rechtlichen Mitteln. Gerade der Versuch, Theologie konsistent zu systematisieren, sei es auf eher kognitivistischen oder eher voluntaristischen, eher wesensformenrealistischen oder eher individualistischen und nominalistischen Grundlagen, arbeitete die Bruchstellen aus (zum Beispiel im Verständnis der Sakramente oder im Themenkreis von Heilsgewißheit und Gnade), die schließlich zur Kirchenspaltung führten. Über Glaubensartikel kann man sich streiten, sobald sie aufgestellt sind, und der Streit bleibt nicht auf Einzelpunkte beschränkt, wenn die Dogmatik auf begriffliche Grundlagen und Zusammenhänge hin durchdacht ist. Sobald es zu Glaubensspaltungen kommt, wiederholt sich das Konsistenz/Inkonsistenz-Problem innerhalb der Einheiten, die man bezeichnenderweise jetzt ‚Konfessionen‘ nennt. Und mehr noch als das gesamtkatholische Mittelalter sind die Konfessionen gehalten, ihre Glaubensregeln und theologischen Doktrinen zu systematisieren, um sich dadurch gegeneinander abzugrenzen. Mehr als zuvor wird die Selbstbeschreibung damit zu einem Operationsmodus, der die Einheit des Systems sichern soll und sie dadurch gefährdet. (350 f.)

Im Laufe der Geschichte hat sich die Wahrnehmung der Deutefunktion der Religion geändert. Für frühe Gesellschaftsformationen ist die Funktion der Religion erfüllt, wenn es gelingt, Unsicherheit in mehrdeutigen Lagen zu absorbieren und Unbestimmtes in Bestimmtes zu übersetzen. Mythen behandeln Grenzphänomene, indem sie in Berichtsform erzählen, wie Typendifferenzierungen entstanden sind – Differenzen wie Himmel und Erde, Lebendes und Nichtlebendes, Götter und Menschen, Gutes und Böses. Vorstellungen über Kontaktmeidung, Befleckung und Reinigung, Ritualisierung von Übergängen setzen ebenfalls an strukturell nicht eindeutig definierten Grenzfällen an. Das Ambivalente fasziniert als gefährlich und mächtig, und seine religiöse Qualität ist zunächst nicht auf Moral festgelegt. Furcht dominiert die Mittel der Symbolisierung und Bestimmung. Deshalb ist Bestimmtheit in sich selbst schon ein Gewinn und wird alternativenlos akzeptiert . . .8

Inzwischen hat sich die gesellschaftliche Wirklichkeit radikal verändert, was nicht spurlos an der Religion vorübergegangen ist. Die stratifizierten (monogesetzlichen) Gesellschaftssysteme haben sich zu segmentierten (parallelstrukturierten) Gesellschaftssystemen fortentwickelt, die sich besonders dadurch auszeichnen, dass das System-Umweltverhältnis nicht nur das Gegenüber zu anderen Gesellschaftssystemen oder zur Natur beschreibt, sondern zu einem systemimmanenten Problem einer komplexen Gesellschaftsstruktur geworden ist. Die Entwicklung weist nun darüber hinaus zu einer pluriformen, funktional diversifizierten Gesellschaft – jedes System bezieht sich gemäß seiner eigenen Logik auf alle anderen. Verschiedene Systeme 8 Funktion, 37.

3. Die soziologische Verteidigung 225

agieren innerhalb eines Systems, sodass die Reibflächen nicht nur nach außen entstehen, sondern auch ein Problem innerhalb eines Gesellschaftssystems darstellen. Luhmann spricht von Schichtungsgegensätzen, die mit Interessenkollisionen verbunden sind. Die Religion erscheint als ein Subsystem neben Wissenschaft, Wirtschaft und Politik (Militär). Dadurch wird die Religion vor eine neue Situation gestellt, weil sie dazu herausgefordert ist, kommunikationsfähig mit den verschiedenen sie umgebenden Systemen werden zu müssen, unter denen sie selbst auch nur ein Teilsystem darstellt. Sie hat sowohl für eine Abbildung der Umwelt im Systeminneren zu sorgen wie auch die Reaktionen der Umwelt, die ihrerseits aus Systemen besteht, zu imaginieren, so dass es möglich wird, die verschiedenen System-UmweltPerspektiven miteinander in einer belastbaren Beziehung zu halten. Das erklärt für Luhmann auch die gegenwärtig zu beobachtende Pluralisierung innerhalb der Religion, die eben nicht – wie vor allem Durkheim (% § 5,3) hervorgehoben hat – als ein Integral der Gesellschaft anzusehen sei, sondern lediglich ihren Sinnbedarf bearbeitet und dies eben mit einer pluralisierenden Tendenz mit durchaus ambivalenten Implikationen. Religion ist „nicht mehr eine notwendige Vermittlungsinstanz . . ., die die Beziehung aller gesellschaftlichen Aktivitäten zu einem Gesamtsinn herstellt. Die alte These, Religion diene der gesellschaftlichen Integration, dürfte sich deshalb kaum halten lassen. Eher könnte, zumindest für volkskirchliche Formen der Religion, das Gegenteil gelten: daß die Religion selbst auf ein hohes Maß gesellschaftlicher Integration angewiesen ist. Alle Funktionssysteme finden in ihrer Funktion selbst den Sinn ihres Beitrages zur Autopoiesis der Gesellschaft. Sie benötigen dafür keine Religion. Sie entwickeln für ihre eigenen Formenparadoxien eigene Entfaltungen und können sich damit eigenen Zeitbedingtheiten anpassen, die nicht mehr gesamtgesellschaftlich synchronisiert werden müssen.“9

Ebenso weist Luhmann die Säkularisierungsthese ab, weil sie gleichsam negativ versuche, die Religionsfrage an das Problem der gesellschaftlichen Ordnung zu binden (vgl. 281). Unter Religionssoziologen gilt heute als ausgemacht, daß man zwar von ‚Entkirchlichung‘ oder ‚De-Institutionalisierung‘ oder auch vom Rückgang des organisierten Zugriffs auf religiöses Verhalten sprechen könnte, nicht aber von einem Bedeutungsverlust des Religiösen schlechthin. Die richtungsbestimmte These der Säkularisierung wird daher durch die viel offenere, aber auch gänzlich unbestimmte Frage nach dem religiösen Wandel in unserer Zeit ersetzt. Das ermöglicht theoriefreie empirische Forschungen, die aber, bisher jedenfalls, keine klaren, deutungsfähigen Konturen gewinnen. (279)

So bleibt auch Vorsicht geboten, wenn die Situation, in der sich etwa die Kirchen befinden, als ‚Krise‘ beschrieben wird, denn es lässt sich keineswegs absehen, dass es in absehbarer Zukunft eine Wende zum ‚Besseren‘ gibt. Die Religion und ihre kirchliche Dogmatik mögen sich auf die eine oder andere Weise, durch dieses oder jenes ‚script‘, auf diese Situation einlassen. Aber darin liegt nicht die Beendigung 9 Gesellschaft, 125; vgl. 304.

226 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion einer ‚Krise‘, sondern allenfalls der Versuch der Religion, ihren Möglichkeiten und ihren Beschränkungen als Funktionssystem der modernen Gesellschaft gerecht zu werden. Die Beschreibung als ‚Krise‘ enthält eine unnötige Dramatisierung und suggeriert, daß es auf Entscheidungen ankäme. Gerade Entscheidungen (etwa über Fragen der Dogmatik oder der Kirchenorganisation), die als solche kommuniziert werden, können jedoch nicht helfen. Eher wird man annehmen müssen, daß es um Möglichkeiten einer evolutionären Anpassung an neue Lagen geht. (318)

Für die Religion sieht Luhmann keine funktionalen Äquivalente, sodass sie als selbstsubstitutiv verstanden wird, d. h. sie kann stets nur durch Religion ersetzt werden. Natürlich gibt es die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Idolatrie oder Ideologie ganz diesseits der Linie zu bewegen oder mit Hilfe von Drogen ganz jenseits der Linie. Aber dabei wird die Einheit der Differenz nicht thematisiert. . . . Sie zeigen, zu welchen Möglichkeiten man greifen kann, wenn das Bezugsproblem der Religion nicht mehr gestellt wird. Sie setzen Funktion und Phänomen der Religion gleichsam in Seitenbeleuchtung. Die Schwierigkeit, diese Mechanismen für Religion zu substituieren, läßt sich an der Gegenläufigkeit ihres Ansatzes ablesen, der entweder Unbestimmbarkeit oder Bestimmbarkeit, entweder Transzendenz oder Immanenz negiert. Man müßte, um die Funktionsstelle der Religion zu erreichen, Marxismus und Rauschsucht kombinieren können, aber Versuche dieser Art sind bisher nicht sehr überzeugend ausgefallen.10

Es wäre unangemessen, diese Argumentation Luhmanns als ein Plädoyer für die verfassten Religionen zu verstehen, die allzu gern von ihrer Unersetzbarkeit ausgehen würden. Vielmehr öffnet sich hier ein kaum abgrenzbares Spektrum an Möglichkeiten für Realisierungsformen von Religion, die in recht unterschiedlicher Intensität von den unvermeidlichen Ambivalenzen der Religion belastet sein können. Die gesteigerten Chancen der Religion sieht Luhmann in ihrem Rückzug von ‚social control‘ und der Legitimierung politischer Macht begründet. Sie weisen eher in die Richtung von Privatisierung und Pluralisierung als in die einer volkskirchlichen Gestalt. Die Frage des Religionswechsels hat die Dramatik der Konversion verloren und „folgt eher dem Typus einer (geglückten oder mißglückten) Karriere, wie sie ohnehin für die Ordnung der Beziehungen von Individuum und Gesellschaft heute typisch ist.“11 Ob der Organisationstyp ‚Kirche‘ eine besondere Verheißung hat, wird abzuwarten sein. Luhmann hält sich trotz der aufgezeigten Tendenzen mit allen Prognosen weitgehend zurück. Michael Welker führt dagegen Gründe dafür an, weshalb er bei Luhmann eine Perspektive in die Richtung einer „Transformation von Religion in Zivilreligion“ ausmacht.12

10 Funktion, 46 f. 11 Gesellschaft, 297. 12 Vgl. M. Welker, Die neue ‚Aufhebung der Religion‘ in Luhmanns Systemtheorie, in: Ders.

(Hg.), Theologie und funktionale Systemtheorie. Luhmanns Religionssoziologie in theologischer Diskussion (stw 495), Frankfurt/M. 1985, 93– 119, 104 f.

3. Die soziologische Verteidigung 227 &

A. Kött, Systemtheorie und Religion. Mit einer Religionstypologie im Anschluß an Niklas Luhmann, Würzburg 2003 D. Pollack, Religiöse Chiffrierung und soziologische Aufklärung. Die Religionstheorie Niklas Luhmanns im Rahmen ihrer systemtheoretischen Voraussetzungen, Frankfurt/M. 1988 L. Seibert, Niklas Luhmanns Theorie der Religion, Nordhausen 2004

3.2 Peter Ludwig Berger Eine weniger systematische und auch in ihrem Der Wissens- und Religionssoziologe Peter Anspruch mildere Verteidigung der Religion finL. Berger (*1929) erwartet infolge der det sich bei dem in Wien geborenen amerikani- Pluralisierung der modernen Gesellschaften einen produktiven Umschwung von der schen Religionssoziologen Peter L. Berger. Sie Säkularisierungsdebatte zum Dialog der setzt weniger auf die Unersetzbarkeit der ReligiReligionen, der für die Religionen nicht on, sondern plädiert für eine bestimmte Gestalt, folgenlos bleiben wird. in der sie allein in der zunehmenden Pluralisierung und Globalisierung unserer Wirklichkeit ihre wichtige Funktion erfolgreich wahrnehmen können wird. Wenn Berger alle Religionen vor den häretischen Imperativ gestellt sieht, bindet er den Erfolg der Religion eng an die Fähigkeit, sich auf die unausweichliche Gegebenheit einzustellen, dass die Menschen unter den Bedingungen der Pluralisierung ihre religiöse Identität nicht mehr einfach aus der Tradition übernehmen, sondern sich durch eigene Entscheidungen erwerben, die auf Grund der Möglichkeit von Wahl zustande kommen (gr. hairesis = Wahl, Auswahl). Wenn Berger vom Zwang zur Häresie spricht, meint er vor allem die an die Religionen ergehende Nötigung, sich konsequent dem Faktum des Komparativs und der Wahl zu stellen. Es ist die tiefe liberale Einfärbung Bergers, die sich bereits in seinem Verständnis von Religion als dem Raum zur Begegnung mit der Transzendenz widerspiegelt, wie er es prägnant in seinem viel beachteten Buch Auf den Spuren der Engel zugespitzt hat. Dieses Buch steht im Kontext der Säkularisierungsdebatte der 60-er Jahre und versucht mit der Religion eine die Gegensätze entspannende Dimension in die Debatte zu werfen. Eine Wiederentdeckung der Transzendenz bedeutet vor allem, daß wir gegenüber der Wirklichkeit Offenheit der Wahrnehmung zurückgewinnen müssen. Dabei werden wir nicht etwa nur, was die vom Existentialismus beeinflußten Theologen bei weitem überschätzen, der Tragödie begegnen. Vielleicht ist es viel wichtiger, daß wir uns der Banalität, dem Trivialen stellen. Offen zu sein für die Zeichen der Transzendenz bedeutet nämlich auch, die Erfahrung wieder in angemessenen Verhältnissen wahrzunehmen. Erlösung ist auch Entlastung, bis zur Komik. Wir lachen wieder und spielen aus neugewonnener Fülle. . . . Der größte moralische Segen der Religion ist, daß man, auf sie gestützt, die Zeit, in der man lebt, aus einer Perspektive sehen kann, die den Tag und die Stunde transzendiert und ihnen die richtige Größenordnung zumißt. Das gibt Mut und ist zugleich auch ein Schutz gegen Fanatismus. . . . Hinzu kommt die Einsicht, daß das Jeweilige nicht das Einundalles unseres

228 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion Daseins ist. Seinen Forderungen gewachsen zu sein und dabei nicht die Fähigkeit zum Lachen, die Freude am Spiel zu verlieren, das ist wahrlich ein moralischer Gewinn.13

Etwa zehn Jahre später diagnostiziert Berger eine Verschiebung der Krise von der Säkularität zum Pluralismus. Während der prämoderne Mensch schicksalhaft in seine Welt gestellt war, befindet sich der moderne Mensch in einer pluralisierten Welt vor die Notwendigkeit der Entscheidung gestellt, was zugleich zu einer weitreichenden Subjektivierung (und einem Verlust an Objektivität) führt. Die Wahlmöglichkeiten erzwingen gegenüber dem Traditionalismus eine gesteigerte Reflexivität, in der sich der Mensch sowohl mit der Komplexität als auch der Fragwürdigkeit der Alternativen auseinanderzusetzen hat. In prämodernen Situationen leben die Menschen in einer Welt religiöser Sicherheit, die gelegentlich durch häretische Abweichungen in Mitleidenschaft gezogen wird. Im Gegensatz dazu bildet die moderne Situation eine Welt der Unsicherheit, die gelegentlich durch mehr oder weniger brüchige Konstruktionen religiöser Affirmation abgewehrt wird. . . . Für den prämodernen Menschen stellt die Häresie eine Möglichkeit dar, für gewöhnlich allerdings eine fernab gelegene; für den modernen Menschen wird die Häresie typischerweise zur Notwendigkeit.14

Dem Resultat der Wahl haftet unabwischbar der Makel von Konstruiertheit an, was auf die Dauer nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Religionen bleiben kann. Als Treffpunkt der verschiedenen Religionen schlägt Berger die Kategorie des ‚Heiligen‘ (% R. Otto, § 7,3.2) als die Bezeichnung des gegenüber oder in unserer Welt ‚Anderen‘ (totaliter aliter) vor (57 f.). Die Erosionskraft, die von diesem Heiligen ausgehen könnte, wird durch die verfassten Religionen gleichsam gezähmt und kanalisiert: „Religiöse Tradition ist ein vorsichtiger Umgang mit einer höchst gefährlichen menschlichen Erfahrung.“ (63) Die damit bezeichnete Unterscheidung von religiöser Erfahrung und verfasster Religion rückt nun den menschlichen Charakter der verfassten Religionen und ihre Funktion in den Blick. Als solche menschlich-geschichtlichen Erscheinungen unterliegen sie den Gesetzen der menschlichen Kommunikation, so sehr sie sich auch einer übermenschlichen Erfahrung verdanken. Diese Relativierung erleichtert die notwendige Wahl, so wie sie auch den Makel der Konstruiertheit mildert. Die verschiedenen Möglichkeiten konvergieren gleichsam in einer ihrem Wesen nach niemals vollständig erschließbaren religiösen Transzendenzerfahrung. Mit allen gegenüber Typologisierungen zu machenden Vorbehalten sieht Berger für die Religionen drei Reaktionsmöglichkeiten sich anbieten: 1. die Deduktion im Sinne einer Bekräftigung der herausgehobenen Autorität einer Religionstradition (deus dixit), 13 Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt/M. 1970, 109 f.

14 Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1980, 41.

3. Die soziologische Verteidigung 229

2. die Reduktion im Sinne einer Anpassung an die Aussagemöglichkeiten des modernen Menschen (homo modernus dixit) und 3. die Induktion als eine zur Bewährung angebotene Selbstpräsentation einer religiösen Tradition auf dem Markt der Religion, auf dem sich der „Zwang zu Häresie“ vollzieht. Die dritte Reaktionsweise zielt jenseits von „reaktionärer Nostalgie“ und „revolutionärem Überschwang“ auf eine „spezifische Erfahrung innerer Befreiung (die vielleicht an den Grenzen der eigentlichen religiösen Erfahrung angesiedelt ist)“; sie wurde in der geschichtlichen Gestaltung der Religion in zwangsläufig begrenzte Formen zu bringen versucht.15 In der induktiven Reaktion sieht Berger den Königsweg zwischen dem Konservatismus der deduktiven und der Anmaßung der reduktiven Reaktion: Gegenüber der Rechten bedeutet diese Position eine erneute Betonung des Menschlichen als des einzigen Ausgangspunktes für die theologische Reflexion und eine Ablehnung jeglicher externer Autorität (mag sie biblisch, kirchlich oder traditionell sein), die sich einer solchen Reflexion aufdrängt. Gegenüber der Linken bedeutet diese Position eine erneute Betonung des übernatürlichen und heiligen Charakters religiöser Erfahrung und eine Zurückweisung der besonders aufdringlichen Autorität des modernen säkularen Bewußtseins. (168 f.)

Im globalen Maßstab prophezeit Berger einen Wettstreit der Religionen. Dabei misst er der Polarität zwischen Vorderasien und Indien als den beiden Räumen, in denen sich die beiden voneinander unterscheidenden und miteinander konkurrierenden Fundamentalkonzepte für die Weltreligionen – die beiden „prototypischen Religionsformen“ (177) – herausgebildet haben: in Vorderasien das Modell für monotheistischen Religionen, in denen Gott den Menschen als ein Gegenüber erscheint (dafür steht Jerusalem), und in Indien die auf die menschliche Innerlichkeit konzentrierten Religionen, wo ein überpersönlich göttlicher Seinsgrund die Individualität aufhebt und die erfahrbare Welt bis zur Bedeutungslosigkeit relativiert (dafür steht Benares). In unvergleichlicher Weise stoßen im Islam beide Richtungen aufeinander, indem in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen Offenbarungsreligion und Mystizismus miteinander ringen. Damit bahnt sich ein Wettstreit unterschiedlicher Wahrheitsansprüche an, der auch dann die Religionen verändern wird, wenn die Beteiligten grundsätzlich der je eigenen Tradition treu bleiben. Vom Standpunkt Jerusalems läßt sich das Problem mit folgenden Worten umreißen: Wenn Gott sich in der Thora (oder natürlich in Christus oder im Koran) offenbart hat, wie kann man ihm dann auch in der Innerlichkeit des mystischen Bewußtseins begegnen? Für den Standpunkt von Benares gilt die umgekehrte Formulierung: Wenn das Göttliche im Bewußtsein jedes Menschen als der wahre Grund erlebt wird, wie steht es dann um den Status bestimmter historischer Offenbarungen? (183)

15 Vgl. zum ganzen Absatz ebd., 73–79.

230 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion

Zwar lassen sich in beiden Traditionszusammenhängen jeweils auch Anteile der jeweils anderen Religionsform ausmachen, aber im Grundsatz steht die eine Matrix der anderen unabgleichbar gegenüber. In der Konfrontation mit dem Anderen liegt die Chance auch der Klärung und Vertiefung des Eigenen. Berger hält schließlich die Konfrontation mit den anderen Religionen für deutlich ergiebiger als die traditionelle Konfrontation mit der Modernität. Da liege eine besondere Chance auch für die christliche Theologie: Dieses ‚Andere‘ . . . ist das unglaublich reiche Panorama der Weltreligionen, ein ‚Anderes‘, das unermeßlich vielversprechender ist für den christlichen Theologen, so wie es unermeßlich nützlicher ist, in den Upanischaden zu forschen, als in den letzten Hervorbringungen heutiger Ideologien. Kurz, sich von der Auseinandersetzung mit der Modernität zur Auseinandersetzung mit Benares hinzuwenden bedeutet einen Ausweg aus der Sackgasse der heutigen Theologie. (199 f.) &

M. Prisching (Hg.), Gesellschaft verstehen. Peter L. Berger und die Soziologie der Gegenwart, Wien 2001 L. Woodhead / P. Heelas / D. Martin (Hg.), Peter Berger and the study of Religion, London 2001

4. Die psychologische Verteidigung: Erich Fromm Indem wir in diesem Kapitel die disziplinäre Reihenfolge von Philosophie, Soziologie und Psychologie aus dem Kapitel zur Religionskritik (% § 4) übernehmen, ergibt es sich, dass wir mit der Psychologie nun historisch etwa eine Generation vor die zuvor bedachten Positionen zurückgehen. Dies war die Zeit, in der neben der Kritik, die der Religion entgegengebracht wurde, auch ihre kritische und visionäre und somit hoffnungsvoll mobilisierende Kraft in den Blick genommen wurde. Während die überwiegende Mehrheit der Der Psychoanalytiker Erich Fromm Freud-Schule vorwiegend auf der Seite der Reli(1900–1980) plädiert für eine dem Menschen entsprechende gionskritiker zu finden ist, sieht Erich Fromm, Religion, die den humanistischen der ebenfalls deutlich von der Freud-Schule geKern der überkommenen prägt wurde, dann aber auch eigene sozialpsyReligionen aufnimmt und chologische Akzente in seine Psychoanalyse aufzugleich deren lebensfeindliche nimmt, in der Religion ein unüberspringbares Seiten abweist. psychisches Bedürfnis des Menschen, dessen unzureichende Befriedigung den Menschen krank mache. Damit dreht er die religionskritische Pointe von Freud um, wenn er in der Religion keine Neurose sieht, wohl aber die Neurose als pervertierte Gestalt einer privatisierten Religion versteht. Die Religion kommt neben anderen Bedürfnissen des Menschen wie etwa Hunger oder Sexualität zu stehen, die ebenfalls um der Gesundheit des Menschen willen in zureichendem Maße befriedigt werden müssen. Um leben zu können, ist es nicht ausrei-

4. Die psychologische Verteidigung: Erich Fromm 231

chend, eine Weltanschauung zu haben; vielmehr braucht der Mensch Ideale bzw. ein Objekt der Verehrung, um über die notwendige Orientierung zu verfügen. Ein „Weltbild allein reicht als Richtschnur des Handelns nicht aus; wir brauchen auch ein Ziel, an dem wir uns orientieren können. Tiere haben keine derartigen Probleme. Ihre Instinkte versehen sie sowohl mit einem Weltbild als auch mit Zielen. Aber da uns die Determinierung durch den Instinkt fehlt und wir andererseits ein Gehirn haben, das es uns gestattet, uns viele Richtungen vorzustellen, in die wir gehen können, brauchen wir ein Objekt totaler Hingabe, einen Brennpunkt für all unser Streben und zugleich eine Grundlage für unsere tatsächlichen – nicht nur die proklamierten – Werte. Wir brauchen ein solches Objekt der Verehrung, um unsere Energien in eine Richtung zu lenken, um unsere isolierte Existenz mit all ihren Zweifeln und Unsicherheiten zu transzendieren und um unser Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben, erfüllen zu können.“16

Dieses existenzielle Bedürfnis, das Fromm als das religiöse Bedürfnis bezeichnet, „wurzelt in den Existenzbedingungen der Spezies Mensch“ (366), durch die der Mensch dazu gedrängt wird, stets über sich hinauszuwachsen. Es gehört in diesem Sinne zur Natur des Menschen. Wenn Fromm so entschlossen auf die Natur des Menschen abhebt, muss zwischen Natur und Natur unterschieden werden. Die Gegebenheit der Freiheit als dem konstanten Element der Natur des Menschen impliziert die Herausforderung, sich gestalten zu müssen, und damit auch das Risiko, sich verfehlen zu können – das ist die spezifische Offenheit und Angewiesenheit der menschlichen Natur. Der Mensch ist gezwungen, seine Freiheit zu betätigen. Er „ist das einzige Lebewesen, . . . für das die eigene Existenz ein Problem ist, das es lösen muß und dem es nicht entrinnen kann.“17 Der Begriff der Natur wird von Fromm von seiner biologistisch-naturalistischen Engführung abgerückt, um ihn wieder für die Anthropologie brauchbar zu machen. In diesem Sinne gehört es eben nach Fromm zur menschlichen Natur, sich stets auch mit den Grenzen seiner Natur (das Wissen um den eigenen Tod) und ihrer spezifischen Defizienz (Mangel an instinktiver Orientierung) auseinanderzusetzen. Auf die in seiner Natur stets enthaltene Frage antwortet der Mensch entweder produktiv oder regressiv bzw. entweder biophil oder nekrophil. Entweder erhebt sich der Mensch mit seinen Möglichkeiten – Selbstbewusstsein, Vernunftbegabung und Vorstellungsvermögen – über die animalische Natur oder er gefährdet und beengt sich mehr als das hilfloseste Tier. Um aber in dieser Gefährdung wirklich erfolgreich sein zu können, postuliert Fromm, dass jeder Mensch ein Objekt der Hingabe als einen orientierenden Fokus für das Leben benötigt. Das unüberspringbare Bedürfnis, das Leben an Idealen zu orientieren, macht die besondere Dynamik des menschlichen Lebens aus. Tatsächlich gibt es keine stärkere Energiequelle im Menschen. Der Mensch kann nicht frei entscheiden, ob er ‚Ideale‘ haben will oder nicht, aber er hat die freie Wahl zwischen verschie16 Haben oder Sein, in: Gesamtausgabe, hg. v. R. Funk, Bd. II, Stuttgart 1980, 269–414, 36 f. 17 Anatomie der menschlichen Destruktivität,

in: E. Fromm, Gesamtausgabe, hg. v. R. Funk, Bd. VII, Stuttgart 1980, 203.

232 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion denen Arten von Idealen, zwischen der Möglichkeit, Macht und Destruktion zu verehren oder sich Vernunft und Liebe hinzugeben. Alle Menschen sind ‚Idealisten‘ . . . Es gib keinen Menschen, der nicht ein religiöses Bedürfnis hätte.18

Daraus folgt unmittelbar, dass es nicht um die Frage gehen kann, „Religion oder nicht?, sondern vielmehr: Welche Art von Religion? Fördert sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifisch menschlicher Kräfte, oder lähmt sie das individuelle Wachstum?“19 Hier kommt nun der funktionale Charakter des Religionsverständnisses von Fromm in den Blick, denn es ist ganz klar, dass die Religion dazu taugen muss, das dem Menschen inhärente religiöse Bedürfnis zu befriedigen. Wie ich den Begriff ‚religiös‘ hier verwende, bezeichnet er weder ein System, das notwendigerweise mit einem Gottesbegriff oder mit Idolen operiert noch gar ein System, das den Anspruch erhebt, eine Religion zu sein, sondern jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Verehrung bietet. (365)

Fromm ist nur sehr vermittelt an den überkommenen Religionen interessiert. Vielmehr kommt die Religion bei ihm im Horizont der Suche nach der Menschlichkeit des Menschen in den Blick. Sie wird als ein Instrument verstanden, dem Menschen einen Weg zu weisen, auf dem er sich selbst in angemessener Weise wahrzunehmen vermag, was faktisch darauf hinausläuft, dass er sich selbst in bestimmter Weise zum Objekt der Verehrung werden muss. In der Religion verehrt sich der Mensch in der Perspektive seiner Selbstwerdung selbst als derjenige, der dazu in der Lage ist, mit Hilfe der ihm eignenden Freiheit zu sich selbst zu kommen. Es ist ein gewisser Zirkel, den Fromm hier vollzieht: Das, was dem Menschen fehlt, muss der Mensch bei sich selbst suchen, und zwar in der Gewissheit, es eben auch bei sich selbst finden zu können. Dieses Verhältnis des Menschen zu sich selbst umschreibt Fromm als Glaube: „der Glaube an mich selbst, an den anderen, an die Menschheit, an die Fähigkeit des Menschen, wahrhaft menschlich zu werden“ (303). Fromm plädiert für eine humanistische Religion – man kann auch sagen, dass er darauf hinweist, dass Humanismus substanziell religiös ist, weil er auf einem Glauben gründet. Dabei bleibt Fromm insofern auch mit den überkommenen Religionen in Kontakt als sich auch in ihnen als Kern die entscheidenden Elemente der humanistischen Religion finden, sodass sie eine breit bestätigte Basis haben. Versucht man, ein Bild der menschlichen Haltung zu geben, die dem Denken Laotses, Buddhas, der Propheten, Sokrates’, Jesu, Spinozas und der Philosophen der Aufklärung zugrunde liegt, dann ist man betroffen von der Tatsache, daß in all diesen Lehren trotz bedeutsamer Verschiedenheiten ein Kern gemeinsamer Ideen und Normen liegt. . . . Der Mensch muß danach streben, die Wahrheit zu erkennen, und kann nur in dem Maße ganz menschlich sein, als ihm diese Aufgabe gelingt. Er muß unabhängig und frei sein, Zweck und Ziel in sich selbst haben und darf nicht zum Mittel für die Zwecke anderer werden. Er muß sich liebend 18 Psychoanalyse und Religion, in: E. Fromm, Gesamtausgabe, hg. v. R. Funk, Bd. VI, Stuttgart 1980, 227–292, 243.

19 Haben oder Sein, 366.

4. Die psychologische Verteidigung: Erich Fromm 233

mit seinen Mitmenschen in Beziehung setzen. Wenn er keine Liebe hat, ist er eine leere Hülse, und wenn er alle Macht, allen Reichtum und alle Intelligenz besäße. Der Mensch muß den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen, er muß auf die Stimme seines Gewissens hören und folgen können.20

Wenn Fromm unterstellt, dass es keine Kultur ohne eigene Religion gebe, ist dies eine weitere Bestätigung der postulierten Verwiesenheit des Menschen auf die Religion. Die Tatsache, dass es sehr unterschiedliche Religionen gibt, gilt als Beleg für die menschliche Freiheit zur Gestaltung seiner Religion, die den jeweiligen Erfahrungen und Bedingungen folgt. Der humanistischen Religion steht die abzuweisende autoritäre Religion gegenüber, die den Menschen nicht zu sich selbst führt, sondern ihn einer jenseits seiner selbst vorgestellten Macht unterwirft, die einen Anspruch auf Gehorsam und Verehrung erhebt. In der autoritären Religion wird die Produktivität des Menschen von einem Gefühl der Ohnmacht gelähmt und der Mensch wird zur Anpassung an die Gegebenheiten diszipliniert. In diesem Sinne sind auch säkulare Ideologien als autoritäre Religionen anzusehen, weil sie von dem Motiv geprägt sind, den Menschen ganz in ihren Bann zu ziehen und sein Gewissen in Beschlag zu nehmen. Der Gehorsam erfolgt aus Angst vor der usurpierten Autorität, Ungehorsam erweckt Schuldgefühle. Ein solches autoritäres Gewissensverständnis diagnostiziert Fromm beispielhaft bei Paulus, Augustin, Luther und Calvin. Der hier vertretene Glaube bedeutet substanziell die Entfremdung des Menschen von sich selbst, weil er von den Potenzialen wegführt, die im Menschen selbst liegen und auf eine ihm entsprechende Entfaltung warten. Die humanistische Religion kann aber insofern an den überkommenen Religionen anknüpfen, als sie auch eine rekonstruierbare Linie in Richtung der Befreiung des Menschen aufweisen, auch wenn diese immer wieder im Laufe der Geschichte aus unterschiedlichen Gründen klein gehalten oder gar ganz unterdrückt wurde. So sieht Fromm in der alttestamentlich-jüdischen Tradition eine genuine Befreiungstendenz, die zunächst Gott als den Befreier von den Götzen und inzestuösen familiären Bindungen annonciert und über den Bundesgedanken auf das Motiv der Gottebenbildlichkeit des Menschen zuläuft.21 Es sind vor allem mystische Traditionen, die Fromm für seine Perspektive der Selbstwerdung des Menschen und seiner Beziehung zu den Mitmenschen und zur Welt in Anspruch genommen hat. Die Lösung von den falschen Bindungen ist die Voraussetzung für das Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen, in dem er seine Möglichkeiten im Rahmen der ihm gesetzten Grenzen entdeckt und dann auch entfalten kann. Die humanistische Religion von Fromm steht für den Glauben an die lebensorientierten Möglichkeiten, die in der über sich selbst aufgeklärten menschlichen Natur liegen. 20 Psychoanalyse und Religion, 270. 21 Vgl. dazu: Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und sei-

ner Tradition in: Gesamtausgabe, hg. v. R. Funk, Bd. VI, Stuttgart 1980, 83–226, 126 ff.

234 § 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion &

R. Funk, Mut zum Menschen. Erich Fromms Denken und Werk, seine humanistische Religion und Ethik, Stuttgart 1978 J. Hardeck, Erich Fromm – Leben und Werk, Darmstadt 2005

5. Kurze Zwischenbilanz Natürlich kann man fragen, ob den so weit auseinanderlaufenden Bewertungen der Religion nicht auch sehr unterschiedliche Verständnisse von Religion zugrunde liegen. Umgekehrt wird aber kaum zu bestreiten sein, dass die Unterschiedlichkeit der Bewertung weit größer ist als die zu unterstellende Unterschiedlichkeit der zugrunde gelegten Religionsbegriffe. Das gilt umso mehr, als wir uns ja weniger mit einzelnen Religionen und deren Unterschiedlichkeit beschäftigen als vielmehr mit den die Religionen vergleichbar machenden Merkmalen. Und so könnte es sich nahe legen, nun vor allem den Kontrast der Beurteilungen herauszustellen, der immerhin von der Eliminierungsoption in der Religionskritik (% § 4) über die dialektische Bewertung im Horizont der wahrgenommenen Ambivalenz der Religion (% § 5) bis hin zu ihrer ausdrücklichen Verteidigung reicht – von der überzeugten Inakzeptanz über die konditionierte Akzeptanz bis hin zur ausdrücklichen Verteidigung. Zweifellos kommt damit eine Linie in den Blick, die Beachtung verdient und auf gewichtige Differenzen aufmerksam macht. Es sind vor allem die unterschiedlichen Bewertungen der den Religionen zugeschriebenen Funktionen, an denen sich die signifikanten Unterschiede profilieren. Die Verteidigung der Religion, wie sie in diesem Kapitel thematisiert wurde, misst der Religion bei allen Unterschieden in ihrem Verständnis eine Funktion zu, auf die nicht schadlos verzichtet und die eben auch durch nichts anderes einfach substituiert werden kann. Freilich täte es den Religionen gut, sich dieser Funktion deutlicher bewusst zu werden, nicht nur um die sich vollziehenden weitreichenden Transformationsprozesse besser zu verstehen, sondern auch um in ihren Selbstkonsolidierungsversuchen nicht auf illusionäre Optionen zu setzen. Auch wenn etwa die soziologische Verteidigung der Religion vornehmlich deskriptiv vollzogen wird, transportiert sie doch implizit immer auch Orientierungsperspektiven für eine anstehende Reorganisation der Religion – das ist bei Berger deutlicher als bei Luhmann, lässt sich aber auch bei Luhmann nicht übersehen. Die funktionale Verteidigung der Religion funktioniert vor allem über den Formaspekt und ordnet die Inhaltsaspekte diesem nach. Damit deutet sich ein Fundamentalproblem an, das an dieser Stelle nicht aufgegriffen werden kann. Hingewiesen werden soll aber noch auf die neben den festgestellten Unterschieden in der Bewertung bestehenden Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Religion. Sie sind vor allem in der Betonung der Ambivalenz der Religion zu suchen. Auch die Religionskritik sieht die Möglichkeit einer lebensförderlichen Dimension der Religion, hält diese aber grundsätzlich für substituierbar durch adäquatere Instrumen-

5. Kurze Zwischenbilanz 235

tarien, so wie auch die Verteidiger der Religion die lebensfeindliche Potenz der Religion nicht leugnen, aber davon ausgehen, dass die neuzeitliche Entwicklung ausreichend dafür gesorgt habe, diesen Aspekt weitgehend zu entschärfen, indem die Religion mehr und mehr gleichsam auf den ihr zugemessenen Partikularbereich limitiert wurde, in dem sie nun dass, was sie allein kann, möglichst optimal wahrnehmen möge. Sowohl in der Religionskritik als auch in der Verteidigung erscheint die Religion als ein strategisches Kalkül von Optionen, an denen die Religionen selbst nicht beteiligt sind. Das macht einerseits den Gewinn an Allgemeingültigkeit aus, verweist aber auch auf die Grenzen dieser Wahrnehmungsweisen, die in der Regel allerdings weniger realisiert werden.

§ 7 Religion als Thema der neueren Theologie

1. Theologiegeschichtliche Entwicklung und systematische Typologie Der in § 4 für die Darstellung gewählte Kompromiss zwischen einer geistesgeschichtlich orientierten und einer systematisch strukturierten Darstellung bietet sich für dieses Kapitel nicht an, obwohl sich auch hier drei systematisch grundlegend verschiedene Blickrichtungen voneinander unterscheiden lassen. Die Schlüssigkeit der systematischen Unterscheidungen der verschiedenen Entwürfe hängt so sehr an der theologiegeschichtlichen Entwicklung, dass diese dem Kapitel seine Struktur gegeben hat. Einleitend sei aber auf die systematische Wahrnehmungsmöglichkeit hingewiesen. In dem Moment, in dem die radikale Religionskritik sich anschickte, der Religion ein geschichtliches Ende zu bereiten, verlor der allgemeine Religionsbegriff seinen kritischen Biss, und die Theologie begann, sich dem bisher weitgehend distanziert betrachteten Religionsverständnis zuzuwenden. Sie nimmt sich gleichsam des bedrängten und jetzt zum Abschuss freigegebenen Konkurrenten an, um in dem auch sie betreffenden Überlebenskampf einen auf der allgemeinen Ebene agierenden Bündnispartner zu haben, denn sie hat zu befürchten, dass in dem Moment, wo es diesem schlecht ergehen sollte, sie auch selbst keinesfalls ohne gefährliche Blessuren davonkommen wird. Seit dem 19. Jahrhundert gehört die Religion in der Theologie zum Kanon der Themen, mit denen sie sich beschäftigen muss. Um deutlich zu machen, dass es zwischen der Thematisierung der Religion und den Inhalten der christlichen Theologie einen zu beachtenden Unterschied gibt, kommt es zur Etablierung eines neuen theologischen Genus, das nun in alle Dogmatiken Einzug hält: die Prolegomena zur Dogmatik bzw. zur Glaubenslehre.1 In diesem Teil der Dogmatik reflektiert die Theologie die unterschiedlichen Dimensionen, die ihren besonderen Gegenstand mit dem Allgemeinen verbinden. Deshalb werden die Prolegomena auch gerne „theologische Prinzipienlehre“2 oder „dogmatische Prinzipienlehre“3 genannt. Neben der Religion sind die klassischen Themen der Prolegomena „Vernunft und Offenbarung“ bzw. „Wissen und Glaube“, die Lehre von der heiligen Schrift, die Be1 Vgl. z. B. K. G. Bretschneider, Handbuch der Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, Leipzig 21822. 2 Vgl. z. B. R. A. Lipsius, Lehrbuch der evan-

gelisch-protestantischen Dogmatik, Braunschweig 21879. 3 Vgl. z. B. F. A. B. Nitzsch, Lehrbuch der evangelischen Dogmatik, Freiburg/Leipzig 21896.

238 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

deutung des christlichen Bekenntnisses, das christliche Wahrheitsverständnis bzw. die kontroverstheologische Selbstverortung als evangelische bzw. protestantische Theologie im Gegenüber zur römisch-katholischen Theologie. Zu den apologetischen Elementen der Prolegomena gehört schließlich die Verteidigung der Theologie als Wissenschaft. Da der Theologie in der Neuzeit der Anspruch auf das Allgemeine abhanden gekommen ist, sieht sie sich dazu genötigt, ihr Verhältnis zum Allgemeinen möglichst klar zu bestimmen – sowohl im Blick auf Übereinstimmungen als auch auf Differenzen. Der allgemeine Religionsbegriff bietet dabei die gern genutzte Vermittlungsmöglichkeit, das Besondere der Theologie als eine Spezies des Allgemeinen zu präsentieren. Auch wenn die Darstellung der theologiegeschichtlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert folgt, lassen sich vorab in systematischer Hinsicht drei grundlegend verschiedene Umgangsweisen mit der Religion voneinander unterscheiden: 1. Die Religion wird zum fundamentaltheologischen Ausgangspunkt der Theologie. Sie dient mit ihren allgemeinen Bestimmungen als Basis dafür, dass auch der aufgeklärte moderne Mensch mit seinem Selbstentfaltungsinteresse noch eine gedeihliche Verbindung mit dem Christentum in seiner mehr oder weniger konventionalisierten Gestalt aufrechterhalten kann, von der sich auch er einen plausibel darstellbaren Nutzen versprechen darf, wie es grundlegend und in brillanter Weise von Friedrich Schleiermacher in seinen Reden über die Religion (1799) vorgetragen wird. Diese fundamentaltheologische Berufung auf die Religion hat sich in dem Maße, in dem die Kirchen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in besonderer Weise unter Druck geraten sind, in zahlreichen Varianten behauptet und genießt als erneuerter Kulturprotestantismus gegenwärtig wieder eine breite Resonanz. Dieser Umstand bringt es mit sich, dass die fundamentaltheologische Reklamation der Religion in diesem Kapitel den weitaus breitesten Raum einnimmt (§ 7,2, 3 u.5). 2. Die Theologie lässt sich angesichts der immer weniger zu übersehenden Säkularisierung eines großen Teils der Gesellschaft von der Skepsis der Religionskritik anstecken. Der Schlüssel dazu liegt in der fundamentalen Unterscheidung von Glauben und Religion und es lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Blickrichtungen voneinander unterscheiden. Einerseits versucht die Theologie sich auf den Glauben zu konzentrieren, ohne sein religiöses Gewand festhalten zu müssen. Diese Variante erscheint als die sachlich konsequente, weil sie den bisherigen Kompromissen radikal den Rücken kehrt, blickt aber am Ende auf die Aporien ihrer Radikalität. Die Religion wird als geschichtlich überholt angesehen; sie könne nicht weiterhin ein angemessenes Gefäß für den Glauben des mündig gewordenen Menschen sein. Es sei kein redliches Unterfangen zu versuchen, den säkularisierten Menschen für die Religion zurückzugewinnen, vielmehr sei der moderne Zeitgenosse jenseits der Religion mit dem christlichen Glauben zu konfrontieren (§ 7,4.2). 3. Die andere Variante nimmt ihren Ausgangspunkt bei Karl Barth, der für die Theologie einen dialektischen Umgang mit der Religion einfordert, der einerseits ei-

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 239

ne pointierte religionskritische Seite hat und andererseits daran festhält, dass auch die Sprache des Glaubens unweigerlich einen religiösen Charakter annehmen muss – wir kommen um die Religion nicht herum, aber das heißt noch keineswegs, dass sie immer auch als gerechtfertigt angesehen werden kann. Die Religion ist eine Angelegenheit des Menschen und unterliegt ebenso wie dieser dem in seiner Gnade richtenden Gott. Für sich genommen ist die Religion ein Ausdruck der Gottlosigkeit des Menschen, indem sie vor allem als ein Instrument der menschlichen Selbstrechtfertigung vor Gott fungiert; indem aber Gottes Zuwendung zur Welt die Rechtfertigung des gottlosen Menschen bedeutet, steht auch die Religion des Menschen unter der Verheißung, von Gott gerechtfertigt zu werden. Bei genauem Hinsehen handelt es sich bei dieser Variante um eine durchaus entschlossenere und zugleich realistischere Abkehr von der Thematisierung der Religion im Horizont des Allgemeinen als in der vorausgehenden Variante, die zugleich in der Lage ist, das sachliche Recht des Themas der Religion zu würdigen (§ 7,4.1,4.3,4.4).

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt „Schicklicher dürfte für das, was man Theologie nennt, das Wort Religionswissenschaft seyn“ – so heißt es 1822 bei Karl G. Bretschneider, und er fährt fort: „Der Zweck der Theologie ist, daß sie uns die Religionslehren gründlich und richtig erkennen, überzeugend und fruchtbar vortragen, und geschickt vertheidigen lehren soll: ihre Eigenschaften müßten seyn Wahrheit, Gewißheit und Wirksamkeit.“4 Die Theologie wird in den Horizont der Religion im allgemeinen Verständnis gestellt und bekommt die Aufgabe zugewiesen, nun die christliche Religion in besonderer Weise herauszuheben. Beiden Elementen kommt ein eigenes Gewicht zu: der Einbettung in das Allgemeine (1) und der spezifischen Profilierung der christlichen Religion als einer besonders hoch entwickelten (2). (1) Sofern in dem eigenthümlich religiösen Verhältnis des Christenthums das allgemeine religiöse Verhältnis mitgesetzt ist, hat die Principienlehre zuerst das Wesen des religiösen Bewustseins überhaupt zu untersuchen, die Religion also als Thatsache des menschlichen Geisteslebens zu betrachten, welche nach Ursprung, Wesen und Entwickelung einen Gegenstand der psychologischen und historischen Forschung bildet.5 (2) So wenig eine schematische Eintheilung der Religionen erschöpfend durchgeführt werden kann, so wenig ist es möglich, die Geschichte der Religionen als eine zusammenhängende gradlinige Entwicklung zu erzählen. Aber doch kann man auch in dieser Beziehung einiges Allgemeines und Wiederkehrendes aus der Geschichte hervorheben. Ein Doppeltes vor allem! Wenn ein Volk oder ein Volksstamm in die Geschichte eintritt, findet in der Regel der Uebergang von der Naturreligion zur Volksreligion und damit eine Ethisierung des religiösen Lebens statt. Andererseits ist es eine wiederkehrende Erscheinung, dass sich in alt gewordenen Kulturvölkern eine Abkehr von der Welt und ihren Gütern und damit eine Erlösungsreligion 4 K. G. Bretschneider, Handbuch, 9 f.

5 R. A. Lipsius, Dogmatik, 20.

240 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie entwickelt. . . . Wiederum unter diesem Gesichtpunkt lässt sich das Urtheil begründen, dass das Christentum einen Zielpunkt in der religiösen Entwicklung der Menschheit darstellt. Sein eigenthümliches Wesen besteht ja . . . darin, dass es eine über die Welt erhebende Erlösungsreligion ist und den Menschen doch wie keine andere Religion an das sittliche Leben in der Welt bindet, so also, dass jene beiden Entwicklungslinien als in ihm zusammenlaufend vorgestellt werden können. Um dieser Stellung willen, die das Christenthum in der religiösen Entwicklung einnimmt, darf es als die Vollendung alles dessen bezeichnet werden, was die Menschen als Religion kennen und pflegen: die Fülle der religiösen Motive ist in ihm zu einer konkreten Einheit von eigenartigem Gepräge zusammengefasst, und die verschiedenen Linien der religiösen Entwicklungen laufen hier zusammen. Freilich, rein geschichtlich ist dies Urtheil nicht. Wer es fällt, nimmt damit seinen Standort im Christenthum.6

Die aus Redlichkeit der eingenommenen historischen Perspektive gegenüber gemachte Schlussbemerkung nimmt der vorgetragenen These in keiner Weise ihre Entschlossenheit. Wir werden bei der Erörterung der Position von Ernst Troeltsch noch einmal darauf zurückkommen (% § 7,3.1). Im 19. Jahrhundert setzt sich in der Theologie schnell die Praxis durch, der Religion die Rolle eines allgemeinen Ausgangspunktes für die Theologie zuzumessen. Die Lehrbücher der Dogmatik sowie die gebräuchlichen Kompendien lassen in der Regel die Prolegomena (als theologische Prinzipienlehre) entweder unmittelbar mit einer Erörterung der Religion beginnen oder kommen im Horizont der Grundlegung auf die Religion zu sprechen.7 Weitgehend wird davon ausgegangen, dass Schleiermacher (% § 3,3) der Erste gewesen sei, der in seiner Glaubenslehre nicht mehr mit der Darlegung des Inhalts des christlichen Glaubens bzw. der besonderen Bedingungen christlicher Gotteserkenntnis anfange, sondern zunächst das allgemeine Wesen der Frömmigkeit bedenke, das dann im christlichen Glauben eine spezifische Ausprägung erhält. Damit hat sich ein weitreichender Perspektivenwechsel vollzogen, der sich auf alle Aussagen der Theologie hin auswirkt – hier kann durchaus von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden, der sich allerdings bereits während des 18. Jahrhundert angebahnt hat. Bescheidener noch hat es Julius Kaftan ausgedrückt: Heute ist die Untersuchung der Religion . . . grundsätzlich für alles Weitere geworden, zunächst schon für die Erkenntnis der Offenbarung und der heiligen Schrift. Schleiermacher ist aber der Erste gewesen, der ihr diese Bedeutung beigelegt und die Dogmatik damit auf einen neuen Boden gestellt hat.8

Schleiermacher hat das „fromme Selbstbewußtsein“ (so nennt der spätere Schleiermacher die Religion) zum Referenzrahmen der Theologie erhoben, in dem es möglich ist, die gesamte überlieferte Lehre in ein grundlegend neues Licht zu stellen. Er 6 J. Kaftan, Dogmatik, Leipzig 41901, 16 f. 7 Vgl. u. a. die Lehrbücher von K. G. Bretschneider, J. A. Dorner, K. Hase, Th. Haering, J. Kaftan,

R. A. Lipsius, Chr. E. Luthardt, H. Martensen, Fr. A. B. Nitzsch, H. Schmid, A. F. C. Vilmar. 8 J. Kaftan, Dogmatik, 8.

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 241

vermeidet für sein Lehrbuch bewusst den Titel ‚Dogmatik‘9 und hebt mit seinem Grundriss ganz und gar auf den Glauben und die Glaubenden ab. Die Religion des Menschen wird zum Schlüssel des ganzen Entwurfs: Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.10

Es ist Schleiermachers Grundanliegen, die traditionellen Inhalte der Dogmatik in die Perspektive der Glaubensmöglichkeiten des modernen Menschen zu bringen. Insofern ist der Begriff der Glaubenslehre nicht einfach ein anderes Wort für Dogmatik, sondern er bezeichnet eine eigene Perspektive auf die überkommene Tradition, die ganz und gar von der religiösen Verwertung und Verwertbarkeit gesteuert wird. Durch diese Vorordnung der Religion schickt sich einerseits die Theologie wieder an, die ihr von der Aufklärung weithin verwehrte Bühne der Allgemeingültigkeit mit einem neuen Selbstbewusstsein erneut zu betreten, während sie sich andererseits auf dieser Bühne nun damit zufrieden geben muss, nur noch die partikularisierte Rolle der Religion spielen zu können, wie sie von der Aufklärung für die Religion in ausdrücklicher Abweisung ihres Anspruchs auf das Ganze der Wirklichkeit definiert worden ist. Innerhalb eines bestimmten Rahmens sind freilich Varianten denkbar und Schleiermacher findet hier auch einen eigenen Weg, aber in jedem Fall handelt es sich um eine spezifizierte und als solche partikulare Dimension der menschlichen Wirklichkeit. Auch Theologen, die sich wie August F. C. Vilmar sachlich einer Einbettung und der damit aus ihrer Sicht unweigerlichen Nivellierung des christlichen Glaubens in den allgemeinen Horizont der Religion widersetzen, kommen dennoch nicht umhin, eben dies auch gleich am Anfang ihrer Ausführungen in den Prolegomena darzulegen. Religion (religio) ist ein Abstractum der römischen Lebensanschauung (nicht griechisch, nicht deutsch, nicht dem A. T. und nicht dem N. T. angehörig) und als solches unserem Gebiete eigentlich gänzlich fremd. Daß diese Abstraction unserem Gebiete an sich gänzlich fremd ist, ergibt sich weiter daraus, daß Religion das Gemeinsame bezeichnen soll, welches in allen Lebensäußerungen die jemals gewesen sind und sich auf übermenschliche Dinge beziehen (Religion genannt worden sind) sich findet: das Gemeinsame nicht allein der christlichen mit der jüdischen und patriarchalischen Religion, sondern auch dieser Religionen mit jeder Form des Heidentums und mit jeder Individualspeculation über göttliche Dinge. Eine solche Gemeinsamkeit darzustellen ist eben nicht unsere Aufgabe; und von christlicher ‚Religion‘ zu sprechen ist streng genommen ein Misbrauch (in der Kirche streng zu vermeiden); das Christentum wird dadurch zur Species gemacht; es steckt in dieser Bezeichnung immer etwas von Lessings 3 Ringen! 9 Fr. Schleiermacher, Der christliche Glaube [1830/31], hg. v. M. Redeker, Nachdruck der 7. Aufl. 1960, Berlin/New York 1999, 9.

10 Ebd., 23 (Leitsatz zu § 4).

242 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie Da aber dieser Misbrauch zur Zeit eben noch Sprachgebrauch ist, so kann es nicht wol vermieden werden, uns mit demselben auseinander zu setzen.11

Der vom Religionsbegriff ausgehende Reiz liegt m. E. unabhängig von den verschiedenen Erklärungs- und Deutungsversuchen in folgenden fünf Vorteilen gegenüber der traditionellen Orientierung der Theologie an den überkommenen Inhalten der Dogmatik: 1. Über den allgemeinen Religionsbegriff bekommt die Theologie wieder Anschluss an den die Wissenschaft beherrschenden Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die Religion eröffnet der Theologie einen fundamentalen Kontakt zur Allgemeinheit des Menschen, die sie zu erreichen versucht, um damit dem Trend entgegenzutreten, dass sich immer größere Teile der Gesellschaft von der Kirche abwenden. Wie entschieden es der Theologie um dieses ‚Faustpfand‘ der Allgemeingültigkeit geht, lässt sich eindrücklich an ihrer aggressiven Reaktion auf die Bestreitung der Allgemeingültigkeit der Religion mit dem Hinweis auf den Atheismus ablesen. Hier ein besonders pointiertes Beispiel: Es ist „scheinbar unmöglich, die Existenz des Atheismus in Abrede zu stellen. Denn nicht wenige Individuen behaupten wenigstens selbst entschieden, sie seien ohne Religion. Zugegeben ist nun, dass es hinsichtlich aller Bestandtheile des geistigen und sinnlichen Menschenwesens Krüppel gibt, d. h. es gibt Einzelne, denen ein Glied, welches zum menschlichen Organismus gehört, oder eine der psychischen und geistigen Funktionen des Menschenwesens wirklich fehlt. Denn es gibt Blindgeborene, die auch immer blind bleiben, es gibt Menschen ohne Arme. Ebenso gibt es Menschen, denen jegliche Befähigung zu wirklichem Denken abgeht, nicht minder solche, die in ihrer Stumpfheit jeglicher geistigen Empfindungskraft entbehren, und demgemäß mag es auch religionslose Individuen geben.“12

2. Die Religion entspricht insofern der Anthropozentrik des neuzeitlichen Selbstbewusstseins, als sie von vornherein und vornehmlich als ein menschliches Anliegen thematisiert wird, dessen Ergiebigkeit sich an der mehr oder weniger konkreten Befriedigung bestimmter menschlicher Bedürfnisse demonstrieren lässt. Dabei ist es nicht ohne Bedeutung, dass sie bei aller behaupteten Unausweichlichkeit immer auch ein Gegenstand menschlicher Wahl, also eine Möglichkeit des individuellen Subjekts ist. 3. Die Religion steht von vornherein im Kontakt mit der menschlichen Praxis. Im Unterschied zur traditionellen Dogmatik gerät sie nicht in den Verdacht, abstrakte Theorien zu konstruieren und gegen die menschliche Erfahrung zu verteidigen, sondern sie präsentiert sich stets als probate Lösung praktischer Lebensprobleme des Menschen und kommt damit dem eingeklagten Vorrang des Lebens vor der Lehre entgegen. 11 Dogmatik [1874], Bd. I, Gütersloh 1937, 9 f.

12 F. A. B. Nitzsch, Dogmatik, 83.

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 243

4. Die Religion verfügt per se über eine gegenüber der Dogmatik unvergleichliche Flexibilität und damit über eine hohe Anpassungsfähigkeit an wechselnde historische Bedarfslagen. Es ist diese Flexibilität, die der Religion auch angesichts des ständigen geschichtlichen Wandels eine hohe Stabilität verspricht. Diese Prognose wird dadurch unterstrichen, dass die Religion mehr form- als inhaltsorientiert ist. 5. Die Religion ist schließlich darin der traditionellen dogmatischen Tradition überlegen, dass sie unvergleichlich größere Ermessenspielräume für die subjektive Aneignung zulässt und damit den jeweiligen Ansprüchen des selbstbewussten individuellen Subjekts entgegenkommt. Der Schritt vom Dogma zur Religion kann als ein Anpassungsschritt an das neuzeitliche Subjektivitätsbewusstsein verstanden werden, was zugleich als eine Zusammenfassung der Punkte 1–4 gelesen werden kann. In der Konzentration auf den anthropologischen Nutzen werden von dem allgemeinen Religionsverständnis allgemeine Evidenz und individuelle Existenz in größtmöglicher gegenseitiger Beweglichkeit zusammengehalten, ohne weiter auf die frühaufklärerische Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion zurückgreifen zu müssen. Die Unterschiede in den einzelnen Bestimmungen der Religion relativieren sich auf dem Hintergrund der gemeinsam an sie gestellten formalen Erwartungen und der dadurch geprägten Ansprüche der Religion. Sie sind die konkrete Bestätigung der in ihrem Begriff anberaumten Variationsfähigkeit. Die Religionskritik lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ursprünge und die Entstehungs- bzw. Erhaltungsbedingungen der Religion, um an ihnen zu zeigen, dass die Religion die Folge von inkonsequenten bzw. verweigerten menschlichen Entwicklungsschritten sei, in der dann die Inkonsequenz bzw. die Entwicklungsverweigerung konserviert werde. Die Anwälte bzw. Verteidiger von Religion als fundamentaltheologischem Ausgangspunkt für die Theologie konzentrieren sich dagegen vornehmlich auf die Nützlichkeit des ihr unterstellten Wesens. Ohne dass es zu einer ausdrücklichen Auseinandersetzung mit der Religionskritik kommt, wird der Ton ausschließlich auf die zweifellos aufzeigbaren Stärken gelegt, die sich unschwer in unterschiedlicher Gestalt weltweit aufzeigen ließen. Den ebenso zweifellos aufzeigbaren Schwächen der Religion, insbesondere der christlichen, wird dagegen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Dieses theologische Ausweichen vor der Religionskritik, das vor allem für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist – heute würde eine solche undialektische Apologetik keine Aufmerksamkeit mehr finden –, führt zu einer Versteifung auf das Faktum der Religion. Das wiederum führt dazu, dass in einer überraschenden Koalition mit den Begründern des neuzeitlichen allgemeinen Religionsverständnisses unter Hinzufügung weiterer Differenzierungen allein der Nutzen der Religion für den einzelnen Menschen und die menschliche Gemeinschaft hervorgehoben wird. Nicht nur Schleiermacher beteiligt sich zudem an der impliziten Dogmenkritik, die vom allgemeinen Religionsbegriff auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Als Kriterium wird im 19. Jahrhundert gern die religionspsychologische Kategorie der „Lebensförderung“ ins Spiel gebracht, auch wenn nicht immer eindeutig

244 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

ist, was damit signalisiert werden soll. Die verschiedenen Beschreibungen der Religion kommen darin überein, dass sie in jedem Fall die menschliche Selbsterkenntnis und somit das Selbstbewusstsein des Menschen auf eine Weise zu befördern verhilft, wie es weder mit Hilfe der Philosophie noch einer anderen Wissenschaft gelingen könnte. Indem die Religion die Tiefenschichten des Menschen erreicht, ist sie den Wissenschaften überlegen und könnte bestenfalls noch in der Ästhetik bzw. der Kunst einen Partner anerkennen. Es zeigt sich an diesen Bestimmungen, dass sowohl im Blick auf die Funktionalität als auch auf ihre Unersetzbarkeit die Religion längst vor den Verteidigungen durch die funktionalen Religionstheorien im 20. Jahrhundert unter Berufung auf ihre Faktizität als selbstreferenziell angesehen wurde. Allerdings wurden im Rahmen der Theologie die hervorgehobenen funktionalen Gewinne der Religion im 19. Jahrhundert weniger abstrakt umrissen, als dies heute im Rahmen der außertheologischen Konzeptionen funktionaler Religionsbestimmungen geschieht. Es lassen sich vor allem drei Fokussierungen voneinander unterscheiden.

2.1 Religion als frommes Selbstbewusstsein: Friedrich Schleiermacher Über das hinaus, was bereits zu Schleiermacher dargelegt wurde (vgl. auch § 3,3), soll hier lediglich auf die mit der Religion verbundene Offerte hingewiesen werden, dass sie über die Erschließung und Vertiefung des Verhältnisses des Menschen zum Universum sowohl dem Individuum als auch der Gemeinschaft der Menschen eine Möglichkeit der Steigerung ihres Selbstbewusstseins ermöglicht. Dem mit seiner Endlichkeit bereits zufriedenen Menschen bietet die Religion den Frieden gegenüber allen ihm möglicherweise aus dem Universum zuwachsenden Anfechtungen und erhebt ihn auf diese Weise selbst auf eine göttliche Ebene. Es ist deutlich, dass Schleiermacher die neuzeitliche Selbstkonstitution des Menschen nicht angreift, sondern ihr mit der Religion einen zusätzlichen Gewinn in Aussicht stellt, der diesem Selbstbewusstsein zu einer spezifischen göttlichen Autorisierung verhilft. Klarer als in seinen Reden über die Religion lässt sich diese Zuspitzung bei Schleiermacher nicht belegen: Die Religion, die ihnen [sc. den Freunden und Verehrern alles Schönen und Guten] das höchste ist, behandelt jeder unter ihnen als Kunst und Studium; aus ihrem unendlichen Reichtum erteilt sie dazu einem jeden ein eigenes Los. Mit allgemeinem Sinn für alles, das in ihr heiliges Gebiet gehört, verbindet jeder, wie es Künstlern gebührt, das Streben, sich in irgend einem einzelnen Teile zu vollenden; ein edler Wetteifer herrscht, und das Verlangen, etwas darzubringen, das einer solchen Versammlung würdig sei, läßt jeden mit Treue und Fleiß einsaugen alles, was in sein abgestecktes Gebiet gehört. In reinem Herzen wird es bewahrt, mit gesammeltem Gemüt wird es geordnet, von himmlischer Kunst wird es geschmückt und vollendet, und so erschallt auf jede Art und aus jeder Quelle Preis und Erkenntnis des Unendlichen, indem jeder die reifsten Früchte seines Sinnens und Schauens, seines Ergreifens und Fühlens mit fröhlichem Herzen herbeibringt. – Sie sind untereinander ein Chor von Freunden. Jeder weiß, daß auch er ein Teil und Werk des Universums ist, daß auch in ihm sein gött-

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 245

liches Wirken und Leben sich offenbart. . . . Alles Menschliche ist heilig, denn alles ist göttlich. – Sie sind untereinander ein Bund von Brüdern – oder habt ihr einen innigeren Ausdruck für das gänzliche Verschmelzen ihrer Naturen, nicht in Absicht auf das Sein und Wollen, aber in Absicht auf den Sinn und das Verstehen? Je näher sich ein jeder dem Universum nähert, je mehr sich jeder dem andern mitteilt, desto vollkommener werden sie eins; keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des andern, sie sind nicht mehr nur Menschen sondern auch Menschheit, und aus sich selbst herausgehend, über sich selbst triumphierend, sind sie auf dem Wege zur wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit.13

Die Religion wird hier gleichsam zum entscheidenden Schlüssel einer Anthropologie, die dem Menschen verspricht, wahrhaft zu sich selbst und seiner Harmonie mit Gott zu kommen. Die Abgrenzung von Metaphysik (Sein) und Ethos (Wollen) bleibt erhalten und unterstreicht die religiöse Tiefendimension des Verstehens des Sinns, der als solcher einer rationalen Präsentation verschlossen bleibt. Jenseits aller anderen Herausgehobenheiten des Menschen sichert die Religion auf diese Weise das im letzten Sinn unnahbare Geheimnis der Göttlichkeit des Menschen als die eigentliche Substanz seines Selbstbewusstseins. Die religionstheologische Verschmelzung des Menschen mit der Gottheit ist bemerkenswerter Weise der geistphilosophischen Zusammenführung durch Hegel vorausgegangen.

2.2 Religion als Konstitution der sittlichen Persönlichkeit: Wilhelm Herrmann Die zweite in diesem Zusammenhang zu erörternde Fokussierung gilt der Religion als dem fundamentalen Konstitutionsmoment des Menschen als eines ethischen Subjekts, und zwar sowohl in systematischer als auch in praktischer Hinsicht. Der Neukantianismus, der weite Teile der liberalen Theologie im ausgehenden 19. Jahrhundert beeinflusst hat, erreicht in der Theologie Wilhelm Herrmanns seine wohl ausgeprägteste Gestalt. Herrmann bewegt sich auf der Linie SchleierWilhelm Herrmann (1846–1922) sieht das machers, indem er die Religion kategorial vom rechte Verstehen der Wirklichkeit des Menschen an die Religion verwiesen, auf Wissen und von der Ethik unterscheidet, und die er im individuellen Erleben der Gnade zugleich geht er über Schleiermacher hinaus, inals dem Ermöglichungsgrund für sein dem er die Religion als den im Grunde wahrhaft sittlich konstituiertes Selbstvertrauen menschenwürdigen und verlässlichen Zugang stößt. zur Wirklichkeit ansieht, deren wahre Bedeutung grundsätzlich über das hinausgeht, was durch die Wissenschaft erfasst werden kann. Religion ist nicht Ausdruck schlechthinniger Abhängigkeit, sondern der Ausdruck freier Hingabe des Menschen an das Erleben wahrer Wirklichkeit. 13 Über die Religion, Göttingen 71991, 159 f.

246 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie Der Keim der Religion ist die Erweckung des Menschen zur Selbstbesinnung. Ihre erste Lebensregung ist die Ehrfurcht vor dem Wirklichen. Ein weiterer Schritt zu ihrer vollen Verwirklichung ist die Besinnung auf unser wichtigstes Erlebnis, das Fragen nach der Macht, in deren Gewalt wir sind. Daran schließt sich das Erfassen der unabweisbaren Tatsache, daß die Macht, die allein uns völlig überwindet und unser Innerstes in ihre Gewalt bekommt, uns in der Güte begegnet, die uns demütigt und sich für uns opfert. Verwirklicht aber wird die Religion in der Offenbarung Gottes, die wir selbst erleben, wenn sich diese geistige Macht von den Zeiten und Orten ihrer Erscheinung ablöst und die Sonne unseres ganzen Lebens wird.14

Die Religion stellt sich uns nicht von sich aus in den Weg, ebenso wenig wie sie als ein offenkundiges Phänomen angesehen werden könnte, das bereits bei oberflächlicher Betrachtung der Wirklichkeit ins Auge springt. Ganz im Gegenteil entspricht sie gerade dadurch dem besonderen Adel des Menschen, dass sie sich allein vom ernsthaften Fragen des Menschen auffinden lässt und ihm eine dieser Ernsthaftigkeit adäquate Antwort und Vergewisserung gibt. Der Mensch, der sich in der Bewegung der Geschichte befindet, weil er durch das freie Dienen anderer zu Vertrauen und damit zu sittlicher Erkenntnis erhoben wird, ist auf dem Weg zur Religion, wenn die Aufforderung zu rückhaltloser Wahrhaftigkeit auch jene individuellen Erlebnisse umfaßt. Nicht in dem Hinwegfliegen über das Wirkliche, sondern in der vollen Besinnung auf das Wirkliche können wir Gott begegnen. Wäre es anders mit der Religion, so würde der unüberwindliche Verdacht, daß sie eine Illusion sei, an ihrem Lebensmark zehren. Selige Gewißheit kann sie nur sein bei einem Menschen, der sich aufrichtig sagen kann, daß er nichts anderes als das Wirkliche mit allen seinen Schrecken gesucht habe, als er sie fand. (295)

Dem von der Tiefe der Wirklichkeit affizierten individuellen Erleben misst Herrmann Offenbarungsqualität zu. Es ist prinzipiell von der auch wissenschaftlich zugänglichen Erfahrung zu unterschieden. Der seinem Wesen nach individuelle Charakter des Erlebens als die eigentliche Quelle der Religion lässt sich intersubjektiv nur partiell weiter vermitteln. Keine auf Objektivität bedachte wissenschaftliche Beschreibung oder auch eine an Plausibilität orientierte philosophische Erläuterung kann jemals das innere Lebensmoment der Religion beschreiben und erfassen. Die Evidenz der Religion lässt sich nicht aufweisen; sie resultiert allein aus der Beteiligung an ihr, indem sie „als das wahrhaft Lebendige in der Geschichte“ erlebt wird: Menschen, die die Religion für bewußten oder unbewußten Selbstbetrug halten, können und wollen wir nicht durch Beweise zwingen, anders zu urteilen. Wir scheiden uns von ihnen in der Überzeugung, daß die Religion das wahrhaft Lebendige in der Geschichte ist, und in der Erwartung, daß das Lebendige dem Toten gegenüber Recht behalten wird. . . . Wir können die Religion nur erkennen, sofern wir selbst an ihr beteiligt sind. Es ist darin mit der Religion nicht anders wie mit jeder rein geschichtlichen Erscheinung. Diese unterscheidet sich für unser Bewußtsein dadurch vom bloßen Naturereignis, daß wir ihr Entstehen nicht weiter verfolgen 14 Religion [1905], in: Ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie. Teil 1, hg. v. P. Fi-

scher-Appelt (TB 36/1), München 1966, 282–297, 297.

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 247

können als bis zu inneren Vorgängen in bestimmten Menschen. Eine geschichtliche Erscheinung können wir in ihrer Wirklichkeit nur erfassen, sofern wir die inneren Vorgänge, in denen sie wurzelt, miterleben können. Für Menschen eines anderen Lebenskreises ist sie in ihrer wirklichen Art immer unfaßlich. . . . In dieser Verborgenheit des geschichtlich Wirklichen vor allen, die selbst eine andere Geschichte haben, befindet sich aber besonders die Religion. (283)

Der spezifische Aufgabenbereich der Theologie liegt nun darin, dass es ihr obliegt, die Inhalte der Tradition unter dem Blickwinkel zu betrachten, inwiefern sie auf das Erleben bezogen sind bzw. hinzielen. Die Bewahrheitung der Tradition vollzieht sich im inneren Erleben und nicht in irgendwelchen materialen Lehren, welche von den Gläubigen anzuerkennen sind, auch wenn sich ihnen ihre Wahrheit nicht wirklich erschließt. Die Bibel ebenso wie die Dogmengeschichte werden für Herrmann vor allem zu Anschauungsmaterial mit authentischen Beispielen für Begebenheiten, in denen sich Gott den Menschen als Wirklichkeit erwiesen hat. Wegen ihres besonderen Illustrationspotenzials sind sie „für uns durchaus nicht wertlos“15 – bemerkenswert ist die negative Formulierung. Die heilige Schrift Alten und Neuen Testaments vergegenwärtigt uns etwas, was für unsere Seele viel wichtiger ist als irgendwelche Lehren. Sie vergegenwärtigt uns Menschen, die sich dessen bewußt waren, daß Gott sich ihnen offenbart und sie dadurch gänzlich verwandelt hatte. Und wenn wir auf die Worte dieser geheiligten Menschen, die in den heiligen Schriften zu uns reden, achten wollen, so sollen wir nicht darauf aus sein, daraus Lehren zusammenzuleimen. Wir sollen die Worte so benutzen, wie sie auch ein rechter Historiker benutzt, daß wir uns ein Bild gewinnen von diesen Menschen und ihr Inneres kennenlernen. Wenn diese Worte uns dazu dienen, dann wird uns in der heiligen Schrift etwas deutlich werden, was uns den rechten Weg für uns selbst weisen kann. Es wird uns deutlich, was für eine Macht diese Frommen meinten, wenn sie sagten, Gott habe zu ihnen geredet.16

Der Wissenschaft bleibt das innere Leben verschlossen. Sie befasst sich mit Gegenständlichem, das dem Leben dienen kann, aber nicht mit dem Leben selbst. Dabei setzt Herrmann einen Lebensbegriff voraus, der nicht schon die bewegte Natur als Leben versteht. Leben im qualifizierten Sinne ist vielmehr getragen von einer geistigen Macht in den Bewegungen der Geschichte, die wir mit Gott bezeichnen. Der Ton liegt nun darauf, dass der Mensch im Erleben der Wirklichkeit Gottes die je besondere Wirklichkeit seines eigenen individuellen Lebens erfährt. Der Mensch erkennt sich selbst als ein vom Leben berufenes Individuum. „Etwas Größeres kann uns nicht zuteil werden, als das Bewußtsein eines eigenen Lebens.“17 Der Grund, weshalb die Religion weder von der Wissenschaft noch von der Ethik erreicht werden kann, liegt darin, dass beide konstitutiv von allgemeinen Gesetzen bestimmt werden.18 15 Die religiöse Frage in der Gegenwart [1908], in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie. Teil 2, hg. v. P. Fischer-Appelt (TB 36/2), München 1967, 114–149, 141. 16 Gottes Offenbarung an uns [1908], in: Schriften. Teil 2, 150–169, 164 f.

17 Der Widerspruch im religiösen Denken und seine Bedeutung für das Leben der Religion, in: Schriften. Teil 2, 233–246, 245. 18 Vgl. Die religiöse Frage in der Gegenwart, 136 f.

248 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Mit den Reformatoren kann Herrmann vom Glauben insofern als einer Wiedergeburt des Menschen sprechen, als der Mensch durch das religiöse Erleben der Wirklichkeit und der sie tragenden verborgenen Macht (Gott) in ein grundsätzlich neues Verhältnis zu ihr versetzt wird, die er vorher nur zersplittert und als unüberschaubar wahrgenommen hat.19 So wenig sich die Konstitutionsbedingungen der Religion beschreiben lassen, so entschlossen kann auf der anderen Seite festgestellt werden, dass die Religion den sittlichen Menschen hervorbringt und somit die Grundlage der sittlichen Persönlichkeit darstellt. Wirklich wird die Religion bei uns in dem Moment, wo sich die geistige Macht, die wir erlebt haben müssen, von den einzelnen Orten ihrer Offenbarung ablöst und für unser Bewußtsein das selbständige Leben gewinnt, das unserm Erleben reiner Hingabe entspricht. Wie das zugeht, wissen wir nicht. Aber wo es sich ereignet, bedeutet es erstens reine Unterwerfung unter die Gewalt des Guten oder Sittlichkeit, zugleich aber auch Offenbarung Gottes als der Macht, von der wir sehen, daß wir ihr nicht entrinnen können, und die uns das Wunderbare sehen läßt, daß sie uns suchende Liebe ist. (295)

So sehr die Religion ihrem Wesen nach in die Sittlichkeit mündet, so ist auch umgekehrt die Sittlichkeit auf die Religion verwiesen, wenn sie nicht zu einer abstrakten und somit wirklichkeitsfernen Angelegenheit verkümmern soll. Es geht um ein wechselseitigen Verhältnis, in dem die Sittlichkeit seine praktischen Energien aus dem im Übernatürlichen verankerten höchsten Gut bezieht, so wie umgekehrt die Religion allein darin zu ihrer begrifflichen Vollendung gelangt, dass sie die sittliche Person begründet, indem sie den Menschen darin vergewissert, dass er von einem allmächtigen Willen getragen ist. Darin liegt die entscheidende Ausrichtung der Religion, die vor allem dazu dient, die sittliche Persönlichkeit – von ihr wurde in dieser Zeit gern gesprochen – vollendet und über die Bedingungen der Welt erhebt. Als sittliche Persönlichkeit kann der Mensch zu einem Selbstvertrauen gelangen, das ihn dann auch dazu befähigt, seine gestaltende Rolle in der Geschichte zu finden. Es ist die Religion, die dem Menschen zu diesem Selbstvertrauen verhilft. Das Vertrauen, das die von uns erfahrene Macht sittlicher Güte in uns schafft, ist der Glaube an Gott, die wirkliche Religion. Jede andere Vorstellung von Gott muß schließlich von dem Menschen verlassen werden, dessen sittliche Erkenntnis sich entwickelt, und wird ihm dann ein Götzenbild. Diese eine kann die Menschheit durch ihre Geschichte leiten, deren ewiges Ziel die Gemeinschaft freier Personen ist, die Verwirklichung alles dessen, worauf die Energie des guten Willens geht.20

Herrmann ist darin ein typischer Vertreter seiner Zeit, dass er all seine Überlegungen auf die Selbsterfüllung bzw. Selbstverwirklichung des Menschen in der Geschichte zulaufen lässt. Der Selbsterweis des Menschen als Subjekt der Geschichte ist ein Konvergenzpunkt der neuzeitlichen Anthropologie, die bei Herrmann auf die 19 Vgl. Religion, 296. 20 Religion und Sittlichkeit [1905], in: Schriften. Teil 1, 264–281, 279.

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 249

Religion im oben beschriebenen Sinne verwiesen wird: Das, „was die Geschichte und den Menschen als Träger der Geschichte erst möglich macht, ist die Religion.“21 Im Unterschied zur Natur ist die Geschichte die Ebene, auf welcher der Mensch seine Freiheit realisiert, indem er sich für das, was er tut, verantwortlich erklärt.22 &

P. Fischer-Appelt, Wilhelm Herrmann, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. M. Greschat, Bd. 10.1: Die neueste Zeit III, Stuttgart 1985, 59–69 (weitere Literaturangaben) R. Mogk, Die Allgemeingültigkeitsbegründung des christlichen Glaubens. Wilhelm Herrmanns Kant-Rezeption, Berlin 2000

2.3 Religion als anthropologisches Spezifikum Der dritte Grund, weshalb die Theologie darauf verwiesen sei, mit ihren Orientierungen in der Religion den fundamentalen Einstieg zu wählen, liegt darin, dass die Religion als das entscheidende Kennzeichen der Menschlichkeit des Menschen verstanden wird, d. h. als das spezifische anthropologische Spitzenmerkmal. Dabei lassen sich drei Perspektiven voneinander unterscheiden: 1. Die Religion charakterisiert wie nichts anderes das Bewusstsein von der besonderen Vorzugsstellung des Menschen in der Natur (2.3.1). 2. Die Religion wird zu einer Schlüsselkategorie für die Anthropologie überhaupt (2.3.2). 3. Die Religion hält die vitale Frage nach der Essenz der menschlichen Existenz wach und hindert den Menschen daran, sich selbst zu verlieren bzw. Frieden mit seiner Selbstentfremdung zu schließen (2.3.3).

2.3.1 Otto Pfleiderer Mit seiner Bestimmung der Religion knüpft Otto Pfleiderer (1839–1908) an Schleiermacher an, indem er sie dem Selbstbewusstsein des Menschen zuweist. Dabei radikalisiert er den auf die Religion gelegten Akzent, indem er den Grund der Religion in der Gottverwandtschaft der menschlichen Natur verankert. Die Religion signalisiere die besondere Herausgehobenheit des Menschen und stelle ihn an die Seite Gottes, wo er der Welt gegenüberstehe. Die Religion ist diejenige praktische Lebensbeziehung des Menschen zu der weltbeherrschenden Macht oder zu Gott, welche beruht auf dem unwillkürlichen und gottgewirkten Gefühl der Lebensgebundenheit an Gott, und durch freiwillige Hingabe an ihn sich erhebt zur Lebensgemeinschaft mit Gott und damit zur gottähnlichen Stellung zur Welt.23 21 Die religiöse Frage in der Gegenwart, 137. 22 Vgl. Die Religion unserer Erzieher [1918], in: Schriften. Teil 2, 324–345, 325.

23 Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, Berlin 61898, 12.

250 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

In der Unwillkürlichkeit dieses religiösen Gefühls liegt die Notwendigkeit für den Menschen, in ein bewusstes Verhältnis zur Religion eintreten zu müssen. Einerseits ist nach dem Willen Gottes zu fragen und andererseits soll die von der Natur vorbereitete Gemeinschaft mit Gott (hier nimmt Pfleiderer auf die Mystik als das Grundgefühl der Religion Bezug) um der eigenen Lebensvollendung willen gepflegt werden. Auf diesem Weg findet der Mensch seine „gottähnliche Freiheit und Würde gegenüber der Welt“ (13). Der Grund der Religion liegt in der Gottverwandtschaft unserer menschlichen Natur, oder in der uns anerschaffenen göttähnlichen Vernunftanlage, welche uns befähigt und antreibt, in den Erscheinungen der natürlichen und sittlichen Welt das Walten einer uns sowohl bindenden als befreienden geistigen oder Willensmacht anzuerkennen und zu ihr in ein persönliches Verhältnis zu treten. (13)

Grundsätzlich ist jedes Erlebnis geeignet, die Religion zu stimulieren, aber die in der Not erfahrene Bedürftigkeit erweist sich als die häufigste Gestalt der Aktivierung. Neutral formuliert sind Religion und Wissenschaft unabhängig voneinander, faktisch aber ergibt sich immer wieder ein Spannungsverhältnis zwischen beiden, da die Religion ihr Bildmaterial aus der Welt bezieht, die auch Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung ist, allerdings ohne sich dabei den logischen Verknüpfungen des Wissens zu unterwerfen (15).

2.3.2 Wolfhart Pannenberg In der Offenheit des Menschen für Göttliches zeigt sich nach Wolfhart Pannenberg (*1928) ein anthropologisches Spezifikum, das auf die ihm eigene Religiosität verweist: Zu den Eigentümlichkeiten, die den Menschen von den ihm zunächst verwandten Tieren unterscheiden, gehört neben anderem auch die Tatsache, daß er Götter oder göttliche Mächte in irgendeiner Form verehrt, also Religion hat.24

An dem Verhältnis des Menschen zur Religion entscheidet sich nach Pannenberg nicht nur die Identität des Individuums, sondern es hat auch eine konstitutive Bedeutung im Blick auf die Legitimität gesellschaftlicher Institutionen, sodass heute die Frage zu stellen sei, „wie lange eine säkulare Gesellschaft überleben kann, die sich von ihren religiösen Wurzeln getrennt hat“ (20). Die Religionsfrage ist immer auch eine gesellschaftspolitische Frage; an ihr entscheidet sich nicht nur die Humanität des Einzelnen, sondern eben auch die Humanität der Gesellschaft. In Anlehnung an Erik H. Erikson annonciert Pannenberg das für eine gesunde menschliche Entwicklung unverzichtbare Grund- bzw. Urvertrauen als das mensch24 Religion und menschliche Natur, in: Ders. (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös?, Düsseldorf 1986, 9–24, 9.

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 251

liche Angelegtsein auf Religion. Das der Mutter entgegengebrachte kindliche „Vertrauen ist immer schon unendlich viel größer als es ihren beschränkten Kräften . . . entspricht“, sodass Pannenberg annimmt: „Die Mutter vertritt lediglich Gott in den Anfängen der kindlichen Entwicklung.“ (23) Aus dieser Argumentation zieht er dann den Schluss: Der Mensch ist von Natur aus religiös. Religion – in welcher Form auch immer – ist eine notwendige Dimension seines Lebens, und wo sie verkümmert, muß man mit folgereichen Verformungen der dem Menschen möglichen Entfaltung seines Lebens rechnen. (23)

Bezogen auf das Urvertrauen kann Pannenberg von der Religion auch als von einer „Anlage“ des Menschen sprechen: Im Hinblick darauf kann von einer ‚Anlage‘ des Menschen zur Religion gesprochen werden, die unabtrennbar ist von seiner Humanität. Aus solcher Anlage zur Religion folgt nun allerdings nicht die Wahrheit der religiösen Behauptungen über Wirklichkeit und Wirken Gottes oder der Götter. Auch wenn im Gegensatz zu rein anthropologischen Bestimmungen des Religionsbegriffs der Bezug auf eine göttliche Wirklichkeit immer schon konstitutiv ist für die Religion, läßt sich aus der menschlichen Anlage zur Religion nicht auf das Dasein Gottes schließen.25

Die Gegebenheit Religion ist nicht der hinreichende Grund für die Anerkenntnis der Wirklichkeit Gottes – es könnte sich ja auch „um eine zur Natur des Menschen gehörige Illusion handeln“ (172) –, aber sie bleibt dennoch die notwendige Bedingung für die Wahrheit von religiösen Aussagen über die göttliche Wirklichkeit. Für Pannenberg hängt an der Religion die Substanz der Anthropologie, weil der Mensch ohne sie keine Aussage über seinen Ursprung machen könnte und zwangsweise in fataler Weise an sich selbst verfallen (durchaus im doppelten Sinn des Wortes) würde. Diese Zuspitzung sieht Pannenberg gerade aus christlicher Perspektive für notwendig an. Wäre die Religion kein für das Menschsein konstitutives Thema, dann würde der Integrität menschlichen Lebens nichts mangeln, wo sie fehlt. Damit wäre aber ein schwerwiegender Einwand gegen die Wahrheit des Glaubens an die Wirklichkeit Gottes gegeben. Darum muß auch christliche Theologie an der Frage Interesse nehmen, ob der Mensch seiner Natur nach auf Religion angelegt ist. Wäre das nicht der Fall und ließe sich gar die Entstehung des religiösen Bewußtseins als Produkt einer unabhängig von aller religiösen Thematik existierenden Subjektivität dartun, etwa als Ausdruck pathologischer Verirrungen ihres Selbstverständnisses, dann wäre jeder, auch der christlichen Behauptung göttlicher Wirklichkeit die Basis ihrer Plausibilität entzogen. Das gilt in besonderer Weise im Kontext der abendländischen Kultur der Neuzeit, weil hier einerseits die Religion politisch und gesellschaftlich zur Sache der Subjektivität und ihres individuellen Selbstverständnisses erklärt wurde, andererseits die Anthropologie infolge der Ablösung des naturwissenschaftlichen Weltbildes von religiösen Voraussetzungen zur Basis der Vergewisserung der Wirklichkeit Gottes wurde. (173) 25 Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 172.

252 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Diese Zuweisung der Religion zur Anthropologie versucht also den veränderten neuzeitlichen Bedingungen Rechnung zu tragen. Allerdings bleibt der Mensch hinsichtlich der Wahrheit der göttlichen Wirklichkeit auf den Selbsterweis Gottes angewiesen: Das Dasein der göttlichen Wirklichkeit kann nur durch Gott selbst bewiesen werden, dadurch, daß seine Wirklichkeit den Menschen anrührt und ihm von daher dann die Welt und sein eigenes Leben als Gottes Schöpfung erkennbar werden.26 – Ein Gott kann nur an dem Maß gemessen werden, das er selber setzt.27 &

Chr. Glimpel, Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2007 A. Lange, Religion als Weltbemächtigung. Zur Begründung der Theologie durch die Theorie der Religion bei Wolfhart Pannenberg (BEvTh 121), Gütersloh 2003

2.3.3 Paul Tillich Ausgangspunkt für das Religionsverständnis von Paul Tillich ist die Feststellung, dass sich der Mensch in seinem Leben nicht in Übereinstimmung mit seiner Bestimmung befindet: Die Existenz des Menschen hat sich von seiner Essenz entfremdet. In dieser Feststellung der Entfremdung stimmt Tillich zunächst mit der Hauptlinie der Religionskritik überein. Allerdings erscheint bei ihm im Unterschied zur Religionskritik die Religion jetzt nicht als eine Vernebelungsstrategie und somit als ein Stabilisierungsfaktor dieser Selbstentfremdung, sondern sie ist die sich in der Entfremdung artikulierende Alarmierung des Menschen, der die Dissonanz zwischen dem, was ist, und dem, wie es sein soll, zu ahnen beginnt und nun die Frage nach seiner Bestimmung stellt mit der Perspektive, den Bedingungen der Entfremdung entgegenzutreten. Die Unterscheidung von Existenz und Essenz verknüpft Tillich mit der räumlichen Metaphorik zweier Dimensionen. Für die Existenz steht in Assoziation mit der das Leben quantitativ erfassenden Zeitachse die horizontale Dimension, während sich die Essenz in der „Dimension der Tiefe“ zeigt, die quer zur ablaufenden Zeit verläuft und den Blick auf das Ganze, und d. h. insbesondere auf den Sinn des Lebens, lenkt. Die horizontale Dimension beschreibt gleichsam den funktionierenden Menschen und in der vertikalen Dimension meldet sich seine Fraglichkeit zu Wort. So wenig die Aufmerksamkeit auf die Dimension der Tiefe bereits garantiert, dass es auf die Frage des Menschen tatsächlich eine tragfähige Antwort gibt, so sicher ist es hingegen, dass der Verlust dieser Dimension des Fragens nach der Bestimmung des Menschen seine hoffnungslose Auslieferung an die allein am Funktionieren orientier-

In der Perspektive der Religionsphilosophie von Paul Tillich (1886–1965) fragt der Mensch von seiner Existenz nach seiner Essenz als „das, was uns unbedingt angeht“. Die Religion ist die Frage, die Theologie versucht eine Antwort zu geben.

26 Religion und menschliche Natur, 23 f.

27 Systematische Theologie I, 176.

2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 253

ten Bedingungen der Entfremdung bedeutet. Wenn Tillich diese Dimension als verloren beklagt, kommt dies der Feststellung des Selbstverlustes des Menschen gleich. Daß der Mensch die Dimension der Tiefe verloren hat, liegt . . . an seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. Er hat sich mittels der Wissenschaft die Welt unterworfen und nützt sie mit Hilfe der Technik aus. Dabei drängen ihn die treibenden Kräfte der industriellen Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist, in horizontaler Richtung voran. . . . Man darf die Kraft, die dieser Bewegung zugrunde liegt, nicht geringschätzen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, die Welt zu verstehen und zu verwandeln; und heute ist er sich bewußt, daß dieser Fähigkeit keine sichtbaren Grenzen gesetzt sind. Ein deutlicher Ausdruck für das Vorwärtsdrängen in der horizontalen Richtung ist die Durchbrechung des Schwerefeldes der Erde und die Eroberung des Weltraums. . . . Die Frage, was den Menschen in der horizontalen Richtung vorwärts treibt, ist schwer zu beantworten. Manchmal ist man versucht, den Antrieb in dem Rausch der bloßen uneingeschränkten Bewegung zu sehen. Aber das ist keine genügende Erklärung. Auf seinem Weg in Raum und Zeit verändert der Mensch die Welt, der er begegnet, und diese Veränderung verwandelt wiederum ihn selbst. Indem er in seinem Drang nach vorwärts alles ihm Begegnende zum Werkzeug macht, wird er schließlich selbst zum Werkzeug. Aber auf die Frage, wozu das Werkzeug dienen soll, weiß er keine Antwort.28

Die horizontale Dimension folgt der instrumentellen Vernunft und führt unweigerlich zur Instrumentalisierung des Menschen. In der vertikalen Dimension artikuliert sich dagegen sein Sinnbedürfnis, das ihn in Kontakt hält zu einer Bestimmung, die den Menschen zum Menschen macht. Tillich nennt diese Dimension die religiöse Dimension, die auch den Blick auf sein Religionsverständnis freigibt: Ich will die Dimension der Tiefe im Menschen als seine ‚religiöse Dimension‘ bezeichnen. Religiös sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens fragen und für Antworten offen sein, auch wenn sie uns tief erschüttern. Eine solche Auffassung macht die Religion zu etwas universal Menschlichem, wenn sie auch von dem abweicht, was man gewöhnlich unter Religion versteht. Religion als Tiefendimension ist nicht der Glaube an die Existenz von Göttern, auch nicht an die Existenz eines einzigen Gottes. Sie besteht nicht in Handlungen und Einrichtungen, in denen sich die Verbindung des Menschen mit seinem Gott darstellt. Niemand kann bestreiten, daß die geschichtlichen Religionen ‚Religion‘ in diesem Sinne sind. Aber Religion in ihrem wahren Wesen ist mehr als Religion in diesem Sinne: Sie ist das Sein des Menschen, sofern es ihm um den Sinn seines Lebens und des Daseins überhaupt geht. (44)

Tillich liegt es fern, mit seinem Plädoyer für die Religion den verfassten Religionen in die Hände zu spielen. Vielmehr geraten diese durch ihre Routinisierungen schnell auch ins Visier der von seinem Religionsverständnis ausgehenden Kritik. Es kann sich ereignen – und es ereignet sich auch immer wieder –, dass verfasste Religionen erstarren und der religiösen Dimension verlustig gehen, sodass es zu der merkwürdigen Konstellation kommen kann, dass eine (verfasste) Religion aus Gründen der Religion (vom „Wesensbegriff der Religion“ aus) abzuweisen ist. 28 Die verlorene Dimension [1958], in: Gesammelte Werke V, Stuttgart 21978, 43–50, 44 f.

254 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Religion im Sinne von Tillich transzendiert die Phänomene, die offenkundig als Religion in Erscheinung treten. Überall, wo es um den Sinn des Lebens geht – ob im Roman, in der Malerei, der Philosophie oder auch in der Architektur –, meldet sich die Religion als die Frage nach der Bestimmung des Menschen zu Wort und drängt auf eine die gerade gegebenen Bedingungen transzendierende Antwort. In seiner Bedingtheit fragt der Mensch in der Religion nach Unbedingtheit. Darin ist sie eine besondere Funktion des den Menschen auszeichnenden Geistes: Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes. Die Religion „öffnet die Tiefe des menschlichen Geisteslebens, die zumeist vom Staub unseres Alltagslebens und vom Lärm unserer profanen Arbeit verdeckt ist. Religion läßt uns das Heilige erfahren, etwas das unberührbar, Ehrfurcht gebietend, letzter Sinn, Quelle höchsten Mutes ist.“29

Ihr eignet insofern ein Moment der Tragik als sie vor allem mit dem Faktum der Nichtentsprechung bzw. der Entfremdung konfrontiert bleibt. Tillich sieht darin einen Ausdruck sowohl der den Menschen prägenden Größe als auch seiner unausweichlichen Tragik. Die Religion fällt mit der Kraft der Selbstfraglichkeit des Menschen zusammen, indem sie Fragen aufwirft und auch entfaltet, deren Antworten nicht einfach den jeweils vorgefundenen Gegebenheiten entnommen werden können, sondern prinzipiell über diese hinausgreifen – es sind religiöse Fragen, die mit ihren Antworten an den Glauben des Menschen appellieren. Es wird nicht möglich sein, auf die existenziell gestellte religiöse Frage einfach mit den überkommenen Lösungen der verfassten Religionen zu antworten. Da viele ihrer Symbole stumm geworden sind, weil wir sie den Kategorien der horizontalen Dimension unserer Lebensorganisation unterworfen haben, liegt ihre Bedeutung brach, obwohl sie nach wie vor ein erst wieder neu zu entdeckendes Potenzial für auch heute tragfähige Antworten enthalten. Die Gegenwart wird sich jedoch zunächst damit abfinden müssen, vor allem das Sinndefizit feststellen zu können. Indem damit aber die religiöse Frage wieder in den Blick kommt, ist die entscheidende Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich möglicherweise wieder Antworten erschließen können, zu denen uns zwischenzeitlich der Zugang versperrt ist. Aber die Einsicht, daß wir die entscheidende Dimension des Lebens, die Dimension der Tiefe, verloren haben und daß wir sie nicht leicht wiederfinden können, kann eine Wendung zu ihr hin sein. Wer versteht, daß er vom Sinngrund seines Lebens getrennt ist, ist durch dieses Verstehen in gewissem Sinne mit ihm vereint. Deswegen ist uns vor allem die radikale Erkenntnis unserer Situation nötig ohne den Wunsch, sie durch säkulare oder religiöse Ideologien zu verdecken. Die Wiederbelebung der Religion kann sich zu einer schöpferischen Kraft auswirken, wenn sie uns zur Suche nach der verlorenen Dimension der Tiefe treibt. 29 Religion als eine Funktion des menschlichen Geistes [1955], Gesammelte Werke V, 37–42, 40 f. u. 41 f.

3. Die religionsgeschichtliche Schule 255

. . . Anstatt voreilige und trügerische Antworten anzubieten, müßte die Religion zu einem neuen Verständnis der alten Symbole und ihrer Bedeutung für unsere gegenwärtige Situation verhelfen. Dann könnte ihre Wiedergeburt eine schöpferische Macht in unserer Kultur und eine heilende Kraft für die Menschen werden, die in Entfremdung, Angst und Verzweiflung leben. Jede religiöse Antwort hat den Charakter eines ‚Trotzdem‘. Auch in ihrem Verschwinden ist die Kraft der Tiefe wirksam, und am mächtigsten dort, wo der Verlust am tiefsten empfunden wird.30

Auf dem Hintergrund der dargelegten religionsphilosophischen Zuspitzungen ist es unmittelbar plausibel, wenn die darauf antwortende philosophisch-theologische Perspektive programmatisch in der Formel Der Mut zum Sein zusammengefasst wird, dem Titel einer der Schriften Tillichs (The Courage to Be, 1952; deutsch 1953). &

Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, hg. v. H. Fischer, Frankfurt/M. 1989 Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. W. Schüßler u. E. Sturm, Darmstadt 2007

3. Die religionsgeschichtliche Schule 3.1 Ernst Troeltsch Der wachsende Einfluss der historischen Forschung im 19. Jahrhundert führte nicht nur zu einer Relativierung aller dogmatischen Ansprüche der Theologie, sondern bald auch zu einer Einreihung des Christentums sowohl in die religionsgeschichtliche Umwelt seiner Entstehungszeit als auch in die zeitgenössische Vielfalt der verschiedenen Religionen. Hegels religionsphilosophische Systematisierung wird am Ende des 19. Jahrhunderts beerbt durch historische Rekonstruktionen und Bewertungen, durch welche die Religionen konsequent in die menschliche Geschichte und die ihr unterstellte Entwicklung hineingestellt werden. Die insbesondere von Exegeten gebildete religionsgeschichtliche Schule (W. Bousset, J. Weiß, W. Wrede, A. Rahlfs, H. Gunkel) versuchte die auf lebendiger Erfahrung basierende Religion weniger von ihrer Lehrbildung, sondern vor allem aus ihrem konkreten historischen Kontext zu verstehen. Die religiösen Quellen werden vor allem auf ihre Kontextualität hin untersucht. Der Systematiker der religionsgeschichtlichen Als Systematiker der religionsgeschichtlichen Schule war Ernst Troeltsch. Für ihn hat sich aus Schule reiht Ernst Troeltsch (1865–1923) das Christentum konsequent in die der historischen Zugangsweise gleichsam ein Pahistorisch zu verstehende Welt der radigmenwechsel für die ganze Theologie ergeReligionen ein, bescheinigt ihm dabei aber ben, durch den sich die bisher favorisierte dogeine relative Höchstgeltung. matische Methode der Theologie unwiederbringlich überlebt hat. „Die historische Methode, einmal auf die biblische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist ein Sauerteig, der alles verwandelt und 30 Die verlorene Dimension, 50.

256 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

der schließlich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt.“31 Die historische Betrachtung kennt keine Absoluta und somit auch keine überzeitlich anzuerkennenden Autoritäten oder Dogmen, sondern sieht alles Geschehen in den Fluss der menschlichen Geschichte hineingestellt. Eben dieser Einsicht wird die historische Methode gerecht: Die historische Methode führt durch Kritik, Analogie und Korrelation ganz von selbst mit unaufhaltsamer Notwendigkeit zur Herstellung eines solchen sich gegenseitig bedingenden Geflechtes von Betätigungen des menschlichen Geistes, die an keinem Punkt isoliert und absolut sind, sondern überall in Verbindung stehen und ebendeshalb nur im Zusammenhang eines möglichst alles umfassenden Ganzen verstanden werden können. (734)

Die unabweisliche Relativierung durch die historische Erkenntnis führt bei Troeltsch jedoch nicht zu einem historischen Relativismus, in dem alles der Beliebigkeit anheimgestellt wird, sodass sich keine qualitativen Urteile mehr aussprechen lassen. Der entscheidende Hintergrund für sein rückhaltloses Vertrauen in die historische Methode („Wer ihr den kleinen Finger gegeben hat, der muß ihr auch die ganze Hand geben“ [734]) ist in der idealistischen geschichtsphilosophischen Grundannahme zu suchen, nach welcher Troeltsch davon überzeugt ist, daß . . . sich ein relativ übereinstimmendes Urteil sittlich und religiös ernst denkender Menschen, die nicht spielen und nicht geistreich sein wollen, sondern denen es wirklich um einen Lebengehalt zu tun ist, erreichen läßt. Es ist das freilich eine Überzeugung und beruht auf dem religiös-ethischen Glauben, daß schließlich in der prinzipiellen Gleichartigkeit der menschlichen Natur auch die Gemeinsamkeit in der Anerkennung höchster Wertmaßstäbe begründet sei und von hier aus sich durchsetzen werde. . . . Ich hebe nur hervor, daß allerdings niemand aus der Historie vernünftiger Weise eine Wertskala wird gewinnen wollen, der sie für ein reines Chaos hält, sondern daß hierfür der Glaube an eine in der Geschichte waltende und sich fortschreitend offenbarende Vernunft unerläßliche Voraussetzung ist. (745 f.)

Dieses Vertrauen in die „göttliche Tiefe des menschlichen Geistes“ (748) ermöglicht es Troeltsch schließlich auch, über die verschiedenen Religionen Werturteile zu formulieren, wobei sich diese konsequent auf der relativen Ebene geschichtlicher Wahrnehmungen bewegen. So wird in einer seiner bedeutendsten Schriften einerseits zwar entschlossen die These von der Absolutheit des Christentums verabschiedet, während gleichzeitig die relative Höchstgeltung des Christentums im Vergleich mit den anderen Religionen hervorgehoben wird. Einerseits: „Nirgends ist das Christentum die absolute von geschichtlicher, momentaner Bedingtheit und ganz individueller Artung freie Religion, nirgends die wandellose, erschöpfende und unbedingte Verwirklichung eines allgemeinen Begriffes der Religion.“32 „Die Historie ist kein Ort für absolute Religionen und absolute Persönlichkeiten.“ (35) 31 Über historische und dogmatische Methode in der Theologie [1998], Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913, 729–753, 730.

32 Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte [1902], Tübingen 31929, 28.

3. Die religionsgeschichtliche Schule 257

Andererseits: „Das Christentum ist in der Tat unter den großen Religionen die stärkste und gesammelste Offenbarung der personalistischen Religiosität. . . . Es nimmt eine durchaus einzigartige Stellung ein.“ (70) „Die religionsgeschichtliche Betrachtung zeigt jedenfalls, daß das Christentum . . . nicht bloß eine prinzipiell einzigartige Stellung einnimmt, sondern daß sie darin zugleich die einzelnen Ansätze und Hindeutungen auf ein gemeinsames Ziel zusammenfaßt, die wir empfinden, wenn wir überhaupt die Religionen nachfühlend auf die in ihnen sich offenbarenden Kräfte prüfen und von innerer Überzeugungsnotwendigkeit getrieben von höheren und tieferen Stufen sprechen.“ (71) „Hier ist die Tendenz der Religion zur Allgemeingültigkeit auf ihren Gipfel gelangt, alles Partikulare, Volkstümliche, weltlich Bedingte ausgetilgt, jede Abhängigkeit von einer bloß gegebenen, immer uneinheitlichen Lage durch die Allgemeinheit eines erst zu erreichenden, aber in Bestimmung und Wesen begründeten Zieles überwunden.“33 „Es ist . . . die einzige Religion, die eine schlechterdings unbedingte Allgemeinheit in Anspruch nimmt“ (350).

Beide Aussagen liegen auf unterschiedlichen und doch auch zusammenhängenden Ebenen. Troeltsch macht einen Unterschied zwischen der historischen Erscheinung, die prinzipiell relativ ist, und dem normativen Anspruch, der von der jeweiligen Religion repräsentiert wird. Die unterschiedlichen religiösen Wertbildungen der Menschheit lassen sich auf relativ wenige, ja im Grunde auf zwei Perspektiven reduzieren: „es handelt sich im wesentlichen um den Kampf der prophetisch-christlichplatonisch-stoischen und der buddhistisch-östlichen Ideenwelt“.34 Troeltsch geht nicht von einer beliebigen Varianz religiöser Erscheinungen aus, die sich diffus in jede Richtung entwickeln können, sondern stellt im Gegenteil ihre Kohärenz und im Grunde erstaunliche Stabilität heraus. Diese Beobachtung erlaubt es ihm, auf der Ebene der religiösen Werte Vergleiche und Beurteilungen vorzunehmen, auch wenn einzuräumen bleibt, dass diese subjektiv-persönlich bleiben, selbst wenn sich durchaus gemeinsame und allgemeine Grundlinien ausfindig machen lassen, deren Zielperspektive allerdings prinzipiell über die Grenzen der Geschichte hinausweist (vgl. 54 ff.). Gerade auf die Herausforderung der um sich greifenden säkularen Kritik am Christentum und der Religion überhaupt empfiehlt Troeltsch eine gelassene Selbstbehauptung: Auf die aufgeworfene Frage darf nun aber meines Erachtens trotz aller Schwierigkeiten der gegenwärtigen religiösen Krisis ein vollkommen ruhiges Bekenntnis zum Christentum antworten, sofern man es in seiner historischen Gesamterscheinung versteht. Als solche vereinigt es den israelitischen Prophetismus, die Predigt Jesu, die Mystik des Paulus, den Idealismus des Platonismus und Stoizismus, die mittelalterliche Zusammenschmelzung der europäischen Kultureinheit mit dem religiösen Gedanken, den germanischen Individualismus Luthers, die Gewissenhaftigkeit und Aktivität des Protestantismus. Das bedeutet eine Fülle von Möglichkeiten und einen inneren Wesenszusammenhang mit unserer ganzen Kultur, woraus sich die völlige Unwahrscheinlichkeit einer religiösen Neubildung und andererseits die Möglichkeit vieler neuer, in die Zukunft vordringender Synthesen ergibt. (66 f.)

33 Christentum und Religionsgeschichte [1897], in: Gesammelte Schriften II, 328–363, 351.

34 Die Absolutheit des Christentums, 51.

258 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie Es geht Troeltsch um die „milde Sicherheit, daß auch im weiteren Rahmen sich die echten und wahren Kräfte der Wirklichkeit behaupten und nur die künstlich oder zufällig in den Vordergrund gedrängten sich verlieren oder auf bescheidenes Maß zurückführen.“ (93)

Zusammengehalten wird der ganze Vorschlag von Troeltsch durch die spezifische Gestalt eines allgemeinen Religionsverständnisses, in dem die verschiedenen Wertungen, die seinen Vergleich schließlich orientieren, bereits implizit enthalten sind. Ihr „tiefster Kern“ ist ein nicht weiter zu analysierendes Erlebnis, ein letztes Urphänomen, das ähnlich wie das sittliche Urteil und die künstlerische Anschauung eine einfache letzte Tatsache des Seelenlebens, von beiden aber wieder ganz charakteristisch verschieden ist.35

In der Religion wird der Kern der übersinnlichen Welt erlebt und erfahren, den Troeltsch als eine „einheitliche Grundwirklichkeit“ ansieht, die zumindest formal in allem religiösen Erleben dieselbe ist, so unterschiedlich sie auch erlebt werden mag. Als solche beansprucht sie ein eigenes Lebensgebiet, das weder aus dem philosophischen Trieb des Menschen, seiner Phantasie oder seinem Glücksverlangen abgeleitet werden kann. Die Religion folgt aus einem Zwang, der nicht aus der Welt der sinnlichen Erfahrung und der sinnlichen Bedürfnisse stammt, sondern im Gemüte des Menschen bereits vorhanden ist (religiöses Apriori36), bevor es selbst erschlossen wird. Es handelt sich „um eine der letzten, nicht weiter aufzulösenden, immerdar geheimnisvoll und inkommensurabel bleibenden Grunderscheinungen des geistigen Lebens“.37 Troeltsch setzt bei den Menschen eine unterschiedliche religiöse ‚Apperzeption‘ voraus: Hier liegt der Grund für die individuellen Unterschiede. Auch gebe es ein historisches Auf und Ab der Religionen, doch in ihrem Kern bleibe die Religion wesentlich dieselbe (vgl. 348 f.). Das Bindeglied zwischen Einheit und Verschiedenheit der Religionen ist die Vorstellung der Entwickelung, die ihrerseits die Vorstellung eines einheitlichen Endziels voraussetzt. Die Wahrnehmung der Entwickelung zeigt im Kosmos der Religionen verschiedene Religionsgruppen in Wechselbeziehung und Stufenfolge. Die Vorstellung vom Fortschritt in der Geschichte wird von Troeltsch mit dem Verständnis von Religion verbunden, da die Religion „ganz anders als die Geschichte der übrigen Lebensgebiete an die Erreichung eines endgültigen und einfachen Zieles glauben darf“. Die Religionen bilden „eine im Ganzen aufsteigende Einheit“, und es „ist eine allgemeine Tendenz erkennbar, die auf zunehmende Vergeistigung, Verinnerlichung, Versittlichung und Individualisierung und damit – denn das ist die notwendige Folge – auf die Herausbildung eines immer tieferen Erlösungsglaubens gerichtet ist.“ (353 f.) Im Horizont der Religion erscheint Geschichte als Erlösungsgeschichte zur „Gemeinschaft mit Gott und zur Freiheit des Geistes über die Welt und über die bloße, stumpfe Tätigkeit des Daseins“ (342). Trotz aller Individualisierung eignet 35 Christentum und Religionsgeschichte, 339. 36 Vgl. dazu: Das religiöse Apriori [1909], in: Gesammelte Schriften II, 754–768.

37 Christentum und Religionsgeschichte, 344.

3. Die religionsgeschichtliche Schule 259

der Religion eine vergemeinschaftende Kraft, die den Erosionskräften des modernen Individualismus entgegenwirkt. Darin hat die Religion eine unersetzliche Bedeutung für die Gesellschaft und die Kultur. Die Konsequenzen von Troeltschs Konzeption zeigen sich dann deutlich in seinem konsequent entdogmatisierten Kirchenverständnis, das heute wieder von verschiedenen Vertretern der Christentumstheorie als modern und richtungweisend empfunden wird (T. Rendtorff, F. Wagner [% § 7,5.1], Fr. W. Graf [% § 7,5.2], W. Gräb [% § 7,53] u. a.). Die Kirche konstituiert sich nicht im Bekenntnis, sondern verpflichtet sich vor allem organisationspragmatischen Gesichtspunkten (sie soll sich als pluralistische Volkskirche gestalten, die über eine Orientierung am „schwer definierbaren ethisch-religiösen Gesamtgeist“ hinaus „allen Bedürfnissen weitherzig Rechnung“ tragen soll38). Die Kirche „ist einfach eine der vielen großen Organisationen, auf die wir, da sie zweckmäßig ist, nicht verzichten.“ (35) Sie hat eine die Kultur prägende Rolle, in der sie gegen die „Verödung und Versandung des geistigen Lebens, die fortwährende Abnahme sittlicher Kraft und religiösen Ernstes, die im Genuß immer neu nach Begierde verschmachtende Abstumpfung“39 zu wirken verspricht. &

H.-G. Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991 F. Voigt, Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Religion für die Kultur, in: V. Drehsen u. a. (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 74–83

3.2 Rudolf Otto Im weiteren Sinne kann Rudolf Otto zur religionsgeschichtlichen Schule gezählt werden, was sich nicht nur an den verschiedenen Übereinstimmungen mit Ernst Troeltsch zeigen lässt. Auch Otto beruft sich auf ein religiöses Apriori, geht von einer gemeinsamen Substanz der Religion aus, sieht die Religionen parallel vergleichbare Stufen (Entwicklungen) durchlaufen, wobei das Christentum auch bei ihm die geschichtlich am vollkommensten entwickelte Religion darstellt, und so kann er sich schließlich die Theologie nur noch als eine gesellschaftlich verantwortlich betriebene Religionswissenschaft vorstellen. Der Titel seines Hauptwerkes Das Heilige Der Theologe und Religionswissenschaftler (1917) annonciert den Schlüsselbegriff seines Rudolf Otto (1879–1937) stellt die jeden Religionsverständnisses, und der Untertitel deuRationalismus überschreitende Ehrfurcht vor dem Heiligen als das charakteristische tet den charakteristischen Zugang und die PerSpezifikum aller Religionen in das Zentrum spektive an, die Otto für alle Religionen als funseiner Überlegungen. damental ansieht: „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“. Es sind nicht die Begriffe, unser Verstehen der Welt, welche die Menschen zu ihrer Gottheit führen, sondern die Erkenntnis der Gottheit wurzelt im religiösen 38 Glaubenslehre, München u. Leipzig 1925, 16 f.

39 Christentum und Religionsgeschichte, 361.

260 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Erleben, das gerade darin seine Besonderheit hat, dass es nicht den Gesetzen der menschlichen Rationalität folgt. Für die Religion ist charakteristisch, dass sie etwas als heilig erkennt und anerkennt, was der begrifflichen Erfassung unzugänglich ist.40 Das eigentliche Innerste der Religion ist die Begegnung mit dem schlechthin überlegenen Numinosen, das dem Menschen ein ‚Kreaturgefühl‘ vermittelt: „das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist.“ (10) Das von dem Geheimnis des Numinosen erregte Gefühl hat zwei Seiten: Es erschauert als mysterium tremendum den Menschen und es zieht als mysterium fascinans den Menschen an. In dem Erschauern sieht Otto die Geburtsstunde der Religion: Von dieser ‚Scheu‘ und ihrer ‚Roh‘-form, von diesem irgend wann einmal in erster Regung durchgebrochenen Gefühle eines ‚Unheimlichen‘, das fremd und neu in den Gemütern der Urmenschheit auftauchte, ist alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen. Mit seinem Durchbruche begann eine neue Epoche des Menschentumes. In ihm wurzeln ‚Dämonen‘ wie ‚Götter‘ und was sonst die ‚mythologische Apperzeption‘ oder die ‚Fantasie‘ an Verdinglichungen dieses Gefühls hervorbrachte. Und ohne dasselbe als ersten, qualitativ eigentümlichen, aus anderem nicht ableitbaren Grundfaktor und Grundtrieb des ganzen religionsgeschichtlichen Verlaufes anzuerkennen, sind alle animistischen, magischen und völker-psychologischen Erklärungen der Entstehung der Religion von vornherein auf Irrwegen und führen am eigentlichen Problem vorbei. (16)

Otto legt großen Wert darauf, dass es sich bei dem Erschauern nicht um die Steigerung einer im Menschen bereits vorhandenen Furcht oder einer anderen Neigung handelt, sondern um eine spezifische Qualität des Empfindens, die nicht auf eine Fähigkeit oder Eigenschaft des Menschen zurückgeführt werden kann. Vielmehr geht er von einer eigenen Energie des Numinosen aus, durch welche das Gemüt des Menschen affiziert und in Spannung versetzt wird. Das den Schauer auslösende Geheimnis wird in seiner prinzipiellen Unauflösbarkeit das ‚Ganz andere‘ genannt: Das „religiös Mysteriöse, das echte Mirum, ist, um es vielleicht am treffensten auszudrücken, das ‚Ganz andere‘, das tha¯teron, das anyad, das alienum, das aliud valde, das Fremde und Befremdende, das aus dem Bereiche des Gewohnten Verstandenen und Vertrauten und darum ‚Heimlichen‘ überhaupt Herausfallende und zu ihm in Gegensatz sich Setzende und darum das Gemüt mit starrem Staunen Erfüllende.“ (31)

Neben dem Erschauern betont Otto die Faszinationskraft des Numinosen, das den Menschen nicht loslässt, sondern ihn festhält, erfüllt und beseelt. Hier kommt nun die Heiligkeit des Numinosen in den Blick. Ihre Wahrnehmung lässt den Menschen zunächst kompromisslos seine Profanität erfahren, in der er sich dem Heiligen gegenüber zu scheuem Lobpreis und anerkennender Beugung veranlasst sieht und auf diesem Weg vom Heiligen die Bedeckung seines eigenen Unwertes erwartet (vgl. 40 Vgl. Das Heilige, München 1987 (45.–49. Tausend d. ungekürzten Sonderausgabe 1979), 5.

3. Die religionsgeschichtliche Schule 261

68 ff.). Hier nun ist der sachliche Ort, an dem Otto die in den gegenwärtigen Gefährdungen entschlossen zu bewahrende Besonderheit des Christentums hervorhebt: In keiner Religion ist das Mysterium des Sühne-bedürfnisses so vollendet vertieft und stark zum Ausdrucke gekommen wie im Christentume. Auch dadurch, und dadurch besonders, erweist sich seine Überlegenheit über andere Frömmigkeits-formen, und zwar nach rein innerreligiösen Gesichtspunkten. Es ist vollkommener Religion und vollkommenere Religion als andere, sofern das was in Religion überhaupt angelegt ist in ihm ‚actus purus‘ geworden ist. Das Mißtrauen gegenüber diesem seinem zartesten Mysterium das weithin herrscht erklärt sich nur aus der Gewöhnung die rationale Seite der Religion allein ins Auge zu fassen . . . Die christliche Glaubenslehre kann aber auf dieses Moment nicht verzichten wenn sie christliche und biblische Religiosität vertreten will. Sie wird durch Entfaltung des christlich-frommen Gefühlserlebnisses zu verdeutlichen haben wie hier das ‚numen schlechthin‘ sich selber zum Mittel der Entsühnung macht durch Mitteilung seiner selbst. Hinsichtlich solcher Glaubensideen hängt nicht so übermäßig viel an den Entscheidungen der Ausleger, ob und was Petrus Paulus oder Pseudo-Petrus über Sühne und Entsühnung geschrieben haben, ja ob die Sache überhaupt ‚geschrieben steht‘ oder nicht. Stünde sie nicht geschrieben so könnte sie heute geschrieben werden; dann aber wieder wäre es wunderlich wenn sie nicht lange geschrieben wäre. Der Gott des Neuen Testamentes ist nicht weniger heilig als der des Alten sondern mehr, der Abstand der Kreatur gegen ihn nicht geringer sondern absolut, der Unwert des Profanen ihm gegenüber nicht verflaut sondern gesteigert. Daß der Heilige sich dennoch selber nahbar macht ist keine Selbstverständlichkeit wie es der gerührte Optimismus der ‚Lieber-Gott‘-stimmung meint, sondern unbegreifliche Gnade. Dem Christentum dafür das Gefühl rauben, heißt, es bis zur Unkenntlichkeit verflachen. (72 f.)

Wenn Otto von der Irrationalität der Gottesidee spricht, so meint er den Teil, der über unser begriffliches Verstehen hinausgeht, wohl aber unser Gefühl erreicht. Hier ist Gott nicht deutbar, wohl aber andeutbar – eben irrational. Und so kann zwar vieles von einer Religion gelehrt und aufgewiesen werden, aber eben nichts über den sie hervorrufenden Hintergrund, auf den nur hingewiesen werden kann, um sich dann selbst entdecken zu lassen (79 f.). Der zürnende und liebende Gott der Propheten ist seinem Wesen nach ein anderer als der unserer Weltvernunft unterworfene Gott der Philosophen (97). Die ganze Bibel, aber auch die Theologiegeschichte – Luther spielt bei Otto eine herausgehobene Rolle – weiß um diesen unser Begreifen transzendierenden Überschuss der Gottesfurcht, der sich auch im Zuge der weiter voranschreitenden Rationalisierungen nicht verliert, sondern essenziell bleibt, auch wenn das tremendum immer mehr von dem fascinans überboten werden mag. Gewiss kommt den Rationalisierungen (Schematisierungen im Sinne von Lehrbildung) eine große Bedeutung zu, denn sie geben der jeweiligen Religion ihre spezifische Gestalt und qualifizieren diese zu ihrer spezifischen Kulturbedeutung, wie Otto dies für das Christentum exemplarisch aufzeigt: Das tremendum, das abdrängende Moment des Numinosen, schematisiert sich durch die rationalen Ideen von Gerechtigkeit sittlichem Willen und Ausschließung des Widersittlichen und wird, so schematisiert, der heilige ‚Zorn Gottes‘ den Schrift und christliche Predigt ver-

262 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie kündigen. Das fascinans, das zusichreißende Moment des Numinosen, schematisiert sich durch Güte Erbarmen Liebe und wird, so schematisiert, zu dem satten Inbegriffe der ‚Gnade‘, die zum heiligen Zorn in die Kontrast-harmonie tritt und die wie dieser, durch den numinosen Einschlag, mystische Färbung hat. (169)

In keinem Fall aber ist die mit der Rationalisierung verbundene ‚Ethisierung der Gottesidee‘ eine Verdrängung des Numinosen, des mysteriums, denn diese käme einer Ersetzung Gottes durch etwas anderes gleich (vgl. 135 f.). Den Modus der Wahrnehmung beschreibt Otto als Divination, worunter eine willentliche kontemplative Einlassung auf die Zeichen des Heiligen zu verstehen ist – ein Eindruck kann allein entstehen, wo die Bereitschaft besteht, sich beeindrucken zu lassen (vgl. 188). In Richtung auf den christlichen Glauben heißt es: Wer kontemplativ in jenen großen Zusammenhang sich versenkt den wir den ‚alten Bund bis auf Christus‘ nennen dem muß schier unwiderstehlich das Gefühl dafür wach werden. Daß hier ein Ewiges waltend und stiftend zur Erscheinung und zugleich auf eine Vollendung drängt. Und wer in diesem Zusammenhange dann die Erfüllung und den Abschluß schaut und diese große Situation, diese gewaltige Gestalt, diese unwankend in Gott sich gründende Persönlichkeit, diese Unbeirrbarkeit und aus geheimnisvoller Tiefe stammende Sicherheit und Gewißheit ihrer Überzeugung und ihres Handelns, diesen geistigen seligen Gehalt, diesen Kampf, diese Treue und Hingabe, dieses Leiden und schließlich diesen Siegertod, der muß urteilen: das ist gottmäßig, das ist das Heilige. Gibt es einen Gott und wollte er sich offenbaren, gerade so mußte er es tun. Der muß urteilen – nicht aus logischem Zwang, nicht nach einem begrifflich klaren Obersatz sondern in unmittelbaren aus Obersätzen nicht ableitbaren Urteilen reinen Anerkennens, nach einem ‚inexpliziblen Obersatze‘, aus reinem unauflöslichem Wahrheitsgefühl. Das aber ist eben die Art echter Divination als religiöser Intuition. (197)

Wenn Otto betont, dass das Heilige eine Kategorie a priori sei, so wird damit diese Grenze der Rationalität fixiert und zugleich auf eine Dimension unseres Geistes verwiesen, die über das Wahrnehmen durch die Vernunft hinausgeht. Darin sieht er eine den Menschen auszeichnende Anlage zur Religion (% § 7,2.3). Wir nennen diesen Quell eine verborgene Anlage des menschlichen Geistes, die, durch Reize geweckt, wach wird. . . . Anlage als ‚Veranlagung‘ für etwas ist . . . eine teleologische Determinante, ein a priori der Richtung von Erleben Erfahren Verhalten – ein a priori Eingestelltsein auf etwas. Daß es dergleichen ‚Veranlagungen‘ für und Vorbestimmtheiten zu Religion giebt, die spontan zu instinktmäßigem Ahnen und Suchen, zu unruhigem Tasten und sehnendem Verlangen, das heißt zu einem religiösen Triebe werden können der erst zur Ruhe kommt wenn er über sich selbst klar geworden ist und sein Ziel gefunden hat, das kann niemand leugnen der sich ernstlich auf Menschen- und Charakterkunde eingelassen hat. Es sind Zustände der ‚vorauslaufenden Gnade‘, die daraus hervorgehen. (140 f.) &

M. Raphael, Rudolf Otto and the Concept of Holiness, Oxford 1997 J. Schneider, Rudolf Otto: Religion als Begegnung mit dem Heiligen, in: V. Drehsen u. a. (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 97–107

4. Theologische Religionskritik 263

4. Theologische Religionskritik So entschlossen die Theologie nach anfänglichem Zögern der Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs gefolgt ist (% § 3), so grundsätzlich hat sie sich im 19. Jahrhundert der Religionskritik verweigert. Der allgemeine Religionsbegriff eröffnete der an den Rand gedrängten Theologie die Möglichkeit, sich an dem auf der Ebene des Allgemeinen geführten Diskurs der Philosophen und Wissenschaften zu beteiligen. Diese Errungenschaft musste sie gefährdet sehen, als die Religionskritik begann, sich Gehör zu verschaffen. Unbeirrt von den Anfragen der Religionskritik galt ihre Sorge vor allem der Sicherung der Religion als einem im besten Fall unausweichlichen Element der Wirklichkeit des Menschen – Apologetik impliziert immer eine gewisse Neigung zur Überlegitimation. Die mit dem Ersten Weltkrieg bezeichnete Krise der europäischen Kultur war vor allem eine Krise der idealistischen Geschichtsphilosophie mit ihrem im menschlichen Geist gefeierten Fortschrittsoptimismus. Die Verwandtschaft des Religionsverständnisses mit diesem Geist des Idealismus zieht nun auch unweigerlich die Religion in den Strudel der weitreichenden Erschütterungen. Die Religion kommt in diesem Zusammenhang als eine Angelegenheit des Menschen in den Blick, die sich keineswegs automatisch mit der Wirklichkeit Gottes verträgt, sondern dieser durchaus auch entgegengerichtet sein kann, ja in der Regel sogar sein wird. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass überall da, wo Gott in Anspruch genommen wird, dieser tatsächlich im Blick ist. Die Selbstverständlichkeit, in der sich der Mensch auf die göttliche Begleitung seiner Geschichte beruft, wird radikal infrage gestellt. Die Erkenntnis Gottes wird von ihren anthropologischen Vereinnahmungen gelöst. Umgekehrt gerät nun die menschliche Frömmigkeit – und also die Religion – in das kritische Licht der neu zur Geltung gebrachten Souveränität des von der Bibel bezeugten Gottes (dialektische Theologie). Es lassen sich zwei Linien theologischer Religionskritik voneinander unterscheiden. Die eine weist der Theologie die Aufgabe zu, im immer neu zu vollziehenden Hören auf das von der Bibel bezeugte Wort Gottes den unablässigen religiösen Selbstimmunisierungen des Menschen und der Kirche entgegenzutreten, um auf diese Weise die religiöse Existenz des Menschen durch die immer wieder neu zu vollziehende Vergewisserung des Wortes Gottes in Bewegung zu halten und so vor der hoffnungslosen religiösen Stilllegung zu bewahren. Das ist die insbesondere von Karl Barth, dann aber von Helmut Gollwitzer und Hans-Joachim Kraus vertretene Perspektive. Die andere Linie versucht noch einen Schritt weiterzugehen, indem sie die theologische Existenz ganz von der Religion als einem nur geschichtlichen Gewand glaubt lösen zu können. Die Anstöße in diese Richtung gingen von einigen Bemerkungen von Dietrich Bonhoeffer aus, die dann aber weiter ausgezogen wurden und über die Säkularisierungsthese schließlich in der Gott-ist-tot-Theologie ihren radikalsten Ausdruck finden. Es mag zunächst offen bleiben, ob die zweite Linie gegenüber der ersten eine Radikalisierung darstellt oder nicht vielmehr eine Mäßigung in die Richtung des gerade erst überwundenen Anthropozentrismus.

264 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

4.1 Karl Barth Die zu seiner Zeit äußerlich verbreitete Hochschätzung der Religion sieht Barth im Einschwenken der deutschen Theologie und Kirchen auf die Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. in grundsätzlicher Weise diskreditiert. Es ist diese Erschütterung, dieses ethische Versagen der Religion, das Barth den ganzen Konstitutionszusammenhang des modernen Religionsverständnisses zutiefst suspekt gemacht hat, sodass er nach einer neuen Grundlage Ausschau hält, die dann seiner Theologie auch ihr besonderes Profil gibt. Die Katastrophe dieses Krieges legt seiner Ansicht nach offen, dass das ganze in die Religion gesetzte Pathos lediglich ihre faktische Bedeutungslosigkeit in einer unter ganz anderen Gesichtpunkten, Interessen und Mächten organisierten Wirklichkeit überspielt.

In theologischer Perspektive ist für Karl Barth (1886–1968) die Religion ebenso vor die Frage der Rechtfertigung durch Gott gestellt wie der Mensch; sie kann allein von ihm gerechtfertigt werden.

Wir predigen Gesinnung, wir machen Stimmung. Vielleicht gelingt es uns, aber was soll das eigentlich? . . . Es ist eben auch nichts Ernstes. Ernst sind nur Kräfte. Darum hat doch z. B. der Kapitalismus die Religion nie ernst genommen, sondern ganz ruhig Kirchen und Schulen gebaut ohne die geringste Furcht, daß von daher jemals eine ihm gefährliche Gegenkraft sich erheben könnte. Darum nimmt der Militarismus die Religion so wenig ernst, daß er ganz ruhig Feldprediger anstellt, die auf Feldkanzeln zwischen zwei Geschützen ihre Gesinnungssprüchlein sagen dürfen, wie die Spatzen, die zwischen den Zähnen eines Krokodils herumhüpfen. Das militärische Ungeheuer weiß eben ganz genau, daß es von den wackeren Feldpredigern nichts Böses zu befürchten hat. Es wird keine Kraft von ihnen ausgehen. Darum sagt der Sozialismus ganz freundlich: Religion ist Privatsache!, nimmt auch ganz duldsam Notiz von uns paar sozialdemokratischen Pfarrern ohne eine Spur von Furcht vor den Kräften, die von daher ins Spiel kommen und die seinen Kräften eines Tages ernstliche Konkurrenz machen könnten. Religion nimmt man doch nicht ernst! Die Vorstellung, daß sie etwas Reales sei, etwas mit wirklichen Kräften zu tun haben könnte – diese Vorstellung gibt es einfach nicht in der Welt und wenn wir uns auf den Kopf stellen.41

Diese Kritik des jungen Barth artikuliert sich nicht nur in die Richtung der allgemeinen Fundamentaldebatte, sondern spiegelt sich in gleicher impressionistischer Deutlichkeit auch in der grundsätzlichen Skepsis gegenüber der konkreten kirchlichen Praxis der Kirche wider: Was soll all das Predigen, Taufen, Konfirmieren, Läuten und Orgeln? All die religiösen Stimmungen und Erbauungen, all die ‚sittlich-religiösen‘ Ratschläge ‚den Eheleuten zum Geleite‘, die Gemeindehäuser mit und ohne Projektionsapparat, die Anstrengungen zur Belebung des Kirchengesanges, unsere unsäglich zahmen und nichtssagenden kirchlichen Monatsblättlein und was sonst noch zu dem Apparat moderner Kirchlichkeit gehören mag! Wollen wir, daß damit etwas geschehe oder wollen wir nicht vielmehr gerade aufs Raffinierteste verhüllen, daß das Entscheidende, das geschehen müßte, noch nicht geschehen ist und wahrscheinlich auch nie geschehen wird? . . . Ist nicht auch unsere religiöse Gerechtigkeit ein Produkt unseres 41 Religion und Leben [1917], in: EvTh 11 (1951/52), 437–451, 448.

4. Theologische Religionskritik 265

Hochmuts und unserer Verzagtheit, ein Turm von Babel, über den der Teufel lauter lacht als über alles Andere?!42

In der neuzeitlichen Konzentration der Theologie auf die Religion sieht Barth einen Ausdruck ihrer Selbstvergessenheit und Schwäche. Es ist eine Theologie, die ihren besonderen Gegenstand verloren hat, die nicht mehr am christlichen Bekenntnis orientiert ist und sich nun mit der Religion dem grundsätzlich auf sich selbst gestellten, wissenden, modernen Menschen anzuempfehlen versucht. Als man nicht mehr wußte oder wissen wollte, was Glauben und Gehorsam ist, da fing man an, von Religion zu reden. ‚Religion‘, das ist, geistesgeschichtlich betrachtet, die Flagge, die den Winkel bezeichnet, in den sich die neuere Theologie fluchtartig zurückzuziehen begann, als sie den Mut verlor, vom Worte Gottes aus zu denken, und froh war, in der dieser Größe scheinbar entsprechenden menschlichen Gemütsaffektion ein Flecklein Humanität zu finden, auf dem sie sich, im Frieden mit dem modernen Wissenschaftsbegriff, als rechte Als-ObTheologie ansiedeln und niederlassen konnte.43

Seine Wurzeln hat nach Barth der moderne Religionsbegriff in den gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit dem Aufblühen des neuzeitlichen Bürgertums verbunden waren. Die konsequente Einführung der kapitalistischen Wirtschaftsform auf der Basis des Konkurrenzprinzips bringt eine am individuellen Gewinn orientierte Weltanschauung mit sich, die sich dann auch unversehens in den in der Theologie diskutierten Fragen und den von der Kirche wahrgenommenen Bedürfnissen widerspiegelt. In wenigen pointierten Sätzen fasst Barth seine ideologiekritische Analyse zusammen: Die Besitz- und Standesinteressen des Bürgertums, „seine durch den Rahmen der Nöte und Aufgaben, der Gesichtspunkte und Ideale des Handwerker- und Kaufmannslebens bedingte Lebensauffassung und Moral, seine aufstrebende Bildung, werden nun mit immer größerer Selbstverständlichkeit die formenden Kräfte, die bei den mehr und mehr in seine Hände geratenden religiös-kirchlichen Fragen in Aktion treten. Es ist typische Mittelstandsideologie mit ihrem gediegenen, aber etwas beschränkten Horizont, mit ihrer bescheidenen, aber in sich gegründeten Selbstzuversicht, mit ihrer klugen Fügsamkeit nach oben und mit ihrer Behäbigkeit nach unten, mit ihrer Richtung auf das Praktische und Greifbare und mit ihrem berechtigten Wunsch nach äußerem Frieden und innerer Ruhe, mit ihrem Bedürfnis nach Erhebung über die Sorgen des Alltags und mit ihrer soliden Abneigung gegen unverständliche Paradoxien, was, wenn wir von dem christlichen Inhalt einmal absehen wollen, etwa den Liturgien und Gesangbüchern, aber auch den Predigtinhalten dieser Zeit das Gesicht gegeben hat.“44

An die Stelle der Lehre tritt konsequent das Leben. Man wehrt sich gegen den unterstellten „Hochmut und Streitgeist der orthodoxen Zionswächter und Folianten42 Die Gerechtigkeit Gottes [1916], in: K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924, 5–17, 12 f. 43 Die christliche Dogmatik im Entwurf, hg. v. G. Sauter, Karl Barth Gesamtausgabe, Zürich 1982, 594 f.

44 Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 1947, 71; vgl. dazu auch KD I/2, 367 f.

266 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

schreiber“45 und akzeptiert nur noch einen Glauben, der sich in seiner Tauglichkeit zur konkreten Lebensgestaltung bewahrheite. Gebunden war man an sein systematisches Prinzip, seinen eigenen Willen zur Lebenserneuerung und Lebensgestaltung, an seinen Moralismus, an seine Bürgerlichkeit. Dieses Prinzip einerseits, Bibel und Dogma andererseits, verhielten sich wie ein Axiom zu dem auf ihn gegründeten Lehrsatz. Beide gelten, aber jenes gilt mit absoluter, dieser mit relativer Gewißheit. (84)

Die Pointe der Kritik zielt auf die Assimilation und Erosion des den Menschen gegenüberseienden Gottes. Alle Inhalte des theologischen Denkens geraten in die Abhängigkeit von Formen menschlicher Möglichkeiten. Es regiert ein Menschenbild, das keine essenzielle Differenz zu sich selbst mehr einräumt. Alle Autorität leitet sich aus dem Selbstbild des Menschen und den von ihm usurpierten Bedürfnissen ab. Die menschliche Selbstentfaltung wird zum Referenzrahmen der Gottesvorstellungen, die noch auf Akzeptanz hoffen können, wobei Gott vor allem im Horizont seines Nutzens für das Individuum oder für die Menschheit zur Sprache kommt. Die Souveränität und Freiheit Gottes, in der er sich des hilflosen Menschen erbarmt, kommt auf der Ebene des neuzeitlichen Religionsbegriffs nicht mehr in den Blick. Hinter dem Fremdwort ‚Religion‘ (und allem, was mit Religions- anfängt!), aber auch hinter dem deutschen Wort ‚Frömmigkeit‘, das manche lieber brauchen, aber natürlich auch hinter dem nachträglich doch wieder herangezogenen und in das Prokrustesbett jenes modernen Begriffs gezwängten Wort ‚Glauben‘ steckt schlechterdings nichts anderes als das mehr oder weniger verschämte oder unverschämte Bekenntnis, daß man es als moderner Mensch, was man vor allem sein wollte, nicht mehr wagte, prinzipiell und primär und mit erhobener Stimme von Gott zu reden.46

Diese Selbstverschlossenheit geht mit einem eklatanten Bedeutungsschwund einher. Auf der Ebene des allgemeinen Religionsbegriffs verliert der Glaube seine Notwendigkeit und wird zu einer Möglichkeit des Menschen, die er auch weithin folgenlos brachliegen lassen kann. So fragt Barth in die Richtung der Protagonisten der Religion: Ist die Notwendigkeit des ausgedrückten, des dargestellten religiösen Lebens eine andere als die limitierte, uneigentliche, gelegentliche, bloß ornamentale Notwendigkeit des kindlichen Spiels, der ernsten und der heiteren Kunst? Könnten die Gottesgedanken der Religion nicht zur Not auch ungedacht, ihre Lehren nicht auch unausgesprochen, ihre Riten und Gebete nicht auch unvollzogen, ihre asketischen und moralischen Vorschriften nicht auch in Freiheit unbeachtet bleiben?47

Es ist kein Zufall, wenn Barth zur Charakterisierung sowohl der Zuwendung des modernen Menschen zur Religion als auch für dessen Abweisung der Religion ein Bild aus dem bürgerlichen Wirtschaftsleben benutzt. Er spricht von einer nützlichen Investition eines Wohlhabenden, „der, im Bedürfnis, noch reicher zu werden (das doch ein absolutes Bedürfnis nicht sein kann!), einen Teil seines Vermögens in ein 45 Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 73.

46 Die christliche Dogmatik im Entwurf, 595. 47 KD I/2, 345.

4. Theologische Religionskritik 267

Nutzen versprechendes Unternehmen steckt.“ (344) Tritt dieser Nutzen nicht ein, so kann er sich auch weithin schadlos wieder von ihr zurückziehen: Er verliert nichts bei diesem Rückzug; er zieht ja bloß sein Kapital zurück aus einer Unternehmung, die ihm nicht mehr rentabel erscheint: die Vitalität und Intensität, die er bis jetzt an die Gestalt des Gottesbildes und die Erfüllung des Gesetzes seiner Religion verwendete, schlagen nun nach innen, werden nun fruchtbar gemacht zugunsten und in der Richtung der gestaltlosen und werklosen, der gedankenlosen und willenlosen Wirklichkeit, aus deren Reichtum die Religion einst hervorging, um nun in sie zurückgenommen zu werden. . . . Dasselbe so gar nicht bedürftige religiöse Bedürfnis sucht seine Befriedigung nun in einer solennen Nicht-Befriedigung, in einem pathetischen Verzicht auf die Darstellung, in einem pathetischen Schweigen, in einem pathetischen Zur-Ruhe-Kommen der Seele in sich selbst, in der feierlichen Leere, die es der ebenso feierlichen Fülle von vorher nun auf einmal vorziehen zu wollen glaubt. (347)

Und auch in der Religion selbst tritt mehr ihre Abständigkeit als ihre tatsächliche Aktualität zutage. Die von den erbrachten Anpassungsleistungen an den modernen Menschen erhofften Erfolge lassen sich nicht wirklich erkennen. Im Gegenteil kann die Theologie in der Permanenz der Entwicklung „die Früchte ihrer Modernität nie ruhig genießen“, da sie der allgemeinen als Fortschritt ausgegebenen Entwicklung immer nur „nachklappt“, und immer erst auf den letzten Wagen des gerade abfahrenden Zuges aufspringt, nachdem sie sich zunächst dazu veranlasst sah, diesem Zug „ein paar wehmütige oder auch zornige Worte“ nachzurufen. Und so ist es nie ganz gelungen, aus dem altbackenen Image einer stets hinterherhinkenden Kirche herauszutreten, „obwohl sie sich wahrhaftig absolut genommen sehr lebhaft bewegte“.48 Wenn Barth so entschlossen Kritik an der sich der jeweiligen Entwicklung andienenden Theologie übt, so darf diese Kritik nicht einfach auf seine Bewertung der neuzeitlichen Aufklärung übertragen werden. Vielmehr sieht er als Theologe die Aufklärung gleichsam auf halbem Wege stecken bleiben, indem sie sich der Aufklärung über sich selbst verschlossen hat. Er klagt die ‚Dialektik der Aufklärung‘ ein, wenn er beispielsweise das anthropozentrische Weltbild für ‚viel naiver‘ als das geozentrische Weltbild hält,49 weil die kopernikanische Aufklärung im Gegensatz dazu für das anthropozentrische Weltbild bisher noch weithin verweigert wird. Die entscheidende Voraussetzung, die Barth für eine theologisch angemessene Betrachtung der Religion macht, ist genau die gleiche Voraussetzung, die grundsätzlich für die Theologie insgesamt zu machen sei. Eine Frage, ein Problem oder ein Thema wird dann theologisch reflektiert, wenn es im Lichte der Selbstoffenbarung Gottes bedacht wird. Da, wo von diesem Licht abgesehen wird, mag es sich um eine interessante Erwägung handeln, aber sie kann nicht für sich in Anspruch nehmen, eine theologische Erwägung zu sein. In diesem Sinne ist auch die Religion für Barth kein bereits aus sich heraus evidentes Thema, sondern für die Theologie wird die 48 Vgl. zum ganzen Abschnitt: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 115–118.

49 Vgl. Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, 54.

268 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Religion erst dadurch zu einem Thema, dass sie beim Nachdenken über den Weg der Erkenntnis des Glaubens in den Blick kommt. Dort stößt sie auf die geschichtliche Darstellung des Glaubens, die eben als Religion in Erscheinung tritt. Religion ist die Form, in der auch der christliche Glaube sichtbar wird. Es geht in der Religionsproblematik um die menschliche Seite des Glaubens, ohne die er eine für das konkrete Leben unbrauchbare abstrakte Idee bliebe. In diesem Sinne kommt im Nachdenken über die von der Selbstoffenbarung erhellte Wirklichkeit auch die Kirche als eine geschichtliche Größe, eben als Christentum und somit als eine Religion – prinzipiell vergleichbar mit anderen Religionen – in den Blick. Indem Gott sich offenbart, verbirgt sich das göttlich Besondere in einem menschlich Allgemeinen, der wirkliche Inhalt in einer menschlichen Form und also das göttlich Einzigartige in einem menschlich bloß Eigenartigen.50

Auf dieser allgemeinen Ebene befinden sich alle Religionen in der gleichen Verlegenheit, grundsätzlich nicht aufweisen zu können, dass sie nicht einfach nur menschlicher Mummenschanz sind. Auf phänomenologischer Ebene tut Elia nichts prinzipiell anderes als die Baalspropheten (1Kö 18). Es ist der Kirche nicht möglich, sich in irgendeiner Weise über die anderen Religionen zu erheben. Das Besondere kann nur in Erscheinung treten, wenn das Licht der Offenbarung auf die Religion fällt. Das bedeutet schlicht und folgenreich, dass es darum geht, die Religion im Horizont des Gerichts und der Gnade Gottes zu thematisieren. Dabei interessiert sich Barth offenkundig nicht für einen möglichst soliden und allumfassenden Begriff von Religion, sondern für die Erfassung der faktischen Wirklichkeit des religiösen Menschen. Es kommt im Blick auf den christlichen Glauben zu der für Barth charakteristischen Unterscheidung zwischen der gerichteten und der gerechtfertigten Religion, d. h. die Religion wird rechtfertigungstheologisch bedacht. Die Religion ist darin gerichtete Religion, dass sie – milde gesprochen – nie von der Möglichkeit frei ist, dass der Mensch die Frömmigkeit dazu benutzt, um sich vor Gott in das rechte Licht zu rücken. Er will mit der Religion seine Gerechtigkeit durchsetzen, anstatt sich die Gerechtigkeit Gottes gefallen zu lassen. Die Religion bietet die abgründige Versuchung, sich seinen Gott zu schaffen anstatt auf ihn zu antworten. In der Religion greift der Mensch gleichsam nach Gott und folgt dem Bild, das er sich von Gott gemacht hat (vgl. 330 f.). Im Ereignis der Religion als solchem ist der Mensch der Schöpfer Gottes, ist Gott in bedenklichster Weise des Menschen Gott, Prädikat seines, des Menschen Wesens und Lebens. Die Unerhörtheit dieses Sachverhalts kann auch durch aufrichtige Ehrfurcht und Dankbarkeit, in der er sich diesem Geschöpf nun seinerseits hingibt, nicht aufgehoben und nicht ganz verhüllt werden: in der Religion als solcher macht sich der Mensch selber seinen Gott, verehrt und verherrlicht er also auf einem kleinen Umweg sich selber. Beruht die Religion auf der letzten und tiefsten Möglichkeit der menschlichen Seele, so ist sie als dieses Ereignis, in sich betrachtet, gewiß auch der letzte Akt des Widerspruchs gegen Gott, in dem der Mensch existiert, die 50 KD I/2, 307.

4. Theologische Religionskritik 269

offen ausbrechende Empörung, die Sünde, die Sünde gegen das erste Gebot, neben der alle anderen nur abgeleitete Bedeutung haben können.51

Ein über die Religion gesuchter Zugang zu Gott verfällt unweigerlich und konsequent der Religionskritik Feuerbachs (% § 4,2.4), die für Barth stets eine prinzipielle Warnung für die Theologie geblieben ist. Gerade das Fromme ist hier das Anstößige, denn es wird dazu veranstaltet, um „sich Gottes zu seinen eigenen Gunsten zu bemächtigen“, um „triumphierend mit Gott recht behalten [zu] wollen, statt in der Buße zu verharren, statt Gott gegen sich selbst recht zu geben“.52 Im Lichte der Gnade Gottes erscheint diese Religion als die gerichtete Religion – Religion als Unglaube (327). Auf der anderen Seite steht nach Barth die Religion unter der Verheißung ihrer Rechtfertigung durch Gott, d. h. ihre Rechtfertigung erfährt sie niemals durch sich selbst, sondern prinzipiell nur von außen (356). „Das ewige vermeintliche Besitzen, Schmausen und Austeilen, diese verblendete Unart der Religion, muß einmal aufhören, um einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen.“53 Die gerechtfertigte Religion gibt es für Barth allein in dem Sinne, wie es den gerechtfertigten Sünder gibt.54 Gibt es eine Rechtfertigung und Heiligung des Sünders, dann auch eine Rechtfertigung und Heiligung der Religion, kraft deren sie, die abstrakt, in sich selbst betrachtet die Vollendung seiner Empörung gegen Gott ist, Gemeinschaft mit Gott heißen und sein darf.55

Ebenso wie der gerechtfertige Sünder, so kann auch die von Gott gerechtfertigte Religion nicht aufgezeigt oder gar demonstriert werden; sie ist eine auf dem Glauben liegende Verheißung. Die Wahrheit dieser Aussage entspricht dem Wahrheitsanspruch des Evangeliums, der als solcher nicht in die Verfügung der Kirche und ihrer Praxis gegeben ist. Die Rede von der gerechtfertigten Religion – Barth spricht von dieser sogar als der wahren Religion – entspricht der Verheißung, dass im Glauben auch die gewiss defizitär bleibende Praxis des Menschen und seiner Frömmigkeit nicht mehr dem vernichtenden Urteil der Gottesfeindschaft ausgeliefert ist. Die bleibende Zwielichtigkeit der Religion wird im Horizont der Gnade Gottes zu einer erlaubten Möglichkeit des freien, auf Gott antwortenden Menschen. In diesem Sinn hat Barth die Kirche als „verkörperte Bitte“ bezeichnet,56 indem sie nicht auf das eigene Vermögen setzt, sondern auf die Kraft des Heiligen Geistes hofft. Jede Vorstellung von einer wie auch immer gearteten Absolutheit des Christentums hat Barth abgewiesen. Schon die Selbstbezeichnung ‚christlich‘ wollte er nur äußerst sparsam verwendet wissen, weil sich das damit Bezeichnete nicht kategorial definieren lässt, sondern sich immer nur ereignen kann, und zwar nicht weil sich der Mensch dann 51 Die christliche Dogmatik im Entwurf, 414– 416. 52 KD IV/1, 290. 53 Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke [1920], in: Das Wort Gottes und die Theologie, 70–98, 93. (Nota bene: das ist ein wichtiges Mo-

ment, das auch für den Dialog der Religionen zu beachten bleibt.) 54 Vgl. KD I/2, 357. 55 Die christliche Dogmatik im Entwurf, 416. 56 Vgl. Die Not der evangelischen Kirche, in: ZZ 9 (1931), 89–122, 102.

270 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

als ‚christlich‘ zu erkennen gibt, sondern weil sich Christus in ihm als lebendig erweist. Wenn Barth die Theologie als die stets gebotene Selbstkritik der Kirche versteht, wird die Religionskritik zu einer bleibenden Aufgabe der Theologie. Diese zielt jedoch nicht auf eine Elimination der Religion, sondern auf die immer wieder erneut vorzunehmende Läuterung der Religion hinsichtlich der abgründigen Neigungen zur Selbstverklärung und Selbstvergottung. So sehr die Religion eine Versuchung des Menschen darstellt, so sehr ist sie zugleich der Horizont, in dem er seinen Glauben bedenkt und lebt, d. h. die Anerkennung des Umstands, nicht in sich selbst, sondern in Gott konstituiert zu sein. So sehr der Mensch die Religion immer wieder als eine Form der Selbstbrüstung Gott gegenüber benutzt hat und benutzt, so wenig kann er in seinem Verhältnis zu Gott über die Religion hinauskommen. In dem Versuch, in dieser Welt die Religion hinter sich lassen zu können, sieht Barth die „Aufrichtung des schlimmsten aller Götzen, nämlich einer angeblichen ‚Wahrheit‘, von deren Thron aus ich alle Götter als Götzen meine durchschauen und entlarven zu können. Die dann von mir entgötterte Welt ist wahrscheinlich weder das Reich des lebendigen Gottes, noch auch nur eine Vorbereitung dazu, sondern unter allen Teufeleien, mit denen ich mich diesem Reich widersetzen kann, wahrscheinlich die übelste.“57 Indem die Religion eine Anstrengung des Menschen ist – und da ist eben auch die Theologie mit hinzuzurechnen! –, kann ausgeschlossen werden, in ihr gleichsam direkt auf Gott und sein Wirken zu stoßen. Im besten Falle kann es sich um eine angemessene Bezeugung Gottes, aber niemals um eine unmittelbare Begegnung mit göttlich bestimmter Wirklichkeit handeln. Die Religion wird bei Barth ganz und gar auf den Erdboden gestellt. Es ist konsequent nicht der Mensch, der Gott seine Bedeutung zu geben hat und durch seinen religiösen Betrieb die Evidenz für seine Lebendigkeit zu liefern habe. Die Religion ist niemals der Zwielichtigkeit zu entnehmen, die ihren Grund vor allem darin hat, dass auch der religiöse Mensch nicht einfach auf der Seite Gottes steht, sondern eben in der Religion durchaus auch sein eigenes Geschäft betreiben kann. Barths theologische Ernüchterung des Religionsverständnisses bringt zugleich eine charakteristische Ernüchterung hinsichtlich des Selbstdarstellungsgebarens der sich gern säkular gebenden Welt mit sich. Auch wenn sich die profane Welt nicht ausdrücklich auf Religion beruft, so ist sie doch weithin von Selbstüberhöhungen, Kulten und Devotionen geprägt, deren Ausübung unschwer zu erkennen gibt, dass es sich hier um latente Formen der Religionsausübung handelt. Barth spricht von ‚verkappten‘ Religionen, „in denen es sich um die nur verschämt und wohl gar noch unter antireligiösen Protesten unternommene religiöse Auszeichnung, Verehrung und Pflege bestimmter säkularer Werte (wie Macht, Besitz, Bildung, Fortschritt und dergleichen) handelt“.58

57 Nein! (TEH 14), München 1934, 55. 58 Das christliche Leben. KD IV/4, Fragmente

aus dem Nachlaß, hg. v. A. Drewes u. E. Jüngel (Karl Barth Gesamtausgabe), Zürich 1976, 212.

4. Theologische Religionskritik 271

Das Religionsgebaren von Kirche und Welt kann nicht prinzipiell voneinander unterschieden werden. In der Religion erweist sich sowohl die Kirche als ein Teil der Welt als auch die Welt in ihrer Neigung, sich als ‚Kirche‘ zu präsentieren. Die theologische Religionskritik, die vor allem der Bitte des Vaterunser „Geheiligt werde dein Name!“ entspricht, bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, eine radikale Entgötterung der Welt, eine entschlossene Entmythologisierung all der verschiedenen in der Welt aufgerichteten Altäre, auf denen bis heute für die jeweiligen Götter durchaus auch eifrig (Menschen-)Opfer gebracht werden. Barth spricht provozierend davon, dass die Kirche im Hören auf das Wort Gottes sogar „profaner als die übrige sie umgebende Welt“ sein müsste, weil sie sich von Göttern dieser Welt nicht beeindrucken lässt und deshalb dafür eintritt, die Grenzen des Menschlichen in einer entgötterten Welt zu wahren. Wenn es recht zugeht, was nur in der Regel nicht der Fall ist, dann gilt: In der Kirche werden die Grenzen des Menschlichen gewahrt und bewacht, in der Kirche werden keine Götter angebetet, in der Kirche werden keine Ideologien gepflegt, in der Kirche muß der Mensch sich selbst nüchtern sehen und verstehen: in seiner Endlichkeit, in seiner Blöße, in seinen Schranken, in seiner Einsamkeit. Die Welt war der Kirche nicht immer dankbar dafür, daß sie ihre Götter ignorierte. Es gab bekanntlich eine Zeit, wo sie sie aus diesem Grunde verfolgte. Die Kirche würde vielleicht wieder verfolgt werden, wenn sie es der Welt wieder klarer machen könnte, daß sie sich darin von ihr unterscheidet, daß sie ihre Götter ignorieren muß. Aber man übersehe nicht: gerade in dieser Unterscheidung ist sie weltlicher als die Welt, humanistischer als die Humanisten, näher als sie beide dem eigentlichen Sinne der menschlichen Tragödie-Komödie, die als Versuch des Menschen, sich selber zu helfen, nur dann echt sein könnte, wenn sie sich unter Verzicht auf allen religiösen Pomp und Anspruch innerhalb ihrer natürlichen Grenzen halten würde. Das Geheimnis der Welt ist doch die Nichtexistenz ihrer Götter. Und es kostet die Welt Tränen und Blut genug, daß sie dieses Geheimnis immer wieder leugnen und die Natur und die Geschichte mit Göttern bevölkern möchte; der Grund ihrer Unruhe ist ihre Weigerung, sich zu ihrer Profanität zu bekennen. Die Kirche weiß um dieses Geheimnis der Welt. Sie darf sich durch keine Vorwürfe und Anklagen darin irremachen lassen. Gerade damit hält sie der Welt Treue.59

Dieser auf die Profanität einer entmythologisierten Welt gelegte kritische Akzent verdeutlicht ein charakteristisches Merkmal von Barths Kirchenverständnis. Die Kirche ist kein Ausweg aus der Welt, kein Rückzugsgebiet zur friedlichen religiösen Selbstpflege, sondern eine im Lichte der besonderen Zuwendung Gottes vollzogene Einweisung in die Welt. Die in ihr zu vollziehende Religionskritik gilt den sich selbst zugemessenen Ansprüchen, mit denen sie der sie umgebenden Welt meint Gott vorhalten zu können, sodass der Anschein entsteht, als stehe ihr Gott zur Verfügung. Stattdessen bleibt es ihr geboten, Gott aufgrund seiner Selbstverheißung ständig neu zu erwarten. Nur so lebt sie nicht sich selbst und ihrer religiösen Macht, sondern 59 Offenbarung, Kirche, Theologie, in: Ders., Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge 3, Zollikon 1957, 158–184, 169 f.

272 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

stellt auch ihre Religion in den Dienst ihrer vor allem auf die Verheißungen Gottes gesetzten Hoffnungen. &

R. Gruhn, Religionskritik als Aufgabe der Theologie. Zur Kontroverse ‚Religion statt Offenbarung?‘, in: EvTh 39 (1979), 234–255 W. Krötke, Der Mensch und die Religion nach Karl Barth (ThSt 125), Zürich 1981 M. Weinrich, Von der Humanität der Religion. Karl Barths Religionsverständnis und der interreligiöse Dialog, in: ZDTh 19 (2003), 25–44

4.2 Das religionslose Christentum 4.2.1 Dietrich Bonhoeffer Als Dietrich Bonhoeffer in Briefen an seinen Freund Eberhard Bethge aus dem Berliner Gefängnis den Gedanken eines „religionslosen Christentums“ aufwarf, suchte er nach einer Perspektive für die Kirche, die dem neuzeitlichen Bewusstsein besser gerecht zu werden vermag, als es der überkommenen Kirche noch gelang. Dieser nur durch wenige Erläuterungen vorgetragene Gedanke hat später – insbesondere im englischsprachigen Raum – eine bemerkenswerte Resonanz gefunden. Sowohl die Säkularisierungsthese von Friedrich Gogarten als auch vor allem die amerikanische Säkularisierungstheologie von Harvey Cox und die sich daran anschließende Gottist-tot-Theologie berufen sich auf Dietrich Bonhoeffer als einen entscheidenden Impulsgeber für die von ihnen eingeschlagene und dann fortgesetzte Richtung ihrer Theologie. Nicht zuletzt angeregt von Barths theologischer Religionskritik hat Dietrich Bonhoeffer immer wieder neu die Frage gestellt, welche Sozialgestalt die Kirche habe und wie sie in angemessener Weise in der modernen Gesellschaft auftrete. Ging es ihm zunächst darum, die Widerstandskraft der Kirche gegenüber dem nationalsozialistischen Anpassungsdruck zu stärken, sodass er auf eine gemeinschaftsbildende, auch liturgisch geprägte, ausdrücklich christliche Lebenspraxis drängte,60 so machte er nach vielen Enttäuschungen im sogenannten Kirchenkampf nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im konspirativen Widerstand vor allem die Erfahrung, dass es auch entschlossene Verantwortungsübernahme in bürgerlichen Kreisen ohne ausdrücklich christliche Prägung gab. Wenn Bonhoeffer in diesem Zusammenhang von einer „Rehabilitierung des Bürgertums“ sprechen konnte,61 dann stehen hier in einer Zeit, die vor allem durch massenhafte und psychologisch gesteuerte Unmündigkeit geprägt und geradezu gelähmt war, ermutigende und Hoffnung begründende Begegnungen mit einer „mündig gewordenen Welt“ in Gestalt dieser klarsichtigen 60 Vgl. dazu insbesondere seine Schrift: Gemeinsames Leben, in: Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, hg. v. G. L. Müller u. A. Schönherr (DBW 5), München 1987, 13–102.

61 Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Chr. Gremmels u. a. (DBW 8), Gütersloh 1998, 189.

4. Theologische Religionskritik 273

Verantwortungsträger im Hintergrund. Gegen eine falsche Gottgeborgenheit in der Religion hebt Bonhoeffer die tätige Weltverantwortung als den konkreten Ausdruck der christlichen Freiheit hervor. Wenn sich Bonhoeffer in diesem Zusammenhang gegen die Religion wendet, so ist dabei weniger ein systematisch geprägter Religionsbegriff im Blick als vielmehr ein historisierender. Die überkommene Gestalt der Kirche ist den gegenwärtigen Herausforderungen nicht gewachsen. Das traditionelle „Gewand des Christentums“ (404) gehört der Geschichte an. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird dieses religiöse Gewand zum Anachronismus. Die ‚mündige Welt‘ hat sich von diesem Christentum verabschiedet und es ergibt sich für Bonhoeffer die Frage nach der „Inanspruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Christus“ (504). Und so ist sein ganzer Impuls wohl weniger als eine bereits greifbare neue Perspektive, sondern als eine tatsächliche Frage zu verstehen: Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d. h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein. Auch diejenigen, die sich ehrlich als ‚religiös‘ bezeichnen, praktizieren das in keiner Weise; sie meinen also vermutlich mit ‚religiös‘ etwas ganz anderes. Unsere gesamte 1900jährige christliche Verkündigung und Theologie aber baut auf dem ‚religiösen Apriori‘ der Menschen auf. ‚Christentum‘ ist immer eine Form (vielleicht die wahre Form) der ‚Religion‘ gewesen. Wenn nun aber eines Tages deutlich wird, daß dieses ‚Apriori‘ garnicht existiert, sondern daß es eine geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen gewesen ist, wenn also die Menschen wirklich radikal religionslos werden – und ich glaube, daß es mehr oder weniger bereits der Fall ist (woran liegt es z. B. daß dieser Krieg im Unterschied zu allen bisherigen eine ‚religiöse‘ Reaktion nicht hervorruft?) – was bedeutet das dann für das ‚Christentum‘? . . . Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion, d. h. eben ohne die zeitbedingten Voraussetzungen der Metaphysik, der Innerlichkeit etc. etc.? Wie sprechen (oder vielleicht kann man eben nicht einmal davon ‚sprechen‘ wie bisher) wir ‚weltlich‘ von ‚Gott‘, wie sind wir ‚religionslos-weltlich‘ Christen, wie sind wir ek-klvsı´a, Herausgerufene, ohne uns religiös als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige? Christus ist dann nicht mehr Gegenstand der Religion, sondern etwas ganz anderes, wirklich Herr der Welt. Aber was heißt das? Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet? (402–405)

Die neuzeitliche Autonomiebewegung „ist in unserer Zeit zu einer gewissen Vollständigkeit gekommen. Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese: Gott‘.“ (476) Bedeutet diese geschichtlich gewonnene Mündigkeit, in welcher dem Theismus der Abschied erteilt wird, nun zugleich eine Annullierung des Glaubens an Christus? „Die Frage heißt: Christus und die mündig gewordene Welt.“ (479) Einen Weg sieht Bonhoeffer grundsätzlich verstellt, nämlich den traditionell apologetischen Weg, den er „erstens für sinnlos, zweitens für unvornehm, drittens für unchristlich“ (478) hält.

274 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie Gegen diese Selbstsicherheit ist nun die christliche Apologetik in verschiedenen Formen auf den Plan getreten. Man versucht der mündig gewordenen Welt zu beweisen, daß sie ohne den Vormund ‚Gott‘ nicht leben könne. Wenn man auch in allen weltlichen Fragen schon kapituliert hat, so bleiben doch immer die sogenannten ‚letzten Fragen‘ – Tod, Schuld, – auf die nur ‚Gott‘ eine Antwort geben kann und um deretwillen man Gott und die Kirche und den Pfarrer braucht. Wir leben also gewissermaßen von diesen sogenannten letzten Fragen der Menschen. Wie aber, wenn sie eines Tages nicht mehr als solche da sind, bzw. wenn auch sie ‚ohne Gott‘ beantwortet werden? Nun kommen zwar die säkularisierten Ableger der christlichen Theologie, nämlich die Existenzphilosophen und die Psychotherapeuten, und weisen dem sicheren, zufriedenen, glücklichen Menschen nach, daß er in Wirklichkeit unglücklich und verzweifelt sei und das nur nicht wahrhaben wolle, daß er sich in einer Not befinde, von der er garnichts wisse und aus der nur sie ihn retten könnten. Wo Gesundheit, Kraft, Sicherheit, Einfachheit ist, dort wittern sie eine süße Frucht, an der sie nagen oder in die sie ihre verderblichen Eier legen. Sie legen es darauf an, den Menschen erst einmal in innere Verzweiflung zu treiben und dann haben sie gewonnenes Spiel. Das ist säkularisierter Methodismus. Und wen erreicht er? eine kleine Zahl von Intellektuellen, von Degenerierten, von solchen, die sich selbst für das Wichtigste auf der Welt halten und sich daher gern mit sich selbst beschäftigen. (477 f.)

Es kann nicht um Polemik gegen die Mündigkeit gehen, sondern Bonhoeffer möchte die Mündigkeit im Licht des Evangeliums verstehen, in dem sie dann besser verstanden werden kann, als sie sich selbst versteht (vgl. 482). In diesem Sinne spielt er mit dem Gedanken eines ‚religionslosen Christentums‘, in dem der Glaube nicht mehr den Bedingungen der Religion unterworfen ist, sondern Christus unmittelbar als Herr der Welt anerkannt wird. Es kommt dabei zu einer entscheidenden Verschiebung im Gottesverständnis, die seine spezifisch biblische/christliche Prägung wieder mehr in den Vordergrund rücken würde. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matthäus 8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religionslosigkeit des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der Deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick freimacht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt. (534 f.)

Es wird entscheidend darauf ankommen, Bonhoeffers Überlegungen kontextuell zu interpretieren, um sie nicht in systematischer Hinsicht zu überfordern. &

E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, München 1967 Chr. Strohm, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus: der Weg Dietrich Bonhoeffers mit den Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz in den Widerstand (HUWJK 1), München 1989

4. Theologische Religionskritik 275

4.2.2 Die Säkularisierung des Christentums Wenn im Folgenden ein paar Hinweise auf eine Linie der Wirkungsgeschichte von Bonhoeffers späten Überlegungen über ein religionsloses Christentum gegeben werden sollen, so wird damit über den expliziten Religionsdiskurs hinausgegangen. Es handelt sich aber insofern implizit um die Fortsetzung des Religionsdiskurses, als die entscheidende Voraussetzung für die hier ins Auge gefasste Neujustierung des Christentums in dem ausdrücklichen Interesse besteht, nicht mehr als Religion wahrgenommen werden zu wollen, sondern gleichsam als eine Art wachsames Verantwortungsferment der säkularisierten freiheitlichen Gesellschaft. Die Freiheit dieser säkularisierten Gesellschaft ist stets durch die Gefahr bzw. Versuchung bedroht, auf Grund irgendwelcher kontingenter Opportunitäten von Festlegungen und Ideologien in den Hintergrund gedrängt und somit aufs Spiel gesetzt zu werden. Die Kirche muss konsequent Welt werden, um der Welt darin eine Hilfe zu sein, tatsächlich Welt zu bleiben und nicht ihrerseits zu einer Kathedrale einer Ideologie bzw. Religion zu werden. Diese Linie kann an dieser Stelle nicht wirklich präsentiert werden, aber sie sollte doch als ein genuiner Nebenstrang der Religionsdebatte wenigstens mit einigen Stichworten markiert werden. Es war zunächst Friedrich Gogarten (1887–1967), der die Theologie nicht als ein standhaft zu pflegendes Kampfpotenzial gegen die um sich greifende Säkularisierung ansah, sondern sie zu einer kritischen Begleiterin der im Grundsatz anzuerkennenden Säkularisierung erklärte. Die konsequente Befreiung zur Welt und somit auch zur Wissenschaft wird als eine Frucht der befreienden Botschaft des Evangeliums interpretiert. Die ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ kommt erst in der säkularisierten Gesellschaft konsequent zu ihrer Verwirklichung. Während der Umgang mit der Welt vom stets partikular bleibenden Wissen bestimmt wird, richtet sich der Glaube auf das Ganze, das dem Wissen verschlossen bleibt. In der mangelnden Unterscheidung von Wissen und Glauben verbirgt sich die Gefahr, dass die Säkularisierung in einen Säkularismus umschlägt, der eine neue Knechtschaft in der Gestalt einer Weltverfallenheit mit sich bringt. Dieser Gefahr tritt der Glaube wachsam entgegen, weil er um die Weltlichkeit der Welt weiß und dazu aufgefordert ist, allen ideologischen Usurpierungen entgegenzutreten. Wir bezeichnen die eine Art der Säkularisierung als die, die im Säkularen bleibt. In ihr hält man es aus, daß die Welt ‚nur‘ Welt ist; man erkennt in ihr nicht nur die Grenze der Vernunft, die dieser damit gesteckt ist, daß ihr zwar der Gedanke des Ganzen als der höchste ihr mögliche zu denken aufgegeben ist, daß sie aber die Frage, vor die sie damit gestellt ist, nicht zu beantworten vermag und daß sie mit diesem Gedanken über ein fragendes Nichtwissen nicht hinauskommt. . . . Die andere Art der Säkularisierung . . . bezeichnet man am besten als Säkularismus. Sie entsteht, wenn jenes fragende Nichtwissen dem Gedanken der Ganzheit gegenüber nicht durchgehalten wird. Man gibt dann entweder das Nichtwissen oder die Frage preis. Demgemäß kann der Säkularismus in sich wieder zwei verschiedene Gestalten annehmen. Meint man auf die Fragen, die das Ganze angehen, eine Antwort geben zu können, dann entsteht der Säkularismus der Heilslehren oder Ideologien . . . Meint man dagegen, jene Fragen,

276 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie die das Ganze angehen, beiseite lassen zu müssen, da man sie doch nicht beantworten kann, dann entsteht der Säkularismus, der latent oder offen jede Frage für nutzlos und unsinnig erklärt, die über das bloß Sichtbare und Greifbare hinausgeht. Man bezeichnet diese Art von Säkularismus neuerdings als Nihilismus.62 &

F. Gogarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, Tübingen 1956 –, Die Wirklichkeit des Glaubens, Stuttgart 1957

Der amerikanische Theologe (Baptist) Harvey Cox (*1929) weist im Horizont der Debatte um ein religionsloses Christentum den Christen ihren Ort zwischen Religion und Revolution zu. Im Rückgriff insbesondere auf die prophetische Tradition des Alten Testaments kommt es zu einer entschlossenen Politisierung der Theologie, die Cox dazu aufgefordert sieht, klar positioniert in der Welt Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen als Theologen anfangen, unsere Entschlüsse nicht im Licht nur kirchlicher oder religiöser Geschichte zu fassen, sondern im Licht jener Gesamtgeschichte, gesehen als Bericht von der Verantwortung des Menschen, die er oft in säkularer und antireligiöser Weise auf die Herausforderungen und Überraschungen des Evangeliums wahrgenommen hat.63

Es kommt für Cox darauf an, das Denken und die Praxis im politischen Kontext und nicht mehr im religiösen Kontext zu orientieren. Dabei geht es ihm um die vom Evangelium motivierte Humanisierung der in der Nachfolge Jesu geforderten revolutionären Veränderungen. &

H. Cox, Stadt ohne Gott, Stuttgart 1965 –, Das Fest der Narren, Stuttgart 1969 –, Verführung des Geistes, Stuttgart 1974

Offensiv hat Paul van Buren (1924–1998), ebenfalls Amerikaner, in den sechziger Jahren für ein säkulares Christentum plädiert, das er ausdrücklich von dem religiösen Christentum abhebt. Als säkularer Mensch kann der Christ das Evangelium säkular verstehen, indem er es als den Ausdruck einer spezifischen historischen Perspektive versteht. Die ins Auge gefasste Säkularität will ähnlich wie Feuerbach (% § 4,2.4) die bisher an den Himmel verschleuderten Kräfte für die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen nutzen, wobei sich van Buren ausdrücklich auf Martin Bubers Unterscheidung zwischen Ich-Du und Ich-Es beruft. Das Ereignis der Wirklichkeit in der personalen Begegnung überragt in seiner Bedeutung die bisherigen theologischen Distinktionen von Zeit und Ewigkeit oder Unendlichem und Endlichem. Der diesseitige Aspekt des Evangeliums soll in den Vordergrund gerückt werden. Das schließt auch eine sprachanalytische Erhellung der empirischen Wurzeln von abstrakt tradierten theologischen Aussagen ein, die zu einem säkularen 62 Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem [1953], Gütersloh 21987, 142 f.

63 Stirb nicht im Warteraum der Zukunft, Stuttgart 1968, 35.

4. Theologische Religionskritik 277

Verständnis theologischer Aussagezusammenhänge führen. So wie in vielen anderen Wissensgebieten in der Neuzeit die metaphysischen und kosmologischen Aspekte verschwunden sind, so reduziert sich auch die Theologie in ihrer Substanz auf die Ethik. Der Weg, den wir dem säkularen Christentum in einer säkularen Welt aufgezeigt haben, ist deutlich und breit genug, um dem ganzen Evangelium auf der ganzen Strecke Raum zu bieten. Wenn wir auch eingeräumt haben, dass unsere Interpretation einer Reduktion des christlichen Glaubens auf seine historischen und ethischen Dimensionen gleichkommt, so nehmen wir doch für uns in Anspruch, dass wir nichts Wesentliches aufgegeben haben.64

Auch wenn er sich später immer wieder davon distanziert hat, gilt van Buren als einer der Begründer der Gott-ist-tot-Theologie. &

P. v. Buren, The Edges of Language. An Essay in the Logic of a Religion, New York 1972

Neben Paul van Buren, Gabriel Vahanian und William Hamilton war Thomas J. J. Altizer (*1927) wohl der exponierteste Vertreter der amerikanischen Gott-ist-totTheologie, in der die Säkularisierung des Christentums ihren theologischen Höhepunkt erlebt. In positiver Aufnahme von Nietzsches Rede vom Tod Gottes (% § 4,2.6) wird ein nachtheistisches Christentum propagiert. Der radikale Christ verkündigt, daß Gott tatsächlich in Christus gestorben ist und daß das sowohl ein geschichtliches wie auch kosmisches Ereignis und als solches endgültig und unwiderruflich ist, also nicht durch spätere religiöse oder kosmische Bewegung rückgängig gemacht werden kann.65

Für Altizer ist der Tod Gottes der spezifische Inhalt des Evangeliums, der durch das christliche Bekenntnis zu verkünden sei. Es ist also gewissermaßen das Privileg des Christentums, tatsächlich um den Tod Gottes zu wissen und diesen dann auch offensiv verkündigen zu dürfen. Die Inkarnation, das fleischgewordene Wort bedeute die konsequente Abkehr vom Transzendenzbezug des Glaubens, der sich ganz und gar auf das Diesseits zu konzentrieren habe. Altizer spricht synonym von dem radikalen, profanen und nichtreligiösen Christen (117), der „eine konkret wirkliche Herabkunft des Heiligen ins Profane hinein“ (119) bezeugt. Es geht um die Befreiung des Menschen zu sich selbst, die von Altizer nicht ohne Pathos vorgetragen wird: Ist der Christ erst einmal von jeglicher Bindung an einen himmlischen und transzendenten Herrn befreit und in Christus der Urrealität Gottes abgestorben, kann er triumphierend sagen: Gott ist tot! Nur der Christ kann das befreiende Wort vom Tode Gottes sprechen, weil er allein in Christus dem transzendenten Bereich des Heiligen abgestorben ist und in seiner eigenen Teilnahme am vorwärtsschreitenden Christusleib den Sieg der Selbstverneinung des Geistes realisieren kann. So wie der Urchrist seine Hörer aufrufen konnte, sich der Kreuzigung zu freuen, weil sie das Kommen des Gottesreichs bewirke, kann der heutige Christ die frohe Bot64 Reden von Gott in der Sprache der Welt. Zur säkularen Bedeutung des Evangeliums, Zürich 1965, 185.

65 . . . daß Gott tot sei. Versuch eines christlichen Atheismus, Zürich 1968, 118.

278 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie schaft vom Tode Gottes verkündigen und mit der Freude von der schließlichen Vollendung der Selbstvernichtung Gottes reden. Gewiß, heute weiß jeder der Erfahrung gegenüber offene Mensch, daß Gott abwesend ist, aber einzig der Christ weiß, daß Gott tot ist, daß der Tod Gottes ein endgültiges und unwiderrufliches Ereignis ist, das in unserer Geschichte eine neue, befreite Menschheit hervorgebracht hat. . . . Anstatt, als Antwort auf eine Welt, in der der ursprüngliche Name Gottes nicht länger sagbar ist, zu verstummen und zu erstarren, vermag der Christ als einer zu leben und zu reden, der freudig die ‚Frohbotschaft‘ vom Tode Gottes verkündigt, wobei er unsere nackte Erfahrungswirklichkeit als die siegreiche Verwirklichung der Selbstverneinung Gottes begrüßt. (127 f.) &

T. J. J. Altizer, Descent into Hell, Philadelphia 1970 –, The Gospel of Christian Atheism, Philadelphia 1966 S. Daecke, Der Mythos vom Tode Gottes, Hamburg 1969

4.2.3 Dorothee Sölle Im deutschen Sprachraum war es vor allem Dorothee Sölle (1929–2003), die eine nachtheistische Theologie vortrug. Insofern steht sie in einem Zusammenhang mit der Gott-ist-tot-Theologie. Zugleich unterscheidet sie sich fundamental davon, indem sie nicht ihrer Säkularisierungslinie folgt, sondern im Gegenteil für das nachtheistische Christentum einen erneuerten Religionsdiskurs einfordert, in dem sie sich auch selbst positioniert. Die von den Säkularisierungsprotagonisten angestrengte Exkursion kommt hier zu ihrem Ende und findet wieder den Anschluss an die Religionsdebatte. Sölles Hauptfrage war von der Suche nach der Identität des Menschen bestimmt, die traditionell nur wenig Unruhe ausgelöst hat, weil sie aus dem Gegenüber zu Gott beantwortet wurde. Seit dem 19. Jahrhundert hat dieser Bezugspunkt seine Überzeugungskraft eingebüßt, sodass auch die überkommenen Antworten nicht mehr in Anspruch genommen werden können. Der theologische Ausdruck solcher veränderten psychosozialen Bedingtheiten ist die Rolle vom ‚Tode Gottes‘ als Erfahrung vom Ende einer objektiven, allgemeinen oder auch subjektiven, privaten, jedenfalls aber unmittelbaren Gewißheit.66

War bisher der Mensch Gottes Angelegenheit, so wird nun Gott zur Angelegenheit des Menschen. Wenn noch für das 19. Jahrhundert der Schmerz ‚der Felsen des Atheismus‘ ist, so gilt in diesem Jahrhundert, daß uns nichts so sehr auf Gott hinweist wie seine Niederlagen in der Welt. Daß Gott in der Welt beleidigt und gefoltert, verbrannt und vergast wurde und wird, das ist der Fels des christlichen Glaubens, dessen Hoffnung darauf geht, daß Gott zu seiner Identität komme. Dieser Schmerz ist unauslöschlich, und diese Hoffnung kann nicht vergessen werden. Was den Christen gemeinsam ist, ist ‚das Teilhaben am Leiden Gottes in Christus. Das ist ihr Glaube.‘ [Bonhoeffer] Darin wissen sie, daß Gott ohnmächtig ist und Hilfe braucht. 66 Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ‚Tode Gottes‘, Stuttgart 1965, 12.

4. Theologische Religionskritik 279

Als die Zeit erfüllt war, hatte Gott lange genug etwas für uns getan. Er setzte sich selbst aufs Spiel, machte sich abhängig von uns und identifizierte sich mit dem Nichtidentischen. Es ist nunmehr an der Zeit, etwas für Gott zu tun. (204 f.)

Die Wahrnehmung der Leiden produzierenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse fordert eine konsequente Akzentverschiebung weg von der Orthodoxie des dogmatischen Christentums hin zur Orthopraxie. Ihre Fundamentalkritik ist wirkungsgeschichtlich begründet und fordert vor allem eine grundsätzlich veränderte gesellschaftliche und politische Selbstpositionierung der Kirche. Gott ist weithin zu einem ideologischen Alibi für die eigene Passivität und Lethargie und somit zu einer Behinderung der rechten Menschwerdung geworden, gegen die sich Sölle auflehnt. Einst entsprach der real erfahrenen Ohnmacht der Glaube an die göttliche Macht; genau – es war immer noch besser, sich Gott ausgeliefert zu wissen als dem Wetter, dem Tyrannen oder der Krankheit. Ist diese ursprüngliche kindliche Ohnmacht aber in ihren natürlichen und gesellschaftlichen Ursachen erkannt und kann sie daher in sehr vielen Dingen real und in einigen erst potentiell aufgehoben werden, so kann ein Bewußtsein, das den alten Zustand der Ohnmacht religiös konserviert, nur als ideologisch bezeichnet werden. . . . Wer Antibabypille oder Düngemittel nicht kennt, mag ein Recht haben, in diesen Angelegenheiten zu beten. Wer sie hat, kommt nicht mehr auf den Gedanken. Wer sie kennt, aber nicht hat, hat kein Recht zu beten – er soll sie sich besorgen. Das theistische Verhalten ist in unserer Welt eine Art beten, daß kein Baby kommt. Es wartet auf Gottes Eingreifen, darin ist es antichristlich. Mit Hilfe des Theismus verlängern wir die eigene Ohnmacht und rechtfertigen wir die bestehenden Zustände.67

Der Abschied vom Theismus bedeutet für Sölle jedoch keine Verabschiedung der Religion. Ganz im Gegenteil misst sie dieser im Blick auf die Menschwerdung des Menschen eine neue essenzielle Rolle zu. „Religion ist der Ort, an dem die größten Wünsche und Sehnsüchte der Menschheit geträumt worden sind“,68 sie ist „eine wesentliche Form menschlicher Kreativität“ (87), und es ist eben dieses utopische Potenzial, das der Religion eine schwer zu erschütternde kritische Kraft verleiht, sich nicht einfach mit dem Gegebenen abzufinden. Mochte im 19. Jahrhundert die Religionskritik noch gut begründet gewesen sein, so ist sie für Sölle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem abzuweisenden Stabilisierungsfaktor geworden. Die Zeit der Verdrängung der Religion – in diesem Zusammenhang nennt Sölle Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer – gelte es zu beenden, um der Sehnsucht nach Ganzheit wieder den Artikulationsraum zu geben, der nötig ist, um dann auch in entsprechender Weise aktiv werden zu können. In bestimmter Weise ist die Religionskritik unter den zeitgenössischen Umständen ‚reaktionär‘ geworden: Die nicht-religiöse Haltung schließt ein gewisses Maß an Resignation, an Einsicht in das Verwirklichbare, das heißt aber auch an Unterwerfung in die natürlichen Notwendigkeiten ein. 67 Gibt es ein atheistisches Christentum?, in: D. Sölle, Das Recht ein anderer zu werden, Neuwied/ Berlin 1971, 42–60, 51 f.

68 Die Hinreise. Zur religiöse Erfahrung, Stuttgart 1975, 67.

280 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie Der Mensch ohne alle Religion ist leichter zufriedenzustellen. Er ist ‚vernünftiger‘, weil er ein so großes Ziel – wie das Ganz-Sein, das nicht-zerstückte Leben – erst gar nicht ersehnt. Die Auffassung des Marxismus, daß die Religion mit der Abschaffung von materiellem Mangel, von Ausbeutung und Unterdrückung von selbst verschwinde, setzt nicht nur ein entfremdetes Verständnis von Religion voraus, sondern ist selbst eine entfremdete Verkürzung der Wirklichkeit des Menschen, die ihn verleugnet eben in seiner Fähigkeit zu träumen, sich auszudrücken und sich zu verwirklichen. Ein konsequent nicht-religiöses Denken rechtfertigt als vernünftig nur das, was auf Zwecke geht. . . . Die Kritik an der Religion als eine Kritik am Wünschen ist eine Verstümmelung des Menschen im Interesse der kapitalistischen oder sozialistischen Zweckrationalität; sie ist heute objektiv reaktionär. (169–171) &

D. Sölle. Die Wahrheit ist konkret, Olten/Freiburg 1967 –, Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten/Freiburg 1968

4.3 Helmut Gollwitzer Während Barths theologische Religionskritik (% § 7,4.1) sich auf die stets erforderliche Selbstkritik der Kirche konzentrierte, hat sein Schüler Helmut Gollwitzer ausdrücklich das Gespräch mit den Gesellschafts- und Humanwissenschaften sowie der Philosophie gesucht. Diese Dialogizität hat seiner Theologie einen im besten Sinne offensiven und zugleich auch erneuerungswilligen apologetischen Charakter gegeben. Gollwitzer nannte sich selbst einen Sozialisten und verstand diese Positionierung als eine sich geradezu aufdrängende Konsequenz aus dem Evangelium.69 Insbesondere angestoßen von Erfahrungen in sowjetischer Gefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg70 hat er sich zeitlebens mit dem Recht und den Grenzen der marxistischen Religionskritik auseinandergesetzt, aber auch mit Einwänden aus anderen Perspektiven. Es lag Gollwitzer stets daran, die jeweiligen Wahrheitsmomente der Außenperspektive stark zu machen, an denen die Theologie nicht zu ihrem eigenen Schaden einfach achtlos vorbeigehen dürfe. Zugleich lag ihm daran, sowohl den das Christentum bzw. die Kirche von außen angreifenden Kritikern als auch der Kirche selbst das biblisch begründete kritische Potenzial der eigenen Tradition vor Augen zu stellen, um dann auch umgekehrt die Grenzen der von außen ergehenden Kritik und die bleibenden weiterführenden Stärken des christlichen Bekenntnisses hervorzuheben. Die Einlassung auf die jeweils aktuellen zeitgenössischen Debatten bringt es mit sich, dass Gollwitzers Theo-

Helmut Gollwitzer (1908–1993) hebt sowohl die Hilfestellungen hervor, die der Religion aus den verschiedenen kritischen Außenwahrnehmungen erwachsen, als auch das in der Religion selbst liegende kritische Potenzial, mit dem sie gegen ihre Kritiker verteidigt werden kann.

69 Vgl. u. a. Warum ich als Christ Sozialist bin, in: H. Gollwitzer, Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, hg. v. Chr. Keller, Bd. 2 (Ausgewählte Werke Bd. 7), München 1988, 48–59.

70 . . . und führen, wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, München 1951 (5. Aufl., Gütersloh 1994).

4. Theologische Religionskritik 281

logie in besonderer Weise von dem sie je bestimmenden Kontext geprägt ist und sich mit diesem somit auch in ihren Akzentsetzungen verändert hat. Seine Theologie ist weithin im besten Sinne ein Beispiel für das, was Barth eine ‚irreguläre Theologie‘ genannt hat, deren Recht er neben der ‚regulären Theologie‘ ausdrücklich unterstreicht.71 Im Blick auf die marxistische Religionskritik greift Gollwitzer vor allem die „häufige Dienstbarkeit der Religion für die Interessen der herrschenden Schichten“ heraus, verbunden mit der Beobachtung, dass selbst die christlichen Erneuerungsbewegungen die Schärfe ihrer Kritik gegen „das Heidentum der Individuen, nicht aber der Institutionen“ richten und sich darin eben als gesellschaftlich konservativ erweisen, dass sie der „Gefahr jener illegitimen Frömmigkeitsweisen des religiösen Seligkeitsegoismus, der Weltflucht, der fatalistischen Ergebung“ erliegen.72 Auch müsse die Zeit grundsätzlich vorüber sein, in welcher der Gottesgedanke dadurch gerettet werden soll, dass er irgendwelchen Erklärungslücken zugewiesen wird. Damit ist die Tradition antiker Metaphysik gemeint, die in spezifischer Weise im deutschen Idealismus ihre Fortsetzung findet. Gollwitzer gibt der marxistischen Kritik an dem idealistisch geprägten Christentum recht: Angesichts der idealistischen Prägung des christlichen Denkens seit dem Frühkatholizismus erfordert das Ende der christlichen Metaphysik eine tiefgreifende theologische Selbstkritik, zu der der Marxismus mit seiner Betrachtung des Christentums als eines Sonderfalls von Idealismus und des Idealismus als eines Sonderfalles von Theologie fruchtbaren Anstoß gibt. (138)

Gollwitzer fordert eine grundsätzliche Unterscheidung von Religion und christlicher Botschaft ein, indem er die Religion als eine vom Menschen zu verantwortende geschichtliche und somit auch kritikwürdige Angelegenheit ansieht, während die Botschaft – Gollwitzer spricht vom Evangelium – nicht den Verfügungen des Menschen unterliegt. Für die Theologie kommt es entscheidend darauf an, von wo aus sie ihre Kritik legitimiert und in welche Richtung sie dann ihre Kritik ergehen lässt. Hier zeigt sich auch, inwiefern die Theologie der Kritik des Marxismus nicht nur zustimmt, sondern ihr auch offensiv entgegensteht. Der wirkliche Gegensatz, den die Theologie zur Geltung bringen muß, besteht nicht zwischen Religion und Atheismus, sondern zwischen dem ‚Gott für uns‘ des Evangeliums und der menschlichen Weigerung von der Lebenswirklichkeit dieses ‚Gott für uns‘ zu leben. Diese Weigerung, dieses Mißtrauen des Menschen gegen seinen göttlichen Herrn, dieses Insistieren auf die Lebensbesorgung durch die eigene Sorge und Leistung kann auf religiöse und profane, auf rationale und auf mystische, auf technische und auf superstitiöse Weise geschehen. Die Fronten, die sich heute so grimmig gegenüberstehen . . ., sind weithin nichts anderes als konkurrierende Fronten der Selbsterlösung, von denen jede die Menschen an ihr Rezept binden möchte, um sie zu beherrschen. Ihre Selbstgerechtigkeit, ihre Todfeindschaft, ihr Fanatismus, 71 Vgl. K. Barth, KD I/1, 292–295. 72 Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube [1962], Hamburg 51974, 136.

282 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie ihr verkrampftes Über-Leichen-Gehen, ihre Humorlosigkeit, ihre Unbußfertigkeit sind deutliche Zeichen des Fluches des ‚Gesetzes‘, unter dem sie stehen . . . Die Aktivität, die sie kennen, ist nicht die aus dem Dank des Geliebtseins kommende, sondern die unruhige aus der Angst um eine überirdische oder irdische Seligkeit, die mit ihr erworben werden muß. Darum ist nichts gebessert, ob man nun vom Atheismus zur Religion oder von der Religion zum Atheismus bekehrt. . . . Über Phänomen und Problematik der Religion kann deshalb unbefangen, ohne gereizte Selbstverteidigung mit den Marxisten verhandelt werden. Nicht die christliche Botschaft, sondern unsere menschliche Empfangs- und Gestaltungsweise, die christliche Religion wird dabei, soweit es um das Christentum geht, verhandelt; sie aber darf der Kritik nicht entzogen werden. Dabei wird die Theologie sowohl Anwalt der Religion gegenüber den Einseitigkeiten, Flachheiten und Ahnungslosigkeiten der marxistischen Kritik sein müssen wie auch Bundesgenosse dieser Kritik gegenüber Greueln, Dumpfheit, Terrorismus und ähnlichen Inhumanitäten des religiösen Lebens. (140 f.)

Gollwitzer greift auch den engen Wissenschaftsbegriff des Marxismus an, weil er mehr auf die Methodologie als auf tatsächliche Leistungsfähigkeit ausgerichtet ist und somit die auch der Wissenschaft gesetzten Grenzen nicht in den Blick bekomme. Die Bindung des Wissenschaftsverständnisses an das Modell der Naturwissenschaften ist eine Engführung, in der Gollwitzer nun den Marxismus einer ‚Religion‘ aufsitzen sieht, die ihrerseits nach ‚Religionskritik‘ verlangt. Die Freiheit der Wissenschaft ist – solange sie sich recht versteht – nicht von der Theologie her bedroht, sondern am meisten vom Szientismus, von dem Aberglauben, der aus der modernen Wissenschaft eine Weltanschauung macht und sich ihrer als Steinbruch zur Errichtung von angeblich wissenschaftlich geforderten und gesicherten Weltbildern bedient. Die Gefahr der Wissenschaft ist das ungestillte Glaubensbedürfnis, das nach dem Abbau anderer Glaubensweisen von der Wissenschaft seine Stillung verlangt. . . . Recht verstandene Theologie ist unbedingte Freigabe jeder Tatsachenforschung. Der Schöpfungsglaube ist geradezu ein Bekenntnis zu den Dingen, wie sie sind, und widersetzt sich aller gutgemeinten Verdrehung und Tabuisierung. Wo Wissenschaft als Konkurrenz zum Glauben (im biblischen Sinn des Wortes) verstanden wird und als Ablösung der Religion, wird ihr ja notwendig der Platz angewiesen, den bisher die Religion innehatte. Sie soll dann geben, was sie nicht geben kann. Sie ist dann weder frei noch kritisierbar; sie wird selbst zum Tabu. . . . Wissenschaftliche Haltung ist nicht mit dem christlichen Glauben unvereinbar, sondern mit dem Aberglauben an die Wissenschaft und mit der Unterwerfung der Wissenschaft an die Forderung eines ideologisch sich an ihr befriedigenden Glaubensbedürfnisses. (142 f.)

Diese Zuspitzung wendet Gollwitzer gegen den Anspruch des Marxismus, im Horizont seiner wissenschaftlichen Welterklärung auch die Sinnfrage des Menschen beantworten zu können. Der Mensch wird auch in dieser Hinsicht zum „Selbstversorger“ (144) erklärt. Wenn Gollwitzer dagegen auf die biblische Botschaft verweist, ist ihm deutlich, dass er nun die Ebene verlässt, die von den Bedingungen des Allgemeinen bestimmt wird. Das Evangelium antwortet nicht einfach auf eine vom Menschen gestellte Frage, sondern es erschließt mit seiner Botschaft einen eigenen Horizont. Der damit bezeichnete Zirkel hat aber seine Plausibilität in dem prinzipiell zu konstatierenden Mangel des Menschen an haltbarer und tragfähiger Selbsterkennt-

4. Theologische Religionskritik 283

nis, in dem er bei nüchterner Betrachtung entweder die Frage nach sich selbst für unbeantwortbar erklärt oder sich eben eine Antwort von außen geben lässt. Es ist nicht so, daß die im Evangelium geschehende Sinnerfüllung die Antwort ist auf eine schon vorher offenkundige Frage. Was das Evangelium bietet, ist die Beantwortung einer Frage und die Erfüllung eines Bedürfnisses, das erst durch das Evangelium geweckt wird. Darum kann es auch allein durch das Evangelium gestillt werden. Wir stehen hier also vor einem Zirkel, auf den man immer stößt, wenn man sich mit christlicher Theologie beschäftigt: das Evangelium ist Antwort auf eine Lebensfrage, zutreffende, vollgenügsame Antwort; die Frage entsteht aber erst durch die Verkündigung der Antwort. Dieser Zirkel kann zunächst dem Ganzen den Anschein an Willkürlichkeit geben: als würde hier an den Menschen ein Bedürfnis herangetragen oder ihm suggeriert, das nicht schon vorher spontan und natürlich sein Bedürfnis gewesen war. Aber so ist es doch nicht. Es ist zu beachten, daß sich unser Problem im Bereich des Noetischen hält, dessen, was der Mensch als sein Bedürfnis kennt, nicht dessen, was sein Bedürfnis ist. Was er unter dem Evangelium als Not, Mangel und Hunger erkennt, daran litt er schon vorher. . . . Der Zusammenhang zwischen seiner jetzigen Erkenntnis und seiner bisherigen Wirklichkeit wird aber daran deutlich, daß der Schmerz der Schmerz der Wunde ist, die schon vorher sichtbar war, aber erträglich, nicht tödlich schien, und die erst jetzt, durch den Schmerz ihre zutreffende Deutung erfährt. So ist der todbringende Mangel der Gottesgemeinschaft, so ist die Verwüstung des Bösen schon vor der Begegnung mit der Herablassung Gottes im Evangelium sichtbar in all den Entfremdungserscheinungen, Gemeinschaftslosigkeiten, Verkehrungen des Lebens, die zu den immer neuen Versuchen, das Leben zu heilen, zu den religiösen wie den atheistischen, Anlaß geben. Aber wie tief der Schaden ist und wie ungenügend, ja ins Übel nur noch mehr hineintreibend die Heilungrezepte, das wird erst erkennbar, wenn Gott selbst auf den Plan tritt und sein Erscheinen das Bisherige als unser selbst bereitetes Elend zugleich richtet und beseitigt. An der konkreten Begegnung mit dem anredenden Worte Gottes erst wird deutlich die Bestimmung des Menschen; an dieser höchsten Bestimmung zum Leben in der Gemeinschaft Gottes wird der bisherige Zustand aufgedeckt als das Elend dessen, der seine hohe Bestimmung verwirkt hat, und die auch bisher schon sichtbaren Mangelerscheinungen und Bosheiten des Lebens werden aufgedeckt als Folgen des Verwirkens der Bestimmung. Die Bestimmung – oder, wie wir früher sagten, die Verheißung des Evangeliums, nämlich die Wiederherstellung und Verwirklichung der Bestimmung des Menschen ist nun das Maß, an dem alle sonstigen Rezeptierungen gemessen werden. (145 f.) Nicht der Mensch und seine Bedürfnisse sind der Sinn der Existenz Gottes, sondern Gott ist der Sinn der Existenz des Menschen. Darum also ist das, was der Mensch in der Gottesbegegnung erhält, nicht vorher, nicht außerhalb dieser Begegnung, nicht außerhalb des ‚Glaubens‘ einsichtig. Denn erst in dieser Begegnung wird Gott selbst dem Menschen wichtig, nicht des Sinnes, nicht irgendeines Wertes wegen, sondern Er selbst – und eben dies ist freilich die unüberbietbarste Stillung der Sinnfrage. (150)

Gollwitzer hat sich später ausdrücklich gegen einen universell anwendbaren Religionsbegriff gewandt, weil er in seiner genuinen Ambivalenz in höchst unterschiedlicher Weise verwendet werden kann. Indem die der Aufklärung folgende Orientierung an der Wissenschaft in weltanschaulicher Überhöhung auch zu einer Religion werden kann, lenkt er die Aufmerksamkeit vor allem auf die ‚Dialektik der Aufklärung‘, um auf den ihrerseits dogmatischen Charakter der Aufklärung aufmerksam

284 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

zu machen, der sich in ihrer prinzipiell religionsfeindlichen Haltung zeige.73 Im Blick auf die Religion gelte es eben, die bereits von Marx gesehenen beiden Seiten möglichst klar voneinander zu unterscheiden: einerseits „Opium des Volkes“ aber eben auch „Protestation gegen das Elend“ (% § 4,3.3). Es bleibt dabei daran zu erinnern, dass es eben nicht um das dem Volk verabreichte Opium geht (es heißt nicht ‚Opium für das Volk‘), sondern um das vom Volk in Anspruch genommene und somit in einem nicht unerheblichen Maße auch benötigte, sodass bei den jeweils vorzunehmenden Wertungen stets genau hingesehen werden muss. Unbestritten aber dürfte sein, daß in der jüdisch-christlichen Überlieferung in besonderem Maße beides miteinander verbunden ist: eine Internalisierungskraft, die gesellschaftsstabilisierend wirken und darum dafür auch eingesetzt werden kann, und ein Sprengstoff gegen jede metaphysische Überhöhung und Sanktionierung einer gegebenen Ordnung. Sie befestigt nicht die Eingebundenheit der Menschen in eine gesellschaftliche Ordnung, indem sie diese als Widerspiegelung kosmischer Ordnung mit göttlicher Garantie deutet. Sie verbindet die Menschen vielmehr mit einem diesen Ordnungen überlegenen, sie schaffenden, aber auch verändernden Willen . . . (239)

Bei der Religion gilt es generell die stabilisierende von der mobilisierenden Funktion zu unterscheiden, wobei jede dieser zwei Seiten wiederum eine herausfordernde wie auch eine resignierende Seite aufweist. Stabilisierung kann gesellschaftliche Integration, aber auch konservative Affirmation bedeuten, und Mobilisierung kritische Distanznahme wie auch unkritische Anpassung an den ständigen Wandel des Zeitgeistes, wie er von den jeweiligen wirtschaftlichen Erfordernissen befördert wird.74 Gollwitzer ging es hier weniger um verbindlich zu machende Festlegungen als vielmehr um den jeweiligen kritischen Blick auf die in Betracht zu ziehenden Konstellationen. &

H. Gollwitzer, Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden v. Fr.-W. Marquardt u. a., Gütersloh 1998 B. Kahl / J. Rehmann (Hg.), Muß ein Christ Sozialist sein? Nachdenken über Helmut Gollwitzer, Hamburg 1995

73 Vgl. Religion und Bildung [1980], in: H. Gollwitzer, Auch das Denken darf dienen. Aufsätze zur Theologie und Geistesgeschichte, hg. v. Fr.-W. Marquardt, Bd. 2 (Ausgewählte Werke Bd. 9), München 1988, 220–253, 227.

74 Vgl. dazu H. Gollwitzer, Die kapitalistische Revolution, München 1974.

4. Theologische Religionskritik 285

4.4 Hans-Joachim Kraus Die wohl einzige Monographie, die den Titel Die treibende Kraft entschlossener ReligionsTheologische Religionskritik trägt, stammt von kritik ist für Hans-Joachim Kraus (1918– Hans-Joachim Kraus. Er sieht in der Aufnahme 2000) die eigene den Glauben orientierende biblische Tradition, welche die Selbstkritik dieses Themas durch Karl Barth (% § 7,4.1) ein vor alle nach außen gerichteten Anklagen epochales Ereignis und weiß sich insbesondere stellt. in der Ausrichtung der theologischen Religionskritik auf eine politische Ethik mit Helmut Gollwitzer (% § 7,4.3) verbunden. Die entscheidende Aufforderung zur Religionskritik geht weder von der Außenwahrnehmung der Religion noch von den jeweiligen Optimierungsoptionen ihrer Anhänger aus, sondern sie findet sich im Zentrum des recht verstandenen eigenen Bekenntnisses. Kennzeichnend für Kraus, der zunächst Alttestamentler gewesen ist und erst später zur Systematischen Theologie gewechselt hat, ist der durchgängig explizit bibeltheologische Charakter seiner Theologie. Er kommt im Blick auf den Religionsbegriff besonders durch den Bezug auf die alttestamentlichen Propheten zum Tragen. Daraus resultiert dann auch seine Kritik an der zeitgenössischen Kirche und ihrem scheinbar durch nichts zu erschütternden Kampf um die Erhaltung der in jede Richtung offenen Volkskirche. Das Alte Testament ist durch und durch davon geprägt, dass das Auftreten Gottes nicht nur alle Ansprüche anderer Götter desavouiert, sondern auch den im Volk Israel anzutreffenden Neigungen zu einer veräußerlichten Frömmigkeit und zum Götzendienst entgegensteht. Über Gott kann in keiner Weise verfügt werden. Schon in seiner Selbstvorstellung, wie sie in Ex 3 erzählt wird, finden sich fundamentale Elemente der Abweisung einer religiösen Inbesitznahme Gottes: Der sich hier anzeigende Gott reserviert sich 1. die Freiheit zur Zukunft, entzieht sich 2. der permanenten religiösen Begehbarkeit, indem er seinen Namen nicht zur Verfügung stellt, er verweigert sich 3. der Seinsfrage und verheißt dafür seine geschichtliche Begleitung und stellt diese 4. in den Horizont seiner verlässlichen Treue, die auch gilt, wenn sie nicht unmittelbar evident ist.75 Es geht fundamental um die Erkenntnis der Zuwendung Gottes und seiner Erwählung des Menschen und eben nicht um den menschlichen Weg zu Gott und die Bedingungen zur Erhaltung seiner Gunst. Weder die religiösen noch die nationalen Wunschvorstellungen Israels werden bedient. Nach dem alttestamentlichen Zeugnis steht Gott gerade nicht für eine Steigerung der religiösen Aktivitäten, sondern ganz im Gegenteil – wie etwa im Blick auf die Schöpfung deutlich wird – für deren Ernüchterung und Eindämmung. Im Alten Testament ereignet sich unter dem Geschehen und unter der Verkündigung von ‚Schöpfung‘ eine radikale Entgötterung und Entdämonisierung der Welt. Die Numina der Natur werden entmächtigt. Depotenziert werden jene Erscheinungskräfte, die in der Welt der Religionen als Machtwesen dominieren. Unter der uneingeschränkten Herrschaft des Gottes 75 Vgl. Theologische Religionskritik, Neukirchen-Vluyn 1982, 229.

286 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie Israels, die sich in der Geschichte seiner Taten erwiesen und bewährt hat, vollzieht das biblische Schöpfungsgeschehen eine Weltwerdung der Welt. Es bleiben keine numinosen Reste, keine sakralen Inseln. Die Welt wird zum Erdboden, auf dem Menschen leben, auf dem Geschichte geschieht. Dieser Aspekt der Weltlichkeit beherrscht das Alte Testament. Eine umfassende Entmythologisierung ist geschehen. (231)

Das Urdatum der Erwählung Israels wird im Exodusgeschehen erinnert. Gott ist der, der sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat. Ein irdisch-politisches Befreiungsgeschehen bildet den Ausgangspunkt für das, was vom Glauben als Heil in den Blick genommen wird. Das Handeln Gottes ist auf eine Geschichte der Befreiung perspektiviert und nicht auf Kult und heilige Orte. Es ist für Kraus kein Zufall, dass in der politischen Philosophie von Ernst Bloch (% § 5,5) dem Exodus in der Bibel eine religionskritische Dimension attestiert wird. Vor allem aber kommt den Propheten eine explizit religionskritische Rolle zu: Während das Volk im Sakralbereich religiöse Rückendeckung erstrebt und mit Opfern die Gunst Jahwes zu gewinnen sucht, gehen schneidende Gerichtsurteile prophetischer Botschaften gegen Tempelkult und Opferwesen aus. Israel soll aus dem Bann der religiösen Sicherheit befreit und in die Wirklichkeit des sozialen und politischen Lebens hingeführt werden. Jahwe will seinem Volk neu begegnen. Nicht im Kultbezirk, in den man sich flüchtet, sondern in der Wirklichkeit alltäglichen Lebens. . . . (Am 5,21–24). Dies sind die neuen Worte: Recht und Gerechtigkeit. Bei Hosea und Micha heißen die Hauptbegriffe: Barmherzigkeit und Liebe. Die prophetische Alternative ist eindeutig und klar: Nicht Opfer, sondern Recht und Gerechtigkeit! Kein sakraler Kult, sondern Barmherzigkeit und Güte im Zusammenleben! (233)

In der Weisheitsliteratur wird genau diese auf die diesseitigen Lebensverhältnisse bezogene kritische Linie weiter ausgezogen. Im Neuen Testament verweist Kraus vor allem auf die Kreuzestheologie, durch welche eine stets zu beachtende Demarkationslinie zwischen der von Gott ausgehenden Wahrheit und allen menschlichen Ausdruckformen der Frömmigkeit gegeben sei. Der christliche Glaube steht vor der andauernden Aufgabe, seinen Inhalt von den geschichtlichen Prägungen zu unterscheiden, die ihm aus dem jeweiligen geschichtlichen Kontext erwachsen. Diese wach zu haltende Religionskritik impliziert die Pflege des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen dem gefeierten Gottesdienst und der ihm entsprechenden Praxis im Alltag des Lebens. Nur wo Sammlung und Sendung zusammengehalten werden, entkommt der Glaube der zerstörerischen Selbstbezüglichkeit. Eine Wirklichkeit, zu der Religion gehört, ist per definitionem eine Wirklichkeit, die auf ihre (permanente) Veränderung wartet. Kraus geht es um das Entsprechungsverhältnis von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, wobei Gerechtigkeit im Sinne des Alten Testaments nicht als ein Tugendbegriff, sondern als ein Relationsbegriff im Sinne von ‚Gemeinschaftstreue‘ zu verstehen ist. Wo ‚Gerechtigkeit‘ nicht mehr als Vergeltung, Ausgleich oder Tugend innerer Harmonie verstanden wird, sondern als ‚Dasein-für-andere‘, da brechen ganze Welten religiös-ethischer Grundaspekte zusammen. In seiner Gerechtigkeit ist Gott für sein Volk da, erweist er sich als der

5. Theologische Renaissance der Religion 287

Ursprung alles gerechten und barmherzigen Daseins-für-andere. . . . Die ‚Gerechtigkeit Gottes‘, die ‚Rechtfertigung der Gottlosen‘ . . . hat unmittelbare und unablösbare Konsequenzen für die alle Religion überwindende Gerechtigkeit unter den Menschen. (254)

Die religionskritische Dimension hat auch Konsequenzen für das Verhältnis der Christen zu anderen Religionen. Auch und gerade in der Wahrung der eigenen Wahrheit verbietet sich jeder Exklusivismus. Auf jeden Fall ist an dieser Stelle . . . zu erklären, daß nicht die Aufweichung des Fundaments, sondern die Selbstbescheidung und die Preisgabe jeder Sekurität für die Christen das Gebot der Stunde ist. In der Selbstbescheidung und Bescheidenheit, in der Preisgabe jeder Sekurität, fallen alle Absolutheitsansprüche dahin. Die Demut des Vertrauens ist keine Sicherheit des Habens. Gerade die theologische Religionskritik macht den Christen davon frei, eine Religion, seine Religion in der Welt der Religionen zu behaupten. Damit wird der christliche Glaube auf seine Anfänge zurückgeworfen. (262)

Indem theologische Religionskritik im Horizont des christlichen Glaubens vor allem Selbstkritik und Kirchenkritik darstellt, erhebt sie sich nicht über die anderen Religionen. Aus ihrer Selbsternüchterung folgt vielmehr eine solidarische Zuwendung zu den anderen Religionen, in denen zunächst vor allem auch die ihre Frömmigkeit praktizierenden Menschen gesehen werden. Dabei zielt die Begegnung zugleich auf das, was in menschlicher Verantwortung zum Wohl der Menschen gemeinsam gestaltet werden kann. Es sind also die auf Verbesserung drängenden Verhältnisse, die zum Dialog drängen, und nicht die Klärung irgendeines dogmatischen Wahrheitsanspruchs. &

H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983

5. Theologische Renaissance der Religion Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts finden sich Versuche, im Umgang mit der Religion wieder entschlossen an die Tradition des liberalen Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts und seine Religionstheologie anzuschließen. Die theologische Religionskritik, wie sie insbesondere von Barth und Bonhoeffer vorgetragen wurde, wird als eine historisch erklärbare, aber sachlich auf die Dauer nicht haltbare Intervention angesehen, die der Theologie und den Kirchen den Blick auf ihre binnenkirchlichen Probleme beschränkt habe, ohne dabei noch mit ausreichender Aufmerksamkeit die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit zu berücksichtigen. Die Konzentration auf die Wahrung der konfessionellen Identität durch eine erneute Konzentration auf das in der Bibel bezeugte Wort Gottes wird als ein Rückfall in voraufklärerische Zeiten interpretiert, der es nun mit sich bringe, dass sich die Theologie vor allem mit sich selbst beschäftige und deshalb sowohl an den tatsächlichen Herausforderungen vorbeigehe als auch den Kontakt zum aktuellen wissen-

288 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

schaftlichen Diskurs verliere. Die Kirche sei zu einer Angelegenheit eines kleiner werdenden traditionalen Milieus depraviert und stehe in der Gefahr, ihre gesellschaftliche Relevanz ganz und gar einzubüßen, während gleichzeitig die Menschen hilflos den flottierenden Kräften des außerkirchlichen religiösen Marktes überlassen werden. Nur wenn die alle Menschen betreffende Frage der Religion wieder in das Zentrum der theologischen und kirchlichen Aktivitäten gerückt werde, könne die Relevanzkrise der Theologie ebenso wie der Kirche erfolgreich überwunden werden. Es werden drei nahe beieinander liegende Konzepte vorgestellt, die in diesem Zusammenhang signifikant sind. Falk Wagner ist der angriffslustige und teilweise polemische Systematiker, Friedrich Wilhelm Graf argumentiert als Historiker und Ethiker und Wilhelm Gräb als der praktische Theologe. Sie stellen in gewisser Hinsicht die zweite Generation der Säkularisierungstheologie dar, wie sie insbesondere von Trutz Rendtorff im Rückgriff auf Troeltsch (% § 7,3.1) begründet wurde. Legte Rendtorff seinen Akzent vor allem auf das die Religion verändernde Moment der Säkularisierung, so wird hier der Ton auf die auch in der Säkularisierung in neuer Weise zu pflegende Religion gelegt. – In diesem Kontext wären zudem u. a. Ulrich Barth und Dietrich Korsch zu nennen (% Ausgewählte Literatur).

5.1 Falk Wagner Der Wiener Theologe Falk Wagner (1939– 1998) sieht in der streng individuell konzipierten Religion als Ort der Selbstdeutung vor allem eine Hilfestellung für ein sozial eingebundenes Freiheitsverständnis, das allen vorstellbaren Absolutismen entgegensteht.

In einem seiner letzten Texte hat Falk Wagner seine Überlegungen zu einer grundlegenden religionstheologischen Erneuerung komprimiert zusammengefasst. Die folgende Darlegung folgt dem Duktus dieses Textes.76

Die neuevangelische Wendetheologie des Wortes Gottes hat zwar die Religion zur ‚Häresie‘ erklärt und deshalb den als Religion sich verstehenden Neuprotestantismus erbittert bekämpft. Aber der neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes ist es doch nicht gelungen, das Gedächtnis an den Neuprotestantismus und an seine vielfältig-positionellen Religionstheologien auszutilgen. (12 f.)

Mit diesen beiden Sätzen lassen sich sowohl Wagners eigenwillige Wahrnehmung der Theologiegeschichte als auch die von ihm forcierte Perspektive für die gegenwärtige Theologie charakterisieren. Nach seiner Diagnose sei die bemerkenswerte Gleichzeitigkeit von einer signifikanten, außerhalb der Kirchen festzustellenden ‚Wiederkehr der Religion‘ und dem andauernden Schwund in den christlichen Konfessionskirchen ein schon überdeutliches Alarmzeichen für die Selbstisolation, in die sich die Kirchen mit ihrer rückwärtsgewandten Identitätsorientierung begeben 76 Religion der Moderne – Moderne der Religion, in: W. Gräb (Hg.), Religion als Thema der Theologie, 12–44.

5. Theologische Renaissance der Religion 289

haben. Mit vormodernen Distinktionen arbeite sich die Theologie mit der Verteidigung der Vorstellung eines Einheitschristentums ab, ohne dabei zu registrieren, dass sie längst ihres Anspruchs auf Allgemeingültigkeit verlustig gegangen ist. Die Theologie hat nach Wagner die entscheidende Transformation der Moderne verschlafen, die sich in der konsequenten Individualisierung der menschlichen Wirklichkeitsbegegnung vollzogen hat: Religion gründet nicht in einem dem religiösen Bewußtsein objektiv vorgegebenen SubjektGegenstand. Vielmehr konstituiert das religiöse Bewußtsein die Art und Weise seiner Gehalte, die folglich als bewußtseins- und sprachimmanente Ausdruckphänomene der Thematisierung menschlicher Individualität erscheinen. (16)

Wenn die Theologie diesem Wandel gerecht werden will, wie es Wagner als geboten annonciert, muss sie vor allem entschlossen aus dem antimodernen Schatten der „biblisch-dogmatischen Engführungen der Theologentheologie und der dominant gewordenen neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes“ (16) heraustreten. Aus der kirchenbezogenen Schultheologie, die vor allem am „Eigeninteresse des kirchlichen berufstheologischen Personals“ (20) orientiert ist, soll eine „weltbezogene Religionstheologie“ werden, „die ihre gegenwartsbezogenen Entwürfe im sozialen Interesse der gelebten Religion der Individuen produziert“ (21). In der Gegenüberstellung erscheint die Schultheologie in einer überdeutlich zugespitzten Typologisierung, in deren kategorischen Wertungen sich bereits das eigene Programm vorankündigt. In der Schärfe des Tons klingt stets die Klage – oder sogar Anklage – mit, dass wir heute ganz anders dastünden und viel weiter wären, wenn die positive und verheißungsvolle Entwicklung des liberalen Neuprotestantismus nicht durch die kirchlich selbstbezogene Regression der Wort-Gottes-Theologie unterbrochen und diskreditiert worden wäre: Die Reduktion der neuevangelischen Wendetheologie auf den monotonen Uniformismus des Wort-Gottes-Anspruchs zieht mit der Ausscheidung der lebensweltlichen Religion der Individuen ein auf die Dominanz der biblisch- und dogmatisch-theologischen Sachdimension beschränktes Theologieverständnis nach sich. Personaler Glaube, kirchliche Verkündigung und theologische Wissenschaft treten immer wieder als derselbe Sachzusammenhang der biblischen und dogmatischen Wort-Gottes-Derivate in Erscheinung. . . . Die Reduktion aller im Neuprotestantismus erreichten Differenzierungen sachlicher, sozialer und zeitlicher Art auf die uniforme Monotonie der Wort-Gottes-Sache führt dazu, daß die sachdominante bibelund dogmatisch-theologische Korrektheit konsequenterweise zum einzigen und keiner weiteren dimensionalen Differenzierung zugänglichen Leit- und Konstruktionsprinzip erhoben wird. Die ihrer dogmatischen Korrektheit verpflichtete Theologie kreist bei der Behandlung aller biblischen, dogmatischen und kirchlich-praktischen Sachverhalte immer wieder um die beanspruchte Selbstläufigkeit des Wortes Gottes. Damit feiern in der dogmatisch-korrekten Sacharbeit der Theologie alle altkirchlichen und altprotestantischen Lehrauffassungen fröhliche Urstände, die von den neuprotestantischen Religionstheologien wegen ihrer Aporetik in den Gräbern der Kritik-Geschichte beigesetzt worden waren. Die Reduktion der Differenz von Religion und Theologie auf die Wort-Gottes-Sachdominanz wird von kirchlichen und akademischen Berufstheologen für ihr soziales Klientel vertre-

290 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie ten und durchgesetzt. Diese Sachdominanz verdankt sich den sozialen Bedürfnissen und professionellen Interessen einer partikularen Berufsgruppe, die angesichts der Unübersichtlichkeit ihrer innergesellschaftlichen Umwelt nach möglichst eindeutigen und einheitlichen Informationen und Mitteilungsformen verlangt. Die Sachdominanz der Wort-Gottes-Theologie scheint diesen eindeutigen Uniformismus zu garantieren. (23 f.)

Die protestantische Verkirchlichung wird als eine Reaktion auf die Säkularisierung verstanden, die allerdings unweigerlich zur Herausbildung eines abgeschotteten Milieus führe und zugleich die Individualisierung und Privatisierung der Religion ausblende, die als eine andere Reaktion auf die Säkularisierung zu bewerten sei (24). Trotz ihrer Dominanz an den theologischen Fakultäten führe aber die Schultheologie auf der wissenschaftlichen Ebene die wenig beachtete und sich selbst diskreditierende Existenz einer „weltanschaulich verengte[n] Tendenzwissenschaft“ (25). Die scharfe Abweisung der gegenwärtigen Schultheologie und ebenso der kirchlichen Praxis gilt der Wegbereitung einer Religionstheologie, die sich an den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen orientiert und damit dann auch wieder Relevanz für die ganze Gesellschaft gewinnt. Es gilt, das Verständnis von Religion neu zu justieren, um den modernen Menschen gerecht werden zu können. Unter den Bedingungen der sich modernisierenden Gesellschaft geht die Religion ihres Anspruchs verlustig, für die Erklärung der Naturwelt und für die wirtschaftliche und politischrechtliche Konstitution der Sozialwelt direkt verantwortlich zu sein. Durch ihren Weltverlust wird die Religion jedoch in die Lage versetzt, sich auf das sie auszeichnende Thema zu konzentrieren, das für die Karriere des modernen Religionsbegriffs bestimmend geworden ist: Religion ist eine Angelegenheit individueller Selbst- und Weltdeutung. (26)

Dabei gewinnt die Religion ihre spezifische Relevanz aus dem der Gesellschaft anhaftenden Defizit, keinen ausreichenden Raum zur Kultivierung der selbstständigen Bedürfnisse des Individuums bereitzuhalten. Vielmehr wird der Mensch auf seine Funktion und seine Rolle reduziert. Genau an dieser Stelle empfiehlt sich jedoch die auf die Individualität spezialisierte Religion der Moderne als ein sozialer Ort, an dem die die Individuen lebenspraktisch bestimmende Differenz zwischen ihrer Personalität und ihrer Sozialität zum ausdrücklichen Thema werden kann. Die Religion der Moderne bietet sich somit als ein sozialer Ort an, an dem die besagte Differenz zwischen Personalität und Sozialität in der Perspektive der Individuen reflektiert wird. (26 f.)

Das dem religiösen Bewusstsein traditionell zugeordnete Gottesbewusstsein unterliegt im Zuge dieser Individualisierung einer fundamentalen Veränderung: Der Ausgang von der transzendental behaupteten ‚Realität‘ der Gottesidee wird durch die Bewußtseinsimmanenz des religiösen Subjekts ersetzt. In seiner Bewußtseinsimmanenz weiß sich dieses zwar auf den ihm transzendent erscheinenden göttlichen Grund bezogen. Aber dieser göttliche Grund erscheint für das religiöse Bewußtsein nur so, wie er von diesem fühlend, glaubend, vorstellend oder wollend – also intramental – vergegenwärtigt wird. Die erkenntniskritische Auflösung der philosophischen Theologie zieht daher die Entsupranaturalisierung und Entsubstantialisierung der Gottesvorstellung nach sich. (27) . . . Für das Gottes-

5. Theologische Renaissance der Religion 291

bewußtsein kann . . . das mit dem Ausdruck ‚Gott‘ Gemeinte, nämlich das mit einem intramentalen Datum verbundene private Erleben, allein in der Form eines Wortes der Sprache erscheinen, das sich nur wiederum durch weitere Worte explizieren läßt. . . . Das religiöse Gottesbewußtsein entzieht dem sprachlichen Ausdruck ‚Gott‘ nicht nur jede Art übernatürlicher Realitätsbeziehung; es muß ebenso von der Substantialität des Gottesgedanken Abstand nehmen. Denn mittels des sprachlichen Ausdrucks ‚Gott‘ bezieht sich das Gottesbewußtsein auf einen bewußtseinsimmanenten Privateindruck, der sich nur um den Preis seiner Hypostasierung auf eine selbständige Realität zurückführen ließe. (28) . . . Das religiöse Gottesbewußtsein ähnelt dem Aufenthalt in einem Spiegelkabinett: Abgesehen von den intramentalen Eindrücken und Erlebnissen, die auf individuell-verborgene Weise mit der Verwendung des Ausdrucks ‚Gott‘ verbunden sein können, sieht sich das Gottesbewußtsein mit sprachlichen Zeichen – Bildern, Metaphern oder Symbolen – für den von ihm gemeinten oder vorgestellten Gott konfrontiert, die es selber oder andere menschliche Subjekte und soziale Gruppen produziert haben. Das religiöse Gottesbewußtsein bezieht sich mittels des Ausdrucks ‚Gott‘ auf ein Sprachgebilde, das als sein eigenes Geschöpf erscheint. . . . Die Verwendung des sprachlichen Ausdrucks ‚Gott‘ muß sich also darauf einstellen, ohne einen extramentalen und außersprachlichen Referenten auszukommen. (29) . . . Für ein religiöses Gottesbewußtsein erfüllt die Rede von Gottes Wirklichkeit die Funktion, die jeweils individuelle Lebensführung zu begleiten und den Lebenssinn zu orientieren. Für ein religiöses Gottesbewußtsein erscheint daher der sprachliche Ausdruck ‚Gott‘ als ein funktionaler Ausdruck der Selbst- und Sinndeutung seiner individuellen Lebensführung. (30)

Unabhängig von der Subjektivität des Bewusstseins Gottes liegt es im Wesen des Gottesgedankens, dass in ihm etwas zu Bewusstsein kommt, was nicht von dem Bewusstsein abhängig ist. Faktisch aber lässt sich Gott gleichsam auf die Rezeptionsbedingungen des Menschen ein. Dieses Motiv sieht Wagner in der paradoxen Vorstellung von der Menschwerdung Gottes gegeben, sodass der Mensch durch die Gottesbegegnung nicht in Abhängigkeit gerät, sondern umgekehrt seine Freiheit bestätigt bekommt (36 f.). Diese Freiheit wird signifikant durch das Motiv des Todes Gottes unterstrichen, das den Subjektwechsel zwischen Gott und Mensch bezeichnet (38). Es handelt sich um eine Gottesbegegnung, in der sich gleichsam die Enttheologisierung der Religion vollzieht. Durch diese Ent-theologisierung wird der Prozeß der Umformung und Umgestaltung des modernen – neuprotestantischen – Christentums fortgesetzt. Die christliche Religion der Moderne tritt nicht nur als eine Angelegenheit der menschlichen Individuen in Erscheinung, so daß diese das Subjekt der Religion bilden. Die als Angelegenheit der Individuen ausgelegte Religion zieht überdies die Entdogmatisierung, Entsubstantialisierung, Entsupranaturalisierung und Entmythologisierung der überkommenen Vorstellungsgehalte des Christentums nach sich. Das gilt insbesondere für den Gottesgedanken, der durch das weitgehend entsubstantialisierte und entsupranaturalisierte religiöse Gottesbewusstsein abgelöst wird. . . . Geht . . . die Ent-theologisierung aus der Negation des Gedankens der göttlichen Macht hervor, so kann die Funktion des in seiner Geltung hinfälligen Gottesgedankens durch die Verhältnisweise der Freiheit ersetzt werden. Die Religion der Moderne wird folglich dann zur Moderne der Religion übergehen können, wenn sich die Verhältnisweise der Freiheit für die Thematisierung der Funktion der Religion als konstitutiv erweist. (39 f.)

292 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Die Religion wird zum sozialen Ort individueller Freiheit, indem das religiöse Gottesbewusstsein im Individuum zu einer Art Platzhalter eines Andersseins wird, durch den der Mensch daran erinnert wird, dass die freie Selbstbestimmung allein im Horizont von wahrgenommenen Anerkennungsverhältnissen realisiert werden kann (41 f). Die Religion kann so zur Bildung eines sozialen Freiheitsbewußtseins beitragen, durch das die Differenzierung des personalen Selbstumgangs und des sozialen Weltumgangs in der Absicht reflektiert wird, den von der dominanten Ökonomie und dem Geldmechanismus ausgehenden Entdifferenzierungstendenzen ebenso entgegenzuwirken wie den individuellen Enttäuschungen, die aus nicht realisierbaren, weil übersteigerten Selbstverwirklichungsansprüchen resultieren können. (43)

Wagner lässt nicht nach, die Radikalität des geforderten Bruches mit der traditionellen Kirchentheologie zu unterstreichen: Trinitarische, christologische und ekklesiologische Vorstellungen, die zu machtvoll handelnden Wesen oder Subjekten verselbständigt werden, sind entweder auf dem Konto eines vergangenen Weltbildes abzubuchen oder aber so umzuformen, daß die für die Explikation des religiösen Verhältnisses von personalem Selbstsein und sozialem Anderssein, von individueller Freiheit und naturhafter und gesellschaftlicher Abhängigkeit tauglich sind. (44)

Wagner weiß um den zu erwartenden Widerstand gegen seine weitreichende Umformung der Theologie, ist sich aber gewiss, dass sie sich auf die Dauer durchsetzen wird. &

F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 21991 –, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999 U. Barth, Von der spekulativen Theologie zum soziologischen Religionsbegriff. Versuch einer Annäherung an das Denken Falk Wagners, in: Wiener Jahrbuch für Theologie 3 (2000), 233–268

5.2 Friedrich Wilhelm Graf Der Münchener Ethiker Friedrich Wilhelm Graf (*1948), der ebenso wie Falk Wagner rhetorische und auch polemische Zuspitzung liebt, versteht sich einerseits als ein religionskompetenter Kulturwissenschaftler und andererseits als zeitgenössischer Interpret des christlichen Glaubens im Horizont der immer unübersichtlicher werdenden religiösen Gemengelage. Er sieht es als notwendig an, sich auf die radikal veränderte Gesamtlage einzustellen und ihr auch gerecht zu werden, hält es aber für eine nicht zu rechtfertigende Nachlässigkeit, sich dabei nur auf die Phänomenbeschreibung zu beschränken, die sich der durchaus trügerischen Hoffnung hingebe, die zu fordernde Neutralität wahren zu können. Über die unvermeidliche implizite Normativität der jeweils benutzten Deutungskonzepte hinaus sei es nicht zu-

5. Theologische Renaissance der Religion 293

letzt aus gesellschaftspolitischen Gründen unausweichlich, auch normative Positionierungen vorzunehmen und in den Religionsdiskurs einzubringen. Graf unterstellt, dass sich seit den 1970er Jahren weltweit eine Renaissance der Religion vollziehe, jedoch nicht in der Gestalt des Wiedererstarkens der alteingesessenen traditionellen Religionen, sondern als Rückkehr der ‚Götter‘ in signifikant veränderter Gestalt bevölkern sie inzwischen einen sehr weitreichenden und eben auch umkämpften Markt. Bereits seit dem 18. Jahrhundert findet eine sich beschleunigende Pluralisierung der Religionskulturen statt, der die Religions- und Kulturwissenschaften noch keineswegs gerecht zu werden vermögen. „Je dunkler es im Wald der Theoriebäume bleibt, desto lauter wird gepfiffen.“77 Zwar sei die verbreitete Zurückhaltung im Blick auf eine Definition des Religionsbegriffs angesichts des Faktums, dass es niemals in ausreichendem Maße möglich sein wird, sich von den verschiedenen Binnenperspektiven der verschiedenen Religionen ein ausreichend differenziertes Bild zu machen, durchaus verständlich, aber die mit den Religionen umgehenden Wissenschaften verfehlen gleichsam einen Teil ihrer Verantwortung, wenn sie ihre Kompetenz nicht auch zur konstruktiven Gestaltung der unvermeidlichen Konflikte einbringen würden. Es gibt durchaus Anlass zu einem gewissen Überdruss, dem Graf als Theologe ausdrücklich Luft verschafft: Ähnelt „nicht . . . heute das Feld der postmodernen Religionsdiskurse häufig einem akademischen Zirkus, in dem die unterschiedlichsten Theoriedompteure sich mit ihren Kunststücken der Dekonstruktion wechselseitig zu überbieten hoffen? Dem Theologen wird dabei häufig nur noch die Rolle des Pausenclowns zugestanden, der mit seinen ‚metaphysischen Stiefeln‘ durch die Manege stolpert. . . . Manchmal darf der Clown ja Wahrheiten aussprechen, die andernorts den Ablauf der Show nur gefährden würden.“ (247 f.)

In gewisser Weise sieht sich Graf als ein mit der christlichen Theologie verbundener Kulturhistoriker und Religionswissenschaftlicher in der komfortablen Lage, diese für die gesellschaftliche Entwicklung wichtige ethische Aufgabe von einer solide begründeten und geschichtlich ausweisbaren Position aus mitgestalten zu können. Es sind drei religionsdiagnostische Deutungsmodelle, denen Graf zur Erklärung der Pluralisierung und der mit ihr verbundenen Folgeprobleme eine besondere Bedeutung zumisst: 1. Das insbesondere von P. L. Berger (% § 6,3.2) geprägte Marktmodell, nach dem die Diversifikation auf die Marktbedingungen zurückzuführen sei, unter denen sich die Religionen im Wettstreit und gegenseitiger Profilierung (‚Konfessionalisierung‘) behaupten müssen, was nicht zuletzt auch eine ausgeprägte ‚Kundenorientierung‘ mit sich bringe. Gewinner sind dezidiert konservative Anbieter der ‚religiösen Rechten‘. . . . Der große Erfolg . . . läßt sich wohl dadurch erklären, daß harte Religionen den Konsumenten sehr viel 77 Wiederkehr, 18.

294 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie bieten: Indem sie hohes religiöses Engagement, dichte Vergemeinschaftung, strikt zu beachtende moralische Normen und erhebliche Finanzmittel fordern, erschließen sie den in ihnen vergemeinschafteten Menschen in pluralistischer Unübersichtlichkeit und verängstigender Unsicherheit eine starke, stabile Identität, krisenresistente Welt- und Zeitdeutung, geordnete Familienstrukturen und dichte Netzwerke der Solidarität. (29)

2. Das Deutungsmodell der ‚shared history‘ geht einerseits davon aus, dass die verschiedenen Religionen gemeinsam die Herausforderungen ihrer Zeit teilen und zugleich auch von den Prägekräften Gebrauch machen, die ihnen aus der Pflege der Abgrenzung gegenüber anderen erwachsen. Gegenseitiger Austausch über die gemeinsam wahrgenommen Gefahren und gegenseitig deutlich markierte Abgrenzungen gehen nebeneinander her und führen – pointiert formuliert – zu einer abgrenzungsorientierten Parallelentwicklung (vgl. 30 ff.). 3. Das Modell des „religiösen Feldes“ (P. Bourdieu) betont die destabilisierenden Folgen, die aus dem Zusammentreffen bisher aparter kultureller Felder zu gewärtigen sind. Der mehr oder weniger bewährte und konventionalisierte Mix von Religionen, die sich miteinander arrangiert haben, wird durch neue Konstellationen herausgefordert. Die Fremdheitserfahrung führt zu einer Deprivatisierung der Religionen, die nun unversehens wieder in den öffentlichen Auseinandersetzungen in den Bereichen von Recht, Politik und Zivilgesellschaft präsent sind. Es erhebt sich ein neues Aggressionspotenzial, das vor allem den zivilreligiösen gesellschaftlichen Konsens affiziert. Damit vollzieht sich eine Ausweitung des Religionsverständnisses auf alle gesellschaftlichen Integrations- und Bindekräfte in den sich pluralisierenden gesellschaftlichen Milieus bis hin zu den Fanclubs öffentlich beachteter Fußballvereine. Die Ausdehnung des religiösen Feldes bringt unweigerlich einen Verlust der Schärfe seiner Konturen mit sich (vgl. 50 ff.). So kann beispielsweise gefragt werden: „Wo liegen die Grenzen religiöser Versammlungsfreiheit, wenn bei den entsprechenden Versammlungen aggressive Formen eines religiösen Nationalismus oder . . . antisemitische Ideologien propagiert werden?“ (246) Hier stellt sich für Graf die normative Frage nach der Religion in aller Deutlichkeit. Im Pantheon des frühen 21. Jahrhunderts sind liberale Konsensgötter in die Minderheit geraten. Viele ekstatisch wilde, nachtbesessene Götter werden in den pluralen Religionsfeldern der Zukunft neue dramatische Kämpfe inszenieren, und religiöse Gewaltbereitschaft wird besonders Frommen als wahrer Gottesdienst erscheinen. . . . Die hier geführten Unterscheidungskämpfe berühren unvermeidlich auch die Frage nach dem Unterschied von wahrer und falscher Religion. Sollen aggressive Nationalgötzen denselben Rang einnehmen wie die Spezialgötter einzelner sozialer Gruppen und kultureller Deutungsgemeinschaften? Ist der eine universalistische Gott der Juden identisch mit dem Gott der Christen und dem der Muslime? Der Götterkampf um Anerkennung droht härter zu werden und neue Menschenopfer zu fordern. Wer sich den vielen neuen Kampfgöttern nicht wehrlos ausliefern will, muß alte normative Fragen nach der Unterscheidung von humaner Religion und barbarisierenden Glaubensmächten neu stellen. (66 f.)

5. Theologische Renaissance der Religion 295

Auch wenn sich im Streit um das Religionsverständnis wohl keine Patentlösung finden lassen wird, betont Graf für das Verstehen von Religion vor allem ihre fundamentale Bedeutung als Medium der Integration von Gesellschaften: Religion stellt in ihren symbolischen Sprachen Mittel dazu bereit, die innere Einheit sozialer Gruppen zu befördern. In der Sprache der modernen Informationstechnologie formuliert: Religiöse Deutungskulturen sind eine Art Software, eine Programmsprache, ohne die soziale Systeme auf Dauer nicht erfolgreich zu funktionieren vermögen. Religion fungiert als tiefgreifend prägendes Element in Sozialisationsprozessen, ihre Symbole dienen immer auch dazu, das Leben des Einzelnen in einen letzten Deutungshorizont zu stellen, und sie bietet weithin konkurrenzlos symbolische Bestände und Sprachmuster zu individueller Identitätsbildung, Sinndeutung und kohärenter Präsentation der Lebensgeschichte. Anders formuliert: Religion repräsentiert jene Deutungskultur, in der die riskanten Erfahrungen der Kontingenz individuellen Lebens sinnhaft gedeutet und in Notwendigkeit überführt werden können. (207)

Zwar bergen die Religionen auch die Gefahren des Selbstabschlusses oder sogar der eigenen Totalisierung, aber diese können nicht gegen ihre unersetzliche Bedeutung für die Gemeinschaftsbildung ausgespielt werden. Die Tatsache, dass in dieser Perspektive auch die modernen Nationalismen als Religionen gedeutet werden können, zeigt nur einmal mehr, dass der ambivalente Charakter der Religion aufmerksam im Blick gehalten werden muss. Diesen angemessen und dann auch positioniert in die Debatte zu bringen, sieht Graf – hier zeigt sich der Ethiker – als eine der Hauptaufgaben aller mit den Religionen befassten Wissenschaften an. „Wenn nicht einmal die Religionswissenschaftler Vorschläge für die Differenzbestimmungen von ‚religiös‘ und ‚nicht-religiös‘ zu formulieren vermögen – wie sollte dann verhindert werden, daß religiöse Sprache ubiquitär für alle möglichen Ziele funktionalisiert wird?“ (247) Implizit werden ohnehin immer auch Normierungen mitgeführt, aber es geht ausdrücklich um die explizite Diskussion der mit den Religionen einhergehenden normativen Implikationen. Ein Religionsbegriff ohne erschließende Unterscheidungsmöglichkeiten bleibt hinter den an ihn zu stellenden Erwartungen zurück und wird sich früher oder später als unbrauchbar erweisen. Wir brauchen allgemeine Begriffe, um das religiöse Feld zu strukturieren und von anderen Feldern abgrenzen zu können. Man kann nicht auf Dauer Religionsforschung betreiben, ohne irgendwelche Konzepte von Religion zu entwickeln. Dies bedeutet keine Affirmation der alten normativen Begriffe und substantialistischen Klassifikationsmuster. Es geht auch nicht um einen funktionalistischen, ubiquitär verwendbaren Begriff der Religion. Doch ist das kulturell Besondere oder Individuelle nur dann zu beschreiben, wenn uns allgemeine Begriffe zur Verfügung stehen, mit denen sich die spezifische Differenz dieses Besonderen erfassen läßt. Solche Begriffe müssen für kulturelle Unterschiede offen und relational strukturiert sein, um die nach Dichte und Trennschärfe hochgradig variablen Grenzen zwischen religiösem Feld und anderen Feldern bestimmen zu können. Dabei gilt es jedoch, diese Begriff nicht zu ontologisieren, sie nicht – im Sinne eines essentialistischen Dogmatismus – zu vergegenständlichen, sondern vielmehr das Wissen um die besondere Fragilität solcher relationalen Konzepte präsent zu halten. (237 f.)

296 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Um dieses Wissen präsent zu halten und zudem die notwendige Distanz gegenüber den jeweils betrachteten Gegenständen zu gewinnen, schlägt Graf eine konsequente Historisierung vor und folgt damit auf seine Weise dem Erbe von E. Troeltsch. Neben der dargestellten Notwendigkeit der Kritik sieht Graf zudem die noch schwierigere Aufgabe einer konstruktiven Einflussnahme auf die Religion, die er der Theologie zuweist, indem er Tillichs Bestimmung des Protestantismus als ‚Kritik und Gestaltung‘ aufgreift (vgl. 250). Aber auch im Blick auf die Theologie steht weithin die Kritik im Vordergrund: In ihr gebe es einen eklatanten Nachholbedarf auszugleichen, wenn sie sich tatsächlich kompetent und konstruktiv in den pluralisierten Religionsdiskurs einbringen will. Vor allem müsse sie ihre binnenorientierte, kerngemeindlich geprägte Milieubindung überwinden. Es klingt durchaus als eine Art Selbstbeschreibung, wenn Graf unter Berufung auf Ernst Troeltschs Bestimmung der Theologie als einer historisch-ethischen Wissenschaft ihr einen Weg zwischen den Geisteswissenschaften und den Kulturwissenschaften zu weisen versucht: Die protestantische Universitätstheologie kann den Kulturwissenschaften zu einer präziseren historischen wie systematischen Wahrnehmung ihrer selbst verhelfen. Historische Kulturwissenschaften entsprechen ihrem Begriff erst dann, wenn sie zur Historisierung ihrer selbst imstande sind. Sie müssen sich als durch jenes Gedächtnis immer schon mitkonstituiert begreifen, das mitzukonstituieren sie beanspruchen. . . . Die Historischen Kulturwissenschaften bedürfen zu ihrer Selbsthistorisierung notwendig der Theologie, gerade in Deutschland. So wie die Theologie ihre wissenschaftlichen Methoden und leitenden Begriffe nur im engen Kontakt zur Philosophie und anderen Geistes-, Kultur, und Sozialwissenschaften fortentwickeln und schärfen kann, so sind umgekehrt diese Wissenschaften auf wissenschaftshistorische Erinnerungsleistungen der Theologen angewiesen, um zu einem prägnanteren Verständnis ihrer Genese und Geltungsansprüche zu gelangen. (263 f.) Wer „ein kulturelles Gedächtnis postuliert, muß sich zur religiösen Grammatik unserer Kultur verhalten. Ein zukunftsrelevantes kulturelles Gedächtnis ohne jüdische und christliche Inhalte dürfte bestenfalls eine kulturwissenschaftlich getarnte Amnesie erkennen lassen.“ (267)

Ihrer besonderen Verpflichtung für verantwortliche Gottesrede wird die Theologie schließlich dadurch gerecht, dass sie „die Grundunterscheidungen der biblischen Überlieferung rational expliziert“ (277) und sich damit in die Auseinandersetzung mit anderen Gottesvorstellungen begibt: Unter den Bedingungen des modernen Pluralismus der vielen Götter hält die freie theologische Reflexion das Wissen um die Distinktionskraft des einen gnädigen Gottes der Christen präsent. Dieser eine Gott ist immer auch ein symbolischer Repräsentant der unbedingten Würde des Individuums. Von seiner Freiheit kann das Individuum allerdings sündhaft falschen Gebrauch machen: indem es sich mit seinem göttlichen Grund unmittelbar in eins zu setzen sucht und als absoluter Herr seiner Welt aufspielt. Wozu noch wissenschaftliche Theologie? Die Antwort kann in einer bündigen Formel gegeben werden: um die Arenen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kirche und Politik der heilsamen Unterscheidung von Gott und Mensch Geltung zu verschaffen. (278) &

Fr. W. Graf, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009

5. Theologische Renaissance der Religion 297

5.3 Wilhelm Gräb Bei gleicher sachlicher Deutlichkeit wie bei Wagner und Graf im Anschluss an den Kulturprotestantismus – hier vor allem an Schleiermacher (% § 3,3) und weniger an Troeltsch (% § 7,3.1) – bewegt sich Wilhelm Gräb (*1948) in erkennbar ruhigerem Fahrwasser, indem ihm als Vertreter der Praktischen Theologie vor allem daran liegt, den Kirchen ihre Chance in der sich verändernden Situation zu zeigen. In den bereits vollzogenen und sich immer noch vollziehenden Transformationen müsse sich die Theologie auch ihrerseits konsequent zur Religionstheologie verwandeln, wenn sie noch mit der heute gelebten individualisierten und pluralisierten Religion in einem relevanten Kontakt stehen wolle. Es sei weniger von einer Wiederkehr der Religion als eben vielmehr von deren Veränderung auszugehen, sodass sie sich zunehmend aus den Institutionen in die private Individualität begeben habe, wo sie aber von den Kirchen weithin vernachlässigt werde. Im Anschluss besonders an Niklas Luhmann (% § 6,3.1) geht Gräb davon aus, dass auch in der modernen Kultur die Religion ein konstitutives Element darstelle, das eine explizite Aufmerksamkeit verdient, um nicht einfach den Zufälligkeiten einer unkontrollierten Entwicklung ausgesetzt zu sein. Zwar haben die Kirchen längst und wohl endgültig ihr Definitions- und Interpretationsmonopol in Fragen der Religion verloren, aber ihnen könnte durchaus weiterhin eine einflussreiche Bedeutung zukommen, wenn sie sich auf die veränderte Situation einlassen und da die Kommunikation suchen, wo sie tatsächlich stattfindet. Es reicht nicht mehr aus, die überkommene Binnenkommunikation zu pflegen, sondern Gräb sieht die Kirchen und die Theologie dazu genötigt, auch die Außenperspektive auf die Religion einzubeziehen, weil sich „ohne den Begriff und die Hermeneutik der Religion . . . die Bedeutung des christlichen Glaubens nicht mehr erschließt, selbst denen nicht, die ihn als persönliche Glaubensüberzeugung leben, somit der Entfaltung des Selbstverständnisses christlichen Glaubens in der Binnenperspektive aufgeschlossen sind“.78 Es stellt sich also die Aufgabe, das Verständnis der Religion zu aktualisieren, um der veränderten Situation gerecht werden zu können. Im Zentrum steht für Gräb die Bedeutung der Religion als Deutung des individuellen Lebenssinns: Es ist durchaus ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen, dass die Religion es überhaupt nicht mit Fragen der Welterklärung, auch nicht mehr mit denen der Geschichtsdeutung zu tun hat, nicht mit der Entstehung und der Ausdehnung des Universums im interstellaren Raum, nicht mit der Hand Gottes in den großen Geschichtsbewegungen der Menschheit. Die Religion hat es zu tun mit den Fragen nach der Stellung des Menschen in der Natur und damit nach dem Sinn, dem Grund und dem Zweck unseres endlichen, kontingenten Daseins, mit der Frage nach dem Sinn meines individuellen Lebens, in einem physikalisch, biologisch und historisch letztlich unergründlichen Universum. Die Religion interessiert sich nicht für das, was der Fall war, ist und sein wird. Sie arbeitet an der Deutung des Sinns unseres kontingenten, individuellen menschlichen Lebens. (37) 78 Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006, 23 f.

298 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

Deshalb geht es in der Religion auch nicht um greifbare Gegenstände oder objektive Tatsachen, sondern um sich dem Menschen in seiner Wirklichkeit aufdrängende Erfahrungen, die auf eine Deutung drängen. Für die religiöse Erfahrung ist die Begegnung mit der Transzendenz konstitutiv: Alle Religion entspringt der Erfahrung von Transzendenz. Sie ist Deutung endlicher, bedingter Erfahrung im Licht des Erscheinens dessen, das sie übersteigt bzw. ermöglicht, der Ahnung bzw. der Idee des Unendlichen, Unbedingten. Das ist das Selbstverständnis der Religion: sie ist die Selbstauslegung des religiösen Bewußtseins, das somit immer schon zur Voraussetzung hat, worin es sich gegründet weiß.79

Die von unserer endlichen Sprache nicht umfassbaren und eben deshalb auch nicht abbildbaren Erfahrungen bedienen sich einer symbolisierenden Sprache, die endliche Medien zur Darstellung begrifflich unzugänglicher Wirklichkeit zur Verfügung stellt. Der letzte Seinsgrund wird dabei durch ‚Gott‘ benannt, der zwar immer schon vorauszusetzen ist (keine Religion versteht sich „aus der vorstellungsproduktiven Leistung des religiösen Bewußtseins, sondern durch eine sich in ihr zeigende und mitteilende Gottheit“ [125]), als solcher aber niemals tatsächlich gegenständlich sondern durch Symbole vergegenwärtigt wird. ‚Gott‘ ist ein Wort, ein Zeichen unserer Sprache. ‚Gott‘ ist dasjenige Sprachsymbol, das zugleich als abschließendes, den unbedingten Grund unseres Daseins bezeichnendes Sinnzeichen fungiert. ‚Gott‘ ist das Wort unserer Sprache, mit dem wir zur Symbolisierung desjenigen ausgreifen, das uns im Grundverhältnis unseres Lebens, in der Einheit einer auf das Ganze der Wirklichkeit umschließenden Daseinsperspektive versammelt. Was das Wort ‚Gott‘ meint, will dann aber immer in dieser Perspektive je meiner Daseinserfahrung und ihrer -deutung verstanden sein.80

Im deutlichen Gegensatz zu jedem offenbarungstheologischen Zugang kann nach dem hier gewählten Gott niemals am Anfang stehen. Wenn er schließlich dann doch an den Anfang gesetzt wird, kann dies nur das Ergebnis eines symbolsprachlichen Deutevorgangs der den Ausgangspunkt bildenden religiösen Erfahrung sein. Um zu Gott zu finden, kann die Theologie nicht mit Gott anfangen. Als Religionstheologie trägt sie diesem Sachverhalt Rechnung und nimmt vom religiösen Bewusstsein des Menschen seinen Ausgang, folgt ihm auf dem Weg, auf dem es zum Gottesbewusstsein wird. Die Theologie muss als Lehre von Gott anthropologisch, mit unserem selbstbewussten Leben beginnen, mit dem Selbstverhältnis, das wir Menschen auf bewusste und je individuelle Weise sind. Dann kann sie sehen, dass es die uns im Selbstverhältnis gewärtigen Erfahrungen der Kontingenz unseres Lebens sind, die uns zu religiösen Deutungen veranlassen. (33)

Die Theologie als Religionstheologie beteiligt sich an den menschlichen Selbstdeutungsprozessen, indem sie durch entsprechende Übersetzungsarbeit die biblischen und auch kirchlichen Deutungsangebote in die religiöse Kommunikation einbringt 79 Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, in: W. Gräb (Hg.), Religion als Thema der Theologie, Gütersloh 1999, 118–143, 125.

80 Sinnfragen, 34.

5. Theologische Renaissance der Religion 299

und den gegenwärtigen Menschen erschließt. Der Rückgriff auf die vielseitig erprobten und bewährten Überlieferungszusammenhänge und damit auf den Erfahrungsschatz der biblischen Tradition eröffnet schließlich auch wieder eine besondere Möglichkeit einer neuen Form der Religionskritik, indem er Unterscheidungen im Blick auf die Lebensdienlichkeit der Religion ermöglicht. Indem es nicht um die Wahrheit, sondern um den Sinn geht, liegt die Evidenz der jeweiligen Religion in der Tauglichkeit ihrer Antwort auf die von der religiösen Erfahrung gestellten Fragen. Denn grundsätzlich gilt: Die Geltungsfrage, die nach der Wahrheit der Religion, wird ihrerseits zur Sinnfrage, zur Frage nach dem Sinn der Religion bzw. der einzelnen Religionen. Sie wird zur Frage danach, wozu gerade sie – diese bestimmte Religion im Unterschied zu anderen – gut ist, zur Frage danach, ob die Deutungsgehalte dieser Religion, ihre Symbole und Rituale, die von ihr entfaltete Lebensansicht und Daseinsorientierung von der Art sind, daß sie den Menschen und ihrer Welt gut tun, sie ihnen folglich zur Bewältigung des Lebens, zum Gewinn einer ethisch orientierten Gewißheit sowie zur Verarbeitung von Krisen- und Grenzerfahrungen helfen. Die Wahrheitsfrage wird zur Frage nach der Lebensdienlichkeit der Religion als einer lebensweltlich so oder so vorkommenden, durch diese und jene Gehalte positiv bestimmten Religion. Um sie geht – neuzeitlich verstanden – der Streit zwischen Religionskritik und Religionsbegründung.81

Die sich damit andeutende funktionale Perspektive im Umgang mit religiösen Deutungsgehalten und somit auch eine entsprechende Ausrichtung der Theologie lassen sich nach Gräb nicht vermeiden. Die theologischen Gehalte werden von der Theologie lediglich auf den Sinn hin expliziert, den sie für die Selbst- und Weltdeutung des christlich-religiösen Bewußtseins gewinnen. Ein solches Verfahren der sinnreflexiven Funktionalisierung theologischer Gehalte für die gelebte Religion ist unter neuzeitlichen Bedingungen jedoch nicht mehr vermeidbar. Es braucht vielmehr solche Funktionalisierung angesichts der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse, der religiös-kulturellen Pluralismuserfahrungen, vor allem aber angesichts der manifesten Kluft zwischen der Theologie als der Reflexionsarbeit an den symbolischen Gehalten der christlichen Überlieferung und den differenten Gestalten gelebter christlicher Religion. Vermeidbar wäre diese Funktionalisierung nur um den Preis der fortwährenden Affirmation einer kirchlichtheologischen Behauptungskultur. . . . D.h. die theologischen Gehalte sind von der Theologie in dem Sinn zu explizieren, den sie in der Lebensdeutung und Lebensbewältigung der religiösen Subjekte, in deren jeweiligem sozio-kulturellen Kontext, gewinnen können. Sie sind im Horizont gelebter Religion zu plausibilisieren, wobei diese Religion eben daraufhin zu verstehen ist, daß es mit ihr unzweifelhaft um die vorstellungshafte Versinnlichung unserer letztinstanzlichen Deutungen von Welt und Leben, um unsere grundlegende Daseins- und Lebensorientierung geht. (128 f.)

Gräb sieht gerade im Protestantismus ein besonderes Potenzial, den vonseiten der gelebten Religion den Kirchen erwachsenen Herausforderungen gerecht werden zu 81 Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, 122.

300 § 7 Religion als Thema der neueren Theologie

können, insbesondere wenn er sich wieder auf das von ihm hervorgebrachte Erbe des Kulturprotestantismus besinnt.82 Ein neuer Kulturprotestantismus würde die christliche Religion energisch als Garanten und Träger der sich weiter entwickelnden Individualitätskultur, einer autonomen ästhetischen Kultur, der religiösen und politischen Freiheit, der freien ethischen Einsicht, der im Gewissen des Einzelnen gründenden sozialen Verantwortung empfehlen. (52) &

W. Gräb, Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006

6. Kurze Zwischenbilanz Obwohl sich nun viele Aspekte zur Diskussion stellen ließen, konzentriert sich die Zwischenbilanz in systematischer Hinsicht auf eine fundamentale Konvergenz und eine ebenso fundamentale Divergenz. Aufs Ganze gesehen kann zunächst festgestellt werden, dass sich die Theologie mit der Religion arrangiert hat. Der im assoziativen Anschluss an Bonhoeffer vollzogene Versuch, sie theologisch ganz und gar kalt zu stellen, führte eindeutig in eine Sackgasse, und so war es kein Zufall, wenn Dorothee Sölle auch für die Gott-ist-totTheologie wieder den Kontakt mit der Religionsdebatte hergestellt hat. In jedem Falle hat es die Theologie mit Religion zu tun –, das gilt auch für Karl Barth, selbst wenn einige unbelehrbare Kritiker das immer noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen – und zwar nicht nur in einer klein gehaltenen Nebenabsicht, sondern im Horizont der Wahrnehmung ihrer Hauptaufgabe, der sie sich jeweils verpflichtet weiß. Eine Theologie, die von Religion nichts wissen will, gerät nicht nur ins Abseits, sondern verliert mit ihr auch unversehens früher oder später ihr eigenes Thema. Wenn die Religion als eine Gegebenheit der Theologie nicht im Blick bleibt, wird sie unverzüglich zu einer ebenso abstrakten wie irrelevanten Angelegenheit, die sich ohne jeden Kontakt zu einer geschichtlichen Wirklichkeit und einem gesellschaftlichen Subjekt allein mit sich selbst beschäftigt. Es kann nur ein geschichtlicher Bedarf sein, der die Theologie zu einem sinnvollen Unternehmen zu machen vermag, und dieser erwächst ihr aus der Vorgängigkeit von Religion, von der ihre Orientierungen in Anspruch genommen werden bzw. der sie ihre kritische Begleitung anbietet, sofern sie sich der christlichen Perspektive verbunden weiß. Dass sich dies heute in der Regel in einer religiös diversifizierten und pluralisierten gesellschaftlichen Wirklichkeit vollzieht, ist inzwischen zu einer schwerlich zu leugnenden Selbstverständlichkeit geworden und steigert die Erwartungen an den Orientierungshorizont der Theologie, ändert aber solange nicht grundsätzlich ihren Zuständigkeitsbereich, wie sie nicht zu einer Religions- oder Kulturwissenschaft umgewandelt wird, wie es in unterschiedlichen Varianten bereits seit Troeltsch immer wieder gefordert wird. Die 82 Vgl. Sinnfragen, 40 ff.

6. Kurze Zwischenbilanz 301

Theologie ist auf die Religion – zumindest auf ihre christliche Variante – verwiesen oder sie verabschiedet sich von der Wirklichkeit, für die sie in besonderer Weise relevant ist. Neben dieser fundamentalen Übereinstimmung bleibt ein ebenso fundamentaler Unterschied zu registrieren. Dieser liegt nicht in einer unterschiedlichen Bewertung der Gegebenheit der Religion, sondern in der unterschiedlichen Bewertung ihrer Normativität für das, was von der Theologie erwartet wird. Hier tut sich allerdings durchaus ein weitreichender Gegensatz auf, der allerdings weniger mit der Religion als vielmehr mit der fundamentaltheologischen Frage nach der von der Theologie zu bedenkenden Wirklichkeit zu tun hat. Ist die Theologie der Anwalt der (christlichen) Entfaltungsmöglichkeiten der Religion oder kann sie erst darin der (christlichen) Religion dienlich sein, dass sie diese in das Licht der Wirklichkeit Gottes stellt, von der ihr überhaupt erst eine verheißungsvolle Orientierung zuwachsen kann, die sich nicht vollkommen mit den in der Existenz des Menschen liegenden Bedingungen verrechnen lässt. Die entscheidende Frage für die Theologie in ihrem Verhältnis zur Religion ist die Frage, von woher die Theologie ihre Erkenntnisse bezieht und wie sie zu ihren Erkenntnissen gelangt. Geht es um den Reichtum der Möglichkeiten, die durch den weiten Raum der Religion zur Verfügung stehen und der – auch im Horizont seiner mehr oder weniger konsequent vollzogenen Individualisierung – zu seiner menschen- und gesellschaftsfreundlichen Gestaltung einer möglichst ausgewiesenen Regie oder auch nur Begleitung bedarf, oder geht es um die Kontingenz der Menschfreundlichkeit Gottes, die der Religion nicht bereits von sich aus eignet, sondern von der sie sich in durchaus überraschender Weise zuhöchst herausgefordert wissen darf, ohne ihrer je habhaft zu werden. Damit soll ausdrücklich nicht gesagt werden, dass sich die eine Seite allein um den Menschen drehe, während die andere sich auf der Seite Gottes wähne. Solche Alternativen greifen zu kurz und treffen nicht die tatsächlich strittigen Fragen. Natürlich gilt auf beiden Seiten Gott die Aufmerksamkeit und dem Menschen die Sorge, allerdings wird auf der einen Seite Gott vom Menschen aus erkannt, während auf der anderen Seite der Mensch von Gott aus erkannt wird. Es ist hier nicht der Ort, näherhin auf die einzuziehenden Distinktionen einzugehen, zumal alle Näherbestimmungen ganz und gar davon abhängig sind, von wo aus sie in den Blick genommen werden. Wichtig ist an dieser Stelle nur, deutlich darauf hinzuweisen, dass nicht die Religionsproblematik als solche die Differenz ausmacht, sondern ihre hermeneutische Bedeutung für die von der Theologie wahrzunehmenden Aufgaben.

§ 8 Die Religion und die Religionen

Dies letzte Kapitel will drei Areale der gegenwärtigen Diskussion annoncieren. Dabei liegt der Ton nicht auf dem gerade erreichten neuesten Stand, sondern auf dem Entdeckungszusammenhang der jeweiligen Fragestellung und den von dort ausgehenden Impulsen. Für eine Abschätzung der Bedeutung der jeweiligen Debatten fehlt uns noch die dafür erforderliche Distanz, sodass an dieser Stelle auch keine weiteren interpretatorischen Hinweise formuliert werden. Zunächst wird die auch längst bei uns diskutierte amerikanische Entdeckung der Civil Religion als ein sich auch kultischen Ausdruck verschaffendes Phänomen des wertorientierten Zusammengehörigkeitsbewusstseins eines Gemeinwesens angesprochen. Es folgt ein Blick auf die gerade in Deutschland besonders intensiv und zugleich aus sehr unterschiedlichen Interessen teilweise recht suggestiv geführte Diskussion über eine registrierte oder eben auch nur behauptete Wiederkehr der Religion. Am Schluss wenden wir uns noch einmal der Theologie zu, die unter den grundlegend veränderten Bedingungen einer religionspluralistischen Gesellschaft versucht, sich mit ihren eigenen Ressourcen konstruktiv zu dem Faktum der Vielfalt der Religionen zu verhalten. In gewisser Weise kehren wir damit zurück zu dem Problemhorizont, in dem der allgemeine Religionsbegriff seine Wurzeln hat, denn er ist nicht zuletzt durch die Unfähigkeit der Theologie auf den Plan gerufen worden, sich in ein konstruktives Verhältnis zu Ansprüchen zu stellen, die mit den eigenen Ansprüchen in Widerspruch oder zumindest in Spannung stehen. Methodisch wird so verfahren, dass zunächst eine besonders signifikante bzw. exemplarische Position aus dem jeweiligen Themenfeld vorgestellt wird, um zumindest punktuell eine Vorstellung von der Tiefenschärfe der aufgegriffenen Fragestellung zu vermitteln. In einem zweiten Schritt werden dann einige Aspekte der Diskussion benannt, damit erkennbar wird, wo die jeweils sensiblen Bereiche zu suchen sind.

1. Zivilreligion Der Begriff der Zivilreligion wurde von dem amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah in die moderne Debatte eingeführt und hält bis heute eine anhaltende Diskussion unter Soziologen, Politologen, Religionswissenschaftlern und Theologen über die Reichweite der religiösen Implikation eines Gemeinwesens in Bewegung. Die inzwischen weit ausdifferenzierte Debatte über die Zivilreligion, die neben der

304 § 8 Die Religion und die Religionen

Strittigkeit des Phänomens gezeigt hat, dass sie in überaus unterschiedlicher Gestalt auftritt, hat ihren gemeinsamen Ausgangspunkt in Bellahs Beschreibung der U. S.amerikanischen Civil Religion.

1.1 Civil Religion: Robert N. Bellah Mit seinem Aufsatz Civil Religion in America1 lenkt Robert N. Bellah 1967 die Aufmerksamkeit auf ein zunächst für die USA charakteristisches Phänomen, von dem er aber annimmt, dass es ein allgemeines Problem der modernen westlichen Gesellschaften insgesamt ist. Es geht um eine eigenständige Religion der Bürger, die ohne ein formelles Bekenntnis über die Grenzen des amerikanischen Denominationalismus hinaus und ebenso über alle politischen und gesellschaftlichen Gräben hinweg eine gesamtgesellschaftlich relevante Bindekraft entwickelt und als solche essenziell für das amerikanische Lebensbewusstsein sei. Der von Bellah zunächst benutzte Begriff „Civil Religion“ – später spricht er zur Vermeidung von Missverständnissen bevorzugt von „public philosophy“ – zielt auf den religiösen Anteil einer politischen Kultur, der deshalb von weitreichender Bedeutung ist, weil er nicht den tagespolitischen Entscheidungen unterliegt, sondern als ein identitätsstiftendes Element die Akzeptanz der eigenen Kultur über die in ihr agierenden politischen Alternativen hinaus trägt. Es ist nun die These von Bellah, dass in den USA auch „neben den Kirchen, und von ihnen ziemlich deutlich unterscheidbar, eine entwickelte und fest institutionalisierte Zivilreligion besteht.“2 Diese Zivilreligion verdiene eine ebenso große Aufmerksamkeit wie jede andere Religion. So sehr auf der einen Seite die Religionszugehörigkeit als reine Privatsache angesehen wird, so deutlich finden sich jenseits der verfassten Religionen religiöse Orientierungen, welche die überwiegende Mehrheit der US-Amerikaner teilt und die sich auch in allgemein akzeptierten Symbolen und öffentlichen Ritualen, wie insbesondere die Amtseinsetzung eines Präsidenten, manifestiert. Der allgemeine Ausdruck dieser Zivilreligion kann in dem unspezifischen, aber keineswegs bedeutungslosen Satz „In God we trust“ gesehen werden. Bellah verweist auf Rousseau (% § 2,7), der in seinem Gesellschaftsvertrag die fünf Grundelemente der Zivilreligion benannte habe: „die Existenz Gottes, das Leben nach dem Tod, die Belohnung der Tugend und die Bestrafung des schlechten Lebenswandels, sowie den Ausschluß der religiösen Intoleranz.“ (23 f.) Der hier in den Blick genommene Gott unterscheidet sich einerseits von demjenigen in den verschiedenen Religionsgemeinschaften, ist aber andererseits auch nicht unbeeinflusst von den überkommenen Glaubenstraditionen.

Der amerikanische Soziologe Robert Neelly Bellah (*1927) sieht das Selbstbewusstsein insbesondere der U. S.-amerikanischen Gesellschaft von einer eigenen religiösen Vision als einem Element ihrer Kultur getragen.

1 In: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, 96 (1967), 1–21 (deutsch: Zivilreligion in Amerika, in: H. Kle-

ger/A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers, 19– 41). 2 Zivilreligion, 19.

1. Zivilreligion 305

Der Gott der Zivilreligion ist nicht nur recht ‚unitarisch‘, sondern er neigt auch zu Strenge und hat mehr mit Ordnung, Gesetz und Recht zu tun als mit Erlösung und Liebe. Obwohl er vom Typ her eher deistisch ist, ist er keinesfalls einfach der ‚Uhrmacher-Gott‘. Er interessiert sich für die Geschichte und nimmt aktiv daran teil; seine besondere Sorge gilt Amerika: In dieser Beziehung hat die Analogie viel weniger mit Naturrecht zu tun als mit dem Volk Israel; die Gleichsetzung von Amerika mit dem Volk Israel in der Idee des ‚amerikanischen Israel‘ ist ziemlich häufig. . . . Europa ist Ägypten, Amerika das gelobte Land. Gott hat sein Volk dazu geleitet, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen, die für alle Völker ein strahlendes Licht sein soll. (26) Hinter der Zivilreligion stehen überall biblische Archetypen: Exodus, das auserwählte Volk, das gelobte Land, das Neue Jerusalem, der Opfertod und die Wiedergeburt. Aber sie ist auch echt amerikanisch und wirklich neu. Sie hat ihre eigenen Propheten und ihre eigenen Märtyrer, ihre eigenen Feiertage und Heiligtümer, ihre eigenen feierlichen Rituale und Symbole. Die Zivilreligion ist darum bemüht, Amerika als eine Gesellschaft darzustellen, die so vollkommen mit Gottes Willen in Übereinstimmung ist, wie es für Menschen möglich ist, und als strahlendes Licht für alle Völker. (28)

Hier zeigt sich eine bestimmte Geschichtsdeutung, in der auch Opfer und Märtyrer Platz finden und die ihre rituelle Pflege in nationalen Feiertagen wie Memorial Day und in anderer Weise auch Thanksgiving Day erfahren. Die Zivilreligion spiegelt das amerikanische Weltbild und diene gerade in ihrer auch die Konfessionen integrierenden Bedeutung „als echter Träger des nationalen religiösen Selbstverständnisses“ (27), als welche sie nie als ein Ersatz für das Christentum empfunden wurde. Bellah widerspricht Kritikern, die hier nichts weiter zu konstatieren bereit sind als „die Religion des American Way of Life“, und hält ihnen – seinerseits nicht ohne Pathos – entgegen, dass die Zivilreligion in ihrer Form . . . ein echtes Verständnis der universalen und transzendenten religiösen Wirklichkeit [sei], wie sie sich in der Erfahrung des amerikanischen Volkes zeigt, ja man könnte fast sagen offenbart. Wie alle Religionen ist die Zivilreligion auf verschiedenste Art und Weise entstellt und geradezu dämonisiert worden. In ihrer besten Form war sie weder je so allgemein, daß ihr die offensichtliche Relevanz für die amerikanische Geschichte abgegangen wäre, noch war sie je so speziell, daß sie die amerikanische Gesellschaft über allgemein-menschliche Werte gestellt hätte. (31)

Indem sich die amerikanische Zivilreligion im Unterschied etwa zu der der französischen Revolution nicht antiklerikal und militant diesseitsorientiert geriert, ist es weithin zwischen ihr und den christlichen Denominationen nicht zu grundsätzlichen Konflikten gekommen. In ihr treffen sich die „tiefsten Verpflichtungen der religiösen und philosophischen Tradition des Westens“ mit „den gemeinsamen Überzeugungen gewöhnlicher Amerikaner“ (35). Freilich sieht Bellah auch die Möglichkeit des ideologischen Missbrauchs der Zivilreligion, der sich geschichtlich hier und da gezeigt habe, aber ihre menschenrechtlich-freiheitliche Grundorientierung impliziert zugleich auch das Widerstandspotential gegen alle usurpatorischen Inanspruchnahmen für eigenwillige Interessen. Ihre entscheidende Bedeutung sieht Bellah in der allgemeinen Anerkennung, dass die Nation einer höheren richterlichen

306 § 8 Die Religion und die Religionen

Gewalt unterstehe, die sich dann im Zweifel auch gegen das Gesetz zur Geltung bringe, wie etwa in der Bürgerrechtsbewegung oder im Protest gegen den Vietnamkrieg. Nicht zuletzt von hier aus erklärt sich das auch politisch zu greifende Globalisierungsinteresse, die amerikanische Zivilreligion zu einem substanziellen Element einer zu schaffenden Weltzivilreligion zu machen. Bellah sieht in der civil religion einen essenziellen Bestandteil des Republikanismus im Unterschied zum Liberalismus. Während es für den Republikanismus klar definierte Tugenden gebe, durch welche dem Staat eine ethische und erzieherische Rolle zugemessen werde, ergehe sich der Liberalismus vor allem im Eigennutz und repräsentiere damit „genau die Definition der Korruption der republikanischen Tugenden“.3 Der Liberalismus untergräbt mit seiner Fixierung am privaten wirtschaftlichen Wohlergehen die für die Republik unerlässliche bewusste Partizipation am öffentlichen Leben. Bellah sieht nun die Gefahr, dass in der Konkurrenz von Republikanismus und Liberalismus in den USA immer mehr der Liberalismus die Oberhand gewinnt, sodass die „moralische Leistungsfähigkeit“ (61) der Republik in Bedrängnis gerät, und er zitiert den Politikwissenschaftler Harry Jaffa, der anlässlich der Zweihundertjahr-Feier gesagt hat: „1776 waren die Vereinigten Staaten gewissermaßen ein Nichts; aber sie verhießen einmal alles zu werden. 1976 sind die Vereinigten Staaten gewissermaßen alles geworden; aber sie verheißen ein Nichts zu werden.“ (62) Hier wird nun deutlich, dass Bellahs Beschreibung der civil religion nicht nur die Beschreibung eines Phänomens, sondern eben auch ein eigenes Bekenntnis darstellt. Reiner Liberalismus ist für Bellah „eine reductio ad absurdum und eine soziologische Unmöglichkeit“ (51), sodass es darauf ankomme, den Republikanismus und die mit ihm essentiell verbundene civil religion zu verteidigen. Gerade vom Standpunkt des Republikanismus aus ist die Zivilreligion unentbehrlich. Eine Republik als eine aktive politische Gemeinschaft von Bürgern, die am öffentlichen Leben teilnehmen, muß ein Ziel und ein Wertsystem haben. In der republikanischen Tradition ist die Freiheit ein unumstößlicher Wert, der Bedeutung und Würde der politischen Gleichheit und der Regierung durch das Volk geltend macht. Eine Republik muss danach streben, in einem positiven Sinn ethisch zu sein und bei ihren Bürgern eine ethische Verpflichtung hervorzurufen. Aus diesem Grund ist es unvermeidlich, daß sie darauf tendiert, eine letzte Ordnung der Existenz, welche republikanischen Werten und Tugenden einen Sinn gibt, in Symbole zu fassen. (51 f.) &

Th. Hase, Zivilreligion. Religionswissenschaftliche Überlegungen zu einem theoretischen Konzept am Beispiel der USA, Würzburg 2001 R. Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987

3 Legitimation, 49.

1. Zivilreligion 307

1.2 Problemanzeigen Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um sich die Einwände gegen Bellahs Bekenntnis zur Zivilreligion vorzustellen. Interessanter sind die Anregungen, die aus der weiteren Diskussion für das umstrittene Phänomen einer Zivilreligion erwachsen sind. Es sollen im Folgenden keine weiteren theoretischen Konzepte vorgestellt werden, sondern lediglich die Aspekte benannt werden, die der Auseinandersetzung um die Zivilreligion ihre spezifische Bedeutung gegeben haben. Wie begründet auch immer Bellahs Beschreibung der civil religion in den USA sein mag, so offenkundig ist, dass sich aus diesen Beobachtungen nicht einfach eine allgemeine Regel ableiten lässt. Die Frage lautet also zunächst, ob es in anderen Gesellschaften Entsprechungen gibt und worin diese bestehen. Erst dann kann darüber gemutmaßt werden, ob die civil religion in den USA für einen eigens in Betracht zu ziehenden Religionstypus steht. Entsprechungen in Europa – wenn sie überhaupt als solche in Anspruch genommen werden können – haben ein überaus unterschiedliches und auch in sich sehr individuelles Erscheinungsbild. „Jede Civil Religion hat ihr eigenes Gepräge, das durch die Geschichte eines Gemeinwesens bestimmt ist.“4 In dem nach wie vor nationalstaatlich geprägten Identitätsbewusstsein des modernen Menschen sind es jeweils ganz spezifische geschichtliche und kulturelle Faktoren, von denen die jeweilige gesellschaftliche Identifikation geprägt wird. Sie sind in der Regel mit einer von der Nation als existenziell signifikant im Gedächtnis gehaltenen Entscheidungssituation, einer besonderen Bewährungsprobe oder auch überstandenen Gefährdung verbunden und nehmen einen entsprechenden Raum im öffentlichen Leben der jeweiligen Nation ein, der dann auch für den Fortbestand der Pflege dieser Tradition sorgt, was allerdings nicht ausschließt, dass sich dabei auch immer wieder Neujustierungen ergeben. Was beispielsweise in den Niederlanden das in den Geusenliedern bewahrte Gedächtnis an das mit Gott in Verbindung gebrachte Schicksal der Niederländer unter der spanischen Tyrannei ist, stellen in Frankreich die Leitbegriffe der nicht zuletzt auch gegen die Kirche gerichtete Französischen Revolution dar, die inzwischen auch wieder in einem kulturellen Kontakt zur Kirche stehen. In Italien hat sich dagegen der Katholizismus gleichsam zu einer auch die säkularisierte Gesellschaft durchdringenden Kulturreligion ermäßigt. Während in Großbritannien die Suche nach zivilreligiösen Prägungen nicht an der spezifischen Gestalt der Monarchie vorbeikommt, wird sie in der Schweiz ohne eine Aufmerksamkeit auf die sich im Eidgenössischen konzentrierenden Einstellungen zu keinen tragfähigen Resultaten führen.5 Es ist nicht einfach, die Gemeinsamkeiten so zu beschreiben, dass dabei ein klarer Begriff von Zivilreligion gewonnen werden könnte; vielmehr bleiben die Grenzen des Phänomens durchaus unscharf, was aber weniger als ein Hinweis auf ihre Ungreifbarkeit zu werten ist als vielmehr ihre spezi4 R. Schieder, Civil Religion, 291. 5 Vgl. die nationalen Perspektiven von L. Layendecker, J.-P. Willaime, G. Guizzardi, E. Bailey u.

A. Saurma in: H. Kleger/A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers.

308 § 8 Die Religion und die Religionen

fische Indifferenz bezeichnet, in der sie gerade ihre besondere Bedeutung entfaltet. In jedem Falle aber geht es um eine Inszenierung und Repräsentation des Gemeinwesens, um ihre Bevölkerung – eben auch ihre religiöse Bevölkerung – in besonderer Weise an dieses zu binden, denn ohne tatsächliche Partizipation wird es zu einer fragilen leeren Hülle. Wenn die in sich differenzierte Gesellschaft, die für die internen Systeme als Umwelt fungiert, selbst als ein System in einer externen Umwelt in den Blick genommen wird, kommt sie im Gefälle einer systemtheoretischen Betrachtung (% Luhmann, § 6,3.1) nicht umhin, sich in ihrem Verhältnis zu ihrer Umwelt auch einer Zivilreligion als einem Religionstypus zu bedienen, der nicht einfach als eine weitere Religion neben den anderen anzusehen ist: „Wenn es keine Zivilreligion gäbe, müßte die Theorie sie erfinden.“6 In diesem Interpretationshorizont wird die These, dass die Zivilreligion in den europäischen Gesellschaften einfach als eine „Verfallsform oder aber als neue Form“ des Christentums angesehen werden könne7 oder als die bleibende religiöse Schwundstufe nach vollzogener Aufklärung und durchgesetzter Religionsfreiheit,8 als unzureichend zurückgewiesen. Allerdings bleibt auch Luhmann mit der Zuweisung bestimmter Merkmale an die Zivilreligion sehr zurückhaltend und beschränkt sich auf den Hinweis der funktionalen Differenz im Horizont der unterschiedlichen Systemebenen. Entsprechend vorsichtig formuliert er seine Grundannahme, daß in aller sozialen Kommunikation . . . mit der Unterstellung eines Wertkonsenses operiert wird, dessen Annahme überhaupt erst die Selektion spezifischer Themen ermöglicht. Die Realität dieser Voraussetzung ist nicht die eines empirischen Konsenses sondern die einer laufend in Anspruch genommenen Prämisse. Daher ist auch keine ‚Konkretisierung‘ möglich, die Form und Gehalt des Allgemeinen bewahrt und es nur mit Inhalt füllt; vielmehr muß das neutrale Licht der Zivilreligion gebrochen und zerlegt werden, damit die Farben erscheinen, in denen die Teilsysteme je ihre Prinzipien darstellen.9

Deutlich manifester fällt die Bestimmung der Zivilreligion bei Hermann Lübbe (% § 6,2) aus, auch wenn die von ihm eingenommene Perspektive letztlich in eine ähnliche Blickrichtung weist: Zivilreligion ist das Ensemble derjenigen Bestände religiöser Kultur, die in das politische System faktisch oder sogar förmlich-institutionell, wie im religiösen Staatsrecht, integriert sind, die somit auch den Religionsgemeinschaften nicht als ihre eigene interne Angelegenheit überlassen sind, die unbeschadet gewährleisteter Freiheit der Religion die Bürger unabhängig von ihren konfessionellen Zugehörigkeitsverhältnissen auch in ihrer religiösen Existenz an das Ge6 N. Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion, in: Religion des Bürgers, 175–194, 186. 7 Vgl. A. Saurma, in: Religion des Bürgers, 133. 8 Vgl. H. Lübbe, in: Religion des Bürgers, 187 f. Oder positiv formuliert: „Zivilreligiös sind die – sei es inhaltlich, sei es im Faktum ihrer öffentlichen Präsenz – als universalkonsensfähig unter-

stellten religiösen Orientierungen, die in unsere politische Kultur integriert sind.“ (202) Vgl. auch Lübbes Definition von Zivilreligion, ebd., 206. 9 Grundwerte als Zivilreligion. Zur wissenschaftlichen Karriere eines Themas, in: Archivo di Filosofia 2/3, Padova 1978, 51–71, 68.

1. Zivilreligion 309

meinwesen binden und dieses Gemeinwesen selbst in seinen Institutionen und Repräsentanten als in letzter Instanz religiös legitimiert, das heißt auch aus religiösen Gründen anerkennungsfähig darstellt.10

Jürgen Moltmann hat dagegen kritisch vom „Gespenst einer Zivilreligion“ gesprochen.11 Er wittert die Gefahr einer Renaissance des deutschen Nationalismus als einer verhängnisvollen politischen Religion, die dem aufgeklärten Bewusstsein einer gebotenen Zivilcourage entgegenwirke. Die Zivilreligion könne nicht die Demokratie legitimieren, sondern diene als religiöse Dekoration lediglich der Systemstabilisierung. Wenn auch Wolfhart Pannenberg sich gegen die Zivilreligion ausspricht, so geschieht dies genau aus der entgegengesetzten Richtung, indem er die Unverzichtbarkeit des Beitrages der verfassten Kirchen zur Legitimation des Staates angesichts der um sich greifenden Erosionen infolge der Säkularisierung hervorhebt.12 Und Rolf Schieder resümiert: „Nur als umstrittene Civil Religion ist sie einem demokratischen Gemeinwesen angemessen.“13 Die Zivilreligion bleibt ein religionstheoretisches Konstrukt, das die religiös-weltanschauliche Dimension beschreibt, ohne welche die politische Moral eines Gemeinwesens nicht die erforderliche Glaubwürdigkeit erreicht. Eine formale Definition lautet: Unter Zivilreligion kann man alle zielwahlorientierten Gewißheiten der Bürger über Ursprung, Verfassung und Bestimmung ihres Gemeinwesens verstehen.14

Als solche unterscheidet sie sich – im Verständnis von Rolf Schieder – von den in den Religionsgemeinschaften gepflegten Religionen ebenso wie von einer Staatsreligion, aber auch von der individuellen Privatreligion. Sie geht insofern über einen launisch-wechselhaften common sense hinaus als sie dem Gemeinwesen eine Bestimmung zubilligt, an der es auch kritisch bemessen wird. Auf diese Weise stellt sie insbesondere die Politik unter einen moralisch-ideellen Erwartungsdruck, in dem sich diese zu bewähren hat (vgl. 204). „Der Begriff Zivilreligion zielt auf die Stärkung bürgerschaftlichen Engagements und warnt vor einem Etatismus, der zum politischen Konsumismus verführt.“ (206) Sie steht im Zeichen von Konsensstiftung und ist als solche natürlich auch umstritten und auf eine ständige Neuvergewisserung angewiesen. Dabei besteht unter den gegenwärtigen Bedingungen ihre vornehmste Aufgabe „in der Zivilisierung von Religionskonflikten“ (139). Hier zeigt sich der zivilreligiöse Bedarf einer Zivilgesellschaft besonders deutlich, denn diese bleibt so10 Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, in: N. Achterberg (Hg.), Legitimation des modernen Staates (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 15), Wiesbaden 1981, 40–64, 57. 11 Das Gespenst einer Zivilreligion: in: EK 16 (1983), 124–127. 12 Civil Religion? Religionsfreiheit und pluralis-

tischer Staat, in: P. Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft, Tübingen 1985, 63– 75. 13 Civil Religion, 301. 14 R. Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland (es 2195), Frankfurt/M. 2001, 203. Vgl. dazu E. Herms, Zivilreligion, in: ThQ 183 (2003), 97–127.

310 § 8 Die Religion und die Religionen

wohl auf einen Grundkonsens als auch auf einen normativen Kern angewiesen, „den man bei aller Formalität und Offenheit seiner inhaltlichen Bestimmung nicht völlig entkleiden kann“ (139). Unbeschadet dieser Ausrichtung auf den Konsens wird in einer freiheitlichen Gesellschaft stets von unterschiedlichen Zivilreligionen auszugehen sein, die in ihrer gemeinsamen Intention positiv aufeinander bezogen sind (193). Als beispielhaft führt Schieder die auf Subsidiarität setzende zivilreligiöse Gewaltenteilung an, wie sie sich in der grundgesetzlichen Regelung des Religionsunterrichts finden lasse: Sie fordert vom Staat religiöse Abstinenz, zwingt die Religionsgemeinschaften aber zur Mitarbeit am gesamtgesellschaftlichen Universalkonsens, zur Koexistenz und zur Zivilisierung ihrer Dogmatiken. (194)

Es geht nicht um dumpfe Integrationsappelle, sondern um rechenschaftsfähige Partizipation, die zwar von sehr verschiedenen Ausgangspunkten aus in den Blick genommen werden kann, aber auf die Dauer nicht ohne eine kritische Ziviltheologie auskommen wird, die sich auch der allgemeinen Diskussion auszusetzen hat (vgl. 200). Der in der Präambel des Grundgesetzes und in vielen Landesverfassungen genannte ‚Gott‘ kann von keiner Religionsgemeinschaft einfach für sich reklamiert werden, sondern symbolisiert das prinzipiell über den geschichtlichen Staat hinausgehende Credo der Zivilreligion, das von unterschiedlichen religiösen Traditionen aus begehbar ist. Der hier zugrunde gelegte Begriff von Zivilreligion grenzt sich entschlossen von allzu abstrakten und allumfassenden Definitionen ab, die häufig auf einen inflationären Umgang mit dem Religionsbegriff zurückzuführen sind. Auf der anderen Seite impliziert er eine anspruchsvolle Perspektive, in der deutliche Prägungen von Bellah in akkommodierter Gestalt nachwirken. Es ist nur dann sinnvoll von Zivilreligion zu sprechen, wenn sie mehr ist als ein belangloses Dekorationselement der jeweils herrschenden politischen Kultur (vgl. 51). Rückfrage: Ist die vom neuzeitlichen Religionsbegriffs gewollt angelegte Verallgemeinerungstendenz nicht von vornherein auf ein zivilreligiöses Gefälle hin angelegt, das sich dann in recht unterschiedlicher Intensität auch geschichtlich ausgewirkt hat?

2. Wiederkehr der Religion? Es heißt, die Religion habe sich zurückgemeldet. Das ist eine Feststellung, die von verschiedenen Seiten bestätigt wird, was jedoch nur wenig darüber aussagt, was damit tatsächlich gemeint wird. In den Gesellschaftswissenschaften und der Theologie (vgl. § 7,5) gibt es seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder eine lebendige und durchaus vielstimmige Diskussion über die Religion. Friedrich Wilhelm Graf spricht von „vielfältigen Renaissancen des Religiösen, die seit den 1970er Jahren

2. Wiederkehr der Religion? 311

weltweit zu beobachten sind“.15 Besonders mit der Religion befasste Wissenschaftler annoncieren gar einen ‚Megatrend Religion‘, auf den sie vor allem die gestrigen Skeptiker gegenüber der Religion aufmerksam machen wollen. Nachdem die Religion einerseits der breitflächigen Religionskritik und andererseits dem mit ihr zusammenhängenden Phänomen, für das der Begriff der Säkularisierung steht, einem gewissen Anschein nach zu erliegen drohte, sprießen nun – wiederum allem Anschein nach – an vielen Plätzen teilweise neue Variationen überkommener Religionen ebenso wie auch exotische religiöse Neuschöpfungen aus dem Boden, während allerdings gleichzeitig die großen traditionell institutionalisierten Religionen nach wie vor mit einem mehr oder weniger schleichenden Akzeptanzverlust konfrontiert bleiben. Diese Renaissance der Religion hat durch den Terroranschlag vom 11. September 2001 eine neue Brisanz gewonnen, sodass der Religion auch auf der politischen Agenda wieder eine neue Aufmerksamkeit gewidmet wird. Allerdings gehen sowohl die Wahrnehmungen der sich vollziehenden Veränderungen als auch deren Bewertungen recht weit auseinander.

2.1 Die Rückkehr der Religionen: Martin Riesebrodt Mit Martin Riesebrodt (*1948) kommt ein eher moderater Protagonist der These von der Wiederkehr in den Blick, der sie nicht einfach der bisher gern herangezogenen Säkularisierungsthese entgegen, sondern zur Seite stellt. Der amerikanische Religionssoziologe sucht nach einer Erklärung für die überraschende Gleichzeitigkeit von fortschreitender Säkularisierung „als immanenten Trend institutioneller Differenzierung“16 und einer massiven globalen Rückkehr der Religion, insbesondere – aber auch nicht nur (!) – im fundamentalistischen und charismatischen Spektrum. Die vom westlichen Modernisierungsmythos prognostizierte Säkularisierung und Privatisierung der Religion hat sich nicht eingestellt. Im Gegenteil gilt es eine unvorhergesehene Revitalisierung der Religion zu registrieren, und zwar auch einer Religion, die offensiv den Anspruch erhebt, auch wieder öffentlich wahrgenommen zu werden. Das Auftrumpfen der religiösen Rechten in der amerikanischen Politik, die andauernde identitätsbildende Kraft von Katholizismus und Protestantismus in Irland, die Rolle der katholischen Kirche in Polen, des Islams im Iran und Sudan, in Algerien, Ägypten, im palästinensischen Widerstand und selbst in der so weitgehend säkularisierten Türkei, des Hinduismus in Indien, des Buddhismus in Sri Lanka oder die Desintegration Jugoslawiens entlang ethnischreligiöser Gruppierungen kann man nun wirklich nicht geschichtsteleogisch als Modernisierung und Säkularisierung deuten. (11)

Die Religion ist wieder zu einem Faktor sozialer Identitätsbildung geworden, und sie drängt entschlossen auf gesellschaftliche Einflussnahme. Auch wenn Religionstheorien intellektuelle Konstrukte bleiben, sieht sich Riesebrodt vor die Aufgabe ge15 Wiederkehr, 16.

16 M. Riesebrodt, Rückkehr, 35.

312 § 8 Die Religion und die Religionen

stellt, eine solche zu formulieren, die in der Lage ist, den registrierten Veränderungen in einem befriedigenden Maße gerecht zu werden. D.h. er fragt nach einem Religionsverständnis, das der Gleichzeitigkeit von neuer Religiosität und anhaltender Säkularisierung Stand zu halten vermag. Den Schlüssel für eine solche Theorie sieht er in der für alle Religionen charakteristischen Fähigkeit, angesichts wahrgenommener Krisen eine rettende oder zumindest erklärungskräftige Perspektive zu erschließen. Ich behaupte, daß interventionistische Praktiken in allen religiösen Traditionen zu allen Zeitpunkten aufs engste darauf abzielen, Krisen (Risiken, Gefahren) vorzubeugen oder diese zu bewältigen, wenn sie eingetreten sind. (42) Krisen stellen einen wesentlichen Antrieb religiöser Arbeit dar. So erfolgen etwa Religionsstiftungen in der Regel aus einem Krisenbewußtsein heraus. Religiöse Glaubensvorstellungen und Praktiken werden aufgrund von Krisenerfahrungen erdacht, uminterpretiert, abgeschafft oder wiederbelebt und können somit soziale Strukturen und institutionelle Ordnungen bekräftigen, reformieren oder gar revolutionieren. Solange traditionelle Vorstellungen und Praktiken der Krisenvorbeugung und -bewältigung als wirksam angesehen werden, erscheinen sie selbstverständlich und werden zumindest implizit bestätigt. Andernfalls entsteht eine Sinnkrise, aus der heraus sich in der Regel neue Vorstellungen und Praktiken entwickeln. (47)

Mit dieser besonderen Fähigkeit zum Krisenmanagement, die Riesebrodt als ein Spezifikum den Religionen zumisst, nähern wir uns der gesuchten Erklärung für die bemerkenswerte Gleichzeitigkeit von anhaltender Säkularisierung und dem annoncierten ambitionierten Religionsboom. Ein großer Teil der Krisen, welche die Existenzängste der Menschen in der Vergangenheit bewegt haben, ist durch die technische und gesellschaftliche Entwicklung weithin gegenstandlos geworden, während sich gleichzeitig zumindest bei einem nicht unerheblichen Teil der Menschen ganz neue Ängste etabliert haben. Die traditionellen Religionen, die eine Antwort auf die alten Irritationen bereithielten, verlieren in dem Maße ihre Relevanz, wie sie sich aufgrund ihrer Wandlungsträgheit nicht auf die grundlegend veränderte Situation eingestellt haben, während neue Richtungen und Formen der Religion dort auf Resonanz stoßen, wo die gegenwärtigen Herausforderungen neue Ängste geweckt haben. Aus Sicht der skizzierten Religionstheorie hat Säkularisierung stattgefunden als Konsequenz zunehmender menschlicher Kontrolle und ‚Weltbeherrschung‘. Die massive Ausweitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer praktischen Anwendung, vor allem in der Medizin, hat die menschliche Kontrolle über Sphären großer Bedrohung und hoher Risiken ausgeweitet. Die Ersetzung monarchischer und aristokratischer Herrschaftssysteme durch demokratische hat die Politik weitgehend profaniert im Sinne einer ‚Demokratisierung des Charisma‘. Die Ausweitung bürokratischer Apparate und Verfahrensweisen hat gleichermaßen ‚entcharismatisierende‘ und depersonalisierende Wirkung. Und die Expansion des Wohlfahrtsstaates hat größere Existenzrisiken neutralisiert. Solche und andere Prozesse haben objektiv die Relevanz von Religion eingeschränkt und diese zu einem gewissen Grade auf den Privatbereich konzentriert. Jedoch haben sich, teils gleichzeitig, teils mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, neue Dimensionen der Ungewißheit und Machtlosigkeit aufgetan. Wissenschaft und Technik ha-

2. Wiederkehr der Religion? 313

ben nicht nur unsere Kontrolle über die Natur erweitert, sondern haben durch Eingriffe in die Natur auch neue Risiken, wie Klimaveränderungen oder Verseuchung von Luft und Wasser, geschaffen. Viele neue Verfahren, wie Atomtechnik oder Gentechnologien, haben zumindest ambivalenten Charakter und schüren bei vielen Existenz- und Zukunftsängste. Die Demokratie und der Nationalismus haben nicht nur die Politik profaniert, sondern auch die Massenmobilsierung durch ‚charismatische Führer‘ ermöglicht sowie neue Mythen und Rituale geschaffen. Der Kapitalismus hat nicht nur untergeordnete soziale Klassen und Frauen von patriarchalischer Abhängigkeit emanzipiert und ihnen neue Chancen eröffnet, sondern er hat auch Verwandtschaftsverbindungen aufgelöst, Familienstrukturen destabilisiert und Menschen der Irrationalität und Unberechenbarkeit des Marktes ausgeliefert. Der Kapitalismus als revolutionäre Macht transformiert zudem permanet soziale Strukturen, erzeugt sozialen Auf- und Abstieg und unterminiert damit soziale Identitäten. Viele neue Dimensionen von Machtlosigkeit und Risiken haben sich entwickelt und sind zur Quelle der Formation neuer religiöser Gruppenbildungen und Bewegungen geworden. Solange der westliche Modernismus überzeugend den Glauben an seine unablässig wachsende Fähigkeit der Kontrolle der Natur, des menschlichen Körpers und sozialer Ordnungen verbreiten konnte, war die Religion auf dem Rückzug. Jedoch sind mit dem zumindest partiellen Zusammenbruch dieses Glaubens religiöse Formen der Prävention und Bewältigung von Krisen wieder verstärkt in Erscheinung getreten. Aus dieser Sicht stellen Säkularisierung und Revitalisierung von Religion keinen Widerspruch dar, sondern repräsentieren zwei Seiten desselben sozialen Transformationsprozesses. (49 f.)

Wenn Riesebrodt seine Religionstheorie insbesondere durch das massive, auch öffentliche Auftreten des Fundamentalismus in den verschiedenen Religionen und das bemerkenswerte Anwachsen charismatischer Kirchen bestätigt sieht, versteht er dies ausdrücklich als beispielhaft für einen darüber hinausreichenden Umstand. Er wird auch durch andere religiöse Revitalisierungstendenzen bestätigt, in denen etwa an den Geist des Ursprungs oder des Stifters appelliert wird, um den authentischen Charakter der Glaubenstradition unter den gegenwärtigen Bedingungen wieder in Kraft zu setzen und der in ihm liegenden Utopie auch im gesellschaftlichen Engagement wieder Ausdruck zu verleihen, wie es in den verschiedenen Varianten der Befreiungstheologien der Fall ist. Die fundamentalistische Reaktion dagegen frage weniger nach einer zeitgemäßen Interpretation der ursprünglichen Vision als vielmehr nach einer möglichst kompromisslosen und nicht weiter zu diskutierenden Treue zu legalistischen Verhaltensorientierungen, in denen die ebenfalls gesuchte religiöse Authentizität gesehen werde. Was die zwei prinzipiellen Typen religiöser Revitalisierungsbewegungen, die utopische und die fundamentalistische, wesentlich unterscheidet, sind zum einen ihr Geschichtsbild, zum anderen die von ihnen jeweils idealisierten Sozialbeziehungen und Gesellschaftsordnungen. Der utopische Typ hängt tendenziell egalitären Idealen an. Er vertritt die Überwindung sozialer Klassengegensätze und egalitäre soziale Gerechtigkeitsvorstellungen. Er kennt in der Regel keine ‚Rassen‘ und tendiert zur Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Geschichte ist zwar Heilsgeschichte, räumt dem Menschen aber tendenziell einen aktiven Platz im Prozeß ihrer Verwirklichung ein. Der fundamentalistische Typ hingegen ist gekennzeichnet durch die Idealisierung patriar-

314 § 8 Die Religion und die Religionen chalischer Autorität als gottgewollter Norm. Er betont patriarchalische Unterordnung und Verantwortung sowie strikte Durchsetzung einer patriarchalischen Sozial- und Sexualmoral. Ungerechtigkeit gilt es als gottgewollt hinzunehmen in Erwartung eines künftigen Ausgleiches im Jenseits. Damit ist auch das Geschichtsbild des Fundamentalismus tendenziell an Endzeiterwartungen orientiert. Die ideale Ordnung wird in der Regel durch göttlichen Eingriff realisiert, nicht durch menschliches Handeln. Er ist damit weitaus pessimistischer gegenüber Vervollkommnungsmöglichkeiten des Menschen eingestellt als der utopische Entwurf. (54 f.) Fundamentalistische Milieus identifizieren und formieren sich in bewußtem Gegensatz zu modernistischen Milieus und versuchen, durch Dramatisierung letzter Werte und zeitloser Ideale krisenhafte Modernisierungserfahrung zu bewältigen. (56)

Da der Fundamentalismus einen eigenen Diskurs darstellt, der einer eigenen differenzierten Erhellung bedürfte, soll hier nicht weiter auf seine Analyse eingegangen werden. Riesebrodt versteht die Rückkehr der Religionen als das Resultat eines grundlegenden Wandlungsprozesses, in dem sich vor allem Segmente der überkommenen Religionen auf die sich in der Moderne verändernden Krisenszenarien ausrichten, um ihnen gegenüber eine sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Rettungsperspektive und/oder auch eine möglichst unmittelbar handhabbare Widerstandsperspektive aufzuzeigen. Es handelt sich also um ein Phänomen der Modernisierung der Religion, das einen entschlossenen Anpassungsprozess an die veränderten Rahmenbedingungen der Wirklichkeitswahrnehmung widerspiegelt und dazu eine kritische Revision und teilweise entschlossene Neuausrichtung der selektiv rezipierten Traditionsbestände vornimmt. Auch wenn in diesem Zusammenhang Verallgemeinerungen gegenüber eine besondere Vorsicht geboten ist, verweist Riesebrodt vor allem auf verunsicherte Gruppierungen bzw. Modernisierungsverlierer, die eine besondere Neigung zur Ausbildung neuer religiöser Milieus aufweisen.

2.2 Problemanzeigen Die vielen Fragen, die an die Diagnose der Rückkehr der Religionen zu stellen sind, lassen sich auf zwei Frageperspektiven konzentrieren: 1. Kann die Renaissance der Religion tatsächlich empirisch aufgezeigt werden und welches Bild ergibt sich unter empirischen Gesichtspunkten? 2. Was für ein Verständnis von Religion ist im Blick, wenn von ihrem Anwachsen die Rede ist, und welche Erwartungen lassen sich für die weitere Entwicklung formulieren? Zwar hängen die Antworten auf die eine Frageperspektive unmittelbar mit denen der anderen zusammen, sodass sie ebenso gut auch in der umgekehrten Reihenfolge erörtert werden könnten, aber dieses methodische Problem kann in diesem Rahmen deshalb zurückgestellt werden, weil es nicht um die Präsentation eines systematisch soliden Ergebnisses, sondern lediglich um die Benennung der diskutierten Aspekte geht.

2. Wiederkehr der Religion? 315

1. Unter den Religionssoziologen ist es vor allem Detlef Pollack, der Zweifel daran angemeldet hat, dass sich die verbreitet proklamierte Renaissance der Religion empirisch bestätigen lasse und eben nicht nur ein Produkt einer neuen Aufmerksamkeit auf die Religion und deren intensivierte Diskussion darstellt. Er hat dabei weniger den Erklärungsvorschlag von Riesebrodt im Blick als vielmehr die beiden der Säkularisierungsthese gegenübergestellten dominanten Interpretationsmodelle, mit denen andere die Renaissance der Religion erklären: einerseits das ökonomische Marktmodell (vgl. u. a. P. L. Berger % § 6,3.2) und andererseits die Individualisierungsthese, die von einem Wandel institutionenorientierter Religionspraxis zu einer mehr individualisierten ausgeht. Beide Modelle versuchen dem bisher behaupteten Zusammenhang von Modernisierung und Säkularisierung den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber die empirischen Untersuchungen von Pollack bestätigen eher die Säkularisierungsthese als die behauptete Revitalisierung der Religion in neuer Gestalt. Empirisch lässt sich im Blick auf die letzten 40 Jahre feststellen, dass a) in den modernen Gesellschaften Westeuropas das Religiositätsniveau abgesunken ist; der negative Effekt, den die Modernisierung auf die Vitalität der Religion hat, kann schwerlich bestritten werden.17 b) Die größere Selbstständigkeit gegenüber dem Staat hat den Kirchen keine neue Attraktivität eingebracht. c) Aus der Enttraditionalisierung haben die alternativen Religionen aufs Ganze gesehen keinen Nutzen ziehen können. d) Auch der religiöse Pluralismus hat sich eher negativ auf das allgemeine Religiositätsniveau ausgewirkt (er wird weniger als Bereicherung, sondern eher als eine Herausforderung zur Selbstbehauptung empfunden und führt zu einer Betonung der säkularen Prinzipien der modernen Gesellschaft [vgl. 179]). e) Auch die Entkonkretisierung religiöser Vorstellungen (Universalisierung und Abstraktion) hat zu einem schwächenden Einfluss auf die religiöse Lebensführung geführt. Unter den drei religionssoziologischen Modellen (Säkularisierungsthese, Marktmodell und Individualisierungsthese) lässt sich das Marktmodell empirisch am wenigsten erhärten, der Individualisierungsthese kann eine begrenzte Erklärungskraft zugemessen werden, während die Säkularisierungsthese die größte Erklärungskraft für sich beanspruchen [kann]. Sie macht verständlich, warum unter den Besserverdienenden, den Höhergebildeten und den Jüngeren der religiöse Bedeutungsverlust am stärksten ist. Mit ihr lässt sich auch erklären, warum Wohlstandsanhebung und Ausbau des Sozialstaates zu einer Abschwächung der religiös-kirchlichen Bindungen geführt haben, denn ihre zentrale Annahme lautet, dass zwischen Moderne und Religion ein Spannungsverhältnis besteht. Auch wenn viele Sozialwissenschaftler, Historiker und Theologen von der Wiederkehr der Religion sprechen – sofern man auf das schaut, was die Menschen von sich sagen und was sie glauben, was sie tun und wie sie ihr Denken, Fühlen und Handeln interpretieren, sofern man also die individuelle Ebene in Blick nimmt, kann man einer solchen Behauptung nur schwer zustimmen. (149)

17 Vgl. auch zum Folgenden D. Pollack, Rückkehr, 101–104.

316 § 8 Die Religion und die Religionen

Oder ganz kurz gesagt: Es ist einfach nicht wahr, daß sich die Kirchen leeren, aber Religion boomt.18

Für Europa ist eine anhaltende Entkirchlichung zu registrieren, die bei Weitem nicht durch die Zunahme anderer Religionsangebote kompensiert wird. Angesichts des „massenhaften Gewohnheitsatheismus“ spricht der Wiener Theologe Ulrich H. J. Körtner im Blick auf den propagierten ‚Megatrend Religion‘ von virtuellen Welten vergleichbar denen, die seinerzeit von der New Economy annonciert wurden und sich bald als Illusionen erwiesen.19 Die Rede von der Wiederkehr der Religion sei irreführend, nicht zuletzt weil sie die Augen vor dem Megatrend ‚Gottesvergessenheit‘ verschließt (vgl. 16, 23, 31 u. ö.). 2. Qualitativ zählt Pollack die breitflächige Begrüßung einer Wiederkehr der Religion zu den „Zeitgeiststimmungen, in denen sich das Modernitätsbewußtsein kritisch auf sich selbst wendet“.20 Bereits im Blick auf die benutzte Interpretationssemantik bleiben Widersprüchlichkeiten bei den Säkularisierungsskeptikern zu registrieren, die bereits bei der zu Grunde gelegten Zeitdiagnose beginnt. Wenn die Behauptung einer Renaissance der Religion in einer Zeit aufkommt, in der das Vertrauen in die Effektivität von Fortschritt, Wissenschaft und Technik sowie in die Selbststeuerungs- und Selbstkorrekturfähigkeit der Moderne schwindet, dann wird durch sie das im Säkularisierungstheorem behauptete Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne jedoch nicht etwa korrigiert, sondern bestätigt.21

Zudem kann die unterstellte Blüte der Religion auch schlicht die Folge einer Erweiterung des Religionsverständnisses bzw. eines inflationären Gebrauchs des Religionsbegriffs sein, sodass es weniger einen Boom der Religion als vielmehr einen neuen religiös imprägnierten Blick auf die Wirklichkeit zu registrieren gibt. Wenn die Zeitansagen der seit 40 Jahren tätigen Säkularisierungskritiker richtig wären, müssten wir ja inzwischen in einer Gesellschaft leben, die von Religiosität, Spiritualität, religiösen Erfahrungen und Kulten geradezu überschwemmt ist. Und tatsächlich behaupten manche Theologen, Religionssoziologen und Historiker ganz genau dies: Unsere Gesellschaft sei voller Religion, das Religiöse manifestiere sich nicht nur in den Kirchen und vielleicht nicht einmal vorrangig in ihnen, sondern eher außerhalb des kirchlichen Raums, an Plätzen, an denen man es bislang nicht einmal vermutet habe, in den Songs der Schlagersänger und Popstars, den Theaterstücken der Gegenwart, der Sportbegeisterung des Fußballfans, den Unterhaltungsserien des Fernsehens, den Slogans der Werbung, dem Nervenkitzel von Extremsportarten wie Basejumping, Freiklettern oder Wildwasserschwimmen, der Lebenswelt des Bodybuildung, den meditativen Techniken der Selbstfindung, den Gemeinschaftserfahrungen der Gruppentherapie oder auch der Selbsttranszendierung in Liebe und Sexualität. Betrachtet man diesen inflationären Gebrauch des Religionsbegriffs, dann gewinnt man zuweilen den 18 D. Pollack, Säkularisierung, 137. 19 Vgl. Wiederkehr, 11.

20 Säkularisierung, 1. 21 D. Pollack, Rückkehr, 11.

2. Wiederkehr der Religion? 317

Eindruck, als ob sich alles, was manche Theologen und Religionssoziologen auch anfassen, wie von Zauberhand in Religion zu verwandeln vermag. (14 f.)

Oder Ulrich H. J. Körtner: In die Blackbox einer unsichtbaren Religion kann man im Zweifelsfall alles und jedes hineinprojizieren. Man braucht dafür nur die neue Wortschöpfung ‚religioid‘, und schon sind je nach Belieben auch Museumsausstellungen, Marathonläufe und Massentourismus oder Fußballleidenschaft und Popkultur Erscheinungsformen des neureligiösen Megatrends.22

Das Religionsverständnis nimmt unversehens eine derartige Weite an, dass „Prozesse der Säkularisierung schon definitorisch“ ausgeschlossen sind: In einer Gesellschaft, in der alle sinnkonstituierenden Prozesse religiösen Charakter tragen, kann es Prozesse der Säkularisierung im strengen Sinn nicht geben, es sei denn die Gesellschaft hörte auf, Sinn zu produzieren.23 – Warum sollen nicht auch Kunst, Literatur, Philosophie, aber auch Liebe und Partnerschaft oder politisches und soziales Engagement zur Sinnkonstitution fähig sein, ohne dass sie deshalb sogleich als religiös zu bestimmen wären? (57)

Die Religion wird von ihren Propagandisten zu einer unhintergehbaren Notwendigkeit für die Lösung von Problemen stilisiert, deren religiöser Charakter keineswegs als ausgemacht gelten kann; dieser Einwand gilt vor allem für die Vertreter der Individualisierungsthese, wie sie insbesondere von den Theologen vertreten wird, die auf einen erneuten Frühling des Kulturprotestantismus setzen (% § 7,5). Mit einem qualifizierten Religionsbegriff verträgt sich die überlegitimierende Behauptung nicht, dass sie unausweichlich zum Wesen des Menschen gehöre; das, worauf sie sich bezieht, mag Universalität beanspruchen, die Religion selbst kann es nicht – sie vermag niemals mehr zu bieten als eine Lösungsmöglichkeit neben anderen.24 Es kann an den Neokulturprotestantismus mit guten Gründen die Frage gestellt werden, ob er nicht den eigenen Bekundungen entgegen mit seinem apologetisch ausgerichteten Orientierungshorizont im 19. Jahrhundert stecken geblieben ist.25 Aus theologischer Sicht bleibt auf die Ambivalenz des unterstellten Religionsbooms zu verweisen; hinter der propagierten Spiritualisierung verbirgt sich allzu leicht ein naiver Naturalismus bzw. Monismus, der nach Körtner „nicht weniger reduktiv ist als die kritisierte technokratische Rationalität“ (23). Selbst wenn sich empirisch erhärten ließe, dass die Rückkehr der Religion tatsächlich mehr ist als eine Wiederbelebung der Debatte um die Religion, wäre es keineswegs ausgemacht, ob die Kirchen diese eher begrüßen oder eher befürchten sollten. So, wie die Dinge liegen, müssen sie sich darüber im Moment weniger Gedanken machen. In dieser ebenso unübersichtlichen wie auch keineswegs spannungslosen Lage kann wohl kaum eine neutrale Beschreibung erwartet werden. Jede vorgetragene Option enthält immer auch das Bekenntnis derjenigen, die sie vertreten. Dieser Umstand bekommt dann eine besondere Empfindlichkeit, wenn es sich dabei um Theologen 22 Wiederkehr, 15. Zum Problem vgl. G. Thomas, Implizite Religion. 23 D. Pollack, Rückkehr, 56.

24 D. Pollack, Säkularisierung, 46 ff. 25 Vgl. auch U. H. J. Körtner, Wiederkehr, 81.

318 § 8 Die Religion und die Religionen

oder Theologinnen handelt, die sich von der jeweiligen religiösen Lage den entscheidenden Referenzrahmen für das vorgeben lassen, was sie als die Aufgabe der Theologie annoncieren.

3. Theologie der Religionen Die Religionen sind in den letzten vierzig Jahren näher aneinander gerückt. Religionshomogene oder gar konfessionshomogene Gesellschaften gehören in Europa beinahe überall der Vergangenheit an. Daraus ergeben sich nicht nur neue Anforderungen an eine nachhaltige Gesellschaftspolitik, sondern die Religionen sind auch ihrerseits gefragt, ihr Verhältnis zu den anderen Religionen zu bedenken und im Horizont der sie jeweils tragenden Grundsätze zu sozialverträglichen Orientierungen für ein verlässliches Zusammenleben zu streben. Es wird entscheidend darauf ankommen, dass sich die Religionen nicht nur äußerlich einer gesellschaftspolitisch erhobenen Toleranzforderung fügen, sondern auch positiv die Elemente des eigenen Selbstverständnisses erschließen und fruchtbar in Ansatz bringen, die auf den Umgang mit dem Fremden und dem Andersgläubigen bezogen sind. Es ist davon auszugehen, dass es in allen großen Religionen entsprechende Traditionen gibt, auch wenn diese nicht immer im Bewusstsein aller Anhänger präsent sein mögen. Erst wenn das Verhältnis zu den Andersgläubigen durch die eigene Glaubenstradition belastbar orientiert ist, kann davon ausgegangen werden, dass es nicht den irrationalen Stimmungsschwankungen unterworfen ist, die sich gedächtnis- und begründungslos der Situation bemächtigen und schnell zu unkalkulierbaren Eskalationen führen können. Das bedeutet, dass alle Religionen mit der Erwartung konfrontiert sind, dass sie je für sich eine Art „Theologie der Religionen“ entwickeln und dann auch untereinander kommunizieren mögen. Es geht darum, das Verhältnis zu den Andersgläubigen im Horizont der eigenen Glaubensorientierungen zu bestimmen. In der Theologie wird weitgehend von drei formalen Lösungsoptionen ausgegangen, von denen die erste – nämlich der Exklusivismus – eigentlich keine belastbare Lösung darstellt, weil sie die Wahrheitsproblematik allein für sich selbst reserviert und das Verhältnis zu den anderen einfach in den Horizont der allgemeinen Ethik verlagert. Die zweite Lösungsoption ist der Inklusivismus, wie er seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Nostra aetate, 1965) für die römisch-katholische Kirche maßgebend ist. Er geht davon aus, dass auch andere Glaubensweisen implizite und somit indirekte Ausdrucksformen der eigenen Wahrheit sein können und deshalb besonderen Respekt verdienen. Die dritte Option ist die pluralistische Religionstheologie, welche die Wahrheitsansprüche der verschiedenen Religionen gleichberechtigt nebeneinander stellt und damit die Wahrheitsfrage auf der Ebene der verschiedenen Religionen für unbeantwortbar hält. Auch wenn sich inzwischen die Stimmen mehren, dass die Beschränkung auf diese drei Optionen zu kurz greift, genießt zurzeit die pluralistische Religionstheologie im protestantischen Bereich die größte Verbrei-

3. Theologie der Religionen 319

tung. Es war vor allem John Hick, der für diese Lösungsoption die Grundlagen formuliert hat, die dann in der späteren Diskussion variiert und weiterentwickelt worden sind.

3.1 Pluralistische Religionstheologie: John Hick Angesichts der Vielfalt der Religionen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise auf eine personale oder nicht-personale Letztwirklichkeit beziehen, sieht der britische Theologe und Religionsphilosoph John Hick (*1922) drei alternative Erklärungsmodelle: Die einfachste Antwort . . . gibt natürlich die naturalistische Hypothese, die besagt, daß religiöse Erfahrung im ganzen eine Täuschung ist und daß Konzepte wie Gott, Brahman usw. nur Projektionen des menschlichen Verstandes sind. Ich lehne diese These ab . . . Ich lehne ebenfalls . . . die dogmatische, konfessorische Antwort ab, daß alle religiöse Erfahrung eine Täuschung ist, mit Ausnahme derjenigen, die man in der eigenen Tradition macht. Statt dessen schlage ich vor, eine dritte Möglichkeit auszuarbeiten, die besagt, daß die großen postaxialen Glaubensrichtungen unterschiedliche Wege der Erfahrung, der Besinnung und des Lebens in Beziehung zu einer göttlichen Realität darstellen, die jenseits unserer verschiedenen Vorstellungen liegt.26

Grundlegend für Hicks Erklärungsmodell ist die in Anlehnung an Kant gewonnene erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen dem „Realen an sich“ und dem „Realen, wie es vom Menschen erfahren wird“. Unsere Erkenntnis ist stets eine begrenzte, sodass uns Unbegrenztheit prinzipiell verschlossen bleibt. Alle menschliche Erkenntnis bedeutet unausweichlich eine Partikularisierung einer prinzipiell über sie hinausgehenden nicht erfassbaren Wirklichkeit. Welterkenntnis ist immer eine Konstruktion auf der Basis dessen, was wir von ihr wahrnehmen. Kant unterscheidet die Erscheinung von dem Ding an sich, das phenomenon, von dem unserer Erkenntnis entzogenen noumenon. Das, was in Erscheinung tritt, ist aber nicht Illusion, sondern Realität, wenn auch nicht das „Reale an sich“. Die Welt, wie sie erscheint, ist so völlig real: Indem er ein ‚transzendentaler Idealist‘ ist, so sagt Kant, ist er ein ‚empirischer Realist‘. Analog dazu möchte ich sagen, daß das noumenale Reale von unterschiedlichen menschlichen Geisteshaltungen (‚mentalities‘) erlebt und gedacht wird, daß es unterschiedliche religiöse Traditionen formt und von ihnen geformt wird, wie aus der Anzahl der Götter und Absolutheiten, über die die Religionsphänomenologie berichtet, abzulesen ist. Und diese göttlichen personae und metaphysischen impersonae . . . sind nicht illusorisch, sondern empirisch, d. h. auf Erfahrung beruhende reale, weil authentische Manifestationen des Realen. . . . Uns wird schnell klar, daß der gleiche Gegenstand verschiedenen Menschen auf mehr oder weniger unterschiedliche Weise erscheint, was zum einen darauf zurückzuführen ist, daß sie sich von verschiedenen Punkten im Raum aus auf ihn beziehen, und 26 Gotteserkenntnis in der Vielfalt der Religionen, in: R. Bernhardt (Hg.), Horizontüberschreitung, 60–80, 61 f.

320 § 8 Die Religion und die Religionen zum anderen darauf, daß sie sich in ihren sensorischen und geistigen Anlagen und in ihren Interpretationshaltungen unterscheiden. (64 f.)

Die verschiedenen Religionen beziehen sich alle auf die Präsenz des Realen an sich, erfassen aber auf höchst unterschiedliche Weise seine Realität. Die fundamentale Differenz zwischen theistischen und nicht-theistischen Religionen erklärt Hick mit den beiden theoretisch nicht zu harmonisierenden Beschreibungsmodellen des Lichts als Wellen und als Korpuskeln, die je eine Wirklichkeitsdimension erschließen, ohne das Licht als solches wirklich erklären zu können. Analog dazu ist auch die göttliche Realität nicht direkt an sich bekannt. Doch wenn sich Menschen zu ihr im Modus einer Ich-Du-Begegnung in Beziehung setzen, erfahren sie diese göttliche Realität als personal. Im Kontext dieser Beziehung ist sie dann tatsächlich personal, nicht Es, sondern Er oder Sie. Wenn Menschen sich dagegen zum Realen in eine nicht-personale Beziehung setzen, dann erfahren sie es als nicht-personal, und im Kontext dieser Beziehung ist es dann tatsächlich nicht-personal. (69)

Es darf nur nicht der Fehler gemacht werden, den Theismus und den Nicht-Theismus auf das Reale an sich zu übertragen. Grundsätzlich kann das, was für den Bereich der menschlichen Erfahrung Geltung beanspruchen kann, nicht direkt für den unerfahrbaren Grund dieses Bereiches in Anwendung gebracht werden. Die Erklärungsgrenze bedeutet aber deshalb keineswegs eine Minderung der Authentizität der jeweiligen religiösen Erfahrung. Umgekehrt führt die jeweilige religiöse Erfahrung unweigerlich zu der Annahme einer die verschiedenen Erfahrungen transzendierenden gemeinsamen Wirklichkeit, wenn anders die Rede von einer Letztwirklichkeit unweigerlich ihre Bedeutung verlieren würde. Wenn jedoch das Reale in sich selbst nicht menschlich erfahren wird und werden kann, warum ist es dann erforderlich, ein solches unerkanntes und unerkennbares Ding an sich zu postulieren? Die Antwort darauf ist, daß das göttliche noumenon ein notwendiges Postulat des pluralistischen religiösen Lebens der Menschheit ist. Denn innerhalb jeder religiösen Tradition sehen wir das Objekt unserer Verehrung oder Kontemplation als real an. Wenn es . . . legitim ist, die Objekte der Verehrung und Kontemplation innerhalb anderer Traditionen als real anzusehen, kommen wir nicht umhin, das Reale an sich als die Voraussetzung für den Wahrheits-Charakter (‚veridical character‘) dieser verschiedenen Formen religiöser Erfahrung zu postulieren. Ohne dieses Postulat würden wir uns einer Vielfalt von personae und impersonae gegenübersehen, für deren jede in Anspruch genommen würde, die Letztwirklichkeit zu sein, die doch keine von ihnen allein sein kann. Wir würden entweder alle die berichteten Erfahrungen als illusorisch zu betrachten haben oder uns auf die konfessionelle Position zurückziehen, in der wir die Authentizität unseres eigenen Stromes der religiösen Erfahrung behaupten und die in anderen Traditionen erscheinenden als illusorisch ablehnen. Für diejenigen jedoch, denen keine dieser Möglichkeiten realistisch erscheint, wird die pluralistische Erklärung unausweichlich, und mit ihr das Postulat des Realen an sich, das unterschiedlich erfahren und gedacht wird als Palette (‚the range‘) göttlicher Erscheinungsformen, wie sie in der Religionsgeschichte beschrieben werden. (73)

3. Theologie der Religionen 321

Neben der allen Religionen gemeinsamen Quelle im Realen an sich sieht Hick auch eine allen Religionen – ganz gleich ob theistisch oder nicht-theistisch – gemeinsame Wirkung, „nämlich die Verwandlung der menschlichen Existenz aus der Selbstzentriertheit in eine neue Zentriertheit auf den Gott, der verehrt wird, oder auf das Absolute, wie es in samadhi oder satori erkannt wird.“ (79) Wenn Hick darin schließlich die soteriologische Dimension der Religion sieht, dann sieht er in der Religion die Befreiung vom Ego, durch welche der Mensch zu innerem Frieden im Horizont einer solidarischen Eingliederung in die Einheit der Menschheit bzw. allen Lebens findet. Zwar sind die Verstehenshorizonte und die kultischen Praktiken überaus unterschiedlich, aber die gewonnene Freiheit ist die gleiche: Und doch ist die innerhalb dieser unterschiedlichen Lebensformen und Arten des Selbstverständnisses erfolgte Verwandlung die gleiche. Es ist dieser gemeinsame soteriologische Vorgang, der nahelegt, daß die Götter und Absolutheiten, die ihn herbeiführen, unterschiedliche Modi der Präsenz derselben letzten Realität sind. (80) &

J. Hick, God Has Many Names, Philadelphia 1980 P. F. Knitter, Ein Gott – viele Religionen. Gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums, München 1988 G. Gäde, Viele Religionen – ein Wort Gottes. Einspruch gegen John Hicks pluralistische Religionstheologie, Gütersloh 1998

3.2 Problemanzeigen Auf den ersten Blick spricht unter den drei genannten Lösungsoptionen für eine Theologie der Religionen am meisten für die pluralistische Religionstheologie. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass sie – nicht nur in der Fassung von Hick – eine Reihe von gewichtigen Problemen mit sich bringt, von denen hier nur zwei angesprochen werden sollen. 1. Der zentrale Einwand besteht in dem von der Religion erwarteten und nach ihrer Substanz greifenden Eingeständnis, dass ihre zweifellos einzuräumende geschichtliche Unvollkommenheit noch überboten werde durch eine prinzipielle Unvollkommenheit, in der sie den ebenfalls unvollkommenen anderen Religionen die Anerkennung auf Augenhöhe schuldet. Es wird ein über den Religionen liegender Standpunkt eingenommen, der zur allen Religionen den gleichen Abstand hält – bzw. zu halten versucht, sodass jedes denkbare religiöse Bekenntnis als etwas erscheint, das grundsätzlich durch ein anderes ersetzt werden könnte. Die Plausibilität der Bindung an eine Religion wird ganz und gar in die Subjektivität verschoben bzw. mit der geschichtlichen Kontingenz begründet. Indem in allen Religionen gleichsam die gleiche Nähe und eben auch der gleiche prinzipielle Abstand zu der unerschließbaren Wahrheit anzutreffen ist, wird gerade die Gewissheit angegriffen, die für die jeweilige Religionszugehörigkeit konstitutiv ist. So berechtigt zweifellos die Skepsis gegenüber jedem in die Hände des Menschen geratenden Wahrheitsbesitz ist, so pa-

322 § 8 Die Religion und die Religionen

radoxal ist der Versuch, den Glauben von seinem ihm Gewissheit gebenden Kontakt zur Wahrheit isolieren zu wollen. Ein Glaube, der sich nicht in einem ihn tragenden Kontakt zur Wahrheit weiß, wäre ein Widerspruch in sich selbst. Gewiss bleibt das Verhältnis zur Wahrheit das Verhältnis des Glaubens und sperrt sich damit gegen alle Inbesitznahmen und Anspruchsberechtigungen, aber es erlangt erst darin seine Ernsthaftigkeit und existenzielle Überzeugungskraft, dass es sich von einer Wahrheit getragen weiß, für deren Begründung der Glaubende gerade nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Wenn es um die Theologie einer Religion geht und somit um die Kontur ihres Bekenntnisses, erweist es sich einmal mehr als problematisch, einen solchen den Religionen gegenüber neutralen Standpunkt einnehmen zu wollen.27 Auch die berühmte und gern herangezogene Elefanten-Parabel des Buddha, die allerdings recht unterschiedlich erzählt wird, gibt sich nicht mit den Erkenntnissen der Blinden zufrieden, die je einen anderen Körperteil des Gott symbolisierenden Elefanten betasten und dann zu Aussagen über diesen kommen, die sich in keiner Weise ineinander abbilden lassen, sodass es zum Streit kommt. Doch es ist nicht allein der Streit der Religionen, der hier erklärt werden soll. Die Pointe liegt vielmehr auf dem König, der diese Demonstration der Unzulänglichkeit der verschiedenen Religionen inszeniert hat. Im Unterschied zu den blinden Protagonisten der verschiedenen Religionen kann er sehen und sieht natürlich den ganzen Elefanten. Er steht für Buddha, den Erleuchteten, und legitimiert damit eben die Überlegenheit des Buddhismus. Im günstigsten Fall steht diese Parabel also für einen Inklusivismus, auch wenn ihre unmittelbare Intention natürlich in einem gemäßigten Exklusivismus gesehen werden muss. Es ist m. E. Ulrich H. J. Körtner recht zu geben, dass im Blick auf eine Theologie der Religionen grundsätzlich ohne ein Mindestmaß an Inklusivismus nicht auszukommen ist, das durchaus über die Verständigung der jeweils anzuwendenden Dialogregeln hinausgeht. Alle Wahrnehmungen der zwischen Religionen bestehenden Differenzen sind Konstruktionen, die essenziell von den jeweiligen Konstrukteuren abhängig bleiben. Die Forderung, die pluralistische Religionstheologie durch einen metakritischen Inklusivismus zu ersetzen, geht davon aus, dass die Religionen durch die Begegnung mit anderen Religionen zu „dialogischer Rechenschaft über den eigenen Glauben herausgefordert“ werden.28 Dabei kann es nicht darum gehen, die wahrgenommenen Differenzen in das eigene Selbstverständnis zu integrieren, um auf diesem Wege zu einer abstrakten Harmonie zu gelangen. Im Sinne eines metakritischen Inklusivismus gilt einerseits, daß Gottes Handeln hinter der gesamten Weltgeschichte und somit auch hinter der Religionsgeschichte geglaubt werden darf. Daß aber ein und derselbe Gott hinter den verschiedenen, in den unterschiedlichen Reli27 Vgl. dazu U. Tworuschka, Glauben alle an denselben Gott? Religionswissenschaftliche Anfragen, in: Chr. Danz / U. H. J. Körtner (Hg.), Theologie der Religionen, 15–40.

28 Synkretismus und Differenzwahrnehmung als Problem einer Theologie der Religionen, in: Chr. Danz / U. H. J. Körtner (Hg.), Theologie der Religionen, 57–76, 71.

3. Theologie der Religionen 323

gionen erfahrenen Gottheiten oder Offenbarungen des Göttlichen, aus denen einander widersprechende Geltungsansprüche abgeleitet werden, stehen soll, gehört aus christlicher Sicht zur Verborgenheit Gottes. (72 f.)

Es gehört gleichsam zum Wesen von Offenbarung, dass sie sich nur durch sich selbst erschließt. Unterschiedliche Offenbarungen können nicht einfach experimentell konsultiert werden. Das aber heißt, dass „außerchristliche Offenbarungen . . . Christen als eigene Glaubenserfahrungen nicht zugänglich [sind] – oder sie werden zu Anhängern einer anderen Religion“ (73). Angesichts der Ambivalenz aller Religion, von welcher auch das Christentum nicht ausgenommen ist, mag der Glaubende andere Formen von Religion bald als Reflex der Offenbarung des Gottes Israels und Vaters Jesu Christi in anderen geschichtlichen Gestalten, bald als eine diesem Gott widersprechende Gestalt von Religion erfahren. Wir mögen in fremden Glaubensweisen Spuren des von uns verehrten Gottes und darin eine Bestätigung unserer eigenen Glaubensgewißheit finden. Sie können uns aber auch bisweilen als dämonische Verzerrung unseres Gottes vorkommen. Fremde Gottheiten mögen uns als authentische Interpretationen echter Offenbarung erscheinen oder auch nur als Produkt menschlicher Sehnsucht nach solchem Offenbarwerden des Göttlichen, als Ausdruck der Suche nach Gott. (74)29

2. Andreas Feldkeller hat darauf aufmerksam gemacht, dass es bereits eine Abstraktion bedeutet zu meinen, die Religionen begegneten einander oder führten gar einen Dialog. „Im interreligiösen Dialog sprechen nicht ‚die Religionen‘ miteinander, sondern Menschen, die ihnen angehören.“30 Die Feststellung mag banal klingen, ist aber überaus folgenreich. Es bleibt grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der persönlichen Religiosität und der Religion der Gemeinschaft. Die Identifikation des Individuums mit der jeweiligen Religion deckt niemals die ganze Reichweite der repräsentierten Religion ab, sondern ist stets ausschnitthaft und selektiv, ohne dass deshalb ein Vorbehalt hinsichtlich der Religionszugehörigkeit gemacht wird. Auch die Unterscheidung zwischen meiner und der von mir vertretenen Religion führt nicht grundsätzlich über die angezeigte Limitierung hinaus. Im Dialog treffen niemals Religionen direkt aufeinander, sondern es sind stets einzelne Vertreter, die einander in der Begegnung gegenseitig die von ihnen vertretene Religion repräsentieren. Und so kann auch der Dialog nicht die Identität der Religion gefährden, da diese stets nur virtuell präsent ist, sondern allein die persönliche religiöse Identität der beteiligten Gesprächspartner, wenn sie sich wirklich auf den Dialog einlassen. Die als Dialogregel vorauszusetzende Gleichwertigkeit lässt sich nicht einfach auf die Religionen übertragen, da es keinen übergeordneten Maßstab gibt, an dem diese bemessen werden könnte. Äquivalente auf der Ebene höchster Verbindlichkeiten finden zu wollen, bleibt im Grunde ein undurchführbares Unternehmen, weil die Referenzen immer nur aus dem Bereich stammen können, den sie dem Vergleich 29 Vgl. dazu auch M. Weinrich, Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott?, in: EvTh 67 (2007), 246–263.

30 Interreligiöser Dialog und Pluralistische Religionstheologie – ein Traumpaar?, in: ÖR 49 (2000), 273–286, 275.

324 § 8 Die Religion und die Religionen

unterstellen wollen. Wenn der Dialog sich nicht ständig durch die Frage der Höchstgeltung gefährden will, muss er sich mit der Voraussetzung arrangieren, die Frage der Höchstgeltung nicht anzufassen oder eben von vornherein zu umgehen, wie es beispielsweise in der sogenannten abrahamischen Ökumene geschieht. Die pluralistische Religionstheologie ist nicht das Ergebnis des Dialogs zwischen den Religionen, sondern sie etabliert Spielregeln, die im Grunde bereits das Ergebnis voraussetzen, indem sie das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit zur entscheidenden Zulassungsbedingung erheben. Eine wirkliche Gegenseitigkeit in der zwischenmenschlichen Beziehung lassen so arbeitende pluralistische Religionstheologen zum Teil nur dann gelten, wenn auch ‚du‘ in der gleichen Weise ‚pluralistisch‘ denkst, also die Unvollkommenheit von ‚eurer‘ Religion eingestehst. Wer dazu nicht bereit ist, gilt als zurückgeblieben in einer Entwicklung, die alle religiösen Gemeinschaften und menschlichen Individuen zu durchlaufen haben. Der für den Dialog notwendige Respekt vor dem menschlichen Gegenüber wird durch ein solches Modell in Frage gestellt. Mit Dialogpartnern aber, die sich in der Inanspruchnahme einer Überblicksperspektive über die verschiedenen Gemeinschaftsreligionen einig sind, kann ebenfalls kein sinnvoller interreligiöser Dialog mehr geführt werden, sondern nur noch ein freundschaftliches Schulterklopfen zwischen Individuen, die sich gegen ihre beiden Religionsgemeinschaften bereits in allen für sie wesentlichen Fragen einig geworden sind. (284)

Schon diese wenigen Aspekte, die sich unschwer durch weitere ergänzen ließen, zeigen, dass auch auf der Ebene seiner praktischen Gestaltung der interreligiöse Dialog ein recht sensibles Unternehmen darstellt, das im Blick auf seine Voraussetzungen, die zu erörternden Gegenstände und dann auch die ins Auge zu fassenden Ziele keineswegs einfach auf der Hand liegt. Die angedeuteten Schwierigkeiten sollten allerdings nicht dazu herangezogen werden, den Dialog zu verhindern, sondern gelten seiner rechten Ermöglichung, die dann nicht gleich bei den ersten Belastungen zum frustrierten Abbruch führt, nur weil sich die illusionären Ziele nicht erreichen ließen.

4. Kurzer Ausblick Es kann nun zum Schluss festgestellt werden, dass sich mit der Theologie der Religionen auf einer verschobenen Ebene ein Kreis schließt, dessen Ausgangspunkt in den Wurzeln des allgemeinen neuzeitlichen Religionsbegriffs zu suchen ist. Was im 17. Jahrhundert die unversöhnlich gegeneinander stehenden nachreformatorischen Konfessionen waren, sind heute die um die Wahrheit konkurrierenden Religionen. Wollte man auf Thesen wie die von Samuel P. Huntington31 hören, so stehen auch heute wieder höchst brisante Gefährdungen im Raum, die den Weltfrieden dramatisch bedrohen. In jedem Fall bedarf die derzeitige Entwicklung einer besonderen Aufmerksamkeit und gesellschaftspolitischen Begleitung, wenn sich aus den welt31 Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1998.

4. Kurzer Ausblick 325

weit immer wieder hier und da aufflackernden Konflikten keine Flächenbrände entwickelt sollen, deren Verheerungen leicht die durchaus dramatischen Verheerungen im 16. und 17. Jahrhundert übertreffen könnten. Das Wissen um die Ambivalenz und teilweise auch Abgründigkeit der Religion stellt hohe Anforderungen an eine verantwortliche Religions- und Gesellschaftspolitik, die wohl kaum ohne die Mithilfe der verschiedenen mit der Religion und den Religionen befassten Wissenschaften einschließlich der Theologien bewerkstelligt werden können. Auf der anderen Seite sollte die Tatsache, dass sich hier der Kreis schließt, auch nicht überwertet werden, denn wenn es um Geschichte geht, schließen sich immer irgendwelche Kreise. Wir bleiben bei der Betrachtung der Geschichte auf Konstruktionen angewiesen, die immer auf bestimmte Analogien oder zumindest Stimmigkeiten hinauslaufen, d. h. es liegt bereits im Wesen der Rekonstruktion von Geschichte, auch auf für die Gegenwart bedeutsamen Relevanzen aufmerksam zu sein und diese bei der Betrachtung in den Fokus zu stellen. So viel kann gesagt werden, dass das, was im 17. Jahrhundert noch durchaus recht optimistisch als Lösungsperspektive für eine pazifizierte Gesellschaft die Diskussion beherrschte, heute doch eher als ein Problem bewertet wird. Vor allem durch die von der Soziologie beigesteuerten Differenzierungen haben den mit der Religion gegebenen Problemhorizont eklatant ausgeweitet, sodass uns alle eindimensionalen Erklärungen und glatten Lösungen aus der Hand geschlagen sind. Es gibt im Grunde keinen gesicherten Basisbestand an konsensfähigem Wissen. Das ist gewiss im Blick auf die Handlungsfähigkeit ein gravierender Nachteil, im Blick auf den theoretischen Umgang mit der Religion kann es auch ein großer Vorteil sein, weil auf diese Weise jedes Konzept in die Pflicht genommen bleibt, seine Evidenzen und Begründungsstrategien darzulegen. Bei einem so sensiblen Gegenstand, wie es die Religion ist, kann die jeweils zu fordernde Sorgsamkeit, aber auch die zu wahrende Nüchternheit niemals anspruchsvoll genug sein. Wenn auch hier gilt, dass weniger manchmal mehr sein kann, so wird damit gerade unterstrichen, dass es ja keineswegs nichts ist, was es hier zu sagen und zu bedenken gibt. Es steht nicht zu erwarten, dass sich diese Situation grundlegend ändern wird. ______________ Wie anders sollte ein Arbeitsbuch zur Religion und Religionskritik enden als mit einem Doppelpunkt. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich dem von mir herausgegebenen Buch Religionskritik in der Neuzeit das folgende Zitat von Protagoras vorangestellt: Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, dass es sie gibt, noch dass es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben; denn vieles hindert ein Wissen darüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens.

Wenn es nun zum Abschluss dieses Buches wiederum herangezogen wird, so soll damit unterstrichen werden, das wir weit davon entfernt sind, mit der Frage nach der

326 § 8 Die Religion und die Religionen

Religion zu einem befriedigenden Resultat gekommen zu sein. Es gehört zu dem Rezeptionsschicksal solenner Worte, dass sie in sehr unterschiedliche Richtung verstanden werden können. Die vielen Disziplinen, die sich je auf ihre Weise mit der Religion beschäftigen, werden von dieser Feststellung des Protagoras gewiss auf recht unterschiedliche Gedanken gebracht. Auch die Theologie wird nicht einfach abwinken können, weil sie doch in besonderer Weise von der Offenbarung belehrt sei. Möglicherweise wird sie sich gegen die Dunkelheit der Sache zur Wehr setzen und zugleich wird sie einräumen müssen, dass auch das ihr leuchtende Licht ein Geheimnis bleibt, das nicht nur wegen der Kürze des menschlichen Lebens verschlossen bleibt, sondern unter den Bedingungen der Zeit seinem Wesen nach nicht wirklich ergründet werden kann, ohne dabei aufgelöst zu werden. Auch wenn es aus den unterschiedlichen Perspektiven durchaus viel über die Religion zu sagen gibt, so bleibt doch alles, was es zu sagen gibt, in der Klammer der Verlegenheit des Protagoras – und zwar nicht zur Resignation, sondern zur Ernüchterung. Die Religion wird uns als ebenso herausforderndes wie umstrittenes und sich immer wieder neu stellendes Thema erhalten bleiben.

Ausgewählte Literatur

Die hier aufgeführte Literatur wird in den Anmerkungen nur mit Kurztiteln zitiert. P. Antes / D. Pahnke (Hg.), Die Religion von Oberschichten. Religion, Profession und Intellektualismus, Marburg 1989 U. Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003 –, Was ist Religion?, in: ZThK 93 (1996), 538–560 R. N. Bellah, Die Religion und die Legitimation der amerikanischen Republik, in: H. Kleger / A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, 42–63 –, Zivilreligion in Amerika, in: H. Kleger / A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, 19–41 R. Bernhardt (Hg.), Horizontüberschreitung. Die Pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 1991 U. Bianchi (Hg.), The Notion of „Religion“ in Comparative Research, Rom 1994 H. Breit / K.-D. Nörenberg (Hg.), Religionskritik als theologische Herausforderung (TEH 170), München 1972 S. Bruce (Hg.), Religions and Modernization. Sociologists and Historians debate the Secularization Theses, Oxford, 1992 H. Bürkle, Einführung in die Theologie der Religionen, Darmstadt 1977 B. Casper, Wesen und Grenzen der Religionskritik. Feuerbach – Marx – Freud, Würzburg 1974 W. A. Christian, Meaning and Truth in Religion, Princeton 1964 C. Colpe, Theologie, Ideologie, Religionswissenschaft. Demonstrationen ihrer Unterscheidung (TB 68), München 1980 E. Dahl (Hg.), Brauchen wir Gott? Moderne Texte zur Religionskritik, Stuttgart 2005 K.-W. Dahm / V. Drehsen / G. Kehrer, Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozess sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975 – / N. Luhmann / D. Stoodt (Hg.), Religion – System und Sozialisation, Darmstadt/Neuwied 1972 K.-F. Daiber, Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1995 – / Th. Luckmann (Hg.), Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, München 1983 I. U. Dalferth / H.-P. Großhans (Hg.), Kritik der Religion, Tübingen 2006 – / Ph. Stoellger (Hg.), Hermeneutik der Religion, Tübingen 2007 Chr. Danz / F. Hermanni (Hg.), Wahrheitsansprüche der Religionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006 – / U. H. J. Körtner (Hg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005

328 Ausgewählte Literatur R. Döbert, Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme, Frankfurt/M. 1973 V. Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche?, Gütersloh 1994 – / W. Gräb / B. Weyel (Hg.), Kompendium Religionstheorie (UTB 2705), Göttingen 2005 – / W. Sparn (Hg.), Im Schmelztiegel der Religionen. Konturen des modernen Synkretismus, Gütersloh 1996 P. Eicher, Bürgerliche Religion. Eine theologische Kritik, München 1983 Chr. Elsas (Hg.), Religion. Ein Jahrhundert theologischer, philosophischer, soziologischer und psychologischer Interpretationsansätze (TB 56), München 1975 R. Faber (Hg.), Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997 E. Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs, Bd. I–IV (FKDG 36, 70, 79, 91), Göttingen 1986, 1997, 2001, 2007 – (Hg.), Streitfall Religion. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs, Münster 2000 A. Feldtkeller, Theologie und Religion. Eine Wissenschaft in ihrem Zusammenhang, Leipzig 2002 –, Warum denn Religion? Eine Begründung, Gütersloh 2006 K. Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, Gütersloh 1996 – / A. Herlth / K. P. Strohmeier (Hg.), Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung, Freiburg 1997 W. Gephart / H. Waldenfels (Hg.), Religion und Identität (stw 1411), Frankfurt/M. 1999 B. Gladigow / H. G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983 K. Goldammer, Die Formenwelt des Religiösen. Grundriß der systematischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1960 H. Gollwitzer, Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, Hamburg 51974 A. Grabner-Haider, Vernunft und Religion. Ansätze einer analytischen Religionsphilosophie, Graz/Wien/Köln 1978 W. Gräb (Hg.), Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh 1999 – / L. Charbonnier (Hg.), Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive, Münster 2008 F. W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 42007 K. Gründer / K. H. Rengstorf (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1989 H.-M. Gutmann / C. Gutwald (Hg.), Religiöse Wellness. Seelenheil heute, München 2005 A. Hahn, Religion und Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1974 Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, i. Auftr. der Kirchenleitung der VELKD hg. v. H. Krech / M. Kleiminger, 6., überarb. u. erw. Aufl., Gütersloh 2006 H.-P. Hasenfratz, Religion – was ist das? Lebensorientierung und andere Wirklichkeit, Freiburg i. Br. 2002 H.-M. Haußig, Der Religionsbegriff in den Religionen. Studien zum Selbst- und Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, Berlin/Bodenheim 1999 C. Henning / E. Nestler (Hg.), Religion und Religiosität zwischen Theologie und Psychologie, Frankfurt/M. u. a. 1998

Ausgewählte Literatur 329

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Ausgewählte Literatur 331

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Abkürzungen Die verwendeten Abkürzungen folgen – soweit wie möglich – der Theologischen Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, Berlin / New York 1994. BEvTh DBW EdF EK EvTh FKDG HUWJK KD MEW NZSTh ÖR PhB stw TB TEH ThQ ThSt TRE TRT TzT UTB WA WdF ZDTh ZfR ZThK ZZ

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