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German Pages 416 Year 2011
Religion und Gesundheit
Theophrastus Paracelsus Studien Herausgegeben von der Theophrastus-Stiftung
Wissenschaftlicher Beirat Peter Dinzelbacher · Bernhard Haage · Werner Gerabek
De Gruyter
Religion und Gesundheit Der heilkundliche Diskurs im 16. Jahrhundert Herausgegeben von
Albrecht Classen
De Gruyter
ISBN 978-3-11-025940-7 e-ISBN 978-3-11-025941-4 ISSN 1868-274X
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung Albrecht Classen ....................................................................................................... 1 Krankheit, Sterben und Tod im frühen 16. Jahrhundert Johannes Grabmayer ................................................................................................ 49 Theophrastus von Hohenheim genannt Paracelsus (1493–1541) und die Gesundheit: Versuch einer Analyse Jean-Michel Rietsch ................................................................................................. 79 Paracelsus und die Magie der Natur Heinz Schott ........................................................................................................... 99 Paracelsus und die Quellen seiner medizinischen Alchemie Urs Leo Gantenbein ..............................................................................................113 Im Spannungsfeld von Medizin, Politik, Religion und Wirtschaft: Heinrich Stromer von Auerbach (1476–1542) Ingrid Kästner .......................................................................................................165 Denn Gott hat die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben. – Das Pest-Motiv im Traktat und in der Dichtung des 16. Jahrhunderts von Luther, Zwingli u.a. Wolfgang Beutin ....................................................................................................183 Die Fehler und Irrtümer der Ärzte – Paracelsus’ Kritik und ihr medizinethisches Potenzial Mariacarla Gadebusch Bondio ...............................................................................215
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Inhalt
Die Figur des Arztes in der deutschen und europäischen Literatur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, speziell im Hinblick auf Paracelsus’ Lehren über die rechte Ausbildung zum Arzt Albrecht Classen ...................................................................................................231 Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“. Sünden als Ursache von Krankheiten vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit Matthias Vollmer .................................................................................................261 Zwischen Physiologie, Philosophie und Theologie: Die Lehre von den „spiritus” im 16. Jahrhundert Jürgen Helm ..........................................................................................................287 Balneologisches Wissen zwischen Antike und früher Neuzeit Werner Heinz .......................................................................................................303 Wahn und Wahnsinn im 16. Jahrhundert. Nebst einem Blick auf die Behandlung psychischer Störungen bei Paracelsus Peter Mario Kreuter ...............................................................................................323 Living the Long Life: Physical and Spiritual Health in Two Early Paracelsian Tracts Thomas Willard ....................................................................................................347 Mystiker und Wahnsinnige, eine Beängstigung der Philosophie. Die Ausgrenzung a-rationaler Erkenntnisformen als Methode Andreas Brenner ...................................................................................................381 Autorenverzeichnis ...........................................................................................397 Register ...............................................................................................................407
Einleitung Albrecht Classen
Bereits den Römern war überaus deutlich bewusst, dass körperliche Gesundheit nicht bloß als medizinisches Phänomen, sondern ganz entscheidend als Ausdruck einer inneren, psychischen und physischen Balance anzusehen sei, was wohl am besten in der damals so reich praktizierten Bäderkultur realisiert worden ist, für die allerdings kaum theoretische Schriften vorliegen.1 Daher ihre Maxime: mens sana in corpore sano. In einem ganz anderen Kontext hat dies jüngst eine amerikanische Journalistin formuliert, die über Untersuchungen berichtete, wonach diejenigen Menschen, die von einem großen Kreis an Freunden umgeben sind, generell dazu tendieren, länger und gesünder zu leben.2 Medikamente und medizinische Betreuung setzen dann effektiv ein, wenn dem Menschen die notwendige pharmako-chemische Balance abhandengekommen ist und er/sie sich nicht mehr selbst helfen oder gesunden kann, oder wenn Viren und Bakterien das eigene Immunsystem überwältigen, mal ganz abgesehen von Verletzungen, Verwundungen oder normalen Alterungsprozessen. Was Gesundheit, was Krankheit wirklich bedeuten, ist damit aber keineswegs so eindeutig zum Ausdruck gebracht, vielmehr erweisen sich beide Phänomene als Aspekte eines viel größeren geistesgeschichtlichen, medizinischen, biologischen, ethischen, moralischen und philosophischen Diskurses durch alle Zeiten hinweg, der manchmal stärker in Richtung materialistische Betrachtungsweise, manchmal stärker in Richtung religiösspiritualistische Perspektive hinsichtlich des Körpers ausschlägt.3 _____________ 1 2
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Siehe den Beitrag von Werner Heinz im vorliegenden Band. Tara Parker-Pope: „What are Friends for? A Longer Life”. In: The New York Times, 20. April 2009, online: http://www.nytimes.com/2009/04/21/health/21well.html (letzter Zugriff am 13.08.2010). Eine gedruckte Fassung erschien in der Ausgabe vom 21. April 2009, S. D1. Vgl. dazu auch die Aufsätze in Mystik und Natur: Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart. Hg. von Peter Dinzelbacher. Berlin und New York 2009 (Theophrastus Paracelsus Studien, 1). Heinz Schott: „Blinder Fleck oder Projektionsfigur? Paracelsus und der medizinische Pluralismus heute”. In: Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit: Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen. Hg. von Albrecht Classen. Berlin und New York 2010 (Theophrastus Paracelsus Studien, 2), S. 217–228.
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Albrecht Classen
Wir empfinden uns häufig eigentlich erst dann unter ganz bestimmten Umständen als krank, wenn die Kriterien, mit denen wir kulturhistorisch vertraut sind, dies so bestätigen oder gar erlauben. Die jüngste Forschung hat dies anhand der unterschiedlichen Herangehensweisen zur medizinischen Betreuung gerade unter Zuwanderern/Immigranten festgestellt, für die ein Krankheitsbild oftmals ganz anders codiert ist als dasjenige, das im Westen dominiert.4 Damit soll freilich keineswegs gesagt sein, dass wir uns Krankheit einbilden. Vielmehr geht es darum wahrzunehmen, dass wir medizinische Konditionen und Erfahrungen im menschlichen Leben stets unter dem Blickwinkel von Erwartungshaltungen und einem System von Emotionen wahrnehmen und damit entsprechend bewerten. Es geht also nicht darum, ob wir krank sind, sondern darum, wie wir unsere Krankheit empfinden, welchen Stellenwert wir ihr einräumen und wie wir individuell damit umgehen. Genauso betrifft dies natürlich unsere Gesundheit, ja überhaupt unsere Befindlichkeit in physischer und psychischer Hinsicht, denn unsere Einstellung zu uns selbst spielt eine sehr erhebliche Rolle auf diesem Gebiet, wie die jüngere Forschung erneut wahrzunehmen beginnt, während man im Mittelalter und in der Frühneuzeit längst von diesen Annahmen, damals meistens religiös geprägt, tief überzeugt ausgegangen war.5 Nicht von ungefähr hat die katholische Kirche seit jeher die Einsicht verfolgt, mittels Buße und Sündenerlass nach der Absolution aufgrund entsprechender Reue dem Menschen Erleichterung seiner Seele zu verschaffen, was insgesamt auch die physische Kondition nachhaltig beeinflusste. Glückliche Menschen werden weniger krank!6 Dazu gehört aber auch ganz wesentlich, wie die Gesellschaft bestimmte Krankheiten beurteilt, kranke Menschen bewertet, und ob sie sie aner_____________ 4
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Soziale Konstruktionen von Gesundheit: wissenschaftliche und alltagspraktische Gesundheitskonzepte, hg. Reinhard Gawatz. Ulm 1993; Manfred Hielen: „Kulturell geprägte Gesundheitskonzepte.” In: Kreis Unna, Der Landrat, Fachbereich Arbeit und Soziales, Koordinierungsstelle Altenarbeit: Modellprojekt „Integration älterer Migrantinnen und Migranten”: Schaffung neuer integrationsfördernder Strukturen zur Verbesserung der Lebenssituation. Unna 2003, S. 181–195; Rebecca Niebler: „Der Einfluss der Kultur auf subjektive Gesundheitskonzepte am Beispiel von deutschen und türkischen Erwachsenen”. Lüneburg, Dipl.-Arbeit 2005. Vgl. dazu die Beiträge in: Anthropology and Public Health: Bridging the Differences in Culture and Society, ed. Robert A. Hahn and Marcia C. Inhorn. New York und Oxford 2009; Elizabeth Ettorre, Culture, Bodies and the Sociology of Health. Farnham, UK, 2010. Gesundheitskonzepte im Wandel: Geschichte, Ethik und Gesellschaft: Gesundheit im Wandel: Politikum - Ware - Religionsersatz? 13. bis 15. Oktober 2006 in der Katholischen Akademie Freiburg, Hg. Daniel Schäfer. Stuttgart 2008 (Geschichte und Philosophie der Medizin, 6); Gesundheit - Religion - Spiritualität : Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze. Hrsg. Constantin Klein, Hendrik Berth und Friedrich Balck. Weinheim 2010 (Gesundheitsforschung). Peter Kaiser: Glück und Gesundheit durch Psychologie? Konzepte, Entwürfe, Utopien. Weinheim 1986.
Einleitung
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kennt oder ins Abseits relegiert. Was ist der Unterschied zwischen einer wahren Mystikerin und einer Geisteskranken (früher sagte man dazu: vom Teufel oder bösen Geist besessen)? Was war der Unterschied zwischen Hildegard von Bingen (1098–1179) und Margareta von Porète (gest. 1310)? Beide verfassten großartige Werke, aber die erste galt als neue göttlich inspirierte Prophetin/Mystikerin, die andere wurde als Ketzerin bzw. Häretikerin verbrannt. Kann man einen schizophrenen Künstler wirklich noch ernst nehmen? Sind wir gut beraten damit, solche Individuen zu dämonisieren oder zu romantisieren? Vincent van Gogh (1853–1890) wurde während seiner Zeit belächelt, verurteilt, verfolgt und ins Abseits gestellt, heute aber sehen wir ihn als einen der größten Künstler aller Zeiten. Genauso schwierig erweist sich die Frage nach kranken Komponisten oder Musikern, denn wie wären deren Schöpfungen heute zu beurteilen, wenn sie ‘bloß’ das Resultat von krankhaften Visionen oder Inspirationen gewesen sein mögen? Aber spielt dies für die Bewertung von ihren Symphonien o.Ä. überhaupt eine Rolle? Wie sollen wir, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen, die Kunstwerke von vermeintlich wahnsinnigen Malern oder Bildhauern bewerten? Spielt der Geisteszustand eines Künstlers überhaupt eine Rolle für die ästhetische oder philosophische Beurteilung? Wohl kaum, aber ein gewisser Rest Unsicherheit bleibt doch immer bestehen, weil wir in unserer rationalen Weltsicht einfach unsicher werden, manchmal sogar von Angst erfüllt werden, wenn wir mit Ausdrucksformen der Irrationalität oder Spiritualität konfrontiert werden.7 Wie auch immer die Antwort ausfallen wird, wir bewegen uns auf jeden Fall erneut im Grenzgebiet von Medizin und Kunst, Krankheit und Genialität, Wahnsinn und Rationalität, denn Kunst, Musik oder Literatur sind eigentlich gar nicht denkbar ohne eine gewisse Eingebung, die sich nicht rational erklären lässt, ohne dass wir hier auf eine religiöse Kausalität zurückgreifen müssten.8 _____________ 7
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Sander L. Gilman: Wahnsinn, Text und Kontext: die historischen Wechselbeziehungen der Literatur, Kunst und Psychiatrie. Frankfurt a. M. 1981 (Literatur & Psychologie, 8); Gerd Presler: L’ art brut: Kunst zwischen Genialität und Wahnsinn. Köln 1981; Karl Stockreiter: Schöner Wahnsinn: Beiträge zu Psychoanalyse und Kunst. Wien 1998; Wahrheit ist was uns verbindet: Philosophie, Kunst, Krankheit, hrsg. Matthias Bormuth und Monica MeyerBohlen. Bremen 2008; Jörg Völlnagel: “Melancholie: Genie und Wahnsinn in der Kunst”. In: Museumsjournal 20 (2006), S. 42–47. Ralph Driever: Krankheit und Gesundheit in der Kunst: der ästhetische Ausdruck als Lebens- und Zeitdiagnose. Essen 1989; Philipp Sandblom: Kreativität und Krankheit: vom Einfluss körperlicher und seelischer Leiden auf Literatur, Kunst und Musik. Berlin und New York 1990. Siehe dazu jetzt die Beiträge zu: Krankheiten großer Musiker und Musikerinnen: Reflexionen am Schnittpunkt von Musikwissenschaft und Medizin. Hrsg. von Eckart Altenmüller und Susanne Rode-Bryemann. Hildesheim, Zürich und New York 2009 (Ligaturen - Musikwissenschaftliches Jahrbuch der Hochschule für Musik und Thea-
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Albrecht Classen
Welchen medico-psychologischen oder sogar pharmakologischen Einfluss üben denn gute Freunde auf das körperliche Wohlbefinden eines Individuums aus? Dass der Mensch nicht gut ohne Freunde oder Partner, d.h. ohne ein stabiles soziales Umfeld auskommt, braucht gar nicht im Einzelnen belegt zu werden, verdient aber zum Einstieg in unser Thema deutlich hervorgehoben zu werden.9 Francis Bacon (1561–1626) kommentierte diesbezüglich in seinem Essayes or Counsels, Civill and Morall von 1597, eines der wichtigsten Konsequenzen wahrhafter Freundschaft „is the Ease and Discharge of the Fulnesse and Swellings of the Heart, which Passions of all kinds doe cause and induce. We know Diseases of Stoppings, and Suffocations, are the most dangerous in the body; And it is not much otherwise in the Minde.”10 Krankheit und Gesundheit seien also, wie er bereits beobachtete, keineswegs allein physiologische Phänomene, sondern vielmehr das Ergebnis von zahllosen psycho-mentalen und physiologischen Voraussetzungen im Leben – eine Einsicht, die ebenso weitreichendes Echo im Werk von Paracelsus findet wie auch in generellen Lebensweisheiten heutiger Tage, von medizinischen Reflexionen darüber hier ganz zu schweigen. Die Debatte um den Placeboeffekt klingt in der Gegenwart erstaunlicherweise nicht ab, sondern gewinnt vielmehr an Virulenz und sogar an wissenschaftlicher Solidität, wie Jana Schlütter jüngst in der Tageszeitung Die Welt zum Ausdruck bringt, die über ein neu veröffentlichtes 150seitiges Kompendium der Bundesärztekammer berichtet: „Der Nutzen jedes Medikaments bestehe aus zwei Teilen: dem pharmakologischen Wirkstoff (Verum = das Wahre) und der Erwartung, dass es helfen wird (Placebo = Ich werde gefallen). Die im Gehirn ausgeschütteten Botenstoffe entfalten ihre Wirkung im ganzen Körper, ein Medikament kann nur im Konzert mit ihnen spielen. Wie groß der jeweilige Anteil ist, variiert je nach Krankheit, Patient und Arzt.” Das Phänomen wird nun so erklärt: „Was dank Placebo verschwindet, ist nicht bloß „eingebildet“. Auch die Persönlichkeitsstruktur der Patienten ist unerheblich. Vielmehr liegen dem scheinbar mysteriösen Effekt Mechanismen zugrunde, die pharmakologisch unterdrückt werden können. Wer nach einer OP Naloxon bekommt, dem kann kein Placebo helfen. Der Wirkstoff blockiert die Opioid_____________
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ter Hannover, 4). Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Brenner in diesem Band. Siehe ebenso die Beiträge in: Gesundheit und Krankheit bei Paracelsus. Wien 2000 (Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung, 34); Arzt, Patient und Krankheit in der Kunst, Bd. 1, hg. Albrecht Scholz. Dresden 1989; weitere Bände seitdem. Siehe dazu die Beiträge in: Friendship in the Middle Ages and Early Modern Time, ed. Albrecht Classen and Marilyn Sandidge. Berlin und New York (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture, 6), demnächst im Druck. Francis Bacon, The Essayes or Counsels, Civill and Morall, ed. Michael Kiernan. Oxford 2006 (orig. 1985) (The Oxford Francis Bacon, 25), S. 81.
Einleitung
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Rezeptoren im Gehirn. Wenn der Körper nach einer Spritze mit Salzlösung erwartungsfroh die Opiat-Produktion ankurbelt, laufen diese ins Leere. Sie können nicht an die entsprechenden Rezeptoren andocken, die Schmerzen bleiben. Wo die Rezeptoren sitzen, die beim Placeboeffekt eine Rolle spielen, konnten Forscher mit dem Bildgebungsverfahren PET (Positronen-Emissions-Tomografie) nachweisen”.11 Dass dieses Thema sowohl in der medizinischen Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit extrem umstritten ist, braucht nicht eigens erklärt zu werden. Aber gerade deswegen verdient es, von vielerlei Perspektiven aus immer wieder neu beleuchtet zu werden. Medizinhistorische Aspekte gewinnen hierbei ohne Zweifel große Beachtung, ohne dass damit notwendigerweise etwas Definitives zum Placeboeffekt auszusagen wäre. Zweifellos dürfte es aber zutreffen, dass die Gesundheit des menschlichen Körpers nicht allein auf günstige chemo-medizinische Bedingungen oder bakteriologische Verhältnisse zurückzuführen ist. Vielmehr spielen religiöse und psychologische Kriterien eine ganz gewaltige Rolle, wie uns sowohl der Alltag als auch die Kultur- und Religionsge_____________ 11
Siehe Welt Online (24.07.2010): http://www.welt.de/gesundheit/article8603525/Aerzte-greifen-immer-oefter-zu-PlaceboMedikamenten.html. Eine Kurzfassung des Kompendiums findet sich jetzt in der jüngsten Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/StellPlacebo20101.pdf (Stellungnahme „Placebo in der Medizin“ von Claudia Witt und Stephan Zipfel). Sie gelangen zu dem Endergebnis: „Da der Placeboeffekt auch bei jeder, auch bei einer Standardtherapie auftritt, hält es die Arbeitsgruppe für absolut notwendig und dringlich, Ärztinnen und Ärzten bereits in der Ausbildung sowie in der Fort- und Weiterbildung Kenntnisse der Placeboforschung zu vermitteln, um Arzneimittelwirkungen zu maximieren, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten zu verringern und Kosten im Gesundheitswesen zu sparen.” Zur Unterstützung ihrer Thesen zitieren sie sogar Hippokrates (ca. 460–ca. 370): „Der Arzt muss nicht nur bereit sein, selber seine Pflicht zu tun, er muss sich auch die Mitwirkung des Kranken, der Gehilfen und der Umstände sichern“. Siehe dazu das Interview mit Robert Jütte: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=suche&p=placebo&id=77600(letzter Zugriff am 13.08.2010). Darüber berichten mittlerweile auch andere überregionale Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.08.2010, Hildegard Kaulen: „Placeboeffekt: Kein Hirngespinst”, online jetzt unter: http://www.faz.net/s/Rub7F74ED2FDF2B439794CC2D664921E7FF/Doc~EACC1199 B62FB4A5F825E138BAA5D09C1~ATpl~Ecommon~Scontent.html (letzter Zugriff am 13.08.2010). Dort wird auch Robert Jütte folgendermaßen zitiert: „Es sei an der Zeit, die bahnbrechenden Erkenntnisse der Placeboforschung in den therapeutischen Alltag zu integrieren und für die Optimierung der Standardtherapien zu verwenden, sagte Robert Jütte von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart, der die Federführung bei der Erarbeitung der Stellungnahme hatte, im Gespräch mit dieser Zeitung. Ein durch Vertrauen ausgelöster Placeboeffekt könne erwünschte Arzneimittelwirkungen maximieren, unerwünschte Wirkungen reduzieren und zur effizienteren Nutzung der finanziellen Ressourcen im Gesundheitswesen beitragen, so der Medizinhistoriker weiter. Auch die evidenzbasierte Medizin sollte auf dieses Potential zurückgreifen.”
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schichte eindeutig vor Augen führen. Wie dies alles am Ende auszuloten sein wird, lässt sich noch lange nicht eindeutig abschätzen, wenn denn jemals zur vollständigen Zufriedenheit seitens der wissenschaftlichen Medizin, aber wir stehen offensichtlich mitten in einem Paradigmenwechsel, ohne dass bereits feststehen würde, welches neue Paradigma sich letztlich durchzusetzen mag. Die Zahl von einschlägigen Webseiten, wissenschaftlichen Studien oder parawissenschaftlichen Experimenten ist Legion, und fast jeder Mensch scheint auf diesem Gebiet über eine eigene Meinung zu verfügen, ohne dass sich wirklich absolut überzeugende Argumente für oder gegen die Homöopathie bzw. Placebomedikamente bisher durchgesetzt hätten. Die emotionale Heftigkeit, mit der zahllose Menschen auf Berichte über placebo-Heilungen reagieren, verrät allerdings, wie viel Unsicherheit und sogar Angst vorherrschen bzw. mit welchem Autoritätsglauben man gerne die sogenannte objektive medizinische und pharmazeutische Wissenschaft verehrt, der man, typisch besonders für das 20. und 21. Jahrhundert, immer noch fast vollkommenes Vertrauen entgegenbringt, auch wenn gerade die meisten Kritiker von Homöopathie u.dgl.m. am wenigsten von den Methoden, Praktiken und theoretischen Grundlagen jener Alternativwissenschaft verstehen. Wunderheilungen hat es schon immer gegeben; die Geschichte der christlichen Kirche – von anderen Kirchen bzw. Religionen hier mal zu schweigen – ist gefüllt mit durchaus vertrauenswürdigen Berichten über Heilige, Wunder und Mirakel, die sich z.B. laut dem Vatikan selbst heute noch beweisen lassen; siehe z.B. die immer wieder vorkommenden ganz offiziellen Heiligsprechungen. Die Geschichte dieser Art von Glauben an die geradezu göttliche Macht von Heiligen, erstreckt sich von der Spätantike über das Mittelalter und die Frühneuzeit und von dort eigentlich bis auf heute.12 Die ungeheure religiös-psychologische Rolle der Jungfrau Maria als Retterin in allen möglichen Situationen, als Hilfestellerin in schwierigen oder hoffnungslos scheinenden Fällen und als Wunderheilerin seit dem Mittelalter bestätigt diesen Aspekt, ohne dass wir ihn hier weiter ausführen müssten, denn, wie es im biblischen Sprichwort so treffend _____________ 12
Die Zahl einschlägiger Publikationen sowohl populärwissenschaftlicher als auch seriöswissenschaftlicher Art, von religiöser Literatur ganz zu schweigen, ist Legende, siehe aber Theo Löbsach: Wunder, Wahn und Wirklichkeit. Naturwissenschaft und Glaube. München 1976; Jean Guitton und Jean-Jacques Antie: Les pouvoirs mystérieux de la foi: signes et merveilles. Paris 1994 (Presses Pocket, 3314); Andreas Beck: Wunderheilungen in der Medizin? Ein Versuch der Klärung. Konstanz 2004; Gabriela Signori: Wunder: eine historische Einführung. Frankfurt a. M. und New York 2007 (Historische Einführungen, 2); Karl-Heinz Leven: Geschichte der Medizin: von der Antike bis zur Gegenwart. München 2008.
Einleitung
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lautet: der Glaube versetzt Berge (1. Kor. 13, 9).13 Anrufung von Heiligen oder Pilgerschaft haben ebenfalls über die Zeiten hinweg größte Bedeutung gespielt, ob tatsächlich mit medizinischem Erfolg oder nicht, sei hier dahingestellt. Entscheidend ist vielmehr immer gewesen, dass unzählbar viele Menschen daran geglaubt haben und entsprechende Aktivitäten entwickelten, sei es, dass sie diese Pilgerorte persönlich aufsuchten, sei es, dass sie die erwarteten Opfer ablegten, beteten, Kerzen anzündeten, für Messen bezahlten etc.,14 und dies seit dem Spätmittelalter in einem wachsenden Ausmaß.15 Aber genauso gibt es heftige Opposition seitens der Schulmedizin, die ebenso viele Scharlatanerien hat aufdecken können, wie sie auch mit solchen Fällen konfrontiert worden ist, die sie selbst nicht hat zu erklären vermocht. Wir dringen zwar immer tiefer in die psychischen Strukturen des Menschen ein, wir sind sogar in der Lage, immer mehr pharmakologischchemische Erklärungen für Krankheitsfälle zu entwickeln, aber die Fülle an Heilungsphänomenen, vor denen wir etwas hilflos stehen, weil sie Wundern gleichkommen, erweist sich doch immer wieder als völlig unverständlich, verblüffend, manchmal sogar als erschütternd. Immerhin liegen nun eine Menge an Klinikversuchen zu Placebomitteln vor, die statistisch und medizinisch-biologisch-chemisch auswertbar sind. Matthias Breidert und K. Hofbauer fassen die gegenwärtig weitgehend vorherrschenden Forschungsmeinungen in ihrer Literaturübersicht wie folgt zusammen: The placebo effect varies in strength for different indications. Two retrospective analyses of a total of 156 clinical studies showed that, in comparison to nontreatment, the placebo treatment had a significant and effective influence on subjective endpoints but very little on objective continuous endpoints (15, 16). However, one study of hypertensive patients showed that systolic and diastolic blood pressure values were reduced by a placebo, and this was the case both for blood
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Vgl. dazu jetzt Klaus Schreiner: „Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit”. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit: DFGSymposion 2006, hg. Peter Strohschneider. Berlin und New York 2009, S. 844–903. The Church and Healing: Papers Read at the Twentieth Summer Meeting and the TwentyFirst Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, ed. W. J. Sheils. Oxford 1982 (Studies in Church History, 19); Wolfgang Beinert: Hilft Glaube heilen? Düsseldorf 1985 (Schriften der Katholischen Akademie in Bayern, 119); Jack Grazier: The Power Beyond: In Search of Miraculous Healing. New York 1989; Maria Wittmer-Butsch und Constanze Rendtel: Miracula: Wunderheilungen im Mittelalter: eine historisch-psychologische Annäherung. Köln, Weimar und Wien 2003; vgl. dazu Hilft der Glaube? Heilung auf dem Schnittpunkt zwischen Theologie und Medizin, hrsg. Brigitte Fuchs und Eugen Biser. Münster 2002 (Symposion, 1). Die Literatur wissenschaftlicher und populärer Provenienz darüber hinaus ist wahrhaftig Legende. Siehe dazu den Beitrag von Johannes Grabmayer in diesem Band.
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pressure measurements taken by a physician in a hospital and for automatic ambulatory blood pressure measurements (e3).16
Weiterhin stellen sie fest: Placebos have no effect on either subjective or objective binary (yes/no) endpoints, e.g., relapse after nicotine withdrawal (15, 16). On the other hand, they can be highly effective on subjective continuous endpoints, such as pain. Just telling a patient that they have been given a strong painkiller can have a noticeable analgesic effect. British rheumatologists analyzed 198 placebo-controlled studies of patients with arthritis and showed that a placebo not only reduced pain but also improved function and reduced joint stiffness (17).
Der Placeboeffekt beginnt zu wirken, wie sie konstatieren, wenn es einerseits zu konditionierten Reflexen kommt, andererseits wenn der Patient von bestimmten Erwartungshaltungen geprägt ist: In contrast to the subconscious sequence of events involved in the conditioned reflex, the patient also has a conscious expectation when taking medicine. The doctor’s prescription, the pharmacist’s instructions, the comments of friends and relatives, and any knowledge that the patient him- or herself may have lead to the conscious assumption that improvement should follow. The remarkable thing is how robust this attitude of expectation can be. In one study (e6) that used placebos, the patients were even told openly that they were receiving a tablet without any active substance. The only additional comment that was allowed was that „it had helped many people.” Despite the objective information about the absence of any active ingredient, this positive remark ensured that the placebo administration was effective in 13 out of 14 patients and reduced their subjective symptoms by 41%. The influence of expectations on therapeutic effects becomes especially clear when drugs or placebos are studied in an „open-hidden paradigm”, i.e., with and without the patients’ being aware of their administration (5).
Zu den bekannten, immer wieder nachgewiesenen Effekten gehören die folgenden: It has been shown, for example, that the color, size, and shape of orally administered drugs can have an effect (6). Red, yellow, and orange lead to an expectation that the drug will stimulate, while blue and green produce an expectation of a calming effect (18). Price also has an influence: expensive drugs work better than cheap ones (19). This phenomenon can be demonstrated beyond the placebo example, in other consumer situations. In one recently published study, probands were offered several wines that were described only by their price. In a blind tasting, the same wine did much better when it was described as more expensive (20). Other factors in placebo administration relate to the doctor’s influence on the patient’s attitude to his or her disease. These can be referred to collectively as the „context effect” (21). This includes both objective medical information from the
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aerzteblatt-international, online: http://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?src=search&id=66780&p= (letzter Zugriff am 13.08.2010).
Einleitung
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doctor and his or her personal charisma and the atmosphere within which the treatment takes place. A study of 262 patients with irritable bowel syndrome showed the following (22): the first group (I) was only examined, the second (II) received sham acupuncture, and the third (III) sham acupuncture combined with an empathetic, confidential interview. In group II symptoms improved significantly compared to group I, and in group III the improvement was even greater than in group II, with again a significant difference between groups II and III. On the other hand, no correlation has so far been clearly established between an attitude of positive expectation on the part of the doctor and healing effect, so the proposal of the term „curabo effect” („curabo”: I shall heal) appears to be premature (23).
Den überaus heftig reagierenden Kritikern an Placebomedikamenten kann man entgegenhalten, dass es ja keineswegs um eine entweder-oderEntscheidung geht, sondern nur um das Bemühen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, Methoden oder Strategien, einschließlich Ritualen oder Gesten, Wortmagie (Gebeten), Messen oder Liebesbekundungen dem leidenden Menschen zu helfen. Genau dies ist auch der Schlusstenor des Berichts (Stellungnahme „Placebo in der Medizin“ von Claudia Witt und Stephan Zipfel), der mit einem höchst bedenkenswerten Zitat von Hippokrates endet: „Der Arzt muss nicht nur bereit sein, selber seine Pflicht zu tun, er muss sich auch die Mitwirkung des Kranken, der Gehilfen und der Umstände sichern.” Insoweit sind also auch Medizinhistoriker, Mentalitätshistoriker, Literaturwissenschaftler, Religionswissenschaftler u.a. dazu aufgerufen, das hier angesprochene Thema aus ihrer Perspektive zu beleuchten und zur uns zentral belangenden Fragestellung jeweils historische Belege und Beispiele anzuführen und damit die Diskussion auf höherer Ebene fortzusetzen. Weder die Geisteswissenschaften noch die Medizin können länger noch unabhängig und isoliert voneinander operieren, denn während die eine Seite die physischen Aspekte des menschlichen Lebens untersucht, beschäftigt sich die andere mit den mentalen Strukturen und Gegebenheiten, d.h. auch mit den Wünschen, Ängsten, Hoffnungen und Vorstellungen. Dass die Theologen oder Soziologen etc. ebenfalls eine gewichtige Rolle spielen, versteht sich natürlich von selbst. Beruhigend mag es dann wirken, dass ähnliche wissenschaftliche und religiöse Kämpfe bereits in früheren Jahrhunderten ausgefochten wurden, was uns unmittelbar zu dem berühmt-berüchtigten Arzt Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus, führt. Sein Werk und seine Figur standen erneut auf der dritten Tagung der TheophrastusStiftung in Konstanz vom 19. bis 21. März 2010 mehr oder weniger im Zentrum der Diskussionen, wenngleich diesmal das Themenspektrum um einiges ausgeweitet wurde, ohne den medizinhistorischen Aspekt jemals aus dem Auge zu verlieren. Medizin und Heilung sind immer in einen
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kulturhistorischen Kontext eingebunden, den die nachfolgenden Beiträge auszuleuchten bemüht sind. Hier aber vorläufig noch ein paar Bemerkungen und Hinweise auf einschlägige Beispiele, die das innere Geflecht von Medizin/Heilkunst und Glaube und Ritus verdeutlichen mögen. Je weiter wir in die Geschichte der Medizin hineinschauen, desto mehr stoßen wir auf Praktiken, die mit den heutigen scheinbar kaum noch etwas gemein haben, aber bei genauerer Betrachtung doch beträchtliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Ich denke insbesondere an das erstaunliche Phänomen der Wortmagie bzw. des Zaubers.17 Die althochdeutschen Zaubersprüche belegen, wie sehr man im frühen Mittelalter noch fest davon überzeugt gewesen ist, mittels des menschlichen Wortes Macht über die Materie, also über den Körper gewinnen zu können. Gewiss wurde diese Wortmagie im Laufe der Zeit, vor allem unter dem Einfluss der christlichen Kirche, zunehmend zurückgedrängt, aber gänzlich verschwunden ist das Phänomen bis heute noch nicht, denken wir an die unglaubliche Macht des Gebetes, ganz gleich, auf welche Religion wir uns beziehen mögen.18 Noch im 16. Jahrhundert, also genau zu der Zeit, als Paracelsus ungemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, sowohl negative als auch positive, denken wir an den beträchtlichen Missmut, den er bei vielen seiner medizinischen Kollegen auslöste, gab es zahlreiche pseudowissenschaftliche Publikationen, die den Lesern Selbsthilfemethoden nahelegten, die oftmals mit der uralten Zaubervorstellung verbunden waren. Wie uns jetzt Louise M. Bishop illustriert: Books about healing, already prominent in the vernacular manuscript culture of the fifteenth century, were some of the first books to be printed in the late fifteenth and early sixteenth centuries . . .. William Caxton printed the Governayle of Health in 1490 . . . To acknowledge the piety that the manuscript tradition of vernacular English medicine had invariably included, Caxton’s Governayle advises that the benefits of exercise are not an end in themselves, but should lead to prayer and worship . . . Like Caxton’s Governayle, [Wynkiyn] de Worde’s Gouernall considers Christ’s help necessary for keeping good health. An Ars moriendi, which de Worde also printed in 1506 . . . , invokes Christ as physician to discuss the health of the soul. These and other books about healing from early English printers have a pious cast. Each relies on a mixture of piety and healing to frame the healing text, much as Henry of Lancaster had used Christ as physician for his pious Livre
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Irmgard Hampp: Beschwörung, Segen, Gebet: Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stuttgart 1961 (Veröffentlichungen des Staatlichen Amtes für Denkmalpflege Stuttgart, Reihe C: Volkskunde, 1); Verena Holzmann: „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin . . .“: Formen und Typen altdeutscher Zaubersprüche und Segen. Bern, Berlin et al. 2001 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, 36); Wolfgang Beck: Die Merseburger Zaubersprüche. Wiesbaden 2003 (Imagines Medii Aevi, 16). Albrecht Classen: „Zaubersprüche, Beschwörungen und andere Formen des ‚Aberglaubens’. Kulturhistorische Betrachtungen für den Literatur- und Sprachunterricht.” In: Unterrichtspraxis 29, 2 (1996), S. 231–239.
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de seyntz medicines or as the disease name noli me tanger invokes Mary Magdalene as „leche.”19
Die gesamte Geschichte der Medizin ist durchzogen von einem eigentümlichen Wechselspiel von bedeutungstragenden Worten, Medikamenten und dem Arzt, ohne dass sich wirklich exakte Trennlinien zwischen Magie, Wissenschaft und Medizin ziehen ließen.20 Im Mittelalter dominierte z.B. noch die Vier-Säfte-Theorie, wie sie u.a. von Hildegard von Bingen ausführlich beschrieben wurde und wonach man sich über Jahrhunderte richtete, und dies anscheinend mit recht gutem Erfolg.21 Arnald von Villanova argumentierte, diese Vorstellung weiterentwickelnd, „daß eine gute Beeinflussung der Körpersäfte durch die Arznei die Seele, welche in vielem an ihr körperliches Substrat gebunden ist, zu Werken der Gottes- und Nächstenliebe ermuntern und daher den Menschen für den Himmel vorbereiten kann.”22 Wir stehen zwar mittlerweile sehr weit davon entfernt, haben uns einem völlig anderen Paradigma verschrieben, das ebenfalls recht gut funktioniert. Ob wir jedoch wirklich so ohne Weiteres eine vollkommene Überlegenheitspose einnehmen dürfen, ob nicht jedes medizinische Paradigma einen gewissen relativen Wert für seine jeweilige Zeit besitzt bzw. Erkenntnisse erzielte, die für sich genommen eine eigenständige Wirkung erzielten, scheint doch sehr erwägenswert, womit wir erneut vor dem Phänomen stehen, dass Krankheit in bestimmter Weise ganz entschieden als kulturhistorisch geprägt anzusehen wäre.23 Zustimmend können wir außerdem Bernhard Dietrich Haage zitieren, der in Bezug auf Paracelsus ganz richtig kommentierte: „Der an der Schwelle zur Neuzeit im Mittelalter wurzelnde Architekt seines Hauses der Medizin, jenes umgebauten ganzheitlichen medizinischen Systems, das in den Menschen als Mikrokosmos den Makrokosmos hereinholt, und das durch Sympa_____________ 19 20 21 22
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Louise M. Bishop: Words, Stones, Herbs. The Healing Word in Medieval and Early Modern England. Syracuse, NY, 2007 (Medieval Studies), S. 193. Randell Styers: Making Magic: Religion, Magic, & Science in the Modern World. Oxford und New York 2004. Hildegard von Bingen: Heilkunde: Das Buch von dem Grund und Wesen und der Heilung der Krankheiten. Nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges. Salzburg 1957, S. 112–123. Paul Diepgen: Über den Einfluß der autoritativen Theologie auf die Medizin des Mittelalters. Wiesbaden 1958 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistesund Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1958, Nr. 1), S. 9. Breit dazu Bernhard Dietrich Haage und Wolfgang Wegner, unter Mitarbeit von Gundolf Keil und Helga HaageNaber: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik, 43), S. 177–256. Ingo Wilhelm Müller: Humoralmedizin: physiologische, pathologische und therapeutische Grundlagen der galenistischen Heilkunst. Heidelberg 1993; vgl. dazu Lois N. Magner: A History of Medicine. Boca Raton, FL, et al. 2005; Russell Shorto: Descartes’ Bones: a Skeletal History of the Conflict Between Faith and Reason. New York 2008.
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thien magisch, so wie dies die Signaturenlehre beschreibt, zusammengehalten wird, ist gleichzeitig zwar nicht der Schöpfer, sondern der wirkungsmächtige Prophet chemischer Heilmittel und damit der einflussreichste Beförderer der Chemiatrie, die in die neuzeitliche naturnaturwissenschaftliche Pharmazie mündet.”24 Eines der am heftigsten umstrittenen Themen des 16. Jahrhunderts betraf die Frage danach, ob Heiligenverehrung, Reliquien oder religiöse Rituale tatsächlich eine Wirkkraft besaßen, von Gott explizit geduldet oder sogar eingefordert, worauf dann die entsprechende Heilung z.B. eintrat. Der Ikonoklasmus der Protestanten griff speziell hier ein und hat sich z.B. bis heute gehalten, aber andererseits hat die katholische Kirche mittels der Gegenreformation genau an dieser vermeintlichen Schwachstelle wieder eingesetzt und sehr erstaunliche Erfolge bis in die Gegenwart hinein erzielt. Gleichzeitig trat das geradezu widersprüchliche Phänomen auf, dass die frühmoderne Wissenschaft zunehmend tiefer in die Materie einzudringen vermochte und damit Erkenntnisse erzielte, die die menschlichen Sinne gar nicht mehr nachzuvollziehen oder zu replizieren vermochten. Der Glaube an die Macht Gottes verlagerte sich also, und dies bis heute, zunehmend auf den Glauben (!) an die Wissenschaft.25 Der Mediziner ist zwar nicht mit einem Priester zu verwechseln, kann er/sie sich ja auf ein ständig weiter wachsendes Wissen konkretester Art stützen, das in immer feineren Verästelungen den Spuren des physiomedizinischen Verhaltens unseres Körpers nachgeht. Zugleich wäre es aber ein fataler Irrtum zu meinen, der moderne Mensch habe sich seit dem 16. oder 17. Jahrhundert von der Welt der Magie und Religion abgewendet und sich ganz dem rationalen, naturwissenschaftlichen Denken verschrieben. Der Einfluss der christlichen (und anderer) Kirchen auf den Durchschnittsmenschen mag sich reduziert haben, jedenfalls derjenigen, die die traditionellen großmächtigen Institutionen ausmachten (Katholizismus und Protestantismus), aber dafür ist derjenige von fundamentalistischen, freigeistlichen u.a. erheblich angestiegen. Parallel dazu hat sich die Demokratie nicht vollkommen durchgesetzt, vielmehr tendieren Menschen trotz allem zum dogmatischen Denken und suchen charismatische, von Aura durchdrängte Führerfiguren, die eine messianische Kraft besitzen mögen, den gordischen Knoten der post/modernen Welt zu durch_____________ 24 25
Bernhard Dietrich Haage: „Humanmedizin”. In: ders.: Deutsche Fachliteratur, S. 256. Ich stütze mich hier auf die einleitenden Gedanken zu Restoring the Garden of Eden: Religion, Magic, and Science in the Early Modern West (1450–1800) von Allison P. Coudert. Sie war so freundlich, mir Einblick in ihr Buchmanuskript zu gewähren, das im Herbst 2010 oder im Frühjahr 2011 im Druck erscheinen soll (ABC-CLIO). Ich bin ihr für diese wissenschaftliche Großzügigkeit zu Dank verpflichtet.
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hauen, was auch immer das Problem sein mag, das den einzelnen Menschen quält. Wir würden uns aber gewaltig täuschen, wenn wir davon ausgingen, hierin nur ein modernes Phänomen zu erblicken, denn die inneren Spannungen zwischen Glaube und Naturwissenschaft, zwischen Irrationalität und Rationalität beherrschten ebenso, wenn nicht sogar noch viel mehr, die früheren Jahrhunderte, speziell wenn wir an die Frühneuzeit denken, in der eben auch Paracelsus lebte. Trotz der erstaunlichen Fortschritte im menschlichen Erkenntnisbereich strebte man weiterhin danach, den adamitischen Urzustand wieder zu erreichen, weil man glaubte, die prolapsarische Existenz sei die Perfektion an sich gewesen, die der Mensch durch die Vertreibung aus dem Paradies verloren habe.26 Im Triumphmarsch der modernen Medizin trampelte man aber bemerkenswerterweise nicht vollkommen rücksichtslos über die Leichen der Anhänger von Magie und Religion – man möge mir diese etwas brutale Metaphorik verzeihen –, sondern schlug nur den eigenen Weg ein, der tatsächlich höchst effektiv Erfolge und Erkenntnisse versprach, ohne damit andere Pfade in das Dickicht der menschlichen Existenz zu versperren.27 Mystische Glaubensvorstellungen, Astrologie und die verschiedensten Zweige der Nekromantie haben mutatis mutandis ihr Ansehen behaupten können, und je mehr die modernen technischen Medien (World Wide Web) Fortschritte machen, d.h. sich einfach nur exponentiell ausweiten und entwickeln – was nicht unbedingt, wie viele oberflächlich glauben, mit Progression auch aus ethischer oder moralischer Sicht zu verwechseln wäre – , desto mehr bieten sie auch Raum für genau jene okkulten Bereiche, die wir schon lange für überwunden angesehen hatten.28 In der Tat, die Esoterik blüht, heute fast mehr noch als jemals zuvor, offensichtlich weil die fast alles überwältigende Naturwissenschaft inzwischen von vielen auch als Gefahr angesehen wird, wesentliche Aspekte der humanen Existenz in kultureller, mentalitätsgeschichtlicher und vor allem spiritueller Hinsicht zu unterdrücken oder gar zu beseitigen.29 Aller_____________ 26 27 28 29
Peter Harrison: The Bible: Protestantism and the Rise of Natural Science. Cambridge 1998; id.: The Fall of Man and the Foundations of Science. Cambridge 2007; Jonathan Sheehan, The Enlightenment Bible: Translation, Scholarship, Culture. Princeton, NJ, 2005. John Hope Mason: The Irresistible Diderot. London 1982. Sabine Doering-Manteuffel: Das Okkulte: eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung; von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008. Die Enzyklopädik der Esoterik: Allwissenheitsmythen und universalwissenschaftliche Modelle in der Esoterik der Neuzeit, hrsg. Andreas B. Kilcher und Philipp Theisohn. Paderborn und München 2010; Brigitte Kasch-Schäfer: Alchemie und Magie - Chemie und Naturwissenschaft. München 2010; Manfred Ehmer: Magie im Abendland: ein kulturgeschichtlicher Abriss. Leipzig 2010; Stefan Haag: Liebeskraut und Zauberpflanzen: Mythen,
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dings wäre es zugleich ein Irrtum, die Frühneuzeit global als den universalen Aufbruch hin zu einer naturwissenschaftlich geprägten Welt anzusehen. Weit gefehlt, denn selbst die berühmtesten Wissenschaftler wie Newton und Galilei scheuten sich keineswegs davor, alchemistische Bücher, okkulte Texte u.dgl.m. intensiv zu lesen und eventuell sogar daraus zu lernen. Der Unterschied also zwischen der rationalen Naturwissenschaft und dem Okkultismus war also auch damals keineswegs so klar erkennbar, was wohl am eindringlichsten durch die Figur des berühmtberüchtigten Dr. Johann Faustus literarisch illustriert wurde.30 Nicht von ungefähr aber kommen wir von hier sogleich wieder auf Paracelsus zu sprechen, der als historisch erfassbare Person in seiner Rolle als gelehrter Arzt eindringlich Bestätigung dafür liefert, wie sehr gerade in der Frühneuzeit rationales Wissen und Okkultismus in Wettkampf miteinander gerieten und sich auf lange Sicht hin sogar die Waage hielten. Wie Allison P. Coudert jetzt genau wahrnimmt: „the idea that the Scientific Revolution consisted of the acceptance of the so-called ‚Mechanical Philosophy’, in which all that existed in the material world were atoms or corpuscles in constant motion, has given way to a new view in which atomism, Aristotelianism, and vitalism, together with a panoply of religious, occult, and esoteric theories, are all recognized as contributing to the emergence of modern science as well as reactions against it.”31 _____________
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Aberglauben, heutiges Wissen. Stuttgart 2010. Die Zahl weiterer einschlägiger Arbeiten ist Legende und zeigt somit an, welch ungemeines Interesse an diesem Thema besteht, und dies im 21. Jahrhundert! Man könnte durchaus die These verfechten, dass die Menschen heutzutage umso mehr mythischen bzw. religiös-irrationalen Denkschemata verfallen oder ihnen einfach mehr Glauben schenken, desto mehr die eigene Existenz von hochentwickelter Technologie durchdrungen und beherrscht ist. Mit anderen Worten, je weniger die moderne Rationalität noch in der Lage ist, dem Menschen den Weg hin zu einer harmonischen und glückserfüllten Lebensform zu weisen, desto mehr gewinnen Alternativformen in der Medizin, Politik, Philosophie und Religion an Attraktivität. Siehe dazu auch den Beitrag von Andreas Brenner in diesem Band. Albrecht Classen: „New Knowledge, Disturbing and Attractive: The Faustbuch and the Wagnerbuch as Witnesses of the Early Modern Paradigm Shift”. In: Daphnis 35, 3–4 (2006), S. 515–535. Vgl. id.: The German Volksbuch: A Critical History of a Late-Medieval Genre. Lewiston, Queenston und Lampeter 1995 (Studies in German Language and Literature, 15), S. 213–243. Hier zitiere ich erneut aus der Einleitung zu ihrem Buchmanuskript. Sie verweist u.a. auch auf die folgenden Studien, die für uns ebenfalls von großer Relevanz sind: Jean Céard, La nature et les prodiges: L’insolite au 16e siècle en France. Genf 1977 (Travaux d’humanisme et Renaissance, 158); Stephen Greenblatt: Marvelous Possessions: The Wonder of the New World: Chicago 1991; O. R. Impey und Arthur MacGregor: The Origin of Museums: The Cabinet of Curiosities in Sixteenth and Seventeenth Century Europe. Oxford 1985. Siehe dazu Bronislaw Malinowski und Eva Krafft-Bassermann: Magie, Wissenschaft und Religion und andere Schriften. Orig. 1948. Frankfurt 1973 (Conditio humana); Otto Prokop und Wolf Wimmer: Der moderne Okkultismus: Parapsychologie und Paramedizin: Magie und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1976 (Gustav Fischer Taschenbücher: Medizin);
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Verblüffend mag dann die Einsicht wirken, dass wir uns selbst heute noch keineswegs so weit davon entfernt haben, wenn nicht sogar Magie und Okkultismus, eventuell auch Alchemie und sonstige esoterische Bereiche weiterhin erst recht Einfluss ausüben bzw. viele Anhänger besitzen.32 Kein Wunder, dass auch in der modernen Medizin Rufe danach laut werden, wie bereits oben vermerkt, sich nicht allein auf die materialistische orientierte Naturwissenschaft zu verlassen, sondern ebenfalls psychosomatische Bereiche in den Heilungsprozess mit einzuschließen.33 Im Kontext unserer Betrachtungen bedeutet dies speziell, die Geschichte der Medizin im engen Zusammenhang mit Religion und Magie zu beurteilen und Fragen danach zu stellen, wie die Kultur- und Geistesgeschichte dazu beitragen kann, das heutige bzw. eigentlich zeitlose Spannungsverhältnis zwischen der rationalen Erfassung einerseits unserer natürlichen Umwelt und unseres Körpers und andererseits der spirituellen Dimension unseres Daseins kritisch zu erfassen. Sich allein einem atomistischen Weltverständnis zu überlassen, wie Bertrand Russell argumentierte, und davon auszugehen, menschliche Existenz habe keinen prädeterminierten Sinn, sondern sei alles nur das Ergebnis völlig zufälliger Bedingungen oder Entwicklungen, widerspricht letztlich grundsätzlich dem menschlichen Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung, ob dieses tatsächlich befriedigt werden kann oder nicht. Hier also greifen wir plötzlich den wahren Berechtigungsgrund für die Existenz von Religion und ihren entsprechenden Kirchen, denn beides verspricht den Gläubigen, einen wie auch immer gearteten Zugang zur Metaphysik zu schaffen, was Hoffnung verschafft, ohne die Menschen nicht leben können. Verfolgt man dieses Phänomen zurück bis in die Frühneuzeit, entdeckt man, wie stark die zwei Bereiche von jeher höchst kritisch aufeinan-
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Jean-François Bergier: Zwischen Wahn, Glaube und Wissenschaft: Magie, Astrologie, Alchemie und Wissenschaftsgeschichte. Zürich 1988. Zur Akzeptanz von Magie, Religion und Wissenschaft: ein medizinethnologisches Symposium der Institute für Ethnologie und Anatomie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, hg. Annemarie Fiedermutz-Laun. Münster 2002 (Worte, Werke, Utopien, 17); Serena Roney-Dougal: Wissenschaft und Magie. Orig. 1993. Aus dem Englischen von Dagmar Kreye. Frankfurt a. M. 2000. Vgl. dazu auch Georg Honigmann: Die Geschichte der Heilkunde Magie, Religion, Ethik, Mystik, Philosophie und Wissenschaft; eine historische Einführung in die Medizin - nicht nur - für Studierende, Heilkundige und Ärzte. Orig. 1924. Leipzig 2006. Sherwin B. Nuland: Der Blick unter die Haut: der Weg der Medizin von der Magie zur Wissenschaft - und zurück. München 2002.
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der zugegangen sind oder sich sogar bekämpft haben, ohne dass jemals eine der zwei Seiten einen entscheidenden Sieg davongetragen hätte.34 Trotz aller erstaunlichsten Fortschritte in der Naturwissenschaft und Medizin in den letzten 50 bis 100 Jahren verfolgt eine überwältigende Mehrheit von Menschen auf dem gesamten Globus weiterhin die eine oder die andere Art von Glauben, praktiziert Religion innerhalb eines kirchlichen Rahmens und akzeptiert als wesentlich die spirituelle Dimension ihres Daseins.35 Dementsprechend wird also auch heute noch Krankheit z.B. nicht einfach als ein physiologisches Problem angesehen, sondern wird ebenso unter einem metaphysischen Blickwinkel betrachtet. Wir brauchen uns darüber aber keineswegs zu wundern, denn so weit wir überhaupt in die Geschichte zurückblicken können, spielten sich schon immer Magie/Religion einerseits und Naturwissenschaften/Medizin etc. andererseits gegenseitig in die Hand bzw. tolerierten einander als komplementäre Existenzbereiche.36 Natürlich äußern sich heute viele Menschen fast entsetzt darüber, dass wissenschaftlich geschulte Ärzte überhaupt in Erwägung ziehen könnten, ihnen ein Placebo zu verabreichen, so als ob es sich dabei um verächtliche, völlig kindische Voodoo-Praktiken handelte. Wundern mag es einen schon, welche Berührungsängste die Menschen heutzutage bestimmen. Sie schlucken hemmungslos jegliche Art von Medikamenten, die ihnen von der Autoritätsfigur ‚Arzt’ verschrieben worden ist, ohne wirklich jegliche Ahnung zu haben, welche Chemikalien darin verborgen sind, aber wenn es sich um alternative Heilmethoden handelt, die sich z.T. auf Ritus, Meditation und Performanz stützen, wird sofort der spöttische Ruf laut, hier sei Wahn und Aberglaube im Spiel. _____________ 34 35
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William J. Bouwsma: „Anxiety and the Formation of Early Modern Culture”. In id.: A Usable Past: Essays in European Cultural History. Berkeley und Oxford 1990, S. 157–189; id.: The Waning of the Renaissance, 1550–1640. New Haven, CT, 2000. Eugen Drewermann: Die Seele: zwischen Angst und Vertrauen. Düsseldorf 2007; id.: Im Anfang . . .: die moderne Kosmologie und die Frage nach Gott. Düsseldorf 2002 (Glauben in Freiheit, 3: Religion und Naturwissenschaft, 3); Martin Sieg: Zerstört nicht das Weltall der Worte: exakte Naturwissenschaft und aufgeklärter Glaube. Über die Ganzheit der einzigartigen Wirklichkeit. Münster 2002 (Glauben und Leben, 11); Lothar Hill: Glauben oder Wissen? Der Mensch zwischen Naturgesetz und Gott; Naturwissenschaft, Religion, Spiritualität. Stuttgart 2006. Die Zahl einschlägiger Publikationen ist heute nicht mehr zu überblicken, und es ist kaum noch klar abzuschätzen, wo die wissenschaftliche Methode endet und pseudowissenschaftliche Fabulierkunst beginnt. Heil und Heilung in den Religionen, hrsg. Karl Hoheisel und Hans-Joachim Klimkeit. Wiesbaden 1995 (Sammlung Harrassowitz); aus historischer Sicht siehe Heilkunde und Hochkultur, hrsg. Axel Karenberg und Christian Leitz. 2 Bde. Münster 2000–2002 (Naturwissenschaft, Philosophie, Geschichte, 14, 16). Für die Frühneuzeit siehe Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stuttgart 1985 (Sudhoffs Archiv. Beihefte, 25).
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Gewiss mögen wir den Wissenschaftlern und den entsprechenden Behörden vertrauen, die anscheinend, wenn man sich auf ihre offiziellen Behauptungen verlassen will, die Verlässlichkeit der modernen Medikamente gründlich getestet haben, bevor sie auf dem Markt zugelassen wurden. Überhaupt soll hier keineswegs die Pharmaindustrie angegriffen oder kritisch hinterfragt werden. Entscheidend ist freilich vielmehr, wie sehr der moderne Kranke dazu tendiert, jegliche alternative Behandlungen abzulehnen, es sei denn, es handelt sich um einen verzweifelten oder hoffnungslosen Fall. Und dann kommt es wieder zu jenen berüchtigten oder berühmten Wunderheilungen. Ich möchte hier auch keine Lanze für die Homöopathie o.dgl.m. brechen, aber anerkannt werden müsste schon die Beobachtung, dass Gesundheit nicht nur allein darauf beruht, sich in guter ärztlicher Behandlung zu befinden. Im Englischen heißt es so schön: ‚An apple a day keeps the doctor away’, und entsprechende Sprichwörter finden sich gewiss in den meisten anderen Sprachen ebenso. Wir merken daran, welche Dialektik sich bemerkbar macht, denn einerseits braucht man den Arzt, aber wenn man sich vollkommen auf ihn verlässt, ist man, ebenso wie es im Sprichwort heißt, endgültig verlassen.37 Aus geistes- und mentalitätsgeschichtlicher Sicht darf man bestimmt unbesorgt die Behauptung aufstellen, dass der Mensch schon immer danach gestrebt hat, sich vor Krankheit zu schützen oder seine Gesundheit wiederzuerlangen, wobei viele Methoden zur Verfügung stehen, von denen keine bisher jemals absolute Dominanz erlangt haben. So sehr auch die moderne Medizin heute ein scheinbar totales Übergewicht besitzen mag, und dies in sehr vielen Fällen völlig zu Recht, trifft gleichzeitig keineswegs so einfach zu, dass deswegen Glauben, Spiritualität, Ritus, Magie, Okkultismus, Astrologie etc. völlig zu missachten wären, insoweit als sie weiterhin eine tiefgründige Aussagekraft für viele Menschen bergen und in eigenartiger Weise unter bestimmten Umständen zur Überraschung gerade der wissenschaftlich geschulten Ärzte Wirkung zu zeigen in der Lage sind. Erklärungen, jedenfalls rationaler Art, gibt es dafür nicht. Welche Bedeutung sie für die aktuelle Heilung besitzen mögen, soll aber hier auch gar nicht entschieden werden, handelt es sich ja meistens um eine sehr persönliche Einstellung oder Überzeugung bzw. um eine Glaubenssache. Nur, und dies soll hier im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen, all diese Bereiche, die global recht viele Anhänger besitzen, bestätigen, wie komplex und manchmal sogar widersprüchlich im Laufe der westlichen _____________ 37
Helmut A. Seidl: Medizinische Sprichwörter: Das große Lexikon deutscher Gesundheitsregeln. Darmstadt 2010; siehe Wolfgang Mieder: “An Apple a Day Keeps the Doctor Away”: Traditional and Modern Aspects of English Medical Proverbs. In: Proverbium 8 (1991), S. 77–106.
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Geschichte um das Verständnis der menschlichen Natur und ihre Beziehung zur Metaphysik gerungen worden ist. Weder die Vertreter von Religion noch diejenigen der Naturwissenschaften/Medizin können behaupten, über absolutes und endgültiges Wissen oder sogar Macht zu verfügen. Kein Arzt hat noch je absolut versprechen können, seinen Patienten oder seine Patientin tatsächlich heilen zu können. Die moderne Medizin hat bisher ungeheure Veränderungen weltweit herbeigeführt und kann als ein Segen der Menschheit angesehen werden. Zugleich darf aber auch nicht vergessen werden, wie viele Grenzen es überall gibt und dass das Leben sowieso nicht unendlich weitergehen kann. Wir sterben alle einmal. In der Zwischenzeit jedoch stehen viele Möglichkeiten offen, das eigene Leben angenehm zu gestalten und gesund zu bleiben. Hierfür scheint gerade die komplementäre oder integrative Medizin interessante Antworten bereitzuhalten, auch wenn diese bisher noch nicht genügend wissenschaftlich abgesichert sind, eventuell auch niemals ganz so sicher bewiesen oder verifiziert werden können.38 Hier soll es also um das fundamentale Spannungsverhältnis zwischen Glaube/Spiritualität einerseits und rationalem-naturwissenschaftlichem Denken gehen, wie es sich vor allem im späten Mittelalter und der Frühneuzeit herauszuschälen begann. Es handelt sich also bestimmt nicht um ein strategisches Vorhaben, die alternative oder integrative Medizin, so interessant diese auch sein möge und gerade im Hinblick auf Paracelsus sehr viel auszusagen verspricht, gegen ihre Kritiker zu verteidigen. Die Absicht dieser Einleitung und der nachfolgenden Aufsätze besteht vielmehr darin, die kulturhistorischen Grundlagen der Alternativmedizin aufzuspüren bzw. Einsicht darin zu gewinnen, wie Glaube und Wissenschaft im Mittelalter und in der Frühneuzeit immer noch eng ineinander griffen und nicht ohne die andere Seite ganz zu bestehen vermochten. Die Hoffnung besteht natürlich darin, dass solche Untersuchungen letztlich auch Aussagekraft für unsere eigene Existenz besitzen mögen, denn jeder Mensch muss sich selbst entscheiden, ob er/sie einfach Medikamente schlucken will oder eventuell. auch spirituelle Heilmethoden zu versuchen bereit wäre. Generell dürfte doch zutreffen, dass der-/diejenige, der/die innerlich erfüllt, glücklich und zufrieden ist, weniger für Krankheit anfällig _____________ 38
Siehe dazu die Jerusalem International Conference on Integrative Medicine, 19.–22. Okt. 2010; für eine Ankündigung und weitere Details siehe: http://www.medconvention.com/en/. Sucht man im World Wide Web unter ‚Integrative Medizin’, stößt man auf eine fast unendliche Anzahl von einschlägigen Seiten, Angeboten, Werbungen etc. Am 2. Aug. 2010 bekam ich insgesamt 257000 Hits. Ein guter Einstieg bietet die englischsprachige Seite auf Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Integrative_medicine (letzter Zugriff auf beide Seiten am 13.08.2010).
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zu sein scheint als andere Individuen, deren seelischer Haushalt im metaphorischen Sinne schief hängt.39 Zur Illustration möchte ich hier kurz die Zusammenfassung einer der berühmtesten Versnovellen von ca. 1200 bieten, die die kritischen Fragen einzigartig eindrucksvoll vor Augen führt und bereits damals schon die Konflikte zwischen medizinischer Autorität und Gottesglauben zur Sprache brachte, allerdings am Ende dem religiösen Glauben natürlich den absoluten Ausschlag gab. Hartmann von Aue schuf mit seiner kleinen Erzählung „Der arme Heinrich” von ca. 1200 ein höchst bemerkenswertes literarisches Beispiel für die Macht des Glaubens, der sogar die Lepra zu heilen vermag. Der junge Fürst Heinrich wird eines Tages von dieser Krankheit befallen und sucht verzweifelt weit und breit bei berühmten Ärzten nach Rat und Heilung. In Montpellier winkt man ihn freilich gleich ab, teilt man ihm ja unumwunden mit, „daz er niemer würde erlôst” (V. 178; dass er niemals gesund werden würde). Deprimiert reist er darauf nach Salerno, für damalige Zeiten eine wahrhafte Hochburg der Medizin, wo sogar arabische und hebräische Wissenschaftler tätig sind und, was historisch belegt ist, dort sogar auf diesem Wege mit den antiken Kenntnissen über den menschlichen Körper (Aristoteles, Galen) vertraut werden.40 Der beste Arzt vor Ort – damit also zurück zur Geschichte – scheint zwar über eine mögliche Heilmethode zu verfügen, warnt aber Heinrich sogleich davor, vorschnell Hoffnung zu gewinnen, denn letztlich würde er doch niemals genesen können (V. 185–186). Das Rätsel löst sich schnell, denn der Arzt weist darauf hin, dass weder Reichtum noch Willenskraft ausreichen würden; nur Gott müsse man vertrauen, anderenfalls sei alles vergebens: „. . . got enwelle der arzât wesen’” (204). Der Grund besteht darin, dass Heinrich nur dann gesund werden könne, wenn er eine Jungfrau im Heiratsalter finden würde, die ihm zuliebe freiwillig ihr Leben aufgeben würde, indem sie ihm ihr Herzensblut opferte (V. 231). Auch Heinrich sieht sofort ein, dass dies eine Unmöglichkeit darstellt und gibt somit auf, lässt alle Hoffnungen fahren, zieht sich aus dem aktiven Leben am Hof zurück und verbringt, von Verzweiflung erfüllt, die nächsten Jahre bei einem von ihm abhängigen Bauern. Dort lernt er aber ein junges Mädchen kennen, das sich wohl, wie wir aus dem Kontext an_____________ 39
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Reinhold Popp, Reinhard Hofbauer und Markus Pausch: Lebensqualität – Made in Austria: gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmenbedingungen des Glücks. Wien, Berlin und Münster 2010 (Schriftenreihe Zukunft: Lebensqualität, 1); Bernard M. S. van Praag und Ada Ferrer-i-Carbonell: Happiness Quantified: a Satisfaction Calculus Approach. Oxford und New York 2004. Auf die Fülle an einschlägigen Selbsthilfe-Ratgebern von Enthusiasten und selbsternannten ‚Experten’ brauche ich hier nicht einzugehen. Vgl. dazu die Textauszüge in: Medieval Medicine. A Reader, ed. Faith Wallis. Toronto 2010, S. 131–190.
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nehmen können, in ihn verliebt und am Ende sich dazu bereit erklärt, für ihn zu sterben, damit er wieder gesund werden könne. Ihre hochintelligente aber doch in sich brüchige Rhetorik überzeugt alle, und sogar der Arzt ist am Ende dazu bereit, der Jungfrau bei lebendigem Leibe das Herz herauszuschneiden. Aber gerade zu dem Zeitpunkt, als es fast schon zur Operation kommt, wird Heinrich, der sich außen aufhält, zutiefst unruhig („und erbarmete in vil sêre, / daz er si niemer mêre / lebende solde gesehen”, V. 1215–1217) und sucht ein Loch in der Wand, um in das Zimmer hineinzuschauen. Kaum ist ihm dies gelungen, realisiert er auf einmal, um welch ein schönes Geschöpf es sich bei der jungen Frau handelt, während er selbst offensichtlich gegen Gottes eigenen Willen zu kämpfen scheint. Endlich demütig geworden verzichtet er schlagartig auf ihr Opfer, obwohl sie sich später heftig dagegen wehrt, und akzeptiert nun demütig sein eigenes Schicksal: „‚. . . swaz dir got hât beschert, / daz lâ allez geschehen. / ich enwil des kindes tôt niht sehen!’” (V. 1254–1257). Genau dies aber bewirkt das Wunder, denn Gott erkennt und akzeptiert Heinrichs Sinneswandel und befreit ihn schließlich von seiner Krankheit: „dô erzeicte der heilec Krist / wie liep im triuwe und bärmde ist” (V. 1365–1366; da bewies der heilige Christus, wie lieb im Treue und Erbarmen sind). Voller Freude zieht der Protagonist zusammen mit der Jungfrau in die Heimat zurück, wird mit großem Jubel von seinem Volk begrüßt und heiratet dann diejenige, die ihm mit Gottes Hilfe Gesundheit und Ehre wieder geschenkt hat, obwohl es sich um einen gewaltigen Standesunterschied handelt, der hier aber letztlich einfach ignoriert wird.41 Die mirakulöse Heilung bildet also das Zentrum der Erzählung, oder, wenn man es genauer betrachtet, der Gesinnungswandel des Helden. Wie Hartmann von Aue klar vor Augen stellt, erweist sich Krankheit als Ausdruck des Unmuts Gottes, und erst nachdem der Protagonist diese Erkenntnis erworben hat, vermag er auch seine Gesundheit wiederzugewinnen. Interessanterweise gibt sich der Arzt in Salerno gewissermaßen als Mitspieler zu erkennen, der sich überaus freut, als Heinrich seinen Entschluss ändert und das Opfer des Mädchens nicht annimmt, denn ihm war wohl selbst genau bewusst, dass nur die richtige religiöse Einstellung dem Kranken helfen konnte. Wie Hartmann uns zu erkennen gibt, treten überall zwei Kategorien von Ärzten auf, diejenigen, die mit den traditionellen Methoden und Medikamenten vertraut sind, und diejenigen, die weit darüber hinaus einen tiefen Einblick in die religiösen Mysterien der menschli_____________ 41
Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. Hg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters, 6). Siehe Mertens ausgezeichneten Kommentar, ebd., S. 878–941. Vgl. dazu Albrecht Classen: „Herz und Seele in Hartmanns von Aue ‚Der arme Heinrich’. Der mittelalterliche Dichter als Psychologe?” In: Mediaevistik 14 (2003): S. 7–30.
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chen Existenz gewonnen haben und die Kausalität von Krankheiten auf spiritueller Ebene zu durchdringen vermögen. Was heute erneut in der Alternativmedizin versuchsweise zum Einsatz kommt, hat also schon lange vorher im Mittelalter eine große Bedeutung besessen. Damals mag es das Resultat von Hilflosigkeit gewesen sein, aber mittlerweile ist ja auch in der gegenwärtigen Medizin genügend Ernüchterung eingetreten, um den felsenfesten Glauben an die pharmazeutischen Mittel oder an die Möglichkeiten von Operationen zu erschüttern.42 Betrachten wir abschließend ein Beispiel aus dem Spätmittelalter, um eine weitere, allerdings erheblich satirischere und sarkastischere Perspektive auf die Rolle von Medizin und der Heilkunst allgemein zu gewinnen. Gemeinsamkeiten ergeben sich von vornherein darin, dass hier die Fähigkeiten von Ärzten, wirklich effektiv zur Gesundung eines Patienten beizutragen, sehr kritisch beurteilt werden, obwohl in diesem Fall aus der französischen Literatur keine Hoffnung auf die Kraft einer seelischen Wandlung zum Ausdruck kommt. Dafür prägen beißender Spott und Verachtung für einen gesamten Berufsstand den uns interessierenden Text. Mitte des 15. Jahrhunderts entstand in Frankreich eine Sammlung von Erzählungen, die heute unter dem Titel Les Cent Nouvelles Nouvelles bekannt ist und in vielerlei Hinsicht starke Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Anthologien wie Boccaccios Decameron (ca. 1350), Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (vor 1400) und Heinrich Kaufringers Mæren (ca. 1400) besitzt. Die Cent Nouvelles Nouvelles wurden zwischen 1456 und 1461 verfasst, möglicherweise von einem David Aubert oder von Antoine de La Sale. Wer auch der Autor gewesen sein mag, das Werk wurde auf jeden Fall Philipp Le Bon, Herzog von Burgund, gewidmet und zeichnet sich durch eine ungemeine Realitätsnähe und kritische Sichtweise aus, passte sich also sehr stark dem gängigen, paneuropäischem Interesse an dem Alltag der Menschen in städtischen Gemeinden oder am Hof an und hielt ihnen durch die erstaunlich gut entwickelte Komik einen faszinierenden Spiegel vors Gesicht.43 _____________ 42
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Daniel P. Sulmasy: A Balm for Gilead: Meditations on Spirituality and the Healing Arts. Washington, DC, und Bristol 2006; Paul D. Simmons: Faith and Health: Religion, Science, and Public Policy. Macon, GA, 2008; siehe auch die Beiträge zu: Integrating Spirituality in Health and Social Care: Perspectives and Practical Approaches, hg. Wendy Greenstreet. Oxford 2006; und zu: Krankheit und Heilung: Gender, Religion, Medizin. hrsg. von Bernhard Heininger und Ruth Lindner. Berlin 2006 (Geschlecht, Symbol, Religion, 4). Les Cent nouvelles nouvelles, ed. Franklin Sweetser. Paris 1966; vgl. dazu Les Cent nouvelles nouvelles, ed. Pierre Champion. Paris 1928, ND Genf 1973; Les Cent nouvelles nouvelles, ed. Pierre Jourda. Paris 1956 (Conteurs français du XVIe siècle. Bibliothèque de la Pléiade). Für eine gute Einführung und Bibliografie, siehe The One Hundred New Tales, trans. by Judith Bruskin Diner. New York und London 1990 (Garland Library of Medieval Literature), S. xi–xl. Für eine deutsche Übersetzung siehe Die hundert neuen Novellen. Aus
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Eine außerordentlich hübsche junge Frau von 15 Jahren entwickelt zu ihrem Leidwesen und zum Kummer ihrer Eltern Hämorrhoiden, ohne dass selbst der Erzähler wüsste, ob diese von Gott, vom Schicksal oder von anderen Mächten hervorgerufen wurden. Alle sind geradezu verzweifelt und ringen nur mit den Händen, wissen sich aber zunächst nicht zu helfen. Als Erstes rufen sie dann eine heilkundige Frau herbei, die sich ausgiebig nach allen möglichen Aspekten der Krankheit erkundigt und dann zahllose Kräutermedikamente verschreibt, die nicht nur keine Heilung herbeiführen, sondern die Hämorrhoiden nur noch schlimmer werden lassen. Darauf entschließt sich die Familie, jeden auch nur erreichbaren Arzt herbeizurufen und sie zu konsultieren. Alle diese Männer sind sehr begierig darauf, den befallenen weiblichen Körperteil genau zu studieren, vermögen aber genauso wenig zu erreichen. Die Jungfrau schämt sich zwar heftig, will ihren Körper sogar den Blicken der vielen Ärzte verweigern, wird aber dann von ihren Eltern gezwungen, sich zu beugen, seien es ja medizinische Fachmänner. Keiner von ihnen beweist sich aber, wie gesagt, als wirklich sachkundig, sodass die Hämorrhoiden nur noch schlimmer werden. In ihrer Verzweiflung bitten dann die Eltern einen auf einem Auge blinden Franziskaner um Hilfe, der als hohe Koryphäe auf diesem Gebiet gelten soll. Als er nun eintrifft, legt sich die junge Frau bäuchlings auf ein Sofa und wird zugleich so zugedeckt, dass nur das entscheidende Körperteil noch zu sehen bleibt. Der Franziskaner studiert nun ihr Gesäß mit größter Aufmerksamkeit, genau wie die anderen Ärzte vor ihm, greift dann nach einer Art Trichter, mit dem er ein geheimnisvolles Pulver in ihren Anus blasen will. Zur Vorbereitung richtet er nun den Trichter genau auf diese schmerzende Stelle und starrt mit dem gesunden Auge auf die relevante Stelle, offensichtlich voller Vergnügen, verweilt er ja eine recht lange Zeit dabei. In der Zwischenzeit hat sich die junge Frau ein wenig aufgerichtet oder jedenfalls umgeschaut und ist damit zum Zeugen der komischen Situation geworden. Der Anblick erheitert sie dermaßen, dass sie nach einiger Zeit nicht mehr an sich halten kann und einen mächtigen Wind von sich lässt, der nun so stark von sich geht, dass er das medizinische Pulver dem armen Franziskaner so in das gesunde Auge treibt, dass er dadurch nach ein paar Tagen seine letzte Sehfähigkeit verliert. Die Erzählung nimmt nun eine völlig unerwartete Wendung, verliert das erotische Objekt gänzlich aus dem Auge – nicht dass damit ein Wortspiel angezielt wäre – und konzentriert sich dafür auf den sich nun entspinnenden Rechtsfall, weil der mittlerweile ganz blinde Franziskaner _____________ dem Französischen übertragen von Alfred Semerau, mit einem Nachwort von Peter Amelung. Wien 1965, S. 43–50.
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darauf klagt, eine Lebensrente vom Vater der jungen Frau zu erhalten. Dieser weigert sich natürlich, und beide ziehen vor Gericht, das sich, genau wie die hochinteressierte Öffentlichkeit, vergnüglich diesem Fall widmet, ohne ihn jedoch jemals zu entscheiden, während die unter den Hämorrhoiden leidende Tochter endlich von selbst gesundet. Der Erzähler spottet nun darüber, wie sehr sich in der Zwischenzeit der Ruf der jungen Frau, verändert habe. Während man vorher nur über ihre Schönheit gesprochen habe, sei man jetzt bloß noch an ihren Hämorrhoiden interessiert, d.h. also nur an dem betroffenen Körperteil. Der narrative Schwerpunkt wandert also von der Erotik hin zur Skatologie, wenn man so will, und sowohl die Gäste im Gericht wie auch wir als Rezipienten sind dazu aufgefordert, über die törichte Situation zu lachen. Einerseits gerät die gesamte Ärzteschaft, andererseits der betuliche Franziskaner in die Zielscheibe der Kritik, denn keiner hätte wirklich irgendetwas bei der jungen Frau bewirken können, aber jeder hatte die Situation schamlos dazu ausgenutzt, aus angeblich professionellmedizinischen Gründen Einblick in die Privatzonen der von den Hämorrhoiden Befallenen zu nehmen. Sie machte dem skandalösen Benehmen dieser lüsternen Männer schließlich entschieden ein Ende, indem sie dem Mönch mittels ihrer unfreiwilligen Körpersprache sozusagen einen Schlag ins Gesicht verpasste.44 Bedenkt man, dass diese Erzählung die einzige in den Cent nouvelles nouvelles darstellt, in der Krankheit und Ärzte die zentrale Rolle spielen, während sonst praktisch überall nur von aller Art Liebeshändeln die Rede ist, dürfen wir daraus schließen, welche Bedeutung dieses Thema an dieser Stelle besitzt. Genauso wie in Hartmanns von Aue Verserzählung „Der arme Heinrich” versagen die Ärzte durchweg, kann die Krankheit nicht geheilt werden und tritt offensichtlich nur deswegen Hilfe ein, weil der Versuch überhaupt aufgegeben wird, mittels von Medikamenten oder ärztlicher Behandlung die Hämorrhoiden zu kurieren. Aber bei Hartmann von Aue herrschte noch die Vorstellung, mittels eines starken Glaubens an Gott könne die Heilung erzielt werden. Ja, Heinrichs Erkrankung erscheint gar nicht einmal als eine tatsächlich physiologisch bestimmte zu sein, sondern hängt primär von seiner Religiosität ab, d.h. vom Zustand seiner Seele.45 Erst als er sich dem Schicksal bzw. Gott unterwirft, kommt es zur Heilung. In der zweiten, viel späteren Erzählung in den Cent nouvelles nouvelles fällt sogar dies gänzlich weg, obgleich das narrativ angepeilte Lachen _____________ 44 45
Albrecht Classen: „Farting and the Power of Human Language, with a Focus on Hans Wilhelm Kirchhof’s Sixteenth-Century Schwänke”. In: Medievalia et Humanistica 35 (2009), S. 57–76. Siehe dazu den Beitrag von Matthias Vollmer in diesem Band.
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die Selbstüberheblichkeit der Ärzte ebenfalls grundsätzlich verspottet und ihnen jegliche wahrhafte Fähigkeiten abspricht. Diese kritische Sicht auf die Figur des professionell geschulten medizinischen Experten gewinnt im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts zunehmend an Gewicht, während die Menschen keineswegs dadurch Alternativen in die Hand bekommen. Bei Hartmann von Aue ist dies noch der Fall, im Spätmittelalter hingegen nicht mehr.46 Trotzdem gewinnt die junge Frau ihre Gesundheit zurück, was der Erzähler nur so en passant erwähnt. Der Grund scheint aber doch eindeutig darin zu bestehen, dass sie nicht länger ärztlicher Behandlung unterworfen ist, was sie einerseits durch ihren Furz, andererseits durch ihr Lachen erzielt hat.47 Die öffentliche Diskussion über die Relevanz des Arztes und der von ihm verschriebenen Medikamente durchzieht alle Jahrhunderte, und je weiter wir in der Geschichte voranschreiten, desto heftiger werden die Stimmen, die sich positiv oder negativ über den medizinischen Berufsstand äußern. Zugleich, wie wir jetzt schon mehrfach konstatiert haben, ging die Auseinandersetzung darum, in welchem Beziehungsgeflecht Körper und Seele, Glaube und Gesundheit zueinander gesehen werden müssten, unablässig weiter. In gewisser Weise scheint man sich heute sogar aus wissenschaftlicher Sicht wieder einigen der Ansichten zu nähern, die noch im Mittelalter vorherrschend gewesen sind.48 Paracelsus’ Werk erweist sich in der Hinsicht geradezu wie ein zentrales Gelenkstück, denn er scheint die zwei entgegengesetzten Paradigmen wie im Spagat miteinander verbunden zu haben, was vielleicht letztlich am besten die bittere Opposition der Berufskollegen zu seiner Zeit zu erklären vermag. Um diesem sehr reichen und umfassenden Themenkomplex näher zu kommen, traf sich vom 19. bis 21. März 2010 eine Gruppe von Wissen_____________ 46 47
48
Vgl. dazu Albrecht Classen: Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts: Studien zu Martin Montanus, Hans Wilhelm Kirchhof und Michael Lindener. Trier 2009 (KOLA: Koblenz-Landauer Studien zu Geistes-, Kultur- und Bildungswissenschaften, 4), S. 76–80. Wenn auch etwas verwunderlich wegen der absurd wirkenden Karikaturen, siehe die Abbildungen in Lachen ist gesund: die unglaubliche Geschichte der Medizin. o.O., 2001; T. E. Gumpert, Mirth and Laughter in Medicine. Braunton 1986; Iren Bischofberger: Das kann ja heiter werden / Humor und Lachen in der Pflege. Bern 2002; Christoph Emmelmann: Lachyoga. München 2010 (GU Feel good!). Auch schon im 16. und 17. Jahrhundert hatte man dies so beurteilt, siehe Rudolph Goclenius: Physiologia crepitvs ventris, et risvs, recognita explanata, et iterato edita. Frankfurt 1607. Lachen und unfreiwillige Körperwinde werden hier im engen Zusammenhang mit der Gesundheit gesehen. Das von mir benutzte Exemplar befindet sich in der University of Cambridge Library (Classmark CCD.46.76). Vgl. dazu auch die Dissertation von Michael Alberti: „Dissertatio inauguralis medica, de risus commodo et incommodo in oeconomia vitalia,” Halle 1746. Vgl. dazu Anne Harrington: The Cure Within: a History of Mind-Body Medicine. New York 2008; für einen jüngsten sehr hilfreichen Überblick siehe Luke Demaitre: „Medicine”. In: The Oxford Dictionary of the Middle Ages, ed. Robert E. Bjork. Bd. 3. Oxford 2010, S. 1112–1118.
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schaftlern verschiedenster Disziplinen zum 3. Symposium der Theophrastus-Stiftung in Konstanz und auf der Insel Mainau. Diese Tagung war von Albrecht Classen, University of Arizona, organisiert worden, der sie z.T. auch persönlich leitete, unterstützt von den Kollegen Heinz Schott, Werner Heinz und Markus Ries. In klarer Einsicht, dass „Religion und Gesundheit im 16. Jahrhundert” nur aus sehr interdisziplinärer Sicht angemessen behandelt werden kann, waren sowohl Vertreter der Medizingeschichte als auch der Literatur- und Geistesgeschichte sowie der Philosophie und Religionswissenschaft anwesend, womit der erwünschte fächerübergreifende Austausch tatsächlich stattfinden konnte. Die regen Gespräche, die sich aus den Vorträgen entwickelten und auch viele Mitglieder des Publikums einschloss, das aus dem In- und Ausland eingetroffen war, bewiesen, wie ergiebig und weiterführend solch ein intensives Symposium wahrhaftig sein kann, vor allem, wenn die unterschiedlichsten Aspekte bezogen auf die gleichen Themen zur Sprache kommen. Erneut ergab sich die fundamentale Einsicht, dass wir hermeneutisch und epistemologisch nur noch dann wirklich Fortschritte machen, wenn wir einen interdisziplinären Ansatz verfolgen. Daher erwies sich gerade die Frage nach der Beziehung zwischen Religion und Gesundheit im 16. Jahrhundert als außerordentlich ergiebig. Nachfolgend biete ich in aller gebotenen Kürze knappe Zusammenfassungen der individuellen Beiträge, damit sich der Leser hier schon einen schnellen Überblick verschaffen kann, um so gezielter zu den relevanten Studien vorzustoßen. Nicht jeder der Autoren hat sich direkt mit Paracelsus auseinandergesetzt, aber die Fragestellung betrifft dann doch stets das zentrale Anliegen des Symposiums und strahlt dann von dort wieder direkt oder indirekt auf Paracelsus’ Gedanken und Schriften zurück. Wie Johannes Grabmeyer einleitend darlegt, gehörte der Krankheitsfall noch im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit zu den katastrophalen Gefährdungen im menschlichen Leben, weil weder die medizinische Betreuung ausreichend war noch genügend Kenntnisse zur Verfügung standen, um auch nur einen Teil der üblichen Krankheiten effektiv zu bekämpfen. Adlige besaßen zwar über erheblich mehr Finanzmittel, um Ärzte zu sich zu rufen und um Medikamente zu kaufen, aber die Aussicht auf Besserung und Gesundung war auch bei ihnen relativ beschränkt. Einerseits stand weiterhin die Kirche mit ihrer Sozialbetreuung und geistlichen Pflege zur Seite, andererseits entwickelte sich aber auch ein städtisches Hospitalwesen, das zur Grundlage des modernen Krankenhauses werden sollte. Auf lange Sicht herrschte freilich weiterhin insbesondere die Furcht um das Seelenheil nach dem Ableben vor, sodass alle medizinischen Bemühungen stets im breiten Rahmen der geistigen Betreuung auf-
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gefangen waren. Der Glaube an das Fegefeuer und die Höllenstrafe war weitverbreitet, während man auf medizinischer Seite primär an der Humorallehre interessiert war. Dennoch kam es ständig zu engen Überschneidungen der beiden Bereiche, was ja heute wieder in der Placebotherapie viele interessante Parallelen besitzt. Paracelsus wehrte sich zwar vehement gegen die Vorstellung von den vier Säften im Körper (Galen), aber dafür war er gleichermaßen von der spirituell-symbolischen Bedeutung von Krankheit überzeugt. Krankheit galt weit bis in die Vormoderne hinein als Strafe Gottes und konnte dementsprechend durch geistige Reue, Buße und bewusste Hinwendung zu Gott bekämpft werden. Von daher wird die ungeheure Popularität von Wallfahrten und Pilgerschaften seit dem Spätmittelalter verständlich, während die bewusste Diabolisierung und Ausgrenzung von Geisteskranken oder Leprakranken heute nur noch abschreckend wirken kann. Grabmayer geht weiterhin ausführlich auf die Einstellung zum Tod im Spätmittelalter ein, der wahrhaftig zu einem der zentralen Themen im Leben geworden war, denn eines der höchsten Ziele bestand darin, einen guten Tod zu sterben, also im Arm der Kirche, nach der Beichte, Absolution und letzten Ölung. Selbstmord zu begehen, hingerichtet zu werden oder einsam zu sterben, verursachte die größte Angst, wenngleich deswegen die Menschen keineswegs ihren Lebenswandel veränderten. Dennoch stand der Tod vor aller Augen, und Begräbnisse, vor allem von Fürsten, gestalteten sich zu großen, öffentlichen Ereignissen. Der Tod des kleinen Mannes verlief natürlich ganz anders, aber bald entstanden überall Bruderschaften, die helfend eingriffen, um jedem zumindest ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen.49 Abschließend behandelt Grabmayer noch die Friedhofskultur des Spätmittelalters, die natürlich eine ungeheuer wichtige Memorialfunktion besaß. Paracelsus bemühte sich kurz vor seinem Tod ganz selbstverständlich ebenfalls um die Sicherung seines Angedenkens, wie sein Testament und sein Grabstein belegen. Sowohl der Umgang mit Krankheit als auch der mit dem Tod beschäftigten die Menschen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit sehr intensiv, und so auch Theophrastus von Hohenheim. Bemerkenswerterweise verfolgte Paracelsus eine sehr ungewöhnliche Perspektive auf Krankheiten schlechthin, denn er behauptete, dass es _____________ 49
Siehe dazu Herbert Vorgrimler: Geschichte der Hölle. 2. verb. Aufl.. München 1994 (orig. 1993); Tod im Mittelalter. Hrsg. von Arno Borst, Gerhart von Graevenitz et al. Konstanz 1993 (Konstanzer Bibliothek, 20); Der Tod des Mächtigen: Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher. Hg. Lothar Kolmer. Paderborn, München et al. 1997; Sex, Aging, & Death in a Medieval Medical Compendium: Trinity College Cambridge MS R. 14.52, Its Texts, Language, and Scribe. Ed. Teresa Tavormina. Tempe, AZ, 2006 (Medieval and Renaissance Texts and Studies, 292).
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unterschiedliche Arten von Gesundheiten gäbe, je nach individueller geistiger und seelischer Beschaffenheit, wie Jean-Michel Rietsch demonstriert, der sogar in seinen Texten einen ungrammatischen Gebrauch des Substantivs ‘Gesundheit’ beobachtet, was auf die innovative Denkweise des Gelehrten hinweist. Paracelsus meinte insbesondere, dass es für jede Gesundheit auch eine spezielle Krankheit gab, und so auch umgekehrt, was Rietsch dann anhand der sogenannten ‚Franzosenkrankheit’ erläutert, indem er vor allem den Traktat Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern und Zittrachten der Franzosen (1528) daraufhin analysiert. Paracelsus war fest von der innigen Beziehung zwischen Heil und Heilung überzeugt, glaubte also an den antiken Topos von ‚Christus als Arzt’ und argumentierte energisch für eine entsprechende Krankenbehandlung, die primär vom Seelenheil ausgeht und von dort aus erst die physische Analyse durchführt. Die Hoffnung auf Gesundung ziele aber nicht darauf, zum adamitischen Urzustand zurückzukehren, sondern strebe vielmehr danach, vorwärtsschreitend das von Christus vorbestimmte Ziel zu erreichen, sich aus dieser Welt zu verabschieden und in die neue, paradiesische, oder versprochene, einzutreten. Rietsch nimmt in diesen Vorstellungen die zugrunde liegende Konzeption vom Menschen als Teil des Mikrokosmos wahr, während der göttliche Bereich den Makrokosmos ausmache, was beides miteinander verschmelzen müsse, um alle Krankheiten zu überwinden. Um das Leben des Menschen zur vorherbestimmten Reife zu bringen, sei es für den Arzt notwendig, seinen Patienten zum spirituellen Heil zu führen, was auch die körperliche Bedingung einschließt, um die er sich zu kümmern hat. Der Gesundungsprozess erscheint somit bei Paracelsus als ein geistiger Heilungsprozess, was eine Ätiologie in die Medizin einbringt, die religiös untermauert ist. Eine physische Krankheit besitzt somit stets als Urgrund einen Schaden an der Seele, und der Arzt vermag nichts zu erreichen, wenn nicht auch eine geistige Heilung zunächst erreicht wird. Je mehr Menschen existieren, und je mehr Verbrechen oder Gewalttaten geschehen, desto mehr Krankheiten brechen aus. Paracelsus lehnte also die Astrologie ab und lenkte dafür den Blick des Betrachters in die Tiefe der menschlichen Seele.50 Paracelsus bemühte sich, wie wir von Heinz Schott erfahren, nicht nur darum, Krankheit religiös zu fundieren, sondern zugleich die sogenannte ‚weiße Magie’ für seine medizinische Behandlung nutzbar zu machen, die sich auf die inneren Kräfte des Menschen stützte, d.h. gerade nicht dämonische Mächte aufzurufen bemüht war. Stattdessen suchte Hohenheim, die sympathetischen Kräfte in der Natur zu mobilisieren, die wie Magneten auf die Krankheiten zu wirken vermochten. Die Waffensalbe funktio_____________ 50
Vgl. dazu auch die Beiträge von Heinz Schott und Matthias Vollmer.
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nierte danach eben nicht durch direktes Auflegen auf eine Wunde, sondern durch die Bestreichung der blutigen Waffe mit dem Kraut, was dann indirekt zur Heilung beitragen sollte. Natürlich rief dies katholische Kritiker, insbesondere Vertreter der Inquisition auf den Plan, die darin schwarze Magie erblickten, weil eine Heilung über eine Entfernung hinweg nur als Teufelswerk anzusehen sei. Schott erläutert das hier besprochene Phänomen insbesondere anhand von Johann Baptist van Helmonts Abhandlung De magnetica vulnerum curatione (1621), in der insbesondere zwischen der Faszination und Sympathie als den zwei wesentlichen Kräften unterschieden wird, die Heilung herbeizuführen in der Lage seien. Man müsse also nur magnetische oder sympathische Salben erzeugen, um das medizinische Ziel zu erreichen, was gar nichts mit teuflischen Mächten zu tun habe. Genauso wie Paracelsus sah van Helmont die Natur als Magierin an, die man bloß zu konsultieren habe, um auf die nötigen Heilmittel und methoden zu stoßen. Dies bedeutete keineswegs, wie Schott hervorhebt, dass deswegen die Angst vor den Dämonen und Teufeln geschwunden wäre. Auch Paracelsus drückte diese deutlich aus und betonte gerade deswegen die Bedeutung der weißen gegenüber der schwarzen Magie. Einer der entscheidenden Punkte in der von Paracelsus und van Helmont vertretenen medizinischen Lehre bestand letztlich darin, dass Krankheit durch Ideen oder Vorstellungen verursacht werden. Der gute Arzt allein vermöge in die Gedankenwelt des Patienten einzudringen und dort den Keim des Übels wahrzunehmen. Psychiatrische Probleme erscheinen somit als physisch bedingt und physische Krankheiten als psychisch verursacht – Überlegungen, die gerade der heutigen Homöopathie und anderen Methoden alternativer Medizin sehr bekannt vorkommen dürften und somit durchaus als wichtige Beiträge für die zukünftige Forschung auf diesem Gebiet erwägenswert wären. Im Mittelalter und durchaus sogar noch in der Renaissance spielte die Alchemie eine beträchtliche Rolle als Geheimwissenschaft, die aber zunehmend sogar von der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen und anerkannt wurde. Von Hohenheim stützte sich, wie ja schon oftmals angemerkt wurde, bei seinen Forschungen selbst stark auf die Alchemie, verfolgte diese aber nicht so sehr als Mittel zur Goldgewinnung, sondern vielmehr um medizinische Erfolge damit zu erringen, wie uns Urs Leo Gantenbein in seinem Beitrag vor Augen führt. Paracelsus hinterließ sogar einen sehr pragmatisch ausgerichteten Traktat darüber, sein Primum Manuale oder Manuale Chemicum, in dem es ihm einerseits um spezifische Vorschriften bei der alchemischen Arbeit geht, andererseits um Erklärungsmöglichkeiten der Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper. Dies mündete für ihn in die Suche nach neuen Medikamenten, ohne dass er
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generell die Potenz der Alchemie für das Goldmachen u.Ä. metallische Transformationen als abwegig erklärte, ganz im Gegenteil, wie jetzt Gantenbein nachweisen kann. Dennoch legte er den entscheidenden Schwerpunkt auf das Bemühen, unreine von reinen Stoffen zu trennen, womit die erwünschte Heilung bei Krankheit erfolgen könne. Gantenbein verfolgt auf weite Strecken zugleich die Geschichte der Alchemie, auf die sich ja von Hohenheim z.T. selbst recht detailliert berief, auch wenn er längst nicht mit allen Einzelheiten, Namen, Stoffen, Rezepten etc. vertraut gewesen wäre. Entscheidende Vermittler des alchemischen Wissens waren zunächst die Araber (daher der Begriff ‘alkimia’), während im späten Mittelalter erstaunlicherweise gerade die Franziskaner intensiv mit der Alchemie beschäftig waren, unter denen insbesondere Roger Bacon (1214–1292/1294) hervorragte, auf den sich dann wieder Paracelsus z.T. berief bzw. der geradezu ein Geistesverwandter von ihm gewesen zu sein scheint.51 Sowohl Bacon als auch von Hohenheim verspotteten die Berufsärzte, die sich weitgehend in Theorien und Spekulationen verlieren würden, während es doch wesentlich um praktische, auf Erfahrung sich stützende Bemühungen um den menschlichen Körper gehe, auf dass die richtige Heilmethode und heilende Medizin gefunden werden könne.52 Auch Bacon forderte schon die Ärzte dazu auf, sich das grundlegende Wissen auf den Gebieten der Naturphilosophie und der Astrologie anzueignen, um einerseits die richtigen Rohdrogen zu finden, andererseits um diese dann in Einklang mit dem Rhythmus des Makrokosmos zu bringen. Paracelsus gab zwar mehrfach zu erkennen, wie gut er mit der reich aufgeblühten alchemistischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts vertraut gewesen ist, aber er distanzierte sich trotzdem spöttisch oder sogar mit bitteren Tönen von seinen Vorläufern, obwohl, oder wenn gerade sich aus heutiger Sicht viele Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Der wichtigste Unterschied bestand letztlich darin, wie Gantenbein hervorhebt, dass von Hohenheim zunehmend auf den Bereich der Arcana abhob und damit eine spirituelle Dimension im Krankenbereich wahrnahm, wovon die Alchemisten gerade nicht gesprochen hatten. Zugleich entwickelte er mehr und mehr klarsichtige chemische Erkenntnisse, die heute noch z.T. als gültig angesehen werden, vor allem hinsichtlich der Elixiere. Möglich_____________ 51
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Karl Christoph Schmieder: Schmieders Gesamtausgabe der Geschichte der Alchemie: Personen - Lehren - Verfahren - Quellen - Schriften. Leipzig 2009; Hermann Schreiber: Geschichte der Alchemie. Erfstadt: Area-Verlag, 2006; Hans-Werner Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen: Die Geschichte der Alchemie. München 2000; Julius Ruska: Turba philosophorum: ein Beitrag zur Geschichte der Alchemie. Frankfurt a. M. 2002 (rpt. der Ausg. 1931). Vgl. dazu den Beitrag von Albrecht Classen in diesem Band.
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erweise war er, wie Gantenbein vermutet, durch orientalische Quellen mit diesen Gedanken in Verbindung gekommen, denn es lassen sich einige verblüffende Parallelen zwischen Paracelsus’ Vorstellungen und den Aussagen z.B. von Dschafar al Sadiq aus dem 9. Jahrhundert erkennen, wobei der Fokus stets auf Sulfur, Merkur und Salz ruht, die, wenn im Missverhältnis zum Gesamtkörper stehend, Schaden zu verursachen in der Lage seien. All diese alchemistischen Ideen färbten letztlich sogar auf Paracelsus’ theologische Gedanken ab, insoweit als er regelmäßig darauf drängte, die unreine Seele durch einen Schmelzvorgang zu reinigen und die giftigen Stoffe abzuführen. Um das weite Umfeld abzustecken, das die Welt von Paracelsus beherrschte, und um zugleich den medizinhistorischen Hintergrund zu dieser äußerst umstrittenen Figur genauer zu charakterisieren, lohnt es sich, zeitgenössische Ärzte in die Diskussion einzubeziehen, um genauer nachvollziehen zu können, welche konkrete Position von Hohenheim z.B. hinsichtlich der Frage nach der Beziehung zwischen Körper und Geist eingenommen hatte. Ingrid Kästner wendet sich daher dem recht bedeutenden Leipziger Arzt Heinrich Stromer von Auerbach (1476–1542) zu, der durchaus ähnlich wie andere Kollegen seines Faches hochgebildet und sehr vielseitig interessiert war, mithin fast als ein Renaissance-Mensch par excellence auftrat, eine umfangreiche Korrespondenz mit der intellektuellen Elite seiner Zeit führte (besonders mit Ulrich von Hutten und Willibald Pirckheimer in Nürnberg), politisch großen Einfluss ausübte und sogar das Bild der Stadt Leipzig prägte („Auerbachs Keller”).53 Diese beiden Persönlichkeiten waren zur Wirksamkeit des aus Übersee importierten Guajakholzes, das gegen die Syphilis eingesetzt wurde und mit dem die Fugger enorme Gewinne erzielten, unterschiedlicher Ansicht. Paracelsus hatte heftig dagegen polemisiert, und Stromer von Auerbach soll über seine Kontakte in Nürnberg (Pirckheimer) bewirkt haben, dass weitere einschlägige Schriften seines Gegners ein Druckverbot erhielten. Ganz sicher lässt sich aber dies heute nicht mehr bestimmen, wenngleich feststeht, dass von Auerbach sicherlich von Hohenheim als einen gefährlichen und falsch denkenden Kopf ansah. Auerbach stellte sich in den großen geistesgeschichtlichen Kämpfen der Epoche auf die Seite der Reformation, war mit Luther vertraut und erlebte vor seinem Tode noch die tiefgreifenden Veränderungen der politischen Zustände und die Einführung der Reformation in Leipzig. All dies half ihm, in Leipzig eine führende Stellung zu erringen, was u.a. Ausdruck fand in seiner Ernennung zum Dekan der medizinischen Fakultät im Jahre _____________ 53
Es handelt sich dabei um „Auerbachs Keller”, der in Goethes Faust eine Rolle spielt.
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1523. Selbst Martin Luther war gut mit ihm vertraut und besuchte den Freund auf seinem Besuch in Leipzig im Jahre 1539. Andere hochangesehene Ärzte traten ebenfalls während des 16. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit auf, so sein Zeitgenosse Jakob Ruf (siehe dazu den Beitrag von Albrecht Classen in diesem Band), aber sie schlugen sich fast alle auf die Seite der traditionellen medizinischen Fakultät, während Paracelsus wegen seiner ganz anderen Denkungsart schnell in eine absonderliche Ecke gedrängt wurde, aus der er selbst heute nur schwer zu retten ist, weil sich so viele Mythen um ihn ranken. Dazu kommt natürlich auch eine persönliche Komponente, durch die sich Paracelsus rasch selbst isolierte und mehr Feinde als Freunde gewann. Mariacarla Gadebusch Bondio weist in ihrem Beitrag darauf hin, wie hemmungslos Hohenheim auf bissig-polemische Rhetorik zurückgriff, um seine eigene medizinische Sichtweise gegen die vielen Kritiker zu verteidigen, obwohl viele später genau auf die Erkenntnisse zurückgriffen, die von diesem ursprünglich entwickelt worden waren. Wenngleich Paracelsus z.B. geradezu eine Pionierarbeit mit seinem Traktat Von der Bergsucht (verfasst ca. 1533/1534, gedruckt 1567) geleistet hatte, insoweit als er als einer der ersten Mediziner sich mit der Lungenerkrankung von Bergarbeitern beschäftigte und wichtige Empfehlungen formulierte, auf die man sich später immer wieder indirekt bezog, unterließ man es entweder, seinen Namen überhaupt zu nennen, oder man verleumdete sein Werk als dunkel, unverständlich oder spekulativ, was noch jahrhundertelang weiter wirkte. Dabei setzte Paracelsus im Grunde nichts anderes ein als die zeitübliche Kampfrhetorik, wie sie vor allem unter den protestantischen Reformern üblich geworden war. Gadebusch Bondio erkennt sogar, dass Paracelsus in sehr beachtenswerter Weise um die Ethisierung des Ärzteberufs kämpfte und daher, weil er zutiefst von der Wahrheit seiner eigenen medizinischen Lehren überzeugt war, fast hemmungs- und schonungslos diejenigen Kollegen angriff, denen er unwissenschaftliches Denken und Verhalten vorzuwerfen sich genötigt sah. Es ging nicht um kleine Differenzen in der Methodik oder Lehre, sondern um fundamentale Kontroversen, die das gesamte Fach betrafen. Paracelsus hielt niemals mit seiner eigenen Meinung hinter dem Berg zurück und kritisierte die anderen Ärzte genauso heftig und verletzend, wie diese gröbstes Geschütz gegen ihn auffuhren. Während in der zeitgenössischen Literatur vielmals sehr satirische Kommentare über den Ärztestand zu vernehmen sind (siehe den Beitrag von Albrecht Classen), kämpften die herausragendsten Vertreter der Medizin mit brutalsten Mitteln gegeneinander, um sich in ihrem eigenen Fach zu behaupten. Paracelsus insistierte insbesondere darauf, dass ein guter, durch Eid verpflichteter Arzt unbedingt mit den vier Säulen der Medizin – Philoso-
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phie, Astronomie, Alchemie und Tugend – engstens vertraut sein sollte, was deutlich auf den ethisch-moralischen Zuschnitt in seiner Lehre hinweist. Ja, Paracelsus integrierte sogar eine stark christliche Haltung in seine Idealvorstellung des richtigen, wahren Arztes, während die meisten Vertreter dieses Standes, wie er voller Verachtung meinte, nur am Geldgewinn und an der Steigerung ihres öffentlichen Ansehens interessiert seien. Wer kranken Menschen wirklich helfen wolle, müsse den höchsten Ansprüchen an die Tugenden genügen. Dies schloss für ihn auch eine aus heutiger Sicht sehr anerkennenswerte Skepsis und Kritik an geschriebenen Texten/Lehrbüchern ein, die der Arzt mit größter Vorsicht genießen müsse, während die persönliche Erfahrung zentrale Bedeutung besitze. Sogar sich auf die höchste Autorität in der Medizingeschichte, Hippokrates, zu verlassen, käme einem groben Irrtum gleich, weil man im Grunde nur auf die eigenen Lernerfolge in der Praxis zurückzublicken brauche, um den richtigen Weg zu finden. Paracelsus übte in einem gewaltigen Rundumschlag schärfste Kritik an allen medizinischen Autoritäten der Antike und des Mittelalters und insistierte dagegen auf das eigene praktisch fundierte Wissen, das er sich anhand der Arbeit mit bisher vernachlässigten Kranken bzw. Krankheiten erworben habe. Weiterhin, wie Gadebusch Bondio darlegt, unterstrich Paracelsus systematisch seine Motivationsstruktur, die sich aus der Liebe für den Menschen herleite, während die falschen, schlechten Ärzte nur auf den Eigennutz bedacht seien, weswegen deren Rezepte sich z.B. meistens schlicht auf Unrat und Kot stütze, während er selbst die reine und wirklich hilfreiche Medizin zu verabreichen fähig sei, weil seine Kenntnisse göttlichen Ursprungs seien. Im Traktat Labyrinthus Medicorum errantium von 1537/1538 bediente sich Paracelsus ganz bewusst der Metapher des Labyrinths, um zu zeigen, wie sehr die meisten Menschen, die sich ärztlich betätigt hatten, sich im schlimmsten Irrtum befunden haben, egal ob man an die griechischen, jüdischen oder arabischen Ärzte denke. Das gesamte schriftgetragene Gelehrtentum sei als Torheit abzulehnen, nur das Licht der Natur bzw. das Licht Gottes könne dazu dienen, wahrhafte Erkenntnis über die Natur des Menschen zu gewinnen, was all seine Kollegen, so Paracelsus, weitgehend missachtet oder falsch verstanden hätten. Gadebusch Bondio schließt mit der Beobachtung, dass für Hohenheim der echte Arzt, der mit Philosophie genauso vertraut sein müsse wie mit der Astronomie, Alchemie und der Tugendlehre, nicht bloß auf den menschlichen Körper achten würde, sondern viel mehr die Verbindung des Menschen zu Gott hin herzustellen bemüht sei. Man braucht sich nicht zu wundern, dass bei einem so hohen, fast schon theologischen Anspruch an den ärztlichen Beruf die meisten Kollegen Paracelsus jegliche Gefolgschaft verweigerten
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und ihn gerne als einen Scharlatan hinstellten, vielleicht um ihre eigene Unsicherheit oder peinliche Lücken genau auf diesen zentralen Gebieten zu verschleiern. Die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Paracelsus und seinen ihm meist sehr unliebsamen Berufskollegen finden viele interessante Parallelen in der Literatur des europäischen Spätmittelalters, in der gerade die Arztfigur zunehmend durch eine satirische Brille betrachtet wird. Obwohl es gerade im 15. Jahrhundert zu einer beträchtlichen Professionalisierung des Arztberufs gekommen zu sein scheint, was u.a. dazu führte, dass insbesondere Frauen als Heilpraktikerinnen beiseite gedrängt und unterdrückt wurden,54 tendierte man dazu, sich über diese Gestalt in der Öffentlichkeit lustig zu machen, wie Albrecht Classen in seinem Beitrag darstellt. Paracelsus scheute sich überhaupt nicht davor, mit größter Heftigkeit den gesamten Stand an Medizinern sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart in Grund und Boden zu verdammen, während er sich selbst als eine medizinische Kapazität hinstellte, der unbedingt zu vertrauen wäre. Bereits im Frühmittelalter gibt es Stimmen, die sich recht kritisch gegen die ärztliche Kunst äußerten, aber das Crescendo der Arztkritik bei Paracelsus ist fast nicht überbietbar, der einerseits die Zunft seiner Kollegen dem bittersten Spott aussetzte, andererseits die religiösnaturphilosophische Fundierung des Arztberufs einforderte. Dennoch erweist sich seine Haltung keineswegs als so völlig überraschend, wenn man das breite Spektrum einschlägiger Meinungen in der zeitgenössischen Literatur hierfür heranzieht. Geoffrey Chaucer hielt sich in seinen Canterbury Tales (vor 1400) noch relativ von kritischen Bemerkungen über Ärzte zurück und ließ sogar eine eher positive Meinung laut werden. Heinrich Wittenwiler in Konstanz machte sich dagegen schon recht heftig über die Kunst des Arztes in seiner allegorischen Dichtung Der Ring (ca. 1400) lustig, der seine Autorität nur dafür einsetzt, um die hilfesuchende Mätzli zu vergewaltigen. Sebastian Brant intensivierte diese negative Sichtweise noch durch den Zusatz, dass ja auch die meisten Menschen sich im Krankheitsfall völlig töricht verhielten und lieber einem Scharlatan vertrauten als einem seriösen Arzt. Allerdings gebe es dafür auch eine gewisse _____________ 54
Siehe dazu Renate Blumenfeld-Kosinski: Not of a Woman Born: Representations of Caesarean Birth in Medieval and Renaissance Culture. Ithaca und London 1990, S. 91–117; John M. Efron: Medicine and the German Jews: A History. New Haven, CT, und London 2001; Ortrun Riha: Heilkunde im Mittelalter. München 2005; Hans Baumann: Eine Vorgeschichte der modernen Medizin: ihr verschlungener Weg vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Entwicklungen. Norderstedt 2005. Aus iberischer Perspektive, siehe die Beiträge zu Medicine and Medical Ethics in Medieval and Early Modern Spain: An Intercultural Approach, ed. Samuel S. Kottek und Luis García Ballester. Jerusalem 1996.
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Berechtigung, weil Ärzte schlechthin immer weniger als vertrauenswürdige Mediziner auftreten bzw. weil sie zunehmend unter Konkurrenz von Betrügern und alten vermeintlich heilkundigen Frauen litten. Ganz schlimm wird es dann bei Till Eulenspiegel (zuerst 1510), der nicht nur die Ärzte, sondern praktisch jeden Menschen seiner Gesellschaft als Narren hinstellt. Zwar hören wir in den Erzählungen über diesen Schalk oftmals von Spitälern und Ärzten, aber der Protagonist demonstriert fortlaufend, um welche Betrüger oder unfähige Individuen es sich handelt, über die man nur noch lachen kann. Wesentlich gemischter sind die Meinungen des hessischen Schwankautors Hans Wilhelm Kirchhof hinsichtlich der Ärzte gestaltet, denn dieser formulierte sowohl herbe, geradezu verletzende Kritik als auch gutmütige bis zu respektvollen Urteilen gegenüber den Medizinern; dazu machte er sich gerne über die normalen Menschen lustig, d.h. insbesondere die Bauern, die Wunderkraft von Rezepten erwarten bzw. sich so töricht verhalten, dass der Arzt nur über sie lachen kann. Mit Matthias Vollmers Aufsatz gelangen wir wieder zu der Frage nach der dialektischen Beziehung zwischen Körper und Seele zurück, insoweit als der Topos von Christus als Arzt seit der Spätantike durch die Zeiten hinweg eine zentrale Rolle einnahm. Die katholische Kirche lehrte weitgehend, Krankheiten als Ausdruck von menschlicher Sündhaftigkeit anzusehen, was dazu führte, dass die medizinische Kunst eher als etwas Zwielichtiges beurteilt wurde, denn bei seelischer Gesundheit war nicht zu erwarten, dass der Körper zu leiden hätte. Um die Relevanz dieser Position im Mittelalter und der Frühneuzeit zu bestätigen, verfolgt der Autor eine systematische Sichtung der einschlägigen Textbelege vom Alten und Neuen Testament über die Werke der Kirchenväter bis hin zu den Bußbüchern des Mittelalters und der Frühneuzeit, schließt dazu die einschlägigen Aussagen von berühmten Philosophen und Theologen wie Thomas von Aquin ein, um von dort sich bis zu Paracelsus durchzukämpfen, ohne dass wirklich wesentliche Änderungen in der Interpretation der menschlichen Sünde festzustellen wäre, die, wenn sie einmal aufgetreten sei, sich fast zwangsläufig in der Form einer körperlichen Krankheit zu erkennen gebe. Für Paracelsus ergab sich daraus die Folgerung, dass die Menschen, um gesund zu werden, geistige Buße leisten müssten, d.h. nicht bloß Strafe zu bezahlen oder sich um Ablässe zu bemühen hätten, sondern die wirklich innerlich bereuen sollten, um so die Beziehung mit Gott erneut aufnehmen zu können, der dann die Gesundheit wieder herstellt. Vollmer geht dann noch einen Schritt weiter und betrachtet sich die Sündenlehre der lutherischen Kirche bis ins 17. und 18. Jahrhundert, wobei er eine erstaunliche Traditionslinie offenzulegen vermag, denn das Auftreten der Pest (siehe auch den Beitrag von Beutin) wurde regelmäßig als Reflex menschlicher Sündhaftigkeit erklärt. Vollmer warnt uns aber
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zugleich davor, im Mittelalter z.B. nur eine medizinische Lehre zu erkennen, so als ob damals jedes körperliche Leiden automatisch kausal auf eine Sünde zurückgeführt wurde. Hier gilt es noch weiter zu differenzieren, denn es wurden auch damals schon ursächliche Beziehungen z.B. zwischen falschem Verhalten oder Essgewohnheiten und Krankheiten erkannt. Dennoch überwog, und gilt eigentlich im religiösen Bereich bis heute die Vorstellung, dass Krankheit als didaktisches Mittel zum Einsatz gelangt, um den Menschen vom sündhaften Denken oder Betragen abzuwenden und zur Reue zu führen. Nach entsprechender Buße kann dann auch die erhoffte Gesundung wieder eintreten, wie es am besten wohl Hartmann von Aue in seiner Versnovelle „Der arme Heinrich” von ca. 1200 dargestellt hat (siehe auch oben). Krankheit konnte auch als Bewährungsprobe dienen, oder als Druckmittel Gottes, den Menschen dazu zu zwingen, mystische Visionen der Öffentlichkeit bekanntzugeben (siehe z.B. Hildegard von Bingen). Im Beitrag von Jürgen Helm handelt es sich um den Komplex der drei spiritus im menschlichen Körper, die lebenserhaltende Funktionen besaßen, wie man jedenfalls weit bis ins 17. Jahrhundert annahm. Beweisbar war diese Annahme nicht, aber die Vorstellung von den spiritus bot ein solch großes Erklärungspotenzial für viele biologische Prozesse, dass auf lange Sicht kein seriöser Zweifel daran laut wurde. Von Galens Lehren ausgehend entstand im Laufe der Zeit die klar umrissene Konzeption der drei spiritus, von denen der erste lebenserhaltende und nährende Funktion besaß und in der Leber angesiedelt war. Der zweite befand sich im Herzen und vermittelte affektive Kraft, während der dritte im Gehirn platziert war und von dort aus das Denken steuerte. Das Mittelalter wurde erst durch die arabischen Übersetzungen mit den antiken Texten Galens u.a. vertraut, identifizierte sich aber weitgehend mit dieser Geisteslehre, die eine ausgezeichnete Erklärung für das Innenleben des Menschen vermittelte, über das heute dagegen nur noch die Psychologie zu sprechen wagt. Insoweit als man aber keinen wissenschaftlich exakten Beweis dafür erstellen konnte, wandte sich die Aufmerksamkeit zunehmend der theologischen Übertragbarkeit dieser Vorstellungen zu, wovon später auch Paracelsus und seine Schüler zehren sollten. Die wichtigsten Rezeptionszeugen im 16. Jahrhundert – also noch nicht einmal Hohenheim an erster Stelle! – werden von Jürgen Helm in seinem Beitrag vorgestellt und kritisch diskutiert, und zwar Jean Fernels Physiologia von 1542 (mit mehreren später erweiterten und revidierten Neuauflagen), Michael Servets Christianismi restitutio (1553 anonym veröffentlicht) und Philipp Melanchthons Liber de anima, eine Überarbeitung des Commentarius de anima von 1540. Alle drei Autoren entwickelten, wie Helm darzulegen vermag, unterschiedliche, dennoch jeweils für sich genommen überzeugende Erklä-
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rungsmuster für das breite Spektrum menschlicher Affekte, die man natürlich allenthalben beobachten, insgesamt aber ohne die Spiritus-Lehre, ganz gleich wie sie nun speziell gestaltet war, nicht richtig zu verstehen in der Lage war. Insbesondere Melanchthon strebte danach, das Balanceverhältnis zwischen Wille, Kenntnis und Affekt auszuleuchten, was alles aber im Chaos zu verharren droht, solange sich nicht Gott dem Menschen zuwendet und Ordnung in der Willkür schafft. Wenngleich wir heute dazu tendieren, beträchtlichen Abstand von solchen Konzepten zu nehmen, erweist es sich doch, wie sehr die Vorstellung von den spiritus erheblich dazu beitrug, ein umfassendes synthetisches Modell für alle Wissensbereiche zu entwickeln, welches heute erst möglicherweise die integrative Medizin wiederzufinden scheint. Während die eine Gruppe der frühneuzeitlichen Gelehrten sich mit den spiritus auseinandersetzte, verfolgten andere balneologische Fragen, denn erst zu jenem Zeitpunkt war man in Europa mehr oder weniger wieder auf der Stufe der Wasserversorgung angelangt, wie sie noch in der Spätantike üblich gewesen war. Dies hatte, wie uns Werner Heinz vor Augen führt, beträchtliche Folgen für den medizinischen Einsatz des Bades für die Therapie von Kranken aller Art. Paracelsus war häufiger mit neuartigen Wasserversorgungsanlagen konfrontiert worden und hatte sich offensichtlich davon animieren lassen, balneologisches Denken in seine Gesundheitslehren zu integrieren. Bei den Römern war therapeutische Behandlung mittels Wasser ein ganz normaler Vorgang, wenngleich praktisch keine schriftlichen Reflexionen darüber vorliegen. Dies änderte sich dann im 16. Jahrhundert, auch wenn man selbst damals noch nicht dem technischen Standard der Römer völlig gleichkam.55 Im Mittelalter hingegen mangelte es ganz erheblich an Hygiene, weil eben nicht so viel Wasser zur Verfügung stand, während sich dies in der Renaissance, besonders in Italien, erheblich und sehr rasch veränderte. Paracelsus setzte sich relativ frühzeitig mit balneologischen Ideen auseinander, siehe z.B. seinen Traktat Von den natürlichen bedern (1525) und sein Bäderbüchlein zu Bad Pfäfers von ca. 1535. Entscheidend sei es, wie er hervorhebt, die Wirkung des Wassers auf den menschlichen Körper zu _____________ 55
Vgl. dazu jetzt die Beiträge zu: The Nature and Function of Water, Baths, Bathing, and Hygiene from Antiquitey Through the Renaissance, ed. Cynthia Kosso und Anne Scott. Leiden und Boston 2009 (Technology and Change in History, 11); für den technischen Einsatz bzw. die Gewinnung von Wasser für den alltäglichen Gebrauch siehe die Aufsätze in: Wind & Water in the Middle Ages: Fluid Technologies from Antiquity to the Renaissance, ed. Steven A. Walton. Tempe, AZ, 2006 (Medieval and Renaissance Texts and Studies, 322). Zuletzt dazu Britt C. L. Rothauser: „‚A reuer . . . brighter þen boþe the sunne and mone’: The Use of Water in the Medieval Consideration of Urban Space”. In: Urban Space in the Middle Ages and the Early Modern Age, ed. Albrecht Classen. Berlin und New York 2009 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture, 4), S. 245–272.
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beobachten und angemessen einzusetzen, was der anwesende Arzt genau einschätzen müsse, um seinen Patienten richtig zu behandeln. Entgegen früherer Forschungsmeinung vermag nun Heinz zu zeigen, dass Paracelsus sehr wohl hierbei die unverzichtbare Funktion des Arztes in den Vordergrund rückt, der genau messend und bestimmend die Behandlung mit und im Wasser zu leiten habe. Zur therapeutischen Behandlung trat dann noch das Kräuterbad bzw. das Kräuterdampfbad, aber generell hatte man doch nicht, wie Heinz klarsichtig beobachtet, so differenziert die Heilwirkung bzw. die Kraft der Gesunderhaltung durch Wasser im Griff wie zur Zeit der Römer, obgleich im 16. Jahrhundert die Zahl der einschlägigen balneologischen Studien in die Höhe schnellte. Die Erklärung, so Heinz, besteht darin, dass man zwar die Heilwirkung von Wasser beobachtete, nicht hingegen Erklärungen dafür besaß, woher diese stammte. Die Kraft des Wassers sei, so Paracelsus, letztlich stärker gewesen als der beste medizinische Rat eines der berühmten Hofärzte, weil im Wasser eine Wirkungsmacht vorhanden sein solle, die selbstständig tätig werde, wenn man sich den heilsamen Einflüssen des Wassers aussetze, wenngleich der Arzt immer noch vorsichtig beratend zur Seite stehen müsste. Paracelsus empfahl vor allem mehrfaches und wiederholendes Aufsuchen von Bädern, weil nur dann die volle balneologische Wirkung eintreten würde. Auch wenn Paracelsus in Hinsicht auf die Balneologie nicht wesentlich neues Gedankengut entwickelte und somit ebenfalls weit hinter der römischen Kultur zurückblieb, zeichnete er sich doch durch sein hohes Interesse am Wasser als therapeutisches Mittel wohltuend von seinen medizinischen Zeitgenossen aus. Ganz anders nähert sich Peter Mario Kreuter dem Phänomen Paracelsus, indem er die Linse des Historikers auf die Frage richtet, wie zu seiner Zeit Wahnsinn beurteilt wurde, weil der Begriff selbst so vielschillernd wirkt und durchaus variierende Bedeutungen in sich tragen kann. Kreuter wendet sich insbesondere solchen Herrscherfiguren der Frühneuzeit zu, die wir heute ohne Zweifel in die Psychiatrie verfrachten würden, während man zu ihrer Zeit wesentlich behutsamer und mit viel größerem Respekt vor der Autoritätsfigur in solch einem Fall vorgegangen ist. Generell besteht allerdings das Problem, wie Kreuter nur zu deutlich macht, wie wenig wir tatsächlich über diejenigen Menschen der unteren Schichten wissen, die der Krankheit des Irrsinns unterworfen waren. Zwar traten im 16. Jahrhundert gelegentlich sogar schon Irrenärzte auf wie 1539 ein Meister Peter Mayr in Nürnberg, der für eine kurze Weile wohl erfolgreich tätig gewesen war, aber schon 1540 wieder aus der Stadt vertrieben wurde, weil er sich letztlich doch als ein Scharlatan entpuppt hatte. Ein weiteres Problem besteht darin, die verschiedenen Formen des Wahnsinns oder speziell des Veitstanzes zu identifizieren, denn die uns vorliegenden Quellen er-
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lauben heute nicht mehr die genaue Identifizierung des medizinischen Phänomens. So bleibt bis heute der sogenannte „Englische Schweiß” ein Rätsel, denn dessen Ursachen sind uns unbekannt, und außerdem verschwand diese Krankheit seit 1551 vollkommen von der Bildfläche Durch diese kritischen Fragen sensibilisiert wendet Kreuter seine Aufmerksamkeit solchen Herrscherpersönlichkeiten zu, die im 16. Jahrhundert als wahnsinnig galten, z.B. der Habsburger Kaiser Rudolf II. (reg. 1576–1611/1612), doch bleibt es weiterhin sehr umstritten, ob er tatsächlich unter Wahnsinn litt oder nicht vielmehr unter Melancholie und Depressionen. Auch sein extremer Alkoholkonsum vor allem im höheren Alter führte zu manischem Verhalten und erzeugte Zeichen, die auf Geisteskrankheit schließen konnten, ohne dass jemals Einigkeit darüber erzielt wurde. Anders sah es hingegen im Fall seines illegitimen Sohnes Don Julius Cäsar d’Austria (ca. 1585–1609) aus, den Rudolf 1606 in die Herrschaft Krumau eingesetzt hatte, wo er sich zu einem rabiaten, fast gemeingefährlichen Schürzenjäger entwickelte. Wahrhaftig tragisch war somit der Ausgang seiner Beziehung zu seiner Geliebten Markéta Pichler, die er eines Tages in einem cholerischen Anfall aus dem Fenster stürzte, was sie jedoch noch überlebte. Julius erzwang dann ihre Rückkehr zu ihm, doch 1608 geriet er in eine solche Tobsucht, dass er nicht nur einen Diener irrsinniger Weise angriff, der freilich noch fliehen konnte, sondern sich dann über Markéta hermachte, die er bestialisch stückweise ermordete. Im Vergleich zu ihm wäre also Rudolf keineswegs einfach als Geisteskranker einzustufen, ohne dass es wirklich möglich wäre, objektive Kriterien für dieses Untersuchungsthema zu entwickeln. Es ließe sich sogar vermuten, dass der Verfasser des berühmt-berüchtigten Hexenhammers, des Malleus maleficarum, Heinrich Kramer gen. Institoris (ca. 1430–ca. 1505), unter geistiger Verwirrung litt, was sein katastrophales Auftreten in Innsbruck zu bestätigen scheint, der zu seinem Landesverweis führte. Später aber entwickelte er trotzdem fulminant-verheerende Aktivitäten in seiner Sucht danach, eine globale Hexenverfolgungskampagne zu entwickeln, was, wie Kreuter hier impliziert, das tragische Resultat seiner Wahnvorstellungen gewesen sein könnte. Könnte man dann eventuell überhaupt in Erwägung ziehen, ob nicht die Gesellschaft der Frühneuzeit hinsichtlich der vermeintlichen Hexen in eine Art Hysterie und geistige Umnachtung verfallen war?56 Paracelsus verfolgte in Bezug auf die Geisteskrankheit wie bei ihm so üblich den Mittelweg und insistierte regelmäßig darauf, an erster Stelle die Hilfe Gottes zu erflehen, um Gesundheit zu erreichen. In seinem Traktat _____________ 56
Vgl. dazu auch Hans Sebald: Witch-Children from Salem Witch-Hunts to Modern Courtrooms. New York 1995; Lyndal Roper: Witch Craze: Terror and Fantasy in Baroque Germany. New Haven und London 2004.
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De morbis amentium untersuchte er systematisch die verschiedenen Fälle und erstellte wirklich beachtenswerte Krankheitsbilder, auch wenn seine Empfehlungen mehr der Alchemie und der Theologie geschuldet sind als sich auf empirisch-medizinische Untersuchungen zu stützen. Für den Veitstanz bestimmte er z.B. ein sündhaftes Leben als die wesentliche Ursache, glaubte also, durch moralisch-religiöse Ermahnungen wahrhafte Heilungen erzielen zu können. Zugleich erkannte er, dass unter bestimmten Umständen auch erbliche Belastungen die Geisteskrankheit hervorrufen konnte, was bei Paracelsus auf ein sehr differenziertes Denken schließen lässt. Hinsichtlich der Hexen, über die er in De sagis et earum operibus handelte, insistierte Paracelsus darauf, dass diese Personen nur als Opfer teuflischer Beeinflussung anzusehen seien, denen konkret bei rechtzeitiger Behandlung geholfen werden könnte, wenn man den Aszendenten aus ihrem Körper zu vertreiben in der Lage war. Bestrafung von Hexen sei laut Paracelsus völlig unsinnig und würde gar nichts bewirken, während er religiöse Betreuung wie Beten und Fasten als einzig effektive Methode bezeichnete. Letztlich kann man zusammenfassen, dass Paracelsus sich wirklich umfassend mit dem Phänomen der Geisteskrankheit beschäftigt hatte, diese sorgfältig nach vielen Kategorien getrennt untersuchte und sogar spezifische Empfehlungen im Umgang mit Hexen aussprach, die er keineswegs verbrennen lassen wollte, weil er sie vielmehr bloß als im Grunde unschuldige Opfer der Verführungskraft des Teufels ansah. So weitsichtig Hohenheim hierbei auch gewesen sein mochte, seine einschlägigen Schriften gelangten zeit seines Lebens nicht in den Druck und vermochten so auch keine öffentliche Wirkung auszuüben. Der berühmte Arzt Johann Weyer (1515–1588) verfolgte zwar durchaus vergleichbare Lehren, äußerte sich aber nur verächtlich über Paracelsus und seine Schüler.57 Ganz anders sah dies hinsichtlich seiner Bemühungen aus, über Möglichkeiten zu reflektieren, den Menschen durch seine Lehren ein langes gesundes Leben zu ermöglichen. Paracelsus schrieb 1526 und 1527 zwei Traktate über langes Leben (Liber de vita longa; Libri quatuor de vita longa), die aber auf lange Zeit nicht in den Druck gelangten. Seine Schüler bemühten sich später darum, diesem Desiderat zu begegnen, so Bodenstein, der 1560 Libri quatuor de vita longa endlich posthum in den Druck brachte, gefolgt von seinen Archidoxa 1570, in denen die deutsche Version (Liber de vita longa) enthalten war. Allerdings stritt man sich unter den Nachfolgern von Paracelsus relativ heftig um die Authentizität einzelner Textsammlun_____________ 57
Witches, Devils, and Doctors in the Renaissance. John Weyer: De praestigiis daemonum. General Editor George Mora. Binghamton, NY, 1991 (Medieval & Renaissance Texts & Studies, 73), S. 153f.
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gen, vor allem wenn wir an den belgischen Arzt und Übersetzer Gerard Dorn denken, worüber uns Thomas Willard in seinem Beitrag ausführlich informiert. Manche bemühten sich darum, Paracelsus’ Lehren zurück in einen mittelalterlichen Kontext zu transportieren, andere strebten danach, den Meister als einen Wegweiser in die Moderne zu deklarieren, aber alle waren vorläufig noch tief fasziniert von seinen Gedanken darüber, wie ein hohes Lebensalter zu erreichen wäre. Noch lange vor der Drucklegung müssen viele Manuskripte der Schriften Paracelsus’ kursiert haben, und die Debatte kreiste darum, inwieweit sich Paracelsus auf das Auftreten von Geistern stützte oder nicht, was sehr bald zu einer Medienkampagne gegen diesen Gelehrten ausuferte, insoweit als seine Werke insgesamt als nichtsnutziges und abergläubisches Geschwätz abgetan wurde, obgleich er doch sich ernsthaft um fundamentale Lebensfragen bemühte, wie es ja auch seine ‚Jünger’ vielfach bestätigten. Es wurden aber sehr unterschiedliche Meinungen vertreten, welche Edition den richtigen Text des ‚Meisters’ wiedergäbe, was Willard anhand vielfacher Autopsien gründlich recherchiert. Gerade diese Vielfalt mag aber dazu beigetragen haben, den Gegnern von Paracelsus hilfreichen Zündstoff in die Hand zu geben, ihre Polemiken werbewirksam zu verbreiten. Insoweit als Paracelsus manche Texte explizit für das breite Lesepublikum intendierte, andere hingegen nur für die Gelehrten, entstand relativ rasch ein Mythos um diesen Autor, den die spätere Öffentlichkeit nicht mehr ernst nehmen wollte, weil er sich selbst einen etwas dubiosen Nimbus geschaffen hatte. Aber seit der Mitte des 17. Jahrhunderts steigerte sich erneut das Ansehen von Hohenheims, weil zugleich das Interesse an Esoterik und Okkultismus beträchtlich gewachsen war, z.B. als Folge des Zusammenbruchs der Zensur in England. Auch Jakob Böhme, Jane Leade und William Law u.a. erlebten damals ihre größten Erfolge. Die zweite Welle der Rezeptionsgeschichte trat Ende des 19. Jahrhunderts auf, und die dritte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als C. G. Jung sich ernsthaft mit Paracelsus zu beschäftigen begann. Im zweiten Teil seiner Untersuchung widmet sich Willard der speziellen medizinischen Lehre von Paracelsus, wie man ein langes Leben erreichen könne, wobei sich dieser zwar z.T. auf die richtige Balance der vier humores stützte, zugleich aber viel stärker noch eine Kombination von mythischen Gedanken und biblischen Ratschlägen entwickelte. Entscheidend dürfte aber seine Vorstellung von den spiritus sein (siehe dazu den Beitrag von Jürgen Helm in diesem Band), die der wahrhaft geschulte Arzt genauso in seine Therapie einbeziehen solle wie physio-chemische Bedingungen, womit mikro- mit makrokosmischen Erkenntnissen eng verbunden werden, um eben dieses lange Leben zu erreichen, das sowohl von der Seele als auch den spiritus gefördert und getragen wird.
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Zuletzt präsentiert Andreas Brenner eine faszinierende Studie über die keineswegs so klar bestimmbaren Kriterien, was Wahnsinn ausmacht und was die menschliche Vernunft, und dies aus philosophiegeschichtlicher Sicht, womit unser Band die erhoffte Abrundung erhält, weil damit die tiefgründigen Spannungen zwischen Geist, Seele und Körper noch einmal in den Blick geraten. Bereits in der griechischen Antike diskutierte man die Spannbreite von Erklärungen des Wahnsinns, die von Krankheit bis zur göttlichen Begabung reichen konnten. Wie sich schnell erweist, handelt es sich stets um die Abweichung von der Norm, was dies auch im Einzelnen heißen mag und wie diese Abweichung individuell zu bewerten wäre. Wer vom göttlich inspirierten Wahnsinn beseelt ist, vermag zu wahrsagen (Manike) und besitzt, wie es Sokrates schon formulierte, eine gewisse Verwandtschaft mit den Göttern. Wie aber krankhaft veranlagter Wahnsinn vom prophetisch bestimmten Wahnsinn zu unterscheiden sei, trennte im Laufe der Zeit die Geister, vor allem seitdem mit Plato der Wahnsinn in einen deutlichen Gegensatz zur menschlichen Vernunft gestellt wurde. Cicero kontrastierte ganz explizit „insania” mit „ratio” und wies damit den Weg in der Philosophiegeschichte, den wir weitgehend bis heute beschreiten. In der Geschichte der christlichen Kirche gab es zwar noch während des Mittelalters vielfache Ausnahmen, als die Mystiker auftraten, aber schon seit dem 15. Jahrhundert wurden auch diese rigide verdrängt und seitdem als Hexen verschrien.58 In der neueren Philosophiegeschichte (Hobbes, Locke) erfolgte dann, wie Brenner ausführt, die weitere Differenzierung zwischen Wahnsinn und Blödsinn, was das erste Phänomen pathologisiert und es aus der moralischen Zange der katholischen Kirche befreite, ohne aber die absolute Dominanz der Rationalität als normgebend zu vernachlässigen. Die Moderne könnte also aus diesem Blickwinkel so definiert werden, dass das Göttliche als letzte Instanz verdrängt bzw. aufgehoben und durch die Vernunft ersetzt wurde, gegen die sich also der Wahnsinn absolut nicht mehr halten kann (Descartes und Kant). In der kantischen Lehre kommt es dann zu noch weiteren Aufspaltungen in Grillenkrankheit und Manie, was sich auf das Ausmaß des gestörten Verhältnisses zwischen Ratio und Umwelt bezieht. Bei Manie läuft das Gehirn völlig durcheinander, während bei der Grillenkrankheit kausale Verknüpfungen verloren zu gehen drohen. Im Fall des krankhaften Wahnsinns entsteht die Notwendigkeit, den von fremder Vernunft Betroffenen in Schach zu halten, was auch den körperlichen Angriff auf die ‚normalen’ Menschen verhindern soll. Vernunftgetragenes Verhalten trägt _____________ 58
Außerordentlich gut hat dies Peter Dinzelbacher in seiner Studie: „Heilige oder Hexen? Mystik als historisches Phänomen”. In: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg: Hexenwelten. Neue Folge, 31 (2001), S. 1–26, dargelegt.
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auch dazu bei, Sittlichkeit hochzuhalten und ein moralisches Leben zu führen. Seit Schopenhauer entwickelte man hingegen neue Positionen und erblickte eine Reihe von Möglichkeiten, die Traumwahrnehmung in die uns interessierende Betrachtung einzubeziehen, weil dort im Traum ganz neue oder viel breitere Welten erblickt werden können. Das Genie wäre somit der-/diejenige, der oder die Erkenntnisse gewinnt, die auf dem Wege der normalen Vernunft praktisch nicht möglich wären, was uns freilich wieder an die mittelalterlichen Mystiker/Innen denken lässt. Nicht von ungefähr begegnen wir nun an dieser Stelle Friedrich Nietzsche, der den Gedanken formulierte, dass nur der Wahnsinn fähig sei, völlig neue Gedanken zu entwickeln. Vernunft hingegen strebe danach, Kollektivordnungen herzustellen, was, so Brenner, zum Terror führen könnte, gewaltmäßig die ganze Menschheit zum Wandel hin zur vermeintlichen oder tatsächlichen Weltverbesserung zu zwingen. Freiheit ist also, wenn man diese Überlegungen logisch zu Ende führt, keineswegs notwendig mit Vernunft verbunden, ganz das Gegenteil könnte auch der Fall sein. In der Dichtkunst, Malerei oder Musik waren von jeher schon die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn wesentlich niedriger, vernimmt man ja immer wieder, dass die wahre Inspiration für das Kunstwerk göttlicher Natur sein muss, was Brenner zuletzt anhand des berühmten Falles der italienischen Dichterin Alda Merini (gest. 2009) eindringlich illustriert. Insbesondere Kant hatte sich gegen Quantensprünge in der Vernunft gewehrt und die Philosophie in die strengen Fesseln der Rationalität einbinden wollen, was zwar eine innere Logik gewährleistete, der Philosophie aber ganz gewiss einen großen Bereich andersartiger Erkenntnisse raubte. Brenner plädiert also dafür, Wahnsinn und Mystik nicht automatisch als etwas Krankhaftes hinzustellen, sondern, wofür es in der gesamten Geschichte des Abendlandes und wohl auch des Orients genügend Beispiele gibt, als zusätzliche Bereiche der Erkenntnismöglichkeit außerhalb der Vernunft. Zum Schluss sei noch einmal der Theophrastus-Stiftung für die großartige Unterstützung der 3. Tagung gedankt, dazu für die wunderbare Hilfe bei der Erstellung des druckfertigen Manuskripts. Wir freuen uns alle bereits auf die 4. Tagung, die im März 2011 in Erfurt stattfinden wird, wenn dieser Band eventuell schon erschienen sein wird. Ich bin den Beiträgern für ihre Bemühungen sehr dankbar, auf meine zahllosen Fragen, auf mein Drängeln und Nachstochern so freundlich kollegial reagiert zu haben. Es bleibt nur zu hoffen, dass der vorliegende Band auch die erwünschte Aufnahme seitens des wissenschaftlichen und öffentlichen Publikums erfahren wird. Mit Hochachtung kann man nur auf Paracelsus zurückblicken, der gerade heute wieder durch seine manchmal seltsam
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anmutenden Gedanken den medizinisch-wissenschaftlichen, zugleich aber auch philosophisch-theologischen Diskurs so anzuregen vermag – in kritischer Auseinandersetzung oder mit großer Zustimmung. Gewiss befand er sich auf einer Außenseiterposition, gewiss äußerte er sich vielmals in etwas verschrobener, uns heute sehr merkwürdig anmutenden Art und Weise, und seine Gedanken scheinen oftmals zwischen mittelalterlicher Orientierung und neuzeitlicher Perspektive geschwankt zu haben. Trotzdem können wir ihm nicht die Anerkennung verweigern, grundlegend neue wissenschaftliche Wege eingeschlagen zu haben, die weit über die traditionelle Schulmedizin hinausgingen, auch wenn, oder gerade weil er sich dabei zugleich stark auf spirituelle, geistige Einstellungen stützte. Die Ironie der Geschichte besteht ja gerade darin, dass häufiger genau diejenigen, die zu ihrer Zeit wenig oder gar keine Anerkennung gefunden haben, sich später als federführend herausstellten. Genau in solch einem Spannungsgeflecht befand sich aber Paracelsus.
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Krankheit, Sterben und Tod im frühen 16. Jahrhundert Johannes Grabmayer
Abstract Die Auseinandersetzung mit Krankheit in der Zeit um 1500 findet immer auf verschiedenen, ineinander übergreifenden Ebenen statt und kann auf zwei große Ursachenkomplexe zurückgeführt werden: einen physischen, medizinisch-äußeren, und einen psychischen, religiös-inneren. In diesem Zusammenhang sind die Wundertaten der Heiligen zu verstehen. Und nur allzu oft wird „Krankheit“ als Strafe Gottes interpretiert. Die von der gelehrten Medizin vertretene Vorstellung hingegen geht auf die seit der Antike entwickelte Humores-Lehre zurück. Der Mensch als Krone der Schöpfung steht im Zentrum des Universums und gilt als kleines Spiegelbild, als Mikrokosmos der Welt. Er ist das komplexe Abbild des Universums (vgl. Gregor Reischs Margarita philosophica von 1503). Die Elementenlehre (Humoralpathologie) des Galen ist bestimmend für die abendländische Medizin, wogegen sich später Paracelsus vehement wenden sollte. Parallel dazu gilt Krankheit „den Vielen“ als böser Zauber, werden die meisten Heilkräuter als Zaubermittel verstanden und gemeinsam mit dem Aufsagen von Zaubersprüchen verabreicht. Als Krankheitsursache gelten insbesondere falsche Lebensführung, Vergiftungen, verdorbene Luft oder schlechtes Klima. Im Zusammenhang mit dem aus dem Mittelalter überkommenen Analogiebeweis ist die Harnbeschau (Uroskopie) zu sehen. Die weitverbreiteten Gesundheitsregeln (regimen sanitatis) weisen auf die Auffassung hin, dass Gesundheitsschutz vorrangiges Ziel noch vor der Behandlung von Krankheiten zu sein habe. In den Jahren nach 1500 werden Sterben und Tod ganz anders empfunden als heute. Man wünschte sich einen „schönen“ Tod, einen, der genügend Zeit zur Vorbereitung auf den Übergang ins Jenseits gestattete, einen Tod, der im Gegensatz zum „schlechten Tod“ stand, der vor allem jenen Menschen widerfahren sollte, die ein unredliches Leben geführt hatten. Den Tod festzustellen, ist die Aufgabe des medicus, dem die signa mortis das Ende ankünden. Nun verlässt die Seele den Körper und hat sich
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den höheren Mächten zu stellen. Die ausschließliche Aufgabe der Medizin ist es, den Moment des Todeseintritts festzustellen, alles andere bleibt den Geistlichen überlassen. Spezielle Verhaltensweisen sollen die Rückkehr der Toten verhindern, wozu neben anderem auch das Begräbnisritual zählt. Vor allem über die Begräbnisse der Großen sind wir gut unterrichtet, die sich deutlich von jenen der kleinen Leute unterscheiden. Insbesondere der Seele und ihrer Unsterblichkeit gilt das Augenmerk, nicht dem verwesenden Körper. Sixteenth-century debate about illness occurs at different, overlapping levels and can be reduced to two major causes: a physical, or external, medical cause and a psychological, or inner, religious one. (In the latter context we would have to understand the miracles performed by saints.) “Illness” is too often interpreted as a punishment sent by God for some kind of sinful misbehavior. Many believed that illness was an evil spell and most herbs were charms, and administered a remedy while reciting a counter-spell. Scholarly medical knowledge, however, has its roots in the ancient humoral medicine. Man is seen as the summit of the Creator's work and the human body mirrors the microcosm of our world (cf. Gregor Reisch’s Margarita philosophica of 1503). Western, or Occidental, medicine had been mainly influenced by Galen’s humoral doctrine (humoral pathology), but Paracelsus vehemently opposed this ancient tradition. Especially a bad lifestyle, poison, polluted air, and unhealthy climate were blamed for the outbreak of diseases. The examination of urine (uroscopy) was treated as confirmed by traditional medieval analogical evidence. The widespread rules for health (regimen sanitatis) prioritize the protection of health over the treatment of diseases. Die Angst vor einer schweren Erkrankung, die Furcht vor dem Ausgeliefertsein an Schmerz, Kummer und Leid, gehörte und gehört zu den schlimmsten Befürchtungen der Menschen überhaupt, umso mehr in Epochen wie der Zeit um 1500, in denen man sich der Bedrohung „Krankheit“ zeit seines Lebens weitgehend schutzlos ausgesetzt sah. Jede Hilfe war willkommen, wenn es galt, die vielen unerklärlichen Krankheiten, die so oft überraschend auftraten und das Leben entscheidend verändern oder gar beenden konnten, abzuwenden. In erster Linie ging es darum, das Leben zu bewahren, mit welchen Mitteln auch immer.1 Das, was wir heute unter einem organisierten Gesundheitssystem verstehen würden, steckt zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch nicht einmal in den Kinder_____________ 1
Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250–1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2004, S. 83–85.
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schuhen, und es gibt auch kein soziales Auffangnetz. Als Tatsache gilt, dass fromme Werke am Lebensende im Jenseits förderlich sind, und daher ist es nicht nur im Hinblick auf die Genesungschancen, sondern auch bezüglich des jenseitigen Lebens entscheidend, welcher sozialen Schicht die Erkrankten angehören. Für die Zeit um 1500 gilt noch immer, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen dem Hochadeligen, um dessen körperliche Wiederherstellung sich hoch dotierte Ärzte und eine Reihe von Priestern kümmern, die sich um sein Federbett einfinden, und dem Armen, der irgendwo in einer Hütte auf seinem wanzenverseuchten Krankenlager liegt und sich unbeachtet von seiner Umwelt vor Schmerzen windet. Wir befinden uns erst am Anfang einer sozialen Hygiene, wie sie sich im fortschreitenden 16. Jahrhundert immer rascher in den Städten entwickeln sollte. So sind die Hospitäler am Ausgang des Mittelalters noch keine Krankenhäuser im modernen Sinn, sondern eher Altensitze für betuchte Bürgerinnen und Bürger.2 Die christliche Idee der Hilfe für den Schwachen mit der Aussicht auf Verdienst im Jenseits fällt jedoch besonders in „der Stadt“ auf fruchtbaren Boden. Ohne sie ist das sich rasch entwickelnde, neue städtische Spitalswesen undenkbar, mit dem die Kommunen ihre Gesundheits- und Altenfürsorge zunehmend zu organisieren trachten. Schon bald nach 1500 beginnt die regelmäßige ärztliche Versorgung in den städtischen Spitälern mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit zu sein. Die durch die Rezeption des antiken medizinischen Wissens und der arabischen Wissenschaften herbeigeführte medizinische Revolution verdrängt ab dem 15. Jahrhundert den Priesterarzt endgültig und ersetzt ihn zuerst in Frankreich, Spanien und Italien, später in den deutschen Landen, durch den gut ausgebildeten Laien. Parallel dazu engagiert sich die Kirche zunehmend für die Kranken in Liturgie, Sakrament und pastoraler Tätigkeit. Krankenmessen werden eingeführt, die letzte Ölung definiert und eigene Orden zur Krankenbetreuung geschaffen. Auch das Beichtsakrament als Mittel zur Heilung der kranken Seele, zuerst gefordert vom Pariser Theologen Wilhelm von Auvergne (um 1180–1249) und 1215 auf dem vierten Laterankonzil beschlossen, kann in diesem Kontext verstanden werden. „Kontrolle des Denkens seiner Beichtkinder, Machtausübung durch die Möglichkeit, die Absolution zu verweigern, finanzielle Einnahmen durch so genannte Reichnisse wie Beichtpfenninge und ähnliches, standen den Geistlichen nun offen“.3 _____________ 2 3
Kay Peter Jankrift: Krankheit und Heilkunde im Mittelalter. Darmstadt 2003, S. 59; Dieter Jetter: Geschichte des Hospitals. Bd. 1: Westdeutschland von den Anfängen bis 1850 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 5) Stuttgart 1966. Siehe Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 2: Hoch- und Spätmittelalter. Hg. und verfasst von Peter Dinzelbacher. Paderborn u.a. 2000, S. 50.
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Die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Auseinandersetzung mit Krankheit findet immer auf verschiedenen, ineinander übergreifenden Ebenen statt und kann auf zwei große unterschiedliche, ineinander übergreifende Ursachenkomplexe zurückgeführt werden: einen physischen, medizinischäußeren, und einen psychischen, religiös-inneren. Allerdings wird auch noch lange der gesamte medizinische Bereich von der Sorge um das Seelenheil nach dem Tod geleitet. Den Theologen der römisch-katholischen Lehre zufolge erhielt der Einzelne unmittelbar nach seinem Tod im „besonderen Gericht“ Lohn und Strafe und im „allgemeinen Gericht“ am Ende aller Tage, wenn sich die irdische Geschichte vollendet, als Glied des Menschengeschlechts eine Ergänzung von Lohn oder Strafe. Die Frage, wie sich denn die lange Wartezeit zwischen den beiden Gerichtstagen gestalte, war lange ein viel diskutiertes Thema. Die sich im Hochmittelalter durchsetzende, im Spätmittelalter allgemein akzeptierte und von den Reformatoren wieder verworfene Lehre vom Fegefeuer4 gibt die verbindliche Antwort: Wer seine Schuld abgebüßt hat, wird erlöst und von Engeln ins Paradies gebracht. Beim Partikulargericht unmittelbar nach dem Tod wird entschieden, wer sogleich als Heiliger in den Himmel darf, wer im Fegefeuer seine Sünden abbüßt und wer direkt in die Hölle fährt. Die ungetauft verstorbenen Kinder verbringen die Wartezeit im Limbus, einem neutralen Ort, wo sie weder Leiden, noch himmlische Freude empfangen. Am Jüngsten Tag kehren alle Seelen auf die Erde zurück und vereinigen sich mit ihrem auferstandenen Fleisch. Nun findet das allgemeine Gericht statt, auf dem Jesus alle für immer dorthin zurückschickt, wo sie gerade hergekommen sind.5 In den evangelischen Kirchen wurde die Vorstellung eines Läuterungsortes nach dem Tode abgelehnt. Die beiden Hauptargumente für die Ablehnung des Fegefeuers liegen in einer mangelnden biblischen Bezeugung desselben und in der reformatorischen Absicht, dass der Mensch allein durch den Glauben vor Gott gerecht werde. Wenn die Sünder also durch ihren Glauben an den Kreuzestod Christi gerechtfertigt seien, könne Gott sie nicht für ihre Sünden in ein Fegefeuer schicken. Martin Luther schreibt in den schmalkaldischen Artikeln von 1537, Christus habe die Messe ausschließlich für die Lebenden und nicht für die Toten gestiftet, wozu die katholische Messe jedoch verkommen wäre. „Darum ist das Fegefeuer mit all seinem Gepränge, Got_____________ 4 5
Zum Fegefeuer vgl. Jacques LeGoff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. München 21991; Himmel, Hölle Fegefeuer. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Peter Jezler, Hans-Dietrich Altendorf. München 21994. Johannes Grabmayer: Zwischen Diesseits und Jenseits. Oberrheinische Chroniken als Quellen zur Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Köln-Weimar-Wien 1999, S. 105– 112.
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tesdienst und Gewerbe für lauter Teufelsgespinst zu achten.“6 Was die einfachen Gläubigen vorrangig interessierte, waren keine theologischen Diskurse, sondern ihre eigene Seele, manchmal auch die ihrer Verwandten. Daher wird in den unzähligen Visionsberichten über das Weltgericht zuallermeist über das besondere, persönliche Gericht berichtet. Um 1500 ist die aus dem 12. Jahrhundert stammende Visio Tnugdali, die Tundalsvision, worin der weltlich gesinnte irische Ritter Tundal während des Essens plötzlich in eine drei Tage währende Ekstase fällt und dabei zu den verschiedenen Strafstätten des Jenseits geführt wird, in etlichen Drucken verbreitet, die Vision des Benediktiners Edmund aus dem englischen Kloster Eynsham ist ebenso beliebt wie die Vision der Colette de Corby (gest. 1447), oder die Kompilation des Kartäusers Richard Methley (gest. 1527/1528). Sein Orden setzte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts besonders intensiv mit dem Genre der Visionsliteratur auseinander.7 „Die Vielen“ kümmerte es kaum, dass die Reformierten Visionen generell ablehnten, weil sie nicht wörtlich der Bibel entnommen waren, oder dass die Humanisten alles rational Unerklärliche bekämpften. Sie wollten wissen, was sich „danach“ zutrage. Dum spiro, spero – Solange ich lebe, hoffe ich (Cic. Ad Attic. 9, 11) Die von weiten Kreisen der gelehrten Medizin der Zeit vertretene Vorstellung von „Krankheit“ geht auf die seit der Antike entwickelte sogenannte Humores-Lehre (auch Humorallehre) zurück. Der Mensch als Krone der Schöpfung, im Zentrum des Universums stehend, gilt als dessen kleines Spiegelbild, als Mikrokosmos der Welt. Durch seine Seele hat er Anteil an Gottes Geist, der höchsten Form des Seins, während sein Körper aus terrestrischen Stoffen besteht.8 Damit wird er zum komplexen Abbild des Universums, wie es der gelehrte Kartäuser Gregor Reisch (um 1470– _____________ 6 7
8
Martin Luther: Die schmalkaldischen Artikel (1537), S. 4, zit. nach http://theology.co.kr/wwwb/data/koreabank/SchmalkaldischenArtikel.pdf (14-04-2010). Zur Tundalvision vgl. Visio Tnugdali. Hg. von Nigel Palmer, München 1982; zu Edmund vgl. Visio Edmundi monachi de Eynsham. Interdisziplinäre Studien zur mittelalterlichen Visionsliteratur. Hg. von Thomas Ehlen, Johannes Mangei, Elisabeth Stein (Script-Oralia 105: Reihe A 25) Tübingen 1998; The Revelation of the Monk of Eynsham. Hg. von Robert Easting, Oxford-New York 2002; Zu Colette de Corby vgl. E. Sainte-Marie Perrin, La belle vie de sainte Colette de Corbie. Paris 1920. Zu Richard Methley und zur Rezeption von Visionen innerhalb des Kartäuserordens vgl. Sönke Lorenz, Bücher, Bibliotheken und Schriften der Kartäuser. Stuttgart 2002. Zu Visionen allgemein noch immer grundlegend vgl. Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23) Stuttgart 1981. Vgl. Grabmayer: Europa im späten Mittelalter. S. 85f.
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1525), ein enger Vertrauter Kaiser Maximilians I. und großer Gegner Luthers und des entstehenden Protestantismus, in seiner viel gelesenen Margarita Philosophica von 1503, diesem typischen Kompendium über das Wissen im frühen 16. Jahrhundert, beschreibt.9 Die Humoralpathologie des griechischen Arztes und Anatomen Galen aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert, entwickelt aus der empedokleischen Vier-ElementenLehre, ist das gesamte Mittelalter und auch noch zu Beginn der Neuzeit bestimmend für die abendländische Medizin. Durch die ergänzende Rezeption hippokratischer Aufsätze – Hippokrates hatte Krankheit auf ein Ungleichgewicht im menschlichen Körper als Folge eines unausgewogenen Verhältnisses der Säfte zueinander oder auf einen Konflikt mit dem natürlichen Zustand zurückgeführt – ist um 1500 die Meinung bestimmend, das Mischungsverhältnis der Säfte zueinander fixiere das Temperament des Menschen und beeinflusse den Körper. Paracelsus (1493– 1541) sollte gerade die Vier-Säfte-Lehre der Galenisten mit äußerster Schärfe bekämpfen und Krankheit als einen fremden, ursprünglich nicht in den Leib des Menschen gehörenden Körper verstehen und nicht etwa als eine aus dem Corpus selbst entstandene Störung im Sinn der Humoralpathologie.10 Da Gesundheit von den Zeitgenossen als Idealzustand gesehen wird, der nur annähernd erreicht werden kann, gilt ein gewisses Ungleichheitsverhältnis der Säfte als durchaus normal. Erst das starke Abweichen von den „normalen“ Verhältnissen der Säfte zueinander bzw. der von ihnen vertretenen Primärqualitäten Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit zieht die Ausbildung von Krankheitsmaterie nach sich. Die Organe werden vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet, in welcher Form sie an der Bildung, Umwandlung und Ausscheidung der Säfte beteiligt sind. Als Therapie zur Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts und damit der Gesundheit werden Schonkost und Bewegung verordnet, und vor allem gilt es, den Körper durch Aderlass, Brechmittel, Abführmittel, harntreibende Essenzen, verschiedene Bäder (Schwitz-, Sand-, Sitzbad, Übergießungen etc.)11 sowie Einläufe zu reinigen. Mondkalender, sogenannte Aderlasszettel und -briefe, geben neben den Mondphasen den Stand des Mondes im Tierkreis an und empfehlen, wann der Aderlass als besonders _____________ 9 10
11
Margarita Philosophica. Mit einem Vorwort, einer Einleitung und einem neuen Inhaltsverzeichnis hg. von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1973. Gernot Böhme, Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 2004; Erich Schöner,: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie. Wiesbaden 1964. Zu Paracelsus‘ Ablehnung der Lehre vgl. den Beitrag von Mariacarla Gadebusch Bondio in diesem Band. Vgl. dazu den Beitrag von Werner Heinz in diesem Band.
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wirksam gilt.12 Den Ausschlag dafür geben Jahreszeit und Planetenkonstellationen. Für günstig werden warme und feuchte Tage gehalten, weil dem Analogiedenken der Zeit entsprechend angenommen wird, dass an diesen Tagen auch das Blut besonders warm und feucht sei. Stets soll die Vergiftung – und die meisten Krankheiten werden als Vergiftungen gesehen – bei gleichzeitiger Stärkung von Herz und Magen aus dem Körper vertrieben werden. Die Bader des Mittelalters verwendeten speziell geformte Aderlass-Messer, die dann ab dem 15. Jahrhundert durch den Schröpfschnepper, ein Gerät, dessen spezielles Messer nach dem Anritzen der Ader zurückschnappte, abgelöst wurde.13 Natürlich war auch der Einsatz von Blutegeln eine zusätzliche Methode der Blutentziehung. Erste Aufzeichnungen zur Blutegeltherapie finden sich in Sanskrit ca. 500 v. Chr. und ausführlich bei Nikandros aus Kolophon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert.14 Auch die Verabreichung von Medikamenten zielte in die Richtung der Vergiftungsbekämpfung. Vor allem heilkräftige und schmerzstillende Pflanzen sollten helfen. Kräuterkunde und -medizin sind also um 1500 nach wie vor unerlässlich. Eberraute wird gegen Gicht genommen, Fenchel gegen Verstopfung, Husten und Augenentzündung, Kerbel gibt man zur Blutstillung, Wermut soll Fieber senken, Sellerie den Harn treiben. Lavendel soll die bösen Geister vertreiben, Wacholder Hexen und Zauberer abwehren, Fichtenzweige den Bilwis abhalten, diesen bösartigen Dämon, der wegen seiner Krankheitsgeschosse gefürchtet ist, und Eichenlaub nebst Wacholder soll vor dem Teufel schützen.15 Da die Auffassung weitverbreitet ist, Gewürze wie Pfeffer oder Zimt verstärkten die Heilkraft einheimischer Pflanzen, werden sie verschiedenen Heilkräutern beigemengt. Für viele Zeitgenossen ist die sogenannte Volksmedizin weit vor der Medizin der Ärzte von grundlegender Bedeutung. Auch die gelehrten Mediziner berufen sich immer wieder auf das Heilwissen der sprüche- und kräuterkundigen Altvorderen. Da seit urdenklichen Zeiten Krankheit als böser Zauber gilt, werden die meisten Heilkräuter auch als Zaubermittel verstanden und gemeinsam mit dem Aufsagen von Zaubersprüchen ver_____________ 12 13 14 15
Vgl. dazu zuletzt Helmut Groschwitz: Mondzeiten. Zur Genese und Praxis moderner Mondkalender (Regensburger Schriften zur Volkskunde – vergleichende Kulturwissenschaft 18) Münster 2008, S. 53–68. Daniela Krause: Aderlass und Schröpfen. Instrumente aus der Sammlung des KarlSudhoff-Instituts. Aachen 2004. Vgl. auch die instruktiven Abbildungen bei http://www.allancets.com/inscribed.html (letzter Zugriff am 30. 03. 2010). Blutegeltherapie. Hg. von Andreas Michalsen. Stuttgart ²2009, S. 3ff. Vgl. grundlegend dazu das Werk des Frankfurter Stadtarztes Johann Wonnecke von Kaub (gest. 1503/1504), Gart der Gesundheit (Hortus Sanitatis), Mainz 1485; vgl. auch Leonhart Fuchs: New Kreüterbuch. Basel 1543.
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abreicht, welche die Krankheitsdämonen bannen sollen.16 So steht in einem mit 1549 datierten Arzneibuch aus dem Zisterzienserkloster Viktring in Kärnten am Ende medizinischer Instruktionen zu verschiedenen Krankheiten und Heilkräutern das SATOR-Palindrom, und da es sich um Klostermedizin handelt, daran anschließend die aus heutiger Sicht köstliche Erläuterung: „Diese wort auf ain schniten Prot geschriben und solches in ain briefl und dorauf sandt Johans Evangeli geschriben ist eingewikelt vnd den Menschen oder Viech zum essen geben vnd darneben ain Vater Vnser bet (…)“ 17 Als Krankheitsursachen gelten vor allem fehlerhafte Lebensführung (Ernährung, Kleidung, körperliche Überbelastung), Vergiftungen, verdorbene Luft oder auch schlechtes Klima. Verdorbene Luft und Körperverfall werden analog gesehen. Daher wird danach getrachtet, dem Kranken ein angenehmes, „gesundes“ Duftumfeld zu schaffen. Oft wird vermutet, das Einatmen von zu feuchter, verdorbener Luft bewirke Organstörungen. Hier wirkt sich das zeitgenössische Analogiedenken auf dem medizinischen Sektor aus. In Riechäpfeln und Riechdosen oder Duftkissen werden wohlriechende Essenzen verwahrt, die der Reinhaltung der Luft dienlich sein sollen.18 Die weite Verbreitung der aus der Antike übernommenen Miasmatheorie, der zufolge Krankheiten vorzugsweise durch verdorbene Luft entstünden, hängt auch mit der enormen Geruchsbelästigung durch wilde Mülldeponien, Unmengen von Fäkalien auf und neben den Straßen, der Luftverschmutzung durch Gewerbebetriebe etc. in den Städten zusammen. Insbesondere in den Sommermonaten muss der Gestank selbst für abgehärtete Nasen enorm gewesen sein.19 Im Zusammenhang mit dem Analogiebeweis ist auch die Harnbeschau, die Uroskopie, zu sehen. Hier wird der Urin im Glas – das Harnglas (Matula) gilt oftmals als Symbol für Medizin schlechthin, der Urin als Filtrat der vier Körpersäfte – in Analogie zum menschlichen Körper gesetzt und je nach Aussehen der Harnfarbe auf eine Erkrankung geschlossen. Die überragende Bedeutung der Harnschau in der ärztlichen Diagnostik kommt auch in der bildlichen Darstellung der ärztlichen Tätigkeit ganz klar zum Ausdruck. Etwa 20 Farbabstufungen werden bei der Uro_____________ 16
17 18 19
Johannes Grabmayer: Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500. In: Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen. Hg. von Albrecht Classen (Theophrastus Paracelsus Studien 2) Berlin–New York 2010, S. 183–200, hier S. 185–187. Siehe Kärntner Landesarchiv, Katalog: H. Menhardt Handschriftenverzeichnis, B 9/34, p. 89. Zum SATOR-Palindrom vgl. Grabmayer: Heilige,Heiler und Hexen, S. 185. Renate Smollich: Der Bisamapfel in Kunst und Wissenschaft. Stuttgart 1983; Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000. Zur Pest vgl. den Beitrag von Wolfgang Beutin in diesem Band. Grabmayer: Europa im späten Mittelalter, S. 34.
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skopie unterschieden. So beschreibt der preußische Arzt und Universalgelehrte Jodocus Wilcke (1501–1552), ein guter Freund Philipp Melanchthons, in seiner Schrift De Urinarum Probationes 21 Harnfarben von kristallklar bis schwarz, und zu Beginn der Neuzeit ging man auch dazu über, den Urin abzuschmecken. Parallel mit der Entwicklung der Uroskopie ging jene der Uromatie einher, der Wahrsagerei aus dem Uringlas. Hunderte Scharlatane trieben mit der Leichtgläubigkeit ihrer Kunden ein ebenso betrügerisches wie einträgliches Geschäft.20 Die weitverbreiteten, beliebten Gesundheitsregeln (Regimen Sanitatis), die belegen, dass zumeist zuerst selbst versucht wird, eine Krankheit zu behandeln, ehe man sich an „Spezialisten“ wendet, erscheinen uns heute als Mischung zwischen Lebensweisheit, Verhaltensmustern, heilkundlich begründbaren Anweisungen, Monatsregeln und Ausdrucksformen des Aberglaubens, und sie weisen auf die höchst modern anmutende Auffassung hin, dass Gesundheitsschutz vorrangiges Ziel noch vor der Behandlung von Krankheiten zu sein habe. Dieser Grundgedanke äußert sich bereits in den Titeln der verschiedenen Werke: „Wie man die Gesundheit bewahrt“, „Bewahrer der Gesundheit“, „Wie man sein Gesundsein steuert“ etc.21 Zentral waren für die Menschen über die physischen Aspekte von Krankheit hinaus deren existenzielle Bewertung und die soziale Einordnung der Leiden im Rahmen ihres christlichen Weltbildes. Das ist der zweite und für die Menschen auf mentaler Ebene – trotz der Begründung einer universitären Medizin und zunehmender Professionalisierung eines Ärztestandes – wichtigste Ursachenkomplex für Krankheit, nämlich der moralisch-religiöse. Krankheit kann als Strafe Gottes, aber auch als göttliche Auszeichnung verstanden werden. Die Bibel lässt beide Interpretationen zu, wobei das Alte Testament insbesondere in patristischer Auslegung Krankheit als Strafe versteht. Im Neuen Testament hingegen erlöst Christus von körperlichen Leiden bei gleichzeitigem Nachlass der Sünden. Die Krankheit „sollte dein Kreuz seyn in dieser Zeit, damit du erwerben solltest große Gnade hier und mannigfaltigen Lohn in dem Himmelreich. Darum sei geduldig (…) Und nimm es auf bloß als eine freundliche Gabe von dem getreuen Gott“,22 betont etwa der große Mystiker des Spätmittel_____________ 20 21
22
Holger G. Dietrich, Jürgen Konert: Illustrierte Geschichte der Urologie. Berlin–Heidelberg 2004; Michael Stolberg: Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte. Köln–Weimar 2009. Vgl. dazu den Beitrag von Albrecht Classen in diesem Band. Gundolf Keil: „Der Hausvater als Arzt.“ In: Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Trude Ehlert. Wiesbaden 1997, S. 219–243; Heinrich Schipperges: Gesundheit und Gesellschaft. Ein historisch-kritisches Panorama. Berlin-Heidelberg 2003, v.a. S. 49–52. Siehe Heinrich Suso‘s genannt Amandus, Leben und Schriften. Nach den ältesten Handschriften und Drucken hg. von Melchior Diepenbrock. Regensburg 1829, S. 130.
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alters Heinrich Seuse (1295/1297–1366). So interpretiert, tilgt Krankheit die Sünden und bereitet auf das Jenseits vor. Zahlreiche Abbildungen des die Sünder heilenden Christus medicus weisen auf die tiefe Bedeutung von Krankheit als Folge von Sünde hin. Den Jüngern und in weiterer Folge den Heiligen wird die Macht zu heilen zugesprochen. Auch Martin Luther (1483–1546) bezieht sich in seinen Schriften auf Christus den Arzt, und Heilung ist für ihn physisch wie geistlich bedingt. Das Abendmahl wird zur „Arznei für Leib und Seele“23, und selbst der „Freidenker“ Paracelsus bezieht sich auf das Christus medicus-Motiv und führt Medizin auf die Barmherzigkeit Gottes zurück. Er meint auch, „dass all unsere Krankheiten Flagellen sind und Exempel und Anzeigung.“24 Von der lateinischen Kirche wird in christlicher Modifikation von Neuplatonismus und Stoa sowie unter Rekurs auf die im Rahmen der Bibelexegese gewonnenen Erkenntnisse immer wieder der Standpunkt vertreten, Krankheit sei eine Strafe Gottes und daher durch Reue, Buße und kirchliche Heilmittel wie Wallfahrten und Prozessionen oder Votivgaben heilbar. Ähnlich sehen es die Reformatoren. Andreas Osiander (1498–1552) etwa fragt: „Was ist die Ursache der Pest?“ Und er antwortet: „Unsere Sünden, als Unglaub, Ungehorsam und Undankbarkeit.“25 In solcher wirkungsmächtigen Auslegung steht Krankheit für den suchenden und irrenden Menschen auf dem Weg zum Heil. Und Prediger versäumen es nicht, sie den Gläubigen von der Kanzel herab als Folge göttlichen Zornes darzustellen.26 Das Ergebnis sind eine Fülle an Stiftungen, Prozessionen und Wallfahrten sowie ein überreiches Votivbrauchtum. Der erzürnte Gott soll beschwichtigt und damit die Krankheit abgewendet werden. Der Verlust der Beichtmöglichkeit vor dem Übergang ins Jenseits traf die Menschen zutiefst. Nach weitverbreiteter Meinung waren die Seelen der solcherart Bestraften den Dämonen schutzlos ausgeliefert. Es wurde von den Gläubigen verlangt, jeden Abend darüber nachzudenken, was sie tagsüber angestellt hätten, und mittels der probaten Gewissenskontrolle durch die Beichte wurden nicht nur Sünder von ihren Verfehlungen gegen entsprechende Buße befreit und religiöse Normen durchgesetzt, sondern und vor allem auch Scham geschaffen. Von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an begann mit der Sakramentalisierung der Beichte das Zeit_____________ 23 24
25 26
Woty Gollwitzer-Voll: Christus Medicus – Heilung als Mysterium. Paderborn 2007, S. 162f. Zit. nach Heinrich Schipperges: Die Kranken im Mittelalter. München 1990, S. 207. Vgl. zu Paracelsus und Christus medicus ders., Leitbild einer Lebenskultur. In: Gollwitzer-Voll, Christus Medicus, S. 163–170, hier S. 165f. Siehe auch den Beitrag von Matthias Vollmer in diesem Band. Zit. nach Manfred Vasold: Pest, Not und schwere Plagen. München 1991, S. 121. Vgl. den Beitrag von Matthias Vollmer in diesem Band.
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alter der Scham in Europa, wie es von Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510) zu Beginn des 16. Jahrhunderts so überzeugend formuliert wird: „Ich schämte mich zu Tode, wenn ich nur zu dem Pfaffen komme, niederknie, beichten will, den Beichtpfenning in der Hand habe und anfangen soll zu sprechen von meiner Armseligkeit, sagen soll die Sünden, die ich getan habe, schwitzen mir die Finger, ehe ich anfange“.27 Immer wieder wird auch von Sündenregistern erzählt, die über die Taten der Menschen geführt würden, und worin alle Verfehlungen und Verdienste minutiös aufgezeichnet wären. Diese Vorstellung war bereits der griechischen Antike geläufig und ebenso in der christlich-jüdischen Tradition verankert. Im apokryphen „Testament Abrahams“ aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert wird eine Weltgerichtsszene beschrieben, worin sich auf einem kristallenen Tisch ein riesiges Buch befindet, in dem die Sünden aller Menschen verzeichnet sind. Auch ins Neue Testament wurde die Auffassung vom Sündenregister des Einzelnen, das beim Letzten Gericht vorgelesen wird, aufgenommen (Off. 20, 12). Die älteste uns bekannte diesbezügliche Quelle aus dem Mittelalter ist in den Sermones Vulgares des Jacques de Vitry (um 1160/1170–um 1240) erhalten. Über spätmittelalterliche Predigtsammlungen findet das Motiv in verschiedenen Varianten Eingang in die neuzeitliche europäische Volkstradition, das Sündenbuch mutiert zum Sündenregister auf der Kuhhaut. Und in einem Salzburger Visitationsbericht von 1515 heißt es zu Zacharias, einem Volksheiligen aus der Nigglai, einem Tal unweit von Sachsenburg in Oberkärnten, er habe in der Kirche gesehen, wie der Teufel während der Predigt die Namen der Schwätzenden auf ein Blatt Pergament geschrieben hätte. Und als dieses zu klein geworden wäre, habe er es mit den Zähnen verlängert.28 Unzählige Wunderberichte und Wunderkataloge aus ganz Europa, die durchaus im Kontext der theologischen Legitimation von wundersamen Heilungen stehen, geben Aufschlüsse über den praktischen Umgang mit Heiltümern und die überaus konkreten Vorstellungen der Notleidenden, die sich an sie knüpften. Das Bedürfnis, Religiosität durch massiv materielle Zeichen, am besten durch den eigenen Körper, auszudrücken, ist ebenso deutlich festzustellen, wie der weitverbreitete Glauben, durch Berührung, körperliche Nähe und das Schauen der wundertätigen Reliquien, _____________ 27
28
Zit. nach Dinzelbacher: Handbuch der Religionsgeschichte, S. 49f. Zur Einführung der Pflichtbeichte und den mentalen Folgen vgl. ders.: Das erzwungene Individuum. Sündenbewusstsein und Pflichtbeichte im Mittelalter. In: ders.: Mentalität und Religiosität des Mittelalters. Klagenfurt–Wien 2003, S. 429– 456. Zum Sündenregistermotiv vgl. Lutz Röhrig: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. Bd. 1. Bern 1962, S. 267ff. Zu Zacharias vgl. Oskar Moser: Das Sündenregister auf der Kuhhaut. In: Studien zur Geschichte von Millstatt und Kärnten. Hg. von Franz Nikolasch (Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 78) Klagenfurt 1997, S. 817–826, hier S. 818f.
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Bilder und Skulpturen von Heiligen „Heilung“ zu erfahren. Vom Spätmittelalter an werden Stadt und Land vom „großen Laufen“, dem Wallfahrtsdrang, erfasst, der sich von ähnlichen Veranstaltungen früherer Zeiten durch Intensivierung, Formalisierung und Emotionalisierung unterscheidet.29 Spontan machen sich Menschen auf den Weg zu Gnadenstätten, wenn sie von wundersamen Geschehnissen hören, von denen sie sich Hilfe in ihren Leiden und Nöten versprechen. Der Reformator von Gotha und vormalige Minorit Friedrich Myconius (1490–1546) erinnert sich gegen Ende seines Lebens an das ausufernde Wallfahrtswesen seiner Jugend: „Item da kam das viel Feiern, Wallfahrt gehen gen Rom, zu St. Jakob, gen Jerusalem, zu St. Kathrein aufn Berg Sinai, zu St. Michel, gen Aachen, gen Fulda, zu St. Wolfgang, und ward schier kein Berg, kein Pfuhl, kein Grund, kein Tal, kein Wald, endlich auch Eich, Weide, Buche, man macht ein Wallfahrt dahin, und so man Geld gab, so bestätigt’s der Papst, gab Gnad und Ablass darzu.“30 Eine der Ursachen für das Überhandnehmen der Wallfahrten, insbesondere der Nahwallfahrten, wie es vom Reformator kritisch wahrgenommen wird, ist vor allem im von ihm kritisierten ausufernden Ablasswesen zu sehen, wodurch kleine Kultorte, die mit den gleichen Ablässen ausgestattet wurden wie die großen Wallfahrten nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela, eine zeitintensive, mühsame, gefährliche und vor allem auch teure Reise dorthin überflüssig machten. Ablass, der Erlass von Kirchenstrafen bzw. Bußen wurde oftmals als Nachlass der Sünden verstanden. Im Denken der Gläubigen kaufte man sich für Geld mittels eines Ablasses für eine bestimmte Zeit vom Fegefeuer frei. Natürlich blieb die Gültigkeit eines Ablasses seitens der Kirche immer an die Gesinnung der Reue, häufig auch an den Empfang des Bußsakramentes gebunden. Die Teilnahme an Messen und Andachtsübungen war verbindlich zur Gewinnung des Ablasses vorgeschrieben, aber der finanzielle Aspekt trat meist in den Vordergrund, denn Spenden zum Bau von Kirchen und Altären oder Almosen verschiedener Art wurden ebenso vorgeschrieben. Vorgefertigte Ablasszettel, in die nur mehr Name und Datum einzutragen waren, verstärkten den Geschäftscharakter des Freikaufes von den Sünden. Um eine breite Wirkung des Ablasses zu erreichen, wurden im Hinblick darauf, dass die Zielgruppe zum Gutteil des Lesens unkundig war, prunkvolle Ablassurkunden angefertigt und in einem beeindruckenden Festakt unter lautem Glockengeläute in der Kirche an gut sichtbarer Stelle aufge_____________ 29 30
Johannes Grabmayer: Zwischen Diesseits und Jenseits, S. 149. Zit. nach Otto Clemen: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897–1944). Bd. VII. Hg. von Ernst Koch. Leipzig 1985, S. 127f.
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hängt.31 Die große Zahl der regionalen und lokalen Wallfahrtsorte, die besonders der ärmeren Bevölkerung als Ersatz für Fernreisen zu den großen Gnadenstätten dienten, führte zur Spezialisierung der verschiedenen Heiligen auf bestimmte Leiden. „Der eine verehrt den Christophorus an gewissen Tagen, aber nur so, dass er sein Bildnis ansieht. Und was will er damit? Er hat sich überredet, an jenem Tage vor dem Tode sicher zu sein. Einer betet den Rochus an. Warum? Er glaubt, er könne seinen Körper vor der Pest bewahren. (...) Dieser fastet für Appolonia, damit er keine Zahnschmerzen kriege (...) Kurz, auf eben diese Weise machen wir so viele Heilige, als es Dinge gibt, die wir entweder fürchten oder wünschen. Ja, sie sind bei verschiedenen Nationen verschieden, sodass bei den Franzosen Paulus gilt, was bei uns Hiero oder Jakob ist, während Johannes hier weniger wert ist als dort“,32 wettert Erasmus von Rotterdam (1465/1469–1536) gegen die Heiligeninflation. Der Wunsch der Pilger des Spätmittelalters, durch direkten Kontakt mit dem Heiligen über seiner Grabstätte seelische wie körperliche Genesung zu erlangen, verlagert sich bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts immer mehr hin zur Erringung von Ablässen und damit zur Sündenbefreiung und Jenseitsvorsorge. Unzählige Ablassjahre werden gesammelt. So konnte man in Wittenberg Anfang des 16. Jahrhunderts mittels der dort vorhandenen Reliquien zwei Millionen Jahre Ablass erwerben, in Halle an der Saale gar 40 Millionen Jahre.33 Daneben bleibt der Wunsch, Bildnisse oder Reliquien von Heiligen zu berühren oder wenigstens zu schauen, zu Heiligengräbern zu reisen oder zumindest in ihrer Nähe zu sein, um durch die von ihnen ausströmende Kraft geheilt zu werden, als Zeichen visuell-haptischer Frömmigkeit auch weiterhin eine der gängigsten Formen religiöser Praxis. So sollen in Aachen 1496 anlässlich der alle sieben Jahre stattfindenden Reliquienschau (seit 1349), wobei die sieben Hauptreliquien (zwei Christusreliquien, eine Marien- und eine Johannesreliquie sowie die drei „kleinen“ Heiltümer, die Gürtel Jesu und Mariens und der Geißelstrick der Passion Christi) an sieben Tagen vor und sieben Tagen nach dem Kirchweihfest, dem 17. Juli, von sieben Stellen der Turmgalerie aus gezeigt wurden, allein an einem Tag 142000 Pilger an den Stadttoren registriert worden sein34 – überzogene Zahlenangaben, aber dennoch ein Ausdruck für die massenhaft verbreitete Gier der Gläubigen, Heiltümer zu schauen und bedeuten_____________ 31 32 33 34
Vgl. zum Ablasswesen Nikolaus Paulus: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters. Darmstadt 2008 (Nd.). Zit. nach Johannes Grabmayer: Volksglauben und Volksfrömmigkeit im spätmittelalterlichen Kärnten (Kulturstudien bei Böhlau 24) Wien–Köln–Weimar 1994, S. 77. Vgl. Dinzelbacher: Handbuch der Religionsgeschichte, S. 340. Harry Kühnel: Frömmigkeit ohne Grenzen. In: Alltag im Spätmittelalter. Hg. ders., Graz– Wien–Köln 1986, S. 92–113, hier S. 98.
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de Ablässe käuflich zu erwerben. Bei der Wallfahrt zur Schönen Maria in Regensburg wiederum wurden zwischen 1519 und 1524 insgesamt 50000 bleierne und 18000 silberne Pilgerzeichen verkauft.35 Das Ziel all dieser Wallfahrten ist die Instrumentalisierung der Heiligen als magische Helfer für individuelle Interessen. Die sinnlich-konkrete, leiborientierte Religiosität teilt sich gerade auch in der Verehrung von Heiligenreliquien mit. Massen wundertätiger Reliquienschätze füllen die Schatzkammern der großen Kirchen und Höfe um 1500. Der Glaube von Krankheit als Strafe Gottes wirkt sich aber auch entscheidend auf das Verhalten der Gesunden gegenüber Erkrankten aus. Die Toren, die geistig Schwachen, die Besessenen, auch andere auffällig Erkrankte wie Epileptiker, werden in den Städten oft entmündigt und abgesondert. Gelten sie als ungefährlich, dürfen sie sich frei bewegen und werden häufig Objekt des unverhohlenen Spottes und Hohnes von Kindern, aber auch von Erwachsenen. Hält man sie für gefährlich, werden sie wie Tiere in Käfigen eingesperrt. Durch dieses für uns heute menschenunwürdige Vorgehen gegen Menschen, die dringend der Hilfe bedürfen, zeigt sich die zutiefst in den Seelen verankerte Einschätzung von Krankheit als Sünde, insbesondere die Diabolisierung von Geisteskrankheit. Schwere Krankheiten gelten als Vorboten und Anfang einer ewigen Strafe schon auf Erden. Sie werden als von Gott gesandt verstanden, als Strafe für Genusssucht, für Zügellosigkeit, als allgemeine Abkehr von seiner Allmacht.36 Sic transit gloria mundi – Sterben und Tod Die intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tod ist eine der großen anthropologischen Konstanten, die Auslegung derselben hingegen von der jeweiligen Gesellschaft abhängig und kulturell-zivilisatorisch bestimmt. Heute wird der Tod vielfach als Feind gesehen, dem wir es nicht gönnen, zur Herrschaft zu gelangen. Die meisten von uns verdrängen ihn aus dem Bewusstsein und wünschen sich ein rasches, möglichst schmerz_____________ 35
36
Ebd., S. 114; vgl. auch Gerlinde Stahl: Die Wallfahrt zur „schönen Maria“ von Regensburg. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 2 (1968), S. 35–282, hier S. 202f.; Manfred Mögele: Wallfahrtsmedaillen des Bistums Regensburg. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 28 (1994), S. 486–571, hier S. 558. Edgar Barwig, Ralf Schmitz: Narren, Geisteskranke und Hofleute. In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller. Warendorf 1990, S. 167–199; vgl. auch Carlos Watzka: Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch und somatischen Kranken im frühneuzeitlichen Europa (Menschen und Kulturen 1) Köln–Wien u.a. 2005, v.a. S. 14–26; vgl. auch den Beitrag von Peter M. Kreuter in diesem Band.
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armes Sterben, den überraschenden Tod, der so seinen Schrecken verlieren soll. Ganz anders dachten die Menschen im frühen 16. Jahrhundert. Nach der weitverbreiteten Auffassung der Zeit kann man die Art des Todes in zwei große Gruppen unterteilen: den „schönen Tod“, der dem Menschen genügend Zeit zur Vorbereitung auf das Jenseits lässt und sich stets vorankündigt, und den jähen, vorzeitigen, „schlechten Tod“, der vor allem jenen Menschen widerfährt, die ein unchristliches Leben geführt haben. Der Tod ratifiziert gewissermaßen öffentlich-symbolisch, wofür der Lebende eingestanden ist. Um den guten Tod wird gebetet, die Vorsorge darum begleitet die Menschen ihr ganzes Leben lang. Sie trachten danach, sich mit Bußakten, Gebeten und dem Empfang des Sterbesakraments auf die jenseitige Welt vorzubereiten. Sterben und Tod gelten als notwendiger Aufwand für den Übergang in die jenseitige Welt. Die Furcht vor dem Sterben ohne Absolution und damit das Ausgeliefertsein an die Mächte der Unterwelt zählt wohl zu den Urängsten der Menschen. Zahllose mildtätige Stiftungen zeugen davon in gleichem Maße wie unzählige Predigten, Beichtspiegel, Visions- und Meditationstexte und -bilder etc., worin die Angst vor der Begegnung der dritten Art, der Kontakt mit Teufeln und Dämonen und die damit verbundenen schrecklichen Erlebnisse, geschildert werden.37 Den Tod festzustellen, ist Aufgabe des Medikus. Diesem künden die signa mortis, die Zeichen des Todes, das nahe Ende an, und mit dem Aussetzen des Herzschlags ist der Tod eingetreten. Die Seele verlässt nun den Körper und hat sich den höheren Mächten zu stellen. Die Medizin hat den Moment des Todeseintritts zu bestimmen, alles andere bleibt der Geistlichkeit überlassen. Dass die Feststellung des Todes tatsächlich immer wieder problematisch war, zeigen uns die Berichte über die Wiedererweckungen von Toten in verschiedenen Mirakelsammlungen. Es gibt keine allgemein anerkannten Methoden, den Eintritt des Todes festzustellen. Bezeichnend ist die makabre Geschichte vom Wiener Mediziner Bartholomäus Steber, des Schwagers des Wiener Universitätsprofessors Johannes Tichtel, dessen Tagebuch erhalten geblieben und eines der wichtigsten kulturhistorischen Zeugnisse der Zeit um 1500 ist,38 der sich 1491 vom Stadtrat eine Leiche für anatomische Studien erbittet und einen Delinquenten zugestellt erhält, der während der Sektion zu sich kommt und daraufhin freigelassen wird.39 Der Begriff des Scheintodes ist dem Menschen der Zeit zwar fremd, aber Tod wird nicht als Ende gesehen, sondern als Prozess, der durch ein Wunder auch rückgängig gemacht wer_____________ 37 38 39
Grabmayer: Zwischen Diesseits und Jenseits, S. 35ff. Johannes Tichtels Tagebuch 1477–1495. Hg. von Theodor G. v. Karajan (Fontes Rerum Austriacarum 1/1) Wien 1849. (Nd . Graz 1969). Vgl. dazu Grabmayer: Europa im späten Mittelalter, S. 102.
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den kann. Die Wiedererweckung vom Tode war in Anlehnung an biblische Vorbilder ein Standardthema der Mirakelsammlungen vom Frühmittelalter bis zur Zeitenwende nach 1500, eine Fähigkeit, über die jeder Heilige verfügen musste. Die Angst vor Sterben und Tod, die unter dem Eindruck der verheerenden Pestepidemien um 1500 noch einmal stärker ins Bewusstsein rückt, gründet indessen nicht primär in den medizinischen Ungewissheiten, sondern vielmehr in der Angst, das Seelenheil könnte verwirkt werden. Durch die Verstärkung alter und die Entwicklung neuer virtueller Verhaltensformen versucht man, diese Angst einzudämmen. So wird gehofft, mithilfe von Anleitungen die Kunst des guten Sterbens, die ars moriendi, erlernen zu können.40 Diesen Sterbebüchlein, deren „Prototyp“ 1408 von Johannes Gerson (1363–1429) verfasst wurde und ein Teil seines Opus(culum) Tripartitum ist, und das etliche Nachfolgeschriften nach sich zog, geht es vorrangig um das Seelenheil. Der Glaube ist weitverbreitet, die Zukunft der Seele im Jenseits entscheide sich oft erst in allerletzter Minute im Diesseits. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts glaubt man, sehr genau Bescheid zu wissen, was in den Reichen über und unter der Erde vor sich geht. Eine Fülle von Beschreibungen kursiert dazu, unzählige Bilder machen die unsichtbare Welt sichtbar. Daher „weiß“ man, dass der Gegengott in der Sterbestunde noch einmal alles unternimmt, um die freiwerdende Seele an sich zu reißen. Zuhauf umzingeln die Dämonen das Sterbelager und versuchen mit List und Tücke, ihr Ziel zu erreichen. Wie den teuflischen Verführungen zu widerstehen und gottgefällig zu sterben ist, kann man aus den reich bebilderten Sterbebüchlein lernen, denn die Unterweisung in die Kunst des Sterbens soll jedem nützlich sein, obwohl nicht viele lesen können. Durch die Innovation des Buchdrucks um die Mitte des 15. Jahrhunderts (Prokop Waldvogel aus Avignon, Laurens Janszoon aus Harlem, Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg) und die damit verbundenen neuen Techniken der Druckgrafik hatte sich die Bilderwelt innerhalb kurzer Zeit radikal verändert. Das Medium Bild ist auf dem Weg zum Massenkommunikationsmittel. Die Text-Bild-Kombinationen der Sterbebüchlein sind darauf ausgerichtet, jedem, auch jenen ohne Schulbildung, Trost und Hoffnung zu vermitteln. Offenbar ist es nicht schwer, die Tricks des Bösen zu durchschauen, die stets um die fünf ewig gleichen Versuchungen kreisen: jene im Glauben, durch Verzweiflung, durch Ungeduld, Hochmut und irdische Güter. Sie gilt es abzuwenden und ihnen Glaubensstärke, Zuversicht und Hoffnung, Geduld und Fügung, Demut und Bescheidenheit sowie Entsagung _____________ 40
Arthur E. Imhoff: Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute. Wien–Köln– Graz 1993; Franz Falk: Die deutschen Sterbebüchlein von der ältesten Zeit des Buchdrucks bis zum Jahre 1520. Bachern–Köln 1890 (Nd. Amsterdam 1969).
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und Verzicht entgegenzusetzen. Dabei können alle auf mächtige Hilfe zählen, niemand ist in der entscheidenden Stunde allein, selbst jene nicht, die allein darniederliegen. Engel und Heilige, die zu Lebzeiten diesen Versuchungen ausgesetzt gewesen waren und erfolgreich widerstanden hatten, vermitteln auf Bildern unerschütterliches Gottvertrauen und sollen den Sterbenden die Angst vor dem Unausbleiblichen nehmen. Gemeinsam mit den Menschen nehmen sie den Kampf gegen die Teufel auf. Nachdem der Moribunde verstorben ist, werden zuerst Augen und Mund geschlossen. Während die heutige Interpretation dieses Ritus ästhetisch-pietätvolle Gründe anführt – gebrochene Augen und geöffneter Mund werden als abstoßend empfunden – waren es um 1500 handfeste. Es wurde befürchtet, der „böse Blick“ des Verstorbenen könnte einen Lebenden nachholen, oder die durch den Mund entwichene Seele zurückkehren und den Toten zum Unheil stiftenden Wiedergänger machen. Die Vorstellung vom „lebenden Leichnam“ wirkt hier nach. Zahlreiche Exempla berichten durch die Jahrhunderte von lebenden Toten, wobei sich eine Häufung des Motives ab dem 13. Jahrhundert feststellen lässt. Der Zusammenhang dieser Renaissance von Wiedergänger- und Gespenstergeschichten im endenden Mittelalter mit der Fegefeueridee, die sich ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Christentum durchzusetzen begonnen hatte, und dem von der Kirche seit dem 11. Jahrhundert forcierten kirchlichen Totengedenken, das sich bald auch in Laienkreisen durchsetzte, ist evident.41 Fronleichnam, 1264 als allgemeines Kirchenfest eingeführt und von Luther 1527 als schädlichstes aller Feste bezeichnet, Fegefeuer, von den Protestanten abgeschafft, und Fürbitten, ebenfalls von ihnen verworfen, sind die Grundlage dafür, dass es als möglich angesehen wird, dass sich Verstorbene, die im Jenseits für ihre Sünden büßen, ihren Verwandten zeigen könnten, um Fürbitte zu erlangen und damit die Qualen zu verkürzen oder zu lindern, aber auch, um diese vor bevorstehender Jenseitsqual zu warnen. Die christliche Unsterblichkeitsidee, verbunden mit mangelnden naturwissenschaftlichen Kenntnissen und fehlendem medizinischem Wissen, leisteten Überlegungen zur Idee des lebenden Leichnams Vorschub und ermöglichten den Glauben an Menschen, denen gewisse Lebensfunktionen bis ins Grab und bisweilen darüber hinaus erhalten blieben. Diese Auffassung schlägt sich auch im Rechtswesen bis um etwa 1800 nieder, als Tote im Gegensatz zu heute immer noch Personen im Rechtssinn sind, Rechtssubjekte und daher auch Subjekte von Beziehungen der menschli_____________ 41
Vgl. Claude Lecouteux: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter. Köln 1987; Grabmayer: Zwischen Diesseits und Jenseits, S. 133–143.
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chen Gesellschaft. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts verliert der Tote seinen rechtlichen und sozialen Status.42 Anfang des 16. Jahrhunderts sind die Toten in der Gesellschaft der Lebenden stets gegenwärtig. Daher werden Klagen gegen Tote erhoben und am Leichnam vollstreckt. Tote Häretiker werden exkommuniziert und verbrannt, und so lässt sich auch erklären, dass sich Kaiser Maximilian I. (1459–1519) in einer übersteigerten Form der Contemptus-Mundi-Idee nach seinem Tod die Haare abscheren und die Zähne ausreißen und anschließend seinen Körper geißeln lassen will, oder dass die Leichen von Selbstmördern, die trotz ihrer Untat in geweihter Erde begraben worden waren, nach Eintreten von Unglücksfällen auf Drängen der Bevölkerung wieder ausgegraben und symbolisch bestraft werden müssen.43 Auch die Memorialfamilienbilder des Adels und Großbürgertums, die seit dem 14. Jahrhundert in immer größerer Zahl angefertigt werden, auf denen auch die verstorbenen Ehegatten und Kinder neben den Lebenden dargestellt werden, lassen den Status der Toten unter den Lebenden, die uns heute so fremde, konkrete soziale Bindung zwischen Lebenden und Toten, sichtbar werden.44 Der Glauben an die mit dem vorzeitigen Tod zusammenhängende, vorausbestimmte Lebenszeit ist allgemein verbreitet. Der vorzeitige Tod von Ermordeten, Selbstmördern, bei Unfällen, im Wochenbett oder anders unverhofft Verstorbenen stempelt sie zu potenziellen Wiedergängerkandidaten. Johannes Geiler von Kaysersberg meint dazu: „Die vor den zeiten sterben, ee den daz inen Got het uffgesetzet, die müssen also lang nach irem todt laufen, bis daz zil kumpt, daz inen Got gesetzt hat.“45 Spezielle Verhaltensweisen sollen die Rückkehr der Untoten verhindern. Verstorbene Missetäter werden gefesselt, in Embryostellung mit dem Kopf nach unten begraben, gepfählt oder mit Steinen verschüttet. _____________ 42 43
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Vgl. Wolfgang Schild: Die Geschichte der Gerichtsbarkeit. München 1980, S. 66–74. Zu Selbstmord um 1500 vgl. Gabriela Signori: Aggression und Selbstzerstörung. “Geistesstörungen“ und Selbstmordversuche im Spannungsfeld spätmittelalterlicher Geschlechterstereotypen im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. In: Traum, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften. Hg. dies. (Forum Psychohistorie 3) Tübingen 1994, S. 113–151. Zum Memorialbild vgl. Otto Gerhard Oexle: Memoria und Erinnerungskultur im Alten Europa – und heute. In: Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns. Hg. von Alexandre Escudier, Brigitte Sauzay und Rudolf von Thadden (Genshagener Gespräche 4) Göttingen 2001, S. 9–30. Zit. nach Grabmayer: Volksglauben, S. 29. Von Johannes Geiler von Kaysersberg stammt auch eine Übersetzung des Sterbebüchleins Gersons (1481), und er hat 1497 selbst eines verfasst: „Ein ABC, wie man sich schicken sol zu einem kostlichen, seligen tod“. Vgl. dazu Ralf-Henning Steinmetz: Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur in den Predigten Geylers von Kaysersberg. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Nicola McLelland u.a. (XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003) Berlin-New York 2008, S. 123–136.
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Häufig werden die Leichen von Ketzern, von Hexen und Zauberern verbrannt, und ihre Asche wird in ein rinnendes Gewässer oder in alle Winde gestreut. Der archaische Glauben an die urtümliche reinigende Kraft von Feuer und Wasser ist allerorten festzustellen, die Rückkehr der unsäglich Verstorbenen muss mit allen Mitteln verhindert werden. Vor allem über die grandiosen Begräbnisse der Großen sind wir gut unterrichtet. Wesentlich weniger wissen wir über die unspektakulären der unteren Gesellschaftsschichten. Eine Vielzahl von Quellen ermöglicht es, sich dem Prozess des Sterbens und der Todesbewältigung durch den Adel und die städtische Oberschicht des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit anzunähern. Vor allem Bildmaterial, Sargporträts, Totenbilder, Testamente, Epitaphe und Tumben, auch Sarg- und Grabinschriften, Grabreden oder musikalische Erzeugnisse können bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber Verallgemeinerungen ein anschauliches Bild der Begegnung zwischen dem Vermögenden und seinem Sterben geben. Die Leichenbegängnisse des Hochadels geraten oft zu einem Theatrum Mortis, denn die Potentaten haben auch im Sterben und im Tod Repräsentationsfunktionen sowie Vorbildcharakter, und sie und ihre Familien legen größten Wert auf das Totengedächtnis. In diesen Kontext gehört auch der berühmte Kenotaph Kaiser Maximilians I. in der Innsbrucker Hofkirche mit dem Trauerzug der 28 überlebensgroßen Bronzefiguren, den irrtümlich sogenannten „schwarzen Mandern“, welche Vorfahren und Verwandte Maximilians, darunter auch Frauen sowie Figuren aus der Mythologie darstellen.46 Der Tod begleitet das Leben und ist dessen andauernder Bestandteil. Man bereitet sich auf ihn vor und wartet auf die unausweichliche Konfrontation, wobei das Hinscheiden des Menschen zumeist nicht als absoluter Endpunkt und letzte Finalität aufgefasst wurde. Zur Vorbereitung darauf zielte eines der beliebtesten Gebetsbücher des 16. Jahrhunderts, der mit vielen Holzschnitten versehene Hortulus Animae, das „Seelengärtlein“, dessen erste deutsche Ausgabe 1501 erschien, die lateinische wurde 1498 in Straßburg gedruckt.47 Es begann mit der rechten Disposition des Sterbenden und dem reinigenden und stärkenden Sakramentempfang. Beichte, Krankenölung und Viatikum waren Hilfen, den Übergang in das ewige Leben leichter und schneller zu finden. Gerade der Mensch des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit war durchdrungen von der altchristlichen Glaubensbotschaft der Gemeinschaft der Heiligen, die der Theologie vom Tode und der liturgi_____________ 46 47
Vgl. Maximilian I. Der Kenotaph in der Hofkirche zu Innsbruck. Hg. von Christoph Haidacher u.a. Innsbruck-Wien 2004. Theologische Realenzyklopädie XII, S. 108f.
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schen Verabschiedungsriten zugrunde lag. Das setzte sich fort in der Abwehr aller Anfechtungen, die einen seligen Tod verhindern wollten. Beim Hochadel verflossen zwischen dem Todestag und der Beisetzung oft mehrere Monate, da das Begräbnisritual der höfischen Etikette zu entsprechen hatte, und, da das Begräbnis ein gesellschaftliches Großereignis war, oft langwieriger Vorbereitungen bedurfte. Johann VI. Laszlo von Kuenring, der am 9. Dezember 1594 verstorben war, wurde wegen der ungünstigen Jahreszeit und der Verhinderung des Adels durch Tagungen der Landstände erst am 9. April 1595 in der Pfarrkirche zu Seefeld bestattet. Da er der letzte Repräsentant seines Geschlechtes war, musste das Begräbnis schon aus diesem Grund besonders sorgfältig gestaltet werden. Der Leichnam wurde einbalsamiert, der tote Körper in ein schwarzes Gewand und die Beine in Seidenstrümpfe gekleidet. Hut und Taftmantel, die man auf „wällsche Manier“ umgeschlagen hatte, ergänzten die Totenkleidung. Der Tote wurde in eine „sehr teure“ Truhe gelegt, die wiederum in einen Eichenholz- und Zinnsarg gebetet wurde. Über die Särge schlug man ein teures Leinentuch und darüber ein doppeltes Tafttuch, welches mit golddurchwirkten Fransen und einem aus Silber gestickten Kreuz verziert war. Darauf wurden ein vergoldetes Schwert, ein vergoldeter Dolch und ebenfalls vergoldete Sporen gelegt. Im Leichenkondukt ging ein schwarz gerüsteter Trauerritter, dem eine besondere Funktion bei der kirchlichen Begräbnisfeier zukam. Da die Familie im Mannesstamm erloschen war, zerbrach er nach der Beisetzung einen Schild mit dem Geschlechtswappen und warf ihn in die Gruft. Nach dem theatralischdramatischen Ruf: „Kuenring, nimmer Kuenring“ sank er zu Boden, um so das Ende des Mannesstammes der Kuenringer anzuzeigen.48 Diese Form des Begräbnisses erinnert in Vielem an ein gut dokumentiertes, in der Literatur aber kaum zur Kenntnis genommenes Begräbnis, jenes des gefürsteten Reichsgrafen Ulrich II. von Cilli (geb. 1406), der am 9. November 1456 in Belgrad ermordet worden und nach der Überstellung in seine Residenzstadt Cilli/Celje im dortigen Minoritenkloster beigesetzt worden war.49 30 Tage später erfolgten die offiziellen Trauerfeierlichkeiten. Noch einmal sollten Prunk und Reichtum des mächtigen Cilliers in einem demonstrativ überhöhten, den schwülstigen Ritterdünkel der Zeit widerspiegelnden, Sepulkralritual gezeigt werden. Während des _____________ 48
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Vgl. den Bericht des Pfarrers Magister Paulus Schaller von Seefeld (1595). Ed. von Gottfried E. Friess: Die Herren von Kuenring. Wien 1874, Exkurs 3, S. 193–195. Vgl. auch Beatrix Bastl: Der gezähmte Tod. Bemerkungen zu den Riten um Sterben und Tod im österreichischen Adel der frühen Neuzeit. In: Unsere Heimat 62 (1991), S. 259–269, hier S. 264f. Johannes Grabmayer: Das Opfer war der Täter. Das Attentat von Belgrad 1456 – über Sterben und Tod Ulrichs II. von Cilli. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 111 (2003), S. 286–316.
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Offertoriums, des Gebets während der Gabenbereitung, erfolgte das Totenopfer, das Opfer der vier Cillier Länderbanner und eines schwarzen Totenpaniers, jeweils mit Schild und vergoldetem Helm. Danach ritten wie bei den Begräbnissen Kasimirs III. von Polen 1370 und Mátyás Corvinus 1490 zwölf schwarz gekleidete Knappen auf ebenso geschmückten Opferpferden durch die Kirche zum Katafalk. Bei Ulrich V. von Württemberg 1480 wiederum sind es sieben edle Rosse, die symbolisch geopfert werden, wobei die Tiere nach dem Trauerakt so wie Tuch- oder Wachsspenden jener Kirche gestiftet wurden, wo das Begräbnis stattfand.50 Vor den Fahnen-, Helm- und Schildträgern und neben dem Pferdekondukt schreitet bei der Trauerfeier für den Cillier ein Mann in voller Rüstung, der während des Opfers auf den Boden sinkt. Dieser Teil des Trauerzeremoniells ist wie beim letzten Kuenringer zu Ende des 16. Jahrhunderts besonders theatralisch konzipiert. In der germanischen Welt hatten Grabbeigaben und wertvolle Kleider den Rang des Verstorbenen dokumentiert und auch der Seelenreise ins Jenseits gedient. Gerade in der Oberschicht hat sich dieser Brauch besonders lange gehalten, wie am Beispiel des Kuenringers zu erkennen ist. In christlicher Auslegung dienten die Grabbeigaben dazu, den Großen bei seiner Ankunft im Jenseits als solchen auszuweisen. Karl IV. wird mit Krone, Zepter, Reichsapfel und weiteren Herrschaftszeichen beigesetzt (1378), Sigmund von Luxemburg (1437) mit Reichsapfel und Reliquiarkrone oder Friedrich III. (1493) in prächtiger Kleidung. Viele hochgestellte Persönlichkeiten werden mit standesüblichen Beigaben begraben.51 Banner und Wappenschilde Friedrichs III. (1415–1493) werden von schwarz gekleideten Rittern zum Grab getragen und nebst vergoldeten Helmen zerstört. Dieser Akt der Insignienvernichtung symbolisiert den Verlust des hohen Amtes durch den Tod, die Vergänglichkeit hoher Würden, der Verstorbene wird wieder zum gewöhnlichen Menschen.52 Vielleicht hat dieser Gedanke auch Maximilian I. geleitet, als er kurz vor seinem Tod 1519 anordnete, seinen nackten Leichnam in einen Lendenschurz zu hüllen, und danach in einen Sack (aus Leinen, Damast und weißer Seide unter Beimengung von Kalk und Asche) einzunähen, _____________ 50
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Zu Kasimir III. und Mátyás Corvinus vgl. Àron Petneki: Exequiae Regis. Die Begräbniszeremonie des Königs Matthias Corvinus vor ihrem ungarischen Hintergrund. In: Der Tod des Mächtigen. Hg. von Lothar Kolmer. Paderborn u.a. 1997, S. 113–123; zu Ulrich V. vgl. Johann Ulrich Steinhofer: Ehre des Herzogtums Wirtenberg in seinen durchlauchtigsten Regenten, oder Neue Wirtenbergische Chronik (...). T1. 3. Tübingen 1752, S. 306–309. Vgl. zur Thematik Der Tod des Mächtigen; vgl. auch Tod im Mittelalter. Hg. von Arno Borst (Konstanzer Bibliothek 20) Konstanz 21995. Michael Lipburger: De prodigiis et ostentis que mortem Friderici imperatoris precesserunt – Zum Tode Kaiser Friedrichs III. In: Der Tod des Mächtigen, S. 125–135.
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wie Johannes Cuspinian (gest. 1529) berichtet.53 Ganz besonders betont wird der Akt der Renormalisierung beim päpstlichen Totenritual. Der Papst, durch sein Amt der einzige lebende Heilige, verliert mit dem Tod diese Würde. Sein Ableben wird durch ein jahrhundertealtes Ritual festgestellt, wobei der Verstorbene mit seinem bürgerlichen Namen angesprochen wird. Sic transit gloria mundi – so vergeht der Glanz der Welt – heißt es bei der Papstkrönung seit dem 11. Jahrhundert, um den Würdigen an seine Vergänglichkeit im Amte zu erinnern.54 Und dieser Memento-MoriGedanke ist es auch, der die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Erbauungs- und Bußliteratur und die Totentänze55, ein hochinteressantes Phänomen der Zeit, leitet. Der Zusammenhang des frühneuzeitlichen Totenbrauchtums mit anachronistischen Ritterkulten, einem humanistischen Zurückgreifen auf antikes Heidentum, aber auch mit Relikten heidnisch-germanischer Herkunft, ist bei den zeitgenössischen Totenriten des Adels evident. Der geharnischte Mann in Celje und jener im niederösterreichischen Seefeld sind Teil des Ritterkultes der Zeit und symbolisieren als Ymago den Verstorbenen. Die Zeremonie ist auf das in Westeuropa allgemein verbreitete französische Königsbestattungsmuster zurückzuführen, das Ludwig I. von Anjou (1342–1382) in Ungarn und Polen eingeführt hat, und das danach von Teilen des Hochadels übernommen wurde. Erstmals scheinen 1342 geharnischte Ritter im königlichen Kondukt Karl Roberts von Anjou (1278–1342) auf. 56 Die rituelle Trauer symbolisiert ebenso wie nonverbale Ausdrucksformen (Hände vor das Gesicht halten, zu Boden sinken etc.) die emotionale Betroffenheit der Trauernden. Gerne wurden auch panegyrische Leichenreden gehalten. Das Totenfest des Großen hat eben auch seiner Ehre, seinem Nachruhm und dem seines Geschlechts zu dienen. Leichenpredigten („köstliche Trostpredigten“), die diesem Zweck ebenfalls dienlich sein sollten, sind vor allem im protestantischen Toten-
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Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit. Hg. von Inge WiesfleckerFriedhuber (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit 14) Darmstadt 1996, S. 295–297. Agostino Paravicini Pagliani: Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit. München 1997. Vgl. auch Horst Fuhrmann: Einladung ins Mittelalter. München 1988, S. 166f. Zum Totentanz vgl. Helmut Rosenfeld: Der mittelalterliche Totentanz. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 3) Köln 1974; Reinhold Hammerstein: Tanz und Musik des Todes. Die mittelalterlichen Totentänze und ihr Nachleben. Bern 1980; Uli Wunderlich: Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Freiburg/Br. 2001. Petneki: Exequiae Regis, S. 118f.
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brauchtum der Neuzeit seit Luthers „Sermon von der Bereytung zum Sterben“ (1519) beliebt.57 Ganz anders als die Großen werden die kleinen Leute begraben. Beim Armen brennen keine Kerzen, keine Glocke läutet, keine Gefährten geben das letzte Geleit, oft fehlen sogar Priester und Messe. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass es sich die städtischen Bruderschaften, die zu Tausenden über ganz Europa verbreitet sind, angelegen sein lassen, Begräbnisse für ihre Mitglieder und deren Familien, aber auch für Arme, zu organisieren und selbst daran teilzunehmen, um dieses trostlose und zugleich gefährliche Ende abzuwenden. Natürlich lassen sich große regionale Unterschiede im Umgang mit Sterben und Tod, aber auch im Bestattungsritual feststellen, etwa wenn in Gebirgsdörfern, deren Pfarrkirche im Tal liegt, die im Winter Verstorbenen bis zur Schneeschmelze im Schnee eingefroren und erst dann zur Beerdigung zur Mutterpfarre gebracht werden müssen.58 Immer aber kann es sich der Reiche aussuchen, ob er standesüblich kostbar gewandet oder als Zeichen der Demut in einem Büßerhemd, vielleicht gar im Mönchshabit, dem „Engelskleid“, das ein Leben in Gottgefälligkeit symbolisieren soll, ins Jenseits reisen will. Eine spezielle Leichen- und Trauermode ist um 1500 noch nicht allgemein üblich, aber die vom burgundischen Hof eingeführte Trauerfarbe Schwarz ist dabei, sich allgemein durchzusetzen.59 Der Arme wird stets in ein schlichtes Leichentuch eingenäht und so in der Erde versenkt. Für den Tod vorzusorgen und damit auch für einen Loskauf von etwaigen Sünden, liegt zwar in jedermanns Interesse, aber wer kann sich das schon leisten? Der Primat der Stadt über das Land in allem was neu ist, zeigt sich auch in der Frömmigkeitspraxis. Der städtische Wirtschaftstreibende und die ihm eng verbundenen und von ihm reich bedachten Bettelorden entwickeln neuartige Stiftungen. Die Motivation jedoch ist überall gleich. Die Furcht vor Hölle und Fegefeuer führt zum Streben nach der Verdienstlichkeit guter Werke. Ausgeklügelten Wirtschaftsverträgen ähnlich sorgen die Seelgerätsstiftungen der Vermögenden für deren Seelenheil. Dadurch bekennt der Mensch am Ende seines Lebens seinen Glauben, gesteht durch die Stiftungen seine Sündhaftigkeit quasi indirekt ein, und sühnt sie durch einen öffentlichen per pias causas schriftlich fixierten Akt.60 Das Erkaufen des jenseitigen Glücks ist im frühen 16. Jahrhundert selbstverständlich und dem Klerus einerseits äußerst willkommen, andererseits Anlass zu scharfer Polemik gegen die Ökonomisierung religiöser Werte. _____________ 57 58 59 60
Vgl. dazu Theologische Realenzyklopädie XX. Berlin–New York 1990, S. 666–669. Grabmayer: Volksglauben, S. 22. Annemarie Bönsch: Leichenkleidung – Trauerkleidung. In: Triumph des Todes. Ausstellungskatalog. Eisenstadt 1992, S. 83–105. Vgl. dazu Grabmayer: Volksglauben, S. 42–48.
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Die Reformatoren sollten sich bald von derartigen Praktiken radikal abwenden. Im Diesseits wird nach Ehre und Ruhm gestrebt, um das ewige Leben im Jenseits zu erlangen. Grabmale und Porträts sollen die Ehre des Einzelnen oder die einer Gruppe für alle Ewigkeit festhalten und dokumentieren. Die Stiftungen der Zeit entspringen immer dem Wunsch des Stifters, sein Nachleben zu gestalten, sein irdisches wie auch sein jenseitiges. Der Begriff der Memoria umfasst stets diese beiden Dimensionen. Durch liturgische Memoria sollte, wie es Dante in seinem Purgatorio formuliert hat, „des Himmels Urteil (…) gebeugt werden“ (VI, 31).61 Durch profane Memoria suchte der Stifter seinen Ruhm auf Erden dauerhaft zu sichern und stiftete so einen Rahmen, der das Gedächtnis der Nachlebenden organisierte und die Nachfahren zur Nachahmung anspornte. Insbesondere traf dieser Aspekt für die Stiftung von Grabmälern zu. Jene waren zum einen „vehicles of salvation“,62 andererseits Orte der Repräsentation. In solchem Kontext ist auch die Stiftung der Fuggerkapelle in Augsburg durch Jakob Fugger II., „den Reichen“ (1459–1525), einzuschätzen. Durch die Stiftung der Kapelle samt Ausstattung sowie einer Totenmesse erhoffte er sich eine Befreiung seiner Seele aus dem „Kercker des Fegefeuers“, wie es im Testament von 1521 heißt.63 Jakob Fuggers letzter Wunsch war es, nicht bei den Lutherischen begraben zu werden, denn er war ein großer Gegner Luthers gewesen. Er starb am 30. Dezember 1525 in Nachahmung der vorbildhaften mors nobilitatis: Auf einer Trage lässt er sich zur Verlesung seines Testaments bringen, wird in symbolisch-tiefer Demut von einer einfachen Magd in eine schlichte Lade gebettet, ein Prediger liest ihm die Passion Christi vor und der Augsburger „Tycoon“ erwartet ruhig, versehen mit den Tröstungen der Kirche, seinen Übertritt ins Jenseits. Danach wird er, seinem Wunsch entsprechend, in der von ihm gestifteten Kapelle bei den Karmelitern in St. Anna in unmittelbarer Nähe zu einer in den Farben seines Familienwappens blau-gold glänzenden Madonnenstatue in einem spartanischen Holzsarg in aller Stille zu Grabe getragen.64 Am Weihnachtstag dieses Jahres, als Jakob Fugger in seinem Haus am Augsburger Weinmarkt auf dem Sterbebett gelegen war, hatten der Chronik des Benediktiners Clemens Sender (1475–1537) zufolge viele _____________ 61 62 63 64
Siehe Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie: italienisch und deutsch, übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin. Bd. 2: Purgatorio – Der Läuterungsberg. Stuttgart 1954 (Nd. München 1988). Siehe Michael Borgolte: Von der Geschichte des Stiftungsrechts zur Geschichte der Stiftungen. In: Hans Liermann: Handbuch des Stiftungsrechts. Bd. 1: Geschichte des Stiftungsrechts. Tübingen 2002 (Nd.), S. 13–67, hier S. 51. Benjamin Scheller: Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505–1555) Berlin 2004, S. 14.; S. 128–132. Vgl. Grabmayer: Europa im späten Mittelalter, S. 95.
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Einwohner der Stadt einen schwarzen Regenbogen über der St. Anna Kirche gesehen. Wie die meisten seiner Zeitgenossen glaubte auch der fromme Mönch, dass Gott seinen Willen durch Zeichen der Vorsehung kundtue, und wenn der Tod des größten Kaufmanns seiner Zeit nahte, war das für die Reichsstadt Augsburg, aber auch für die europäische Handels- und Finanzwelt, ein einschneidendes Ereignis.65 Die Friedhofsareale, insbesondere die städtischen, sind viel zu knapp bemessen und daher mit Leichen überladen.66 In manchen Städten müssen die Gottesäcker sehr zum Missfallen der Bevölkerung vom Kirchenbereich weg vor die Stadtmauern in die Vorstadt verlegt werden. Dann werden bisweilen gesundheitspolitische Überlegungen, z.B. Verpestung der Luft durch die Ausdünstungen der Leichen, angeführt.67 Auch kommt es zur Anlage von Ossuarien und zur damit verbundenen Anonymität des Körpers in diesen Beinhäusern. Aber es galten ohnehin vor allem der Seele und ihrer Unsterblichkeit alle Bemühungen und nicht dem verwesenden Körper. Darauf weist auch der neue makabre Kunststil hin. Der Friedhof der Zeit ist mit dem heutigen nicht vergleichbar. Er ist streng hierarchisch unterteilt. Jeder hat den ihm zukommenden besonderen Platz. Viele Potentaten werden in Familiengrüften bzw. Grabkapellen ihres Geschlechts beigesetzt. Tausende Grabmonumente und Wappensteine in Kirchen und auf Kirchhöfen zeugen von der Bitte der Verstorbenen an die Hinterbliebenen um Gebete und dienen zugleich der ewiglichen Memoria. Das Geschlechterwappen machte sich auch gut auf Fresken und Glasfenstern in Kirchen, auf Bildern religiösen Inhalts oder den Retabeln von Altären, worauf die Stifter abgebildet wurden. Und die vielen, die sich kein Grabmal leisten konnten, blieben wie im Leben auch im Tod anonym. „Wer ime im leben kein gedächtnus macht, der hat nach seinem tod kain gedächtnus und desselben menschen wird mit dem glockendon vergessen.“68 Daran wird wohl auch der Salzburger Hofgerichtsschreiber Michael Setznagel, einer der beiden von Theophrastus Paracelsus in dessen Testament eingesetzten Vollstrecker seines letzten Willens, gedacht haben, als er ihm bald nach dessen Tod im Friedhof St. Sebastian, wo Paracelsus seinem Wunsch gemäß begraben worden war, ein Grabmal setzen ließ, _____________ 65 66 67 68
Mark Häberlein: Die Fugger, Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650). Stuttgart 2006, S. 68. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München ²1980, S. 86–94. Vgl. z.B. Florianus Dalham: Concilia Salisburgensia. Salzburg 1788, S. 206–209. Kaiser Maximilian I. in seinem „Weißkunig“, zit. nach Hermann Wiesflecker: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit. Bd. V: Der Kaiser und seine Umwelt. München 1986, S. 307.
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von dem noch die Grabplatte mit einer ausführlichen Inschrift erhalten ist: CONDITUR HIC PHILIPPUS / THEOPHRASTUS INSIGNIS / MEDICINE DOCTOR QVI / DIRA ILLA VULNERA LEPRAM / PODAGRAM HYDROPOSIM / ALIAQ(VE) INSANABILIA COR = / PORIS CONTAGIA MIRIFICA / ARTE SVSTVLIT AC BONA / SVA IN PAUPEREES DISTRI = / BVENDA COLLOCANDAQ (VE) / HONERRAVIT ANNO MD / XXXXI DIE XXIIII SEPTE = / MBRIS VITAM CVM MORTI / MVTAVIT
Und unter dem Geschlechtswappen des Hohenheimers steht: PAX VIVIS REQVIES AETERNA SEPTVLIS 69
Auf einer zweiten Grabtafel, die Setznagel als Grabmalstifter auswies, aber nicht erhalten geblieben ist, war neben einem Porträt des berühmten Mediziners die Devise OMNE BONUM PERFECTUM A DEO, IMPERFECTUM A DIABOLO70 in den Stein gemeißelt. Paracelsus selbst hatte durch sein Testament, das er drei Tage vor seinem Tod „schwachen Leibes und auf einem Reisebett sitzend, aber bei voller Vernunft“71 diktiert hatte, durch die Stiftung von Totenmessen und Armenspenden für sein „gedächtnus“ im Rahmen seiner Möglichkeiten vorgesorgt. Auch ihm, dem großartigen „Freidenker“, war Memoria wichtig!
Literaturverzeichnis Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. München, 2. Aufl. 1980. Barwig, Edgar und Ralf Schmitz, Narren, Geisteskranke und Hofleute. In: Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller. Warendorf 1990, S. 167–199.
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„Hier liegt begraben Philippus, Theophrastus, der ausgezeichnete Doktor der Medizin, der nach schweren Wunden, Lepra, Podagra, Wassersucht und andere unheilbar scheinende Krankheiten durch seine Kunst auf wunderbare Weise heilte und der sein Hab und Gut unter die Armen verteilen ließ. Im Jahre 1541 vertauschte er am 24. September das Leben mit dem Tode. Friede den Lebenden, ewige Ruhe den Toten.“ Zit. nach Heinz Dopsch: Testament, Tod und Grabmal des Paracelsus. Mit einer Übertragung des Testaments in Neuhochdeutsche. In: Paracelsus und Salzburg. Hrsg. von Heinz Dopsch und Peter F. Kramml (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsband 14) Salzburg 1994, S. 251–277, hier S. 255. Vgl. auch die Abbildung der Grabplatte ebd., S. 265. „Alles Gute wird nur von Gott vollendet, unvollendet bleibt es vom Teufel.“ Zit. ebd., S. 255. Siehe Sepp Domandl: Salzburg und das Testament des Paracelsus. In: Paracelsus (1493 1541) „Keines andern Knecht …“. Hrsg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer, Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 41–52, hier S. 44.
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Bastl, Beatrix: Der gezähmte Tod. Bemerkungen zu den Riten um Sterben und Tod im österreichischen Adel der frühen Neuzeit. In: Unsere Heimat 62 (1991), S. 259–269. Blutegeltherapie. Hg. von Andreas Michalsen. Stuttgart. 2. Aufl. 2009. Böhme, Gernot und Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 2004. Bönsch, Annemarie: Leichenkleidung - Trauerkleidung. In: Triumph des Todes. Ausstellungskatalog. Eisenstadt 1992, S. 83–105. Borgolte, Michael: Von der Geschichte des Stiftungsrechts zur Geschichte der Stiftungen. In: Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts. Bd. 1: Geschichte des Stiftungsrechts. Tübingen 2002 (Nd.), S. 13–67. Clemen, Otto: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897–1944). Bd. VII. Hg. von Ernst Koch, Leipzig 1985. Dalham, Florianus: Concilia Salisburgensia. Salzburg 1788. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie: italienisch und deutsch, übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin. Bd. 2: Purgatorio - Der Läuterungsberg. Stuttgart 1954 (Nd. München 1988). Dietrich, Holger G. und Jürgen Konert: Illustrierte Geschichte der Urologie. BerlinHeidelberg 2004. Dinzelbacher, Peter: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23) Stuttgart 1981. Dinzelbacher, Peter: Das erzwungene Individuum. Sündenbewusstsein und Pflichtbeichte im Mittelalter. In: ders., Mentalität und Religiosität des Mittelalters. Klagenfurt-Wien 2003, S. 429–456. Domandl, Sepp: Salzburg und das Testament des Paracelsus. In: Paracelsus (1493–1541) „Keines andern Knecht …“. Hg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer, Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 41–52. Dopsch, Heinz: Testament, Tod und Grabmal des Paracelsus. Mit einer Übertragung des Testaments in Neuhochdeutsche. In: Paracelsus und Salzburg. Hg. Von Heinz Dopsch und Peter F. Kramml (Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, Ergänzungsband 14) Salzburg 1994, S. 251–277. Falk, Franz: Die deutschen Sterbebüchlein von der ältesten Zeit des Buchdrucks bis zum Jahre 1520. Bachern-Köln 1890 (Nd. Amsterdam 1969). Friess, Gottfried E.: Die Herren von Kuenring. Wien 1874. Fuchs, Leonhart: New Kreüterbuch. Basel 1543. Gollwitzer-Voll, Woty: Christus Medicus - Heilung als Mysterium. Paderborn 2007. Grabmayer, Johannes: Zwischen Diesseits und Jenseits. Oberrheinische Chroniken als Quellen zur Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Köln-Weimar-Wien 1999. Grabmayer, Johannes: Das Opfer war der Täter. Das Attentat von Belgrad 1456 - über Sterben und Tod Ulrichs II. von Cilli. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 111 (2003), S. 286–316. Grabmayer, Johannes: Europa im späten Mittelalter 1250–1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2004. Grabmayer, Johannes: Heilige, Heiler und Hexen: Volksmedizin um 1500. In: Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen. Hg. von Albrecht Classen (Theophrastus Paracelsus Studien 2) Berlin-New York 2010, S. 183–200
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Johannes Grabmayer
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Theophrastus von Hohenheim genannt Paracelsus (1493–1541) und die Gesundheit: Versuch einer Analyse1 Jean-Michel Rietsch
Abstract Paracelsus und die Gesundheit: Versuch einer Analyse „sovil krankheiten, sovil gesundheiten hingegen“.2
Als Ausgangspunkt dieses Vortrags wollen wir dieses Zitat aus dem paracelsischen Traktat Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern und Zittrachten der Franzosen (1528)3 nehmen. Was hier auffällt, ist die ungewöhnliche Verwendung des Wortes Gesundheiten. „Der Plural ist im allgemeinen nicht gebräuchlich“.4 Im Psalmenkommentar (1530) heißt es im selben Gedankengang, es gebe nicht eine einzige Gesundheit: „[...] wir [...] haben vil dausenterlei gesundheit. und nit darumb, daß ein mensch ist, daß darumb ein gesundheit sei; sunder vil gesundheit im menschen, auch vil krankheiten.“5 Im Liber Paramirum (1531) schließlich stellt Paracelsus fest, es gebühre sich zu „bitten, do noch für und für alle gesuntheit in erhalten werden und bewart für alle krankheiten.“ 6 _____________ 1 2 3 4 5 6
Mein Dank an Esther Wendling, die diese Arbeit mit größter Aufmerksamkeit durchgelesen hat. Ich bin ebenso Herrn Prof. Dr. Albrecht Classen und Herrn Prof. Dr. Werner Heinz für ihre Hilfe dankbar. Paracelsus, Sämtliche Werke, I. Abteilung, Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. 6. München 1922. S. 356. Paracelsus, Bd. 6, S. 301–479. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig 1854–1960. Bd. 5. Th. von Hohenheim gen. Paracelsus, Theologische und religionsphilosophische Schriften, Band IV, Auslegung des Psalters Davids, zu Psalm 101 (102). Wiesbaden 1955. S. 320. Paracelsus, Sämtliche Werke, I. Abteilung, Bd. 9. München 1925. S. 78.
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Man sieht Folgendes. Es ist kaum ein systematischer Gebrauch des Plurals in den paracelsischen Texten zu finden: Handelt es sich um mehrere Gesundheiten oder, einfacher, um viele tausend Arten von Gesundheit? Es ergibt sich also die Schwierigkeit, die verschiedenen Facetten der Gesundheit ans Licht zu bringen. Die Zitate stammen sowohl aus seinen theologischen als auch aus seinen naturwissenschaftlichen Texten und lassen die Gesundheit und das Heil in ihrer engen Verknüpfung erkennen. Dieser Kampf mit der grammatischen Korrektheit als Symptom einer Begriffsentstehung soll hier kritisch überprüft werden. Paracelsus hat nicht vor, eine Relativierung der menschlichen Gesundheit zu unterstreichen, sondern ihre wechselnde quantitative Gestalt. Es heißt dann, jede Krankheit sei mit ihrer entsprechenden (Art von) Gesundheit streng verbunden. Um dies genauer in den Blick zu nehmen, soll hier das Beispiel der Franzosenkrankheit betrachtet werden. Diese am Ende des 15. Jahrhunderts aufgekommene Krankheit erzeugt, nach Paracelsus, eine neue Wahrnehmung des Begriffs Gesundheit. Im folgenden Aufsatz habe ich vor, die individuellen, sozialen, religiösen Auswirkungen dieser eigenartigen paracelsischen Gesundheitstheorie aufzuklären.
Abstract This essay illuminates the social and religious implications of Paracelsus’s idiosyncratic theory of health. His treatise Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern und Zittrachten der Franzosen (1528) features the unusual plural „healths“ (Gesundheiten). Similarly, in the Psalmenkommentar (1530), Paracelsus says that there is not one single form of health. Finally, in the Liber Paramirum (1531) he speaks of „all health“ (alle gesuntheit) and says it is appropriate to ask for all health in the face of all illnesses. These quotes from both his theological and his natural-scientific texts illuminate the intimate correlation of health and spiritual well-being. The struggle for grammatical correctness is a symptom of the emergence of a new understanding. Paracelsus does not intend to relativize human health; instead he recognizes the quantitatively changing definition of health, in which each form of sickness is connected to its specific form of health. Thus the „French disease“ (Franzosenkrankheit), which emerged at the end of the fifteenth creates, required a new form or conception of the health.
Paracelsus und die Gesundheit: Versuch einer Analyse
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Einleitung und methodologische Postulate Vieles ist bisher über Krankheit bei Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493–1541), geschrieben worden. Es soll hier versucht werden, über die ihr traditionell entgegengesetzte Gesundheit zu reden. Die paracelsische Gesundheit hat mit Gewissheit nichts mit dem von der HWO definierten subjektiven Wohlbefinden zu tun. Ich möchte hier das Ziel verfolgen, nicht eine einzigartige Bestimmung der Gesundheit bei Paracelsus zu geben, sondern eine Art Synopse anzubieten, die die schillernde Vieldeutigkeit des paracelsischen Begriffs ans Licht bringen soll. In diesem Sinne werde ich nachfolgend zentrale Schriften der frühen Dreißigerjahre sowie ihre in einem Geflecht verwobenen Beziehungen mit dem medizinischen, historischen und religiösen Kontext zusammenstellen und analysieren. Ich gehe dabei von den folgenden methodologischen Postulaten aus: Es werden hier die Beziehungen zwischen Gesundheit und Krankheit7 in einer dynamischen Weise zu verstehen sein. Die Gesundheit ist kein starrer Zustand. Als Beweis für diese Behauptung soll der paracelsische agrammatische Gebrauch des Plurals die Gesundheiten erwähnt werden. Diese Pluralität kommt zu einer dynamischen Dimension des Paars Gesundheit/Krankheit hinzu. Beide bilden nicht dialektische feststehende Gegensätze, sondern einander ergänzende Pole, indem die Gesundheit als eine bejahende Verneinung der negativen Kräfte der Krankheit auftritt. Dieses Paar fügt den Menschen in den Rhythmus ein, der die ganze Schöpfung durchströmt. In dieser Hinsicht wird die Problematik der Gesundheit nicht nur zu einer individuellen, rein subjektiven Sache der Ruhe des Körpers. Man denke nur zunächst an die Epidemien, die die Menschen an dasselbe tragische Schicksal zusammenbinden und eine kollektive Antwort erfordern. Man denke dann an diese überall herrschende Zeitlichkeit, die die Menschheit an die Welt bindet. In diesem Sinn soll das Beispiel der Franzosenkrankheit benutzt werden. Sie fügt auf eine ganz symptomatische Weise die Menschen, die Gesellschaft, den Kosmos und letztlich Gott als Schöpfer in eine einzige Schicksalsgemeinschaft zusammen. Gesetzt den Fall, dass zu jeder Krankheit eine Gesundheit gehöre, inwieweit könnte dann von einer ganz bestimmten Franzosengesundheit die Rede sein? Eine teilweise Rekonstruktion, die die Dynamik und das Spiel zwischen den Krankheiten und den Gesundheiten schrittweise erhellen soll, wird hier vorgeschlagen. _____________ 7
Der Krankheitsbegriff steht hier nicht zur Debatte. Zum Thema siehe aber z.B. Heinrich Schipperges: Die Entienlehre des Paracelsus. Berlin und Heidelberg 1988.
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Die Gesundheit/die Gesundheiten: die Frage des Plurals Der Ausgangspunkt: Grundzitate Die Gesundheit stellt sich bei Paracelsus nicht wie ein monolithischer, sondern eher wie ein vielfältiger Begriff dar. Er fällt durch die ungewöhnliche Verwendung des Wortes Gesundheit ganz besonders auf. Es gebe tausenderlei Arten einer einzigen Gesundheit, wenn nicht überhaupt Gesundheiten.8 Im Traktat Von Blattern, Lähme, Beulen, Löchern und Zittrachten der Franzosen (1528)9 tritt der Plural eindeutig auf: „sovil krankheiten, sovil gesundheiten hingegen“.10 Im Psalmenkommentar (1530) lässt sich über die Pluralform streiten, obwohl klar ist, dass es sich um eine Pluralität der Gesundheit handelt: „Secht ir, wie man das heu niderschlecht mit segessen, mit dem gewitter, mit dem schaur, hagel, – also im leip : wir gruenen fur und fur und haben vil dausenterlei gesundheit. und nit darumb, daß ein mensch ist, daß darumb ein gesundheit sei ; sunder vil gesundheit im menschen, auch vil krankheiten.“11
Man darf hier wohl die Schwierigkeiten des Paracelsus mit den Grenzen der Sprache und der Grammatik hervorheben. Die Formulierung eines neuen Denkens, das die herrschende Bewegung und Verwandlung überall in der Welt feststellt, kann kaum in einer üblichen und richtigen grammatischen Form ausgedrückt werden. Auf jeden Fall muss man trotz dieses unpräzisen Gebrauchs – handelt es sich tatsächlich um andere Arten von Gesundheit oder um andere Gesundheiten? – die Vielfältigkeit und Variation des Begriffs der Gesundheit bei Paracelsus konstatieren. Immer wieder nach den verschiedenen Krankheiten tauchen neue (Arten von) Gesundheit(en) auf und bringen neue Lebensphasen ans Licht. Eine solche Bestimmung klingt für uns sehr aktuell. Gewiss kann der Gebrauch der natürlichen Metapher auf die ganzheitliche Konzeption des Organismus-in-seiner-Umwelt (es sei natürlich oder sozial) bei Kurt Goldstein oder Georges Canguilhem verweisen. _____________ 8 9 10 11
Mein Dank an Herrn Prof. Dr. F. Löser, der mich auf die Schwierigkeiten der Übersetzung dieses Zitats hingewiesen hat. I, 6, S. 301–479. I, 6, S. 356. Theophrastus von Hohenheim gen. Paracelsus: Theologische und religionsphilosophische Schriften, Bd. IV, Auslegung des Psalters Davids, zu Psalm 101 (102). Wiesbaden 1955, S. 320. Die Paracelsus-Ausgaben (Sudhoff und Goldammer) werden im Folgenden mit I, II und lateinischer Band- und Seitenzahl zitiert.
Paracelsus und die Gesundheit: Versuch einer Analyse
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Im Grunde aber sind die beiden Gedankenwelten weit von einander entfernt. Der von Canguilhem spaßvolle und dem biblischen Wortschatz entnommene Ausdruck – die Heilung dürfte nicht als eine Rückkehr zu der verlorenen Schuldlosigkeit verstanden werden12 – ist bei Hohenheim kein rhetorischer Ausdruck. Er bildet einen Grundbestand seines Systems. Die Gesundheit ist dem christlichen Heil ganz nahe, wenn nicht unterworfen. So z.B. im Liber Paramirum (1531). Paracelsus stellt dort fest, es gebühre sich darum zu „bitten, do noch für und für alle gesuntheit in erhalten werden und bewart für alle krankheiten.“13 Die Zitate, die sowohl aus den theologischen als auch den naturwissenschaftlichen Schriften stammen, lassen ohne Weiteres eine enge Verknüpfung zwischen Medizin und Theologie erkennen. Heil und Heilung bilden somit ein untrennbares Paar. Paracelsus belebt den seit Augustin gebrauchten Christus medicus topos14 wieder. Die Wechselfolge zwischen Gesundheit und Krankheit bindet dann den menschlichen Leib und die christliche Seele in eine Schicksalsgemeinschaft ein.
Gesundheit und Zeitlichkeit Ursprung der Problematik: die Gottesschöpfung Diese Beziehung zwischen Gesundheit und Krankheit findet ihren Ursprung am Weltanfang. Die Genesis, nach Paracelsus, legt ein beredtes Zeugnis dafür ab.15 Insofern darf man das erste Buch Mose als ein philosophisches und naturwissenschaftliches Lehrbuch betrachten: „Am ersten ist der mensch gesunt beschaffen, fix und ganz, aber so bald er in die welt komen ist, do sind zwei contraria gewesen, dasselbig hat in zerbrochen; dan das eusser zergenglich und das inner ganz haben nicht mögen in eim stehen. aus
_____________ 12 13 14 15
„En tout cas, aucune guérison n’est retour à l’innocence biologique. Guérir, c’est se donner de nouvelles normes de vie […] Il y a une irréversibilité de la normativité biologique.”, Georges Canguilhem: Le normal et le pathologique. Paris 1991, S. 156. I, 9, S. 78. Grillot de Givry übersetzt hier mit dem ungebräuchlichen Plural “santés“. In: Paracelse, Oeuvres complètes, traduites et préfacées par Grillot de Givry, Paris 1984. S. 210. Siehe, z.B., Heinrich Schipperges: „Krankheit“. In Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19. Hg. von Gerhard Müller. Berlin, New York 1990, S. 689. Vgl. dazu den Beitrag von Matthias Vollmer in diesem Band. I, 12, S. 32: „solches zu beschreiben ist von nöten, das am aller ersten vor allen dingen die heilig geschrift gebraucht werde, die an dem ort allen philosophis und naturalibus den anfang legt und anzeigt, one welchen anfang alle philosophei umbsonst gebraucht und gefürt werden.“
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dem folget das der mensch an seiner creatur gesunt ist, aber die welt ist der tot, die krenkt und töt in.“16
Die Gesundheit und die Krankheit werden als logische und chronologische Folgen des adamischen Falles vorgestellt. Beide entstehen aus dieser Begegnung zwischen der inneren ewigen Seele und der äußeren Welt als Feind, die mit der Zeitlichkeit den Menschen zum Tod gebracht hat. Trotzdem sind Gesundheit und Krankheit beide Gottesschöpfungen: „al gesundheit und krankheit von got kompt [...]“.17 Die contraria, die sie bilden, werden zu dynamischen Polen, die den Menschen zu der Überwindung des adamischen Falles, der Krankheit und des Todes, vorwärtsbringen. Eine solche Überwindung ist aber erst möglich, wenn es der ganzen Schöpfung gegeben ist, einer solchen nach-vorn-Richtung folgen zu können. Diese Wende hat Christus ermöglicht. Er hat die Monarchei der Erlösung18 eingeweiht. Die Schöpfung sehnt sich jetzt nach ihrer endzeitlichen Vollendung. Deswegen dürfte man nicht in diesem Gedankengang von einem im engeren Sinne Wieder-Gesund-Werden, einer Heilung als Rückkehr zur edenischen Schuldlosigkeit und Gesundheit, sprechen. Die (Wieder)herstellung der Gesundheit19 darf also nicht mit einer Restitutio ad integrum verwechselt werden.20 Die Folge Gesundheit/Krankheit soll zu einer Entwicklung werden, indem jede (Art von) Gesundheit auch eine neue Stufe auf dem Weg zur Erlösung sein sollte.
Erste Schlussbemerkungen Erstens, gehört jeder Krankheit ihre (Art von) Gesundheit. Zweitens gibt es so viele Krankheiten/(Arten von) Gesundheit(en) wie Menschen, die nie gleichzeitig an den gleichen Krankheiten leiden. Man erinnere sich hier nur kurz an die paracelsische Krankheitslehre. Hohenheim lehnt die von den antiken Gelehrten, besonders Galens, ererbten traditionellen Humoralpathologie ab, die besagte, die Krankheiten fänden ihren Ursprung im _____________ 16 17 18
19
20
I, 9, S. 233. I, 1, S. 226. Das Buch der Erkanntnus des Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus, aus der Handschrift mit einer Einleitung, herausgegeben von Kurt Goldammer. Berlin 1964 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Heft 18), S. 24. Die Monarchei wird als „geschichtlicher Zustand“, „Stand“, „menschliche Aufgabe“ verstanden, a.a.O., S. 15. Paracelsus hat allerdings die Rolle der Ärzte auch als „wiederbringer der Gesundheit“ erwähnt. Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim), Theologische Werke 1, Vita beata – Vom glückseligen Leben, hg. von Urs Leo Gantenbein. Berlin und New York 2008, S. 255, 306. Diese Ausgabe wird im folgenden Text mit NPE 1 zitiert. Siehe z.B. in Kommentaren zu den Aphorismen des Hippokrates: „Et iterum resumptiones etc.“, I, 4, S. 505.
Paracelsus und die Gesundheit: Versuch einer Analyse
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Ungleichgewicht der vier Säfte (d.i. die Dyskrasie). Nach Paracelsus sind die Krankheiten besondere parasitische Strukturen.21 Sie dringen in den Körper ein und wirken wie Samen, entfalten sich und tragen Früchte in den verschiedenen Organen, die sie angreifen. Paracelsus beschäftigt sich dann mit dieser Vielfalt des Krankheitsbegriffs und spricht von einer „Anatomie der Krankheiten“. Die Besonderheit der körperlichen Schwächen eines jeglichen Menschen zeigen dann ein ganz eigenartiges Bild: „Die anatomei gibt eim jeglichen sein besonder krankheit.“22 Es komme noch hinzu, dass die Vermehrung der Krankheiten von den Orten, d.h. den betroffenen Gliedern und Organen abhängt: „ein ietliche krankheit hat sein locum, dorin sie sizt und wonet, und nachdem das selbige ist, nach dem ist das urteil der krankheit.“23 Kurz gesagt, „also wird der mensch in vil hundert wesen gesezt, dardurch im folgt an dem ort gesund, an dem krank, [...] heut also, morgen also, und also in seim leib teglich, kein augenblick in keinem glid sicher, krankheit und der gesundheit.“24 Die ständig wechselnde Gestalt der Gesundheit kann aus diesen Merkmalen der Krankheit abgeleitet werden. Jede besondere (Art von) Gesundheit setzt ihre zusammengefügte Krankheit voraus, und umgekehrt: „dan gleich ist es ein wissen, wie der mensch gesunt ist und wie er krank ist oder wird. dan wie ein krankheit wird vom gesunden also wird auch von Krankheit der gesund.“25 Das heißt trotzdem nicht, dass diese Pluralität eine qualitative Relativierung der menschlichen Gesundheit zur Folge hätte. Dieser Punkt verlangt eine genauere Untersuchung. Das individuelle und immer eigenartige Gesundwerden müsste einer vorwärtsschreitenden Entwicklung folgen. Im Rahmen seiner Lehre zu den Krankheiten und (Arten von) Gesundheit(en) liege es also bei jedem Menschen, dieser Zeitlichkeit ihre Richtung zu geben. Mit dem Konditional soll hier festgestellt werden, dass der Mensch für seine Gesundheit unter Umständen selbst verantwortlich ist. Bei Paracelsus kommt dies ganz besonders klar in den Texten aus den Dreißigerjahren zum Ausdruck. Die Ereignisse (Kriege, soziale Aufruhre etc.) sowie die wütenden Seuchen seiner Zeit werden als viele Zeichen des Zorns Gottes gelesen. Sie sollten den Menschen zur Reue drängen. Die Welt und der Mensch werden dann im wahrsten theologischen Sinne des Wortes ausgelegt. Das Fundament dieser Auslegung besteht ja in dem für die Renaissance charakteristischen Mik_____________ 21 22 23 24 25
Siehe z.B. Mirko D. Grmek: „Le concept de maladie“. In: Histoire de la pensée médicale en Occident. Paris 1997, S. 157–176. I, 6, S. 336. I, 1, S. 133. Im selben Sinn, siehe I, 10, S. 288. I, 8, S. 100. I, 9, S. 40–41.
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ro/Makrokosmos-Gedanken, den Paracelsus mit einer prophetischen Komponente ausfüllt. Die Gesundheit(en) und die Analogiebildung Mensch/Natur Aus dieser mit der Welt gemeinsamen Ursprünglichkeit erkennt der Mensch seine Analogie zur Natur: „er ist die klein welt“.26 Die Verwendung, dieses zur Zeit der Renaissance üblichen topos der Analogie MikroMakrokosmos27 bringt Paracelsus zu folgenden Schlussfolgerungen: die äußere Welt kann zur Lehrerin des Menschen werden, „dan der mensch wird erlernt von der grossen welt und nit aus den menschen.“28 Sie spiegelt für den Menschen seinen Lebensgang wider. Die oben zitierte Metapher29 des Menschenlebens als Feldarbeit30 bringt wieder die Rolle der Zeitigung – Reifung ans Licht.31 Sowie das Kornfeld bis zur Zeit der Ernte von verschiedenen Unwettern betroffen werden kann, so geht es auch mit dem Menschen in der Wechselfolge seiner Krankheiten und (Arten von) Gesundheit(en)32: „was also in der natur eusserlich geschicht, das ist ein spiel, das also im menschen geschicht [...]“.33 Dieses Spiel ist im Grunde eine Tragödie, weil der Mensch hinfällig ist.34 Die verschiedenen (Arten von) Gesundheit(en) stellen sich dar, wie die Anzahl der Gewinne gegenüber einem unzeitgemäßen Tod. Dem Arzt obliegt die Pflicht, die Entfaltung des individuellen Lebens zu ermöglichen. Jeder Mensch solle seinen Lebensgang zur vollen Maturatio (Reifung) bringen können, ohne durch äußerliche (d.h. Kriege, Folterungen usw.) Zustände zum Tod gebracht zu werden. Um diese menschliche Maturatio genauer zu bestimmen, darf man sagen, dass, als Wechselfolge von Ver_____________ 26 27
28 29 30 31 32 33 34
I, 9, S. 308. Siehe z.B. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: „Makrokosmos und Mikrokosmos bei Paracelsus“. In: Paracelsus: Das Werk – Die Rezeption. Hg. von Volker Zimmermann. Stuttgart 1995, S. 59–66; Walter Pagel: „Paracelsus als Naturmystiker’“. In: Epochen der Naturmystik. Hg. von Antoine Faivre und Rolf Christian Zimmermann. Berlin 1979, S. 52–104. I, 9, S. 45. Anm. 6. „Secht ir, wie man das heu niderschlecht mit segessen, mit dem gewitter, mit dem schaur, hagel, – also im leip : wir gruenen fur und fur und haben vil dausenterlei gesundheit [...]“ Siehe z.B. Gisela von Boehm-Bezing: Stil und Syntax bei Paracelsus. Wiesbaden 1966, S. 88–90. Erwin Metzke: „Erfahrung und Natur in der Gedankenwelt des Paracelsus“. In: Coincidentia oppositorum. Hg. von Karl Gründer. Witten 1961, S. 70–80. Zu diesem Thema siehe Kurt Goldammer: Natur und Offenbarung. Hannover 1953, S. 41–42. I, 1, S. 52. Es ist von der „irdischen zerbrechlichkeit“ die Rede. I, 3, S. 94.
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wandlung- und Wechselprozessen, die Dynamik zwischen Gesundheit und Krankheit so gut wie möglich vom Arzt aufrechterhalten werden soll. Sie bezeugt die Reifung des Menschenlebens, seinen Weg zur Befruchtung, zum zeitgemäßen Tod, der dann als „schnitter der ern des menschen“35 vorgestellt wird. In diesem Sinn ist es „einem ietlichen ding sin zil und termin gesezt, in dem es sich gaudiren und exultiren sol [...]“.36 Der Tod soll nicht als Gegensatz zur Gesundheit verstanden werden. Er ist vielmehr ihr Ziel und ihre Folge: das vollbrachte, fruchtbare und gesunde Leben wird von einem bei der richtigen Zeit eingetretenen Tod erfüllt. Heilung als natürlicher/leiblicher Weg zum Heil Die Heilung steht dann im paracelsischen christlichen Denken dem Heil als Ziel des Lebens ganz nahe. Es sei hier nur an die Notwendigkeit erinnert, die Gesundheit zu erhalten oder (wieder) zu erreichen, weil sie die Entwicklung des neuen Auferstehungskörpers erlaubt. Die Gesundheit wird als Nahrung vorgestellt. Sie ist nicht wie Brot notwendig, aber sie wirkt wie ein Merkmal, eine Hilfslinie im Krankheitsfall, die dann dem Leidenden bei dem Kurs auf dem Weg zur Gesundheit hilft, bzw. auch zum christlichen Glauben: „Darnach weiter, so ist die ander nahrung und erhaltung die gesundheit. Dieselbig sollen wir auch suechen, uf dass unser leib in gesundheit lebe und sterbe. Dann durch die gesunden hat gott sein lehr ausgesandt. Dieselbig gesundheit ist nit ein tägliche notdurft, wie das brot der nahrung. Dann nit alle tag seind wir krank. Jedoch aber, so wir in tod krank lägen, dass wir wissen, demselbigen auszuteiln, wo zu nehmen und zu erlangen die hilf und arznei.“37
Die Gesundheit lässt also eine engere Beziehung mit den Sakramenten erkennen. Es soll hier nur die Abendmahl-Lehre des Paracelsus erwähnt werden, wonach Brot und Wein zur Nahrung dieses Auferstehungsleibs werden. Der Mensch darf mit Recht hoffen, mit einem Leib in das Himmelreich zu kommen.38 Als ein Samen verstanden ist dieser neue Leib von dem alten Körper Adae stark abhängig. Die Ewigkeit wird in dieser Welt materialistisch gewonnen: „Also sollen wir ihn auch behalten in aller gesundheit, uf dass er nit wormstichig noch faul wird, sunder dass er würde gesund bleiben. Und so die zeit kommt des
_____________ 35 36 37 38
NPE 1, S. 154. I, 9, S. 646. NPE 1, S. 373. Hartmut Rudolph: “Hohenheim’s Anthropology in the Light of his Writings on the Eucharist”. In: Paracelsus, the Man and his Reputation, his Ideas and their Transformation. Hg. von Ole Peter Grell. Leiden, Boston und Köln 1986, S. 187–206, hier S. 192.
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säens, dass er alsdann frisch und gesund sei, und so er in die erden kommt, dass er nit faule und ein neue frucht gebe.“39
Das Gleichnis vom Sämann40 bringt die Analogie zwischen dem Wachsen und der Befruchtung des Samens und der vor dem Tod ideal gewonnenen Gesundheit ans Licht. Sie erlaubt das Wachstum, die Verwandlung vom Irdischen in den Auferstehungsleib41.
Zweite Schlussbemerkungen Die von den verschiedenen Krankheiten und Gesundheiten gestaltete Zeitlichkeit, als Ernte- und Ausarbeitungsprozess verstanden, wird in gleicher Weise mit der Reinigung des Unreinen durch das Feuer42 in Zusammenhang gebracht. In seinem Frühwerk, dem Volumen Paramirum43, bilden die verschiedenen Krankheiten viele Fegfeuer44 oder Flagellen45, deren Zeit von Gott selbst festgesetzt wird. Die Krankheiten werden schon in den frühen Zwanzigerjahren, wie später in den Dreißigerjahren, als wie bisher noch niemals besonders schlimm beschrieben.46 Für ihre entsprechenden (Arten von) Gesundheit(en) werden ebenso viele Erlösungen von Gott selbst gesandt.47 Der Ablauf des Gesundwerdens setzt einen Vorgang der Verwandlung voraus. Im Liber de renovatione et restauratione (1526) versucht Paracelsus, die Gesundheit mit denselben Worten der renovatio und restauratio zu beschreiben. Der „humor radicalis, den der spiritus vitae treibt und ubet, nit hinder sich gezogen werde, sonder gesterkt und für sich getriben.“48 Die Genesung wird durch das lexikalische Feld der Religion beschrieben. Die Krankheit sollte nicht aus dem Leib exstirpiert werden, stattdessen sollte sie sich „umbkeren“, damit sie sich „convertirt in sanitatem“.49 Das Gesundwerden wird als Verwandlungs- und Bekehrungsprozess verstanden und leidet keine Wiederkehr zur edenischen Schuldlosigkeit. Im _____________ 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
NPE 1, S. 499. Mk 4, 3-9. Hartmut Rudolph: “Viehischer Leib und himmlischer Leib: Zur Bedeutung von 1. Korinther 15 für die Zwei-Leiber-Spekulation des Paracelsus“. In: Carleton Germanic Papers, 22 (1994), S. 106–120. II, 7, S. 258–259. I, 1, S. 163–240. Um 1520. I, 1, S. 226. I, 1, S. 229. I, 1, S. 228. Die Zeit der Gesundheit wird als „stunt der erlösung“ vorgestellt. I, 1, S. 227. I, 3, S. 205. I, 3, S. 208.
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Grunde handelt es bei Gesundheit wie bei einem Käse: „[...] ein kes niemer zu milch wird [...] dan was verzert ist, mag nicht wider gebracht werden.“50 Es ist dann an einem jeden, den richtigen Weg zur GesundheitErlösung zu wählen. Diese Auswahlmöglichkeit betrifft ganz besonders die Zeitgenossen des Paracelsus. Die großen Seuchen ihrer Zeit weisen vielmehr auf ihre Verdammnis hin als auf ihre Erlösung. Es liegt dann in eines jeden Verantwortung sich Gott wieder zuzuwenden. In diesem Sinn möchte ich hier anhand des Beispiels der Franzosenkrankheit eine letzte Facette des Gesundheitbegriffs bei Paracelsus ans Licht bringen.
Das Beispiel der Franzosenkrankheit Ihre wesentliche Pluralität Jede Krankheit bzw. Gesundheit tritt also wie eigenartige historische Produktionen hervor. In diesem Sinn setzt die am Ende des 15. Jahrhunderts aufgetretene Franzosenkrankheit eine neue Wahrnehmung des Begriffs Gesundheit. Ihre Schlüsselstellung im paracelsischen Denksystem soll hier kurz beschrieben werden. Als erste wütende neuzeitliche Seuche bleibt sie in ihrer Bestimmung zunächst ziemlich konfus. Ihr Begriff schließt mehrere (venerische u.a.) Krankheiten ein51, was auch das Problem ihrer Namengebung andeutet. Ihr klinischer Polymorphismus kann kaum durch ein Wort abgegrenzt werden. 1530 wird Girolamo Fracastoro (1476/1478?–1555) der Franzosenkrankheit ihren modernen Namen geben, d.i. Syphilis. Man kann sich leicht vorstellen, dass Paracelsus dieser von der Antike beeinflussten Namensgebung nicht zugestimmt hätte, weil sie ältere Denkschemen zur Untersuchung einer neuen Krankheitseinheit benutzte. Die akademische Medizin ist vor dieser Krankheit wehrlos52: „ich geschweig der grösseren lugen, so die selbigen in ire bücher sezen und allegiren die alten autores uber ein krankheit, deren nie gedacht ist worden [...]“53 _____________ 50 51 52 53
I, 13, S. 390. Siehe z.B. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt a. M. 1980, S. 3–9. I, 7, S. 148. I, 6, S. 315.
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Die Franzosenkrankheit ist also „die grösste krankheit der ganzen welt [...], da kein ergere nie erfunden, die niemants schonet [...]“54. Ihre besondere Schädlichheit ist die Folge von ihrer Labilität. Paracelsus spricht von transplantation.55 Die Krankheit kann erst „entspringen“, wenn sich schon im Körper sozusagen eine Urkrankheit festgesetzt hat, die, in unserem Fall, durch luxum und venere in Franzosenkrankheit verwandelt sein kann: „darnach ist luxus, welcher transplantirt ein morbum in den anderen.“56 Es heißt dann, dass dieser hier oben zitierte allgemeine Prozess der Umwandlung sich auch in jeder besonderen Krankheit zu erkennen geben kann, denn „wo kein krankheit vorhin im cörper ligt, da ist kein anfang der franzosen“.57 Es gehört zu den neuen ärztlichen Praxen, nicht nur diese neue Krankheit, sondern auch ihre neue entsprechende (Art von) Gesundheit, bedenken zu müssen. Ihre Pluralität als Zeichen Die sich auf die Antike berufende akademische Medizin hat nicht die soziologischen Gründe der neuen Seuchen wahrgenommen: „so ist vorhanden ein solche menge des volks und solche vermischung under inen durch einander mit allem wandel der menschen in fleischlichen begirden, als vor nie gewesen so lang die welt gestanden ist.“58 Es ergibt sich aus dieser ungeheuren „menge des Volk“ eine radikale Umwälzung der medizinischen Begriffe. Die Vermehrung der Menschen erfordert eine Vermehrung der Krankheiten.59 Solches festzustellen bleibt sinn- und wirkungslos, wenn man kein angemessenes Lesungsystem zur Krankheit anwenden kann. Paracelsus meint, es sei alles in der Bibel schon geschrieben. Tatsächlich ist bereits in den Evangelien von der pressura magna, pressura genti_____________ 54 55 56 57 58 59
I, 8, S. 62. I, 6, S. 352–355. I, 6, S. 352. I, 7, S. 352. I, 11, S. 136. „die ungesunden haben ir ungesuntheit in der empfengnus der kinder eingeleibt, also das die krankheiten der eltern für und für zur vergiftung des samens geneigt haben, und also solch gift bis an die iezig zeit ist solicher gestalt gemeret, das nichts mer von den iezigen krankheiten den alten gleich seind, und werden sich von unser zeit bis zu dem lezten noch vil mehr einreissen, also das die nachfolgenden krankheiten, es sei dan das got milder, sonst werden sie unheilbar werden solch eingewurzte vergiftung ist ein ursach, das die pestilenz und ander himlisch defectiones so leichtlich den menschen anzünden und bewegen, das iezt tausent inficirt werden, da vor zweitausend jaren nit hundert weren angriffen worden.“, I, 10, S. 289.
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um60 die Rede. Eine solche Lesart steht als Abschluss einer intellektuellen Entwicklung und verrät eine ganz persönliche Endzeiterfahrung, die seine biblische Auslegung sowie seine ärztliche Praxis beeinfllusst.61 Anfang der Dreißigerjahre betrachtet also Hohenheim die Franzosenkrankheit aus einem prophetischen Blickwinkel.62 Die Krankheit wird in das paracelsische Zeichensystem eingefügt und als Symptom eines größeren makrokosmischen Ungleichgewichts angesehen.63 Die Epidemie hebt die Spannung zwischen der Pluralität der individuellen Krankheiten/(Arten von) Gesundheiten und der Gemeinsamkeit der Seuche auf. Die Gesundheit des ganzen Volkes ist bedroht, ein jeder Mensch ist dazu aufgerufen, sich auf den Weg zur Gesundheit zu begeben, was auch gleichzeitig eine Aufforderung zum kollektiven christlichen Heil ist. Die Krankheiten sind die Analogien der Kriege in der Welt.64 Der Begriff Bella intestina tritt mehrmals als Indiz dieser von der Endzeiterwartung stark geprägten paracelsischen theologischen Schaffensperiode der Dreißigerjahre auf. Man braucht hier nur das Matthäus-Evangelium, ganz besonders die Matthäus-Apokalypse65, als Schwerpunkt des paracelsischen theologischen Denkens, zu erwähnen.66 Die meteorologischen Ereignisse, die sich in einer kurzen Zeit vermehren, d.i. ein Komet,67 ein Erdbeben, ein Regenbogen (1531) oder ein Komet (1532) werden als eine Wiederholung der alttestamentlichen Schemen – Sünden des Volks, neuer Bund (1531 durch den Regenbogen symbolisiert), neue Bedrohung (der Komet von 1532) und Langmut Gottes – verstanden. Alle diese ihrem Wesen nach facettenreichen Zeichen von verschiedenster Natur sollten auch in einen ganz bestimmten Kontext gestellt werden, in dem sie die vom vorausgegangenen Jahrhundert geerbten Ängste verschärfen. Die große Konjunktion am 25. 11. 1484 des Saturns und Jupiters im Zeichen des Skorpions wurde auf verschiedenste Weise ausgelegt. Sie kann in jedem Falle als die Anstifterin einer „Kultur der _____________ 60 61 62 63 64 65 66
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I, 11, S. 136; Lk 21, 23, 25. Hartmut Rudolph: „Schriftauslegung und Schriftverständnis bei Paracelsus“. In: Medizin Historisches Journal, 16 (1981), S. 113–114. Rudolph: „Schriftauslegung und Schriftverständnis bei Paracelsus“, S. 108, 111. Rudolph: „Schriftauslegung und Schriftverständnis bei Paracelsus“, S. 105. I, 6, S. 295; I, 11, S. 197. Mt 24, 22 sq. Siehe Urs Leo Gantenbein: „Gesundheit und Krankheit in den Matthäus-Kommentaren des Paracelsus“. In: Gesundheit und Krankheit bei Paracelsus. Hg. von Walter Pöldinger. Salzburg 2001, S. 47–72. Mt 24, 6-7: „Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen [...] denn es wird sich ein Volck wider das andere und ein königreich wider das andere, und werden sein Pestilenz und teure Zeit und Erdbeben hin und wieder.“ Urs Leo Gantenbein und Pia Holenstein Weidmann (Hg.): Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531. Ein Himmelzeichen aus Sankt Gallen für Zwingli. Zürich 2006.
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Panik“68 betrachtet werden, die noch dank des Wachstums der Druckerei und der Flugschriften69 verschärft wird. Die paracelsische Antwort: Heil und Heilung der Franzosenkrankheit Ludwik Fleck stellt fest, diese Konjunktion sei auch als Ursache der Lustseuche betrachtet worden.70 Paracelsus lehnt diese zu seiner Zeit übliche astrologische Deutung ab. Die Anormalität und „Heftigkeit“ 71 dieser himmlischen (astrologische Konjunktion) und weltlichen (Seuchen, Kriege usw.) Zeichen weisen auf ihre göttliche Herkunft hin. Der sündige Mensch ist, sei es wie er wolle, der einzige Urheber seiner Leiden. In diesem Sinn setzt der paracelsische Gesundheitsbegriff eine gewisse menschliche Verantwortung voraus. Die der Franzosenkrankheit entgegengesetzte (Art von) Gesundheit schließt eine Wahrnehmung der Schädlichkeit des luxus ein. Er tritt als Störfaktor eines Gleichgewichtszustands ein, einer Ordnung, „das die wage des menschen aufkomen [nit] ubertreff“72. Luxus ist kein exogenes Wesen, sondern wird von der menschlichen ausschweifenden Lust selbst verursacht: „es bewert sich auch vilfeltig und ist die ursach also, das so lang die welt gestanden ist, grössere ungeordnete, üppigere unkeuschheit nie gewesen ist, dan zu der zeit des anfangs der Franzosen, das ist im jar vierzehen hundert sibenzige und achtzige, aus übertreflicher ungeordneter unkeuschheit ein neue krankheit, das ist die blatern, erstanden sind.“73
Er wirkt wie ein Spiritus peccans.74 Paracelsus weicht hier von der zu seiner Zeit gewöhnlichen venerischen Ätiologie der Krankheit nicht ab, trotzdem lehnt er den sogenannten astrologischen Fatalismus ab. Durch die Kraft der menschlichen Imagination und Sünden werden den Sternen im wahrsten Sinne des Wortes die entsprechenden astrologischen Eigenschaften zugewiesen (also, z.B. Venus für die Unkeuschheit). Die Strahlen _____________ 68
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70 71 72 73 74
Denis Crouzet: “Milennial Eschatologies in Italy, Germany and France: 1500–1533”. In: Journal of Milennial Studies 1999, 1, 2 (1999): S. 5. http://www.bu.edu/mille/publications/winter98/crouzet.PDF (letzter Zugriff am 28. 03. 2010) Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis. Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford 1988, S. 141; Heike Talkenberger: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528. Tübingen 1990. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 3–4. I, 9, S. 416. I, 4, S. 535. I, 6, S. 372. I, 7, S. 297.
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der Sterne kommen zwar zu den Menschen zurück, aber sie sind nur die makrokosmischen Widerscheine der mikrokosmischen menschlichen Laster. Insofern kann man einen großen Teil der Krankheiten bei den Menschen selbst finden: „dan der mensch ist der recht himel; aus im entspringen seine jamer. der ober himel gibt alein die zeichen und ruten darumb wir nicht bitten sollen für die wirkung des obern himels sonder in uns unsern himel reinigen.“75
Die Ethizierung des Gesundwerdens: vom guten Brauch des Glaubens Man könnte dann die Gesundheit als Pflicht, genauer gesagt als Menschenarbeit beschreiben. Dem Weg zur Gesundheit hin kann der Heiligungprozess gegenübergestellt werden. Die Franzosenkrankheit sowie ihr kosmisch-meteorologischer und weltlicher Widerhall bedeuten die Warnungen Gottes, und auch seinen Aufruf zur menschlichen Reue. Sie ist in der Verwirrung der Begierden verwurzelt und wird schließlich zur Glaubenskrankheit: „Also sind vil krankheiten entsprungen, die auch teglich neu zufallen, ein weg so nun krankheiten komen die vor nie gesein sind. Also auch mit den franzosen geschehen ist [...]“.76 Der falsche Gebrauch des Glaubens wirkt dann als Vergiftungsfaktor: die Krankheit wird unheilbar77, es sei denn von Christo selbst geheilt: „So gross ist die Lieb gewesen ynn denen, so yn christum glauben, das sye nit allein gesundtheyt erlangen, Sonder auch vergebung der sünd.“78 Diese von Paracelsus erwähnte Unheilbarkeit der Franzosenkrankheit setzte dann eine neue Art von Ärzten für ihre (End)Zeit voraus, die die apostolischen Fähigkeiten besitzen, Kranke ohne medizinische Technik79 wieder gesund machen zu können. Das richtige Gesundwerden – d.i. für die jetzt an ihrem Ende eingetroffene Christenheit – bedingt auf jeden Fall eine Mitarbeit des Menschen mit Gott. Es handelt sich um eine christliche Katharsis, die zur endzeitlichen Clarificatio/Clarificirung80 führt, die man sich wie die Früchte dieses irdischen Lebens vorstellen könnte: der ewige Leib wird im christlichen Paradies leben können. _____________ 75 76 77 78 79 80
I, 8, S. 238. I, 9, S. 279. I, 9, S. 279. 1. Mt.-K., V. 9. 2c, L2, Bl. 32r. In: Gantenbein: „Gesundheit und Krankheit ...“, S. 68. NPE 1, S. 304. I, 9, p. 117; I, 14, pp. 103–104. Siehe Kurt Goldammer: Paracelsus in neuen Horizonten. Wien 1986, S. 97, 111–113.
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Das irdische menschliche Leben wird im Paragranum als Ehe zwischen dem vorher erwähnten Leib Adae, dem fleischlichen Leib, mit dem aus Gott geschöpften ewigen Leib beschrieben. Der Mensch wird zwar keine „Rechnung geben umb [seiner] leibskrankeiten, gesuntheit“81, aber „um die ding die vom herzen gangen sind“.82 Die venerische Liebe ohne Maß, d.i. die Liebe Venus im Falle der Franzosenkrankheit, wird als Bruch des Bundes mit Gott, im medizinischen sowie im ethischen theologischen Gebiet bezeichnet: „so gütig ist got, das er die ding nach unserm begeren für unser augen stelt, gute wein, hüpsche frauen, gute speis, gut gelt, dorin wir bewert werden, wie streng wir uns halten, wie wir der natur ir mass brechen, ubertreten [...]“83 Der ewige Leib wird vom Bösen versucht und tritt als Ursache der aus dem Übermaß geborenen Krankheiten auf. Insofern wird dieser Gedanke im Rahmen der allgemeinen paracelsischen Lesart als Spiel zwischen dem Äußerlichen und Innerlichen verstanden, die man z.B. in der Signaturenlehre84 findet. Das physische Aussehen der Heilkräuter sowie die Werke der Menschen sollen sich als treue Spiegel der inneren pharmakologischen Kräfte sowie des echten christlichen Herzens zu erkennen geben.85 Der hier von Paracelsus angewandte und zu dieser Zeit von ihm viel benützte Ausdruck natio prava et adultera86 weist auf allerlei Pharisäer hin, die die Zeichen falsch lesen, die sich selbst als falsche Zeichen zeigen, also diejenigen, deren äußerliches Verhalten mit ihrem innerlichen christlichen Glauben nicht übereinstimmt, und die darüber keine Reue empfinden. Die Franzosenkrankheit setzt eine innere Umwandlung voraus, die die Ehrfurcht vor dem vor Gott höchsten Eid und der Pflicht des Menschen, d.i. die Ehe der beiden Leiber,87 erneuert. Die entsprechende Gesundheit soll wie das Zeichen eines neuen Fortschritts im Bunde mit Gott verstanden werden; sie setzt die Brücke zwischen den natürlichen Kräften und der religiösen Welt der Erlösung voraus.
_____________ 81 82 83 84 85 86 87
I, 9, S. 117. I, 9, S. 117. I, 9, S. 118. Wolf Peter Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewusstseins. Berlin 1992, S. 121–137. “allein die eussern ding geben die erkantnus des inneren, sonst mag kein inner ding erkant werden”, I, 8, S. 97. I, 9, S. 119. Mt 12, 38. I, 9, S. 119.
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Schlussbetrachtungen Die Franzosengesundheit kann dann auftreten, wenn die Verwandlung der Liebe der Venus in die Liebe Gottes sich verwirklicht hat. Ihre Formen sind labil, vieldeutig. Es werden individuelle sowie kollektive Tugenden gefordert. Die venerischen Begierden offenbaren sich im einzelnen menschlichen sowie gesellschaftlichen Leben, sei es im rein sexuellen Übermaß oder in der politischen und klerikalen Pracht. Die Franzosenkrankheit verwirrt die Grenzen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, fordert sie zur Reue auf. Als solche kann sie in das Zeichen-JonahKomplex88 der Dreißigerjahre eingefügt werden. Die Kometen, Erdbeben, Friedenbögen und auch die verschiedenen Seuchen (Franzosenkrankheit, Pest), bilden so viele Aufforderungen zur Reue des Menschen. Die Endzeit ist zwar da, aber Gott ist langmütig. Die Zeichen bestimmen nicht die Zukunft der Christenheit. Sie weisen auf die Verwandlung der leiblichen Begierden in geistliche Tugenden hin, die dann die Erlösung erlauben. Man könnte dann sagen, die verschiedenen erworbenen (Arten von) Gesundheit(en) bauten so viele Stufen auf dem Wege zu einem bis jetzt unbekannten Zustand: „als dan werden kein krankheiten mer sein, kein medicin, kein medicus, kein kranker und wird aus sein mit den dingen allen.“89 Aus diesem von Krankheiten ersparten neuen Zustand könnte man dann schließen, dass es laut Hohenheim im Jenseits vom Tod, als Ort der Erlösung verstanden, außerhalb des Rahmens der als unbeständigen Wechselfolge verstandenen weltlichen Zeit, keine (Arten von) Gesundheit(en) im engeren Sinn mehr gebe.
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Siehe Jean-Michel Rietsch: “Théophraste von Hohenheim dit Paracelse (1493–1541) et Jonas: le problème du signe et de la vérité prophétique entre philosophie de la nature et théologie”. In: Graphè. Hg. von Jean-Marc Vercruysse. Arras 2010, S. 99–116. I, 9, S. 100.
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Das Buch der Erkanntnus des Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus, aus der Handschrift mit einer Einleitung, hg. von Kurt Goldammer. Berlin 1964 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Heft 18). Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig 1854–1960. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt a. M. 1980. Gantenbein, Urs Leo: „Gesundheit und Krankheit in den Matthäus-Kommentaren des Paracelsus“. In: Gesundheit und Krankheit bei Paracelsus. Hg. von Walter Pöldinger. Salzburg 2001, S. 47–72. Gantenbein, Urs Leo und Weidmann, Pia Holenstein (Hrsg.): Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531. Ein Himmelzeichen aus Sankt Gallen für Zwingli. Zürich 2006. Goldammer, Kurt: Natur und Offenbarung. Hannover 1953. Goldammer, Kurt: Paracelsus in neuen Horizonten. Wien 1986. Grmek, Mirko D.: „Le concept de maladie“. In: Histoire de la pensée médicale en Occident. Hg. von Mirko D. Grmek. Paris 1997, S. 157–176. Klein, Wolf Peter: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewusstseins. Berlin 1992. Metzke, Erwin: „Erfahrung und Natur in der Gedankenwelt des Paracelsus“. In: Coincidentia oppositorum. Hg. von Karl Gründer. Witten 1961. Müller-Jahncke, Wolf-Dieter: „Makrokosmos und Mikrokosmos bei Paracelsus“. In: Paracelsus: Das Werk – Die Rezeption. Hg. von Volker Zimmermann. Stuttgart 1995, S. 59–66. Pagel, Walter: „Paracelsus als Naturmystiker“. In: Epochen der Naturmystik. Hrsg. von Antoine Faivre und Rolf Christian Zimmermann. Berlin 1979, S. 52–104. Paracelse, Oeuvres complètes, traduites et préfacées par Grillot de Givry, Paris 1984. Paracelsus, Theophrastus von Hohenheim gen.: Sämtliche Werke. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Hg. von Karl Sudhoff. Bd. 1–14. München und Berlin 1922–1933. Paracelsus, Theophrastus von Hohenheim gen.: Sämtliche Werke. Theologische und religionsphilosophische Schriften. Hg. von Kurt Goldammer. Bd. 2–7. Wiesbaden 1955– 1986. Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim), Theologische Werke 1, Vita beata – Vom glückseligen Leben, hg. von Urs Leo Gantenbein. Berlin und New York 2008. Rietsch, Jean-Michel: “Théophraste von Hohenheim dit Paracelse (1493–1541) et Jonas: le problème du signe et de la vérité prophétique entre philosophie de la nature et théologie”. In: Graphè. Hg. von Jean-Marc Vercruysse. Arras 2010, S. 99– 116. Rudolph, Hartmut: „Schriftauslegung und Schriftverständnis bei Paracelsus“. In: Medizin Historisches Journal, 16 (1981), S. 101–124. Rudolph, Hartmut: “Hohenheim’s Anthropology in the Light of his Writings on the Eucharist”. In: Paracelsus, the Man and his Reputation, his Ideas and their Transformation. Hg. von Ole Peter Grell. Leiden, Boston und Köln 1986, S. 187–206. Hartmut Rudolph: “Viehischer Leib und himmlischer Leib: Zur Bedeutung von 1. Korinther 15 für die Zwei-Leiber-Spekulation des Paracelsus“. In: Carleton Germanic Papers, 22 (1994), S. 106–120. Schipperges, Heinrich: Die Entienlehre des Paracelsus. Berlin und Heidelberg 1988.
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Paracelsus und die Magie der Natur Heinz Schott
Abstract Werk und Wirken des Paracelsus werden nur verständlich, wenn wir die Bedeutung der sogenannten natürlichen Magie (magia naturalis) für Medizin und Naturforschung in der frühen Neuzeit erkennen. Deren Grundannahmen sollen insoweit skizziert werden, als sie auch bei Paracelsus auftauchen. Dabei spielten die Theorien zur Signatur der Naturdinge, zur Alchemie, Imagination und Sympathie sowie zur Wirkung des Magneten eine wichtige Rolle. Was als Zauberwerk von übernatürlichen, dämonischen Mächten erschien und mit abergläubischen Ritualen scheinbar hervorgebracht wurde, sollte letztlich als Werk der „Magierin“ Natur aufgedeckt werden. Paracelsus sah die Heilkraft der Natur im Menschen, den „inwendigen Arzt“, als primäre Quelle der Gesundheit an. Seine ärztliche Ethik leitet sich wesentlich von dieser naturphilosophischen Anschauung ab. Paracelsus and the Magic of Nature The work and true influence of Paracelsus can only be understood when we acknowledge the impact of so-called natural magic (magia naturalis) on the medicine and natural science of the early modern period. The basic assumptions of natural magic that are shared by Paracelsus (though not distinctly clear to me) include the doctrines of the signature of natural things; of alchemy, imagination, and sympathy; and of the effect of the magnet. What seemed to be generated by the magic of supernatural, demonic powers, and to be produced by superstitious rituals, should be understood as in fact the creation of Nature, the (female) “magician.” Paracelsus considered the healing power of nature in man – the “internal physician” – to be the primary source of health. His medical ethics are essentially deduced from this view of natural philosophy.
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Magie wird traditionell auch als Zauberei oder als Kunst bezeichnet, was auf den antiken Terminus ars magica (häufig auch im Plural: artes magicae) verweist. Diese ars ist durchaus auch im Sinne von „Wissenschaft“ zu verstehen, wenngleich sie, wie wir aus der Kulturgeschichte wissen, als solche immer umstritten war. Denn sie stand im Verdacht, als „schwarze Magie“ mit dem Teufel oder den Dämonen in Verbindung zu stehen. Den „Schwarzkünstlern“ wurde vor allem die Nigromantie (necromantia) vorgeworfen, insbesondere die Beschwörung der Totengeister (d.h. Geister Verstorbener). Demgegenüber besagt der Begriff „weiße Magie“ (auch Weißkunst, magia alba), dass sie göttlichen Ursprungs sei und über die guten Engel wirke.1 Diese „weiße Magie“ wurde in der frühen Neuzeit als „natürliche Magie“ (magia naturalis) begriffen, wie sie vor allem Paracelsus und Agrippa von Nettesheim vertraten. Ich möchte im Folgenden in fünf Schritten vorgehen. (1) Die „natürliche Magie“ Die in der Renaissance und der frühen Neuzeit unter dem Vorzeichen des Neuplatonismus aufblühende Naturphilosophie setzte Gott keineswegs mit der Natur gleich. Insofern handelte es sich um keinen Pantheismus. Eher könnte man von einem theologischen Naturalismus sprechen: Die Natur wurde als Sprachrohr und Vermittlerin göttlicher Botschaften und Kräfte angesehen. Die Hierarchie von oben nach unten: Gott – Natur – Mensch war grundsätzlich vorgegeben und diente als Handlungsanweisung für den Menschen: Er sollte von der Erde über die Naturforschung zur göttlichen Weisheit, zur ewigen Lichtquelle, aufsteigen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Metapher der Himmelsleiter, der Jakobsleiter, eine wichtige Rolle spielte. Sie sollte den zielgerichteten Aufstieg der Erziehung und Selbsterziehung und damit der Befreiung von irdischer Not und tierischen Zwängen symbolisieren. Der Aufstieg auf der Himmelsleiter bezeichnete zugleich den Weg zu einer unio mystica, die durch die rechte Art der Naturforschung erreicht werden konnte. Die rechte Art der Naturforschung bedeutete, die Natur als Lehrmeisterin ernst zu nehmen und ihr auf ihrem Wege zu folgen. So stoßen wir hier auf eine weitere Metapher, welche für die damaligen Naturforscher verbindlich war: die Natur als Lehrerin, Führerin, Meisterin. Doch die göttliche Lichtquelle wird nicht immer durch die Natur weitergeleitet, gewissermaßen durch dieses Medium gebrochen, sie kann auch direkt aufscheinen, unmittelbar vor die Au_____________ 1
Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin 1932. Bd. 5, Sp. 817–836.
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gen des Menschen treten und ihn ergreifen und blenden, wie dies durch das Hauptgestirn, die Sonne, geschieht. Die paracelsische Redewendung vom „Licht der Natur“ und „Licht Gottes“ verweist auf diese Anschauung. Als magische Heilkunde wollen wir jene Medizin bezeichnen, die von dieser natürlichen Magie (magia naturalis) ausging, um deren subtile und geheime Wirkungen zu therapeutischen Zwecken einzusetzen. Dies lässt sich insbesondere am medizinischen Magnetismus beobachten. Die Anziehungskräfte des Magneten bzw. Magnetsteins auf Eisen faszinierten von jeher Ärzte und Naturforscher, die hierin eine wunderbare Wirkung der verborgenen Natur zutage treten sahen. Durch Paracelsus erlangte der Magnet paradigmatische Bedeutung für die Medizin der Neuzeit: Er empfahl ihn nicht nur als Heilinstrument, um z.B. die Lage der „verrückten“ Gebärmutter zu korrigieren, sondern – was für die Ideengeschichte wichtiger wurde – erblickte in ihm das Modell für die sympathetischen Kräfte der Natur schlechthin. So wurde die Heilwirkung „magnetischer Arzneimittel“, wie z.B. die der sogenannten Waffensalbe, worauf wir noch zurückkommen werden, als Ausdruck der natürlichen Magie erklärt.2 An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die magische Heilkunde sowohl in der Volksmedizin als auch in der Gelehrtenmedizin einen wichtigen Bereich darstellte. Ebenso möchte ich vorausschicken, dass wir von einer Wechselwirkung der beiden Bereiche ausgehen müssen: Nicht nur magische Heilpraktiken der Volksmedizin beeinflussten die gelehrte Medizin, sondern auch umgekehrt: Die Lehren der wissenschaftlichen Medizin beeinflussten die Volksmedizin. Dies ist eine Arbeitshypothese, die durch systematische Forschung zu belegen wäre. Magische Heilkunde ist also kein Charakteristikum der sogenannten Volksmedizin als Teil der Popularkultur schlechthin. (2) Magnetisch-sympathetische Kuren Die magischen Kräfte der Natur können auf zweierlei Weise heilsam wirken: Zum einen können sie auf den kranken Körper übertragen werden und ihn somit direkt kräftigen bzw. heilen; zum anderen können die Kräfte der Natur auch schädliche Einflüsse, etwa dämonologischer Art abwehren und den betreffenden Menschen vor Krankheit schützen. Grundlegend ist dabei die Annahme einer subtilen sympathetischen Wechselwirkung zwischen ähnlichen, miteinander verwandten Körpern in _____________ 2
Heinz Schott (Hg.): Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 210.
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der Natur, die durch spezifische Techniken miteinander in Korrespondenz gebracht werden können. Man kann hier in Analogie zur Homöopathie, die letztlich in der Tradition der magia naturalis steht, von einem Simile-Prinzip sprechen. An zwei Beispielen des Paracelsus, die durchaus volksmedizinischen Traditionen entsprechen, soll der Mechanismus der magischen Heilwirkung erläutert werden. Im Herbarius, einer Schrift, die um 1527 entstand, schildert Paracelsus die Anwendung der Persicaria (Flöhkraut). Wie der Magnet das Eisen an sich ziehe, so verhalte sich die Persicaria gegenüber dem Fleisch, das verletzt wurde: „Damit und ir den brauch des krauts verstanden, so sollent ir wissen, das in der gestalt gebraucht wird, nemlich man nimpt das kraut und zeuchts durch ein frischen bach, demnach so legt mans auf das selbig, das man heilen will, als lang als einer möchte ein halb ei essen. Darnach so vergrabt mans an ein feucht ort, domit das faul werde, so wird der schad gesunt in der selbigen zeit ... das etlich ein kreuz uber die scheden machen, etlich beten darzu; solchs alles ist von unnöten, gehört nit darzu, dan es ist ein natürliche wirkung do, die das natürlich tut, nit superstitiosisch und zauberisch.“3
Paracelsus betont hier das „natürliche Wirken“, um hervorzuheben, dass es sich bei dieser Methode sozusagen um eine reine Naturheilkunde handele. In derselben Schrift empfiehlt er die roten Korallen als Abwehrmittel gegen die (verführerische) Fantasie, gegen phantasma („nachtgeist, die von der natur komen“), spectrum (ätherische Körper, d.h. Geister Verstorbener) sowie melancholia. Gegen diese vier Krankheiten „sind die krallen eins aus den natürlichen secreten deren dan noch mer sind. also ist natur gegen der natur, das ist wider die natur und mit der natur; dan die roten vertreibens, die braunen behaltens und das alles aus den natürlichen kreften und in der natur“. Die dunkelroten Korallen („uf braunfarb oder uf schwerze“) seien schädlich und würden die betreffenden Krankheiten verschlimmern. Dies entspricht der traditionellen Zuordnung der dunklen bzw. schwarzen Farbe zum Bösen, Teuflischen. Die hellen, roten Korallen dagegen würden – über die Abwehr der Dämonen hinaus – auch gegen Unwetter und Hagelschlag wirken sowie die „wilden monstra“ vertreiben: „solche monstra tilgent sie auch aus.“4 Ebenso würden sie den Teufel vertreiben und auch vor Schädlingen und Ungeziefer auf dem Acker und im Garten bewahren. Die schwangeren Frauen und Wöchnerinnen sollten ebenfalls zum Schutz _____________ 3 4
Paracelsus, Ed. Sudhoff = Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14 Bde. Hg. von Karl Sudhoff. München und Berlin 1929–1933; Bd. 2, S. 18. a.a.O., S. 43.
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vor Betrübnis und Anfechtung Korallen tragen. Paracelsus führt die Liste der möglichen Indikationen noch sehr viel weiter. Man hat den Eindruck, dass er hier alle möglichen Überlieferungen aus der Gelehrtenmedizin ebenso wie die aus der Volksmedizin – selbstverständlich in seinem typischen Stil ohne jede Quellenangabe – zusammengetragen hat. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein waren zahlreiche magnetischsympathetische Rezepte im Sinne des Abwehrzaubers in Umlauf. So empfahl der (kritische) Paracelsus-Anhänger Johan Baptist van Helmont eine makabre Maßnahme der magischen Abwehr, die sicherlich eine Portion Ironie enthält, aber den vorgestellten Wirkmechanismus magischer Praktiken sehr schön illustriert. Er griff auf mannigfache Praktiken der volkstümlichen Magie zurück. So lautete sein Rat an Hausbesitzer, wie jemand, der einem seine Exkremente vor die Türe setze, zu vertreiben sei: „Wenn jemand ein Hof-Recht vor Deine Thür gemacht, und du solches gerne verhindern woltest, so halt eine glühende Schauffel auf den selben Koth; da wird durch eine Magnetische Krafft dem Unfläther sein Hintern also vald von Blattern auffahren. Denn weil das Feuer den Koth ausdörret, so wird dadurch die von dieser Röstung entstehende Schärffe als gleichsam durch den Rucken des Magnetens, dem unverschämten Gesellen in seinen Hintern getrieben.“5
Die genannten Beispiele magischer Heilpraktiken – die Anwendung der Persicaria, der roten Korallen und die Vertreibung eines Feindes – wurden von akademisch ausgebildeten Ärzten verfasst, die sich kritisch im Selbstverständnis ihrer Naturphilosophie gegen die tradierte scholastische Tradition stellten. Die magische Heilkunde wurde in der frühen Neuzeit vor allem von der alchemischen Richtung in der Medizin gepflegt und weiterentwickelt. Gerade die genannten Beispiele zeigen die Nähe zu volkskundlichen und volksmedizinischen Überlieferungen. Ohne Zweifel wurden hier bekannte volksmedizinische Bräuche neu interpretiert und naturphilosophisch aufgewertet. Es wäre eigens zu untersuchen, inwieweit nun die stark beachteten Schriften eines Paracelsus oder eines van Helmont ihrerseits auf die Volksmedizin zurückgewirkt und magische Elemente regelrecht verstärkt haben. Soweit ich sehe, wurde diese schwierige, aber wichtige Fragestellung medizinhistorisch bislang kaum erforscht.
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Zitiert nach Heinz Schott, Hrsg.: Meilensteine der Medizin. Dortmund 1996, S. 206.
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(3) Die Waffensalbe als Paradigma der natürlichen Magie Die magische Übertragung der Heilkraft wurde in der Renaissance wohl am sinnfälligsten durch Wundärzte des 16. Jahrhunderts in Szene gesetzt, die mit der „Waffensalbe“ Stich- und Schnittwunden heilen wollten. So wurde z.B. die „Sympathetische Salbe“ des Agricola (Unguentum sympatheticum Agricolae) bei Verletzungen durch Messer und Degen empfohlen: „Sie besteht aus ½ Pfd. Bärenfett vom Männchen, 1 ½ Unzen Regenwürmern, Moos vom Schädel eines Verurtheilten 2 Unzen, Blutstein 3 Unzen [...] und etwas Wein.“ Allerdings wurde nicht die Wunde, sondern die Waffe behandelt, die damit geschmiert und verbunden wurde: „Die Waffe muß anfangs alle Tage, später alle 2–3 Tage verbunden werden, als wäre es der Kranke selbst [...] so heilt die Wunde ohne Geschwulst und Schmerzen, wenn auch der Verwundete 40 Meilen von dem, der die Waffe verbindet, wäre.“6
Die heilsame Fernwirkung der Waffensalbe auf die Wunde wird magisch erklärt: Die Salbe an der Waffe heile das daran klebende Blut, das nun rückwirkend die Wunde selbst zu heilen vermöge; denn die sympathetischen Kuren können „nicht anders geschehen, als es müssen effluvia [Ausdünstungen] des Blutes an dem verwundenden Instrument durch die Luft so lange fort geführet werden, biß sie zu demjenigen Cörper wieder kömmen, welcher verwundet worden, weil sie sonst nirgends eindringen können, sich niederlassen und zu der Heilung verhelfen.“7
Die Wunde selbst sollte ansonsten nur sauber abgedeckt und in Ruhe gelassen werden. Die gute Wirkung der Waffensalbe war wohl darauf zurückzuführen, dass man sie nicht auf die Wunde schmierte. Die Waffensalbe wurde insbesondere von Gegnern des Paracelsismus verworfen, so etwa vom Wittenberger Mediziner Daniel Sennert, für den sie eher ein Werk des Teufels als der Natur war. So ist es nicht verwunderlich, dass van Helmonts Abhandlung über die „magnetische Salbe“ Reaktionen der spanischen Inquisition hervorrief. Er wurde als Anhänger des verteufelten Paracelsus und wegen seines Eintretens für die „chemische Philosophie“ 1634 von der Löwener Theologischen Fakultät wegen Aberglaubens zu jahrelangem Hausarrest verurteilt. Die Auseinandersetzung über van Helmonts Waffensalbe soll hier etwas näher beleuchtet werden. Sie hatte in den Augen der paracelsistisch beeinflussten Ärzte und Naturphilosophen nicht nur bemerkenswerte _____________ 6
7
Zitiert nach Heinz Schott: „Die Heilkunde des Paracelsus im Schnittpunkt von Naturphilosophie, Alchemie und Psychologie.“ In: Resultate und Desiderate der ParacelsusForschung. Hrsg. von Peter Dilg und Hartmut Rudolph. Stuttgart 1993 (Sudhoffs Archiv: Beihefte,31), S. 25–41; hier: S. 29f. Zit. ebd.
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Heilkräfte, sondern war auch geeignet, die Wirkungsweise der natürlichen Magie zu demonstrieren, der die kirchlichen Autoritäten teuflische Machenschaften unterstellten. Der springende Punkt der Behandlung war nun, dass nicht die Wunde, sondern die blutbefleckte Waffe mit der Salbe geschmiert wurde. Die Heilwirkung war ganz unabhängig von der Entfernung zwischen Waffe und Patient. Für die Salbung gab es einige Verhaltensmaßregeln: Man habe darauf zu achten, „daß man an dem Tage, da diese Salbung vorgenommen werden muß, mit keiner Frauens-Person etwas zuthun gehabt“, wie es in Zedlers Universal-Lexicon heißt.8 Das Schmieren sollte an einem sauberen Ort mit angenehmer Temperatur vorgenommen werden. Den Mechanismus der Heilwirkung stellte man sich folgendermaßen vor: „Nachdem nun diese Waffen wärmlich mit der Salbe geschmieret und angestrichen worden, so ziehe das fixe Saltz, und dessen enthaltene Geister, durch seine magnetische und natürlich angebohrne Kräffte den angenehmen geistigen Theil der Salbe an und in sich, und schicke durch den dritten Gehülffen, nehmlich den Welt-Geist, als dem Ursprunge alles dessen, was in der Welt geschehe, dem verwundeten Theile die Kräffte dieser Verbindung aus natürlicher Verwandschafft zu“.9
Die natürliche Sympathie, die hier mit dem deutschen Terminus „Verwandtschafft“ bezeichnet wird, war für den Autor des Artikels evident: Der Patient fühle nämlich in der Wunde Schmerzen, wenn die Waffe in die Kälte gebracht würde bzw. „am Schaden großes Brennen und Hitze“, wenn man sie ans Feuer lege. Daraus werde ersichtlich, daß erst diese Geister, so ausserhalb dem Krancken noch auf den Waffen und Blute wären, diese erregte Hitze und Kälte empfänden, und hernach solche den andern, so in dem Menschen wohnen, aus natürlicher Verwandtschafft und Gleichförmigkeit zuschickten und mittheileten.
Diese sympathetische Wechselwirkung zwischen Verwundetem und Waffe funktionierte in beiden Richtungen. Wenn sich also der Patient „nicht gebührlich und diät währendem [sic] offenen Schaden verhält“, so könne man es an der Waffe sogleich wahrnehmen, insofern darauf Flecken erschienen. Auch wenn er Geschlechtsverkehr zu dieser Zeit hätte, sich „des Venusspiels bediene“, könne man dies an der Waffe „spüren und vermercken“. Diese geistige Übertragung von einem Ort zu einem anderen, der mit ersterem in sympathetischer Beziehung stand, war der entscheidende Mechanismus der magischen Medizin. Er diente zugleich als Hauptargument gegen alle Kritiker, welche die Waffensalbe als „Teuffelswerck und _____________ 8 9
Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon […]. 64 Bde., 4 Supplementbände. Halle und Leipzig 1732–1754; Bd. 52 (1747), Sp. 549. a.a.O., Sp. 551.
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Zauberey”10 ansahen und behaupteten, das Blut auf der Waffe sei tot und die Salbe sei direkt auf die Wunde zu schmieren.11 Die Kontroverse um van Helmonts Waffensalbe rief vor allem die Jesuiten auf den Plan. Ihre Strategie war, die magische Medizin abzuwehren und zu verteufeln.12 1608 veröffentlichte der protestantische Marburger Medizinprofessor Rudolph Goclenius der Jüngere eine kurze Abhandlung über die Waffensalbe in Anlehnung an die alchemischen und astrologischen Grundsätze des Paracelsus. Ein Jahr später, 1609, publizierte der Jesuit Jean Roberti (1569–1651) hierzu eine radikale Kritik. Daraufhin entspann sich eine heftige Kontroverse zwischen beiden Autoren, eine Serie von gegeneinander gerichteten Polemiken erschien. Die entscheidende Frage war, wie die Heilwirkung der Salbe zu erklären sei. Roberti und die Jesuiten sahen den Teufel am Werk, die Salbe schien unnatürlich und deshalb auf diabolische Art zu wirken. Die Jesuiten beriefen sich auf das traditionelle aristotelische und scholastische Prinzip, das nichts über eine Entfernung hinweg, ohne direkte Berührung, auf etwas anderes wirken kann („Nullum agens agit in distans”). Sollte nun dennoch eine Ursache über die Entfernung wirken, konnte dies nur vom Teufel bewerkstelligt werden. Als der englische Arzt und Paracelsist Robert Fludd ausdrücklich die Waffensalbe empfahl, verfasste der Landpfarrer William Foster (1591– 1643) eine polemische Entgegnung und verwies in einer Schrift von 1631 auf die unnatürliche Wirkungsweise der Waffensalbe: „[It] workes not naturally, because it workes after a different manner from all naturall agents. For 'tis a rule amongst both Divines and Philosophers that; Nullum agens agit in distans. Whatsoever workes naturally, workes either by corporall or virtuall contact.”13
Johann Baptist van Helmonts Abhandlung “De magnetica vulnerum curatione” erschien 1621 unter dubiosen Umständen. Der Autor behauptete, dass sie von seinem Widersacher Roberti angefertigt und ohne seine Genehmigung publiziert worden sei. Gleichwohl war die Schrift authentisch und wurde in späteren posthumen Editionen aufgenommen, so im Rahmen der lateinischen Übersetzung seiner Schriften unter dem Titel „Ortus medicinae“ (1843) sowie der deutschen Übersetzung (von Christian Knorr von Rosenroth) unter dem Titel Aufgang der Artzney-Kunst (1683). 1625 stufte _____________ 10 11 12
13
a.a.O., Sp. 550. a.a.O., Sp. 552. Mark A. Waddell: “Perversion of Nature: Johannes Baptista Van Helmont, the Society of Jesus, and the Magnetic Cure of Wounds.” In: The Canadian Journal of History,1 (Aug. 2003), [online: http://www.thefreelibrary.com/The+perversion+of+nature%3a+ Johannes+Baptista+Van+Helmont%2c+the+Society...-a0112585797 (letzter Zugriff am 06.09.2010)]. Zitiert nach Waddell (wie Fußn. 12).
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die spanische Inquisition 27 Aussagen als häretisch ein. Die katholische Universität von Löwen lehnte van Helmonts Auffassungen ab, da sie paracelsisches Gedankengut enthielten. So wurde er, wie bereits erwähnt, von 1633 bis 1636 unter Hausarrest gestellt, der erst 1642 aufgehoben wurde. Die volle Rehabilitierung erfolgte erst 1648, zwei Jahre nach seinem Tod. Van Helmont unterschied zwischen Fascination (fascinum, „das natürliche Zauber-Band”), Sympathie (sympathia, „die natürliche Verwandschaft“) und magnetischer Kraft. Sympathie bzw. Antipathie waren von Natur aus vorgegeben, wenn beispielsweise ein Hund eine Henne attackierte. Natürliche Magie (fascinum) arbeite aber anders: Wenn beispielsweise eine brütende Henne einen angreifenden Hund bannen und seine Seele fixieren kann ohne magnetische Kraft. Van Helmont unterschied klar zwischen sympathetischer und magnetischer Salbe: erstere benötige Blut von der Wunde als ein Ingredienz, letztere solle bei einer Waffe angewandt werden, an der kein Blut klebe.14 Van Helmont argumentierte sehr einfach gegen Robertis Unterstellung, die magnetische Kur werde durch den Teufel bewirkt: „als weil euere Schwachheit und euer Beruff dieselbe nicht begreift.” Ein geistlicher Lehrer erhalte seine Einsichten von Gott, ein natürlicher aber von der Natur. Nur die Alchemisten, Spagyri, Feuer-Künstler könnten die Natur erklären. Weil die magnetische Kur natürlich sei, könne nur der Naturforscher oder Alchemist sie richtig bewerten.15 Und „was ist doch Aberglaubisches in der Waffen-Salbe?“ fragt van Helmont. “Etwan weil sie von HirnSchalen-Moß (Usnea), Blut / Mumie / und Menschen-Fett gemacht ist?“ All diese Dinge würden ja ohne Weiteres vom Arzt angewandt und auch die Apotheker würden sie “ohne Scheu” verkaufen.16 Er lobt den Magneten, wie er von William Gilbert, „einem Medico von London“, beschrieben worden sei.17 Der Nordpol oder Bauch des Magneten würde Eisen anziehen, der Südpol oder Rücken dagegen Eisen abstoßen. Analog hierzu könnte der Magnet angewandt werden, um dislozierte Organe wieder an ihren ursprünglichen Ort zurückzuführen oder um die Geburt zu erleichtern.18
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Johann Baptist van Helmont [Christian Knorr von Rosenroth]: Aufgang der ArtzneyKunst […]. Sulzbach 1683 (Reprint: München 1971), S. 1010 (2c). a.a.O., S. 1012 (8). a.a.O., S. 1013 (12). Gilbert, William: De magnete […]. London 1600. Van Helmont (wie Fußn. 14), S. 1014 (18 b).
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Van Helmont bezeichnet die Natur als eine Magierin (maga): „Nemlich / die Natur ist überall Geister-hafftig (Maga) und würcket durch ihre Einbildung: Je geistlicher sie aber ist / je mächtiger ist sie auch; deswegen auch das Wort Magia ungleicher Bedeutung ist.“19
Der Terminus „Magierin“ (maga) findet sich auch bei Paracelsus: Aus dem „Licht der Natur“ solle man verstehen, „das die natur […] an ir selbs ein maga ist“, während der in die Geheimnisse der Natur eingeweihte Mensch als Magier, als magus, bezeichnet wird.20 Dieses Verhältnis von maga und magus entspricht einem zentralen Grundsatz der natürlichen Magie und der Alchemie, der bis hin zu Goethes Faust tief in der abendländischen Wissenschafts- und Kultur- und Religionsgeschichte verwurzelt ist. (4) Dämonologie und „Aberglauben“ In Renaissance und früher Neuzeit hatten Alchemie, Astrologie und natürliche Magie Hochkonjunktur im Diskurs der Medizin. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Paracelsus wie kaum ein anderer zuvor dämonologisches Denken vom Gebiet der Religion auf das Feld der Naturforschung übertrug und hier die Grundlage für den sogenannten ontologischen Krankheitsbegriff schuf. Jede Krankheit hatte demnach in einem spezifischen Krankheitssamen seinen Ursprung, von dem aus die Krankheit sich wie ein eigener Organismus, ein Parasit, entfaltete.21 Die Nähe der frühneuzeitlichen Naturforschung zur Dämonologie ist dabei unübersehbar. Damit kann gerade am Beispiel von Paracelsus gezeigt werden, dass zwischen religiösen und dämonologischen Vorstellungen einerseits und empirisch-rationalen Theorien der Medizin andererseits in vormodernen Zeiten kein klarer Trennungsstrich gezogen werden kann. Paracelsus hatte nicht den geringsten Zweifel an der Realität des Teufels. Der Aberglaube erschien ihm deshalb so gefährlich, weil er den Menschen einem teuflischen Einfluss aussetzte. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum unter Wissenschaftshistorikern, dass die „natürliche Magie“ (magia naturalis) die Dämonologie abgelöst, entmystifiziert, in Naturphilosophie aufgelöst habe. Gerade dort, wo Paracelsus auf Hexen und Besessene eingeht, zeigt sich seine geistige Verankerung in der volkstümlichen, kirchlich-kultivierten Dämonologie. Seine Ausführungen in dem einschlägigen Text „De sagis et earum operibus, fragmentum“ lesen sich buchstäblich wie _____________ 19 20 21
a.a.O., S. 1039 (158). Paracelsus, Ed. Sudhoff (wie Fußn. 3), Bd. 12, S. 132 bzw. S. 462. Vgl. dazu den Beitrag von Jean-Marie Rietsch im vorliegenden Band.
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Kommentare zum „Hexenhammer“.22 Die „unholdischen Aszendenten“ als „aufsteigend zeichen der bosheit“ übernehmen die Rolle des Teufels, sie prädisponieren das Kind bei der Geburt zur Hexe: „Also wachsen auch die hexen in der geburt, so der geist, der hexenvater und mutter nit ausgetriben wird, so wurzlet es in der hexen so lang, bis er sie underricht.“23 Die „erbare erzihung“ des Kindes bedeutete für ihn nichts anderes, als die stetige Austreibung dieser bösen Geister, analog dem Reinigungsprozess der alchimistischen Scheidekunst. In der Schrift „von den besessenen mit den bösen geistern“ griff Paracelsus auf das traditionelle Konzept der Teufelsbesessenheit zurück.24 Er definierte den Teufel als Krankheitskeim und stellte die Frage, „wie in den menschen wachsen die teufel“? Wie kommt der Teufel in den Körper? Er komme hinein wie andere leibliche Dinge, nur ohne Verletzung der Haut. Nicht nur die Besessenheit, sondern auch der Aussatz gilt als geistliches, d.h. teuflisches Leiden, wogegen nur die „Arznei von Christus“ helfe. Es ist nur folgerichtig, wenn Paracelsus die religiöse Teufelsaustreibung nach christlichem Vorbild bei solchen Erkrankungen empfiehlt. Drei Methoden seien wirksam, die übrigens auch „im Hexenhammer“ zitiert werden: Der Exorzismus, das Beten und das Fasten. Im Unterschied jedoch zur religiösen Heilkunde spielten Besessenheit und Exorzismus im paracelsischen Gesamtwerk eine marginale Rolle. Im Zentrum standen seine kritischen Auseinandersetzungen mit der vorherrschenden Humoralpathologie im Sinne von Galenismus und Arabismus, die er mit astrologischen und magischen Ansätzen konfrontierte. Allerdings war die religiöse Dimension im paracelsischen Denken allgegenwärtig, die Frage des „rechten Glaubens“ bzw. des „Aberglaubens“ waren für den Arzt und seine Heilwirkung von größter Bedeutung.25 (5) „Glaube“, „imaginatio“ und Krankheit bei Paracelsus „Natürliche Magie“ (magia naturalis) bedeutet, die Natur selbst als Magierin anzusehen und alle Wundererscheinungen und Zauberpraktiken buchstäblich als „natürlich“ zu begreifen. Somit sollten vor allem dämonische, teuflische Wirkungen im Sinne der „schwarzen Magie“ entzaubert, aber _____________ 22 23 24 25
Paracelsus, Ed. Sudhoff (wie Fußn. 3), Bd. 14, S. 5–27. Ebd., S. 9. a.a O., S. 29–43. Heinz Schott: „Magie – Glaube – Aberglaube: Zur „Philosophia magna“ des Paracelsus. In: Paracelsus und seine Internationale Rezeption in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des Paracelsismus. Hrsg. von Heinz Schott und Ilana Zinguer. Leiden, Boston und Köln 1998, S. 24–35.
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auch das direkte Eingreifen göttlicher Mächte als ein wunderbares Wirken der Natur erklärt werden. Die Abgrenzung gegenüber der religiösen und dämonologischen Heilkunde ist jedoch, wie schon oben angedeutet, nicht trennscharf, da in seinem Konzept der magischen Medizin die Begriffe „Glaube“ und „Aberglaube“ eine überaus große Rolle spielen. Glaube ist mit Gott, Aberglaube mit dem Teufel assoziiert, zwei polar entgegengesetzten Instanzen, die durchaus den Bereich der natürlichen Magie, insbesondere die ärztliche Tätigkeit, beeinflussen. Psychiatriehistorisch besonders interessant ist der Begriff der imaginatio bei Paracelsus. In seiner Schrift De causis morborum invisibilium („Von den unsichtbaren Krankheiten“) konstruiert er ein spezifisches Zusammenspiel von Leib und Seele, das in seinen Grundzügen auch in späteren Konzepten einer psychosomatisch orientierten Medizin wieder auftaucht.26 Es handelt sich um die Vorstellung: (1) von einem ganzen Menschen, bestehend aus einer sichtbaren (körperlichen) und einer unsichtbaren (geistig-seelischen) Hälfte; (2) vom Glauben als einer real im Körperlichen wirkenden Kraft; und (3) von einer Einbildung (imaginatio), die sich im körperlichen Bereich ausdrückt. Paracelsus vertrat eine radikale Auffassung von der Macht des Geistes über den Körper. Der Glaube sei wie eines Werkmanns (Handwerkers) Instrument, das zu guten wie zu bösen Zwecken eingesetzt werden könne: „[...] und also ein ietlich ding das in der irdischen natur wachst, das vermag auch die sterk des glaubens zu bringen, also vermag auch der glaub alle krankheiten zu machen.“27 Der Glaube wurde als eine Art Waffenschmiede angesehen. Krankheiten werden da erzeugt, wo die Waffe gegen ihren Urheber selbst gerichtet wird: „[...] so wir aber die schweche fallent, so geht die sterke des glaubens wie ein büchs gegen uns und müssen gedulden und leiden was wir auf einander werfen.“28 Der Glaube sei somit eine zweischneidige Waffe, die wie die Arznei „die zur gesuntheit dienet auch zum tot gebraucht werden“ könne. Die negative Stoßrichtung des Glaubens sei die Verzweiflung, die – wie Paracelsus an einer Stelle sagt – sogar den Himmel vergiften und eine Pestilenz hervorrufen könne. Am deutlichsten schien die Macht des Geistes beim „Versehen“ der schwangeren Frau zutage zu treten, wenn sich deren Einbildung (imaginatio) körperlich am Kind im Mutterleib ausdrücke („Muttermal“). Diese bis ins späte 18. Jahrhundert gültige Lehre implizierte eine Art Introjektion eines äußeren „Bildes“, das dann im Leib gewissermaßen nachgebaut wird. Was die Frau sehe oder wovon sie fantasiere, schlage sich auf ihre eigene _____________ 26 27 28
Paracelsus, Ed. Sudhoff (wie Fn. 3). Bd. 9, S. 251–350. a.a.O., S. 265f. a.a.O., S. 280.
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Frucht im Leib nieder. Die imaginatio als Werkmeister errichte gewissermaßen nach einem bestimmten Vorbild eine Art körperliches Bauwerk im Körper, verkörpere sich als „Muttermal“. Die Bilder, die da eingebildet würden, erschienen, so Paracelsus, als geistige „Samen“ (logoi spermatikoi), die wie Saatkörner im Körperlichen aufgehen könnten. Auch hier zeigten sich zwei polar entgegengesetzte Möglichkeiten: Aus dem Krankheitssamen (idea morbosa nach van Helmont) erwächst die Krankheit, aus dem „göttlichen Samen“, der „göttlichen Influenz“ durch den „rechten Glauben“ Heilung und Heil.29 Trotz seiner spürbaren Nähe zur Dämonologie mit ihren religiösen Implikationen vertrat Paracelsus ein Konzept der „natürlichen Magie“. Ihn interessierte die Entstehung der Krankheiten aus einem jeweils spezifischen „Keim“ oder „Samen“ („ontologischer Krankheitsbegriff“). So verfolgte er letztlich ein infektiologisches Modell, das die Entstehung aller Krankheiten und Missbildungen – einschließlich der Homunculi – erklären sollte. Wie er im Liber de homunculis erklärt, erzeuge der durch „Sodomie“ verdorbene Samen (sperma) Missgewächse, Monstra, Homunculi – analog einem teuflischen Keim, der zur Krankheit führe.30 Paracelsus kennt keine besonderen Ursachen für psychische Störungen, die sich ihrem Wesen nach von denen für körperliche Krankheiten unterscheiden würden. Die „magische Medizin“ mit ihren astrologischen Auffassungen interessiert sich keineswegs spezifisch für Geisteskrankheiten. „Glaube“, „Imagination“ und „Magie“ betreffen also in diesem Kontext alle Krankheiten und haben keine besondere Affinität zu „psychiatrischen“ Erkrankungen. Dies bestätigt insbesondere die Lehre des bedeutendsten Paracelsisten des 17. Jahrhunderts, Johann Baptist van Helmont, der den „sämlichen“ Ursprung aller Krankheiten auf krankmachende Ideen zurückführte. Der Begriff des animal phantasticum ist hier zentral: Ein solcher spezifischer Keim der Ein-Bildung ist nicht nur für Hypochondrie und Melancholie verantwortlich, sondern auch für die Pest. Ähnlich wie das therapeutische Geschehen im Asklepioskult der Antike erscheinen auch Krankheitsverständnis und Heilmethoden der magischen (alchemistischen, astrologischen Medizin) der frühen Neuzeit aus dem Blickwinkel der modernen Medizin in erster Linie als intuitive Formen der Psychotherapie im Umgang mit psychischen bzw. psychosomatischen Störungen. Diese Interpretation vernachlässigte jedoch die Tatsache, dass seinerzeit weder in theoretischer Hinsicht eine Trennungslinie zwischen psychischen und somatischen Störungen gezogen wurde, noch in praktischer Hinsicht eine solche erkennbar ist. Dieser Befund ist durch_____________ 29 30
Vgl. Heinz Schott: Magie – Glaube – Aberglaube (wie Fn. 24), S. 31. Vgl. Paracelsus, Ed. Sudhoff (wie Fn. 3), Bd. 14, S. 334f.
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aus interessant: Was uns heute als psychiatrische Erkrankung erscheint, wurde wie eine „normale“ (körperliche) Krankheit wahrgenommen und behandelt – wie auch umgekehrt gilt: was uns heute als körperliche Krankheit erscheint, wurde mit (quasi) psychischen oder „magischen“ Kräften in Verbindung gebracht und entsprechend therapiert. Inwiefern sich die heutige Medizin von solchen historischen Anschauungen anregen lassen sollte, um ihr Menschenbild und ihren Krankheitsbegriff zu relativieren, steht auf einem anderen Blatt.
Literaturverzeichnis Gilbert, William: De magnete […]. London 1600. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin 1932. Paracelsus, Ed. Sudhoff = Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14 Bde. Hg. von Karl Sudhoff. München und Berlin 1929–1933. Schott, Heinz: Die Heilkunde des Paracelsus im Schnittpunkt von Naturphilosophie, Alchemie und Psychologie. In: Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung. Hrsg. von Peter Dilg und Hartmut Rudolph. Stuttgart 1993 (Sudhoffs Arch: Beihefte; H. 31), S. 25–41. Schott, Heinz (Hg.): Meilensteine der Medizin. Dortmund 1996. Schott, Heinz (Hg.): Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert. München 1998. Schott, Heinz: Magie – Glaube – Aberglaube: Zur „Philosophia magna“ des Paracelsus. In: Paracelsus und seine Internationale Rezeption in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des Paracelsismus. Hrsg. von Heinz Schott und Ilana Zinguer: Leiden, Boston und Köln 1998, S. 24–35. Helmont, Johann Baptist van [Christian Knorr von Rosenroth]: Aufgang der ArtzneyKunst […]. Sulzbach 1683. Reprint: München 1971. Waddel, Mark A.: Perversion of Nature: Johannes Baptista Van Helmont, the Society of Jesus, and the Magnetic Cure of Wounds. In: The Canadian Journal of History, 38(2) (2003), S. 179–197 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon […]. 64 Bde., 4 Supplementbände. Halle und Leipzig 1732–1754.
Paracelsus und die Quellen seiner medizinischen Alchemie Urs Leo Gantenbein
1. Einleitung Die Alchemie zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte medizinisch-naturphilosophische Werk des Paracelsus. Sie diente Paracelsus vorwiegend zur pharmazeutisch-chemischen Herstellung von Heilmitteln, bildete aber auch eine wesentliche Grundlage für seine Kosmologie und seine Schöpfungsspekulationen. Das ist ein sehr weites und komplexes Gebiet, sodass in diesem Rahmen nur einige Aspekte zur Sprache kommen können.1 Während die frühe Paracelsusforschung Hohenheims Theorien weitgehend als Eigenleistungen betrachtete, ist längst klar, dass Paracelsus in einer langen mittelalterlichen Tradition der Alchemie und insbesondere der medizinischen Alchemie stand.2 Auch dieser Aufsatz beschäftigt sich mit seinen möglichen Vorbildern und Quellen, wobei insbesondere die Rolle der handschriftlichen und mündlichen Tradition der Alchemie beleuchtet wird. Landläufig wird unter dem Begriff der Alchemie gerne die Transmutationsalchemie verstanden, also jener Kunst, die Blei zu Gold verwandeln kann, sie wird aber auch als Vorläuferin der heutigen wissenschaftlichen Chemie betrachtet. Das historische Bild ist jedoch differenzierter. In der _____________ 1
2
Für eine vertiefte Darstellung vgl. bei Urs Leo Gantenbein: „‚Separatio puri ab impuro.‘ Die Alchemie des Paracelsus.“ In: Nova Acta Paracels. N.F. 11 (1997), S. 3–59; Ders.: „Paracelsus und seine physiologische Alchemie in St. Gallen.“ In: Alchemie in St. Gallen, hrsg. von Thomas Hofmeier u.a. St. Gallen: Sabon-Verlag, 1999, S. 13–18; Ders.: „Die Beziehungen zwischen Alchemie und Hüttenwesen im frühen 16. Jahrhundert, insbesondere bei Paracelsus und Agricola.“ In: Mitteilungen (Gesellschaft Deutscher Chemiker. Fachgruppe Geschichte der Chemie) 15 (2000), S. 11–31. Eine Monografie mit einer ausführlichen Darstellung der paracelsischen Alchemie ist in Vorbereitung. Vgl. z.B. Peter Dilg: „Zur Arzneimittellehre des Paracelsus“. In: Paracelsus Theophrast von Hohenheim. Naturforscher - Arzt - Theologe. Hrsg. von Ulrich Fellmeth und Andreas Kotheder. Stuttgart 1993, S. 45–50; Bernhard D. Haage: „Alchemische Arzneimittelherstellung vor Paracelsus.“ In: Nova Acta Paracelsica N.F. 13 (1999), S. 217–236; Ingrid Kästner: „Spagyrik im medizinhistorischen Kontext.“ In: Nova Acta Paracelsica N.F. 13 (1999), S. 185–216.
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handschriftlichen Überlieferung lässt sich zwar ein umfangreiches, bislang erst wenig erforschtes Schrifttum der Alchemie ausmachen, das sich durch eine Fülle von technischen Rezepten zur Metallurgie und Alltagschemie auszeichnet. Solche Rezeptvorschriften wurden von Handwerksleuten in Sammelhandschriften zu sogenannten Kunstbüchern zusammengefasst, immer wieder abgeschrieben und ständig erweitert. Mit dem Aufkommen des Buchdrucks gelangten solche Kunstbücher in den Druck und erlebten zahlreiche Auflagen.3 Die Bemühungen um eine solche praktisch umsetzbare Kunstbuchchemie mag in die heutige Chemie gemündet haben. Wie nur wenig bekannt ist und noch weniger erforscht, hat auch Paracelsus ein solches Kunstbuch hinterlassen, wenn wir dem sonst sehr verlässlichen Johannes Huser vertrauen können, der es „ex autographo Paracelsi“4 transkribiert haben will. Dieses Primum Manuale oder Manuale Chemicum, wie es Sudhoff nennt,5 enthält im Stil der handschriftlichen Kunstbücher ein Reihe von kurzen, nacharbeitbaren chemischen Vorschriften, so zur Behandlung von Gold, Silber, Antimon, Quecksilber, Zink, Zinn, Schwefel, Mineralien, Korallen und Weinstein, aber auch Rezepte zur Säureherstellung. Es fällt auf, dass in diesem Handbuch keinerlei Theoriebildung vorkommt, sondern dass es sich streng an die technische Beschreibung der verschiedenen Prozesse hält. Man kann von einem Einmaleins der technischen Alchemie sprechen, das sich Paracelsus, sofern die Schrift wirklich auf einen Autografen zurückgeht, in seiner Lehr- und Wanderzeit angefertigt haben mag, um sich das nötige alchemische Rüstzeug zu verschaffen.
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5
Zur Kunstbuchliteratur vgl. Ernst Darmstädter: Berg-, Probier- und Kunstbüchlein. München 1926 (Münchener Beiträge zur Geschichte und Literatur der Naturwissenschaften und Medizin, Heft 2/2); William Eamon: „Arcana Disclosed: The Advent of Printing, the Books of Secrets Tradition and the Development of Experimental Science in the Sixteenth Century.“ In: History of Science 22 (1984), S. 111–150; Ders.: „Books of Secrets in Medieval and Early Modern Science.“ In: Sudhoffs Archiv 69 (1985), S. 26–49; Ders.: Science and the Secrets of Nature: Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture. Princeton, NJ, 994; Urs Leo Gantenbein: „Medizinisch-alchemische Präparierkunst im frühen 16. Jahrhundert.“ In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 32 (1999), S. 39–60; Ders.: „Das Kunstbuch des Michael Cochem (Ms. Vadiana 407) aus dem Jahr 1522: seine Bedeutung für die medizinische Alchemie.“ In: Mitteilungen (Gesellschaft Deutscher Chemiker. Fachgruppe Geschichte der Chemie) 15 (2000), S. 32–61. Philippus Theophrastus Bombast von Hohenheim, Paracelsus genandt: Chirurgische Bücher vnd Schrifften […] Samt einem Appendice etlicher nutzlicher Tractat. Hg. von Johannes Huser. Straßburg: Lazarus Zetzner, 1605. Neudruck Hildesheim und New York 1975, Appendix, S. 1: „Primvm Manvale, Id est, Thesaurus chemicorum particularium experimentorum, ex Autographo ipsius Paracelsi transcriptoum.“ Paracelsus: Primum Manuale oder Manuale Chemicum, op. cit., Appendix, S. 1–46; SW 13, S. 453–539.
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Neben der technischen Alchemie und der Transmutationsalchemie kann man eine medizinische oder pharmazeutische Alchemie unterscheiden, die sich der Herstellung von Medikamenten annimmt.6 Was mit Paracelsus noch hinzukam, war, dass er mithilfe der Alchemie Stoffwechselvorgänge im Körper erklären wollte. Man kann dies als physiologische Alchemie bezeichnen. Zwar waren in der arabischen Alchemie schon diesbezüglich Ansätze vorhanden, aber es war Paracelsus, der dieses Konzept in der westlichen Medizin als Erster verfolgte. Von Joan Baptista van Helmont wurde es maßgeblich ausgebaut und mündete in die wirkungsmächtige Iatrochemie des 17. Jahrhunderts.7 2. Das Wesen der paracelsischen Alchemie Es war nicht die Alchemie der Metalltransmutation, des Goldmachens, die Paracelsus im Sinn hatte, sondern das Herstellen von Medikamenten. Trotzdem wurde er in der Legende als Goldmacher einerseits bewundert, aber andererseits verschrien und als Magier verteufelt. So legte Joachim Telle eine Untersuchung von zahlreichen Goldmacherlegenden vor, die sich um Paracelsus gebildet haben.8 Noch Karl Christoph Schmieder wusste in seiner Geschichte der Alchemie von 1832 nur wenig Gutes von Paracelsus zu berichten, indem er sich auf eben diese Legenden stützte: „Er [Paracelsus] ist der größte Marktschreier in der Geschichte der Arzneikunst und der Alchemie, wird also nicht ohne Grund oft der Große genannt […] Ueber Alchemie hat er aus den damals noch ungedruckten Schriften des Basilius und der beiden Hollande vieles abgeschrieben. Indessen behauptete er dreist, Adept zu seyn, und daß Trismosinus ihn im Jahre 1520 zu Konstantinopel in das Geheimnis [des Goldmachens] eingeweiht habe. Er will Schätze dadurch erlangt haben, ‚die weder der römische Leo, noch der deutsche Karl bezahlen könnte‘.“ 9
Schmieders Behauptung, dass Paracelsus bei „den beiden Hollanden“, also bei Isaak und Johann Isaak Hollandus abgeschrieben habe,10 werden wir nochmals weiter unten begegnen und dort diskutieren. Schmieder bezieht sich hier vor allem auf die in der alchemistischen Sammelhandschrift Au_____________ 6 7 8 9 10
Vgl. z.B. Crisciani, Chiara und Agostino Paravicini Bagliani: Alchimia e medicina nel Medioevo. Firenze 2003 (Micrologus’ Library, 9). Walter Pagel: Joan Baptista van Helmont: Reformer of Science and Medicine. Cambridge MA, 1982; Ders.: The Smiling Spleen: Paracelsianism in Storm and Stress. Basel und New York 1984. Joachim Telle: Paracelsus als Alchemiker, in: Dopsch, Heinz; Kramml, Peter F.: Paracelsus und Salzburg, Salzburg 1994, S. 157–172. Karl Christoph Schmieder: Geschichte der Alchemie. Halle 1832, Nachdruck Ulm 1959, S. 266. Vgl. auch Schmieder, S. 210.
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reum Vellus (1599)11 verbreitete Legende, der ebenso legendäre Adept Salomon Trismosinus habe Paracelsus 1520 in Konstantinopel in die Transmutationsalchemie eingeweiht. Die Goldmacherlegenden wurden aber auch dadurch genährt, dass Ende des 16. Jahrhunderts unter dem Pseudonym des Paracelsus einige Schriften zur Metalltransmutation gedruckt wurden,12 die in der Rezeption meist als echt angesehen wurden. Schon zu Paracelsus Zeiten stand die Alchemie unter dem Verruf einer unseriösen Goldmacherkunst, sodass er selber bekennt, „aber vonwegen des namens ist es manchem unangenehm“.13 Und trotzdem betont er, dass die „alchimia“ eine Kunst sei, „die vonnöten ist und sein muss“, ohne die „kein arzt sein mag“.14 Worin lag also der Nutzen für den Arzt? Er liegt im Zubereiten von reinen und wirkungsstarken Medikamenten, von sogenannten Arcana. Lassen wir Paracelsus selber sprechen mit seinen bekannten Worten aus dem Paragranum: „Nicht als die sagen, alchimia mache gold, mache silber. Hie ist das fürnehmen, mach arcana und richte dieselbigen gegen den krankheiten. Da muss er hinaus, ist also der grund.“15
Gerne wurde diese Stelle dahingehend interpretiert, dass Paracelsus die Metalltransmutation ablehnte oder sogar für unmöglich hielt. Dem ist durchaus nicht so. Eine Stelle aus dem Ersten Matthäuskommentar des Paracelsus wirft darauf ein neues Licht. In seinen Ausführungen zu Vers 17,2 des Matthäusevangeliums, wo die Verklärung Jesu auf dem hohen Berg beschrieben wird, sinniert Paracelsus über die Bedeutung der Begriffe „transformatio“ und „transfiguratio“. Das Erstere beinhalte die Veränderung der Form, das Letztere die Veränderung des Wesens.
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Aureum Vellus Oder Güldin Schatz vnd Kunstkammer, 3 Teile, Rorschach 1599. Libellus de Tinctura Physicorum (1570), Thesaurus Thesaurorum Alchemistarum (1574), Coelum Philosophorum (1567), Manuale de lapide philosophico medicinali (1572), Ratio extrahendi ex omnibus metallis mercurium (1590). Es wäre zu untersuchen, ob diese pseudoparacelsischen Schriften mit jenen der Hollande zusammenhängen. Paracelsus: „Labyrinthus medicorum errantium“, in: Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus: Sämtliche Werke. 1. Abteilung. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Hg. von Karl Sudhoff, 14 Bde. München und Berlin 1922–1933, Bd. 11, S. 186. Sudhoffs Gesamtausgabe wird im Folgenden mit dem Kürzel „SW“ zitiert. Im Übrigen wird in diesem Aufsatz die von Sudhoff in seiner Werkausgabe angewandte und zu Mehrdeutigkeiten führende Umschrift graphematisch dem Neuhochdeutschen angeglichen. Dieses Vorgehen wird in der Neuen Paracelsus-Edition für die Lesetexte angewandt, vgl. Neue Paracelsus-Edition [NPE], hg. von Urs Leo Gantenbein. Bd. 1, Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2008, S. 117–121. a.a.O. Paracelsus: Paragranum, letzte Bearbeitung, SW 8, S. 185.
Paracelsus und die Quellen seiner medizinischen Alchemie
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Als Beispiel nennt Paracelsus die Metallverwandlung, deren Möglichkeit er als gegeben ansieht: „Als ob man aus eisen kupfer macht, aus blei quecksilber, aus silber gold, das sein transformation und seind der kunst müglich. Also, so ein grob corpus in ein subtilers verwandlet wird, so ist es transmutatio.“16
Die Alchemie kann als ein Kernthema des Paracelsus bezeichnet werden. In seiner berühmten programmatischen Schrift Paragranum von 1529 erhebt er die Alchemie sogar zu einer der drei Grundsäulen der Medizin, neben der Naturphilosophie und der Astronomie. Später nahm Paracelsus noch eine vierte Säule der Medizin hinzu, nämlich die Redlichkeit oder Tugend des Arztes.17 Schauen wir die ersten drei Säulen genauer an. Die Philosophia führt zur Erkenntnis der Zusammenhänge des Lebens, lehrt die Kenntnis von den Naturdingen. Sie führt den Arzt zu neuen Medikamenten. Die Astronomia zeigt dem Arzt die geheime Verbindung der großen Welt des Universums mit der kleinen Welt des menschlichen Leibes auf, verbindet also den Makrokosmos mit dem Mikrokosmos. Diese alte Vorstellung geht auf die Antike zurück und wurde in der Renaissance besonders im Kreis der Neoplatoniker wiederbelebt.18 Die himmlische Sternenwelt prägt den irdischen Dingen unsichtbare Kräfte auf, die durch bestimmte äußerliche Merkmale erkennbar werden. Diese sogenannte Signaturenlehre ermöglicht es dem Arzt, die Heilkräfte der Pflanzen, Tiere und Mineralien zu erkennen.19 Paracelsus hielt fest:
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UB Heidelberg, Cod. Pal. Germ. 26, Bl. 136r, mit graphematisch angepasster Orthografie. Die Edition erfolgt in der Neuen Paracelsus-Edition, Bd. 2. Paracelsus: Paragranum, letzte Bearbeitung, SW 8, S. 203–221. Vgl. Kurt Goldammer: Der göttliche Magier und die Magierin Natur. Religion, Naturmagie und die Anfänge der Naturwissenschaft vom Spätmittelalter bis zur Renaissance mit Beiträgen zum Magie-Verständnis des Paracelsus. Stuttgart 1991 (Kosmosophie, 5); Alois M. Haas: „Vorstellungen von der Makrokosmos-Mikrokosmosbeziehung im Denken der Zeit vor Paracelsus“ In: Nova Acta Paracelsica N. F. 6 (1991/92), S. 51–76; Wolf-Dieter Müller-Jahnke: Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit. Stuttgart 1985 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 25); Ders.: „Makrokosmos und Mikrokosmos bei Paracelsus“. In: Paracelsus. Das Werk - die Rezeption. Hg. von Volker Zimmermann. Stuttgart 1995, S. 59–66. Vgl. z.B. Walter Pagel und Marianne Winder: „Die Konjunktion der himmlischen und irdischen Elemente in der Renaissancephilosophie und im echten Paracelsus.“ In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 13 (1975), S. 187–204; Oswaldus Crollius, De signaturis internis rerum. Die lateinische Editio princeps (1609) und die deutsche Erstübersetzung (1623), hrsg. und eingeleitet von Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle. Stuttgart 1996 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, 5).
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„Nichts ist, das die natur nicht gezeichnet hab, durch welche zeichen man kann erkennen, was im selbigen, was gezeichnet ist.“20 Man muss also „der arznei art erkennen nach dem gestirn“, denn „der himel muss dirs leiten“.21
Die Herzform der Kirsche lässt sie bei Herzkrankheiten günstig erscheinen, das herbe, gelbe Schöllkraut nützt aufgrund der äußeren Signatur bei Gelbsucht und somit bei Leberleiden, der Blasenstein wird durch den Spiritus urinae geheilt. Diese geheimen Wechselbeziehungen zwischen sichtbar und unsichtbar, innen und außen, oben und unten, bestehen im Grunde auf tiefwurzelnden sympathiemagischen Vorstellungen. „Wie oben, so unten“, hielt schon die berühmte Tabula smaragdina fest, die Leitschrift der hermetischen Philosophie.22 So sind dem Arzt schon zwei Mittel in die Hand gegeben: Kenntnis von den Naturstoffen und Kenntnis von deren Heilwirkung durch die äußere Signatur. Das allein genügt noch nicht. Die Heilkräfte, die „tugend und kräft in der arznei“,23 sind noch verborgen, sie müssen erst noch offenbar gelegt werden. Hier kommt nun die Alchemie ins Spiel. Paracelsus schrieb: „Dann die natur gibt nichts an tag, das auf sein statt vollendet sei, sonder der mensch muss es vollenden. Diese vollendung heißet alchimia. Dann ein alchimist ist der becke in dem, so er brot bacht, der rebmann in dem, so er wein macht, der weber in dem, dass er tuch macht. Also was aus der natur wachst dem menschen zu nutz, derselbige, der es dahin bringt, dahin es verordnet wird von der natur, der ist ein alchimist.“24
Der Mensch wird somit als Alchemist zum Vollender der Schöpfung. Die Arznei ist zwar geschaffen von Gott, „aber nicht bereit bis aufs ende, sonder im schlacken verborgen“.25 Die Alchemie muss nun das „unnütz vom nützen tun“26, „dann die natur ist so subtil und scharpf in ihren dingen, dass sie ohn große kunst nicht will gebrauchet werden“,27 denn es liegt „in allen guten dingen auch gift“28. Man muss also dafür sorgen, dass „das gift hinweg genommen werde; das muss durch scheiden geschehen.“29 Dieser Prozess, diese „praeparatio ist nichts als separatio puri ab _____________ 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Paracelsus: Astronomia magna, SW 12, S. 91. Paracelsus: Paragranum, letzte Bearbeitung, SW 8, S. 183f. Ruska, Julius: Tabula Smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Literatur. Heidelberg 1926 (Heidelberger Akten der von Portheim Stiftung, 16). Paracelsus: Paragranum, letzte Bearbeitung, SW 8, S. 124. a.a.O., S. 181. Paracelsus: Labyrinthus medicorum errantium, SW 11, S. 187. a.a.O., S. 189. a.a.O., S. 181. Paracelsus: Paragranum, letzte Bearbeitung, SW 8, S. 197. a.a.O.
Paracelsus und die Quellen seiner medizinischen Alchemie
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impuro“,30 also die Trennung des Reinen vom Unreinen. Dies ist der zentrale Lehrsatz der paracelsischen Arzneimittellehre. 3. Die Ursprünge der Alchemie Worauf berief sich nun Paracelsus? War er der Begründer der medizinischen oder sogar der pharmazeutischen Chemie, wie einige frühe Paracelsusforscher in ihrem Überschwang zu vermuten pflegten? Interessanterweise finden wir die Antwort bei Paracelsus selber. In der Großen Wundarznei, dem einzigen zu seinen Lebzeiten gedruckten größeren Werk, gibt uns Paracelsus einen ungefähren Überblick über die Entwicklung der medizinischen Alchemie. Wir folgen hier ein Stück weit seinen Ausführungen. Paracelsus beginnt wie folgt: „Die philosophi haben langem leben nachgedacht und das lang leben für einen großen schatz gehalten, darin sie in kriegen und blutvergießen nit geschickt warent noch begierig. Haben also großen fleiß gehabt, wie sie das leben aufenthielten.“31
Paracelsus stellte also die Suche nach dem langen Leben, oder in ihrer Extrapolation nach der Unsterblichkeit, an die oberste Stelle der Bemühungen der „philosophi“, also der Naturforscher und Ärzte. Damit trat er in eine lange Tradition.32 Den Schlüssel für das lange Leben suchten die Philosophi in der Natur. Paracelsus fährt fort: „Solliches hat sie getrieben in die künst der natur, dieselbigen kräft zu erfahren, als dann vielfältig bei ihnen geschehen, und zusammen gesammlet, was zur gesundheit gedient hat.“33
Aber die Philosophen wussten nicht, wie sie die Naturdinge zubereiten sollten, deshalb sollen sie sich an die Alchemisten gewandt haben: „Do haben die philosophi und die alchimisten zusammen gehauset und den antimonium unter die sporen genommen. Und also mit der zeit wurdent künst gefunden einandern nach und so wunderbarlich, dass nit zu verlassen war anderst, dann suchen und finden täglich und do kein fleiß und arbeit gesparet.“34
Dadurch hätten die Philosophi und die Alchimisten viele wunderbarliche Dinge für das lange Leben gefunden, bis sie schließlich auf etwas ganz _____________ 30 31 32 33 34
Paracelsus: Schüleraufzeichnungen zu De Gradibus, SW 4, S. 132. Paracelsus: Große Wundarznei, SW 10, 352. Paracelsus widmete eine frühe Schrift dem langen Leben: De Vita Longa, SW 3, S. 201– 308. Diese ist eng verwandt mit der alchemischen Schrift Neun Bücher Archidoxis, SW 3, S. 91–200. Siehe hierzu auch den Beitrag von Thomas Willard in diesem Band. a.a.O. a.a.O.
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Besonderes gestoßen seien, nämlich auf die sogenannte „tinctura“, mit deren Hilfe Metalle entfärbt und gefärbt werden konnten: „In dem suchen, wie sie also in der alchimei geführt haben, ist es darzu kommen, dass sie soviel wunderbarlichs gesehen haben mit täglicher erfahrnus der arznei, so zu dem langen leben gedient hont, und unter anderem auch diese nachfolgende stuck, in wölchen sie große wunderwerk erfahren haben und nämlich ein stuck, das sie tincturam geheißen haben.“35
Die Gold- und Silbermacher hätten aber sofort versucht, damit die Metalle zu transmutieren, hätten aber durch weiteres Nachdenken und durch das Beispiel der Metallverwandlung schließlich Tinkturen gefunden, die für die menschliche Gesundheit und das lange Leben dienlich gewesen seien: „Aber nachfolgend sind die aurifices, lunifices eingerissen, dieselbig zu transmutieren die metallen domit unterstanden. […] Nun haben sie ein tinctur gemacht, dieselbig hat entfärbet die metallen in andern metallen. Aus sollichem ist nun die opinion erwachsen, so es in metallen ein änderung machet und verwandlet ein wesen in ein anderes, ein rauchs, grobs, unflätigs in ein reins, subtils, gesunds etc. […] und durch dieselbigen seind viel werk und gutheit beschehen, haben sie den dingen weiter nachgedacht. […] Do seind arznei gefunden worden, die sie tincturas geheißen haben und dieselbigen zu menschlicher gesundheit genützt und dodurch wunder bewiesen.“36
Damit hat Paracelsus die Ursprünge der Alchemie und insbesondere der medizinischen Alchemie angedeutet. Insbesondere war für ihn klar, dass zwischen den Bemühungen um die Metalltransmutation und jenen um eine Verlängerung des Lebens ein Zusammenhang besteht. Wenn es eine geheimnisvolle „Tinktur“ gibt, die Metall verfärben, umwandeln und veredeln kann, müssen ähnlich gestaltete Tinkturen auch einen reinigenden, verwandelnden und damit günstigen Einfluss auf die menschliche Gesundheit haben. Während in Indien und China alchemistische Bestrebungen schon einige Jahrhunderte v.Chr. nachweisbar sind, reichen die Anfänge der abendländischen Alchemie in die ersten drei Jahrhunderte n.Chr. zurück.37 Sie blühte im hellenistischen Ägypten, in Alexandria, der größten Bildungsstätte der damaligen Welt. Griechische Naturphilosophie mischte sich mit den Vorstellungen der alten ägyptischen und vorderasiatischen Mysterienkulte. Neben praktischem Wissen um die Natur der Metalle und Stoffe lassen sich um 300 n.Chr. bei Zosimos, dem ersten biografisch fassbaren Alchemisten, bereits allegorische Darstellungen zur Umwand_____________ 35 36 37
a.a.O. a.a.O., S. 352f. Einen Überblick über die Geschichte der westlichen Alchemie gibt z.B. Bernhard Dietrich Haage: Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder - von Zosimos bis Paracelsus. Zürich und Düsseldorf 1996.
Paracelsus und die Quellen seiner medizinischen Alchemie
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lung und Vervollkommnung der Stoffe nachweisen, wie sie für die spätere Alchemie so typisch sind. Und bereits hier finden wir die Behandlung der Alchemie als Geheimwissenschaft.38 Es ist schwierig zu entscheiden, von wo die Alchemie ihren Ursprung nahm, von Indien, China oder sogar Mesopotamien, oder ob sie unabhängig an verschiedenen Orten entstanden war, ausgehend von den kulturellen Grundbedürfnissen des Menschen. Sheppard (1970) hat diese Frage eingehend beleuchtet und Grundmerkmale aufgestellt, die für die Mehrzahl alchemistischer Schriften oder Lehren, unabhängig von der jeweiligen Kultur, kennzeichnend sind:39 a. die dominierende Rolle des Goldes und dessen Herstellung aus niederen Metallen, b. die Zubereitung eines Lebenselixiers, das Langlebigkeit oder sogar Unsterblichkeit induzieren kann, c. eine mystische Dimension der betreffenden Lehre. Während der erste Punkt in die Domäne der Transmutationsalchemie gehört, fällt der Wunsch nach einem Allheilmittel mit den Anfängen der medizinischen Alchemie zusammen, die im Zusammenhang mit Paracelsus besonders interessiert. Früheste Hinweise auf die Suche nach einem Lebenselixier40 finden sich in den Veden, insbesondere in der AtharvaVeda.41 Eine umfangreiche medizinische und alchemistische Abhandlung der Ayurvedischen Periode42 (vorbuddhistische Zeit bis ca. 800 n.Chr.) war der Charaka. Dieses mehrbändige Werk definiert die Rasayana, die Sanskritbezeichnung für Alchemie, wie folgt:
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41
42
Vgl. Marcelin Berthelot: Collection des anciens alchemistes grecs, 3 Bde., Paris 1888–1889, Neudruck Osnabrück 1967. H. J. Sheppard: „Alchemy: Origin or Origins?“ In: Ambix 17 (1970), S. 69–84, hier S. 71. Zur Geschichte des Elixiers vgl. Mechthild Krüger: Zur Geschichte der Elixiere, Essenzen und Tinkturen. Braunschweig 1968 (Veröffentlichungen aus dem Pharmaziegeschichtlichen Seminar der Technischen Hochschule Braunschweig, 10); Joseph Needham: „Il concetto di elisir e la medicina su base chimica in Oriente e in Occidente.“ In: Acta medicae historiae Patavinae 19 (1972–1973), S. 9–41; Michela Pereira: „Un tesoro inestimabile. Elixir e prolongatio vitae nell’alchimia del Trecento“. In: I discorsi dei corpi – Discourses of the Body. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani. Paris 1993 (Micrologus, 1), S. 161–187; Dies.: „Teorie dell’elixir nell’alchimia latina medievale“. In: Le crisi dell’alchimia - The Crisis of Alchemy. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani. Florenz 1995 (Micrologus, 3), S. 103–148. S. Mahdihassan: Indian Alchemy or Rasayana in the Light of Asceticism and Geriatrics, 2nd revised edition, Delhi 1991, S. 17; zur indischen Alchemie vgl. auch David White: „Indian Alchemy“. In: Encyclopedia of Religion, Bd. 1. Hg. von Lindsay Jones. Detroit 2005, S. 241–244. Bezeichnung nach Praphulla Chandra Ray: A History of Hindu Chemistry from the Earliest Times to the Middle of the Sixteenth Century. Calcutta 1902.
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„Medicines are of two kinds, the one promotes the strength and vitality; the other cures diseases. Whatever promotes longevity, health and virility is called Rasayana.“43
Neben pflanzlichen Mitteln kannte der Charaka auch Metallpräparate. Die eigentliche Entwicklung der indischen Alchemie begann aber erst um 500 n.Chr. Von 1300 bis ca. 1550 spricht Ray (1902) sogar von einer wahren iatrochemischen Periode der indischen Alchemie, die also lange vor Paracelsus zu blühen begann. Für Mahdihassan (1991) ist es zusammen mit Ray offensichtlich, „that the knowledge of pharmacy which the Arabs brought to Europe, specially the use of Mercury, should be credited to India“.44 Aber nicht nur Indien, auch China kennt eine lange Tradition der Alchemie und der Suche nach einem Lebenselixier. Schon im 4. Jh. v.Chr. wurde nach Mitteln gesucht, um Unsterblichkeit zu verleihen. Die erste Substanz, in der die Chinesen ein Elixier zu finden hofften, war Zinnober (Quecksilbersulfid), vermutlich wegen seiner blutroten Farbe.45 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die östliche Tradition der Alchemie in Indien und China vor allem nach Langlebigkeit und Unsterblichkeit strebte, während die westliche Tradition, ausgehend vom hellenistischen Ägypten, mehr die Metallurgie und Transmutationsalchemie pflegte, also vorwiegend technische Aspekte.46 In der islamischen Welt scheinen dann die beiden Traditionen, schon aufgrund der geografischen Lage, miteinander verschmolzen zu sein. Auch die Araber waren also nicht die Ersten, die sich in medizinischer Alchemie versuchten.47 Im Schriften-Corpus des Dschabir48 (sog. Geber arabicus, 8. bis 10. Jh.) finden wir zum ersten Mal die Schwefel-Quecksilber-Theorie, die besagt, dass sämtliche Metalle aus Schwefel und Quecksilber zusammengesetzt und erzeugt sein sollen.49 Dieser Theorie, die sich das ganze Mit_____________ 43 44 45 46 47
48
49
Mahdihassan, op. cit., S. 20. a.a.O., S. 51. H. J. Sheppard: „Chinese and Western Alchemy: The Link through Definition.“ In: Ambix 32 (1985), S. 32–37, S. 33. a.a.O., S. 33f. Bernhard Dietrich Haage: „Iatrochemie vor Paracelsus.“ In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 14 (1996), S. 17–27, hier S. 20, ist der Auffassung, dass der Gedanke lebensverlängernde Elixiere als Allheilmittel in Analogie zum Lapis philosophorum herzustellen, von den Arabern stamme. Julius Ruska und Paul Kraus: „Der Zusammenbruch der Dschabirlegende. Dschabir ibn Jajjan und die Ismailijja.“ In: Dritter Jahresbericht des Forschungs-Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften in Berlin 1930; Paul Kraus: „Studien zu Jâbir ibn Hayyân“. In: Isis 15 (1931), S. 7–30; Ders.: Jabir ibn Hajjan: Contribution à l ‚histoire des idées scientifiques dans l‘Islam. 2 Bde. Kairo 1942, 1943, Reprint Paris 1986. Robert P. Multhauf: „The Significance of Distillation in Renaissance Medical Chemistry“. In: Bulletin of the History of Medicine 30 (1956), S. 329–346, hier S. 329.
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telalter hindurch halten konnte, widersprach Paracelsus heftig und hielt fest, „nicht dass aus mercurio und sulphure die metallen wachsen, wie sie sagen“, denn für ihn wurde „durch mercurium und sulphur die philosophei gefälscht“.50 Paracelsus setzte zum Schwefel (Sulphur) und Quecksilber (Mercurius) ein drittes Prinzip hinzu, nämlich das Salz (Sal), und dachte sich aus diesen drei alle Dinge zusammengesetzt: „Ein ietlichs gewechs [..] wird in drei ding gesezt, das ist in sal, sulphur und mercurium“.51
Auch für diese Drei-Prinzipien-Theorie gab es, wie weiter unten genauer ausgeführt wird, arabische Vorbilder, die allerdings weniger bekannt waren und, wenn überhaupt, wohl nur als Geheimlehre verbreitet wurden. Die Alchemie übte einen starken Einfluss auf die arabische Medizin und Pharmazeutik aus.52 Wir finden, u.a. bei Dschabir, den Begriff des Elixiers, das nicht nur unedle Metalle in edle verwandeln kann, sondern als Allheilmittel gegen jegliche Krankheiten eingesetzt werden kann.53 4. Einige Autoritäten der lateinischen Alchemie Aufgrund der Eroberung Südeuropas durch die Araber gelangten die wissenschaftlichen Schriften des arabischen Kulturkreises ins Abendland und wurden in der Folge ins Lateinische übersetzt.54 Eine eingehende Studie zu den Autoren und Texten der lateinischen Alchemie mit besonderem Augenmerk auf die medizinische Alchemie wird Gegenstand eines gesonderten Aufsatzes sein.55 Hier sollen nur einige wichtige Exponenten kurz Erwähnung finden. So widmete der Dominikaner Vincent de Beauvais (ca. 1190–1264) in seiner monumentalen Enzyklopädie Speculum maius (entstanden 1256–1259), die das gesamte Wissen des Mittelalters zusam_____________ 50 51 52 53 54 55
Paracelsus: Paragranum, Vorrede und erste beide Bücher, SW 8 (1924), S. 79. Paracelsus: Von den ersten dreien Principiis oder Essentiis, SW 3 (1930), S. 3. Owsei Temkin: „Medicine and Graeco-Arabic Alchemy“. In: Bulletin of the History of Medicine 29 (1955), S. 134–153; Dietrich Brandenburg: Die Ärzte des Propheten. Islam und Medizin. Berlin 1992. Zum arabischen Elixier vgl. Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam. Leiden 1972 (Handbuch der Orientalistik. Abt 1: Der Nahe und der Mittlere Osten Ergänzungsband 6, Abschnitt 2), S. 257–261, zur medizinischen Wirkung S. 260. Zur Rezeption der arabischen Alchemie vgl. Robert Halleux: „The Reception of Arabic Alchemy in the West“. In: Encyclopedia of the History of Arabic Science, hg. von Roshdi Rashed, Bd. 3. London und New York 1996, S. 886–902. Diese Studie wird voraussichtlich in der Zeitschrift Mediaevistik, hg. von Albrecht Classen (Peter Lang Publishing Group) erscheinen.
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menfasste, der Alchemie einige Abschnitte.56 Mit Bezugnahme auf das „alkimie compendium“ eines „magister Richardus“57 unterteilt er die Alchemie in zwei Hauptgebiete: „ad fabrilem & ad medicinam“ [für den Handwerker und für die Medizin].58 Er führt aus, dass die Alchemie in der Medizin dazu diene, die Gifte abzutrennen, die heilsamen Substanzen beigemischt sein können. In der Folge waren es auffallend viele Franziskaner, die sich mit der Alchemie beschäftigten und sich insbesondere ihrer medizinischen Anwendung zuwandten.59 Da die Lehren der Alchemie einigen häretischen Zündstoff boten, ist es nicht verwunderlich, dass in den Jahren 1272–1323 den Franziskanern unter Androhung schwerer Strafen die Ausübung der Alchemie strikt verboten wurde.60 Allen voran ist der Franziskaner Roger Bacon (1214–1292/1294) zu nennen, der sich entschieden für eine experimentell zu nennende Naturwissenschaft und Medizin eingesetzt hatte.61 _____________ 56
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In der Inkunabel Speculum doctrinale Vincentij beluacensis fratris ordinis praedicatorum (Straßburg c1477) sind dies im Buch XII die Kapitel CV–CXXXIII. Zu Vincent vgl. weiter William R. Newman: The Summa Perfectionis of Pseudo-Geber: A Critical Edition, Translation and Study. Leiden [etc.] 1991, S. 15f., und Chiara Crisciani und Michela Pereira: L‘arte del sole e della luna: alchimia e filosofia nel medioevo. Spoleto 1996 (Biblioteca di medioevo latino, 17), S. 137–141. Gemeint ist wohl der historisch nicht fassbare Ricardus Anglicus, vgl. Joachim Telle: „Ricardus Anglicus“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. hg. von Kurt Ruh, Bd. 8. Berlin und New York 1992, Sp. 38–41. Allerdings entstand das in der Tradition dem Ricardus Anglicus zugeschriebene Hauptwerk Corrector fatuorum erst im 14. Jahrhundert. Speculum doctrinale, lib. XII, cap. CV. Zur Thematik der Mönchsmedizin im Hochmittelalter vgl. Angela Montford: Health, Sickness, Medicine and the Friars in the Thirteenth and Fourteenth Centuries. Aldershot, Hants, England, und Burlington, VT, 2004 (The History of Medicine in Context). James Riddick Partington: „Albertus Magnus on Alchemy“. In: Ambix 1 (1937), S. 3–20, hier S. 13–17. Zu Bacons Alchemie und Naturphilosophie vgl. John Henry Bridges: The Life & Work of Roger Bacon. An Introduction to the Opus Majus. London 1914; S. 112–122; Muir Pattison und Matthew Moncrieff: „Roger Bacon: His Relations to Alchemy and Chemistry“. In: Roger Bacon. Essays Contributed by Various Writers on the Occasion of the Commemoration of the Seventh Centenary of his Birth. Collected and Edited by A. G. Little. Oxford 1914, S. 285–320; Dorothea Waley Singer: „Alchemical Writings Attributed to Roger Bacon“. In: Speculum 7 (1932), S. 80–86; Stewart C. Easton: Roger Bacon and his Search for a Universal Science: A Reconsideration of the Life and Work of Roger Bacon in the Light of His Own Stated Purposes. New York 1952; Charles, Sir John: „Roger Bacon on the Errors of Physicians“. In: Medical History 4 (1960), S. 269–282; Edmund Brehm: „Roger Bacon’s Place in the History of Alchemy“. In: Ambix 23 (1976), S. 53–58; William R. Newman: The Summa Perfectionis of Pseudo-Geber. A Critical Edition, Translation and Study. Leiden und New York 1991, S. 20–25; Ders.: „The Philosophers’ Egg: Theory and Practice in the Alchemy of Roger Bacon“. In: Le crisi dell’alchimia – The Crisis of Alchemy. Hg. von Agostino Paravicini Bagliani. Florenz 1995 (Micrologus, 3), S. 75–101; Ders.: „An Overview of Roger Bacon’s Alchemy“. In: Roger Bacon and the Sciences: Commemorative Essays. Hg. von Jeremiah Hackett. Leiden und New York 1997 (Studien
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Die Alchemie als Kunst, die zu unmittelbarer Erfahrung führte, lag ihm besonders am Herzen, denn die „ars experimentalis“ ergründe die Geheimnisse der Natur.62 In seinem Opus tertium unterscheidet Bacon zwischen einer „alkimia speculativa“ und einer „alkimia practica“. Dabei ist die Umschreibung „speculativa“ nicht in unserem heutigen Sinne zu verstehen, dass sich eine solche Wissenschaft auf Spekulationen oder Hypothesen gründen würde, sondern im Sinne von beobachtend, erforschend, beschreibend oder systematisierend. So erforscht die „alkimia speculativa“ alle unbelebten Objekte und die Enstehung der Dinge aus den Elementen, sie ist also die Wissenschaft, „quae speculatur de omnibus inanimatis et tota generatione rerum ab elementis“.63 Die Alchemie wird so für Bacon zur Grundlage von Naturwissenschaft und Medizin, denn ohne die Hilfe dieser Wissenschaft könne man kein rechtes Wissen von der „naturalis philosophia“ haben, auch nicht von der „speculativa medicina“, geschweige denn von der praktischen Medizin („nec per consequens practica“).64 Nachdem also die „alkimia speculativa“ die Dinge erforscht und beschreibt, also quasi analysiert und damit Zusammenhänge bestätigt („certificat“), ist es die Aufgabe der „alkimia operativa et practica“, besondere Dinge herzustellen, welche die Natur von sich aus nicht zustande bringen kann. Dadurch zeichnet sich diese Wissenschaft gegenüber allen früheren aus.65 Die „alkimia practica“ lehrt nicht nur, edle Metalle und künstliche Farben herzustellen, sondern sie stellt auch Mittel zur Verfügung, um das menschliche Leben erheblich zu verlängern.66 Eine bemerkenswerte medizinische Schrift Bacons soll hier noch Erwähnung finden, insbesondere deshalb, weil sich darin wesentliche Parallelen zu Paracelsus finden. Es handelt sich um den bisher wenig beachte_____________
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und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 57), S. 317–336; George Molland: „Roger Bacon and the Hermetic Tradition in Medieval Science“. In: Vivarium 31, 1 (1993), 140– 160; Jeremiah Hackett: „Roger Bacon on Scientia Experimentalis“. In: Roger Bacon and the Sciences. Commemorative Essays, S. 277–315; David C. Lindberg: Roger Bacon’s Philosophy of Nature: A Critical Edition, With English Translation, Introduction, and Notes, of De Multiplicatione Specierum and De Speculis Comburentibus. South Bend, IN, 1997; Agostino Paravicini Bagliani: „Ruggero Bacone e l’alchimia di lunga vita. Riflessioni sui testi“. In: Alchimia e medicina nel Medioevo. Hrsg. von Chiara Crisciani und Agostino Paravicini Bagliani. Florenz 2003 (Micrologus‘ Library, 9), S. 33–54. „sed sua potestate investigat secreta natura“, John Henry Bridges: The ‚Opus Majus‘ of Roger Bacon, vol. II. Oxford 1897, S. 215. John Sherren Brewer: Fratris Rogeri Bacon Opera quaedam hactenus inedita, vol. I, containing I. Opus tertium, II. Opus minus, III. Compendium philosophiae. London 1859, S. 40. Brewer, op. cit., S. 39. „Et hujusmodi scientia est major omnibus praecedentibus, quia majores utilitates producit.“ Brewer, op. cit., S. 40. „sed docet invenire talia, quae vitam humanam possunt prolongare in multa tempora“, Brewer, op. cit., S. 40.
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ten Traktat De erroribus medicorum [Von den Irrtümern der Ärzte].67 Bacon beklagt darin vor allem, dass die Ärzte eine ungenügende Kenntnis der Medikamente haben, dass sie die einfachen Arzneien („simplicem medicinam“) nicht kennen und sich auch bei den zusammengesetzten („medicina composita“) vollkommen irren. Nach der Aufzählung von pharmazeutischen Unzulänglichkeiten fordert Bacon vom Arzt Kenntnisse und Fähigkeiten, die doch sehr an Paracelsus erinnern. So kritisiert er, die Ärzte sollen sich nicht in unendlichen Disputationen und nutzlosen Argumenten ergehen, sondern sich lieber auf die Erfahrung („experientia“) berufen.68 Einzig die Erfahrung kann einen Sachverhalt bestätigen und nicht eine dialektische Disputation.69 Weiter versäumen es die Ärzte, die Sterne in ihre Betrachtungen einzubeziehen, von denen der gesamte Wandel („alteratio“) der irdischen Körper abhängt.70 Sowohl der richtige Zeitpunkt für abführende Arzneien, Aderlass und andere Ausleerungen und (Säfte) Zusammenziehungen („evacuationes et constrictiones“) wie überhaupt der ganze Wirkungskreis der medizinischen Kunst sollten auf die Veränderungen der Luft achten, die aus den Eigenschaften des Himmels und der Sterne hervorgehen.71 Von daher wird ein Arzt, der die Stellung der Planeten und deren gegenseitige Beziehungen („aspectus eorum“) nicht kennt, bei seinen medizinischen Verrichtungen nichts zuwege bringen, es sei denn durch Zufall und Glück.72 Nach der Forderung, die persönliche Erfahrung und die Astrologie in die Medizin einzubeziehen, kommt Bacon zu einem für ihn wesentlichen Punkt, der Alchemie. Diese nennt er in einem Atemzug mit der „agricultura philosophica“, welche die Ärzte auch zu wenig kennen. Er meint damit eine auf die Bedürfnisse der Medizin ausgerichtete Naturphiloso_____________ 67
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Edition in A. G. Little und E. Withington (Hrsg.): Opera hactenus inedita Rogeri Baconi, Fasc. IX. De retardatione accidentium senectutis cum aliis opusculis de rebus medicinalibus. Oxford 1928, S. 150–179. Beschreibung bei Sir John Charles: „Roger Bacon on the Errors of Physicians“. In: Medical History 4 (1960), S. 269–282; vgl. auch Faye Getz: „Roger Bacon and Medicine: The Paradox of the Forbidden Fruit and the Secrets of Long Life“. In: Roger Bacon and the Sciences: Commemorative Essays, S. 337–364, und Newman, „An Overview“. „quod vulgus medicorum dat se disputationibus questionum infinitarum et argumentorum inutilium, et non vacat experientie ut oportet“, Little/ Withington, S. 154. Zu Bacons Konzept einer „Scientia experimentalis“ vgl. auch Hackett, „Roger Bacon on Scientia Experimentalis“. „experientie, que sola certificat“, Little/Withington, S. 154. „4us defectus est quod celestia non considerant, a quibus tota alteratio corporum inferiorum dependet“, a.a.O. „et medicine laxatiue et flebotomie et alie euacuationes et constrictiones et totum regimen artis medicine stant in consideratione alterationis aeris per virtutes celorum et stellarum“, a.a.O. „Vnde medicus, qui nescit considerare loca planetarum et aspectus eorum, nihil potest facere in operibus medicine, nisi a casu et fortuna.“ a.a.O.
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phie, die dem Arzt, wieder auf dem Weg der Erfahrung, die Kenntnis der pflanzlichen und tierischen Drogen nahebringt.73 Der gewöhnliche Arzt kennt die Naturphilosophie nicht, doch ist die Kenntnis der Naturphilosophie wesentlich, denn schon Aristoteles habe gesagt, wo die Naturphilosophie aufhöre, fange die Medizin an, und damit müsse der Naturphilosoph die Grundsätze von Krankheit und Gesundheit vorgeben.74 Ein weiterer Punkt, der in de erroribus ausführlich zur Sprache kommt, ist die Alchemie. Wieder finden wir hier die Unterscheidung zwischen „alchemia speculativa“ und „alchemia practica“. Die Alchemie hilft dem Arzt, die Arzneistoffe aufzutrennen und die groben und schädlichen Bestandteile abzusondern, denn nur sie lehrt mittels Auflösungen und Trennungen („resolutiones et separationes“), die Wirkstoffe („virtutes“) aus beliebigen Dingen herauszulösen.75 Obwohl Bacon weder Rezepte noch detaillierte Laboranweisungen angibt, kann man hier einen sehr weitgehenden und erstaunlich differenzierten Begriff von der alchemischen Zubereitung von Arzneien feststellen. Gerade im Zusammenhang mit Paracelsus verdient Bacons de erroribus medicorum eine besondere Beachtung, denn darin finden sich viele seiner Gedanken in erstaunlicher Weise vorgeformt. Genau wie Paracelsus geißelt Bacon die Irrtümer der Ärzte bei der Herstellung von Medikamenten, dass sie nicht wüssten, womit sie umgingen, weder die Wirkung noch die rechte Dosis der Arzneien kennten und auch nicht deren richtige Zubereitung, dass zudem die Apotheker die Arzneidrogen nicht selten in betrügerischer Absicht fälschten. Die Ärzte ergingen sich lieber in endlosen Diskussionen über die Aussagen der antiken und arabischen Autoren, anstatt sich auf die Erfahrung zu berufen, die durch das alchemische Experiment vermittelt wird. Bei Bacon und bei Paracelsus ist es auch die Alchemie, durch die die richtige Zubereitung der Medikamente erfolgt, indem durch die Abtrennung des Unnützen und Schädlichen ein möglichst reiner Wirkstoff resultiert. Die erstaunlichste Parallele zwischen Bacon und Paracelsus besteht darin, dass Bacon vom Arzt die Kenntnis der Naturphilosophie und der Astrologie fordert, die Erstere zur Auffindung und Erforschung von _____________ 73 74
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„Et tunc agricultura philosophica determinat in particulari et per viam experientie generationem plantarum et animalium ex principali intentione“, Little/Withington, S. 160. „Vltima autem causa manifestans ignorantiam vulgi medicorum est quod ignorant naturalem philosophiam. Aristoteles enim dicit quod vbi terminatur philosophia naturalis, ibi incipit medicina, et naturalis philosophus habet dare principia vltima sanitatis et infirmitatis, ut dicit.“ Little/Withington, S. 158. „non potest distinctio haberi hic nisi per vias alkymie, que sola docet ex propriis quomodo virtutes extrahantur a quibuscunque rebus; quia oportet in medicinalibus fieri resolutiones et separationes vnius ab alio, quod non potest fieri sine potestate alkymie, que docet resoluere quodlibet ex quolibet.“ Little/Withington, S. 155.
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Rohdrogen und die Letztere, um die Arzneien in Einklang mit den makrokosmischen Prägungen und Rhythmen einsetzen zu können. Unschwer lassen sich in den Forderungen Bacons die drei Säulen der Medizin erkennen, der „philosophia“, „astronomia“ und „alchimia“, die Paracelsus in seiner Schrift Paragranum 1529 aufstellte. Wenn man nun weiß, dass die Krönung der Baconschen „scientia integralis“ in der Ethik und Metaphysik bestand,76 so findet sich damit ein Pendant zur vierten Säule, der paracelsischen „virtus“. Die Übereinstimmungen gehen so weit, dass man sich ernstlich fragen muss, ob Paracelsus nicht de erroribus medicorum, trotz deren Seltenheit, zu Gesicht bekommen hatte, vielleicht während seines Basler Aufenthalts 1527/1528. Basel war als ein Zentrum des Humanismus sicherlich ein Ort, wo die verschiedensten Strömungen zusammenliefen und umfangreiche Sammlungen von Handschriften und Drucken greifbar waren. Während aus dem Paragranum ein Paracelsus spricht, der noch voller Anklage und Verbitterung über die Ablehnung seiner Ideen und sein Scheitern als Basler Professor ist, so tritt er uns in einer programmatischen Schrift von 1538 als ein Abgeklärter entgegen. Es mag ein Zufall sein, dass dieses Werk, worin Paracelsus nochmals die Hauptpunkte seiner Kritik an der damaligen Medizin zusammenfasst, einen ähnlichen Titel wie Bacons Trakat trägt: Labyrinthus medicorum errantium [Labyrinth der irrenden Ärzte].77 Hier hat sich Paracelsus vom Konzept der drei bzw. vier Säulen gelöst, diskutiert aber nochmals in aller Breite die Wichtigkeit der „sapientia“ als „höchsten buch der ärznei“,78 gewissermaßen also der Metaphysik, weiter der Astronomie, der Elementenlehre, der Alchemie, der „experientia“ und der Naturlehre. Weiter spinnt Paracelsus Gedanken zu einer Theorie der Medizin, zu einer quasi theologischen Wahrheitsfindung, die auf göttlicher Offenbarung beruht, und zu einer Lehre der Krankheitsentstehung. Schließlich spekuliert er über den Begriff der „prima materia“. Diese war für Bacon quasi die zu erstrebende Essenz einer Arznei, während für Paracelsus die „prima materia“ den Rohzustand bedeutet, der mittels der Alchemie in die „ultima materia“, den Zweck erfüllenden Endzustand übergeführt werden soll.79
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Bridges: The Life & Work, S. 62; Easton: Roger Bacon, S. 108. SW 11, S. 171–220. SW 11, S. 171. „Aber alle ding werden zu prima materia beschaffen und über das so folgt der vulcanus hernach, der macht’s in ultimam materiam durch die kunst alchimiae.“ SW 11, S. 188.
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5. Die Bedeutung der Destillation Die Entwicklung der medizinischen Alchemie ist eng mit der Geschichte der Destillation und insbesondere mit der Destillation des Alkohols verbunden.80 Diese Technologie ermöglichte erst die Darstellung reinerer Wirkstoffe. Vermutlich diente das konkrete Beispiel der Destillation, bei der offensichtlich etwas Flüchtiges, das mit etwas Geistartigem assoziiert wurde, hinübergeht und etwas Gröberes und somit Irdisches zurückbleibt als Vorlage für die Vorstellung der „separatio puri ab impuro“, des Trennens des Reinen vom Unreinen, die für die medizinische Alchemie von zentraler Bedeutung war. Die im lateinischen Mittelalter gängigen Bezeichnungen des Alkohols als „aqua vitae“ [Lebenswasser] oder „aqua ardens“ [brennendes Wasser] deuten weiter darauf hin, dass mit dieser Flüssigkeit etwas Besonderes und Essenzielles verbunden ist, das über die Eigenschaften des gewöhnlichen Wassers hinausgeht. Die Zubereitung von hochprozentigem Alkohol war vermutlich erst durch die Entwicklung _____________ 80
Zur Geschichte der Destillation vgl. Hermann Schelenz: Zur Geschichte der pharmazeutisch-chemischen Destilliergeräte. Berlin 1911; Nachdruck Hildesheim 1964; Karl Sudhoff: „Weiteres zur Geschichte der Destillationstechnik“. In: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 5 (1915), S. 282–288; Frank Sherwood Taylor: „The Evolution of the Still“. In: Annals of Science 5 (1945), S. 185–202; Robert James Forbes: Short History of the Art of Distillation from the Beginnings up to the Death of Cellier Blumenthal. Leiden 1948; Robert P. Multhauf: „The Significance of Distillation in Renaissance Medical Chemistry“. In: Bulletin of the History of Medicine 30 (1956), S. 329–346; Martin Levey: „The Earliest Stages in the Evolution of the Still“. In: Isis 51 (1960), S. 31–34; Frank Raymond Allchin: „India: The Ancient Home of Distillation?“ In: Man, New Series 14 (1979), S. 55–63. Zur Geschichte des Alkohols vgl. Marcelin Berthelot: La chimie au Moyen Âge. t. I: Essai de la transmission de la science antique au Moyen Âge. Doctrines et pratiques chimiques. Paris 1893, S. 136–146; Paul Richter: „Beiträge zur Geschichte der alkoholartigen Getränke bei den orientalischen Völkern und des Alkohols“. In: Archiv für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 4 (1913), S. 429–452; Edmund Otto Lippmann: Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und Technik. Berlin 1923, S. 56–126; Adam Maurizio: Geschichte der gegorenen Getränke. Berlin 1933; Lu Gwei-Djen, Joseph Needham und Dorothy Needham: „The Coming of Ardent Water“. In: Ambix 19 (1972), S. 69–112; Helmut Arntz: Weinbrenner: Die Geschichte vom Geist des Weines. Stuttgart 1975; Joseph Needham: Science and Civilisation in China. Vol. 5 (mit Robin D. S. Yates): Chemistry and Chemical Technology. Part IV: Spagyrical Discovery and Invention: Apparatus, Theories and Gifts. Cambridge 1980, S. 121–132; Robert Halleux: „Les ouvrages alchimiques de Jean de Rupescissa“. In: Histoire littéraire de la France 41 (1981), S. 241–284, hier S. 246–250; Gundolf Keil: „Aqua ardens. Vom Kurztraktat zum Beruf des Branntweinbrenners.“ In: Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern. Hrsg. von Hagen Keller, Christel Meier und Thomas Scharf. München 1999, S. 267–278; Ahmad al-Hassan: Studies in al-Kimya‘. Critical Issues in Latin and Arabic Alchemy and Chemistry. Hildesheim, New York et al. 2009 (Texte und Studien zur Wissenschaftsgeschichte, 4); Ders.: „Alcohol and the Distillation of Wine in Arabic Sources From the Eighth Century Onwards“. In: http://www.history-sciencetechnology.com/Notes/Notes%207.htm#_edn8 (letzter Zugriff am 02.09.2010).
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effizienter Kühlvorrichtungen möglich geworden, sei es durch Wasserkühlung oder Luftkühlung mittels eines Serpentins, eines schlangenartig gewundenen Kühlrohrs.81 So finden sich erste Beschreibungen des Serpentins („canale conclusum serpentinum“)82 in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bei Taddeo Alderotti und bei Bonaventura von Iseo.83 Das einsetzende starke Interesse an der Weindestillation führte zu einer Flut von lateinischen und landessprachlichen Branntweintraktaten.84 Im Zusammenhang mit Parfüms von besonderer Bedeutung war die Destillation von Rosenwasser, so stark sogar, dass diese in der lateinischen Alchemie zur allgemeinen Metapher für jegliche sanfte Destillation erhoben wurde. So hieß es etwa bei Pseudo-Avicenna, „distilla illud sicut destillatur aqua rosacea“ [destilliere es so, wie Rosenwasser destilliert wird]85 und auch Bacon nannte das „aqua rosace“ zusammen mit dem aus Ziegelsteinen gewonnenen „oleum benedictum“ als wichtigste Destillationsprodukte, die die Alchemie bereitstellen kann.86 Weiter wurde aus dem gleichen Grund in der deutschsprachigen Destillationsliteratur der Alembix oder Destillationshelm als „Rosenhut“ bezeichnet.87 Die Destillation von Rosenwasser war so verbreitet, dass von Lippmann sogar vermutete, dass die Destillation des Weins dieser nachgebildet wurde, basierend auf der bereits in der Antike gemachten Beobachtung, dass bei der Erhitzung des Weins brennbare Dämpfe aufsteigen.88 Die Destillationspraktik ging von den Arabern an den lateinischen Westen über und war spätestens um die Mitte des 12. Jahrhunderts bekannt. Dies geschah vermutlich in Süditalien und stand in Zusammenhang mit der Eroberung Siziliens durch die Normannen. Der letzte arabische Stützpunkt auf Sizilien fiel um 1091. _____________ 81 82 83
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Vgl. die Diskussion bei Lippmann, Beiträge, S. 82–89, 127–136; Gwei-Djen/ Needham/ Needham, S. 73–75. Lippmann, Beiträge, S. 83. Michela Pereira: „Nota su Bonaventura da Iseo e le acque medicinali“. In: Atti dell’VIII Convegno Nazionale di storia e fondamenti della chimica, Arezzo, 28 - 30 Ottobre 1999. Hrsg. von Ferdinando Abbri und Marco Ciardi. Estratto dal Volume 117, Memorie de Scienze Fisiche e Naturali, «Rendiconti della Accademia Nazionale delle Scienze detta dei XL», serie V, vol. XXIII, parte II, tomo II, 1999, S. 59–68, hier S. 63. Rudolf Kaiser: „Deutsche und lateinische Texte des 14. und 15. Jahrhunderts über die Heilwirkungen des Weingeistes“. Diss. med. Leipzig 1925; Keil, „Der deutsche Branntweintraktat“; Ders.: „Aqua ardens“, mit weiteren Literaturangaben. Artis chemicae principes, Avicenna atque Geber, Basel 1572, S. 13f. Little/Withington, S. 156. Vgl. z.B. Schelenz, Destilliergeräte, S. 37, 43; Anna Bartl: Der „Liber illuministarum“ aus Kloster Tegernsee. Edition, Übersetzung und Kommentar der kunsttechnologischen Rezepte. Bearbeitet von Anna Bartl, Christoph Krekel, Manfred Lautenschlager und Doris Oltrogge. Stuttgart 2005, S. 353. Lippmann, Beiträge, S. 95; vgl. auch Halleux, „Les ouvrages alchimiques de Jean de Rupescissa“, S. 246.
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An den arabisch-maurischen Ursprung erinnert die mitunter anzutreffende Bezeichnung „caput mauri“ [Maurenkopf] für den Destillationsaufsatz. Die Destillationstechnologie war der Medizinschule von Salerno bekannt, die vom 10. bis zum 13. Jahrhundert blühte und an der Grenze des ehemaligen arabischen Einflussgebietes in Italien lag. Die Weindestillation wurde als Innovation im 13. Jahrhundert viel beachtet. Um ein bemerkenswertes, eigentliches Lehrbuch der Alchemie handelt es sich beim Liber compostille des Franziskaners Bonaventura von Iseo (ca. 1200–nach 1284).89 Der Liber compostille scheint in Bezug auf die medizinische Alchemie all das auszusprechen, was Roger Bacon gefordert und bloß angedeutet hatte, sodass man versucht ist zu spekulieren, dass diese Schrift Bacon vorgelegen hatte. Dies ist nicht ganz abwegig, da unter den Franziskanern ein reger theologischer und wissenschaftlicher Austausch anzunehmen war. Neben anderen alchemischen Rezepten, findet sich im Liber compostille eine ausführliche Beschreibung („tractatus aquarum medicinalium“) von 45 Medizinalwässern, die meist mittels Destillation gewonnen werden. Unter den medizinischen Wässern des ersten Buchs werden u.a. verschiedene Augenwässer abgehandelt, weiter ein Ätzwasser für äußere chirurgische Anwendungen („aqua ignea caustica“)90 und, was in Bezug auf die medizinische Alchemie zu dieser Zeit bemerkenswert ist, alchemisch hergestellte Wässer aus Metallen („aqua mirabilis que elicitur de metallis“)91 und aus Mineralien („aqua marchasite“),92 die sonst erst bei Johannes von Rupescissa erscheinen und ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert als typisch für die paracelsische Pharmazie galten. Wie nicht anders zu erwarten, finden sich Beschreibungen von „aqua rosarum“,93 „aqua vite“94 und „aqua ardens“,95 wobei das Letztere durch _____________ 89
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Zu Bonaventura von Iseo vgl. Gabriele Rosa: L’Alchimia dalla sua origine sino al secolo XIV e La Compostella, opera di Frate Bonaventura d’Iseo. Dissertatione. Brescia 1846; Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science. Bd. 3. New York und London 1934, S. 45f.; Adriaan Pattin: „Un recueil alchimique: le manuscrit Firenze, Bibl. Riccardiana, L. III. 13. 119-Description et documentation“. In: Bulletin de Philosophie Médiévale 14 (1972), S. 89–107; Roberto Sgarbi: Fra‘ Bonaventura d’Iseo, Alchimista. Iseo 1991 (Quaderni della Biblioteca Communale Iseo, 10); Manola Carli: „Un’enciclopedia alchemica duecentesca: il Liber Compostille di Bonaventura da Iseo“. In: Atti dell’VIII Convegno Nazionale di storia e fondamenti della chimica, Arezzo, 28-30 Ottobre 1999. Hrsg. von Ferdinando Abbri und Marco Ciardi. Estratto dal Volume 117, Memorie de Scienze Fisiche e Naturali, «Rendiconti della Accademia Nazionale delle Scienze detta dei XL», serie V, vol. XXIII, parte II, tomo II, 1999, S. 45–57; Pereira, „Nota su Bonaventura da Iseo“. BSB Clm 23809, Bl. 8v-9r. BSB Clm 23809, Bl. 8rv. BSB Clm 23809, Bl. 8v. BSB Clm 23809, Bl. 11r. BSB Clm 23809, Bl. 11r–13r.
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mehrmalige Destillation aus dem niederkonzentrierten und deshalb nicht brennenden „aqua vite“ gewonnen wird. Dem „aqua vite“, das Bonaventura auch „aqua vitis“ [Trauben- oder Rebenwasser] nennt, wird eine längere Beschreibung zugestanden und es werden verschiedene Zubereitungsarten aufgeführt. Wie oben bereits erwähnt, hängt die erfolgreiche Alkoholdestillation vom Vorhandensein einer effizienten Kühlmethode ab. Bonaventura empfiehlt deshalb die Destillation „cum alludello eris et serpenti plumbi et tortuoso“,96 also mit kupferner Destillationsblase und geschlängeltem Kühlrohr aus Blei. Die Destillation muss dabei, wie immer, auf die sanfte Weise der Rosenwasserherstellung erfolgen: „distillabitur ad modum aque rosarum“.97 Der Liber compostille erwähnt als weitere Kühlmöglichkeit sogar eine noch fortgeschrittenere Destillationstechnik, indem das Kühlrohr durch ein hölzernes, mit kaltem Wasser gefülltes Fass geführt wird.98 Der Liber compostille, der innerhalb der Literatur der lateinischen Alchemie wegen seiner innovativen, genauen und bis in alle Einzelheiten gehenden Anweisungen als bedeutend einzustufen ist, blieb bisher weitgehend unerforscht. Auch fand die Schrift nur wenig Verbreitung und wurde nie gedruckt, was man sich dadurch erklären kann, dass sie wohl als Geheimschrift galt und deshalb nur in begrenzten Kreisen zirkulierte. Von nicht geringer Bedeutung für die Entwicklung der medizinischen Alchemie war der aus Florenz stammende Arzt Taddeo Alderotti (ca. 1210–1295), der in Bologna eine universitäre Medizinschule begründete.99 Von ihm ausgehend entwickelte sich Bologna neben Padua und Paris zu einem der wichtigsten frühen Zentren medizinischer Ausbildung.100 Alderotti kam in Bologna in Berührung mit dem Schülerkreis der Borgog_____________ BSB Clm 23809, Bl. 14v–15r. BSB Clm 23809, Bl. 11r. a.a.O. „canna cuius caput deorsum firmetur iuxta fundum ad spondas vasis ligni quod est ad modum staffe in qua est aqua frigida“, BSB Clm 23809, Bl. 12v. Auf der folgenden Seite befindet sich die Abbildung einer Destillationsapparatur, die mit einer solchen Wasserkühlung versehen ist. 99 Zu Taddeo Alderotti vgl. Karl Sudhoff: „Thaddäus Florentinus (Taddeo Alderotti) über den Weingeist“. In: Archiv für die Geschichte der Medizin 7 (1914) 379–389; Nancy G. Siraisi: Taddeo Alderotti and His Pupils: Two Generations of Italian Medical Learning. Princeton NJ: Princeton University Press, 1981; Gundolf Keil: „Taddeo (degli) Alderotti“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. hg. von Kurt Ruh, Bd. 9. Berlin und New York 1995, Sp. 570–574; Piero P. Giorgi und Gian Franco Pasini: Consilia di Taddeo Alderotti (XIII secolo). Bologna 1997, S. 1–56. Siraisi, Taddeo Alderotti, S. 28, setzt das Geburtsjahr zwischen 1206 und 1215 an. 100 Zur Bedeutung der frühen universitären Medizin in Italien vgl. Nancy G. Siraisi: Medicine and the Italian Universities, 1250–1600. Leiden und Boston 2001 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 12). 95 96 97 98
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nonis und dem von ihnen vermittelten wundärztlichen Unterricht,101 so insbesondere mit Theodoric (Teodorico) Borgognoni (1205–1298),102 dem späteren Bischof von Cervia. Zwei Manuskripte des 14. Jahrhunderts schreiben Theodoric einen Traktat De aqua vite zu, wobei seine Autorenschaft hier aber nicht gesichert ist.103 Sehr praxisorientiert war Theodorics Lehrbuch der Wundarznei Chirurgia, das Theodoric zwischen 1245 und 1266 mehrmals überarbeitete.104 Einen Bezug zur Weindestillation findet sich in der Chirurgia zwar nicht, dafür beschreibt Theodoric zwei Zubereitungsarten für das Oleum benedictum und kommt auch auf die Sublimation von Arsenik zwecks Herstellung eines Kauterisationsmittels zu sprechen. Von Taddeo Alderotti überliefert sind eine Reihe von Consilia Magistri Tadey, worin er auf bestimmte Krankheitsfälle und die Mittel zu deren Heilung eingeht.105 Die letzten paar Konsilien (CLXXIX– CLXXXV)106 beschreiben die Eigenschaften die Herstellung des „aqua vite“ in einiger Breite.107 Das „aqua vite“ ist gut bei Krankheitsfällen, die durch kalten Schleim entstanden sind („ex frigidis humoribus procedentes“), hilft bei Augenflecken, gegen das Ergrauen der Haare, bei Epilepsie, gegen Zahnweh und bei vielen anderen Krankheitsfällen.108 Das Lebenswasser wird „opere alkimico“, also alchemisch „per destillationem“ aus Wein gewonnen, wobei Taddeo betont, dass die Destillation „per alembicum serpentinum“ erfolgen muss.109 Damit steht Taddeo in der gleichen Linie wie Bonaventura von Iseo, indem er als Voraussetzung für die Herstellung von hochprozentigem Branntwein eine wirkungsvolle Kühltechnologie fordert, hier das Schlangenrohr. Soll das Destillat „per_____________ 101 Siraisi, Taddeo Alderotti, S. 14–19. 102 Zu Borgognoni vgl. Siraisi, Taddeo Alderotti, S. 15–18; Gundolf Keil: „Tederico dei Borgognoni“. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2., München und Zürich 1983, S. 456–457; Lluís Cifuentes: „Vernacularization as an Intellectual and Social Bridge: the Catalan Translations of Teodorico‘s ‚Chirurgia‘ and of Arnau de Vilanova‘s ‚Regimen sanitatis‘. In: Early Science and Medicine 4 (1999), S. 127–148; zur Alchemie in Theodorics Chirurgia vgl. Michael R. McVaugh „Alchemy in the Chirurgia of Teodorico Borgognoni“. In: Alchimia e medicina nel Medioevo, ed. Chiara Crisciani and Agostino Paravicini Bagliani. Florenz 2003 (Micrologus’ Library, 9), S. 55–75. 103 McVaugh, op. cit., S. 68–72. 104 McVaugh, op. cit. 105 Edition bei Nardi, Giuseppe Michele: I consilia di Taddeo Alderotti. Torino: Minerva Medica, 1937; Teiledition bei Giorgi/ Pasini, op. cit., samt italienischer Übersetzung, jedoch unter Auslassung bestimmter Konsilien und der verordneten Arzneimittel. 106 CLXXIX. De virtutibus aque vite et eius operationibus, CLXXX. De modo faciendi aquam vite, CLXXXI. De compositione aque vite, CLXXXII. De alia compositione aque vite, CLXXXIII. De aqua vite ardenti, CLXXXIV. De effectibus et operationibus universalibus aque vite, CLXXXV. De speciebus et modis faciendi aquam vite. 107 Vgl. die Beschreibung bei Lippmann, Beiträge, S. 82–90. 108 Nardi, op. cit., S. 235f. 109 Nardi, op. cit., S. 236.
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fectissima“ und somit zu „aqua ardens“ werden, sieht Alderotti bis zu zehn Destillationen vor.110 „Aqua vite“ kann aber nicht nur für sich als Arznei verwendet werden, sondern zusammen mit Gewürzen, Wurzeln, Blüten und Kräutern ergeben sich eine Vielzahl von wirkungsvollen Heilmitteln. Dabei können die Arzneidrogen entweder in schon fertig destillierten Alkohol gegeben werden, worauf die arzneilichen Eigenschaften ausgezogen werden („proprietas contrahit“), wenn die Zusätze für drei Stunden im Alkohol mazeriert werden („si per tres horas morentur in ea“).111 Oder es werden die verschiedenen Arzneidrogen dem zu destillierenden Wein beigemischt, wobei das Destillat nun als „aqua vite composita“ bezeichnet wird. In den Consilia findet sich somit eine überaus genaue und detailreiche Beschreibung der Alkoholdestillation und der medizinischen Eigenschaften des Weingeists, die spätere Autoren wesentlich beeinflusst hatte. 6. Die Lehre von den Quintessenzen und Johannes von Rupescissa Für die weitere Entwicklung der medizinischen Alchemie spielte der Franziskanermönch Johannes von Rupescissa (Jean de Roquetaillade, gest. nach 1365) eine entscheidende Rolle.112 In Liber de consideratione quintae essentiae omnium rerum [Buch der Betrachtung der Quintessenz aller Dinge] stellt er eine Lehre der Quintessenzen vor und ist gänzlich auf die medizinische Alchemie ausgerichtet.113 Ganz anders als Bonaventuras von Iseo Liber compostille fand der Liber de consideratione eine weite handschriftliche Verbreitung, nicht zuletzt auch in der oben erwähnten lullifizierten Form als dem Raimundus Lullius untergeschobenen Liber de secretis naturae seu de quinta essentia [Buch der Naturgeheimnisse oder von der Quintessenz].114 _____________ 110 Nardi, op. cit., S. 236–239. Lippmann, Beiträge, S. 87, arbeitete Alderottis Vorschriften experimentell nach und zeigte, dass mit diesen ohne Schwierigkeiten ein Weingeist von 90% und darüber erhalten werden kann. 111 Nardi, op. cit., S. 237. 112 Robert P. Multhauf: „John of Rupescissa and the Origin of Medical Chemistry“. In: Isis 45 (1945), S. 359–367. 113 Beschreibung bei Robert Halleux: „Les ouvrages alchimiques de Jean de Rupescissa“. In: Histoire littéraire de la France 41 (1981), S. 241–284; Edition einer deutschsprachigen Fassung durch Udo Benzenhöfer: Johannes’ de Rupescissa Liber de consideratione quintae essentiae omnium rerum deutsch. Studien zur Alchemia medica des 15. bis 17. Jahrhunderts mit kritischer Edition des Textes. Stuttgart 1989 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, 1). 114 Besprechung bei Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science, Bd. 4. New York und London 1934, S. 37–46, und Michela Pereira: The Alchemical Corpus At-
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Da die lullifizierte Fassung das Original zeitweilig in den Hintergrund drängte, wurde der Liber de consideratione erst 1561 zum ersten Mal gedruckt.115 Rupescissa leitet seine Abhandlung mit dem Wunsch ein, Mittel zur Verfügung zu stellen, um das menschliche Leben über die von Gott festgesetzte Zeit hinaus zu verlängern, den Körper zu bewahren und jede Krankheit zu heilen.116 Ein Heilmittel kann nur dann einen solchen Zweck erfüllen, wenn es selber von allem Vergänglichem und Krankem gereinigt wurde. Da alle vergänglichen Dinge aus den vier Elementen zusammengesetzt sind, gilt es, das aristotelische fünfte, auch „caelum“ [Himmel] genannte Element zu suchen, das über den vier Elementen steht. Dieser „caelum“ ist unvergänglich, unveränderlich und nimmt keine flüchtigen Eindrücke auf.117 Rupescissas entscheidender Gedankenschritt besteht nun darin, diese Quintessenz mit dem Weingeist zu identifizieren: „vocatur aqua ardens, anima vini seu spiritus, & aqua vitae“.118 Edler Wein wird siebenmal destilliert, solange bis ein „aqua ardens“ erzielt wird. Dieses wird dann einer fortgesetzten Rückflussdestillation unterworfen, und erst so verwandelt sich der Weingeist in die gewünschte Quintessenz.119 Ausgehend von der Quintessenz des Weins beschreibt dann Rupescissa vor allem die Gewinnung der Quintessenzen aus organischen Stoffen wie Früchten, Kräutern, Wurzeln, ja sogar aus Blut und Fleisch. Er geht dann noch weiter und schildert, wie man Quintessenzen aus Mineralien und Metallen, also aus Gold, Quecksilber, Blei, Zinn, Vitriol, Eisen, Kupfer, Schwefel, Antimon usw. herstellt Solche mineralisch-metallischen Präparate wurden zu Kennzeichen der späteren paracelsischen Pharmazie. _____________ 115
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tributed to Raymond Lull. London 1989 (Warburg Institute Surveys and Texts, 18), S. 11– 20. Guilhelmus Gratarolus: Ioannis de Rupescissa qui ante CCCXX. annos vixit, de consideratione Quintae essentiae rerum omnium, opus sane egregium. Arnaldi de Villanova Epistila de Sanguine humano distillato. Raymundi Lullij Ars operatiua: & alia quaedam. Omnia ad selectissimam materiam medicam, & morborum curationem, vitaeque conseruationem mirabiliter facientia. Nun primum in lucem data. Accessit Michaelis Savonarolae Libellus optimus de aqua Vitae, nunc valde correctior quam ante annos 27. editus. Basel: Heinrich Petri & Peter Perna, 1561, S. 10–168. „Restat ergo autem quaerare, quae citra terminum vitae nostrae a Deo praefixum, possit corpus nostrum sine corruptione servare, sanare, & conservare, infirmum curare, de perditum restaurare“, Gratarolus, op. cit., S. 17. „quod opportet rem quaerere, quae sic se habet respectu quatuor qualitatum, quibus compositum est corpus nostrum, sicut se habet caelum respectu quatuor elementorum: Philosophi autem vocauerunt caelum quintam Essentiam respectu quatuor elementorum, quia in se caelum, est incorruptibile & immutabile & non recipiens peregrinas impressiones“, Gratarolus, op. cit., S. 19. Gratarolus, op. cit., S. 20. Gratarolus, op. cit., S. 30.
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Die Bemühungen um die medizinische Alchemie, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eingesetzt hatten und in der Quintessenzlehre des Johannes von Rupescissa gipfelten, trugen nun im 15. Jahrhundert reiche Früchte. Im Werk des Arztes und Medizinprofessors in Padua und Ferrara Giovanni Michele Savonarola (c1384–1468),120 des Großvaters des charismatischen Predigers Gerolamo Savonarola, finden sich mannigfache Bezüge zur medizinischen Alchemie.121 Savonarola verfasste einen Libellus de aqua ardenti (1440),122 worin er sich ausdrücklich auf Taddeo Alderotti und den lullifizierten Rupescissa bezieht. So habe er die „Thadaei magni medici gravissima consilia“ und die Bücher der Alchemisten durchgelesen.123 Er bemerkt weiter, dass nach den Aussagen „Raymundi viri“ das „aqua vitis“ als „essentia quinta“ bezeichnet werde,124 nimmt diesen Begriff auf und diskutiert ihn weiter. So finden wir etwa die Bemerkung Rupescissas, dass das „aqua vitae“ durch fortgesetzte Rückflussdestillation immer stärker und so zur Quintessenz werde.125 In der Folge kommt Savonarola nicht nur auf technische Aspekte zu sprechen,126 sondern geht ausführlich auf medizinische Anwendungen ein. Wie seine Vorgänger misst er dem „aqua ardens“ eine lebensverlängernde Kraft bei, allerdings nur, und diese Empfehlung ist neu, wenn dieses moderat genossen wird („moderate sumptam“).127 Auch sonst bleibt Savonarola gegenüber den Anpreisungen der Alchemisten nicht unkritisch. So befindet er zur Le-
_____________ 120 Zu Giovanni Michele Savonarola vgl. Arnaldo Segarizzi: Della vita e delle opere di Michele Savonarola, medico padovano del secolo XV. Padua 1900; Danielle Jacquart: „Everyday Practice, and Three Fifteenth-Century Physicians“. In: Osiris 6 (1990), S. 140–160; Dies.: „Médecine et alchimie chez Michel Savonarole (1385–1466)“. In: Alchimie et philosophie à la Renaissance. Hrsg. von Jean-Claude Margolin und Sylvain Matton. Paris 1993, S. 109– 122; Rippa Bonati, Maurizio: „Giovanni Michele Savonarola“. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7. München und Zürich 1995, Sp. 1413–1414; Crisciani, Chiara: „Michele Savonarola, medico: tra università e corte, tra latino e volgare“. In: Filosofia in volgare nel Medioevo. Atti del Convegno della Società italiana per lo studio del pensiero medievale (S.I.S.P.M.), Lecce, 27–29 settembre 2002. Hrsg. von Nadia Bray und Loris Sturlese. Louvain-la-Neuve, 2003 (Textes et études du Moyen Age, 21), S. 433–449; Dies.: „Consilia, responsi, consulti. I pareri del medico tra insegnamento e professione“. In: Consilium. Teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale. Hrsg. von Carla Casagrande, Chiara Crisciani und Silvana Vecchio. Florenz 2004 (Micrologus‘ Library, 10), S. 259–279. 121 Vgl. v.a. Jacquart, „Médecine et alchimie chez Michel Savonarole“. 122 Gratarolus, op. cit., S. 237–341. 123 Gratarolus, op. cit., S. 241. 124 Gratarolus, op. cit., S. 243. 125 „cum sic circulando continue subtilietur magis. Aiunt enim Philosophi sic per circulatas distillationes multiplicatasque quintam fieri Essentiam“, Gratarolus, op. cit., S. 257. 126 Etwa in den Kapiteln „V. De Vasis & eorum materia“, „VI. De Igne faciendo“. 127 Gratarolus, op. cit., S. 297f.
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bensverlängerung das sonst viel gepriesene „aurum potabile“ weniger wirksam als „aqua ardens“.128 Eine direkte Linie von Rupescissas über Savonarola führt zum Straßburger Wundarzt Hieronymus Brunschwig (c1450–c1512).129 Er hatte bereits zwei Lehrbücher veröffentlicht, eine Anathomia (1497) und eine Cirurgia (1497), als er um 1500 ein ausführliches deutschsprachiges Destillierbuch vorstellte: Liber de arte distillandi, de simplicibus. Wie schon Brunschwigs erste Publikationen ist dieses Buch reich illustriert und belegt den wundärztlichen Drang nach praxisorientierter Umsetzung. Gezeigt werden verschiedene Destillieröfen, Kolben und Destillieraufsätze, weiter Pflanzenbilder und Situationsdarstellungen aus der ärztlichen Praxis. Dieser Wille zu Verbildlichung war einmalig und setzte den Standard für die Destillierbücher der folgenden Jahrhunderte. Da er oft gefragt worden sei, wollte Brunschwig darlegen, „wie man die wasser brennen/ distillieren/ bruchen vnd behalten soll“130 Das Buch gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die technischen Details der Destillation vorgestellt und mit vielen Holzschnitten illustriert. Das zweite Buch stellt die Destillation von einfachen, also ungemischten Rohdrogen vor, wobei neben Pflanzen und Pilzen auch die Destillate von tierischen Drogen besprochen werden wie Krebsen, Regenwürmern, Kapaunen, jungen Störchen, Mücken, Rindsgalle und Kuhdreck. Es fehlt auch nicht die Destillation von Blut, sei es von Eseln, Ochsen oder Menschen. Im dritten Teil schließlich findet sich nach dem bewährten Kopfzu-Fuß-Schema eine Abhandlung verschiedener Krankheitsbilder mit der Angabe der infrage kommenden Wässer, und zwar in einer Ausführlichkeit, welche die späteren Überarbeitungen des Liber de arte distillandi vermissen lassen. Die Angabe von Quellen und Autoren fällt in der Version von 1500 noch spärlich aus, es findet sich lediglich in der Einleitung die Nennung von „Ypocras [Hippokrates] Mesue Arnoldus de villa noua“.131 Obwohl Brunschwig im Text der Erstausgabe beiläufig „Johannes ru_____________ 128 „In vitae humanae conseruationem prolongationemque ardentem aquam ipso potabili auro praestantiorem.“ Gratarolus. op. cit., S. 292f. 129 Zu Hieronymus Brunschwig vgl. Friedrich Wieger: Geschichte der Medicin und ihrer Lehranstalten in Strassburg vom Jahre 1497 bis zum Jahre 1872 der 58. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Strassburg 18.–22. Sept. 1885 gewidmet. Straßburg 1885, S. 4–15; Fritz Hommel: „Zum Leben des Hieronymus Brunschwygk“. In: Archiv für die Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Technik N.F. 1 (1927), S. 155– 157; Rudolf Schmitz: „Hieronymus Brunschwig“. In: Complete Dictionary of Scientific Biography, Bd. 2. Detroit 2008. S. 546f. 130 Hieronymus Brunschwig: Liber de arte distillandi. de Simplicibus. Das buch der rechten kunst zu distilieren die eintzigen ding. Straßburg: J. Grüninger, 1500. Bl. 2v (absolute Zählung). 131 Brunschwig (1500), Bl. 17v (absolute Zählung).
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biscissi in dem b ch quinta essencia“132 erwähnt, so hat hier die wirkliche Rezeption der Quintessenzlehre noch nicht stattgefunden, sondern das Buch ist noch stark im Stil der herkömmlichen Destillierbücher gehalten, wo das bekannte und zusammengeschriebene Rezeptwissen ohne weitere Theorie aufgelistet wird. Durch seine Ausführlichkeit erlangt der Liber de arte distillandi trotzdem den Charakter einer Pharmakopöe. In relativ rascher Folge erfuhr der Liber de arte distillandi wesentliche Überarbeitungen und Erweiterungen. Der Titel der zweiten Auflage von 1505 lautete nun: Medicinarius. Das buch der Gesuntheit. Liber de arte distillandi Simplicia et Composita. Wie die Überschrift bereits erraten lässt, wurde dem Buch etwas wesentlich Neues hinzugefügt, nämlich die erste deutsche Fassung des berühmten Gesundheitsbuchs De triplici vita des Florentiner Arztes Marsilio Ficino (1433–1499). Die Übersetzung wurde durch Johannes Adelphus (Mülich) besorgt, dem späteren Stadtarzt von Schaffhausen. Die technische Einleitung und der Teil mit der Beschreibung der Wässer sind im Großen und Ganzen gleichgeblieben, obwohl einige kleine Änderungen erfolgten, auch bei den Abbildungen. Neu hinzugekommen ist ein Teil mit zusammengesetzten Arzneien („composita“), insbesondere mit „aqua vite“ und Trinkgold („aurum potabile“).133 Das ist ein Indiz, dass sich Brunschwig zunehmend in die medico-alchemische Literatur eingelesen hatte. Überhaupt lässt sich erkennen, dass er nun den Liber de consideratione quintae essentiae des Johannes von Rupescissa assimiliert hatte und in seine Betrachtungen einfließen ließ. So übernahm Brunschwig praktisch wörtlich die Eingangsformel Ruspescissas, wo dieser an das Buch der Weisheit Salomos erinnert.134 Auch beschreibt er nun im Composita-Teil die „Quinta essentia, Das funfft wesen“ und deren Eigenschaften ausführlich und geht auf den Alkohol und das Trinkgold ein. Insgesamt macht dieser Abschnitt noch einen ungeordneten und zusammengewürfelten Eindruck. Dieser Mangel ist bereits in der nächsten Ausgabe von 1508 behoben, wo neben der „aqua vite“ und dem „aurum potabile“ verschiedene, zum Teil zusammengesetzte Quintessenzen aus Pflanzen, Kapaunenfleisch und Honig beschrieben _____________ 132 Brunschwig (1500), Bl. 77v. 133 Hieronymus Brunschwig: Medicinarius. Das buch der Gesuntheit. Liber de arte distillandi Simplicia et Composita. Das nüv b ch der rechten kunst z distillieren. Ouch von Marsilio Ficino vnd anderer hochberömpter Artzte natürliche vnd g te künst z behalten den gesunden leib vnd z uertreiben die kranckheit mit erlengerung des lebens. Straßburg 1505, Bl. 170v–182v. 134 „Der ewig gott der spricht. Salomon in der proficeien hat arztnei geschaffen dürch ir edelheit vnd dürch ir krafft“, Brunschwig (1505), Bl. 32v, evtl. mit Bezug auf Weish 1,14; „Dixit Solomon Sapientiae cap. 7. Deus dedit mihi horum scientiam veram, quae sunt, vt sciam dispositionem orbis terrarum, & virtutes elementorum“, Gratarolus, op. cit., S. 10, mit Bezug auf Weish 7,17.
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werden. Der Titel dieser Fassung heißt nun schlicht Liber de arte distillandi Simplicia et Composita. Der „Medicinarius, Das buch der gesuntheit“ wurde im Titel fallen gelassen, wobei Ficinos Buch nach wie vor gedruckt wird. Eine vollkommene und endgültige Überarbeitung kam 1512 heraus und wurde als Liber de arte distillandi de Compositis betitelt. Die technischen Beschreibungen und die Zubereitung der Simplicia und Composita finden sich nun alle zusammen in ein erstes Buch integriert, wobei nun allerdings die Pflanzenbilder fehlen. Die Zubereitung von „aqua vite“, „aurum potabile“ und anderen Destillationsprodukten wird mit vielen weiteren Variationen beschrieben. Das zweite Buch bespricht verschiedene Arzneiformen und das dritte geht die Krankheiten von Kopf zu Fuß durch unter Angabe der möglichen Heilmittel. Das vierte Buch enthält verschiedene wundärztliche Rezepte und geht auch auf „Johannem Rubicissi“ und gewisser seiner Rezepte ein, die noch nicht Eingang gefunden hatten. Während Ficinos Buch des lebens weggelassen wurde, stellt das fünfte und letzte Buch wiederum ein Novum dar, nämlich ein „Micarium Medicine/ vel Thesaurus pauperum“, also eine Zusammenstellung von nützlichen und kostengünstigen Medizinen für arme Leute.135 Auffallend in der letzten Bearbeitung ist auch, dass im Gegensatz zu früher viele alchemische und medizinische Autoritäten namentlich erwähnt und deren Meinungen zitiert werden. So bezieht sich Brunschwig auf „Michael sauonarole“136 und die Großen seines Fachs: „Plato/ Arestoteles/ Socrates/ Ypocras [Hippokrates]/ Hermes/ Democritus/ Rasis/ Serapio/ Auicenna/ Göber [Geber]/ Raimundus de luli/ Arnoldus de villa noua/ Albertus magnus/ Johannes rubiciscus [Johannes von Rupescissa]/ Marsilius Ficinus von Florentz“137
Innerhalb von zwölf Jahren hatte Brunschwig sein Lehrbuch mehrfach und gründlich überarbeitet und zeugte damit von einem ungeheuren Fleiß. Die Ausgabe von 1512 war zu einem ausführlichen und gründlichen Lehrbuch der medizinischen Alchemie herangewachsen, in das praktisch sämtliche medico-alchemischen Entwicklungen der vorhergehenden 300 Jahre eingeflossen waren. Das Liber de arte distillandi de Compositis praktisch alle Aspekte einer alchemisch orientierten praktischen Medizin ab und konnte von einem an der Alchemie interessierten Arzt kaum ignoriert _____________ 135 Brunschwig, Hieronymus: Liber de arte Distillandi de Compositis. Das b ch der waren kunst z distillieren die Composita vnd simplicia/ vnd dz B ch thesaurus pauperum/ Ein schatz der armen genant Micarium/ die brösamlin gefallen von den büchern der Artzny/ vnd durch Experiment von mir Jheronimo brunschwick vff geclubt vnd geoffenbart z trost denen die es begeren. Straßburg 1512, Bl. 283r–344r. 136 Brunschwig (1512), Bl. 148v. 137 Brunschwig (1512), Bl. 2v.
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werden. Merkwürdigerweise wird Brunschwig von Paracelsus nie erwähnt, obwohl Paracelsus 1526 das Straßburger Bürgerrecht erworben hatte und der „Zunft zur Luzerne“ beigetreten war, der Zunft der Wundärzte.138 Wohl mochte Brunschwig zu diesem Zeitpunkt schon gestorben sein, aber sein Andenken wurde noch mit Sicherheit hochgehalten. 7. Handschriftliche Traditionen der medizinischen Alchemie und deren Indikatoren Bisher haben wir zusammenhängende Schriften einzelner Autoren besprochen. Die Realität bestand jedoch oft darin, dass sich Ärzte und Wundärzte auf ihren Wanderschaften handschriftliche Kompendien zusammenstellten, worin sie sich Traktate und Rezepte notierten, die ihnen von Nutzen sein konnten. So lassen sich deshalb in medizinischen oder alchemischen Sammelhandschriften oft Einträge nachweisen, die von Relevanz für eine medizinisch orientierte Alchemie sind. Bei der Untersuchung von Sammelhandschriften lassen sich wiederkehrende Elemente nachweisen, die ich als Indikatoren für das Vorhandensein medicoalchemischen Wissens bezeichnen möchte. Dies können Traktate oder bestimmte Präparate sein. So finden sich oft folgende Indikatoren: Rosenwasser und andere destillierte Wässer Aqua ardens Aqua vitae, simplex und compositum Destilliertes Menschenblut Oleum benedictum (destilliertes Ziegensteinöl) Aurum potabile Verwendung der Destillation beim Herstellen von Arzneien Produkte von echten chemischen Operationen
Die Blutdestillation, besonders jene von Menschenblut, stößt in den Sammelhandschriften auf großes Interesse,139 meist in Form der pseudoarnaldischen Epistola magistri Arnaldi de villa nova ad magistrum Jacobum de Toleto [Brief des Magisters Arnaldus von Villanova an den Magister Jacobus von Toledo], die vom destillierten Menschenblut und seinen Eigen_____________ 138 Wolf-Dieter Müller-Jahncke: „Paracelsus“. In: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 61– 64. 139 Zu den Traktaten über destilliertes Menschenblut vgl. Hans-Joachim Romswinkel: „‚De sanguine humano destillato‘. Medizinisch-alchemistische Texte des 14. Jahrhunderts über destilliertes Menschenblut“. Med. diss. Bonn: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, 1974.
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schaften handelt.140 Weite Verbreitung fand auch, quasi im Rang einer Schlüsselschrift für medizinische Alchemie, der Liber de consideratione quintae essentiae des Johannes von Rupescissa. Im Folgenden sollen nun einige Beispiele von Sammelhandschriften gezeigt werden, die die medico-alchemische Elemente enthalten. Alle diese Codices entstanden vor 1500, also noch vor der Zeit von Paracelsus. Die Inhaltsangaben beschränken sich auf die einschlägigen Passagen. Ein besonders früher Zeuge aus dem 14. Jahrhundert ist MS Harley 5399: British Library, MS Harley 5399 (14. Jahrhundert) Bl. 51 Arnoldi de villa nova, Tractatus Aquae Vitae Bl. 75 Raimundi Lullii, de aqua vitae Tractatus Bl. 121 Vina Medicinalia Bl. 145 De auro potabili Bl. 167 De consideratione quintae essentiae omnium rerum transmutabilium Bl. 339 Aqua physicales 12 Bl. 347 De oleis Bl. 385 De Sole resoluto, i.e. auro potabile
Besonders viele Bezüge zur medizinischen Alchemie, neben der üblichen Metallchemie, enthält eine Handschrift, die im Pharmaziehistorischen Museum der Universität Basel aufbewahrt wird. Sie wurde 1449 von einem Johannes von Fulda niedergeschrieben, von dem weiter nichts bekannt ist. Man kann spekulieren, ob er ein Franziskaner war und somit Zugang zu alchemischen Handschriften hatte, denn der Orden war seit 1237 bis zur Reformation in Fulda präsent.141 Wir finden mehrere Wässertraktate, einen Rosmarintraktet, die Epistola des Pseudo-Arnald samt einem weiteren Traktat zur Blutdestillation. Bemerkenswert ist eine Vorschrift zur Herstellung von Eisenacetat, das gegen Wassersucht empfohlen wird: Basel, Pharmaziehistorisches Museum „Ars Hermetis“ des Johannes von Fulda (1449) Bl. 11 Incipit ars sive doctrina Hermetis sapientissimi philosophi et catholici christiani de transmutacione metallorum Bl. 16 Sequitur epistola magistri Arnaldi de villa nova ad magistrum Jacobum toletarium [Blutdestillation] Bl. 18 Contra venenum Bl. 20 He sunt virtutes rorismarinij 25 Bl. 20 Virtutes aque vitte
_____________ 140 Z.B. bei Gratarolus. op. cit., S. 169–174. 141 Die Franziskaner kehrten 1620 nach Fulda zurück, vgl. http://www.kloster-frauenberg.de (letzter Zugriff am 07.08.2010).
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Bl. 20 Aque vite alia simplex composita Bl. 23 Aqua vite bona sana et multum utilis qui est in communi usu sic fit Bl. 23 Virtutes aque vite Bl. 25 Sequitur de modo faciendi multiplices aquas diversarum ac mirabilium virtutum Bl. 26 Aqua fortis cuius virtutes sunt efficatissime Bl. 32 Aqua facta ex sanguinem hominis sani [Wasser gemacht aus dem Blut eines gesunden Menschen] Bl. 85 Medicamen contra ydropisis. Recipe limaturam ferri […] et pone cum […] boni aceti […] et fac pulverem et da pacienti [Medikament gegen Wassersucht. Nimm Eisenfeilspäne und versetze sie mit gutem Essig und mach ein Pulver und gib es dem Patienten]
Die folgende Sammelhandschrift wurde 1464/1465 von dem aus Feldkirch stammenden Arzt Ulrich Ellenbog (1435–1499) zusammengestellt.142 Er war Stadtarzt von Memmingen und hegte alchemische Interessen, die er auch in seine medizinische Praxis einfließen ließ. Wir finden in seiner Sammelhandschrift viele einschlägige Traktate, so Rupescissa und den pseudoarnaldischen Bluttraktat, weiter Einträge zum Aqua vita und zum Aurum potabile: Kantonsbibliothek St. Gallen, Vadianische Sammlung, Cod. 429 Ulrich Ellenbog, alchemische Sammelhandschrift (1464/1465) Bl.1 Liber de consideratione quinte essentie Bl. 35 Secretum hermetis Bl. 43 Semita recta Bl. 50 Prologus semite bene detecte Bl. 26 Missiua magister Arnoldus de villa nova ad magistrem jacob de tolleto [Blutdestillation] Bl. 27 Aqua vite approperata diversis morbis Bl. 164 Septem tractatus Hermetis Bl. 175 Aurum potabile. Recipe limature solis nunc purificati, solve in aceto [Trinkgold. Nimm gereinigte Goldfeilspäne und löse sie in Essig auf]
MS 14 der Mellon Collection enthält ähnliche Traktate wie Ellenbogs etwa zeitgleiche Sammelhandschrift: _____________ 142 Über Ulrich Ellenbog vgl. Joachim Telle: „Ellenbog, Ulrich“. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3., München und Zürich 1986, Sp. 1846–1847; Vivian Nutton: „Ellenbogiana“. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 8 (1990), S. 221–224; Gundolf Keil: „Gedruckte medizinische Literatur in der Frühdruckzeit“. In: Augsburger Buchkultur und Verlagswesen: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hartmut Gier und Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 469–475. Beschreibung der Handschrift durch Georg Schnitzlein: „Der Codex Vadiana 429 und Ulrich Ellenbog (1435–1499)“. Diss. TU München 1974.
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Yale University Library, (c1475) 1. Johannes von Rupescissa, De consideratione quinte essentie 2. Arnaldus von Villanova, Epistola de sanguine humano ad magistrum Iacobum de Toleto [Blutdestillation] 6. Johannes Obrist, Super confectionem auri potabilis 7. Nicolaus Claudii, Opus super aurum potabile
Die Collectanea alchymica aus dem Jahr 1485 des Johannes de Weyer, der nicht zu verwechseln ist mit dem späteren Bekämpfer des Hexenwahns gleichen Namens, enthält eine practica des Gallus von Prag (gest. nach 1378), der u.a. Wässertraktate hinterlassen hatte:143 Dresden Ms. N. 101 Johannes de Weyer, Collectanea alchymica (1485) Bl. 14v Aristotiles summus philosophorum princeps Bl. 23r Appertorium Arnoldi de villa Nova de secretis nature Bl. 88v Operis maioris ordo Rogerij Bacconis is mihi videtur processus esse Bl. 33v Liber angelicus De humano sanguine [Blutdestillation] Bl. 137v Gallus In sua practica [medizinische Wässer] Bl. 88v Aurum potabile ex dictis Reimundi Lulli
8. Paracelsus und die Traditionen der Alchemie Die bisherigen Ausführungen belegen eindrücklich, dass seit spätestens der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Tradition der medizinischen Alchemie blühte, die 1512 mit Hieronymus Brunschwig einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, also etwa zehn Jahre bevor Paracelsus mit ersten Schriften hervortrat. Jemand, der sich für Alchemie interessierte, musste unweigerlich mit diesen Traditionen in Berührung kommen. Paracelsus erwähnt viele der anerkannten alchemischen Autoritäten, wenn auch meist im abschätzigen Sinne, um seine Auffassung der medizinischen Alchemie von diesen abzugrenzen. So bemängelt er „die ohnnütze red Rupescissae, der da nach seiner art frevenlicher ohnerfahrner lehr geschrieben hat“.144 Gar wenig hält er von dem sonst so geschätzten Raimundus Lullius: „Uns bekümmert nicht die Raimundisch kunst, die da intituliert wird Ars Lullii“, denn Lullius habe von der „quinta essentia nichts verstanden“.145 Weiter hätten Albertus Magnus und Thomas von Aquin das Wesen der „tinctur _____________ 143 Gundolf Keil: „Gallus von Prag“. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4., München und Zürich 1989, Sp.1098–1099. 144 Paracelsus: De vita longa, deutsche Originalfragmente, SW 3, S. 308. 145 a.a.O., S. 301.
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mercurii“ „etwas irrig gesezt“.146 Die „Arnoldini et Rupiscissani“, die Anhänger Arnolds von Villanova und Rupescissas, verhöhnt er, dass ihr Bemühen oft vergebens sei.147 Überhaupt macht er sich lustig über viele Alchemisten, die ohne Verstand den Schriften der Alten nacheiferten:
„Wöllent ir euer practic nehmen aus den hermetischen büchern oder in der quinta essentia? Und der euch henkte, so ist es kein wissen bei euch, was quinta essentia seie, was celum seie, und rumplent im Raimundo und im Nequam Rubiscissa und in praeparationibus, arcanis und dergleichen wie ein sau im trog.“148
Paracelsus musste auch mit handschriftlichen Traditionen der Alchemie in Verbindung gekommen sein. Es waren häufig Bergbaugebiete, wo sich besonders viele Alchemisten aufhielten, weil dort Mineralien und Metalle als Ausgangsstoffe für alchemische Operationen gefunden wurden, oder wie es Paracelsus ausdrückte: „wa nun die mineralia liegen, da seind die künstler“.149 Eine in diesem Sinne bedeutende Bergbauregion war Schwaz in Tirol, wo sich 1554 nicht weniger als 11500 Knappen aufhielten.150 Paracelsus schildert in seiner Großen Wundarznei, dass ihm in Schwaz in Tirol „ein große erfarnus“ zuteil wurde durch den „edel und fest Sigmund Fueger von Schwaz mitsamt einer anzahl seiner gehaltnen laboranten“.151 Sigmund Fieger entstammte einer reichen Schwazer Gewerkenfamilie und unterhielt bei Schwaz offensichtlich ein Laboratorium.152 Dass in Schwaz auch größere Handschriftenbestände mit alchemischen Werken vorhanden gewesen sein mussten, beweist das alchemische Corpus des Michael Cochem, das in der Vadianischen Sammlung der Kantonsbiblio-
_____________ 146 a.a.O., S. 308. 147 „Haec sunt quae nunquam sunt assecuti, qui in additione extractionis elementorum, quae nulla sunt, frustra saepius laboraverunt.“ Paracelsus: De vita longa, SW 3, S. 263. 148 Paracelsus: Von Blattern, Lähmi, Beulen, Löchern und Zitrachten der Franzosen, SW 4, S. 422. 149 Paracelsus: Septem Defensiones, SW 11, S. 144. 150 Zu den Beziehungen zwischen Alchemie und Hüttenwesen vgl. Gantenbein (2000b), hier S. 13. 151 Paracelsus: Große Wundarznei, SW 10, S. 352. 152 Zu den Tiroler Fiegern vgl. Egg, Erich und Hans Heinrich von Srbik, Graf Oswald Trapp: Schloss Friedberg und die Fieger in Tirol, Wien 1987 (Messerschmitt Stiftung, Berichte zur Denkmalpflege, 3). S. 87; Will-Erich Peuckert: Theophrastus Paracelsus. Stuttgart und Berlin 1944, S. 421f., Anm. zu S. 104. Mit Bezugnahme auf die Aufzeichnungen in UB Erlangen, Ms. 1714, 4°, Bl. 113v, 116r, berichtet Peuckert von einem „Hittwerch im sumperbach“, einem Hüttenwerk am Vomperbach bei Schwaz, das der „Junckherr Sigmund Fieger“ besessen hatte.
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thek St. Gallen aufbewahrt wird.153 Es besteht aus vier großen Manuskriptbänden, die sich Cochem in den Jahren 1522–1533 in Schwaz angelegt hatte. Dies ist genau die Zeitperiode, in die auch Paracelsus‘ Besuch in Schwaz gefallen war. Zum Cochems Corpus gehört auch ein Exemplar des sogenannten Liber Trinitatis oder Buch der heiligen Dreifaltigkeit. Es handelt sich hier um die älteste alchemistische Handschrift deutscher Sprache. Sie wurde in den Jahren 1415–1419 vom Franziskanermönch Ulmannus verfasst und ist in mehreren Fassungen überliefert.154 Da in dieser Schrift die Dreifaltigkeit mit alchemischen Prozessen und Themen in Zusammenhang gebracht wird, hatte schon Wilhelm Ganzenmüller 1941 die Vermutung geäußert, dass Paracelsus’ Lehre von drei Prinzipien Sulphur, Merkur und Salz sei von o.g. Schrift inspiriert gewesen.155 Nun befinden sich in der Vadianischen Sammlung in St. Gallen zwei Abschriften des Liber Trinitatis aus dem Besitz des St. Galler Handelsherrs Bartholomäus Schobinger. Mit diesem Schobinger stand Paracelsus 1530/1531 in engem Kontakt und so vermutete Daems (1982), dass Paracelsus das Liber Trinitatis in der Schobingerschen Bibliothek studiert haben mochte.156 Nun lässt sich aber nachweisen, dass Schobinger erst nach 1533 in den Besitz dieser Schriften gekommen war, also nach dem St. Galler Aufenthalt des Paracelsus.157 Trotzdem ist sehr wahrscheinlich, dass Paracelsus das Liber Trinitatis kannte, denn die Schrift wurde in Alchemistenkreisen fleißig studiert, aber _____________ 153 Vgl. Urs Leo Gantenbein: „Das Kunstbuch des Michael Cochem (Ms. Vadiana 407) aus dem Jahr 1522: seine Bedeutung für die medizinische Alchemie.“ In: Mitteilungen (Gesellschaft Deutscher Chemiker. Fachgruppe Geschichte der Chemie) 15 (2000), S. 32–61. 154 Zum Buch der heiligen Dreifaltigkeit vgl. Denis Duveen: „Le Livre de la Très Sainte Trinité“. In: Ambix 3 (1948), S. 26–32; Wilhelm Ganzenmüller: „Das Buch der heiligen Dreifaltigkeit. Eine Deutsche Alchemie aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts“. In: Ders., Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, Weinheim 1956, S. 231–272; Willem Frans Daems: „‚Sal-Merkur-Sulfur‘ bei Paracelsus und das ‚Buch der Heiligen Dreifaltigkeit‘“. In: Nova Acta Paracelsica 10 (1982), S. 189–207; Joachim Telle: „Buch der Heiligen Dreifaltigkeit“. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2., München und Zürich 1983, Sp. 812–813, mit weiteren Literaturangaben; Edition des Textes der Fassung Kadolzburg 1433 durch Uwe Junker: Das „Buch der heiligen Dreifaltigkeit“ in seiner zweiten, alchemistischen Fassung (Kadolzburg 1433). Köln 1986 (Kölner medizinhistorische Beiträge, 40). 155 Wilhelm Ganzenmüller: „Paracelsus und die Alchemie des Mittelalters“. In: Ders., Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, Weinheim 1956, S. 300–314. Neuabdruck in: Udo Benzenhöfer (Hg.): Paracelsus, Darmstadt 1993, S. 137–156. S. 306, insbesondere Fußnote 41. 156 Daems: „Sal-Merkur-Sulfur“; Pirmin Meier: Paracelsus. Arzt und Prophet. Annäherungen an Theophrastus von Hohenheim. Zürich 1993. 157 Urs Leo Gantenbein: „‚Separatio puri ab impuro.‘ Die Alchemie des Paracelsus.“ In: Nova Acta Paracels. N.F. 11 (1997), S. 3–59; Ders.: „Das Kunstbuch des Michael Cochem“, op. cit.
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inhaltlich besteht wenig Evidenz, dass seine Tria-Prima-Lehre sich hiervon ableitete. Interessant in diesem Zusammenhang ist, was der Basler Medizinprofessor Theodor Zwinger I. (1533–1588) zu den Quellen des Paracelsus sagte. Sein Onkel war kein Geringerer als der Basler Drucker Oporinus, der einst Paracelsus in Basel als Famulus gedient hatte. Zwinger verfügte also über Informationen aus erster Hand. Er vertrat die Meinung, wie wir es anfangs schon von Schmieder gehört hatten, dass Paracelsus die Grundzüge seiner Alchemie von den beiden Hollanden übernommen oder von einer „nach der Trinität benannte Schrift“.158 Die vermeintliche Koinzidenz der Dreifaltigkeit mit den drei paracelsischen Grundprinzipien fiel also schon früh auf. Mit den Hollanden sind Isaac und Johann Isaac Hollandus gemeint.159 Sie hinterließen ein umfangreiches alchemisches Corpus. Wir finden Schriften wie das Opus Saturni, das Opus vegetabilium und das Opus mineralium, die also vom Blei, von Pflanzen und von den Mineralien handeln. Bei den Hollandi finden sich detaillierte chemische Anweisungen, sodass die Schriften von frühen Chemikern wie etwa Hermann Boerhaave sehr geschätzt worden waren. Zwinger schrieb seine Vermutung um 1580 nieder. Die Legende setzt die Entstehung des Corpus in das 15. Jahrhundert, doch die neuere Forschung vermutet eine Niederschrift nach 1550, also nach Paracelsus. Es ist aber durchaus möglich, dass das pseudoparacelsische Schrifttum aus den Hollanden geschöpft hatte. Der Forschung steht hier noch ein weites Feld offen. 9. Einige Aspekte der Alchemie des Paracelsus Die Alchemie des Paracelsus kann hier bei Weitem nicht erschöpfend dargestellt werden.160 Ziel der Arbeit war es, seine möglichen Quellen aufzuzeigen. Trotzdem sollen hier noch einige Aspekte gestreift werden. Seine mit Sicherheit früheste Schrift über medizinische Alchemie sind die Archidoxien, die sogenannten Neun Bücher Archidoxis,161 die vor 1527 entstanden sind. Paracelsus entwickelt hier das ganze Arsenal seiner chemisch-pharmazeutischen Arzneimittel. Es verwundert nicht, dass die Ar_____________ 158 Zitiert nach Marie-Louise Portmann: „Paracelsus im Urteil von Theodor Zwinger“. In: Nova Acta Paracelsica N.F. 2 (1987), S. 15–32, hier S. 20f. 159 Vgl. Julian Paulus: „Isaac und Johann Hollandus“. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hrsg. von Claus Priesner und Karin Figala. München 1998, S. 181, mit weiterführenden Literaturangaben. 160 Eine ausführliche Darstellung der Alchemie des Paracelsus wird Gegenstand einer geplanten Monografie sein. 161 Paracelsus: Neun Bücher Archidoxis, SW 3, S. 9–-200.
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chidoxien der Consideratio des Rupescissa sehr nahestehen, vor allem im theoretischen Teil. Wie bei Rupescissa bilden die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde mit den Qualitäten heiß, feucht, trocken und kalt die Grundlage aller Dinge und Krankheiten.162 Im praktischen Teil der Archidoxien betritt Paracelsus weitgehend Neuland. Neben der Quintessenz finden wir nun den Begriff des Arcanums.163 Ein Arcanum ist eine dermaßen verfeinerte und vergeistigte Arznei, dass sie sich von allem Körperlichen gelöst hat. Paracelsus schreibt: „Warum es arcanum heißt und was arcanum sei […] ursachet‘s das, dass das allein arcanum ist, das uncorporalisch ist und untödlich, eins ewigen lebens, über 164 alle natur zu verstehen und unmenschlich zu erkennen.“
Paracelsus unterscheidet hier vier Arten von Arcana, nämlich: „prima materia“, „lapis philosophorum“, „mercurius vitae“ und „tinctura“.165 Eine Nacharbeitung von Paracelsus’ Vorschrift zur Herstellung des „arcanum mercurii vitae […] des tugend die andern drei übertrifft“,166 hat ergeben, dass es nach der Umsetzung von „antimonium“ (Spießglanzerz oder Antimontrisulfid Sb2S3) mit „mercurius essensificatus“ (QuecksilberII-chlorid HgCl2) zur Ausbildung des flüssigen „mercurius vitae“ (Antimontrichlorid SbCl3) kommt.167 Im Gegensatz zu bloßen Destillationsvorgängen beschrieb Paracelsus hier eine echte chemische Reaktion. Weitere Arzneimittelklassen sind die Magisterien, „dass do auszogen wird von den dingen ohn scheidung und ohn elementische praeparierung durch zusätz“.168 Damit meinte Paracelsus Salze, die durch Versetzen von Rohstoffen mit einem flüssigen Medium erhalten werden, also entsteht beispielsweise das „magisterium perlarum“ durch Versetzen von Perlen mit Essigsäure oder ein Metallsalz durch Auflösen des Metalls in einer Mine_____________ 162 Es verhält sich aber nicht so, wie Multhauf, „John of Rupescissa“, S. 366, meinte, dass nur wenig übrig bleibe, wenn man von den Archidoxien das rupescissanische Erbgut wegstreiche, sondern Benzenhöfer, Johannes’ de Rupescissa Liber de consideratione, S. 72–77, konnte eindeutig darlegen, dass der Einfluss von Rupescissas Consideratio auf Paracelsus’ insgesamt gering sei, besonders im praktischen Teil. 163 SW 3, S. 138–152: „de arcanis“. 164 a.a.O., S. 138. 165 a.a.O., S. 139–142. 166 a.a.O., S. 147. 167 Die Vorschrift bei Paracelsus lautet, a.a.O., S. 150: „Und ist der weg mercurii vitae also. rec. mercurium essensificatum, denselben separier von allen seinen uberflüssikeiten, das ist purum ab impuro. Darnach sublimier ihn mit antimonio, dass sie beide aufsteigen und eins werden. Darnach solvier‘s auf dem marmel und coagulier‘s zu dem vierten mal. Jetzt so hast mercurium vitae.“ Vgl. Gerald Schröder: Die pharmazeutisch-chemischen Produkte deutscher Apotheken im Zeitalter der Chemiatrie. Bremen 1957, Nachdruck 1974 (Veröffentlichungen aus dem Pharmaziegeschichtlichen Seminar der Technischen Hochschule Braunschweig, 1), S. 93–96. 168 Paracelsus: Neun Bücher Archidoxis, SW 3, S. 153–168: „de magisteriis“.
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ralsäure. Auch hier handelt es sich wieder um chemische Verbindungen, die durch den alchemischen Prozess entstehen. Die „specifica“169 bewirken eine gezielte therapeutische Wirkung. So nimmt das „specificum anodinum“ die Schmerzen, das „specificum diaphoreticum“ treibt den Schweiß und das „specificum purgativo“ führt ab. Damit waren Arzneimittelklassen mit spezifischer Wirkung geschaffen. Die Elixiere170 sind Erhalter der Gesundheit: „Wir sehen die groß conservatz, die da ist in den elixier […] dann ein elixier ist ein inwendige behalterin des leibs in seinem wesen“.171 Schließlich werden noch die äußerlichen Mittel genannt, die „extrinseca“.172 In den Archidoxien lässt sich somit ein ganzes arzneitherapeutisches System erkennen, das in seiner Art neuartig war. Das Konzept mit den drei Grundprinzipien Sulphur, Merkur und Salz suchen wir in den Archidoxien vergeblich. So fand ein eigentlicher Quantensprung statt, als Paracelsus 1527 seinen Basler Studenten mit aller Selbstverständlichkeit diese drei Prinzipien erklärte. Es ist auch in Basel, wo Paracelsus erstmals einen Fachbegriff für die medizinische Alchemie prägte und diese als „Ars spagirica“,173 „spagirei“,174 „spagiric“175 oder „spagyria“176 bezeichnete. Etymologisch kann man dies etwa von griechisch „spao“ und „agiro“ herleiten, trennen und verbinden, also dem alchemistischen „solve et coagula“, dem „löse und binde“. Mit den Worten des Paracelsus: „Darum so lern alchimiam, die sonst spagyria heißt, die lernet das falsch scheiden von dem gerechten.“177 Man kann nur vermuten, was bei Paracelsus diesen konzeptuellen Umschwung herbeigeführt hatte. Waren es Ideen und Lehren von orientalischen Alchemisten, die Paracelsus auf seinen Reisen kennenlernte? An dieser Stelle soll nur eine erstaunliche Parallelität zwischen den Aussagen des Paracelsus und jenen des Dschafar al Sadiq aus dem 9. Jahrhundert aufgezeigt werden. Dschafar war der Lehrer Dschabirs, also Gebers. Dschafar schreibt: „Die Wurzel des Gesamten ist das reinste Wasser, aus ihm gehen drei Dinge hervor, Seele, Geist und Körper, und daraus bestehen alle Geschöpfe“.178
_____________ a.a.O., S. 169–183: „de specificis“. a.a.O., S. 184–194: „de elixiris“.
169 170 171 172 173 174 175 176 177 178
a.a.O., S. 184. a.a.O., S. 195. a.a.O., S. 115. Paracelsus: Antimedicus, SW 5, S. 463. Paracelsus: Schüleraufzeichnungen zu De Gradibus, SW 4, S. 132. Paracelsus: Opus Paramirum, SW 9, S. 55. a.a.O. Buch des Sendschreibens Gafar alSadiqs über die Wissenschaft der Kunst und des edlen Steins, in: Ruska, Julius: Arabische Alchemisten. Bd. 2: Ga’far Alsadiq, der sechste Imam. Heidelberg 1924, S. 67.
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Dieses Zitat aus dem 9. Jahrhundert ist die früheste Nennung von drei konstituierenden Prinzipien. Die Übereinstimmung geht noch weiter, wenn Paracelsus festhält: „Ein jedlich element steht in dreien dingen: in mercurio, sulphure und sale. Also sind vier mercurii, vier sulphura, vier salia.“179
Während es bei Dschafar heißt: „Mein Sohn, mache deinen Körper angenehm und deine Seele wohlriechend beim Anfang der Behandlung, so wirst du die drei Grundpfeiler erfassen; denn in ihnen sind alle vier Naturen, von denen jegliches Geschaffene stammt.“180
Diese Textvergleiche lassen es zumindest plausibel erscheinen, dass Paracelsus von einer mündlichen arabischen Tradition der Alchemie beeinflusst war, mit der er auf seinen Reisen in den Orient in Kontakt gekommen sein mochte. Wenn wir von medizinischer Alchemie gesprochen haben, so soll noch ein weiterer Aspekt gestreift werden, der für Paracelsus typisch war. Dieser betrifft den Versuch, Körpervorgänge mit alchemischen Prozessen zu erklären. Ich möchte dies als physiologische Alchemie bezeichnen.181 Paracelsus nimmt Bezug auf die Rückflussdestillation des Weingeists, wie wir beispielsweise bei Rupescissa gesehen haben. Genauso, wie der Alkohol im „circulatorium“ kreist, so kreisen die Säfte in den Lebewesen: „Wie die alchimisten in circulatorio oder pellicano circulieren den spiritum vini, also circuliert auch das astrum aestivale, das liquidum in den natürlichen gewechsen.“182
Den Alchemisten im menschlichen Körper, der dies alles steuert und vollbringt, bezeichnet Paracelsus als Archäus: „Der archäus, der inwendig vulcanus hernach, der weiß zu zirculiern und präpariern nach den stücken und austeilung, wie die kunst in ihr selbs vermag mit sublimiern, distilliern, reverberiern etc.“183
Das Laboratorium im menschlichen Körper lässt sich genau lokalisieren: „Nun ist der magen der alchimist“,184 denn die Form des Magens lässt _____________ 179 Paracelsus: Elf Traktat von Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten, SW 1, S. 11. 180 Ruska, Arabische Alchemisten, S. 70, ebenfalls erwähnt bei Stapleton, H. E. und R. F. Azo: „An Alchemical Compilation of the Thirteenth Century, A.D.“ In: Memoirs of the Asiatic Society of Bengal 3 (1910), S. 57–94, S. 79: „The writer proceeds to state that the Art consists of the combination of the three ‘Pillars’, ‘Body’, ‘Soul’ and ‘Spirit’, for in them are the four elements of which every created thing is formed.“ 181 Urs Leo Gantenbein: „Paracelsus und seine physiologische Alchemie in St. Gallen.“ In: Alchemie in St. Gallen, hrsg. von Thomas Hofmeier u.a. St. Gallen 1999, S. 13–18. 182 Paracelsus: Von den Natürlichen Dingen, SW 2, S. 195. 183 Paracelsus: Labyrinthus medicorum errantium, SW 11, S. 188.
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unweigerlich an eine Retorte denken. Dieser Alchemist ist die „scheidend kraft im magen“,185 er trennt die Nahrung auf, scheidet das Unbekömmliche vom Guten: „das gift in sein sack, das gute dem leib“.186 „So hat gott uns ein alchimisten gesetzt, dass das gift, das wir unter dem guten einnehmen, nicht als ein gift verzehren, sonder dasselbig vom guten scheiden. Was wir euch von diesem alchimisten erzählen, das sollt ihr wohl vermerken.“187
Zweck der physiologischen Alchemie des Paracelsus ist es also, die Nahrung zu verdauen, das Unbekömmliche abzutrennen und auszuscheiden und das Gute zu assimilieren und in Körpersubstanz umzuwandeln. Weiter entwickelte Paracelsus eine Krankheitslehre, die auf den drei Prinzipien Sulphur, Merkur und Salz basiert und als solche keine mittelalterlichen Vorläufer aufweist. Wir finden das vorwiegend im Opus Paramirum, jenem Werk, das Paracelsus 1530/1531 in St. Gallen geschrieben hatte.188 Er beschreibt hier drei Arten von Krankheiten, „ein genus ex sale, eins ex sulphure, eins ex mercurio“.189 In den drei Prinzipien stehen Gesundheit und Krankheit des Menschen. Der Mercurius kann durch zu große Hitze aufsteigen und so zu Krankheiten führen, sei es durch Destillation, Sublimation oder Präzipitation.190 Auch das festigende Salzprinzip kann im Körper Schaden nehmen, nämlich durch Resolution, Kalzination, Reverberation und Alkalisation.191 Der formgebende Sulphur hingegen wird durch die vier Elemente angegriffen, wodurch Krankheiten entstehen, die _____________ 184 Paracelsus: Paragranum, Aufzeichnungen zum 1. und 3. Abschnitt, SW 8, S. 123. 185 Paracelsus: Opus Paramirum, SW 9, S. 137. 186 Paracelsus: Elf Traktat von Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten, SW 1, S. 190. 187 a.a.O. 188 Vgl. Gantenbein, „Paracelsus und seine physiologische Alchemie“. 189 Paracelsus: Von den ersten dreien Principiis oder Essentiis, SW 3, S. 6. Paracelsus fährt fort: „ex sale in der gestalt: ein jedlicher morbus laxus wird ex sale generiert, als fluxus ventris, dysenteria, diarrhoea, lienteria etc. ... Nun ex mercurio kommen alle die krankheiten, so in arteriis liegent, ligamentis, articulis, ossibus, nervis etc. […] der sulphur lindert membra interiora, scilicet cor, hepar, cerebrum, renes etc., und deren krankheiten sollen sulphurisch geheißen werden.“ 190 a.a.O., S. 101. Paracelsus gibt ein Beispiel für einen schwachen Mercurius, a.a.O., S. 103: „Also in starken complexionen, da tägliche völle oder übernatürliche übung ist oder ein solcher stern, der sich gleich halt, wie gesagt ist, da bewegt sich der ganze leib, das ist, alle seine glieder sind in der hitz. Dardurch kommt nun, dass sich der ganz mercurius auf und ab erhebt, distilliert hin und wider im leib, gleich wie in eim pelicanen. Und so er kommt in sein höchsten gradum, alsdann so macht er sein nequitiam, das ist, wenn er‘s so lang treibt und so lang gesubtiliert wird, es sei im distillieren inwendig im leib oder sublimieren oder praecipitieren, dass er kommt auf die höchst essentiam, so wird er verstoßen von seim stuel, das ist des leibs krankheit und gegenwärtiger tod. Dann vor der zeit tut er‘s nit, er hat ein weil zu steigen, zu circulieren, zu praeparieren, bis er an das höchst kommt, alsdann falt er zum niedersten.“ 191 a.a.O., S. 105.
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mit Hitze, Trockenheit, Kälte und Feuchtigkeit einhergehen.192 Solche Spekulationen zur Alchemie des menschlichen Körpers waren nicht weniger einflussreich als die paracelsische Heilmittellehre. Sie führten im 17. Jahrhundert zur Entwicklung der sogenannten Iatrochemie, die Lebensvorgänge mit Fermentationen, Destillationen usw. erklären wollte und in ihren Auswirkungen bis zur heutigen physiologischen Chemie und Biochemie.193 Die Vorstellungswelt der Alchemie hatte natürlich auch ihre Wirkung auf den Theologen Paracelsus, wovon hier am Schluss dieser Ausführungen ein Beispiel gegeben werden soll. In den Vita-Beata-Schriften nimmt Paracelsus den metallurgischen Läuterungsprozess des Goldes im Feuer als Metapher für die Läuterung des Auferstehungsleibs. Das unreine Gold wird mit Blei und Antimonerz verschmolzen und schließlich im Scheidewasser getrennt: „Nichts ist gold als allein, das von allen schlacken gereinigt ist und durch das feur in blei gangen ist und durch das spießglas gossen und gefiniert im aquafort.“194
Hier knüpft Paracelsus an und spinnt weiter, dass wenn das natürliche Gold solcher Scheideprozesse bedarf, um rein zu werden, so muss der menschliche Leib noch vielmehr im Feuer gereinigt werden: „So nun das die proben seind eines natürlichen golds, so ist es uns auch ein exempel, dass auch dermaßen proben müssen sein im leib der uferstehung, dass do weit über den schlacken ein irdisch leib werd sein, und vielmehr des feurs im blei, im schmelzen, im aquaforten, im spießglas bedürfen wird, uf dass es lauter und klar werd.“195
Wie bei der Spagyrik geht es dabei nicht um einen Umwandlungsprozess, sondern um einen Scheideprozess, der das latent vorhandene Reine vom Unreinen trennt: „Nit dass das unlauter lauter werd, nit dass der kot gut werd, sunder unlauter bleibt unlauter, kot bleibt kot. Aber das perlin, das darin ist, dasselbig wird fürher 196 gohn, dasselbig ist dieses, das glorifiziert heißt.“
Mit diesem Ausblick auf die spirituelle Alchemie des Paracelsus, die einer eigenen Abhandlung bedürfte, soll hier geschlossen werden.
_____________ 192 a.a.O., S. 108f. 193 Vgl. z.B. Walter Pagel: Joan Baptista van Helmont. Reformer of Science and Medicine. Cambridge MA, 1982; Allen George Debus: Chemistry and Medical Debate: Van Helmont to Boerhaave. Canton, MA, 2001. 194 Paracelsus: Vita Beata, Neue Paracelsus-Edition, Bd. 1, S. 452. 195 a.a.O. 196 a.a.O.
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Im Spannungsfeld von Medizin, Politik, Religion und Wirtschaft: Heinrich Stromer von Auerbach (1476–1542) Ingrid Kästner
Abstract Heinrich Stromer von Auerbach ist den Medizinhistorikern vor allem als Gegenspieler des Paracelsus bekannt, der beim Streit um die Wirksamkeit des Guajak-Holzes in der Syphilis-Therapie als Dekan der Leipziger Medizinischen Fakultät über den Nürnberger Rat den weiteren Druck der Werke des Paracelsus unterbunden und damit den Fuggern den einträglichen Guajak-Handel gerettet haben soll. Stromer von Auerbach war jedoch eine Persönlichkeit, die in der Universitäts- und Messestadt Leipzig eine bedeutende Rolle spielte – als Arzt, als Universitätslehrer, Rektor und Ratsmitglied. Als Arzt vertrat Stromer die medizinischen Auffassungen seiner Zeit und genoss hohes Ansehen als Leibmedicus mehrerer Fürsten. Er stand in persönlichem bzw. brieflichem Kontakt mit bedeutenden Humanisten wie Ulrich von Hutten oder Willibald Pirckheimer und ergriff in der Reformationszeit, aus Anlass der Leipziger Disputation, als einer der ersten Leipziger Honoratioren Partei für Martin Luther. Doch bewies er auch ausgeprägten Geschäftssinn mit dem Bau eines großen Handelshofes samt Weinkeller („Auerbachs Keller“).Heinrich Stromer von Auerbach erscheint daher heute als eine der vielseitigen und kraftvollen Persönlichkeiten der Reformationszeit, die wissenschaftliche und politische mit geschäftlichen Interessen zu verbinden wussten.
Summary Most historians of medicine only know Heinrich Stromer von Auerbach as one of Paracelsus’s opponents, who fiercely fought against Paracelsus’s views on the cure of syphilis. Being the dean of the Medical Faculty at the well-known Leipzig University, he used his influence with the Council of
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Nuremburg and prohibited the printing of Paracelsus’s books, and, consequently, is said to have thus saved the Fugger family’s profitable Guajak trade. In the city of Leipzig, famous for its trading fairs and its university, Stromer von Auerbach was regarded as an important personality. He was known as an excellent medical doctor and university lecturer; he even became vice chancellor and eventually served on the city council. As a doctor he represented the medical views (concepts) of the time and enjoyed a high reputation being the personal medicus of several princes. He knew personally or exchanged letters with prominent humanist thinkers like Ulrich von Hutten or Willibald Pirckheimer, and he was one of the first of the Leipzig dignitaries to side with Martin Luther. Also, Stromer von Auerbach was a clever businessman who built a huge trade court building with a large wine cellar (“Auerbachs Keller”). Today, Stromer von Auerbach is regarded as one of the most versatile and forceful personalities of the sixteenth century who combined both scientific and political activities with economic interests. Jeder, der sich mit Paracelsus beschäftigt oder eine Lebensbeschreibung von Paracelsus liest, stößt bei der Erwähnung der Syphilisschriften und dem damit verbundenen Druckverbot auf den Namen Heinrich Stromer von Auerbach als Widersacher von Paracelsus. Meist wird erwähnt, dass Heinrich Stromer das Druckverbot beim Nürnberger Rat erwirkte, da sich Paracelsus gegen den Gebrauch des Guajakholzes ausgesprochen und so die am Import des teuren Holzes gut verdienenden Fugger geschädigt hatte. Doch mehr lässt sich in den meisten Abhandlungen über Heinrich Stromer von Auerbach nicht erfahren, und auch die Aussage zum Druckverbot wird gelegentlich relativiert. So schreibt Edwin Rosner: „Die wichtigsten der Paracelsischen Syphilisschriften1 sind indessen die Nürnberger, von denen zwei gedruckt wurden, […] Vom Holz Guajaco gründlicher Heilung und Von der französischen Krankheit drei Bücher; der Druck des dritten: Von Ursprung und Herkommen der Franzosen samt der Recepten Heilung, acht Bücher, wurde vom Nürnberger Rat untersagt. […] Das Druckverbot wird im Allgemeinen auf die Intervention der Fugger […] bei der Leipziger Medizinischen Fakultät zurückgeführt, doch dürfte dies wohl, wenn überhaupt, nicht die einzige Ursache gewesen sein.“2
_____________ 1
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Die Bezeichnung Syphilis für die Lues (Lues = allgemein für "Seuche", "Pest", auch "Lustseuche", Bezeichnung für die verbreitete "Franzosenkrankheit" oder "spanische Krankheit") hatte sich erst seit Girolamo Fracastoros (1478–1533) Lehrgedicht Syphilis, sive morbi gallici, libri tres (Verona: ad Petrum Bembum 1530) nach dem Namen des mit der Krankheit geschlagenen Hirten Syphilos eingebürgert. Edwin Rosner: „Die medizinischen Schriften des Paracelsus“. In: Paracelsus (1493–1541). „Keines andern Knecht …“. Hrsg. von Heinz Dopsch, Kurt Goldammer und Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 81–88 (hier S. 86).
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Immerhin bedeutete dieses Verbot, dass für die medizinischen Schriften von Paracelsus im gesamten deutschen Reich ein Druckverbot gelten sollte, denn der Nürnberger Senat fungierte als Zensurbehörde für das Reich. Wer aber war Dr. Heinrich Stromer von Auerbach, dem man die Absicht und die Beziehungen zutraute, von Leipzig aus mittels der Nürnberger Ratsherren über Druckgenehmigungen zu entscheiden und damit Zensur auszuüben?
Abb. 1: Dr. Heinrich Stromer von Auerbach. Kupferstich eines unbekannten Künstlers (16. Jh.)
Heinrich Stromer war gebürtiger Oberpfälzer; den Namen seiner Geburtsstadt Auerbach, wo er 1476 (nach anderen Angaben 14793 oder auch 14824) das Licht der Welt erblickte, fügte er seinem Namen hinzu. Er _____________ 3 4
Konrad Händel: Die Vorfahren der Geschwister Paul, Elisabeth, Margarete und Johanna Händel. Straubing 1939 (Manuskriptdruck), S. 286f. zur Familie Stromer von Auerbach. Gustav Wustmann: Der Wirt von Auerbachs Keller. Leipzig 1902. Die Angabe 1482 ist mit Sicherheit unrichtig, da man beim Erwerb des Bakkalaureats mindestens 17 Jahre alt sein musste, und diesen Grad erwarb Stromer im Jahr 1498; auch konnte man erst mit 21 Jahren Magister werden.
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entstammte einer angesehenen Patrizierfamilie, deren Vorfahren aus Nürnberg stammten. Heinrichs Vater, Johann Stromer, war Kaufmann und Bürgermeister zu Auerbach. So erhielt der Sohn eine ausgezeichnete Bildung und konnte sich 1497 unter dem Rektorat von Johannes Brunckow aus Stendal an der Universität Leipzig immatrikulieren. Hier wurde Stromer im Wintersemester 1498 Baccalaureus und erwarb im Wintersemester 1501 den Magistergrad. Er blieb als Dozent an der Universität und lehrte nachweislich vom Sommersemester 1502 bis zum Wintersemester 1505 sowie vom Sommersemester 1507 bis zum Wintersemester 1508 an der Philosophischen Fakultät, ebenso im Wintersemester 1509 und 1512. Wahrscheinlich begann er 1506 mit dem Studium an der Medizinischen Fakultät.5 Im Sommersemester 1508 finden wir Stromer von Auerbach für ein Semester als Rektor der Universität, und 1511 wird er zum Doctor medicinae promoviert. Die zeitweise Übernahme des Amtes des Universitätsrektors durch den Magister Stromer ist nicht erstaunlich, da seit Gründung der Leipziger Universität im Jahre 1409 Universitätsangehörige, die den Magistergrad erworben hatten, für ein Semester Rektor werden konnten. Unter welchen Bedingungen lehrte und lernte man zu dieser Zeit in Leipzig? An der 1409 gegründeten Leipziger Universität hatte sich 1415 ein Collegium medicum aus neun Magistern als „facultas medicinae studii Lypzensis“ mit eigenen Statuten konstituiert, aber erst 1438 erfolgte durch Kurfürst Friedrich II. und Herzog Wilhelm gemeinsam mit Bischof Johannes von Merseburg die Stiftung zweier medizinischer Professuren: eine für Pathologie (theoretische Medizin) und eine für Therapie (praktische Medizin). Beim Ausscheiden des Professors für Therapie rückte der Professor für Pathologie nach in die höher angesehene Stellung, die zugleich mit dem Dekanat auf Lebenszeit verbunden war.6 Stromer, der sich lieber Dr. Auerbach nennen ließ, erhielt 1516 die Professur für Pathologie. Die medizinische Ausbildung an der Fakultät bestand nach wie vor nur aus Vorlesungen und Kommentaren zu den Schriften der medizinischen Autoritäten, und die Zahl der Medizinstudenten und die „Lehrfreudigkeit“ waren gering, da die Lehrenden aufgrund der geringen Besoldung auf eine Privatpraxis angewiesen waren. Das geringe Niveau der medizinischen Kenntnisse und des wissenschaftlichen Meinungsstreites zeigte sich auch im „Leipziger Syphilisstreit“ (1498–1501) zwischen Martin Pollich aus Mellerstedt, später erster Rektor der Wittenberger Universität, der einen Einfluss der Gestirne auf den Verlauf des „Morbus gallicus“ bestritt, _____________ 5 6
Sabine Fahrenbach: „Heinrich Stromer von Auerbach. Zum 525. Geburtstag im Jahre 2007“. In: Jubiläen 2007. Personen/Ereignisse. Leipzig 2007, S. 107–111. Ingrid Kästner und Achim Thom (Hrsg.): 575 Jahre Medizinische Fakultät der Universität Leipzig. Leipzig 1990, S. 10–13.
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und Simon Pistoris, der die Konstellation der Planeten für den entscheidenden Faktor hielt.7 Im Jahr 1502 war durch die Gründung der Universität Wittenberg sogar das Weiterbestehen der Leipziger Hohen Schule bedroht, weshalb der albertinische Herzog Georg der Bärtige von Sachsen, den die Nachricht von der Wittenberger Gründung in Leipzig erreichte, eine Überprüfung der Universitätsverhältnisse anordnete. Er schickte Rektor und Dozenten in Klausur und verlangte nicht nur eine ehrliche Beschreibung der Situation, sondern auch Verbesserungsvorschläge. Die 45 überlieferten Gutachten8 zeigen die gravierenden Missstände an der Universität auf – vom „Unfleiß“ der Magister, sozialer und rechtlicher Ungleichheit im Lehrkörper bis zu Cliquenwirtschaft und Streitigkeiten mit dem Magistrat. Neben der geäußerten heftigen Kritik wurden auch Forderungen erhoben, z.B. „… es sollten auch die doctores vier mall im jar disputieren und dar zcu eyn itzlicher doctor im jar eyn mall eyn repeticion halden in seiner materie, die er list, man solde auch keinen in baccalarium, licentiatum oder doctorem promoviren, er hette den vormals genugsam gehort, und nach antzeygung gelesen, das er nicht mit schaden der leutte eyn artzt wurde. Man solde auch alle dry jar machen eyne anathomia, das ist ein gantzliche zcugliderung aller gelider der menschen, dadurch man erlernet alle inwendige geshcicklickeyt der menschen, und welcher das nicht gesehen hath ist nicht an grosse fahre der lewtte eyn artzt …“9 Besonders harsch war die Kritik von Heinrich Stromer von Auerbach, der sich als damals junger Magister gegen die alten Dozenten wandte, die seiner Meinung nach alleine ihren eigenen Vorteil liebten und keine gelehrten jungen Magister nach Verdienst oder Stand erwählen wollten. Wohl als Reaktion darauf ernannte Herzog Georg 23 Magister zu Professoren. Trotz aller Missstände war auch in Leipzig eine neue Zeit angebrochen, was sich sogar beim Syphilis-Streit zeigte, der allerdings höchst unsachlich und gespickt mit persönlichen Diffamierungen geführt wurde, aber auch die ungeheure Belesenheit und humanistische Bildung vor allem von Martin Pollich, einem Anhänger von Niccolò Leoniceno, bewies. Bereits 1462, mit der Antrittsrede von Peter Luder, dem Lehrer der Dichtkunst, hatte in Leipzig der Frühhumanismus Einzug gehalten, und 1486 kam Konrad Celtis von Erfurt nach Leipzig. Gefördert wurde die _____________ 7 8 9
Zum Syphilisstreit siehe ausführlich bei Karl Sudhoff: Die medizinische Fakultät zu Leipzig im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Leipzig 1909, S. 145–151 (Studien zur Geschichte der Medizin; 8). Hauptstaatsarchiv Dresden, Sign. Locat 10596. E[mil] Friedberg: Die Universität Leipzig in Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig 1898, S. 115f. (Bei Friedberg sind alle 45 erhaltenen Gutachten wiedergegeben).
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neue Bewegung durch die enge Verbindung mit dem Buchdruck, denn schon der erste Leipziger Drucker, Markus Brandis, druckte für den Lehrbetrieb der Universität, und alleine in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts erschienen in Leipzig über 1800 Titel, von Grammatiken, Praktiken, Wörterbüchern und Briefstellern bis zu zahlreichen KlassikerAusgaben, vor allem Cicero, Horaz, Seneca und Terenz. Nach 1500 war Melchior Lotter d.Ä. Verleger der wichtigsten Autoren des deutschen Humanismus.10 Heinrich Stromer von Auerbach erwarb sich sehr bald einen ausgezeichneten Ruf als Arzt, war offenbar auch ein guter Lehrer und unterhielt darüber hinaus eine umfangreiche Korrespondenz mit den bedeutendsten Humanisten seiner Zeit. Als wissenschaftlicher Schriftsteller trat er zunächst nicht auf dem Gebiet der Medizin hervor. Bereits 1504 hatte er ein Rechenbuch Algorithmus linealis verfasst, das mehrfach nachgedruckt wurde. Um 1515 zählte Stromer auch zu den Dozenten, die mathematische Vorlesungen hielten. Es gab zu dieser Zeit vielfältige Verbindungen zur Universität Erfurt, zu den höheren Schulen der Städte und zu den Rechenmeistern der Region, sodass ein beachtlicher Austausch mathematischer Kenntnisse erfolgte.11 Das eigentliche Gebiet, auf dem Stromer erfolgreich wirkte, war freilich die Medizin. Diese vertrat er offenkundig so überzeugend, dass unter seinem Einfluss Georg Pawer (Bauer), der auf den Ratschlag seines Lehrers der alten Sprachen, Petrus Mosellanus, seinen Namen in Georgius Agricola latinisiert hatte, 1522 noch ein Studium der Medizin in Leipzig begann. 1523 ging Agricola nach Bologna und Padua, um 1524 in Venedig in der Officin Aldus Manutius die Galen-Ausgabe zu bearbeiten.12 Im Jahr 1516 wurde Stromers erste medizinische Schrift, ein Pestregiment, in Leipzig gedruckt, und zwar erschien es sowohl in einer deutschen Erstauflage13 als auch kurz danach in zwei lateinischen Auflagen und einer weiteren deutschen Auflage. Es war in der ersten Hälfte des 16. _____________ 10 11
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Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig. Leipzig 1984, S. 36. Hans-Joachim Girlich und Karl-Heinz Schlote: Die Entwicklung der Mathematik an der Universität Leipzig. Geschichte der Universität Leipzig (1409–2009). Siehe http://www.math.uni-leipzig.de/preprint/2007/p1-2007.pdf (letzter Zugriff am 10.03.2010). Dies.: „Mathematik“. In: Geschichte der Universität Leipzig (1409–2009). Band 4/2: Fakultäten, Institute und Zentrale Einrichtungen. Leipzig 2009, S.1049–1091. Agricola kehrte 1526 nach Deutschland zurück (nach Chemnitz) und ließ sich als Arzt und Apotheker in Sankt Joachimsthal (jetzt Jáchymov, auf der tschechischen Seite des Erzgebirges) nieder. 1531 wurde er Stadtarzt in Chemnitz und mehrfach Bürgermeister. Im Erzgebirge studierte er das gesamte Hüttenwesen (De re metallica. Basileae M.D.LVI). Als Universalgelehrter – umfassend humanistisch und technisch gebildet – zählt man ihn heute zu den Gründervätern der Geowissenschaften. Heinrich Stromer von Auerbach: Regiment ... inhaltendt wie sich wid[er] die pestile[n]tz tzubeware[n]/ auch den ihenen die damit begriffen hilff tzureiche[n]. Leipzig 1516.
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Jahrhunderts eines der populärsten Pest-Traktate. Bis zur Jahrhundertmitte kamen noch sieben weitere Ausgaben oder Teilausgaben auf den Markt. Dabei bietet diese Pestschrift, verglichen mit anderen zeitgenössischen Traktaten, nichts Neues. Stromer beschreibt als typische Anzeichen der nahenden Pest gewisse Wetterkonstellationen, erschreckende Himmelszeichen („fliegende feurige stern“) oder auch eine große Anzahl „gifftiger thier“, die aus ihren Schlupflöchern hervorkommen. Weiß man diese Zeichen zu deuten, sollte man am besten rechtzeitig die Flucht ergreifen und sich an Orte mit gesunder, reiner Luft begeben. Könne man dies jedoch nicht, so verwende man Rosenwasser und Sandelholz zum Reinigen der Luft. In fast allen Pestschriften der Zeit gibt man auch einen Ersatz für die Armen an, die sich teure Mittel nicht leisten können, und so ist es nach Stromer für diese Menschen hinreichend, Rosenwasser mit Essig zu mischen und damit ihre Stuben zu besprengen. Noch lange galt bei Ausbruch der Pest die alte Devise: „Fuge, fuge cito, longe, tarde“ („Fliehe, fliehe schnell und weit und für lange Zeit!“). Wenn also Daehne schreibt, es befremde, „dass der angesehene Arzt 1520 vor der Pest nach Altenburg ausriss und seine Patienten im Stich ließ“,14 so war das zu jener Zeit nicht befremdlich, sondern eine auch von anderen Ärzten geübte Praxis – wie wäre es sonst zu erklären, dass man 1517 für das Leipziger Georgenhospital eine Stelle für einen Arzt stiftete, der sich aber explizit verpflichten musste, auch in Pestzeiten Leipzig nicht zu verlassen.15 Dr. Stromer von Auerbach wurde von mehreren Fürsten in ihre Dienste genommen. Er war nicht nur Leibarzt des Herzogs Georg von Sachsen und des Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen, des Weisen, sondern auch der Bruder Joachim I., Kurfürst von Brandenburg, und Albrecht II., des Kurfürsten, Erzbischofs von Mainz und späteren Kardinals (1518). Albrecht hatte 1517, um seine Schulden bei den Fuggern abtragen zu können, gegen Überlassung der Hälfte des Ertrags den Vertrieb des von Leo X. im Jahre 1514 erneuerten Plenar-Ablasses übernommen. Die _____________ 14 15
Paul Daehne: 1530–1930. Auerbachs Keller, Auerbachs Hof, Mädler-Passage. Leipzig 1930, S. 14. Vgl. Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden: – Darinnen so wohl die Geographisch-Politische Beschreibung des Erd-Kreyses … – Wie nicht weniger die völlige Vorstellung aller in den Kirchengeschichte berühmten AltVäter … – Endlich auch ein vollkommener Inbegriff der allergelehrtesten Männer … enthalten ist bearb, von Johann Heinrich Zedler]. Bd. 16, Halle und Leipzig 1737, Sp. 1688. Hier heißt es: „In eben diesem Jahre [1517, I.K.] ward auch ein Gestiffte vor einen Medicum im Georgen=Spitale gemacht, und dabey zugleich ausgedungen, daß er auch in Pest=Zeiten da bleiben sollte.“
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Methoden seines Agenten, des Dominikaners Johann Tetzel, gaben den Anlass für Martin Luthers 95 Thesen. Tetzel predigte im katholischen Leipzig, erregte aber auch Unwillen: „Sonst war in diesem und folgenden Jahre der bekannte Tetzel aber Mahls in Leipzig, und trug sich sonderlich im 1517. Jahre dieses merckwürdige dabei zu, daß Johann Camerarius, welcher zu der Zeit in Leipzig studirte, und George Held, aus der Paulliner=Kirche, worinnen Tetzel seinen Ablaß=Kram ausgelegt hatte, mit diesem Bedeuten fortgiengen: wie sie ihn nicht länger anhören könnten.“16 Kurfürst Albrecht II. war ein hochgebildeter, den Humanismus fördernder Fürst, der jedoch – zur großen Enttäuschung Luthers – sich nach anfänglichen Vermittlungsversuchen 1525 an der Gründung des antilutherischen Dessauer Bundes beteiligte.17 Für Luthers reformatorisches Auftreten hatte der Fürst und Kardinal keinerlei Verständnis, da er „viel zu sehr Renaissancemensch, Kunstmäzen und Humanistenfreund“ war.18 Dr. Stromer von Auerbach konnte sich aufgrund seiner hochrangigen Patienten „Kurfürstlich-brandenburgischer, kursächsischer, erzbischöflich magdeburg-mainzischer Leibmedikus“ nennen. Daraus erwuchs auch die Verpflichtung, seine Patienten auf Reisen zu begleiten. So nahm er 1518 mit seinem Herrn, dem Kurfürsten und Erzbischof zu Mainz, am Reichstag zu Augsburg teil, auf dem Albrecht von der Kurie zum Kardinal erhoben wurde. Im Gefolge des Mainzers befand sich auch Ulrich von Hutten, den Stromer von Leipzig her kannte. Hutten hatte in Leipzig studiert, sich hier wahrscheinlich 1508 mit der Syphilis infiziert und die Stadt überstürzt verlassen. Inzwischen war Hutten nach Studien in Italien in den Dienst des Mainzer Erzbischofs getreten und war – kurz nach dem Erscheinen der „Dunkelmännerbriefe“ (Epistolae obscurorum virorum, 1515–1517) – im Jahr 1517 in Augsburg von Kaiser Maximilian I. zum „Poeta laureatus“ gekrönt worden. Doch bald geriet er wegen seines ungestümen Dranges, gegen die „Tyrannei des römischen Papsttumes“ nicht nur mit der Feder, sondern auch mit Waffen zu kämpfen, in die Reichsacht, musste nach dem Tode seines Protektors Franz von Sickingen Zuflucht bei Ulrich Zwingli suchen und starb bald vereinsamt an der Syphilis. Ulrich von Hutten hatte nach langer, vergeblicher und furchtbar schmerzhafter Anwendung von Arsenik, Kupfervitriol, Salpetersäure, _____________ 16 17
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Ebd. Dieser nur kurzlebige Fürstenbund wurde nach der Schlacht bei Frankenhausen, in der die aufständischen Bauern unter Führung von Thomas Müntzer (um 1490–1525) eine verheerende Niederlage erlitten hatten, am 19. Juli 1525 in Dessau als Bündnis gegen die Reformation geschlossen. Friedrich Wilhelm Bautz: „Albrecht von Mainz“. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Band I. Nordhausen 1990, Spalte 92f. Siehe auch http://www.bbkl.de/a/albrecht_v_mai.shtml (letzter Zugriff am 10.03.2010)
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Quecksilber – damals gebräuchliche Syphilis-Therapeutika – gegen seine schwere Krankheit das Guajakholz19 verwendet und dadurch nach „schrecklichen Martern“ durch die „wie vom Himmel kommende Wirkung des Guajak“20 endlich Linderung verspürt. Huttens genaue und ehrliche Beschreibung des Krankheitsverlaufes, der Torturen durch die Therapieversuche und der heilsamen Guajakwirkung in seinem 1519 erschienenen Buch De Guaiaci Medicina Et Morbo Gallico hatte dem Holz eine unerhörte Verbreitung und den das Handelsmonopol besitzenden Fuggern ein großartiges Geschäft beschert. In der umfangreichen Korrespondenz des Dr. Stromer von Auerbach finden sich mehrfache Hinweise, dass auch er von der Wirksamkeit des Guajakholzes bei verschiedenen Krankheiten überzeugt war, und aller Wahrscheinlichkeit nach ist Stromer der behandelnde Arzt Ulrich von Huttens gewesen. Beim Reichstag in Augsburg konnte Hutten nicht aktiv am Geschehen teilnehmen, da er sich zu dieser Zeit nämlich auf Empfehlung Stromers einer Kur unterzog, die ihn zum Aufenthalt in einem geschlossenen Raum nötigte.21 Es war nach Sticker22 diese Kur mit Guajakholz, nach der sich Hutten irrtümlicherweise geheilt fühlte. Es nimmt nicht wunder, dass sich im Briefwechsel Stromers mit den bedeutendsten Humanisten seiner Zeit neben der Erörterung wissenschaftlicher, politischer und weltanschaulicher Fragen auch medizinische Ratschläge finden. So empfiehlt Stromer 1525 in einem Brief an Willibald Pirckheimer diesem gegen sein Podagra, an dem er seit dem 42. Lebens_____________ 19
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Der Guajakbaum, zu den in den Tropen und Subtropen verbreiteten Jochblattgewächsen (Zygophyllaceae) gehörend, kommt auf den Antillen und Bahamas, in Guayana, Kolumbien, Panama und Venezuela vor. Von dem immergrünen Baum mit lederartigen Blättern und blassblauen Blütendolden wurden das getrocknete, grünlich- bis dunkelbraune Kernholz und das gelblich-weiße Splintholz von "Guajacum officinale L." und "Guajacum sanctum L." ("Lignum sanctum", „Heiligenholz“) vor allem gegen die "Franzosenkrankheit" Syphilis eingesetzt (daher auch der volkstümliche Name "Franzosenholz"), später auch als "Pockenholz" unter anderem bei Hautleiden verwendet. Im Laufe der Zeit entwickelte es sich zu einer Art Allheilmittel, das auch noch bei Rheumatismus, Gelenkentzündungen, Asthma, Tuberkulose und Malaria verabreicht wurde. Auch heute noch werden in der Phytotherapie Zubereitungen aus Guajakholz verwendet wegen der nachgewiesenen entzündungshemmenden, fiebersenkenden und schleimlösenden Wirkung seiner Inhaltsstoffe (Phytosterole, Triterpensaponine). Ulrich von Hutten: De Guaiaci Medicina Et Morbo Gallico Liber Unus. Mainz 1519, S. 281. Heiko Wulfert: Die Kritik an Papsttum und Kurie bei Ulrich von Hutten (1488–1523). Berlin 2009, S. 141 (Rostocker Theologische Schriften; 21). Georg Sticker: „Ulrich von Huttens Buch über die Franzosenseuche als heimlicher Canon für die Syphilistherapie im 16. Jahrhundert“. In: Archiv für Geschichte der Medizin 3 (1910), S. 197–222. Siehe auch Thomas G. Benedek: „The Influence of Ulrich von Hutten’s Medical Description and Metaphorical Use in Medicine“. In: Bulletin of the History of Medicine 66 (1992), S. 355–375.
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jahr litt,23 den Sud von Guajakholz nach vorheriger Entschlackung bei gleichzeitiger Diät. Pirckheimer solle nur wenige Medikamente und wegen der Nebenwirkungen nicht zu oft Pillen nehmen; er solle lieber Diät halten und seltener Abführmittel anwenden.24 Alle diese Ratschläge sind bei Podagra oder Gicht, einer Stoffwechselkrankheit, auch heute noch sinnvoll. Wenn man bedenkt, in welch turbulenter Zeit diese Korrespondenz stattfand, so lässt sich denken, dass die Briefe auch außerordentlich interessante Einblicke in die politische Situation und die Glaubenskämpfe der Zeit erlauben. Anfang Dezember 1520 schreibt Pirckheimer einen langen Brief25 an Stromer über den Streit mit Johannes Eck, über dessen Willkür und Verleumdungen. Johannes Eck, seit 1510 Professor der Theologie an der Universität Ingolstadt, einem Zentrum der Gegenreformation, war ein erbitterter Gegner Martin Luthers. Nach zunächst schriftlich ausgetragener Fehde organisierte die Universität Leipzig vom 27. Juni bis zum 16. Juli 1519 auf der Pleißenburg die berühmte Leipziger Disputation, auf der Eck vehement die Lehrautorität des Papstamtes und der Konzilien verteidigte und bei der Petrus Mosellanus in seiner Eröffnungsrede vergeblich zu vermitteln suchte. Der Hauptdisput behandelte die Freiheit des menschlichen Willens als der zulässigen oder verwerflichen Basis für den Ablass. Stromer stand auf der Seite der Reformatoren um Luther und Andreas Karlstadt (Andreas Rudolff-Bodenstein von Karlstadt), was zu dieser Zeit in Leipzig noch ungewöhnlich war, da der Herzog sich bereits gegen Luther gewandt hatte und den katholischen Glauben bewahren wollte. Eck hatte für das Streitgespräch selbst Leipzig gewählt als eine nicht der Reformation anhängende Stadt samt Universität. Während der Disputation war Luther Gast im Hause Stromers. 26 Luther schrieb dazu wenig später: „Die Leipziger haben uns weder begrüsst noch besucht, sondern _____________ 23
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Bilibaldus Pirckheimer: Apologia seu Podagrae Laus. Nurembergae MDXXI. Pirckheimers „Verteidigungsrede oder Selbstlob der Gicht“, ein witziges Buch, in dem er seine Krankheit treffend, aber in parodistischer Weise beschreibt, wurde bis zum Jahr 1700 bereits zehnmal aufgelegt und ins Englische, Französische, Tschechische und mehrfach ins Deutsche übersetzt. Von den modernen Ausgaben sei besonders die zweisprachige (Latein und Deutsch) empfohlen, die in der Übertragung und mit Anmerkungen und einem ausgezeichneten Nachwort von Wolfgang Kirsch sowie mit zehn Kupferstichen von Baldwin Zettl 1988 im Aufbau-Verlag, Berlin, erschien. Vgl. Willibald Pirckheimer: Verteidigungsrede oder Selbstlob der Gicht. Berlin 1988. Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bd. VI, bearb. u. hg. von Helga Scheible. München 2004, S. 36–39 (Brief 976: Stromer an Pirckheimer, Leipzig, 12. Oktober 1525). Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bd. IV, bearb. u. hg. von Helga Scheible. München 1997, S. 397–403 (Brief 735: Pirckheimer an Stromer, Neunhof, [Anfang Dezember] 1520). Zum Verlauf der Leipziger Disputation siehe bei Karl Große: Geschichte der Stadt Leipzig von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Bd. 2, Leipzig 1898, S. 20–39.
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uns wie die verhasstesten Feinde behandelt. An Eck haben sie gehangen, haben ihn begleitet, mit ihm geschmaust, ihn eingeladen, ... kurz, was sie nur ersinnen konnten, haben sie gethan, uns zu kränken. Doch hat uns Dr. Auerbach eingeladen, ein Mann von größter Unparteilichkeit." 27 Nicht immer schien es empfehlenswert, in den Briefen allzu offen seine Meinung darzulegen. Im Mai 1525 schickte Stromer einen Brief des Erasmus von Rotterdam, den ihm Jakob Ceratinus anvertraut hatte, an Willibald Pirckheimer. Stromer teilte diesem mit, er habe soeben aus dem Heer des Kurfürsten Johann (des Beständigen) von Sachsen Nachricht erhalten, sandte Pirckheimer eine Abschrift und beklagte, dass der „tumultus rusticorum“ viel Unglück bringe. Er wünschte beiden Seiten Besonnenheit, meinte aber weiter, er wage jetzt nicht, mehr darüber zu schreiben.28 Die Hochachtung Stromers vor Erasmus von Rotterdam wird deutlich in seiner Bemerkung gegenüber Pirckheimer, er bedaure, dass Erasmus über den freien Willen (eines der Streitthemen der Leipziger Disputation) geschrieben und noch mehr, dass Luther geantwortet habe, denn Erasmus hätte ewiges Lob, ein ruhiges Leben und einen heiteren Tod verdient. Zugleich gratulierte Stromer Pirckheimer, dass dieser aus dem Nürnberger Rat ausgeschieden sei, denn sein Ptolemaeus (Pirckheimer hatte ihm ein Exemplar gesandt)29 nütze der Wissenschaft und sei besser als die dumme Politik, auch wenn sich die Nürnberger Ratsherren für die Klugheit selbst hielten. Hier bittet der Schreiber, diesen Brief sonst niemanden lesen zu lassen.30 Ein letztes von vielen Beispielen soll zeigen, wie eng Stromer, der seiner überlegten Haltung wegen auch mit diplomatischen Missionen betraut wurde,31 im Netz des humanistischen Gedankenaustausches verflochten war, sich aber auch nicht scheute, offen Partei zu ergreifen. _____________ 27
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Martin Luther an Georg Spalatin (1484–1545) am 20. Juli 1419; zitiert nach Gustav Wustmann: Der Wirt von Auerbachs Keller. Leipzig 1902, S. 34. Ausführlich auch im Kapitel „Luther in Leipzig“ in Gustav Wustmann: Aus Leipzigs Vergangenheit. Gesammelte Aufsätze. Leipzig 1885, S. 34–101. Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bd. V, bearb. u. hg. von Helga Scheible. München 2001, S. 409 (Brief 943: Stromer an Pirckheimer, Leipzig, 31. Mai 1525). Claudii Ptolemaei geographicae enarrationis libri octo, bearbeitet von Johann Hüttich und Willibald Pirckheimer. Straßburg 1525. Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bd. VI, bearb. u. hg. von Helga Scheible. München 2004, S. 36–39 (Brief 976: Stromer an Pirckheimer, Leipzig, 12. Oktober 1525). So hatte im Jahr 1521 Kardinal Albrecht eine Gesandtschaft, der Stromer angehörte, nach Wittenberg geschickt, um über Melanchthon auf Luther mäßigend einzuwirken. Melanchthon allerdings erklärte, er werde den vom Heiligen Geist getriebenen Luther nie von etwas abzubringen versuchen. Vgl. dazu Otto Clemen: „Zur Lebensgeschichte Heinrich Stromers von Auerbach“. In: Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde 24 (1903), S. 100–110.
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Im Streit des ersten bedeutenden deutschen Hebraisten, Johannes Reuchlin, mit den Kölner Dominikanern, der auch Anlass für die „Dunkelmännerbriefe“ war, stellte sich Stromer – wie sein Freund Ulrich von Hutten – sofort an Reuchlins Seite. Hutten hatte auf ein Eingreifen der Fürsten und Bischöfe gehofft und damit auf eine Verlagerung der Auseinandersetzung vom Theologischen zum Politischen. Zur Heerschar der Humanisten, auf die er baute, zählte Hutten auch den Mainzer Hof, also Albrecht als Erzkanzler des Reiches und dessen Leibarzt Heinrich Stromer.32 Während sich Hutten in den Fürsten und Bischöfen bitter getäuscht sah, sprang Stromer Reuchlin sofort bei.33 Im August 1516 schrieb er an Reuchlin, mit dem er bislang nicht in Verbindung gestanden hatte, einen langen Brief,34 aus dem hier nur einige Passagen zitiert werden sollen: „Heinrich Stromer aus Auerbach, Doktor der Medizin, grüßt Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Doktor der Rechte, ganz ergeben. Hoffentlich wundert Ihr Euch nicht, hochvollkommener Meister der Redekunst und der Jurisprudenz, dass ich, ein Unbekannter, es wage, Euer feiner Gehör mit unkultivierten Worten zu behelligen. Das kommt nämlich nicht aus Unbesonnenheit, sondern aus meiner unglaublich großen, brennenden Liebe zu allen Gebildeten. Ihr seid ja ein Mann, der aufrichtige Liebe und höchste Verehrung ganz und gar verdient, denn Ihr habt als erster die hebräische Sprache […] mit Knoten der Grammatik passend und stimmig zusammengebunden […]. […] Es ist aber das ebenso richtige wie wahre Urteil der ganzen Heerscharen der Gebildeten, dass Ihr ganz Deutschland und sogar auch Italien mit Griechisch, Lateinisch und Hebräisch, diesen drei überragenden Sprachen, erleuchtet habt. […] Ihr allein gebt durch literarische Leistungen Deutschland überall in der Welt Ansehen. Und so steht Deutschland tief in Eurer Schuld, […]. Zu Recht also sind die Deutschen betrübt wegen der Widrigkeiten, die Euch widerfahren.“
Und nun wettert Stromer gegen den „schurkischen Feind“ (Johannes Pfefferkorn),35 den er einen schändlichen Rufmörder nennt und ihm vor_____________ 32 33 34 35
Vgl. Wulfert 2009, S. 211. Wilhelm Kühlmann (Hg.): Reuchlins Freunde und Gegner. Pforzheim 2008 (Pforzheimer Reuchlinschriften; 12). Die folgenden Passagen aus dem Brief sind zitiert nach: Johannes Reuchlin. Briefwechsel. Band 3, 1514–1517. Leseausgabe in deutscher Übersetzung von Georg Burkard. StuttgartBad Cannstatt 2007, S. 163–166. Johannes Josef Pfefferkorn (1469–1524) war ein getaufter Jude, den die Kölner Dominikaner als Werkzeug im Kampf gegen das Judentum benutzten. Pfefferkorn schrieb nicht nur Schmähschriften gegen die Juden, sondern hatte auch ein Mandat zur Beschlagnahmung von jüdischen Schriften, was zu Protesten aufgeklärter Christen und zur Bildung einer Untersuchungskommission führte, der Reuchlin angehörte. Dieser setzte sich für ein unvoreingenommenes Studium jüdischen Lebens und jüdischer Literatur ein. Der daraus resultierende heftige Streit anhand von Schriften und Gegenschriften, wobei Reuchlin, der auch persönlich angegriffen wurde, Unterstützung vonseiten der Humanisten erhielt, gipfelte nach 1515 in den „Dunkelmännerbriefen“.Vgl. dazu Walther Brecht: Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum. Strassburg 1904 (Quellen und Forschungen zur
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wirft, Reuchlins „ehrwürdiges Alter, […] unbefleckten Ruf, […] herrliche Wissensfülle“ zu verleumden. Er wünscht: „Möge sich doch die Tiefe der Erde auftun, den getauften Juden verschlingen und die unheildrohende Schlachtreihe von Pseudotheologen und die lästige Kongregation von warmen Ordensbrüdern gleich mit. Denn diese unbrauchbare, unwissende und ganz unbändige Clique unterstützt Euren Verleumder […]. Das erbittert mein Herz gar sehr.“
Stromer kann aber Reuchlin auch mitteilen, dass er sich für ihn tatkräftig und erfolgreich gegen Pfefferkorns Verleumdungen eingesetzt hat: „Nur dies eine sollt Ihr wissen: Der Wolf, der Euer Ansehen fressen will, hat wieder Faseleien zusammengestoppelt, mit denen er Euren guten Ruf abmäht; die hat er dem Erzbischof von Mainz, Magdeburg, Halberstadt usw., einem ebenso mächtigen wie gerechten Fürsten, meinem gnädigsten Herrn gewidmet, in der Hoffnung, dadurch den Fürsten gegen Euch einzunehmen und von Seinen erlauchten Gnaden Unterstützung gegen Euch zu bekommen. Zufällig war ich anwesend, als diese nichtsnutzige Schmähschrift dem Fürsten überreicht werden sollte, und konnte, zusammen mit einigen, die für die Gebildeten Partei ergriffen, meine Meinung geltend machen, mit dem Erfolg, dass der Fürst das Buch nicht einmal annahm […] und den Überbringer […] davonjagte. Seid also überzeugt, dass mein Erzbischof Euch wohlgesonnen ist. […] Wenn ich Euch auf irgendeine Weise vor diesen Verleumdungen schützen könnte, glaubt mir, ich würde für Euch jede Bürde auf mich nehmen. […] Ich bitte also, verwerft meine Freundschaft nicht, rechnet mich unter Eure Freunde. Alles Gute! Möget Ihr, die Zierde der Wissenschaft, unter glücklichen Vorzeichen leben! Und erwidert meine Zuneigung!“
Dieser Brief ist ein Zeugnis der hohen Verehrung Stromers für Reuchlins Bildung und Leistungen, er zeigt aber ebenso das Gerechtigkeitsempfinden des Schreibers. Bei allen Verpflichtungen hatte Stromer auch ein Privatleben. Im Jahr 1519 heiratete er Anna Hummelshein, von deren Vater er den 1438 erstmals erwähnten Waldheim-Hummelheinschen Hof in der Grimmaischen Gasse erwarb. In diesem betrieb er bereits seit 1525 (laut Leipziger Weinsteuer-Register) einen öffentlichen Weinausschank und begründete hier 1530 mit einem steinernen Neubau Auerbachs Hof. Dass die alten Keller unter dem Haus und der noch heute im Fasskeller hinter einer Tür verborgene Gang zur Universität geführt haben sollen, damit Stromer und die anderen Herren Professoren den Weg zum Weinausschank rasch zurücklegen konnten, ist wohl wie vieles andere in der Geschichte von Auerbachs Keller ins Reich der Legende oder der Literatur zu verweisen. Mit seiner Frau Anna hatte Stromer übrigens acht Kinder. _____________ Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; 93). Sari Kivistö: „Epistolae obscurorum virorum“ and the humanist polemics on style. Helsinki 2002.
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Im Jahr 1523, nach dem Tode seines Vorgängers Simon Pistoris, rückte Stromer schließlich in die Professur der Therapie auf und wurde damit zugleich Dekan der Leipziger Medizinischen Fakultät. Im Oktober 1526, nach längerer Unterbrechung, schreibt Stromer wieder an Pirckheimer36 und beantwortet diesem Fragen zur naturwissenschaftlichen Terminologie, die sich nach Stromers Meinung gegenüber früher geändert hat. Und dann heißt es: „Alcamistica ridetur a multis“ – „über die Alchemie wird viel gelacht.“ Die wahren Alchemisten seien aber die Gewürzmonopolisten, die alle Namen verändern, ganz zu schweigen von den Sophisten mit ihrer Unbildung, die sich noch auf ihre mangelhaften Sprachkenntnisse etwas einbilden und Medizin und Theologie verdorben haben. Diese sind aber nach Stromers Meinung nicht einmal der Erwähnung wert. Dann geht er sofort zu den politischen Tagesfragen über, zur Untätigkeit der zerstrittenen Fürsten gegen die Gefahr durch die Türken, die bereits Ungarn erobert hatten. Bekanntermaßen belagerten dann wirklich, wie von Stromer befürchtet, vom 27. September bis 14. Oktober 1529 die Türken unter Sultan Süleyman I., dem Prächtigen, die Hauptstadt der Habsburgischen Erblande Wien, mussten die Belagerung aber aufgeben. 1520 wurde der angesehene Professor und Arzt auch Leipziger Ratsherr und war nun mitverantwortlich für die Geschicke der Stadt, die seit 1497 durch das Privileg Kaiser Maximilians I. als Internationale Reichsmessestadt florierte, denn mit diesem Privileg musste Kaufleuten und ihren Waren in allen Ländern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation freies Geleit gewährt werden, und wer dagegen verstieß, hatte Geldbußen von 50 Mark lötigen Goldes, das sind fast zwölf kg Gold, und die Reichsacht zu fürchten. 1507 erhielt die Stadt auch noch das kaiserliche Stapelprivileg, womit es untersagt war, im Umkreis von 15 Meilen [115 Kilometern] in den Bistümern Magdeburg, Halberstadt, Meißen, Merseburg und Naumburg Messen oder neue Jahrmärkte zu errichten oder Warenlager zu unterhalten. Trotz aller Proteste der betroffenen Städte wurde das kaiserliche Privileg auf Betreiben der Leipziger hohen Geistlichkeit sogar durch den Papst unterstützt. Um religiöse Dinge war es in Leipzig allerdings nicht so gut wie um wirtschaftliche bestellt. Herzog Georg, der nach wie vor Luther und die Reformation ablehnte, verfolgte die sich in immer größerer Zahl zur Reformation bekennenden Bürger, sodass viele nach Wittenberg und in andere reformierte Städte auswanderten.37 Doch hatten diese Bestrebungen keinen dauerhaften Erfolg, denn _____________ 36 37
Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Bd. VI, bearb. u. hg. von Helga Scheible. München 2004, S. 221–223 (Brief 1061: Stromer an Pirckheimer, Leipzig, 13. Oktober 1526). Es ist von 80 Bürgern mit ihren Familien die Rede. Vgl. Grosses vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 16, Sp. 1697.
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als Georg, dessen Söhne bereits ohne Erben gestorben waren, am 17. April 1539 verstarb, kam sein Bruder und Nachfolger Heinrich der Fromme (1473–1541) aus dem reformierten Freiberg und führte sogleich die Reformation im Herzogtum ein. Luther nahm selbst an der Reformationsfeier am 25. Mai 1539 in Leipzig teil. Aus diesem Anlass logierte er gemeinsam mit Melanchthon noch einmal bei Stromer von Auerbach. Den Mönchen der Leipziger Klöster wurde nun ein weltliches Leben empfohlen; wer von ihnen sich zum lutherischen Glauben bekannte, konnte in den umliegenden Dörfern Pfarrer werden; die Lehrer wurden ausgewechselt, Mädchenschulen eingeführt, den Kollegiaten des Fürstenkollegs erstmals gestattet zu heiraten. An der Universität verlief der Übergang allerdings nicht so einfach, oder wie es bei Zedler heißt: „Mit der hohen Schule gieng es bey Veränderung der Glaubens=Lehre am schwersten her, sinte Mahl sich die Catholischen Gottesgelehrten und Magistri Sententia […] hefftig wiedersetzten, und die wiedrige Meynung eifrig bestriten. Endlich aber musten sie doch nachgeben […].“38
Erst dem tatkräftigen Caspar Borner, seit 1539 Rektor und dem Wittenberger Kreis der Reformatoren verbunden, gelang es, auch an der Leipziger Universität der Reformation zum Durchbruch zu verhelfen und diese selbst zu reformieren. Borner sind u.a. die Nutzung des säkularisierten Dominikanerklosters für Universitätszwecke, die Erweiterung der Universitätsbibliothek aus Beständen der Klöster39 und die Einrichtung eines Universitätsarchivs zu danken. Dr. Heinrich Stromer von Auerbach konnte noch die tief greifenden Veränderungen der politischen Zustände und die Einführung der Reformation in Leipzig erleben. Er starb am 26. November 1542 in Leipzig, nachdem er am Vortage sein Testament beim Stadtrat hinterlegt hatte. Die Beerdigung fand als eine der ersten auf dem außerhalb der Stadt neu angelegten Johannisfriedhof statt, wo Stromer 1538 eine der 27 Familiengrüfte gekauft hatte. Im Verlauf der Belagerung Leipzigs im Januar 1547 durch die Truppen des Schmalkaldischen Bundes wurde der Johannisfriedhof völlig verwüstet, die Grüfte wurden zugeschüttet, die Kapellen abgebrochen. Dr. Heinrich Stromer von Auerbach ist also viel mehr gewesen als der (angebliche) Widersacher von Paracelsus und der Wirt von Auerbachs Keller. Er ist in die Geschichte von Stadt und Universität Leipzig und in die Geschichte des Humanismus und der Reformation eingegangen und erscheint uns modernen Menschen als eine der vielseitigen und kraftvollen _____________ 38 39
Ebd., Bd. 16, Sp. 1700. Es waren dies etwa 600 Bücher aus dem Dominikanerkloster, weitere kamen aus den Leipziger Klöstern der Thomaner und Franziskaner und aus Klöstern der Umgebung, sodass die Bibliothek um die 4000 Bände besaß.
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Ingrid Kästner
Persönlichkeiten der Reformationszeit, die auf wissenschaftlichem, politischem und zugleich wirtschaftlichem Gebiet aktiv und erfolgreich waren.
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Denn Gott hat die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben. – Das Pest-Motiv im Traktat und in der Dichtung des 16. Jahrhunderts von Luther, Zwingli u.a. Wolfgang Beutin
Abstract Im 16. Jahrhundert, dem Reformationsjahrhundert, fungierte die Pest immer noch als eine Art Leitkrankheit, wie es im Mittelalter die Lepra (der Aussatz) gewesen war. In den Texten der Reformatoren selber wurde sie zum Gegenstand, jedoch außerdem in einer Reihe anderer literarischer Gattungen, so in der Autobiografie, im Essay, in der Sage und im Schwank (bzw. dem Exempel). Eine Übersicht zeigt, wie vielfältige Aspekte ihr im Zusammenhang mit religiösen Überlegungen abgewonnen werden konnten, auch wie viel Gedankenarbeit an ihre Abwehr verwendet wurde und an das Verhalten der Menschen in der Seuchenzeit. In diesem Beitrag werden neben dem Pest-Traktat von Martin Luther und dem Pestlied Zwinglis an Texten des 16. Jahrhunderts als Grundlage gewählt: Sastrows Autobiografie, Montaignes Essais, eine Sage aus Hof/Bayern sowie ein Exempel Kirchhofs. In the sixteenth century, the Age of Reformation, pestilence or plague was the most critical sickness, just as leprosy had been during the Middle Ages. Protestant reformers addressed it in their sermons, and it was also treated in such literary genres as the autobiography, essay, legendary tale, and jest narrative or exemplum. A survey demonstrates how often these texts had religious dimensions, and how much thought was given to ways of fighting the illness. We can learn much about people’s behavior during the epidemic. This paper examines first a tract of Martin Luther and a poem by Zwingli, then a number of other texts including Sastrow’s autobiography, Montaigne’s essays, a legendary tale from Hof in Bavaria, and a jest narrative by Kirchhof.
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Diesen Aufsatz schrieb ich im Dezember 2009 in dem kleinen Gebirgsort Solla (Teil der Gemeinde Thurmansbang/Bayerischer Wald). In etwa 2 km Entfernung von hier lag seit dem hohen Mittelalter das Dorf Heimbrechtsreuth, das im 19. Jahrhundert wegen seiner ungünstigen Lage, u.a. auch des kalten Klimas wegen, von seinen Bewohnern aufgegeben worden ist. Als letzter Überrest der einstigen Ansiedlung existiert lediglich noch der Pestfriedhof, eine von unbearbeiteten Steinen eingegrenzte ansteigende Fläche inmitten des Bergwalds, nur etwa 60–100 Meter von dem ehemaligen Dorf. Ein rohes Holzkreuz bezeichnet den Totenacker. Eine Tafel im Mittelpunkt des Platzes, worum sich einstmals die nun aufgehobenen Anwesen gruppierten, vermeldet, dass die Pest den Ort in den Jahren 1648/1649 und 1712 heimgesucht habe. Den vorliegenden Aufsatz widme ich den Pestopfern, deren Namen im Lauf der Zeiten verweht worden sind. Wie in anderen Jahrhunderten gab es auch im 16. Jahrhundert, dem Reformationsjahrhundert, eine Fülle von literarischen Äußerungen aus religiöser Perspektive zum Thema Gesundheit sowie zum gegenläufigen – dem Siechtum; zur Frage, wie die Menschen vor ihm geschützt würden, und zu den therapeutischen Maßnahmen im Krankheitsfall, zur Aussicht auf Genesung sowie – trat sie nicht ein – zum Ableben der Patienten samt den Folgen, darunter der Notwendigkeit der Leichenbestattung. Unter den Krankheiten war es dabei frequent die Pest1, worauf häufig der Blick der Betrachter fiel, daneben die Syphilis, und auf diese gerade wegen ihrer damaligen krass spektakulären Symptomatik, auf jene, weil sie zum Entsetzen der Bevölkerungen oft in eine Pandemie mündete, worin die Befallenen, soweit die Heilung ausblieb, mit unerhörtester Rapidität wegstarben. Wie nun die Pest in theologischer Perspektive, nicht anders aber in säkularer, im Schrifttum von der Traktatliteratur bis hin zur unterhaltenden Literatur den Gegenstand bildet, könnte man sie – unter Verwendung eines Parallelbegriffs zu dem in einigen Kunstwissenschaften üblichen des Leitmotivs – als Leitkrankheit bezeichnen, gleich wie in der Dichtung des Mittelalters den Aussatz (z.B. bei Hartmann von Aue, Der arme Heinrich), in Texten der Renaissance dann die Syphilis (z.B. bei Ulrich von Hutten, u.a. Gesprächbüchlein); – zu unseren Lebzeiten, in den Jahren um die rezente Jahrtausendwende Aids (Kürzel, für engl. „Acquired Immune Deficiency
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In den älteren Jahrhunderten verstand man unter der Pest (wie sie in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa spektakulär wütete) zunächst „verschiedene epidemisch auftretende Krankheiten“. Der Erreger der Pest wurde erst 1894 entdeckt (Manfred Vasold: Pest, Not und Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. Augsburg 1999, S. 70f).
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Syndrome“; in Deutschland seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts2). Was speziell die Pest betrifft, so gedenken die Schriftsteller ihrer in der Literatur bereits lange vor dem Reformationsjahrhundert; etwa in der Mitte des 14. Jahrhunderts Boccaccio in seinem Decamerone (im Vorspann zu den Erzählungen der ersten Dekade). 1434/1441 steuerte Leon Battista Alberti in seiner Schrift Über das Hauswesen (Della Famiglia) nützliche Ratschläge zum Verhalten in der Epidemie bei. In den aufs 16. folgenden Jahrhunderten wählten das Pest-Motiv große Erzähler wie Daniel Defoe (Die Pest in London, recte: Tagebuch des Pestjahrs 1665, das er nur bearbeitet haben wollte, im Druck 1722, ein Werk, das ein moderner Herausgeber am ehesten der Gattung Traktat zuschreiben möchte3) und Alessandro Manzoni (Die Verlobten [I promessi sposi], früheste Ausgabe 1825/1826 sowie 1827; definitive Ausgabe 1840/1842; eine „Storia milanese“, betreffend Ereignisse der Jahre 1628/1630). Es scheint, dass die Thematik – außer in medizinischer und Fachliteratur (Traktaten) – am ehesten im (historischen) Tatsachenbericht aufgegriffen worden ist (von allen drei zuvor benannten Epikern) sowie auch im autobiografischen Schrifttum. In den folgenden Abschnitten werden in gebotener Kürze einige Texte lediglich aus dem 16. Jahrhundert gestreift, wobei der Akzent wesentlich auf dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Religion und Gesundheit (eingeschlossen deren Störung durch die Krankheit) liegt. Die ausgewählten Schriften entstammen verschiedenen Gattungen; es sind: der (theologische) Traktat, die Autobiografie, der Essay, das Lied, die Sage und das Exempel (Schwank). Primäre Fragestellung wird sein: Stellen die Verfasser in den gewählten Beispielen die Pest verhältnismäßig einförmig dar, jeweils in identischer oder ähnlicher Gestalt, als im Kern ein- und dasselbe Phänomen? Oder erscheint sie in der Darstellung als ein zergliederbarer Komplex mit dissimilierenden Facetten, die regulär hierarchisiert erscheinen: als Hauptmotiv und diesem untergeordnet mehrere oder sogar zahlreiche Zusatz- und Nebenmotiven? Martin Luther: Ob man vor dem Sterben fliehen möge (1527) Die Situation: In der zweiten Jahreshälfte 1525 herrschte in Breslau die Pest, weswegen Scharen von Bewohnern die Stadt verließen. Die evangelischen Pfarrer fragten sich, ob man vor der Seuche fliehen dürfe, und baten Luther um Auskunft. Er antwortete nicht alsbald – er selber litt zu _____________ 2 3
Ebd., S. 282. Daniel Defoe: Romane (Robinson Crusoe, Kapitän Singleton, Die Pest in London), hg. von Norbert Miller, 2 Bde., Gütersloh o.J., im Anhang; hier: 1,959
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diesem Zeitpunkt zwar nicht an der Pest, jedoch an anderen Übeln. Daher wiederholten sie ihre Frage. Während der Reformator nun wirklich seine Antwortschrift ausarbeitete (Juli/Oktober 1527), brach die Pest auch in Wittenberg aus. Der Lehrkörper der Universität floh und siedelte nach Jena über. Obwohl Kurfürst Johann von Sachsen Luther aufforderte, ebenfalls Wittenberg zu verlassen und dem Beispiel seiner Kollegen zu folgen, blieb er – und zusammen mit ihm der Stadtpfarrer Bugenhagen und zwei Kapläne – in der Stadt. Luther fuhr fort, seine Vorlesungen und Predigten zu halten, auch als Seelsorger der in Not geratenen städtischen Bevölkerung zu wirken.4 Alexander Evertz kommentiert dies folgendermaßen: Das Verhalten Luthers unterscheidet sich in bemerkenswerter Weise von der ängstlichen Pflichtverweigerung der reformierten Prediger in Genf, als dort 1542 die Pest ihren Einzug hielt. Der Magistrat der Stadt appellierte an sie, ‚die armen Kranken im Pesthospital aufzurichten und zu trösten’. Aber Calvin ließ erklären, er sei ‚unentbehrlich’ und es ginge außerdem nicht an, ‚die ganze Kirche im Stich zu lassen, um einem Teil zu helfen’. Die furchtsamen Seelenhirten versteckten sich. Einer von ihnen sagte frank und frei, ‚sie würden lieber zur Galgenstätte gehen als ins Pesthospital’.5 Luther war aber kein Heros aus Eisen, dem Angst fremd gewesen wäre. Über die Seuche schreibt er am 7. November 1527: „… bald wütet sie, bald will sie sich lindern. Wir schweben in mancherlei Furcht: ich habe eine Anfechtungen und sorge mich für mein Weib, das der Niederkunft nahe ist … Die Pest habe ich dreimal im Hause gehabt. Mein Söhnchen war länger als acht Tage krank … bereits viele Monate werde ich nun durch Unruhe und Kleinmütigkeit geängstigt.“6
Im Umkreis sterben viele befreundete Personen, mehrere hatte Luther in seinem Haus aufgenommen. Am 10. Dezember erreicht ihn mitten in einer Vorlesung die Nachricht, dass Käthe ein Töchterlein (Elisabeth) geboren habe; er schreibt am selben Tage: „Die Kindbetterin ist gesund, aber matt. Aber auch mein Söhnchen Johannes ist wohl und fröhlich.“ (Zit. ebd., S. 145). Und am 29. Dezember, in Wittenberg sei die Pest „tot und begraben“, alles kehre in die Stadt zurück: _____________ 4
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Von mir leicht umformulierte Vornotiz von Hans Christian Knuth zu der o.a. Schrift Luthers, in: Martin Luther: Ausgewählte Schriften, hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, 6 Bde., Frankfurt a. M. 1982, Bd. 2, 225. Den Traktat von Luther zitiere ich nach dieser Ausgabe (bloß mit der Seitenzahl); darin: 2, 226–250. Alexander Everts: Martin Luther als Christ, als Mensch und als Deutscher. Ein Beitrag zum Lutherjahr. Asendorf 1982, S. 33. Zit. in: Andrea van Dülmen, Luther-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1983, S. 143f.
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Ich bin am Leibe gesund, am Geiste, so viel Christus mir beisteht, der mit einem dünnen Faden an mir hängt und ich an ihm. Der Satan aber hängt an mir mit gewaltigen Seilen, und sogar mit Schiffstauen, und zieht mich in die Tiefe (ebd.).
Seine Aussage verrät den Mutigen, der es wagt, sich selber wie anderen die ihm widerfahrenden Versuchungen und Ängste einzugestehen. Eine Annahme über den Ursprung der Seuche; Todesangst der Leute Luther trägt zwei Annahmen vor. Davon die erste: Die Pest werde „durch die bösen Geister unter die Menschen gebracht …, wie auch andere Plagen, die die Luft vergiften oder uns sonst mit einem bösen Odem anblasen und damit die tödlichen Gifte in das Fleisch schießen“ (235). Eine mythologisierende, aber säkulare, außertheologische Deutung. Ähnlich, der Vergiftungshypothese benachbart: „Denn was ist die Pest anderes als ein Feuer, das nicht Holz und Stroh, sondern Leib und Leben auffrißt?“ (242) Ihretwegen, beobachtet er, erhebe sich „auch hier bei uns und noch anderswo das Geschrei wegen des Sterbens …“ (226). Im Übrigen ein Eingeständnis: Es gehöre mehr dazu als ein schwacher, erst aufkeimender Glaube, dem Tod ins Auge zu schauen, „vor welchem sich auch fast alle Heiligen entsetzt haben und noch entsetzen“ (227). Zweite Annahme, theologische: Zugleich jedoch sei die Pest von Gott verhängt, „eine Strafe Gottes …, uns zugeschickt um unserer Sünde willen“ (226)‚ d.h.: wie der Tod gemäß biblischer Auffassung „der Sünde Sold“ ist (Rö. 6,23), Bestrafung der Menschen wegen ihrer Sündigkeit, gleichermaßen ist die von Gott gesandte Pest nichts anderes als der schnelle Vollzug der Strafe. Doch nicht Strafe, Vergeltung allein, sondern dazu auch ein Mittel, „um unseren Glauben und unsere Liebe zu proben – den Glauben, damit wir sehen und erfahren, wie wir uns gegen Gott stellen, die Liebe aber, auf daß man sehe, wie wir uns gegen den Nächsten stellen.“ (235) Die Krankheit erscheint demnach als doppelte Prüfung – und das ist der übergeordnete Aspekt für Luther, um die im Titel erscheinende Frage zu beantworten.
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Flucht, verboten oder erlaubt? Verboten sei die Flucht, darauf pochten etliche, weil das Sterben nun einmal eine Sündenstrafe sei (226). Weniger rigoros Luther in seiner Entgegnung: Weil man unter den Christen mehr Schwache als Starke finde, könne man nicht allen dasselbe „zu tragen aufladen“. Auch: „Das Sterben und den Tod fliehen kann auf zweierlei Weise geschehen.“ (227) Untersagt ist die Flucht „gegen Gottes Wort und Befehl“, vor allem demjenigen, der „ein Gebot von Christus“ oder „einen öffentlichen Befehl“ habe (227), eine geistliche Vorschrift oder offizielle Aufgabe. Prediger und Seelsorger seien „schuldig, in Sterbens- und Todesnöten zu stehen (‚standzuhalten’) und zu bleiben“. Selbst hier mildert Luther gütig ab: Gibt es mehr als genügend von ihnen, können selbst diese untereinander beschließen, einige zum Wegzug zu ermahnen. Bleiben müssen allerdings – der Aufrechterhaltung der Ordnung wegen – sämtliche Obrigkeiten: Bürgermeister, Richter, dazu der Stadtarzt, Stadtdiener und die Kriegsknechte. Im Privatleben: die Bediensteten, außer wenn man ihnen erlaubt zu fliehen, und die Herrschaft, die ihre Leute zu versorgen hat. Eltern dürfen ihre Kinder und diese ihre Eltern, Vormünder und Anverwandte die ihnen Anvertrauten nicht im Stich lassen (228–229). Wenn aber keine dieser Bedingungen vorliegt oder auch die Kranken selber die Anwesenheit ihrer Verwandten ablehnen, ist man „frei, zu fliehen oder zu bleiben“ (230). Die stark im Glauben sind, sollen sich entsprechend verhalten, aber nicht diejenigen verdammen, die fliehen. „Daß aber den Tod fliehen an sich nicht unrecht sei“, erweist Luther an biblischen Mustern. Falls man ihm einwende, ein sonstiger Tod und der Pesttod seien nicht dasselbe, entgegne er, „Tod ist Tod“, und bei Gott seien vier Todesarten gleich: Pest, Hunger, Krieg und wilde Tiere (Hes. 14,21; Luther 231f.). Ob man in der Pest Schutzmaßnahmen gegen sie ergreifen darf? Das bestreiten manche, da die Krankheit als Bestrafung auszuhalten sei, bis man sterbe oder genese. Luther dagegen: Man löscht das brennende Haus, man rettet sich aus Wasserfluten, will, wenn man ein Bein bricht, versorgt sein, zieht sich bei Frost in die warme Stube zurück, um nicht zu erfrieren. Andernfalls dürfte man weder Apotheke noch Arznei noch Ärzte haben, denn alle Krankheiten sind Gottes Strafe. Hunger und Durst sind auch eine große Strafe und Marter – warum ißt du und trinkst du denn und läßt dich nicht damit strafen, bis es von selber aufhört? (232)
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Auch könne nicht ein jeder Bürger in seinem Haus ein Hospital unterhalten. Daher werde eine kluge Stadt- und Landesregierung die möglichen Fälle im Voraus bedenken und darauf achten, „daß man allgemeine Häuser und Hospitäler halten und mit Leuten, die sie pflegen, versorgen kann“, in die man aus den Privathäusern die Kranken verbringt. Nur wo das nicht geschieht, müssen die Menschen „einer des anderen Spitalmeister und Pfleger in seinen Nöten sein“ (234–235). Wie damals alle kannte Luther die Gefahr der Ansteckung. Er verlangt vom Kranken, daß dieser sich „sofort selbst von den Menschen absondert oder absondern läßt und schnellstens mit Arznei Hilfe gesucht wird“, so wie die Aussätzigen aus der Gemeinde entfernt würden, um „sie draußen vor der Stadt wohnen zu lassen“. So abgesondert, „soll man ihm helfen und ihn in solcher Not nicht verlassen …“ (244). Wenn aber „das Grauen und die Scheu vor den Kranken“ einen Pflegenden befällt, „der soll sich einen Mut fassen“ (235). „Hat Christus sein Blut für mich vergossen und sich um meinetwillen in den Tod gegeben, warum sollte ich mich nicht auch um seinetwillen in eine kleine Gefahr begeben und eine ohnmächtige Pest nicht anzusehen wagen?“ (Ohnmächtig, meint Luther, verglichen mit der Macht Gottes.) Es sei „Gottesdienst …, wenn man dem Nächsten dient“ (237–238). Besondere Ungeheuerlichkeiten während des Wütens der Seuche: Das sind außergewöhnliche Begebenheiten, worüber auch andere Autoren berichten, z.B. Defoe. Dieser schreibt: Im „höchsten Stadium der Seuche“ würden die Menschen „durch ihre Leiden“ zu „Ungeheuerlichkeiten“ getrieben, wie zuweilen auch die zur Pflege bestellten Personen sie ausübten. Sie behandelten die ihrer Obhut empfohlenen Kranken manchmal „barbarisch“, sogar so, dass sie „ihr Ende beschleunigten, das heißt, sie ermordeten“. Auf der anderen Seite vermerkt Defoe das Gerücht, dass seitens der Kranken „ein offenbarer Hang oder eine ruchlose Neigung der Angesteckten bestand, andere anzustecken“.7 Eine Vermutung Luthers ist zunächst, dass Personen, die einen Infizierten liebevoll pflegen, im Allgemeinen selber vor einer Ansteckung verschont bleiben oder, falls nicht, ohne Schaden genesen. Umgekehrt, wenn einer „einen Kranken aus Habgier oder um des Erbes willen pflegt und das Seine in solchem Werk sucht“, der werde umso leichter angesteckt und hingerafft (238). Erkennbar arbeitet Luther hier mit dem Lohn_____________ 7
Pest, wie Anm. 3, S. 869, 797 u. 855. – Allerdings bestritt Defoe den Sachverhalt. Der Vorwurf sei nur von der Landbevölkerung erhoben worden, die sich damit rechtfertigte, um zu erklären, weshalb sie die aus der Stadt in die Dörfer fliehenden Kranken mit Härte abwies.
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Strafe-Schema, oder gemäß dem Wort: „So muß enden, wer Böses tat.“ (Im Vers, der ein Vierteljahrtausend später Lorenzo da Pontes Don Giovanni-Libretto abschließt.)8 Nicht das Ende eines Bösen erleidet indessen, wer für seinen Pflegedienst eine geziemende Vergütung verlangt, sei doch „jeder Arbeiter seines Lohnes wert“ (Lk. 10,7 u.a.). Außerdem kann er darauf zählen, dass er selber bei Bedarf angemessene Pflege erhält. Gott selber werde ihm als Arzt und Pfleger zur Seite stehen (238). Wie Defoe sorgt Luther sich, „daß einige so heillos boshaft sind, daß sie mit der Pest allein deshalb unter die Leute oder in die Häuser laufen, weil es ihnen leid ist, daß die Pest da nicht auch ist, und sie wollen sie dahin bringen …“ Diese würden von dem Aberglauben geleitet, dass sie, indem sie andere Leute mit der Pest infizieren, „sie los und gesund“ würden. „Sie gehen also deshalb auf die Gassen und in die Häuser, damit sie die Pest anderen oder ihren Kindern und ihren Leuten an den Hals hängen und sich damit erretten.“ Immerhin zweifelt Luther an den Nachrichten dieser Art. Seien sie wahr, so rät er: „… wo man solche findet, daß sie der Richter beim Kopfe nimmt und sie Meister Hans, dem Henker überantwortet, als rechte, mutwillige Mörder und Bösewichte“ (243).Er verkennt sehr, dass der Justiz kaum die Zeit hierzu bliebe, weil der Tod der Delinquenten das Verfahren bedeutend übereilen würde. Fazit und „Unterricht“: Aus Luthers mittlerer, in Zügen bereits rationaler Position zur Seuche folgt, dass er zweierlei zurückweist: Verzagtheit hier, Provokation dort. Die allzu Vermessenen und Kecken unterlassen alles, womit sie dem Sterben und der Pest wehren sollten. Sie verachten es, Arznei zu nehmen, und meiden die Stätten und Personen nicht, die die Pest gehabt haben und von ihr genesen sind9 … Solches heißt nicht Gott vertrauen, sondern Gott versuchen. Denn Gott hat die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben, dem Leib vorzustehen und ihn zu pflegen, dass er gesund sei und lebe.
Der Kecke solle zusehen, „daß er nicht vor Gott als Mörder seiner selbst beurteilt werde“, vor allem, weil einer, „der seinen Leib so vernachlässigt und die Pest nicht abwehren hilft, soviel er kann“, wiederum andere anzu_____________ 8 9
So der Schluss der "Zauberflöte", Text von da Ponte (in allen Ausgaben). damit bin ich immer noch nicht zufrieden. Bitte einfach eine solide Ausgabe zitieren. Defoe berichtet, dass Leichtfertige, die „aus der sogenannten gesunden Luft in die City kamen“, sich „nichts daraus“ machten, „in dieselben Häuser und Zimmer, ja sogar in dieselben Betten mit denen zu gehen, welche die Pest an sich hatten und noch nicht genesen waren“ (Pest, wie Anm. 3, S. 916).
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stecken riskiert (241). Jeder muss daher sein Verhalten so einrichten, dass es die Waage hält zwischen Kühnheit und Vorsicht: Wenn man sich so in einer Stadt verhält, daß man kühn im Glauben ist, wo es die Not der Nächsten erfordert, und umgekehrt vorsichtig, wo es nicht notwendig ist, und ein jeder das Gift abwehren hilft, womit man kann, so ist gewiß ein geringes Sterben in solcher Stadt. (242)
Das Fazit – Luther nennt es: die „Belehrung“ – seines Traktats fasst er in dieser Sentenz zusammen: „Wir sollen gegen alles Übel bitten und uns auch davor hüten, wie wir können; jedoch so, daß wir damit nicht gegen Gott handeln …“ (233) Dem allen fügt er noch drei Anweisungen hinzu, zusammengenommen „einen kurzen Unterricht …, wie man sich in solchen Zeiten des Sterbens auch wegen der Seelen vorbereiten und verhalten soll“ (244–246): 1. Die Seelsorger müssen „das Volk ermahnen, daß es zur Kirche in die Predigt geht und zuhört, daß es Gottes Wort lernt, wie es leben und sterben soll“. Rohe und unverbesserliche Verächter des Evangeliums aber darf „man auch wiederum in ihrer Krankheit liegen lassen“, außer wenn sie bereuen und Buße tun (245). 2. „… daß ein jeder sich selbst beizeiten einrichte und zum Sterben bereite mit Beichten und Sakramentnehmen“; denn „wo großes Sterben“ herrscht, jedoch zu wenig Seelsorger vorhanden sind, können diese nicht alle Menschen aufsuchen (ebd.). 3. Kapläne oder Seelsorger solle man rechtzeitig anfordern oder die Kranken beizeiten „anmelden lassen, ehe die Krankheit überhand nimmt und solange noch Sinn und Vernunft da sind“. Denn das Sakrament darf nur solchen gereicht werden, die reden oder wenigstens noch Zeichen geben können, um ihren Glauben auszusprechen und zu bekennen (246).
Die Ratschläge endlich, die der Verfasser abschließend noch erteilt, muten z.T. höchst modern an: Wenn die Warnungen der Ärzte vor der Seuchengefahr berechtigt seien, müsste der Kirchhof entfernt von Wohnplätzen angelegt werden, entsprechend außerhalb Wittenbergs. In der Abgeschiedenheit, „von allen anderen Orten abgesondert“, würde er sich zum Meditieren über die Letzten Dinge am besten eignen. Wie aber bisher? „Vier oder fünf Gassen und zwei oder drei Märkte sind es, so daß es keinen öffentlicheren und unstilleren Ort in der ganzen Stadt gibt … und es geschieht auf ihm allerlei“ (deutliche Anspielung: „vielleicht auch solche Dinge, über die man nicht spricht“; 248). Gibt es zu unserer Zeit die Einäscherung der Toten oder werden die Seebestattung oder Beisetzung im Forst propagiert und favorisiert, so reflektierte bereits Luther darüber. Er verweist auf die Antike, als man aus hygienischen Gründen die Leichenverbrennung kannte, und er gesteht, als
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Stätte ehrbarer Begräbnisse halte er sogar die Elbe oder den Wald für geeignet (248f.).10 Aus der Selbstbiografie eines Bürgermeisters von Stralsund11 Bartholomäus Sastrow wurde 1520 als zweites von sieben Kindern geboren. Seine jüngste Schwester hieß Gertrud. Von ihr überliefert der Verfasser eine Äußerung, die als Klage (aus Kindermund!) über das Unwesen der damaligen Kinderarbeit über ein halbes Jahrtausend hinweg beeindruckt. Einst saß die Fünfjährige „beim Rocken … und spann, – denn damals waren die Spinnräder noch nicht im Gebrauch“. Ihr Bruder Johannes, Student in Wittenberg, berichtete eine Neuigkeit: der Kaiser habe einen Reichstag ausgeschrieben, wo die Stände wichtige Beschlüsse fassen sollten. „Da fing dies Mägdlein beim Rocken gar hoch und tief zu seufzen an und sagte in großer Wehmut: ‚Ach du lieber Gott! wenn sie doch auch ernstlich verordnen möchten, daß solche kleine Mädchen nicht spinnen dürften.’“ (D.h.: ‚nicht zu spinnen brauchten.’) So leitet Sastrow den Passus ein, worin vom Tod dieser kleinen Schwester, zweier anderen Schwestern und seiner Mutter die Rede ist. Ohne Kommentar, ohne eine geistliche oder weltliche Betrachtung einoder anzufügen, beschreibt er in erstaunlicher Gelassenheit, sehr sachlich den Vorgang, wie die Pest einer pommerschen Oberschichtfamilie grausam zusetzte, wobei sie ihr von den neun Personen des Haushalts in kurzer Frist vier entriss: Diese meine Schwester ist mit meiner seligen Mutter und mit noch zweien meiner Schwestern, mit Magdalene und Katharine im Jahre 49, als die Pestilenz gar heftig grassierte, selig entschlafen. Zuerst meine Mutter, und als meine Schwestern bitterlich weinten, hat sie denselben im Verscheiden gesagt: ‚Was weinet ihr? Betet vielmehr, daß mir Gott meine Pein gnädiglich wolle kürzen.’ Einige Tage darauf entschlief selig Gertrud, meine jüngste Schwester. Die älteste unverheiratete Schwester Magdalene war auch schon dem Tode nahe, stand gleichwohl aus dem Bette, schloß auf und legte nicht allein Gertrudens Totenhemd und Laken heraus, sondern auch was man ihr selbst um= und antun sollte, und befahl, wenn Gertrud begraben würde, nur das Grab offen zu lassen, etwas mit Erde zu bede-
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Schließlich – er befindet sich schon in der Auseinandersetzung u.a. mit Zwingli – spricht er der Bezeichnung „Pest“ noch im übertragenen Sinne eine polemische Funktion zu, denn es gelte „mit Bitten zu Gott und mit Lehren gegen die größte geistliche Pest des leidigen Satans“ abzuwehren: „die Sakramentslästerer“, viele Sekten, die „Schwarmgeisterei“ des Teufels, die Anhänger der Geistkirche (249). Zit. nach einem Auszug in: Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit (zuerst 1859/1867), zit. nach der Ausg. Berlin o.J. (1927), 2 Bde., 1,903–922; hier: S. 906f. gibt es wirklich keine bessere Ausgabe? Berlin o.J.
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cken und sie neben Gertrud zu setzen (‚beizusetzen’). So legte sie sich wieder zu Bette, bis den andern Tag, nachdem Gertrud begraben war. Da starb auch sie, die größte und stärkste unter allen meinen Schwestern, eine treffliche, verständige, arbeitsame Haushälterin. Dies schrieb mir meine Schwester Katharine zwei Tage vor ihrem Tode, und daß es mit ihr selbst ebenso stünde, sie sei auf dem Wege der Mutter und den Schwestern zu folgen, und sie sehne sich danach, und vermahnte mich, daß ich mich nicht grämen sollte.
Der Autobiograf, der bei den Ereignissen nicht selber am Ort anwesend war, zitiert augenscheinlich aus Katharines Brief, der ihm entweder bei der Abfassung seines Berichts vorliegt oder den er aus der Erinnerung wiedergibt. Er berichtet jedenfalls aus zweiter Hand. Sein einfach beschreibender Text enthält keinerlei Beiwerk, die Fakten müssen für sich selber sprechen. So vermag er mächtig anzurühren, konkret wie er formuliert ist, ohne Zusatz von Sentimentalität und Klage.12 Aus einem Essay von Michel de Montaigne (1533–1592) Von Montaignes „Essais“ erschienen die Bücher 1–2 zuerst 1580, die vollständige Ausgabe – in drei Büchern – 1588. Im 3. Buch, in einem der Schlussstücke, benannt: „Von der Physiognomie“13 schildert er eine Pestepidemie, die vom Juni bis Dezember 1585 andauerte. Sie lag, als er sie beschrieb, erst kurz zurück, sodass er seine Beobachtungen aus zeitlicher, auch räumlicher Nähe mitteilte. Er betont das Prinzip der Autopsie: das Beschriebene sah er selber, erlebte es selber. Es trifft hier völlig zu, was ein Handbuch über den Essay angibt: er sei „gekennzeichnet durch bewußte Subjektivität der Auffassung“ und von „lockerer, das Thema von verschiedenen Seiten fast willkürlich belichtender Gedankenfügung“14. _____________ 12
13 14
Über das Auftreten der Seuche wird auch in anderen Autobiografien der frühen Neuzeit berichtet. So von Thomas Platter (1499–1582), der in jungen Jahren Pestzeiten in Zürich erlebte; einmal musste er wegen Bettenmangels „bei zwei jungen Maidli liegen, die steckte beide die Pestilenz an, starben bei mir, und geschah mir doch nichts“ (Thomas und Felix Platters und Theodor Agrippa ubignés Lebensbeschreibungen, hg. von Otto Fischer, München 1911 [Erlebnis und Bekenntnis. Eine Sammlung von Selbstbiographien]; Platters Text S. 15–169; hier: S. 100. Während eines anderen Auftretens der Seuche starb seiner Frau und ihm ein „Kindlein“ weg, und er spricht über Erkrankung und Tod mehrerer Personen seines Umkreises (ebd., S. 106–113. – Der Franzose d’Aubigné wurde als junger Mann in Orléans von der Pest befallen, die, wie er notiert, 30 000 Opfer forderte; er selber wurde jedoch geheilt, obwohl er seinen Wundarzt und vier andere in seinem Zimmer sterben sehen musste (seine Autobiografie: in demselben Sammelwerk wie Platters, S. 291–475; hier: S. 300). Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy, Zürich 1953, S. 817–842; die Pestschilderung: S. 827–831. Für die Bezeichnung „Physiognomie“ würde heutzutage am ehesten der Ausdruck ‚Mentalität’ eintreten. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 41964, S. 190.
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Liefert Sastrow in seiner Selbstlebensbeschreibung einen schlichten Sachbericht, enthält Montaignes Darstellung zwar autobiografische Einsprengsel, ist aber im Kontrast zu jener mit Reflexion durchschossen. Der französische Verfasser begnügt sich im Einzelnen mit fünf Materien, denen er seine Aufmerksamkeit widmet. Es sind: die Menschenverluste und ihre Bezifferung; seine Familie und er selber; Aperçus zur Psychologie der Seuchenzeit; Verhalten des „geringen Volkes“ (mit einem Schwerpunkt auf der Leichenbeseitigung); das Sterben allgemein. Den Anfang macht die Überlegung: Gesunde Körper werden nur von „schwersten Krankheiten“ niedergeworfen. Seinen Landsitz, den seit „undenklichen Zeiten“ nie eine Epidemie heimgesucht hatte, zeichnete sonst die „ungemein gesunde Luft“ aus, die jedoch, „nachdem sie nun einmal verpestet worden war, unerhörte Wirkungen“ hervorbrachte: „Außerhalb wie innerhalb meines Hauses grinste mir eine über alle Maßen bösartige Pestseuche entgegen.“ (827) Von der Bevölkerung „kam nicht der hundertste Teil lebend davon“. Auf seinem Gutshof, so klagt der Grundherr, „bestehen meine besten Einkünfte in Handdiensten, und was hundert Menschen für mich bestellten, liegt auf lange hinaus brach“ (828f.).15 Sein eigenes Haus wurde ihm unleidlich, da es jedem schutzlos offen stand, „der Lust hatte, zuzugreifen“. Beschwerlich war ihm die Suche nach einer Zufluchtsstätte für meine Familie … eine verstörte Familie, die ihren Freunden und sich selber Furcht einjagte und Schrecken hervorrief, wo immer sie unterzukommen suchte, und die alsbald weiterziehen mußte, sowie nur einem vom dem Trüpplein der kleine Finger weh zu tun begann.
In der Pestzeit halte man alle übrigen Krankheiten für Anzeichen der Pest. Gemäß Vorschrift der Wissenschaft müssten „bei jedem Anzeichen von Gefahr vierzig Tage voll Angst“ abgewartet werden, „ob das Übel ausbricht“. Wobei die Fantasie das Ihre tue und die Betroffenen auf die Folter spanne. Ihn peinigte das Mitleid mit den anderen, während er selber seine „Vorbeugungsmittel“ zur Hand hatte, „Entschlossenheit und Geduld“. Allein fliehend, hätte er sich viel unbeschwerter bewegt. Das Sterben an der Pest, diese „Todesart dünkt mich keine der schlimmsten: sie ist gemeinhin kurz, bewußtlos, ohne Schmerz, getröstet durch das allgemeine Los, ohne viel Anstalten, ohne Trauer und Beileidsgedränge.“ (828) _____________ 15
Im Herausgeberkommentar heißt es, gemäß den Chroniken forderte die Pest allein in der Stadt Bordeaux 14000 Todesopfer. Angaben dieser Art bleiben in den Quellen in der Regel vage, stimmen aber darin überein, dass die Zahlen sehr hoch liegen. Mit genauen Berechnungen, auch Statistiken wartet Defoe in seinem Traktat auf; während die Totenlisten auf 68000–69000 Opfer kämen, sollen es nach der Berechnung eines Kundigen in Wirklichkeit 100000 gewesen sein (wie Anm. 3, S. 810). Zum Vergleich: Für das Pestjahr 1577 in Venedig wurden 50000 Opfer berechnet (Anacleto Verrecchia, Giordano Bruno. Nachtfalter des Geistes, Wien etc. 2009, S. 84).
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Eine soziologische Beobachtung Montaignes verdient hier erwähnt zu werden: „Aber welch ein Beispiel der Standhaftigkeit sahen wir da in der Herzenseinfalt dieses ganzen geringen Volkes!“ In Worten und Gebärden benahmen sich die Leute in Anbetracht des Todes so furchtlos, „als hätten sie in dieses Unvermeidliche eingewilligt, als wäre er ein allgemeines und unentrinnbares Verhängnis.“ Weil sie zur gleichen Zeit starben, Kinder, Heranwachsende, Menschen im Greisenalter, „erschrecken sie nicht mehr, weinen sie nicht mehr um sich.“ Montaigne beobachtete sogar solche, die sich ängstigten, lebend zurückzubleiben, weil von den Gestorbenen verlassen „wie in einer fürchterlichen Einsamkeit“ (829), sodass insgemein keine andere Sorge gehegt worden wäre als um die Bestattung. Man wollte die Leichen nicht auf den Feldern herumliegen lassen, den Tieren zum Fraß. Noch Gesunde schaufelten sich selber schon ihr Grab, manche legten sich lebend gleich hinein. „Und einer von meinen Tagelöhnern scharrte im Sterben mit Händen und Füßen Erde über sich …“ (ebd.). Weder den Unterweisungen der Philosophie noch der ars moriendi spricht Montaigne einen Nutzen zu (ebd.). Sein Text erwächst aus der Lebens- und Praxiszugewandtheit des Zeitgenossen der Renaissance, der sich nicht von der Theorie leiten lassen möchte, sondern lieber auf die Natur vertraut. Er rät: „Wenn ihr nicht zu sterben versteht, laßt es euch nicht kümmern; die Natur wird es euch im rechten Augenblick vollkommen hinreichend lehren; sie wird dies Geschäft meisterhaft für euch besorgen; zerbrecht euch nicht den Kopf darüber“ (830–831).
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Im Anfang der kranckheit.
In mitten der kranckheit.
In der besserung.
Hilff, Herr Gott, hilff in diser not! ich mein, der tod sy an der thür: stand, Christe, für, dann du jn überwunden hast! Z dir ich gilff, ist es din will, züch vß den pfyl, der mich verwundt, nit laßt ein stund mich haben weder r w noch rast. Wilt du dann glych, tod, haben mich in mitz der tagen min, so sol es willig sin; th wie du wilt, mich nüt befilt, din haft bin ich, mach gantz ald brich, dann nimpst du hin den geiste min von dieser erd, th st dus, daß er nit böser werd ald andern nit befleck ir läben fromm vnd sit.
Tröst, Herr Gott, tröst! die kranckheit wachßt, wee vnd angst faßt min seel vnd lyb, darumb dich schyb gen mir, einiger trost, mit gnad, Die gwiß erlößt ein yeden, der sie hertzlich bgär vnd hoffnung setzt in dich, verschetzt darz diß zyts all trutz vnd schad. Nun ist es vmb, min zung ist stumb, mag sprechen nit ein wort, min sinn sind all verdort. Darumb ist zyt, das du min stryt fürist fürhin, so ich nit bin so starck, daß ich mög dapfferlich th n widerstand deß Tüfels facht vnd fräffner hand, doch wird min gmüt stät blyben dir, wie er joch wüt.
Gsund, Herr Gott, gsund! ich mein, ich ker schon widrumb her. Ja wenn dich dunckt, der sünden funck wird nit mer bherrschen mich vff erd, So m ß min mund din lob vnd leer ußsprechen mer dann vormals ye, wie es joch geh, einfaltigklich on alle gferd. Wiewohl ich m ß des todes b ß erlyden zwar ein mal villicht mit grösserm qual dann yetzund wer geschähen, her, so ich sunst bin nach gfaren hin, so will ich doch den trutz vnd boch in dieser wält tragen frölich vmb widergelt mit hilffe din, on den nüt mag vollkommen sin.
Zwinglis „Pestlied“ (1519)16
_____________ 16
Der Ausdruck „Pestlied“ in der Forschung: Als die Seuche im Sommer 1519 in Zürich wütete, sollen von den 7000 Einwohnern 2500 erlegen sein (Gottfried W. Locher, Huldrych Zwingli, in: Martin Greschat [Hg.], Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 5: Die Reformationszeit I, Stuttgart etc. 1981, S. 187–216; hier: S. 190). Vgl. auch ders. S. 195: „Daß er das kunstvolle ‚Pestlied’ noch während der Rekonvaleszenz gedichtet und komponiert hat, ist durchaus glaubhaft …“ Ich zitiere nach der Ausg. von Arnold E. Berger. Lied=, Spruch= und Fabeldichtung im Dienste der Reformation, in: Deutsche Literatur … in Entwicklungsreihen, R. Reformation, 7 Bde., 4. Bd., Leipzig 1938, S. 160f., (Überschrift: Huldrich Zwingli [1484–1531]).
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Seinen lyrischen Text gliederte der Dichter, der Schweizer Reformator Zwingli (1484–1531), klar in drei Strophen – die „Drei“ ist im Christentum schon immer eine geheiligte Zahl gewesen, denn die Gottheit wies drei Personen auf. Jede Strophe wiederum unterteilte er in zwei Blöcke, von denen der erste jeweils zwölf, der zweite 14 Verse umfasst. Vers 1 beginnt mit der Anrufung Gottes, welcher in Vers 5 die Anrufung Christi folgt (der vielleicht schon unter der Bezeichnung „Gott“ in Vers 1 gemeint war). Beim Nahen des Todes soll er sich schützend vor den Kranken stellen („stand … für“), habe er selber doch den Tod besiegt. Der Kranke schreit zu ihm („ich gilff“), damit er ihm, findet er sich dazu bereit, den Pfeil herausziehe, nämlich ihm die furchtbare Krankheit nehme. Darin steckt das alte Bild, wie Gott selber den todbringenden Pfeil auf sein Opfer abschießt17, was zwar der Wortlaut nicht übermittelt, wofür jedoch die „Pfeil“-Metapher steht. Der zweite Textblock (der 1. Strophe) beginnt mit der Apostrophierung des Todes. Den zentralen Sachverhalt präsentiert der manifeste Text keineswegs, führt ihn nicht vor: der eigentliche Verursacher der Krankheit und des Sterbens ist Gott selber. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit spalteten die Christen, um nicht mehr Gott belasten zu müssen, von ihm den Aspekt des Todes ab; so entstand eine Allegorie, der nunmehr die Schuld aufgeladen wurde, was der Entlastung Gottes diente.18 Hier erklärt der fiktive Sprecher seine Bereitschaft, „willig“ (‚ohne Sträuben’) in der Mitte seiner Tage („in mitz der tagen min“) abzutreten, was ihn nicht verdrieße („befilt“), der ohnehin jetzt in der Hand des Todes sei („haft“: mhd. ‚Gefangener’), welcher ihn „gantz“ machen könne (‚gesund’) oder zerbrechen. Falls Letzteres eintrete, nähme er nur des Leidenden Geist von der Erde hinweg, damit dieser nicht der Sünde stärker verfalle, zum Schaden etwa der Frömmigkeit anderer und ihres Lebenswandels. In der 2. Strophe treibt die Krankheit dem Höhepunkt zu. Dem Kranken verbleibt als „trost“ – in der alten Bedeutung ‚Stütze’? – einzig Gott. Zu ihm ruft er, er möge sich (etwa nach Art einer Wand) zu dem Leidenden schieben (um ihn von dem Abgrund zu trennen). Gottes Gnade erlöse einen jeden, der sie mit aller Kraft seines Innern begehre, der auf den Erlöser baue und nichts nach irdischem Glück oder Unglück frage (= es „verschetzt“: ‚geringschätzt’). Gott sei es, der für ihn den Kampf führen möge („stryt“), wo er selber nicht (mehr) die Kraft besitze, der Anfechtung des Teufels („facht“) und seinem frevlerischen Anschlag tapfe_____________ 17 18
Vgl. Peter Dinzelbacher: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung: Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Paderborn 1996, S. 137–148. Ders., „Sterben/Tod“ (im Abschnitt:) Mittelalter. In: ders. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 22008, S. 279–297.
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ren Widerstand entgegenzusetzen. Doch, wie jener auch rase, seine Seele vertraue ihm (Gott) stetig. Das im Tone des Jubels gehaltene Anfangswort der 3. Strophe: „Gsund“ verdient die Übertragung: ‚Ich lebe!’ (Mhd. „gesunt“ auch: ‚lebendig’; zur selben Wurzel wie „sein“ und einige Formen des lat. Verbums „esse“.) Daher ruft er beglückt aus: ‚Ich kehre ins Leben zurück!’ Der Mollklang weicht dem strahlenden Dur: Jegliche Unbill, alle Widrigkeiten im Diesseits („den trutz vnd boch“: ‚Feindseligkeiten und Schläge’) werde ich fortan freudig ertragen, mit Gottes Hilfe und mit Aussicht auf Belohnung („widergelt“) in der Ewigkeit. Zwinglis Text gibt sich auf den ersten Blick problemlos, ist in Wahrheit aber recht komplex. Z.B. sind in ihm alte Bilder und Vorstellungen enthalten, Zitate aus dem Psalter und aus altem Liedgut: Die Wendung: Ich, der Kranke, „gilff“, ‚schreie’ zu Gott – aus Psalm 130 („Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“); derselbe Psalmvers diente Luther etwas später als Vorlage seines bekannten geistlichen Lieds: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Die Wortverbindung – „In der Mitte meiner Tage“: Verdeutschende Variation in Anlehnung an die „Antiphona de morte: Media vita in morte sumus“, früher fälschlich dem Notker I., Balbulus (ca. 840–912), einem Mönch im Kloster St. Gallen, zugeschrieben. Ebenfalls von Luther aufgenommen; vgl. sein 1523 entstandenes Gemeindelied: „Mitten wir im Leben sind“. Eine Reflexion, die auch sonst in Pestzeiten vorkommt, erscheint hier neuerlich, wenn es zu Beginn des zweiten Textblocks heißt: ‚Mein Schicksal ist doch, künftig einmal deß todes b ß auf mich zu nehmen (sprich: der ‚Sünde Sold’ zu entrichten) – ‚wahrscheinlich’ (= mhd./frühnhd. „villicht“) dann unter größerer Qual, als es jetzt geschehen wäre – denn ich war ja nahe daran, aus dem Leben zu scheiden („so ich sunst bin / nach gfaren hin“). Sicher könnte dies Lied auch der Gattung ‚Gebet’ zugeordnet werden. Seine drei Strophen zeichnen insgesamt einen dreistufigen Krankheitsverlauf nach, vom Beginn über die Krise bis zur Genesung. Die drei Stufen verstehen sich jedoch zugleich als Gang einer inneren Läuterung des Sprechers (oder ‚lyrischen Ichs’): 1) Siecht der Sprecher an der Krankheit dahin (an der Pest, die im Gedicht aber nie ausdrücklich benannt wird), so verhindert der Tod auf diese Weise, daß er künftig sündiger werde, anderen Menschen zum Schaden. 2) Auf dem Höhepunkt der Krise versagt seine Kraft, Hoffnung gibt es für ihn bloß noch, wenn Gott für ihn den Kampf aufnimmt, für den Gott selber in den Kampf eintritt, an dem die Seele des Geschwächten, was auch komme, treu festhalten wird.
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3) Er lebt. Und das heißt auch, sein Inneres richtet sich wieder auf, er selber kann nun neu in den Streit eintreten. Die Feindseligkeiten und Schläge im Erdenleben wird er „tragen frölich“, guten Mutes, wenn nicht gar ‚freudig’.
Der dreistufige Krankheitsverlauf gerät damit zur Allegorie eines religiösen Wandlungsprozesses. Der Sprecher erweist sich als ein anderes Inbild eines ‚guten Sünders’, dem „armen Heinrich“ Hartmanns von Aue gleich. Wie die Genesung Heinrichs vom Aussatz, ist die Genesung ... nicht minder symbolisch ist die Gesundung des Pestkranken in Zwinglis Lied. Der lange Mann in der Mordgasse zu Hof. (Eine Pestsage)19 Vor dem Ausbruch der Pest in der Stadt Hof 1519 „hat sich bei Nacht ein großer schwarzer, langer Mann in der Mordgasse sehen lassen, der mit seinen ausgebreiteten Schenkeln die zwei Seiten der Gassen betreten und mit dem Kopf hoch über die Häuser gereicht hat …“ („Gassen“: bair. Singular)
Diesen beobachtete eine Frau, Walpurga Widmännin. Vor Schreck wusste sie nicht, ob sie zurück- oder weitergehen sollte, entschied sich jedoch fürs Weitergehen, machte ein Kreuz vor sich „und ist mitten durch die Gasse und also zwischen seinen Beinen durchgegangen“. Hiernach schlug „das Gespenst“ seine Beine hinter ihr so hart zusammen, daß es prasselte, als fielen alle Häuser zusammen. „Es folgte darauf die große Pest, und das Sterben fing in der Mordgasse zuerst an.“ Die Sage kommt mit einem Minimum an Handlung aus: Nachts in der Mordgasse in Hof erblickt Walpurga Widmann die überdimensionale Erscheinung, deren Beine die ganze Gasse überspannen, und die nächtliche Spaziergängerin ist genötigt, wenn sie nicht umkehren und fliehen will, unter ihnen hindurch ihren Weg fortzusetzen. Zu dem Gespenst kommen noch der Straßenname „Mordgasse“ und die Erwähnung der Pest hinzu, um das Schreckbild zu vervollkommnen. Rede und Gegenrede finden nicht statt. Soll, wer den Text gedeutet haben möchte, sich mit der Auskunft begnügen: „Schreckbild“, worin ein Unheil sich ankündigt? Ist das Gespenst ein Warnzeichen, wie auch sonst in der Sagenwelt anzutreffen?20 Wäre aber eine Warnung in Hof noch von Nutzen, wenn das Unheil, die Pest, doch unabwendbar die Stadt erreichen wird? Die Interpretation des Texts setzt am günstigsten bei dem auffälligsten Symbol darin an, einem Vorgang, der sich symbolisch interpretieren lässt: Die gespreizten Beine des Gespensts bilden ein Joch. Dass Walpurga nicht umhin kann, darunter _____________ 19 20
Quelle: Alexander Schöppner, Bayrische Sagen, 3 Bde., Augsburg 1990, 1,192. Vgl. z.B. „Das Pestmännlein“, ebd. 2, 379–382.
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hindurchzugehen, ist der Zwang, sich zu unterwerfen, eine Demütigung. (Ein zweites, gewohntes, daher weniger auffallendes Symbol ist das Zeichen des Kreuzes.) Das rasselnde Schließen der Beine erinnert an ein Tor, das zufällt, es bedeutet: es gibt keinen Weg zurück. Wer oder was demütigt sie? Leicht zu beantworten: die Erscheinung. Aber wer oder was ist sie? Das Gespenst, heißt es, habe „mit dem Kopf hoch über die Häuser gereicht“, eine Andeutung von Überlegenheit. Könnte es die schwer besiegbare, grauenhafte Schickung Gottes sein, die Pest? Gar er selbst, Gott in seiner furchtbaren Größe? Ein Wesen von bedeutender Mächtigkeit jedenfalls, das die Unterwerfung erzwingt. Aber doch Gott wohl nicht. Gott ist Gegenmacht, was sich darin bezeugt, dass Walpurga, wenn sie die Entscheidung treffen muss: fliehen oder voranschreiten, es „in Gottes Namen“ wagt, weiterzugehen, nicht ohne zuvor ein Kreuz zu schlagen. Imaginierte Gegenmacht zwar, aber Gott ist – keine allmächtige Macht, nicht der allmächtige Schöpfer wie im Katechismus und in der Dogmatik! Den Einbruch des Unheils demnächst in Hof kann diese Macht nicht aufhalten, oder – die Frage der Theodizee – will sie es nicht? Die Annahme wäre zu erwägen: Der Sage liegt ein gespaltenes Bild Gottes zugrunde, des hilfreichen, in dessen Namen Walpurgas Passage unter dem Joch hindurch gelingt, sowie eines dräuenden, der eine ganze Bevölkerung mit der Pest heimzusuchen im Begriff steht. In Martin Luthers Lehre (vgl.: De servo arbitrio, 1525) gibt es einen dermaßen gespaltenen Gott oder die zwei Gesichter (Aspekte) des einzigen: ein dem Menschen zugewendetes, das des offenbarten Gottes (deus revelatus), sowie das andere, vom Menschen abgewendete des unbekannten Gottes in unnahbarer Majestät (deus absconditus). An diese lutherische, selbst heute noch von Gelehrten als kaum erlaubt kritisierte Gottesvorstellung erinnert in der Gegenwart eine Aussage von Eugen Drewermann: Rein logisch läßt sich die Aporie der ‚christlichen’ Theologie in einem einzigen Gedanken zusammenfassen: Wenn Gott wirklich, wie die Kirche lehrt, die Welt ‚geschaffen’ hat, um seine Allmacht, Weisheit und Güte zu ‚offenbaren’, dann dürfte die Welt nicht so sein, wie sie ist; sie ‚dürfte’ es aus moralischen Gründen nicht: Niemand, der in Freiheit überhaupt über die Wahl verfügt haben würde, auch eine andere Welt ‚schaffen’ zu können, hätte diese Welt schaffen dürfen, die mit fühlenden Lebewesen derart gefühllos verfährt, wie niemand, kein Mensch und kein Gott, mit ihnen umgehen darf.21
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Eugen Drewermann, in: Jörg Fündling/Heribert Körlings (Hrsg.). Das Eugen DrewermannLesebuch. Düsseldorf 2009, S. 104.
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Hätte denn ein gütiger Gott das Wüten der Pest auf Erden zugelassen – oder etwa bewirkt? Natürlich brauchte, wer immer die Sage abfasste oder überlieferte, kein ausgebildeter Theologe gewesen zu sein. So ist sie wahrscheinlich auch nicht dem bewussten Vorsatz einer schreibenden Person zu verdanken, die eine theologische Annahme in eine Erzählung umsetzte. Vielmehr könnte es sich um ein intuitiv entworfenes Bild handeln, das eine naive Kommentierung des Geschehens in dieser Welt vornimmt. In der Erscheinung wäre die unerbittlich-gefühllose Macht der Natur dargestellt, die den Menschen unterjocht. Dieser hat nichts anderes, an das er sich halten kann, als den Namen Gottes und das Kreuz, einen doppelten Trost – aber in ihnen doch nicht die geeigneten Abwehrmittel, um die Kräfte der Natur endgültig zu zähmen, zu denen auch die Krankheiten zählen, darunter 1519 die Pest in Hof. Unter dem Joch der Natur legt er seinen Lebensweg zurück, ihr bleibt er unterworfen, in welcher Gestalt auch immer sie sich ihm darbietet. Hans Wilhelm Kirchhof (ca. 1525–ca. 1603): Die Pest steckt an. Ein Exempel22 Die Geschichte spielt in einer nicht mit Namen bezeichneten Stadt im „Delphinat“ (dem französischen Territorium Dauphiné [im Frz.=masc.]) und handelt von einem Mädchen, dessen große Schönheit viele Männer verlockt, sie „in Unehren“ zu begehren. Sie weist sie jedoch sämtlich ab, teils die Schande befürchtend, „die ihr daraus erfolgen könnte“, teils „ihres Vaters Zorn“ (zwei äußere Motive mithin, Sozialprestige und ‚Vaterrecht’). Nun eine Mitteilung, worin sich die konventionelle Sichtweise verrät: „Mittlerweile schickte Gott, der Herr, eine schreckliche Pestilenz in besagte Gegend“. Die Schöne wird angesteckt (Text: „vergiftet“). Sie sucht eine Kupplerin auf, der sie ihr Geständnis vorträgt (in Französisch; _____________ 22
Günter Albrecht (Hg.), Deutsche Schwänke in einem Band, Berlin etc. 1977, S. 340ff. (aus „Wendunmuth“ [in sieben Büchern,1563–1603], III,97). – Die deutschen Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts, von denen diejenige Kirchhofs die bei Weitem umfassendste ist (Entstehungszeit: vier Jahrzehnte), enthalten bekanntlich Erzählgut aus allen epischen Gattungen (bevorzugt aus denen mit kürzeren Texten, gelegentlich jedoch ganze ‚Volksbücher’, Vorform der Romane!). – Exempel: „kurze Erzählung von positiven oder negativen Beispielen sittlichen Lebens, zur Veranschaulichung einer dogmatischen oder moralischen Lehre …“ (Wilpert, Sachwörterbuch, wie Anm. 13, S. 194). Siehe dazu jetzt Albrecht Classen: Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts. Studien zu Martin Montanus, Hans Wilhelm Kirchhof und Michael Lindener. Trier 2009 (Koblenz-Landauer Studien zu Geistes-, Kultur- und Bildungswissenschaften, 4).
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freie Übersetzung ins Deutsche beigegeben): Es reue sie, nun sie „in diesen meinen besten und blühenden Jahren des Todes halber vergehe“, die Menge der Anträge abgeschlagen zu haben. Die Alte forscht nach den Bewerbern. Das Mädchen bezeichnet ihr zuerst einen jungen, gut aussehenden Kaufmann, dann zwei weitere Jünglinge. Durch Vermittlung der Kupplerin werden sie ihr alle nacheinander zugeführt, keinen schreckt die „ansteckende Krankheit an ihr“ S.? ab, weil ihr Liebreiz sie besticht und die Begierde der Männer größer ist als ihre Furcht. Die Folgen sind zweigeteilt: Die junge Schöne gesundet, die drei Liebhaber aber werden mit der Pest angesteckt und sterben binnen weniger Tage. Gehört Kirchhofs Schwank (oder Exempel) zu den – oft burlesken – Erzählungen vom Kur-Typ? Darin gibt es stets die „Heilung der durch sexuelle Enthaltsamkeit entstandenen Gesundheitsschäden“ (solcher, die keine innerlich gewollte, sondern durch Rücksichten auf Äußeres erzwungene Askese bewirkt hatte).23 Im vorliegenden Exempel erlangt ebenfalls eine kranke Person, deren aufgenötigte Enthaltsamkeit erwähnt wurde, durch Liebe Genesung. Aber abweichend vom Kur-Typ folgt das Übel in ihrem Fall nicht unmittelbar aus der Frustration, sondern beruht auf Ansteckung, und angesteckt werden können auch Menschen mit regem Liebesleben. In seiner Erzählung verwendet der Autor zudem drei weitere Motive, die sich in der Pestliteratur regulär finden: 1. Angesteckt, verlieren die Menschen oft völlig frühere Hemmungen und setzen Anstand und Sitten hinter dem Verlangen nach Lust zurück. 2. Sie riskieren es, andere anzustecken. Diese wissen entweder von der Erkrankung der ansteckenden Person, setzen sich aber leichtfertig darüber hinweg. – Oder sie wissen nichts davon; dann liegt der strafbare Fall vor, dass ihre Gesundheit von der kranken Person gefährdet wird. Oder drittens – der Gipfel kriminellen Tuns – die kranke Person beabsichtigt sogar, andere vorsätzlich anzustecken. Nicht so die Lebenslustige aus dem Delphinat. Sie vernachlässigt nur das Risiko. Doch ihren Bewerbern ist die Krankheit der Schönen bekannt. 3. Verlauf der Heilung. In Kirchhofs Schilderung: … man sagte (soll auch wahrhaftig so geschehen sein), sie habe dieser geleisteten Gesellschaft halber, als sie danach wieder allein, angefangen sehr zu schwitzen, die an zwei Enden entstandenen Beulen seien aufgebrochen, sie habe ihre vorige Gesundheit wieder erlangt … (Man beachte den Euphemismus: „dieser geleisteten Gesellschaft halber“!)
Denselben Heilungsvorgang beschreibt ein späterer Schriftsteller, Defoe, an zwei Stellen.24 Die Mehrzahl der Renaissance-Erzählungen vom Kur_____________ 23 24
Wolfgang Beutin: Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance, Würzburg 1990, S. 318; vgl. die Beispiele für den Kur-Typ aus der Facetien-, Novellen- und Schwankdichtung, ebd., S. 318. Pest, wie Anm. 3, S. 862 u. S. 893; vgl. auch Vasold, wie Anm. 1, S. 73.
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Typ belässt es überhaupt bei einer Schilderung des Heilungsvorgangs. Nicht so der deutsche Autor. Er schreibe ein Exempel, vermerkt er ausdrücklich. Was will es lehren? In der gereimten ‚Moral von der Geschicht’25, wie Kirchhof sie seinen Schwänken anzuhängen liebt, behauptet er: ‚Ohne die Eile, die das Mädchen mit ihrem rasanten Wechsel der Freier an den Tag legte, hätte sie nicht den Huren erfolgreich den Rang abgelaufen. Oberflächlich geurteilt, wählte sie das passende Heilmittel, um kuriert zu werden. Es bestand aber in dem Versuch, der Sündenstrafe durch erneute Versündigung zu entgehen. In Wahrheit füllte sie ihr Sündenkonto nur weiter auf. Denn wer während der Abbüßung seiner Strafe für die frühere Sünde bereits nach der nächsten trachtet, die er nicht als Sünde erkennt, vermehrt sein Sündenkonto nur noch.’ (eigene Übers.)
Aus heutiger Sicht wirkt die Nutzanwendung, die der Verfasser seiner Erzählung beigibt, leicht als finster-moralinsauer, als laienhaft theologisierende Übertreibung. Darin bezeugt sich eine Epoche, in der die in der ersten Jahrhunderthälfte aufgekommene protestantische Reform sich immer geschwinder dogmatisch verfestigte, nicht nur sich gegen die ebenfalls neu formierte katholische Kirche (Konzil zu Trient) in Stellung bringend, sondern ebenso gegen innovierende Einsichten, wie sie aus dem Italien der Renaissance und aus Frankreich ins Reich einströmten. Insofern ist sein Exempel auch eine Abwehrgeste. Gegen wen? Erstens Frankreich. Die schöne Sünderin ist, wie der Autor betont, in der Landschaft Dauphiné zu Hause. Dort gibt es die beklagenswerte Institution der Kupplerin. Mit ihr spricht die schöne Sünderin – weiteres Indiz – französisch! (Nämlich innerhalb des sonst in Deutsch gehaltenen Texts.) Indiz und unzweifelhaftes Belastungsmoment (vgl. Lessings Riccaut in dem Lustspiel Minna von Barnhelm und sein Französisch; 1767). Wer wird zweitens belastet oder belastet sich selber? Die junge Schöne. Die Frau. Die kleine Erzählung erweist sich damit als eine in der großen Menge von misogynen Texten in der europäischen Literaturgeschichte seit Homer (welcher Helena anklagt, sie wäre die Verursacherin des Untergangs von Troja). Dies flinke gallische Mädchen, in Liebessachen, wie Kirchhof vermerkt, flinker als gallische Huren sonst ohnehin, ist sogar dreifach belastet: – Obwohl schwer erkrankt, frönt sie, anstatt sich nach kirchlicher Vorschrift aufs Sterben vorzubereiten, ihrer sexuellen Begierde; und vielleicht die Befriedigung ihrer erotischen Wünsche anfangs nicht einmal als Kurmittel begreifend?
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Wortlaut: „Wenn diese nicht ein’ Vorsprung nähm, / Den Hurn mit Laufen nicht vorkäm, /Ihr’ Tat dem Namen [nach] ist bequem, / Die Straf der Sünd durch Sünd vertreiben / Ist, mehr ins Sündregister schreiben. / Drum, wenn man Sünd für Sünd nicht acht’ / Und in der Straf nach Sünden tracht’, / Dieselben auch immer größer macht.“ Quellen, S.?
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– Sie reißt die drei lüsternen amants, die sie im Liebesakt ansteckt, in den alsbaldigen Tod. – Ohne die Pesterkrankung ergeben als Sündenstrafe hinzunehmen, häuft sie auf ihre frühere Sünde – die von den Ureltern verschuldete, die Erbsünde – die nächste, sogar die von den Frommen im Lande am schärfsten verdammte, weil die höchste Lust spendende.
Aus Sicht der Moderne wirft dies Exempel die Frage auf: Die außerordentliche Kur, der sich das Mädchen unterzieht, ohne Wissen anfangs, dass sie sich kuriert, – ist sie nicht sträflich. Sie schenkt zwar der Liebestollen die Gesundheit wieder, kostet jedoch die drei Liebhaber das Leben. Dennoch in aller Nüchternheit sage ich: Die Kranke praktizierte nichts Verbotenes. Jeder dieser Männer ließ sich auf den Liebesakt ein, obwohl in Kenntnis der Krankheit der Liebestollen.26 Von ihrer Seite liegt kein kriminelles Delikt vor, denn der alte Satz behält seine Gültigkeit: Volenti non fit iniuria. Ohne das Sterben der Liebhaber wäre das Exempel in der Tat eine Burleske, aber Burleske und Pest, das geht meistens nicht zusammen. So jedoch zeigt sich ein erheblicher Bruch in dem Ganzen: Es zerfällt in die angepappte, ärmlich theologisch-moralisierende Nutzanwendung, die von einer Leserschaft späterer Zeiten nur als inadäquat empfunden werden kann, und die vorangestellte Narration, die mit der zentralen, eher lustspielhaften Handlung ein zweites Element verbindet: die Darbietung der Imago der furchterregend vitalen Frau, die tötet, indem sie ihre erotische Begierde stillt (in der damaligen Mythologie: auch die Sphinx, die Nixe u.Ä.). *** Die Schriften, die den Gegenstand dieser Abhandlung bilden, unterscheiden sich gravierend, wenn sie nach der Aufgliederung in das Motiv der Pest und damit liierte (Zusatz- oder Neben-)Motive untersucht werden. Es ergibt sich eine Skala: ein Text, dessen Reichhaltigkeit an Motiven hervorsticht (Luthers Traktat); andere, die das stoffliche Element immerhin noch nach mehreren Richtungen zergliedern (Montaigne, Zwinglis Lied, Kirchhofs Schwank (oder Exempel); endlich solche, die sich auf nichts anderes als ein einziges Element beschränken (Sastrow: das vernichtende Wüten der Pest in der Familie; die Sage: eine Erscheinung vor dem Ausbruch der Pest). _____________ 26
Nach der berühmten Formel Kurt Hillers (1907/1908), der „Das Recht über sich selbst“ promulgierte, ein Fall von Recht über sich selbst! Genau genommen sogar vier Fälle von „Recht über sich selbst“.
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Beschränkung und Reichhaltigkeit dürften von der jeweils gewählten Gattung abhängen: Traktat – viele Details; Essay, Lied, Exempel – mehrere; Autobiografie, Sage – nur Darstellung eines einzigen Vorgangs oder Moments. Die inhaltliche Ausgestaltung bestimmt sich gemäß der AutorIntention. Auch gemäß der von ihm in sein Schreiben mit hineingetragenen Konfession oder Weltanschauung. Die Theologie zieht praktisch das gesamte Ein und Alles der Welt oder ‚Gott und die Welt’ in den Kreis ihres Interesses. Produziert der Gottesgelehrte z.B. einen Traktat mit dem Pest-Thema, wird er nicht verfehlen, sämtliche oder zumindest zahlreiche damit liierte Motive hinzuzunehmen, sicher in geistlicher Absicht, daneben schon in säkularer (juristische Fragen, Hygiene usw.) Zwiespältigen Eindruck hinterlässt es, wenn ein Verfasser in seinem Erzähltext zwar auf philosophische, ethische, religiöse Aspekte verzichtet, jedoch seine Moral nachträglich addiert (Kirchhof). Zwinglis Pestlied bezeugt den geistlichen oder geistlich gesinnten Verfasser, gibt sich zunächst als autobiografisch, wäre damit ein Erlebnisbericht, wird vom Dichter zugleich aber als Allegorie angelegt, lässt sich als die Veranschaulichung einer existenziellen oder Reifungskrise erkennen: in der Auseinandersetzung mit dem Pesttod Hilferuf und angebahnte Resignation; darauffolgend die Gewinnung des Herrn als Protagonisten für den verzagenden Kranken, für das ermattete lyrische Ich; dann endlich die Genesung mit der Folge, dass der Gesundete fortan selber den Kampf gegen Anschläge jedweder Art aufzunehmen vermag, ein freudiger Gottesstreiter. Die Sage, mit der Armut ihres Erzählstoffs und der Düsternis ihrer Atmosphäre, vermittelt doch eine zwar nicht an der Oberfläche liegende, aber tiefere Erkenntnis intuitiver Art. Der aufs stärkste irdischer Materie und dem Erdenleben zugewandte Essayist Montaigne lässt seine Schilderung frei von Erwägungen religiöser Art. An mentalitätsgeschichtlichen Besonderheiten dürfen noch vermerkt werden: in Luthers Traktat das vom Verfasser ausgesprochene Vertrauen, das er den Ärzten entgegenbringt, und seine Berufung auf die Vernunft, womit er dem Zeitalter der Vernunft vorarbeitete. Montaigne setzt aller Unbill stoisch (oder aristokratisch?) Entschlossenheit und Geduld entgegen.
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Exkurs: Die Pest in großer europäischer Epik vor und nach dem 16. Jahrhundert Im Folgenden sollen noch einige Hinweise darauf gegeben werden, wie das Pestgeschehen in Schriften älterer oder jüngerer Erzähler aufgegliedert erscheint (Hauptmotiv, Neben- oder Zusatzmotive): Eros contra Thanatos Boccaccios Decamerone, das Buch seiner hundert Novellen, beruht auf einer grandiosen Antithese: dem Thanatos, vertreten durch die Pest, die Florenz im Griff hat, stellt er die Macht des Lebens gegenüber, den Gott der Liebe, Eros.
In Zeiten der Seuche gilt es, sich überlegt zu verhalten, und so retten sich einige wohlsituierte Personen, sieben Frauen und drei Männer, durch Flucht auf ein von der Stadt entferntes Gut (Motiv: vor der Pest fliehen). Der Dichter erklärt: Die Schilderung der Pest, dieser „schreckensreiche Anfang“ des Buchs, „soll euch nicht anders sein wie den Wanderern ein steiler und rauher Berg, jenseits dessen eine schöne und anmutige Ebene liegt … Und wie der Schmerz sich an das Übermaß der Lust anreiht, so wird auch das Elend von der hinzutretenden Freude beschlossen.“27 Die Verursachung des Übels: Boccaccio erwägt die „Einwirkung durch Himmelskörper“, auch: es wäre „im gerechten Zorn über unseren sündlichen Wandel von Gott als Strafe über den Menschen verhängt“ (14).28Feststellen konnte man: Symptome der Krankheit, woran man sie erkennt: Pestbeulen, später Flecken (die Krankheit wandelte ihr Erscheinungsbild). Die Stärke der Ansteckung; selbst Tiere infizierten sich, wenn sie an Leichname rührten.
Aber: Was blieb wirkungslos gegen die Pest? Viel oder fast alles, was man damals wusste: Ratschläge der Behörden zur Erhaltung der Gesundheit. Einsetzung von Beamten, die eine Reinigung der Stadt von allem Unrat bewerkstelligten. Verbot, Häuser zu betreten, worin Kranke lagen. Die demütigen Gebete der Frommen.
Auch ärztlicher Rat, Arzneien. Und Boccaccio erwägt: „Unwissenheit der Ärzte“ (und der großen Anzahl nicht ausgebildeter, dilettierender Pfu_____________ 27 28
Ausg. (in der Übers. von Karl Witte): München 1971, S. 13. Hier greift wiederum Drewermanns Einwand (Lesebuch, wie Anm. 20, S. 107) – womit er sich der christlichen Lehre zweier Jahrtausende entgegenstemmt: „Die ganze Idee der Strafe-Gerechtigkeit als Prinzip der Naturerklärung ist absurd …“ (und was ist Krankheit, darunter die Pest, anderes als ein Phänomen der Natur?)
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scher), die allesamt die wahre Ursache der Pest nicht erkannten, daher auch keine Therapie wussten (14f.). Aus alledem ergab sich ihm die Notwendigkeit der Flucht, die der Autor in langer Ausführung begründet (15). Was konnte sonst getan werden? Wenig genug (16ff.): Wenn man Kranke sichtete, die Begegnung mit ihnen sorgfältig vermeiden.
Manche rieten zu mäßigem Leben, um „die Widerstandskraft besonders zu stärken. Andere zum Gegenteil: viel trinken, üppig leben, Gesang und Scherz. Eine dritte Gruppe schlug einen Mittelweg zwischen den beiden zuvor genannten Richtungen ein, die Menschen ergriffen Blumen und duftende Kräuter, um das vermutete heilsame Aroma einzuatmen. Noch andere hingegen verzichteten auf alle Moral: „das ehrwürdige Ansehen der göttlichen und menschlichen Gesetze“ sei „fast ganz gesunken und zerstört“ (auch engste Verwandte ließen einander im Stich). Unerhörtes geschah: erkrankte Damen ließen sich „ohne Scham“ vor Männern am ganzen Körper untersuchen, erlaubten auch, von ihnen bedient zu werden. Was bei Kirchhof der liebestollen Schönen aus dem Delphinat zustieß, dass sie durch den Liebesakt Heilung fand, erhofften in Florenz sogar die Mönche in den Klöstern, warfen „die Gesetze des Gehorsams über den Haufen“ und ergaben sich der „Fleischeslust“ (25). Boccaccio vergisst nicht den soziologischen Aspekt der Seuchenzeit: neue Bestattungsbräuche, z.B. die Bestallung von Totengräbern („Pestknechte“ genannt) „aus dem niederen Volk“. Im Vergleich mit den Angehörigen der Oberschicht und der Geistlichkeit war die Lage „der kleinen Leute und wohl auch der meisten aus dem Mittelstand … noch viel elender“, „… von der Hoffnung oder von der Armut in ihren Häusern zurückgehalten“, konnten sie sich die Flucht also nicht leisten, wurden leicht von Nachbarn angesteckt und starben in Mengen „bei dem vollständigen Mangel an Pflege und Hilfe rettungslos“. Viele tags und nachts „auf offener Straße“. Dasselbe auf Bauernhöfen und Landgütern, wo es an ärztlicher Hilfe und Pflege mangelte. Da die „kirchlichen Gottesäcker“ für die Totenbestattung nicht mehr ausreichten, wurden Gruben ausgehoben und die Leichen zu Hunderten in Massengräber geworfen (19ff.). Die Zahl der Opfer belief sich gemäß Boccaccios Angabe auf über 100000 (21). Eine Art Schlusswort nach dem Bericht über die Pest spricht die Königin des ersten Tages, Pampinea, wobei sie ein grundlegendes Recht geltend macht, das Recht auf Leben: „Das natürliche Recht eines jeden, der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben, soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen“ (23).
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Geschichte schreiben heißt Wahrnehmungen der Dinge wiederzugeben Defoes ausführlicher Traktat mit Darstellung der Pest in London im Jahre 1665 ist zugleich eine hervorragende soziologische und mentalitätsgeschichtliche Analyse der Seuchenzeit.29 Ausdrücklich verwahrt der Autor sich gegen die Bezichtigung, „ich hielte mit aufdringlichem religiösen Geplärr eine Predigt, anstatt Geschichte zu schreiben, und ich mache mich selbst zu einem Lehrer, anstatt meine Wahrnehmungen der Dinge wiederzugeben …“ (929) Boccaccio gleich nimmt Defoe bei der Frage nach der Krankheitsursache nicht nur eine an, sondern lässt durchblicken, dass es zwei seien: „Wenn ich aber von der Pest als einer Krankheit spreche, die aus natürlichen Ursachen entsteht, müssen wir berücksichtigen, wie sie wirklich durch natürliche Mittel verbreitet wurde, und sie ist auch durchaus nicht minder ein Strafgericht, als sie nach menschlichen Ursachen und Wirkungen verläuft.“ (887)
Nach der sachgerechten, auch wissenschaftlichen Feststellung folgt die konventionell-theologische, die er mitschleppt, als sei die Distanzierung von ihr unerlaubt? Aufsässigen Gemütern galten speziell die Menschen am Hofe als die Hauptschuldigen, denn „ihre schreienden Laster könnten für das Hereinbrechen dieses furchtbaren Strafgerichts über die ganze Nation verantwortlich gemacht werden“ (743). Außer Frage sei, dass „das Unheil durch Ansteckung verbreitet wurde“; da jedoch die Existenz der Bakterien und Viren noch nicht entdeckt war, vermutete man in Defoes Ära die Infektion durch Dämpfe, Dünste, Atem, Schweiß, Wundgeruch (790f.), was der Miasmatheorie entsprach. Bevor die Pest nach England kam (1664), hatte sie in Holland gehaust (1663/1664). In England gelangte sie 1665 auf einen Gipfelpunkt, mit Totenziffern, die höher lagen als in der vorangegangenen Pest des Jahres 1656. In London täuschte man sich zunächst über ihren neuerlichen Ausbruch hinweg, zumal da die City anfangs noch verschont blieb, ebenso manche der 97 Gemeinden, während sie in anderen in unterschiedlicher Stärke auftrat. Es wurden auch „Beschönigungsversuche“ unternommen, und von den Angesteckten bemühten sich manche, ihren Zustand zu verheimlichen (734). Wie in der Sage von der Mordgasse gingen dem Ausbruch der Pest „Vorboten“ oder „Warnzeichen“ voraus, z.B. ein „Haarstern“, d.h. Komet (746). Defoe ließ seinen Zweifel durchblicken, weil er wusste, dass die Astronomen für die Himmelserscheinungen „natürliche Ursachen“ angaben. Doch steigerten sich die „Befürchtungen des Volkes“ noch „durch den Irrglauben jener _____________ 29
Alle Zitate nach der in Anm. 3 verzeichneten Ausgabe.
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Zeit“, wobei u.a. „die Träume alter Frauen“ eine Rolle spielten (746f.). In der Bevölkerung verfiel keine geringe Anzahl von Personen dem Wahnsinn und psychotischen Zuständen, und obwohl die Behörden es zu verhindern suchten, liefen hochgradig Geistesgestörte durch die Straßen (863). Nicht selten kam es dazu, dass Geistliche „in ihren Predigten die Herzen ihrer Zuhörer niederdrückten, anstatt sie zu erheben“ (750). Auf der anderen Seite vermerkt der Verfasser allerdings auch, „daß die Frauen in diesen ganzem Unglück die waghalsigsten, furchtlosesten und verwegensten Geschöpfe waren“. Von ihnen diente eine Menge als Pflegerinnen, darunter nicht wenige, die sich „Diebereien“ zuschulden kommen ließen (798). Defoe kennt zwei dominierende Themen in Verbindung mit der Pest: Die Gegenmaßnahmen, die man traf, und die Flucht. Er attestiert den Ärzten, „durch ihre Erfahrung und ihre Klugheit und die Behandlung vielen bis zur Rettung ihres Lebens und der Wiederherstellung ihrer Gesundheit“ verholfen zu haben, wenn ihnen dies auch bei anderen, bei denen die Krankheit zu weit fortgeschritten war, misslang. Die Behörden versuchten alles zu tun „zur allgemeinen Sicherheit“, zur „Erhaltung guter Ordnung“, und sie stellten außerdem „die Versorgung mit Lebensmitteln“ sicher (759; 876). Ausführlich beschreibt Defoe die wichtigste Maßnahme der Behörden. Worin bestand sie? Wenn in Wohngebäuden an einer Person oder an mehreren die Krankheit diagnostiziert worden war, ordneten sie das Verschließen der Häuser an (der Verfasser druckt seitenlang die Vorschriften ab, S. 760–767). Sie beauftragten Wachleute, die Befolgung dieser Maßnahme zu garantieren. Oft geschah es, dass sich die Bewohner in Häusern selber einschlossen. Sie speicherten eine Menge Vorräte, die für die ganze Familie während der Seuchenzeit ausreichen musste, und kamen erst nach dem Abklingen der Pest wieder zum Vorschein (775). So verhielten sich allerdings nur Vermögende, denn Ärmere konnten „sich keine Vorräte an Lebensmitteln anlegen“, sodass sie entweder selber von Tag zu Tag einkauften oder wenigstens ihre Kinder oder Bedienten nach ihnen schicken mussten, und vom Markt brachte man oft den Tod mit ins Haus (793f.). Des Verfassers Einsicht nach alledem: „daß das beste Mittel gegen die Pest darin besteht, vor ihr wegzulaufen“ (890). Kein Mitleid galt mehr; Kinder ließen ihre Eltern im Stich, und umgekehrt. „Selbsterhaltung schien hier in der Tat das oberste Gesetz zu sein.“ (823) Des Erzählers Bruder wendet sich gegen den Fatalismus, wie ihn Türken und Mohammedaner zeigten, die sich „erkühnten, sich unbedenklich an verseuchte Orte zu begeben und mit Angesteckten zu verkehren“ (739). Wie im PestTraktat Luthers, so bildete auch in Defoes Text das Weglaufen der Geistlichkeit ein besonderes Problem (920). Wer konnte sich die Flucht aber
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leisten? „Leute aus den reichsten Schichten und Personen, die unbelastet von Gewerben und Geschäften waren“ (744). „Diejenigen, die Geld besaßen, flohen immer am weitesten, weil sie imstande waren, sich selbst zu erhalten …“ (852). Anders die sehr unglückliche Lage „armer Bedienter“, da „eine gewaltige Anzahl von ihnen“ die Stelle verlor (752f.). Es war auch unmöglich, den Armen überhaupt Vorsichtsmaßregeln „in die Köpfe zu hämmern“. Viele Arbeitslose unter ihnen ergriffen jede Beschäftigung, auch die mit Ansteckungsgefahr verbundene. „Dieses verwegene Verhalten der Armen war es, was in einer geradezu grauenhaften Weise die Pest unter ihnen verbreitete“; sie starben in Massen (900). Die Behörden lobt Defoe sehr dafür, „daß sie eine gute Ordnung in der Totenbestattung hielten“. Sie fanden auch stets Leute, die das Wegschaffen und Begraben besorgten – „was wegen der großen Zahl der Armen, die aus den erwähnten Gründen arbeitslos geworden waren, nicht schwerfiel“ (823). Jedenfalls ließen es die Ämter nicht zu, dass Leichen unbeerdigt und unbedeckt liegen blieben (876). Ein weiteres spezifisches Problem war: das „Anstecken und Angestecktsein“, ohne dass davon den Personen, die Kontakt zueinander hatten, etwas bekannt war (893). Wie oben bereits angemerkt, bezweifelt Defoe, „daß ein offenbarer Hang oder eine ruchlose Neigung der Angesteckten bestand, andere anzustecken“ (855). An einer Stelle berichtet er von einer sonderbaren Art der Kur: Ein Erkrankter, der ein guter Schwimmer war, stürzte sich in seiner Qual in die Themse, ehe er bei Nacht wieder an Land stieg, wo er hernach nackt in den Straßen umherlief. Als er wieder in seinem Haus ankam, bewirkten die vorangegangenen Anstrengungen, dass seine Geschwüre aufbrachen. „Und dieses schreckliche Experiment kurierte ihn von der Pest …“ (862) Wenn man sich des Exempels von Kirchhof erinnert: zwar war dies eine sehr andere Art der Kur, jedoch eine ebenfalls mit einer Anstrengung verbundene! Ein Stück vaterländischer Geschichte Eine eindringliche, unvergessliche Schilderung der Pest enthält auch Manzonis bereits oben erwähnter Roman Die Verlobten.30 Der Verfasser räumt ein, dass es ihm „bei dieser Erzählung nicht nur darauf ankommt, die Umstände zu schildern, in welche unsere Personen geraten werden, sondern gleichzeitig so kurz wie mög-
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lich, und soweit wir dazu imstande sind, ein Stück vaterländischer Geschichte darzustellen …“ (403)
Seine Pesterzählung umfasst nicht den ganzen Roman, sondern beginnt erst mit dem 31. Kapitel, sodass sie nicht mehr als gut ein Fünftel des Buchs einnimmt (ab S. 403 bis Schluss). Sie steht nicht allein für sich, isoliert von einem übrigen Geschehen, sondern ist eine Episode in einem Liebesroman.31 Dessen Hauptmotiv ist das aus Lessings „Emilia Galotti“ bekannte: Zwei Liebende, die miteinander verlobt sind, Renzo (für Lorenzo) Tramaglino und Lucia Mondella stehen kurz vor der Hochzeit, als ein adliger Herr eingreift, der die Verbindung zunichte zu machen sucht, um die Braut für sich zu gewinnen. Sein Vorhaben gelingt ihm auch beinahe, da die von ihm beauftragten „Bravi“ (Banditen) die junge Frau in seine Hände liefern. Dann jedoch nimmt die Handlung eine andere Wendung als bei Lessing. Der Autor führt sie über mehrere Stationen hinweg zu einem glücklichen Ende. Von weiteren Hindernissen, die den Liebenden im Wege sind, ist zu allem Überfluss noch ein Naturphänomen das gefährlichste, die Seuche – Pest. Auch diese wird von Renzo und Lucia besiegt. Obwohl beide angesteckt werden, überleben sie die Krankheit dennoch (Heilung Renzos: 439; Lucias Heilung: 481). Auch Manzoni verwendet die wichtigsten mit der Pest verbundenen historisch-literarischen Motive, wie sie sich auch in der Pestliteratur des 16. Jahrhunderts nachweisen lassen sowie davor und danach, akzentuiert aber einige besonders und lenkt den Blick auf das eine oder andere, das er innovierend einführt. Die Pest, die er schildert, fiel in die Jahre 1628–1630, also in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der nicht nur das Deutsche Reich und viele seiner Regionen verwüstete, sondern auch andere Länder, vor allem Italien. Hier bricht die Seuche nicht zufällig in dem „von dem Heere durchzogenen Landstrich“ aus, in der Lombardei (404; Motiv: Zusammenhang von Krieg und Pest). Den meisten Lebenden sind ihre Symptome unbekannt; nur einigen Personen nicht, die sich an die etwas mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegende Pest – um 1577 – erinnern (1576: Tod Tizians, der ihr zum Opfer fiel). Als Ursache vermuten auch 1628 in Ita_____________ 31
Der Verfasser lieferte ein Beispiel für eine bereits in der Antike bekannte Gattung, zu der Geschichten „von Liebenden aus einer Generation“ gehören, mit immer demselben Schema: Eine junge Frau und ein junger Mann, die sich in Liebe miteinander verbunden haben, müssen sich auf dem Weg zu ihrem Glück angesichts vieler Gefahren, die aus der Natur drohen (z.B. Seestürme, wilde Tiere) oder aus der Menschenwelt (Tyrannen, aufgebrachte Eltern, Verfolger usw., stets aus der älteren Generation) bewähren, ehe sie ans Ziel gelangen. Einigen Paaren gelingt dies, andere scheitern (Romeo und Julia). Vgl. zu dem Schema: Wolfgang Beutin, Sexualität, wie Anm. 20, S. 84–92 u. S. 140–154.
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lien manche die Erscheinung eines Kometen (429). Wie Defoe es darstellt, so Manzoni: mit der Ausbreitung der Seuche treten in der Bevölkerung Psychosen auf, deren Fortschritte nicht weniger schnell sind wie die Ansteckungen (420). Zu den Mitteln gegen die Pest zählen die Seuchen- oder Pestlazarette, von denen der Autor eines näher beschreibt, dessen Gelände mit 16000 Patienten bevölkert war (465). Der Leichenbestattung dienen in Mailand Massengräber mit großer Aufnahmekapazität. Hier gelingt es den Behörden zunächst nicht, genug Arbeitskräfte „für das traurige Geschäft“ anzuwerben. Schließlich erbieten sich Ordensangehörige, einzugreifen, und verpflichten ungefähr 200 Bauern als Totengräber (425). Manzoni erläutert den Zusammenhang von Seuche und Zunahme der Verbrechen, so z.B. seitens der Amtspersonen und der Pflegekräfte bei der Versorgung der Kranken: „Für die Dienste der Pestpfleger und Gerichtsdiener gaben sich im allgemeinen nur Menschen her, über welche die Verlockung zu Raub und Zügellosigkeit mehr vermochte als die Angst vor der Ansteckung und jeder natürliche Abscheu.“ Je mehr die Seuche anschwoll, umso stetiger häuften sich Delikte wie Diebstahl und Lösegelderpressung (426f.). Viele Menschen bestritten anfänglich das Auftreten der Pest. Konnten sie es aber nicht mehr leugnen, suchten sie nach Gründen. Einer davon, versichert der Verfasser, sei „ohne weiteres dem Denken und den Bräuchen der Zeit gemäß“ gewesen, und zwar überall in Europa: „Hexenkünste, Teufelswerk, Leute, die sich verschworen hatten, die Pest mit Hilfe ansteckender Gifte oder durch Zauberei zu verbreiten“. „Derartiges“ sei auch schon in früheren Epidemien geglaubt worden, so während der ein halbes Jahrhundert zurückliegenden (413f.). Von den einfachen Leuten hätten die Eliten derlei fatale Vorstellungen übernommen, und umgekehrt (429f.). Vielen „Unglücklichen“, die man verbrecherischer Praktiken verdächtigte, sei zwischen Genf und Palermo bereits im 16. Jahrhundert der Prozess gemacht worden, und noch einmal wieder 1630 in Turin (432). Allerdings gab es in Mailand auch „vernünftige Leute“, die am Vorkommen der angeblich von den Verurteilten begangenen Verbrechen zweifelten, sodass „ein geheimes Ventil der Wahrheit im engsten Familienkreis“ existierte. „Die Vernunft war vorhanden, aber sie hielt sich verborgen, aus Angst vor der öffentlichen Meinung“ (431). Daraus wird deutlich, welches für Manzoni der wünschenswerte Zustand der Staaten seiner Zeit wäre: derjenige, in dem sich die Vernunft nicht mehr „aus Angst vor der öffentlichen Meinung“ im verschwiegenen engsten Familienkreis verborgen zu halten brauchte, sondern worin im Gegenteil die öffentliche Meinung erlaubte, sich durch die Vernunft aufklären zu lassen!
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Insgesamt verfassten große Autoren von Boccaccio bis Manzoni Texte, die eine den Autoren eignende Kraft der Anschauung bezeugen, ihre Übersicht in Aneignung der Fülle der Details und die Gründlichkeit ihrer Analyse des Geschehens. Auffällig bleibt vielfach ihre Nähe zum Tatsachenbericht, d.h. zur Dokumentation der Fakten.
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Die Fehler und Irrtümer der Ärzte – Paracelsus’ Kritik und ihr medizinethisches Potenzial Mariacarla Gadebusch Bondio
Abstract Der polemisch-aggressive Ton, dessen sich Paracelsus (1493–1541) in seinen Schriften zu bedienen pflegte, wurde von vielen seiner Leser als Provokation empfunden. Ihre vielfältigen Reaktionen auf die paracelsischen Texte und insbesondere deren Stil belegen, welch emotionale Wirkmacht die Diffamations- und Fehlerrhetorik zu entfalten vermag. Samuel Stockhausen (um 1630 geboren), ein Arzt aus Goslar, ist ein gutes Beispiel dafür. In seinem 1656 veröffentlichten Libellus de Lythargyrii befasst er sich mit den asthmatischen Erkrankungen von Minenarbeitern – vulgär Bergsucht – und richtet seine dezidierte Kritik gegen Paracelsus.1 Letzterer hatte um 1533/1534 eine erst 1567 gedruckte Schrift mit dem Titel Von der Bergsucht verfasst und damit ein pionierhaftes Interesse an den Lungenerkrankungen von Minenarbeitern bekundet. Den Stil Paracelsus’ beschreibt Stockhausen bereits im Vorwort als dunkel, zweifelhaft und fabulös (solito more … obscurum, dubium, imo fabulosum).2 Und dies bei einem der zurückhaltendsten Texte, den Paracelsus je verfasst hatte!3 Für Stockhausen stellten die Fehler des Schweizer Arztes und die seiner Nachfolger (discipuli, wie Martinus Pansa) eine Gefahr dar, die ihn dazu moti_____________ 1
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Siehe: Samuel Stockhausen: Libellus de Lythargyrii fumo noxio morbifico […], genannt die Huettenkatze […] Goslar 1656, mit Appendix De montano affectu asthmatico, quem vulgus vernaculam suam linguam hic appellat Die Bergsucht oder die Bergkrankheit, Goslar 1656, S. 4. Ziel der Kritik ist die Theorie Paracelsus’ über Herkunft und Therapie der „lungsucht“ der Minenarbeiter: Paracelsus: Von der Bergsucht (um 1533/1534 verfasst und 1567 erschienen). In: Theophrast von Hohenheim genannt Paracelsus, Sämtliche Werke, Hg. von Karl Sudhoff, I–XIV, München, Berlin 1922–1933, Bd. 9 (im folgenden Sudhoff: Sämtliche, Bd.). Stockhausen: Libellus, A3v. Edwin Rosner: „Hohenheims Bergsuchtmonographie“. In: Kreatur und Kosmos. Internationale Beiträge zur Paracelsusforschung. Hg. von Rosemarie Dilg-Frank, Stuttgart und New York 1981, S. 20–52; Robert Jütte: „Chirurgie und Arbeitsmedizin“. In: Paracelsus heute – im Lichte der Natur, Hg. von id., Heidelberg 1994, S. 99–110, hier S. 107–110.
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vierte, sein Buch zu schreiben.4 Stockhausen beschreibt Paracelsus als einen sich widersprechenden, unverschämten Lügner (impudens ille nugator), in dessen Schriften sich viele absurde, märchenhafte, lächerliche Dinge fänden.5 Der Goslarer Arzt nutzt jede Gelegenheit, um die „sinnlosen Ansichten“ (vanae opiniones) des Paracelsus aufzudecken und zu widerlegen.6 Die meisten Autoren, die sich im 17. und 18. Jahrhundert mit dieser Thematik befassen, wie etwa Bernardino Ramazzini (1633–1714), vermeiden, Paracelsus speziell zu nennen. Sie bevorzugen es, sich auf Athanasius Kircher (1602–1680) zu beziehen, der seine Kenntnisse über die Krankheiten der Minenarbeiter wiederum explizit den Werken Paracelsus’ und Agricolas (1494–1555) entnommen hatte.7 Die Vertreter der akademischen Medizin behandelten Paracelsus’ Schriften und die seiner Nachfolger äußerst kritisch und distanziert. Der unkonventionelle Schreibstil des Paracelsus mag dazu beigetragen haben.8 Die bereits zu seinen Lebzeiten kursierenden Legenden über seine exzessive Persönlichkeit finden in seiner Schreib- und Argumentationsweise einen eigenwilligen Ausdruck. In den sogenannten Paratexten – Vorworte, Briefe an die Leser und Widmungen, in denen Autoren sich über ihr Werk äußern –, verdichten sich die polemischen Stellungnahmen in der Regel. Auch Paracelsus nutzt diese narrativen, geschlossenen Texteinheiten, um seine Intentionen, Motive und Ziele offenzulegen und um seinen Feinden zu drohen. Entsprechend positioniert er sich mit seinem Werk in _____________ 4
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Stockhausen: Libellus de Lythargyrii fumo noxio morbifico, S. A4r: „Hac igitur in parte ego omni consilio auxilio que medico destitutus, ne cum vulgo communem errorem errarem, et miseris metallurgis obessem potius, quam prodessem, quin sedulo in eiusmodi metallicos morbos eorumque causas inquirerem, intermittere nec potui nec debui. […] operariorum actiones observavi, metallorum excoctores examinavi, fornaces tam ustioni quam liquefationi, separationique dicatas, perlustravi [ …].“. Über Fehler siehe auch S. 2, 5, 6, 21–26, 29, 82f.; S. 5: „Certe chirurgi, tonsores, vetulae veneficae, ac eius inscitiae alii, si hoc intelligerent, ac morborum internorum causarumque differentias per propria signa dignoscere valerent, non tam misere in genus humanum saevirent aut venenum potius pro medicamento porrigendo, hominem interimerent.“ Stockhausen: De montano affectu asthmatico, S. 5 „multa illorum inveniet partim absurda, partim fabulosa, partim quoque ridicula“; S. 4f.: „Paracelsus impudens ille nugator, in peculiari suo de hoc morbo conscripto libello, multa sane de morbifica causa in medium adduxit. In singulis enim capitibus singularem nobis obtrudere conatur opinionem. Etenim modo nebulam accusat, modo contraria illa, aciditatem nempe et dulcedinem, ut etiam frigiditatem caliditatemque arguit.“ Stockhausen: De montano affectu asthmatico, S. 5; siehe auch S. 24f. Siehe Athanasius Kircher: Mundus subterraneus, Amsterdam 1664–1665, Liber 2, S. 174; Georg Agricola: De re metallica libri XII. Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen, Berlin 1928, rpt. Wiesbaden 2003 [Agricola: De re metallica, 1556]. Siehe Joachim Telle: „Die Schreibart des Paracelsus im Urteil deutscher Schriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts“. In: Natur und Kosmos, Bd. Jahr? S. 78–100, hier S. 88f.
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Raum und Zeit. Er schafft einen Rahmen, in dem den Lesern vor allem starke Kontraste ins Auge fallen. Denn der subversive Arzt stellt sich als Einzelkämpfer dar, als Offenbarer einer Wahrheit, die verschwiegen, verleugnet, verzerrt oder einfach unbekannt geblieben sei. Der Propagator neuer Konzepte von Gesundheit und Krankheit, das hatte Charles Webster bereits 1982 festgestellt, beherrschte außerordentlich gut die Instrumente der Rhetorik der reformierten Theologie.9 Der kraftvolle Stil Paracelsus’ relativiert sich aber angesichts des historischen Kontexts und des reformatorischen Zeitgeists. Wie andere Zeitgenossen und Autoren von korrosiven Schriften der radikalen Reformationsströmungen, bedient sich Paracelsus der Kampfrhetorik, und wendet sie in der medizinischen Debatte an.10 Die Fehlerrhetorik, aber auch die Anwendung von lehrhaften Beispielen, d.h. von Exempla, gehört zu den narrativen Strategien, die Paracelsus ganz individuell benutzt.11 Paratexte stellen für ihn bevorzugte Momente der Selbststilisierung dar, in denen noch programmatischer als im fließenden Text und höchst emotional für eine „andere“ Medizin und ein entsprechendes Arztbild gekämpft wird.12 Im Folgenden möchte ich den Spuren seines Fehlerdiskurses nachgehen. Meine These lautet: Indem der Schweizer Arzt die Irrwege des traditionellen und zeitgenössischen medizinischen Wissens offenzulegen versucht, schafft er die Grundlagen für eine Ethisierung des Arztberufes, die noch heute von Bedeutung sind. Denn wenn Mediziner über ihre eigenen Fehler und Irrtümer zu sprechen wagen – das offenbarte 2008 das aufsehenerregende Brechen des Schweigens durch eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten in Deutschland – ist Verunsicherung vorprogrammiert.13 Eine Verunsicherung, die eng mit der Besinnung auf ärztliches Handeln und medizinisches Können verknüpft ist.
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Charles Webster: From Paracelsus to Newton. Magic and the Making of Modern Science, Cambridge 1982; ich verwende hier die italienische Ausgabe, ders.: Magia e scienza da Paracelso a Newton, Bologna 1984, S. 14; siehe auch ders.: Paracelsus. Medicine, Magic and Mission at the End of the Time, New Haven, CT, und London 2008. Webster, Medicine, S. 22–24; Schindler, Norbert: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1992. Zu Paracelsus und seiner Art, Exempla zu verwenden, siehe: Mariacarla Gadebusch Bondio: „Von der Vielfalt der Exempla in frühneuzeitlichen medizinischen Texten“, in: Exempla medicorum. Die Ärzte und ihre Beispiele (13.–18. Jh.), Hg. von Mariacarla Gadebusch Bondio und Thomas Ricklin, Florenz 2008, S. 129–170: S. 152–156. Siehe Dietlinde Goltz:„Paracelsus as a Guiding Model – Historians and Their Object”. In: Paracelsus. The Man and His Reputation, His Ideas and Their Transformation, Hg. von Ole Peter Grell. Leiden, Boston und Köln 1998, S. 79–100, hier S. 96-99. Jörg Lauterberg, Kai Kolpatzig und Bernhard Egger: „Das Schweigen brechen.“ In: Gesundheit und Gesellschaft 4.11 (2008), S. 21–27.
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1. „mein wahrheit und der anderen lügen“14 Paracelsus’ Vorliebe für Formen der Kritik, die um die Fehler und Irrtümer, aber auch um die Lügen und Unsicherheiten der herrschenden Medizin und ihrer Vertreter kreist, artikuliert sich bereits in den Titeln einiger seiner Werke. Die Sieben Defensiones (1537/1538) und der Labyrintus Medicorum errantium (1537/1538), aber auch die Entwürfe zu einer polemisch gehaltenen Chirurgie, kurz Antimedicus (vor 1536), sind Beispiele dafür. Zudem stellen die von Sudhoff in mehreren Fassungen edierten Vorreden zum Opus Paragranum (1529/1530) eine signifikante Quelle dar.15 In den überlieferten Entwürfen des Paragranum, die um 1530 entstanden sind, richtet sich Paracelsus breit an die Leser. Der Hass seiner Feinde, die ihn Cacophrastus schimpfen und als Luther bezeichnen, motiviert ihn, die Grundlagen seiner Medizin darzulegen.16 Den „Sophistereien“ seiner Gegner stellt er seine „Wahrheit“ entgegen.17 Die falschen Ärzte „wissen, das sie in der arznei mer töten und erkrümmen, dan gesund machen und aufbringen; noch müssen sie schweren, das treulich zu tun und dernach ungeferlich“.18 Mit erloschener conscienz würden die falschen Ärzte eine „verfluchte hurische arznei“ propagieren und eben einen Eid schwören, das zu tun, was sie nicht können.19 Dass Ärzte einen Eid schwören, den sie nicht erfüllen, scheint Paracelsus besonders zu empören, denn mit dem Leisten des Eides war schon zu Paracelsus’ Zeiten der Akt der ärztlichen Approbation verbunden.20 Im weiteren Verlauf der Vorrede zum Paragranum kehrt er wieder_____________ 14 15
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Paracelsus: Vorrede und erste beide Bücher des Paragranum. In: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 8, „Theophrastus ad lectorem“, S. 35. Paracelsus: Sieben defensiones, in: Sudhoff: Sämtliche, Bd. 11, S. 125–160; Ders: Paragranum, in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 8; Paracelsus: Serogolia, id est Golias contra serones ducens bellum, id est anatomia vulnerum; Ders.: Antimedicus, id est, liber contra medicos, et est theorica vulnerum et practica; Ders.: Perpessus, id est liber de angustiis aegrorum, corruptorum a medicis; Ders.: Apocryphus, id est liber ab omnibus postpositus; in his nihil intelligunt; Ders.: Strangulus, id est liber de pharetris et bombardis, fracturis, ad ustionibus, in quibus multi se strangulant; Ders.: Reliquius, id est liber tractans de reliquiis et fragmentis vel micis aegritudinum concurrentium, alles in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 5. Paracelsus: Vorrede und erste beide Bücher des Paragranum [Entwürfe 1529 und erste Ausarbeitung bis Ende Februar 1530 in Berezhausen], in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 33–39: „Theophrastus ad lectorem“, S. 38. Paracelsus: Liber quatuor columnarum medicinae praefation, in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 39–50: 41: „Arzt seind ir nicht, sophisten aber“. Paracelsus: Liber quatuor, S. 45f. Paracelsus: Liber quator, S. 45f. Zum Eid bei Paracelsus siehe Eckart, Wolfgang U.: „Medizin und Ethik.“ In: Paracelsus heute – im Lichte der Natur, Hg. von Robert Jütte, Heidelberg, 1994, S. 111–123, hier S. 116.
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holt zu diesem Thema zurück.21 Hier erklärt er diejenigen, die ihn provozieren und beleidigen zu „irrern“ und macht die „irsalen“ der „Arznei“ zum Gegenstand seiner Betrachtung.22 Jetzt stellt er sein wahrhaftiges Wissen dem der „alten schriften“, das er als „falsch“ entlarvt, entgegen.23 Die Betonung dessen, was seiner Meinung nach einen Arzt ausmachen soll, führt ihn zur Einführung und Erläuterung von vier Säulen der Medizin (Philosophie, Astronomie, Alchemie, Tugend). Arzt sei nur derjenige, der in allen vier Bereichen erfahren ist. Der vierten Säule, hier Tugend genannt, kommt eine besondere Bedeutung zu: „und das die vierte seul sei die tugend und bleibe beim arzet bis in den tot, die da beschließ und erhalt die anderen drei seulen.“24 Zudem unterstreicht er, dass die fragwürdige Kunst der Sophisten-Ärzte lediglich auf Zweifeln und Lügen basiere.25 Der vollkommene Arzt zweifelt nicht: dan dermaßen ist die arzenei beschaffen, das sie on zweifel und lügen gebraucht wird. dan nichts unvolkomenlichs hat got beschaffen, ein volkomenen arzet, kein zweifelhaftigen. dan got will nicht getaddelt werden, das er einicherlei unvolkomens dem menschen fürgelegt hab, als der mensch im selbs volkomens unvolkomen fürnimbt.“ 26
Paracelsus ist weiterhin davon überzeugt, dass seine Feinde, diese schlechten, sophistischen, verlogenen, unsicheren und betrügerischen Ärzte unter „dem falschen gestirn geborn“ seien.27 In der endgültigen Fassung des Opus Paragranum und in der zugehörigen – knapper gehaltenen – Vorrede von 1530 spricht Paracelsus zunächst von drei Säulen und widmet dem „viert grund der arznei“, nun virtus genannt, den vierten Traktat des Werkes.28 Gegen den Betrug und die „Irrung“ derer, die ihn verachten ohne seine Lehre zu verstehen, will er „den grunt der arznei“ erläutern.29 Er charakterisiert den guten und den schlechten Arzt mit Hilfe der Schaf-Wolf-Metapher aus dem Matthäus_____________ 21
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Paracelsus: „Vorred in das Buch Paragranum doctoris theophrasti Paracelsi“ [Das Buch paragranum Philippi theophrasti von Hehenheim, beider arznei doctoris, in welchem die vier columnae, als nemlich philosophia, astronomia, alchimia und virtus, darauf et seine medicin fundiret, beschriben werden] in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 51–68: S. 64f. Paracelsus: Vorred, S. 51. Paracelsus: Vorred, S. 54. Paracelsus: Vorred, S. 56. Paracelsus: Vorred, S. 60. Paracelsus: Vorred, S. 60. Paracelsus: Vorred, S. 61. Paracelsus: „Vorred durch doctorem Theophrastum“, zu: Das Buch Paragranum. [Liber quatuor columnarum artis medicae, 1530], in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 8, S. 135–139, „Der viert grunt der arznei, welcher ist proprietas [Der viert tractat, on der virtus], ibid., S. 203–221. Paracelsus: Vorred, S. 135f.
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Evangelium (Mätth. X, 16).30 Die wölfischen Ärzte werden zu Vertretern der unwahrhaftigen, ungewissen Kunst erklärt.31 Ihre Attribute sind: ungerecht, untreu, unwahrhaftig, verwirrt, falsch, betrügerisch, böse und verlogen. Ihre Entsprechung ist – im Einklang mit dem hippokratischen Eid – der Arzt, der „rein und keusch“ ist, der ganze und vollkommene Arzt.32 Er sei weiterhin „kunstreich“ und ein Vertreter der „gerechten Kunst“, jener Kunst, die von Gott gegeben und daher wahrhaftig ist.33 Ein solcher Arzt sei selbstverständlich kein Schüler falscher Propheten.34 Die Hervorhebung der göttlichen Herkunft der Heilkunde ist ein traditionelles, mittelalterliches Motiv. Als bekanntester Verfechter der Vorstellung von Gott als dem dator scientiae, gilt der Autor des Thesaurus Pauperum, Petrus Hispanus (1210/1220–1277).35 Dem „guten“ christlichen Arzt schreibt Paracelsus Treue und Liebe sowie die Fähigkeit zu, dem Kranken Hoffnung und Vertrauen zu schenken. Die sogenannten Hofärzte oder Stadtärzte hingegen seien von Geilheit, Unkeuschheit, Übermut, Pomp, Pracht und Eitelkeit gekennzeichnet. Und während der gute Arzt wandere, bleibe der schlechte auf gepolsterten Stühlen sitzen.36 2. Der Antimedicus gegen die „verlogenen Bücher“37 Eine schwer datierbare Gruppe von Texten, bei denen es sich zum Teil um Fragmente handelt, betitelt Karl Sudhoff (1853–1938) mit Antimedicus. Diese Texte wurden nicht zu Lebzeiten ihres Autors veröffentlicht. Benzenhöfer vermutet ihre Abfassung nach 1527/1528 und setzt 1536 als terminus ante quem, als das Jahr nämlich, in dem Paracelsus seine Grosse _____________ 30 31 32 33 34 35
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Paracelsus: Vorred, S. 203. Paracelsus: Vorred, S. 204. Paracelsus: Vorred, S. 211. Paracelsus: Vorred, S. 215 und 210. Paracelsus: Vorred, S. 205. Petrus Hispanus:Thesaurus pauperum, in: da Rocha Pereira, Obra médicas, Coimbra 1973, S. 81: „Ortor autem et consulo lectorem, ne ea forsan que sibi incognita legerit contempnat, neque prius corporibus medendis applicet, quam considerauerit infirmitatis speciem et naturam patientis; et studeat diligenter scire naturas rerum et complexiones et substantiam et, quantum poterit, uirtutem [occultam] singularum rerum; aliter enim cecus medicus cecum infirmum in mortis foueam precipitaret; et ne datorem scientiae, Deum, scientia impugnet, caueat diligenter et fideliter, ne seductus pretio aut amore fatuo alicui releuet medicamen aliquod, per quod aut mors aut aborsus prouocetur aut impregnatio auferatur.” Paracelsus: Vorred, S. 220. Siehe auch den Beitrag von Albrecht Classen in diesem Band zu der Arztkritik seit dem späten Mittelalter. Paracelsus: Entwürfe zum „Antimedicus“, In: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 471–490: S. 472.
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Wundartzney vorlegte.38 Innerhalb der Textgruppe ist der Liber antimedicus Theophrasti, in errores Hippocratis von medizinethischer Bedeutsamkeit. Der Titel lässt vermuten, dass sich Paracelsus insbesondere mit der hippokratischen Lehre befassen würde. De facto fehlen entsprechende explizite Bezüge indes weitgehend. Mehr noch, der vollkommene Wundarzt, der perfectus chirurgicus, der hier ausführlich beschrieben wird, lässt sich durchaus mit Vorschriften vereinbaren, die den deontologischen Schriften des Hippokrates zu entnehmen sind.39 Warum aber verweist Paracelsus mit dem Titel seiner Schrift auf Fehler des Hippokrates, obwohl er nachfolgend Elemente von dessen Arztideal auf den perfectus chirurgicus transponiert? Paracelsus gruppiert systematisch drei Haupteigenschaften des Wundarztes und präzisiert diese in weiteren Unterpunkten. An erster Stelle stehen die nötigen Voraussetzungen, die einen Chirurgen ausmachen sollen und seine Person betreffen: 1. Bescheidenheit; 2. tägliches Lernen und Sammeln von Erfahrungen; 3. gewissenhaftes Handeln; 4. nüchtern, bedacht, keusch und ein Wanderer sein; 5. dem Kranken ohne materielles Interesse nützen; 6. nur aus Erfahrung und Wissen handeln; 7. „kein Hurenwirt“ und Henker sein. Die zweite Gruppe betrifft den Kranken bzw. seinen Leib. Hier werden in sechs Punkten die notwendigen anatomischen, physiologischen und pathologischen Kenntnisse des Chirurgen konkretisiert. Die dritte Gruppe betrifft die Arzneikunst: 1. Kräuterkenntnisse; 2. Wissen über das, was heilt und wie; 3. über Zufälle (Komplikationen, die bei Verletzungen auftreten können) unterrichtet sein; 4. was man den Kranken gebieten und verbieten soll; 5. Arzneikenntnisse, ohne an den
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Benzenhöfer, Udo: „‘Haec ad perfectum chirurgicum‘: Theophrast von Hohenheims Forderungen in Bezug auf die Ethik in der Chirurgie.“ In: Sudhoffs Archiv 78 (1994), S. 107– 112; Ders.: Studien zum Frühwerk des Paracelsus im Bereich Medizin und Naturkunde, Münster 2005, S. 198f. Zu den sogenannten deontologischen Schriften im Corpus Hippocraticum zählen Der Eid (Ius iurandum), Die Vorschriften (Praeceptiones) Der Arzt (De medico), Die ärztliche Werkstätte (De officina medici), Das Gesetz (De lege) und im weitesten Sinne, da hier ethische Aspekte nicht hauptsächlich behandelt werden jedoch vorhanden sind: De vetere medicina (Die alte Kunst) und De fracturibus (Über die Knochenbrüche); Siehe Hippokrates: Ausgewählte Schriften, aus dem Griechischen von Hans Diller, Hg. von Karl-Heinz Leven, Stuttgart 1994; Hippokrates: Ausgewählte Schriften, Hrsg. von Charlotte Schubert und Wolfgang Leschhorn, Düsseldorf und Zürich 2006; Rütten, Thomas: „Medizinethische Themen in den deontologischen Schriften des Corpus Hippocraticum.“ In: Médecine et morale dans l’Antiquité (Entretiens sur l’Antiquité Classique, 43), Hrsg. von Hellmut Flashar und Jacques Jouanna, Genf 1997, S. 65–120.
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Kranken Neues zu erproben;6. über die Arzneiwirkungen unterrichtet sein; 7. keine Kunst verachten und bereit sein, von allen zu lernen.40 Für Paracelsus gehören nüchtern, keusch und wohlbedacht zu sein („mild“ in all dem, was man tut) zu den wichtigsten Eigenschaften des Chirurgen. Die Betonung der vorsichtigen Haltung in jeder Situation lässt sich mit den cautela (Umsicht)-Vorschriften in Verbindung setzen, die Ärzte wie Arnald von Villanova (1235–1313) im 13.–14. Jahrhundert und Gabriel Zerbus (1445–1504/1505) Ende des 15. Jahrhunderts propagiert hatten.41 Für Paracelsus und andere zeitgenössische Mediziner, die sich Gedanken um den ärztlichen Ethos machten, sind Wissen und Gewissen eng miteinander verbunden.42 Doch während für den Paduaner Medizinprofessor Zerbus das Wissen des vollkommenen Arztes auf den kanonischen Schriften basieren soll, bedeutet dies für Paracelsus „die erfarenheit von andern lernen […] und von der teglichen übung mit zeitigem rat“. Es bedeutet auch, sich nicht auf das Geschriebene zu verlassen („sich nit verlassen, das stet da geschriben“). Wissen ist für Paracelsus „die erfarnheit, das du die arznei wissest und erkennest und in dir selbs urteilen und nit folgen als die Volksperger im rat.“43 Die Skepsis dem gegenüber, was andere zu anderen Zeiten geschrieben haben, ermögliche „guts und bös“, aber auch die „narrei“ darin zu erkennen. Schließlich sei das, was in der Vergangenheit geschrieben worden ist, kein Evangelium.44 Mit dem Wissen um die Anatomie, die Natur der Verletzungen und der Medikamente sowie um die notwendigen Verordnungen für die Kranken soll der Wundarzt auf sich selbst vertrauen und die Torheiten der Schriften ignorieren.45 In Ein gemein einred wider alle scribenten der wuntarznei kommt Paracelsus zu jener kritischen Auslegung des Hippokrates, die man im Liber antimedi-
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Die Synopse der Eigenschaften des Wundarztes findet sich in ausführlicherer Form auch in Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 476: „Diese ding und stück gehören einem wundarzt zu“. Zerbus, Gabriel: Opus perutile de cautelis medicorum editum a clarissimo philosopho ac medico magistro gabriele zerbo veronense theorice medicine ordinariam studii patavini publice legente sub anno domini MCCCCXXXXV (Christophorus de Pensis), Venedig 1495; Villanova, Arnaldo: (14. Jh./1585) De cautelis medicorum, in: Arnaldi Villanovani philosophi et medici summi opera omnia, Basel 1585, Sp. 1533–1558; zu den Vorläufern dieser Textgattung gehören: Anonym: De adventu medici ad aegrotum, XI./XII. Jh. (ed. Henschel Breslau 1850, De Renzi 1853, L. Stroppiana 1956); Cristoforo Barzizza (in Padua zw. 1434–1440): Introductorium sive janua ad omne opus practicum (Bergamo) und Collectiones de medici atque aegri ufficio libellus (um die 400 Aphorismen). Paracelsus: Liber antimedicus, S. 425, S. 430f. Paracelsus: Liber antimedicus, S. 427. Paracelsus: Liber antimedicus, S. 431. Paracelsus: Liber antimedicus, S. 432.
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cus Theophrasti, in errores Hippocratis vergeblich sucht.46 Keiner, der behaupten würde, mithilfe der Lehre Hippokrates’ jemanden von seinen Wunden geheilt zu haben, habe dies je wirklich getan – behauptet Paracelsus, denn „wan durch dise schreiben ist nie keiner gesunt worden, zu dem das er ganz in allem seinem schreiben ein scherer ist gesein, die da nichts anders dan nehen, heften, feulen, erstocken und zu kot machen können.“47 Kein gutes Rezept, nicht ein einziger Handgriff ließen sich in den Schriften des Hippokrates finden, nur im „binden und fügen“ habe er große Erfahrenheit an den Tag gelegt, also in den Bereichen, die nicht theoretisch, sondern „alein aus den augen genomen“ sind.48 Weitergehendes enthielten seine Schriften nicht. Für Paracelsus sind die Fehler des Hippokrates praktischer wie theoretischer Natur und zeigten sich vor allem an den Stellen, an denen man Informationen über die chirurgische Theorie und Praxis erwarten würde. Kritik an Hippokrates übt Paracelsus also nicht, wenn er die Eigenschaften, die Kompetenzen und die Haltung des chirurgicus optimus auslotet. Seine Kritik kann sich nicht gegen den hippokratischen Ethos wenden, denn da stimmt seine Position mit der des größten Arztes der Antike überein, obwohl er dies nicht offen zugibt. Im Prologus zu den weiteren Entwürfen zum Antimedicus, die der Sudhoff-Ausgabe beigefügt sind, erklärt Paracelsus noch einmal deutlich, was ihn dazu bewegte, eine Chirurgie zu schreiben. Antrieb waren die großen Lügen, Verführungen und Irrungen der Griechen und Araber.49 Deren Schriften zur Wundarznei seien voll davon und brächten Ärzte dazu, ihre Kranken zu verführen und zu betrügen, genauer „zu töten, bescheißen und betriegen“.50 Nicht genug damit: „Nun ist es ie ein bescheißerei und ein lautere lügnerei, was Galenus in seiner chirurgie beschrieben hat wider den grunt eines rechten arztes und der muter der arznei, der waren experienz.“51 Paracelsus verspricht, seinerseits zu zeigen „das die Griechen, Araber und all Italer bescheißer gesein sind und in der wuntarznei und verfürer der kranken und hinderer zur gesuntheit.“52 Er wettert gegen jene Chirurgen, die in Paris, Verona oder Rom für Bezahlung „aus einem _____________ 46 47 48 49 50 51 52
Paracelsus: Liber antimedicus, S. 437f.: „Ein gemein einred wider alle scribenten der wuntarznei“. Paracelsus: Liber antimedicus, S. 438. Paracelsus: Liber antimedicus, S. 438. Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 471–490: S. 471–473: „Prologorum, liber primus“. Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, S. 472. Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, S. 472. Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, S. 472.
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deutschen Narren einen probirten esel“ machen.53 Sein Libellus ist eine Anklage der „falschen büchern, geschriften und lerern“ und der Verlogenheit, die – auch aufgrund der Verwendung der griechischen Sprache in der Chirurgie – den Universitäten entspringt.54 3. Lingua dolosa55 Da sich Paracelsus explizit gegen die „verunglimpfungen seiner misgönner“ richtet, ist der Ton der Defensiones (1537/1538) erwartungsgemäß kämpferisch. Den Ausgangspunkt bilden die stechenden Worte der Pseudomedici; ihre auf Sophismen und Unwahrheiten basierende Rhetorik. Die Sprache als Medium für Wahrheiten und Lügen erweist sich in diesem Zusammenhang als eine Waffe, die verletzen, betrügen aber auch heilen kann. Davon soll der Leser in Kenntnis gesetzt werden, zumal – fügt Paracelsus hinzu – das Schwatzen dieser „rethorisch receptschreiber und nebulonisch praeparierer“ dazu führte, dass seine eigenen Schriften nicht veröffentlicht wurden.56 Wogegen also verteidigt sich Paracelsus? Gegen den Vorwurf, er habe eine „neue Medizin“ erfunden. In der ersten defensio unterscheidet Paracelsus zwischen der „hochschulischen“ und der eigenen Arzneikunst.57 Der Kerngedanke dieser Unterscheidung ist die Kontrastierung der Handlungen des falschen mit jenen des wahren bzw. guten Arztes. Während der falsche Arzt die Therapie verzögere, Zeit verliere und den Patienten mit sanften Worten ablenke, um im eigenen Interesse agieren zu können, sei der gerechte Arzt in seiner Kunst von Gott geleitet und verliere dabei keine Zeit.58 Paracelsus wehrt sich gegen die Anschuldigung, er hätte sich neuartige Krankheiten und Nomina (zweite defensio) sowie „neue Rezepte“ (dritte defensio) ausgedacht: Zunächst erklärt er, sich mit Krankheiten befasst zu haben, die bis dahin vernachlässigt worden seien (Veitstanz, Formen der Besessenheit und Geisteserkrankungen). Er begründet seine Entschei_____________ 53 54 55 56 57
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Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, S. 473. Paracelsus: Entwürfe zum Antimedicus, S. 473. Paracelsus: Defensiones septem. Verantwortung über etliche Verunglimpfungen seiner Missgönner (1537/1538) in: Sudhoff, Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 125–160: S. 126. Paracelsus: Defensiones, S. 126. Paracelsus: Defensiones, S. 128: „die erznei ist ein werk. Dieweil sie nun ein werk ist, so wird das werk seinen meister beweren. iezo sehent aus denen werken, wie ietlicher teil erkant und geurteilt wird. Das werk ist ein kunst; die kunst gibt die ler des werks, also das die kunst wirket durch ire ler das werk zu machen. Nun ist die frag, ob die ler der hochschulischen arzt die kunst der erznei sei oder die meine? das wird durch die werk bewisen.“ Paracelsus: Defensiones, S. 129.
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dung, neue Termini einzuführen, mit der ätiologischen Erklärung der Herkunft von Krankheiten: „mich bekümert das alein, den ursprung einer krankheit und seine heilung zu erfaren und den namen in daselbig zu concordieren.“59
Zwei Anklagen gegen Paracelsus betreffen seine Person: die „lantfarerei“ als modus vivendi, (vierte defensio) und seine zornige Art (sechste defensio). Schließlich ist die Infragestellung seiner Profession (sechste defensio) und seines Wissens (siebte defensio) ein weiteres Streitfeld. Im Rahmen der Verteidigung seiner lantfarerei greift Paracelsus offenbar auf hippokratische Ansichten zurück. Die Idee z.B., dass Krankheiten wandern und der Arzt mit ihnen, gilt als Basis der hippokratischen Epidemienbücher.60 Auch die Überzeugung, dass ein Arzt Astronom, Kosmograf, Philosoph und Alchemist sein muss, ist – abgesehen von den alchemistischen Kenntnissen – hippokratisch-galenisch.61 Sonderbar erscheint das Bild des Arztes, der wissbegierig und von Land zu Land der Arzneikunst hinterherrennt, ähnlich wie hinter einer schönen Frau. Ebenso eigentümlich die Vorstellung, dass der, der die Natur erforschen will, die Bücher, die die Natur schreibt, mit Füßen treten solle.62 Auch zur Unterscheidung des rechten vom unrechten Arzt stellt Paracelsus Kriterien auf. Die Kunst des rechten Arztes entspringe der Liebe, die des unrechten dem Eigennutz.63 Der falsche Arzt sei für die Fälschung der ärztlichen Kunst verantwortlich, was bedeute, dass er als Verführer und Betrüger der Kranken gelten müsse. Die Charakterisierung der pseudomedici wird noch konkreter: Sie seien untüchtig, geziert und eitel. Den Kontrast zwischen den guten medici und den pseudomedici betonen Gegensätze wie Gewissen und Scham versus Schande und Laster; Achtung des Gesetz Gottes versus Gesetz der Menschen; das Geleitetsein von der Liebe versus das Vorherrschen des Nutzens. Die „rechte“ ärztliche Kunst, die wohlbedacht und gewissenhaft ausgeübt wird und dem Patienten nutzt, verficht Paracelsus auch in der letzten defensio, in welcher von den Anschuldigungen wegen seines vermeintlichen Nichtwissens die Rede ist. Am Beispiel der Kunst des Ersetzens von _____________ 59 60 61
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Paracelsus: Defensiones, S. 135. Hippokrates: Epidemien, I, 23. In: Hippocrates, Epidemics I and III, with an English translation by W. H. S. Jones (Loeb Classical Library, Bd. 1), Cambridge, MA, und London 2004, S. 181. Galen: Quod optimus medicus sit quoque philosophus. In: Galenus: Opera Omnia, ed. und üb. v. Carolus Gottlob Kühn, Bd. I, Leipzig 1821; Galen: Adhortatio ad artes addiscendas (Protreptikos). In: ibid.; Galen: Exhortatio ad medium. In: Galeno: Sull’ottima maniera d’insegnare – Esortazione alla medicina, ed. und üb. V. Adelmo Barigazzi (Corpus Medicorum Graecorum), Berlin 1991, S. 114–151. Paracelsus: Defensiones, S. 145. Paracelsus: Defensiones, S. 147.
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Medikamentenzutaten (quid pro quo) demonstriert er, wie „unrat, unfal und verfürung“ durch falsche und unverantwortliche Ärzte entstünden und welche Gefahr diese für die Patienten bedeuteten.64 Der Diskrepanz, die zwischen Reden und Handeln bestehen kann, widmet Paracelsus die abschließenden Worte seiner Defensiones. 4. Labyrinthus Medicorum errantium (1537/1538) In dieser bildhaft betitelten Schrift legt Paracelsus ein Programm vor, in dessen Zentrum die möglichen Formen der Weitergabe medizinischen Wissens stehen.65 Sich von reinen Bücherkenntnissen und vom traditionellen Lehrer-Schüler-Verhältnis distanzierend, vertritt Paracelsus das Ideal eines Wissens, das dem Licht der Natur entspränge und sich an verschiedenen Orten finden lasse. Mittels Exempla vergleicht er die Weitergabe des ärztlichen Wissens mit der Gotteslehre: „Das Vollkommene muss aus dem Licht der Natur genommen werden, wie von Gott die Apostel genommen haben.“66 Wie der Ariadnefaden soll sein Werk nun denjenigen helfen, die sich suchend im Irrgang der Medizin vorantasten und sich ziellos hin und her bewegen. Es soll denjenigen, die sich im Labyrinth befinden, den Weg hinaus zeigen und die, die hinein zu treten beabsichtigen, davon abhalten. Paracelsus unterscheidet dann zwischen denen, die im Irrgang wie Blinde endlos und hoffnungslos suchen und jenen, denen es gelingt, ins centrum labyrinthi zu gelangen, zu der Stelle, an der sich der Monoculus/Minothauros befindet, der ihr einäugiger König und Wissensspender wird.67 Nach einer Tirade gegen jüdische Mediziner, die die Arzneikunst mit Falschheit und Betrug ausüben würden, galoppiert Paracelsus durch die Hauptepochen der Medizingeschichte mit ihren Hauptvertretern – die heidnischen Griechen, die Araber und all ihre Nachfolger – , die er eintönig als in einer Traditionslinie stehend präsentiert. Für Paracelsus befinden sich all diese Mediziner und ihre modernen Nachfolger auf einem aussichtslosen Irrweg. „Die letzten werden aber die besten,“ erklärt er anschließend und gibt seiner Hoffnung Raum: Mit seinem Werk wolle er die richtigen Bücher bekannt machen, in denen die Irrwege sowie der Weg zur richtigen Gottheit ersichtlich werden sollen. _____________ 64 65 66 67
Paracelsus: Defensiones, S. 157–159. Paracelsus: Labyrinthus Medicorum errantium / Vom Irrgang der Ärzte (1537/1538), in: Sudhoffs, Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 161–221. Paracelsus: Labyrinthus, S. 163–165: S. 164, „Theophrastus von Hohenheim etc. sagt den Hippokratischen doctoribus seinen gruß“. Paracelsus: Labyrinthus, S. 166–168, „Vorred im Labyrinthum medicorum errantium doctoris theophrasti von Hohenheim“.
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Diese Gottheit besitzt, anders als der Minotauros, drei Augen (möglicherweise Philosophie, Alchemie, Astronomie). Derjenige, der den Weg zu dieser Gottheit erkenne, sei der „der selig ist, on irrsal, on betrug und [der] kein falsch in seinem herzen“ hat.68 Im Anschluss an die Widmung an die hippokratischen Ärzte und an die allgemeine Vorrede grüßt Paracelsus seine Leser. In diesem Zusammenhang thematisiert er die an ihn gerichtete Kritik und legitimiert dadurch sein Vorhaben. Man sage von ihm, dass er nicht durch die rechte Tür „wie sich gebürt“ zur Medizin gekommen sei. Er fragt: „sagen sie mir, welches ist zur rechten tür hinein gangen in die arznei? Durch den Avicennam, Galenum, Mesuen, Rasim etc. oder durch das liecht der natur?“69 Es gebe zwei Eingänge, der eine sei „die rechte tür“ oder lumen naturae, den anderen stellten die codices scribentium dar. Das einzige Buch, das eine Ausnahme darstelle, sei jenes, das Gott selbst gegeben, geschrieben, diktiert und gesetzt habe. Hier akzentuiert Paracelsus einen zentralen Gedanken für sein Gesamtwerk: Der Ursprung der Arzneikunst sei Gott, von dem auch das Wissen fließe bzw. das Licht der Natur ströme. Um zu vermeiden, durch das Labyrinth zu irren, müsse der Arzt dieses Licht erkennen. Ohne sich in Spekulationen und Rhetorik zu verzetteln, solle der Mediziner – und darin bestehe die Aufgabe des Werkes – die rechten Bücher des Ersten Arztes lesen „in denen alle erznei stehet“.70 Die mittelalterliche Vorstellung des Christus medicus, Schöpfer von Medikamenten und Urheber allen medizinischen Wissens, zieht sich unübersehbar durch dieses Werk des Paracelsus, in dem auch die damit verbundene Schatz-Metapher einen Bezug zur Tradition des Thesaurum pauperum vermuten lässt.71 Das errare-Motiv repräsentiert die Vorstellung, dass man vom rechten Weg abgekommen sei; das ziellose Umherirren im Labyrinth des Monoculus/Minothauros exemplifiziert durch den bekannten Mythos die Lage, in der sich die hippokratischen Ärzte bzw. die pseudomedici befinden. Zugleich ist darin die Idee des Sich-Irrens, des Beharrens auf falschen Überzeugungen und des Sich-Täuschens ausgedrückt. Für den Arzt, der die „Wahrheit der Kunst“ erlernen möchte, sei das Hinter-sich-Lassen dieses vielfältigen Irrens die grundlegende Bedingung. Daraus entspringen ein wissenschaftliches und ein medizinethisches Programm: Experimentum, _____________ 68 69 70 71
Paracelsus: Labyrinthus, S. 168. Paracelsus: Labyrinthus, S. 169f.: „Theophrastus lectori S[alutem]“. Paracelsus: Labyrinthus, S. 170. Siehe Gadebusch Bondio, Mariacarla: „Thesaurus sanitatis. Tradition und Erfolg der Schatzmetapher in medizinischen Schriften (1500–1700).“ In: Les trésors au Moyen-Âge, Hrsg. von Lukas Burkhard, Philipp Cordez und Alain Mariaux, Florenz 2010, S. 103–128. Vgl. auch den Beitrag von Matthias Vollmer in diesem Band.
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Mariacarla Gadebusch Bondio
experientia und scientia als durchdachte Verbindung von Beobachtung, Reflexion, Beweisführung und Erkenntnis sollen den Arzt zum Verständnis der Naturgeheimnisse führen: „dan also muß die scientia in dir sein, oder es ist alles ein lere fantesei und tollerei, daraus die fantasten wachsen, große subtiliteten, großes speculiren und mit nichten im grunt verfasst, ein irgang der nichts gut ist.“72 Nur dann wird der Arzt das notwendige, kostbare Wissen um Gesundheit und Krankheit besitzen und den Patienten helfen können, wenn der, „der sich auf got verleßt, der wird in keinen labyrinthum gefürt, der wird auch seine kranken nit töten noch erlemen“.73 Der Labyrinthmetapher stellt Paracelsus anschließend die Ordnung der Natur gegenüber. Diese lichtdurchströmte Ordnung, die dem Arzt Orientierung im Wissen gibt, ist für Paracelsus auch das Ziel der Medizin. Im Einklang mit dem kosmischen Gotteswerk würde die rechte Arzneikunst, die stabil auf den vier Säulen Philosophie, Astronomie, Alchemie und Tugend stehen sollte, die Gesundheit als Ordnung im Menschen wieder herstellen. Und wenn die Medizin, wie Paracelsus es sich erträumt, zur Wiederherstellung der Ordnung der Natur beitragen könnte, dann wäre die Aufgabe der ärztlichen Kunst eine zutiefst ästhetische. Der rechte, tugendhafte Arzt wäre derjenige, der das Wahre, das Gute und das Schöne in der Natur erkennt.
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Paracelsus: Labyrinthus, S. 190–195: S. 192, „Kap. 6.: von dem buch der arznei, so experientia heißt, wie der arzt dasselbig erfaren sol“. Paracelsus: Labyrinthus, S. 218–220: S. 219 („Beschlußrede“).
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Mariacarla Gadebusch Bondio
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Die Figur des Arztes in der deutschen und europäischen Literatur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, speziell im Hinblick auf Paracelsus’ Lehren über die rechte Ausbildung zum Arzt Albrecht Classen
Abstract Paracelsus hielt nicht viel von den zeitgenössischen Ärzten und distanzierte sich sehr deutlich von ihnen. Aber darin war er keineswegs allein, vielmehr bewegte er sich in einer schon recht alten Tradition der Ärztekritik, die sich u.a. bereits in Heinrich Wittenwilers Der Ring (ca. 1400), in Konstanz geschrieben, finden lässt. Satirische und humorvolle Literatur des späten 15. und vor allem des 16. Jahrhunderts, d.h. vor allem die Schwankliteratur (Kirchhof, Lindener, Frey etc.) erweist sich als ein sehr ergiebiges Feld für die Untersuchung, wie der Arzt in der Öffentlichkeit gesehen und beurteilt wurde. Der Aufsatz wird somit Paracelsus’ negative Einstellung gegenüber seinen Kollegen in einen breiteren kulturhistorischen Kontext stellen und die Rolle des Arztes im Licht des öffentlichen Diskurses spätestens seit ca. 1400 profilieren, um so genauer die Position von Paracelsus zu seinem eigenen Metier kontextualisierend zu erfassen. Paracelsus did not hold a high opinion of contemporary medical doctors and clearly distanced himself from them. But he was not at all alone in his criticism; instead he relied on a relatively old tradition of criticism of doctors, which finds expression, for example, in Heinrich Wittenwiler’s Der Ring (ca. 1400), written in Constance. Satirical, humorous literature of the late fifteenth and especially the sixteenth century, that is, primarily jest narratives (Kirchhof, Lindener, Frey, etc.) proves a most productive field for our investigation of how the physician was viewed and evaluated by the public. This paper thus situates Paracelsus’ negative attitude toward his colleagues in a broader cultural-historical context and profiles the role of the physician in light of the public discourse after 1400.
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Albrecht Classen
Erst vor zwei Jahren erschien, sozusagen mit einem Paukenschlag, das bis dato praktisch unbekannt gebliebene sehr beeindruckende und vielfältige Gesamtwerk des Zürcher Stadtarztes Jakob Ruf (ca. 1505/1506–1558) in einer kritischen Ausgabe, umfassend und souverän von Hildegard Elisabeth Keller und ihren zahlreichen Mitarbeitern betreut. Dieser Jakob Ruf war zuerst Mönch in einem Churer Kloster gewesen, bevor er sich 1525 entschloss, zunächst in seine Heimatstadt Konstanz zurückzukehren, von wo er aber bald ebenfalls aufbrach und sich auf Wanderschaft als Geselle begab. 1531 absolvierte er in Lindau die Meisterprüfung als Schnitt- oder Wundarzt, worauf er 1532 in Basel eingebürgert wurde und im Laufe der Zeit zum hoch angesehenen Stadtarzt aufstieg. Er gehörte also zunächst zu den unteren Rängen im medizinischen Bereich, d.h. zu den Scherern und Badern, die sich um Wunden kümmerten und es wagten, leichte Operationen durchzuführen, die die Oberfläche des Körpers betrafen. Bereits 1532 ernannte die Stadt Zürich diesen jungen, offensichtlich sehr geschickten Mann zum Stadtschnittarzt, womit er in die höhere, aber praktisch tätige Beamtenschaft aufstieg und sich relativ rasch, bedenken wir seine erheblichen Gehaltssteigerungen, immer mehr als sehr erfolgreicher medizinischer Fachmann bestätigte. 1552 bestallte man ihn sogar als den öffentlichen Stadtarzt und Chirurgen auf Lebenszeit, womit man ihm die höchstmögliche Autorität auf medizinischem Gebiet übertragen hatte. Dies alles wäre jedoch bis heute weitgehend vergessen worden, wenn er nicht zugleich auch umfangreich geistliche Spiele („Etter Heini“, „Weingarten” und „Wilhelm Tell“) und medizinische Traktate verfasst hätte, wozu auch ein bedeutendes und lange sehr geschätztes, immer wieder aufgelegtes und übersetztes Hebammenbuch (Trostbüchlein – De conceptu et generatione hominis, 1554) gehörte (zuletzt auf Englisch 1637).1 Diese recht bunt gemischte Sammlung von fiktionalen und faktischen Texten war nicht untypisch für Ärzte des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, gehörten ja diese Personen durchweg zu den gelehrten Kreisen, zeichneten sich aus als Humanisten und verfassten viele bedeutende Werke der damaligen Literaturgeschichte und des Fachschrifttums.2 Wie Harold J. Cook erst jüngst treffend beobachtet hat: „Physicians were a highly literate group who expressed themselves on paper while also exhi_____________ 1
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Mit der Arbeit seiner Hände. Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermacher Jakob Ruf (1505–1558). Hg. von Hildegard Elisabeth Keller unter Mitarbeit von Linus Hunkeler, Andrea Kauer und Stefan Schöbi. Zweite, überarb. und erw. Aufl. 5 Bde. Zürich 2008. Siehe dazu meine Rezension in: Society for Medieval German Studies Newsletter 29 (2009/2010). Hg. Ernst Hintz (http://smgs.truman.edu, Feb. 5, 2010). Vgl. dazu Keller: „Zürcher Geburtshilfewissen in Europa. Zur Rezeptionsgeschichte des Trostbüchleins“. In: Bd. 5: Die Anfänge der Menschwerdung. Perspektiven zur Medien-, Medizin- und Theatergeschichte des 16. Jahrhunderts, S. 232–263. Vgl. dazu den Beitrag von Ingrid Kästner im vorliegenden Band.
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biting great sensitivity to changes in both the sciences and the art of their discipline”.3 Wenn wir von hier gleich vorausschauend an Paracelsus denken, entdecken wir eine ganz erstaunlich lange Traditionslinie mindestens von der Mitte des 15. Jahrhunderts, als Heinrich Steinhöwel (1411/1412– 1479) mit seinen literarischen Werken an die Öffentlichkeit trat, bis zu Hans Folz (1435/1440–1513), Hartmann Schedel (1440–1514), Otto Brunfels (1488–1534), Heinrich Vogtherr dem Älteren (1490–1556), Konrad Gessner (1516–1565; Vorgänger Rufs in Zürich) und eben auch Paracelsus.4 Der Letztere verdient zwar aus vielerlei Hinsicht unser hohes Ansehen, wovon ja auch unsere Tagung und die zwei bisher erschienenen Bände der Theophrastus-Paracelsus-Studien” zeugen, aber seine Einstellung zu den zeitgenössischen Ärzten war eher negativ, wenn nicht geradezu geringschätzig. Zunächst sei genauer umrissen, was die Absicht der folgenden Betrachtungen sein soll, damit wir nicht in der Flut der Informationen ertrinken, was angesichts des breiten Themas durchaus eine Gefahr darstellen könnte. Das Ärztewesen und die Medizin sind bereits seit der Antike und im frühen Mittelalter von zentraler Bedeutung für jegliche Gesellschaft gewesen, und die Geschichte der Medizin an sich verdient höchste Aufmerksamkeit.5 Paracelsus passt hier hervorragend hinein, aber darauf möchte ich mich bei dieser Untersuchung nicht so sehr konzentrieren. Vielmehr interessiert mich, wie die Figur des Arztes bzw. der Bereich der Medizin überhaupt im Laufe der Jahrhunderte, vor allem aber etwa seit 1400, in literarischen Texten behandelt wurde und welche Kommentare man in den einschlägigen Werken bis ca. 1600 über diesen Berufsvertreter zu finden vermag, was eben auch Paracelsus einschließen wird, der sehr eigensinnig, manchmal höchst kritisch, dann sogar bissig und sarkastisch seine Berufskollegen beurteilte, freilich ohne den Arztberuf grundsätzlich _____________ 3 4
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Harold J. Cook: „Medicine”. In: The Cambridge History of Science: Early Modern Science. Hrsg. von Katharine Park und Lorraine Daston. Bd. 3. Cambridge 2006, S. 407–434, hier S. 407. Hildegard Elisabeth Keller: „Doctores, steinschnyder und warbirer: Überlegungen zu einer Literaturgeschichte der Ärzte“. In: Leben und Werk des Zürcher Stadtchirurgen und Theatermacher Jakob Ruf. Bd. 5, S. 82–118. Sie bietet eine beachtliche Liste von diesen ärztlich geschulten und praktizierenden Autoren, doch bleiben natürlich noch sehr viele Lücken. Siehe z.B. Hieronymus Münzer (ca. 1447–1508); zu ihm siehe Albrecht Classen: „Die Iberische Halbinsel aus der Sicht eines humanistischen Nürnberger Gelehrten Hieronymus Münzer: Itinerarium Hispanicum (1494–1495)”. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 111, 3–4 (2003), S. 317–340. Irvine Loudon: Western Medicine: an Illustrated History. Oxford und New York 1997; vgl. dazu Bernhard Dietrich Haage: „Humanmedizin”. In: Id. und Wolfgang Wegner, unter Mitarbeit von Gundolf Keil und Helga Haage-Naber: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik, 43), S. 177–246.
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in Grund und Boden zu verdammen, strebte er ja letztlich nur danach, für sich selbst eine neue, man könnte heute sagen ‘holistische’ Fundierung als Arzt zu finden und somit wesentlich effektiver seinen Patienten helfen zu können.6 Wie jüngste Untersuchungen herausgestellt haben, begegnen uns sogar schon im 8. und 9. Jahrhundert wichtige Arztgestalten, meist im engeren Umkreis der Herrscher und ihrer Familien, aber ihre Erfolge waren natürlich nicht immer so beeindruckend. Schon Karl der Große äußerte sich eher kritisch gegenüber seinem Leibarzt Wintar, aber dennoch gilt es zu betonen, wie zahlreich das Auftreten von weltlich (!) geschulten Ärzten bereits im Frühmittelalter gewesen ist, über die es recht viele urkundliche Zeugnisse sowohl negativer als auch positiver Art gab.7 Jakob Ruf scheint sich auf keine Kontroverse oder sonst irgendeinen Austausch mit Paracelsus eingelassen zu haben, war er doch viel zu nüchtern und praxisorientiert, ja auch viel zu gut professionell und politisch in Zürich situiert und öffentlich angesehen, als dass ihm dieser quirlige und provokante Mensch etwas zu sagen gehabt hätte. Im Vorwort zu seinem Libellus de tumoribus quibusdam phlegmaticis non naturalibus (Zürich: Froschauer, 1556) hebt er z.B. hervor, wie wichtig es für ihn sei, das bisher schon versammelte Wissen zu Tumoren und anderen Geschwülsten für den weniger gelehrten Menschen in wenigen und klaren Punkten zu vereinigen und zu erklären. Er lässt sich also auf keinerlei Querelen oder spekulative Argumente ein und verlässt sich ganz auf faktisches Wissen. Sicherlich wird man Ruf zutrauen dürfen, sich selbst als der Verfasser dieses Traktats umfassend auf seine praktischen Erfahrungen gestützt zu haben, aber er erblickte trotzdem seine Hauptaufgabe darin, eine Art von Handbuch zu entwerfen („compendio”, IV, S. 800), womit er explizit das kanonische Denken akzeptierte und sich den medizinischen Autoritäten seit der Antike verschrieb, ohne sein persönliches Wissen deswegen völlig in den Hintergrund zu rücken. Ganz anders hingegen Paracelsus, der schnell zur sehr ernüchternden Einschätzung der Erfolge in der Medizin seiner Zeit gelangte, wie er es im Vorwort seines Traktats Der grossenn Wundartzney das erst Buoch (Augsburg: Heynrich Steyner, 1537) zum Ausdruck brachte.8 Obwohl er sich selbst zeit seines Lebens intensiv darum bemüht habe, tiefere Einblicke in die physischen Bedingungen und Grundlagen des menschlichen Körpers zu _____________ 6 7 8
Siehe dazu auch die Beiträge von Mariacarla Gadebusch Bondio und Thomas Willard in diesem Band. Achim Thomas Hack: Alter, Krankheit, Tod und Herrschaft im frühen Mittelalter. Das Beispiel der Karolinger. Stuttgart 2009 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 56), S. 335–361. Theophrastus Paracelsus Werke. Bd. II: Medizinische Schriften. Besorgt von Will-Erich Peuckert. Basel und Stuttgart 1965, S. 385–439.
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gewinnen, erstaune es ihn doch, mit welcher Unkenntnis die medizinische Kunst insgesamt behaftet sei: „daß so viel Kranke verdorben, getötet, erlähmt oder ganz verlassen worden sind, daß sie [die Arznei] nit allein in einer Krankheit sondern gar nahezu in allen Krankheiten so ungewiß war, daß doch bei meinen Zeiten kein Arzt gewesen ist, der doch nur gewiß ein Zahnweh oder noch ein minderes zu heilen vermocht, ich geschweig großer Krankheit” (S. 385).
Paracelsus begnügte sich aber noch nicht einmal damit, die Donnerkeile seiner Klagen und Attacken auf die zeitgenössischen professionellen Mediziner zu richten, auch diejenigen der Antike müssen herhalten und sich sozusagen am Zeug flicken lassen: „Auch bei allen Alten wird in ihren Schriften solche Torheit gefunden, und ich habe dabei an den Fürstenhöfen, in den großen Städten, bei den Reichen gesehen, daß sie sich so groß Gut zu geben erbieten, und doch in der Hilfe von allen Ärzten, die doch in Seide, goldenen Ringen usw. gingen, nit mit kleinen Namen, Pracht und Geschwätz, verlassen waren” (ibid.).
Tief enttäuscht über die Vergeblichkeit des menschlichen Bemühens und über die allenthalben auftretende Heuchelei sogar der berühmtesten Mediziner wollte er sogar schon diesem Berufszweig ganz den Rücken zukehren, denn selbst wenn bei einem Kranken Heilung eingetreten sei, dann sei dies im Grunde stets allein der starken Natur des Körpers zuzurechnen gewesen, nicht aber der Kunst des Arztes (S. 385f.). Paracelsus hatte aber dann doch nicht aufgeben wollen und sich stattdessen tief in das Studium der Medizin gestürzt, dem er in allen Ländern Europas nachgegangen sei, ob in Preußen oder in Granada, in Litauen oder in Siebenbürgen, in Deutschland oder Frankreich (S. 386). Er betont, wie intensiv er überall nachgeforscht und allen möglichen Spuren nachgegangen sei, ob nicht ein Universitätsgelehrter, ein Bader (d.h. ein praktizierender Fachmann), eine Frau (z.B. eine Hebamme oder generell Heilkundige), ein Schwarzkünstler, ein Mönch oder sonst jemand tiefere Fähigkeiten besitze, ohne jedoch irgendeinen Erfolg davongetragen zu haben. Sein Ergebnis bestand vielmehr darin: „Hab ihm viel nachgedacht, daß die Arznei eine ungewisse Kunst sei, die nicht gebührlich sei zu gebrauchen, nicht billig mit Glück zu treffen, einen mache sie gesund, zehn dagegen verderben” (S. 386).
Allerdings bedeute dies nicht, dass es keine einschlägige Fachliteratur gebe, also medizinische Traktate, nur seien alle Autoren bisher bei ihrem Thema wie die Katze um den heißen Brei gegangen (S. 387). Rundherum verurteilte und verdammte dann Paracelsus alle Vertreter der medizinischen Profession:
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„Schreier und Schwätzer waren sie, in Pracht und Pomp, und es war in ihnen nichts als ein totes Grab, das auswändig schön ist, inwändig ein stinkendes faules Aas voller Gewürm” (S. 387).9
In gewisser Weise fühlt man sich hierbei an eine der berühmtesten Versnovellen des deutschen Mittelalters erinnert, an Hartmanns von Aue „Der arme Heinrich” (ca. 1180), in der ein von der Lepra heimgesuchter Fürst vergeblich von Arzt zu Arzt zieht (von Montpellier nach Salerno), von niemandem aber geheilt werden kann, denn das einzige Heilmittel bestehe darin, wie der Experte in Salerno betont, das Herzblut einer heiratsfähigen Jungfrau zu gewinnen, die ihr Leben freiwillig für ihn opfern würde. Diese absurde Vorstellung lässt den Protagonisten ganz verzweifeln, aber am Ende scheint sich doch das Wunder zu ergeben, denn die junge Tochter des Bauern, zu dem sich Heinrich zurückgezogen hatte, erklärt sich nach drei Jahren aus vielerlei Gründen zu dieser erstaunlichen und selbstlosen Tat bereit. Mit viel Mühen und größtem rhetorischen Geschick gelingt es dem Mädchen, zunächst seine Eltern, dann Heinrich, schließlich den Arzt in Salerno zu überreden, das Opfer anzunehmen, aber als Heinrich, der am Ende die Vorbereitungen für die schreckliche Operation von außen mitbekommt, das wunderschöne nackte Geschöpf durch ein Loch erblickt, wandelt sich seine innere Gesinnung, verzichtet er auf dieses furchtbare Opfer, unterbricht den Arzt in seinen Vorbereitungen und akzeptiert sogar die Schimpfkanonade des Mädchens wegen seiner vermeintlichen Feigheit. Sein eigenes jämmerliches Leben, betont der junge Mann, sei es nicht wert, durch den Tod dieser jungen Frau gerettet zu werden. Aber gerade wegen dieser inneren Läuterung gewährt Gott dem Leprakranken die Heilung, und am Ende heiratet Heinrich sogar das Bauernmädchen, womit die Versnovelle einen utopischen Charakter annimmt.10 Dass der Erzähler damit zugleich die Ärztezunft eher mit einer gewissen _____________ 9
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Darin gleicht sich Paracelsus durchaus zahllosen Stimmen des hohen und späten Mittelalters, siehe z.B. das drastische Bild, das Konrad von Würzburg in seiner Versnovelle “Der Welt Lohn” (ca. 1280) von dem widerlichen inneren Zustand der Welt entwirft, während sie äußerlich prachtvoll und attraktiv zu sein scheint. Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Hg. von Edward Schröder. Mit einem Nachwort von Ludwig Wolff. Bd. I: Der Welt Lohn – Das Herzmære – Heinrich von Kempten. Orig. Ausg. 1924. Dublin und Zürich 1970. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hg. von Hermann Paul. 16., neu bearb. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 1996 (ATB, 3); siehe dazu Albrecht Classen: „Herz und Seele in Hartmanns von Aue ‚Der arme Heinrich‘. Der mittelalterliche Dichter als Psychologe?” In: Mediaevistik 14 (2003), S. 7–30; Melitta Weiss Adamson: „Illness and Cure in Hartmann von Aue’s Arme Heinrich and Iwein”. In: A Companion to the Works of Hartmann von Aue. Hg. von Francis G. Gentry. Rochester, NY, 2005, S. 125–140. Siehe auch den Beitrag von Matthias Vollmer in diesem Band.
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Ironie betrachtet, braucht hier nicht weiter ausgeleuchtet zu werden,11 sind uns noch viel negativere Beispiele von Arztfiguren wie der scheinheilige Reinhard Fuchs im Werk des Elsässer Heinrichs bekannt (ca. 1165–1190), aber man sieht sich doch zugleich an die viel spätere beißende Kritik von Paracelsus erinnert.12 Theophrastus räumte schließlich ein, er selbst sei nicht imstande, irgendetwas Wesentliches an der gesamten Innung der Medizin zu verändern: „es sind alt unbändig Hund, lernen nichts mehr, schämen sich im Bekenntnis ihrer Torheit beiseite zu stehen. Aber in denen liegt nicht viel, sondern es liegt an dem, daß ich hoffe, die Jungen werden in eine andere Haut schliefen” (S. 387).
Hoffnung bestand also für ihn doch, aber nur im vorhersehbaren Generationenwechsel, und zwar unter der Voraussetzung, dass endlich die jungen Leute wahre medizinische Erkenntnisse gewinnen würden. Geradezu bärbeißig äußert sich Paracelsus über die verächtlichen und allgegenwärtigen, aber gerade deswegen nicht vertrauenswürdigen Praktiker auf dem Gebiet der populären Heilkunst: „Es ist unter den Scherern und Badern auch so, daß sie geschworene Meister einer Stadt sind, und schwören etwas, das den Eid nicht bestätigen kann, denn sie haben die Kunst nit, auf die sie schwören” (S. 388).
Ob Paracelsus hierbei auch an Jakob Ruf gedacht hat, der so viel mehr öffentliches Ansehen und damit auch wirtschaftlichen Erfolg genoss, ist nicht ganz auszuschließen. Der Autor wendet sich darauf direkt an sein eigenes Publikum und bemüht sich darum, es auf eine kritische und wissenschaftlich solide Sichtweise einzuschwören, die er allein vertrete, weil er sich nicht auf das leere Ratschlagen verlasse, sondern eine konkrete, gelernte, handgreifliche Kunst betreibe, die den Menschen wirklich ihre Gesundheit zurückgebe (S. 388). Medizin sei nicht Rhetorik, auch wenn es in der Praxis so aussehe, sondern eine Fähigkeit, ein solides Wissen, das Gott dem Menschen verliehen habe (S. 388). Sein Buch appelliert nun an die gesamte Zunft, wo es auf Zustimmung stoßen sollte, weswegen der Autor natürlich sogleich einen Teil seiner Schärfe zurücknimmt und nun einräumt, es gebe sicherlich trotz seiner vorherigen Kritik einige unter den vielen Ärzten, die ein wenig von ihrem Fach verstehen könnten. Die Gelehrten wolle er aber gar nicht ansprechen, denn sie „bedürfen meines Lehrens nicht” (S. 388). Aber Medizin erschöpfe sich gewiss nicht in der _____________ 11 12
Klaus Bergdolt: „Die mittelalterliche Kritik am Arzt“. In: Ruperto Carola: Forschungsmagazin 43, Heft 83/84 (1991), S. 35–45. Paul Gerhard Völker: Der Arzt und das Heilwesen im Mittelalter. Esslingen 1974. Zum Werk Heinrichs siehe: Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich. Unter Mitarbeit von Katharina von Goetz, Frank Henrichvark und Sigrid Krause hg. von Klaus Düwel. Tübingen 1984 (Altdeutsche Textbibliothek, 96).
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Fähigkeit, Latein zu sprechen (S. 389). Paracelsus richtet sich mithin an eine eher versteckte und wenig repräsentative Gruppe von außerordentlich heilkundigen Menschen, die hinter den öffentlichen Schein zu blicken vermag und danach strebt, wahrhafte medizinische Kenntnisse zu erwerben, mit denen sie den Patienten effektiv zu helfen vermögen: „Also habt Fleiß zu der Arznei, den Grund in ihr zu erlernen und sonderlich hie in der Wundarznei, die eine sichere Kunst sein kann, und von der, soviel möglich ist, mit dem Unterricht verheißen und geleistet werden kann” (S. 389).
Aus seiner anfänglichen Beobachtung, wie ein guter Arzt angesichts eines Krankheitsfalls vorgehen solle, können wir weitere Erkenntnisse hinsichtlich seiner Einstellung zu den meisten Berufsgenossen gewinnen, denen er offensichtlich nicht über den Weg traute, weil sie sich mehr auf ihre abstrakte Gelehrsamkeit denn auf die natürliche Einsicht in die körperliche Befindlichkeit des Kranken verließen. So warnt Paracelsus seine Leser: „Was er da übersieht, ist ihm eine schwere Schande und großer Spott. Denn sagst du zu viel zu und die Natur kanns nit vollbringen, ist in ihrem Vermögen nit, so zappelst und füchtelst du dahin, dahin du nit kommen willst. Und je länger du zappelst, je mehr verderbst du und bringst dich selbst in Schanden. Sagst du wenig zu und bringst es weiter, ist es wieder ein Spott, daß du dein eigen Werkzeug und deine Kunst nicht verstanden habest” (S. 391).
Nur die harmonische Zusammenarbeit von Natur und Kunst (Studium) einerseits und dem werdenden bzw. praktizierenden Arzt vermöge das Ideal zu erreichen, echte Heilung herbeizuführen. Sarkastisch gemahnt Paracelsus seine Leser, nicht die Natur zwingen zu wollen, sei dies ja von Grund auf gar nicht möglich: „Du mußt ihr nach und sie dir nit. Drum, bringst du Arznei, die der Natur nit bequem ist, so verderbst du sie, denn sie folgt dir nit, du mußt nun ihr folgen” (S. 391).
Weiterhin fordert er die Ärzte dazu auf, sich nicht tollkühn allerlei Wunderleistungen zu rühmen, denn dabei handle es sich meist nur um Betrug, Augenwischerei und Gaukelei, und solche fast schon kriminellen Machenschaften schadeten dem ganzen Berufsstand. Nur das Gegenteil sei zu verfolgen: „Ein Arzt soll wahrhaft, ernst, tapfer mit seinen Reden sein, nit leichtfertig. Rede, das möglich und der Natur angemessen ist, das kann ein frommer Mann glauben und dich loben” (S. 392).
In seinem Traktakt Labyrinthus medicorum errantium (1537/1538) warnte Paracelsus sogar noch stärker davor, sich zu sehr auf die traditionellen Lehrbücher zu verlassen, die ja nur von Schriftgelehrten („Skribenten”) verfasst worden seien, nicht aber von wirklich praktisch Geschulten und denjenigen, die wahre Einsicht in die physische und seelische Konstitution
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des Menschen besitzen. Um seine Gedanken zu verdeutlichen, entwickelte der Autor das folgende Szenario: „wie, wenn kein buch auf Erden wäre und gar kein Arzt, wie müßte gelernt werden? Da befindet es sich, daß die Arznei wohl ohne Menschenmeister kann gelernt werden” (S. 440).
Zwar lehnt Paracelsus nicht die übliche Schulung bei Scherern oder Badern ab, vom universitären Medizinstudium ganz abgesehen, aber er drängt dennoch sehr stark darauf, sich intensiv mit der Natur vertraut zu machen und sich ihrem Vorbild anzuschließen: „Das ist der ganze Grund: zu wandeln in dem natürlichen Licht, das der Mensch aus sich selbst und aus eigner Vernunft nit geben kann. Etwas gibt der Mensch, aber unvollkommen; was vollkommen sein soll, das muß weiter gesucht werden, nämlich bei dem Brunnen, da alle Menschen draus trinken” (S. 441).
Paracelsus verachtete keineswegs traditionell medizinische Ausbildung, aber diese könne nur, wie er betonte, eine sehr beschränkte Erkenntnis vermitteln: „Der Mensch hat zu geben, aber allein eine schlechte Unterweisung. Das vollkommene muß aus dem Licht der Natur genommen werden, wie die Apostel von Gott genommen haben” (S. 441).
Der Autor bezieht sich dann auf Christus als die Urquelle allen Wissens und fordert seine Leser, also besonders die Ärzte, dazu auf, „daß also das Licht der Natur den Arzt aus der Philosophie, aus der Astronomie unterweise, und nit der Mensch, in dem doch das natürliche Licht gar nit ist, sich für sich selbst” (S. 441).13
Geradezu spöttisch formulierte Paracelsus schließlich: „Denn eines jeden losen Predigers Tand anzuhören, – wer kann da auf das Ende kommen oder die Wahrheit finden? In den Büchern aber kann niemand verführt werden. Denn in ihnen ist allein die Wahrheit, die selben lest durch” (S. 441).14
Im Grußwort an seine Leser umreißt er dann noch genauer, von wem er sich selbst distanziert, um den Weg zur Natur zurückzufinden, nimmt er spöttisch Ziel auf die gesamte gelehrte Tradition einschließlich Avicennas, Galens, Mesues (Yuhanna ibn Masawaihs),15 Rhazes’16 u.a. Sein Weg als medizinischer Gelehrter führe ihn hingegen aus dem Labyrinth der Irrtümer hin in die Natur: „Nämlich die ist die rechte Tür, die das Licht der _____________ 13 14
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Vgl. dazu den Beitrag von Mariacarla Gadebusch Bondio in diesem Band. Bernhard Dietrich Haage: „Paracelsus zwischen Spiritualität und Wissenschaft”. In: Mystik und Natur. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart. Hg. von Peter Dinzelbacher. Berlin und New York 2009 (Theophrastus Paracelsus Studien, 1), S. 87–99. http://en.wikipedia.org/wiki/Masawaiyh (Stand: 15.02.2010). http://de.wikipedia.org/wiki/Abu_Bakr_Muhammad_ibn_Zakariya_ar-Razi (Stand: 15.02.2010).
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Natur ist, und die andere ist: oben zum Dach hineingestiegen, – denn sie stimmen nit zusammen” (S. 445). Wie Paracelsus genau ausweist, handelt es sich in der Medizin um den Wettstreit der zwei großen Lehrrichtungen, einerseits die schriftliche Tradition bzw. akademische Schule, andererseits die Verehrung der Natur als der Urmutter, die das gesamte Leben reguliere und beherrsche. Er selbst richte sich aber nach der letzteren: „achte ich, das Buch sei das rechte, das Gott selbst gegeben, geschrieben, diktiert und gesetzt hat, und daß die andern Bücher nach ihrem Bedünken, consilia, opiniones geben, so viel sie wollen, – der Natur ist nichts genommen” (S. 445).17 Tiefgläubig bezieht Paracelsus all sein Wissen und die gesamte Gesundheitslehre letztlich auf Gott, der als die höchste Autorität anzusehen sei. Dies motivierte den Autor dazu, die folgende Empfehlung auszusprechen: „Also, willst du ein Arzt werden, such am ersten die Arznei, da sie ist, wenn du weise bist, und erspekuliere keine von dir selbst. Denn es ist nit rhetorica noch partes orationis. Nimm sie da, da sie geschrieben steht, so irrst du nit. Und besieh alle Bücher, die gemacht sind, was in das Licht der Natur konkordiert, das besteht und hat Kraft. Was aber nit in das konkordiert, das ist ein labyrinthus, der keinen gewissen Eingang noch Ausgang hat” (S. 445–446). Angesichts des Todes kollidieren die verschiedenen Vertreter von Diskurskreisen, um ihre Autorität in dieser kritischen Phase des menschlichen Lebens zu beweisen, sodass der Arzt unter erheblichen Konkurrenzdruck gerät und von den Angehörigen, den Juristen oder den Klerikern in seiner zentralen Kompetenz herausgefordert und sogar zurückgewiesen wird.18 Aber Krankheit hat stets noch eine Krise in unserer Existenz dargestellt, wie wir schon anhand Hartmanns von Aue Der arme Heinrich feststellen konnten. Der Arzt versucht zwar, all seine Fähigkeiten einzusetzen, aber er ist noch niemals Gott gewesen und hat sich stets mit dem begnügen müssen, was ihm intellektuell und praktisch zur Verfügung stand. Kein Wunder, dass deswegen Dichter und auch Künstler durch alle Zeiten mit recht viel Ironie und Satire auf den Arzt eingegangen sind. Einige wichtige Beispiele aus der deutschen Literatur des Spätmittelalters sollen nun diesen Aspekt illustrieren und zugleich ein Verständnis davon vermitteln, wie man in der Öffentlichkeit über diese Autoritätsfigur gedacht hat, _____________ 17
18
Die Betrachtung der Natur als ein Buch gehört zu den vielen Topoi der mittelalterlichen Tradition, wenngleich nicht unbedingt im medizinischen Kontext, siehe dazu Ivan Illich: In the Vinyeard of the Text. A Commentary to Hugh’s Didascalicon. Chicago und London 1993 (Orig. auf Deutsch 1991). Rudolf Käser: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998, S. 17–25.
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was dann die spezielle Position Theophrastus’ vis-à-vis der Medizin und der Heilkunst wesentlich deutlicher werden lassen wird.19 Betrachten wir zunächst, wie Geoffrey Chaucer im Vorwort zu seinen Canterbury Tales (vor 1400) seine Arztfigur gezeichnet hat, denn dieser englische Dichter hat sich stets noch als ein außerordentlich guter Menschenkenner und Beobachter erwiesen, wenngleich er keineswegs der Erste gewesen ist, der sich der Figur des Arztes widmete, um sie ironisch in ihrem Arbeitsbereich zu beurteilen. Der Physician erhält das höchste Lob des Erzählers, der dessen medizinisches Wissen bewundert, das sogar mit guten Einsichten in die Astrologie verbunden sei, womit seine diagnostischen Fähigkeiten triumphale Erfolge feiere: Und stundenlang behielt er die Patienten Bei sich mit magischen Experimenten. Nach Sternenbildern konnt in allen Fällen Des Kranken Horoskop geschickt er stellen. Er forscht’, wo wohl der Grund der Krankheit sitze, Ob sie durch Dürre, Nässe, Kälte, Hitze Entstanden sei und auch aus welchen Stoffen. Er war als Praktiker unübertroffen.20
Zugleich pflegt er, wie der Erzähler betont, enge Kollaboration mit dem Apotheker (V. 425–428), und beweist sich als gründlich vertraut mit den antiken und mittelalterlichen Ärzten: „Die Alten kannt er: Äskulap voran / Und Dioskurides und Rufus dann, / Hippokrates und Haly und Galen, / Serapion, Rasis und Avicen, / Averrois, Damascenus, Constantin, / Bernard und Gatesden und Gilbertin” (V. 429–434). Dennoch unterlässt es Chaucer nicht, einen gewissen ironischen Tonfall anklingen zu lassen, indem er auf den Reichtum des Arztes hinweist, der sich wenig um das Studium der Bibel kümmere (V. 438), dennoch Maß in seinem ganzen Lebensstil zu halten bemüht sei (V. 435–437), zugleich aber auch keine Scheu davor zeige, sich prächtig zu kleiden und so sein Vermögen in der Öffentlichkeit zu präsentieren: „Blutrot und blau liebt’ er sich anzuziehn, / Mit Taft gefüttert und mit Musselin” (V. 439–440). Ungeachtet seiner vermeintlichen Bescheidenheit gibt er außerdem nur zu deutlich zu erkennen, wie sehr er danach strebt, Reichtum zu erwerben: „Herzstärkende Arznei ist Gold, und drum / Liebt’ er das Gold als sein Spezifikum” (V. 443–444).
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Zur Popularität dieses Motivs sogar in der Märchenliteratur u.a. siehe Wayland D. Hard: „Arzt”. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. von Kurt Ranke. Bd. 1. Berlin und New York 1971, Sp. 849–853. Geoffrey Chaucer: Die Canterbury-Erzählungen. Vollständige Ausg. Aus dem Englischen übertragen und hg. von Martin Lehnert. Frankfurt a. M. 1987, V. 415–422. Vgl. dazu die Originalausgabe: Geoffrey Chaucer: The Canterbury Tales. Hrsg. von Robert Boenig & Andrew Taylor. Peterborough, Ontario, und New York 2008.
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Chaucer setzt aber, was man gerechtigkeitshalber zugestehen muss, bloß eine recht subtile Satire auf den Arzt ein, lässt ihn weitgehend ungeschoren, denn selbst der Host, oder Wirt, der als der Leiter der Pilgergruppe fungiert, kommentiert am Ende nur affirmativ die Erzählung des Arztes, ohne sich weiter mit seinem Berufsstand auseinanderzusetzen.21 Ganz anders ging in der Hinsicht Chaucers Zeitgenosse Heinrich Wittenwiler, Konstanzer Notar um die Jahrhundertwende, in seiner narrativen Allegorie Der Ring (ca. 1400) vor, wo fast alle Stände der damaligen Zeit mit Ausnahme der Stadtbürger, d.h. der Handwerker und Patrizier, scharfer ironischer Kritik unterworfen werden. Auf oberflächlicher Ebene handelt es sich um den Bauern Bertschi Triefnas (Tropfnase), der um die Hand seiner Geliebten Mätzli Rüerenzumpf (Fass den Penis an) wirbt und sie auch heiraten kann, nachdem er eine Flut an Ehelehren hat über sich ergehen lassen, die schließlich zu einer intensiven Prüfung seiner Kenntnisse allgemeiner Art führt. Aber während der Hochzeitsfeierlichkeiten kommt es zu Prügeleien, die bald in Mord und Totschlag übergehen, und dies alles führt dann viel zu schnell zur Kriegserklärung zwischen den zwei benachbarten Dörfern. Dies bietet erneut die Gelegenheit, umfangreich Lehren zu vermitteln, diesmal über die rechte Kriegsführung, aber nichts nützt den Lappenhausenern, zu denen auch Bertschi gehört, denn sie erleiden eine fürchterliche Niederlage, bei der die gesamte Bevölkerung, einschließlich seiner Braut, erschlagen wird. Seine Rettung schuldet Bertschi allein der Tatsache, dass er sich auf einem Heuschober verschanzt hatte und dort oben dann den Wahnsinnigen spielt, was seine Feinde erschreckt, die die Belagerung aufgeben und sich entfernen.22 Angesichts der Massen an Toten verzweifelt Bertschi, zieht sich, freilich ohne wirklich etwas gelernt zu haben, aus der Welt zurück und begibt sich in den Schwarzwald, wo er sein Leben als Einsiedler beschließt.23 In der Frühphase, als Bertschi noch um seine Geliebte wirbt, kommt es zu einem kleinen Unfall, denn er wirft einen Brief, den er an einen Stein _____________ 21 22 23
Siehe dazu jetzt Kirk L. Smith: „False Care and the Canterbury Cure: Chaucer Treats the New Galen”. In: Literature and Medicine 27, 1 (2008), S. 61–81. Zur philosophiehistorischen Interpretation des Wahnsinns siehe den Beitrag von Andreas Brenner im vorliegenden Band. Heinrich Wittenwiler: „Der Ring”. Hg., übersetzt und kommentiert von Bernhard Sowinski. Stuttgart 1988 (Helfant Texte, T9); vgl. dazu Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Edmund Wießner ins Neuhochdeutsche übersetzt und hg. von Horst Brunner. Stuttgart 1991. Die Forschung zum Ring ist mittlerweile uferlos, siehe aber die grundlegende Arbeit von Eckhart Conrad Lutz: Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ‘Ring’. Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XXXII). Vgl. dazu das achte Kapitel in meiner Studie: Albrecht Classen: Verzweiflung und Hoffnung. Die Suche nach der kommunikativen Gemeinschaft in der deutschen Literatur des Mittelalters. Frankfurt a. M., Berlin et al. 2002 (Beihefte zur Mediaevistik, 1), S. 401–435.
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gebunden hat, zu ihr auf den Dachboden, wohin ihr Vater sie eingesperrt hatte, um sie in sicherer Distanz zu dem liebestollen jungen Bauern zu halten. Unglücklicherweise verletzt er sie aber mit dem Stein am Kopf, was den Besuch bei dem Arzt Chrippenchra notwendig macht, der ihr zugleich als Einziger den Text vorlesen könnte. Die sich nun anschließende Szene bietet eine gute Möglichkeit, nicht nur einen Blick in eine virtuelle Arztstube des frühen 15. Jahrhunderts zu werfen, sondern, was wesentlich wichtiger für uns ist, Erkenntnis darüber zu gewinnen, wie der satirische Autor Wittenwiler über den Stand der Ärzte dachte, der natürlich hier ebenso wenig vor seinem Spott verschont bleibt wie praktisch alle anderen Hauptfiguren (mit Ausnahme der städtischen Elite!). Mätzli leidet kaum unter der Kopfwunde, zeigt sich aber in Anwesenheit all der Leute, die sich im Wartezimmer aufhalten, völlig verwirrt und kann ihr wahres Anliegen nicht vorbringen, was Chrippenchra schnell begreift. Dieser schnauzt darauf alle Umherstehenden an und vertreibt sie, sodass er privat mit der jungen Frau zu sprechen vermag, die ihm sofort ihr Liebesleid offenlegt und ihn anfleht, ihr doch vorzulesen, was in dem Brief geschrieben stehen könnte. Der Arzt lässt sich nicht lange bitten und erfüllt ihr diesen Wunsch, was sie aufgrund des Liebesgeständnisses Bertschis sehr befriedigt. Dann aber wäscht der Arzt ihre Wunde aus und legt einen Verband an, beweist sich also ganz als der professionelle Heilkundige, wie er im Buche steht. Allerdings gebraucht er seltsame Mittel, um die Wunde zu behandeln, womit er sich also doch gewissermaßen als Quacksalber verrät: „Des ward er sei do wäschen / Mit esseich und mit äschen, / Mit zwivel und mit mersaltz; / Daz daucht sei süesser dann ein smaltz” (2071–2074). Mätzli kümmert sich freilich kaum darum, geht es ihr ja gar nicht um medizinische Betreuung, sondern sie ist vielmehr ganz begierig darauf, von ihm Hilfe als Briefschreiber zu erhalten, und diktiert ihm sogleich einen Text, den er ganz beflissentlich für sie aufsetzt. Sie verkündet aber Bertschi bloß, dass sie nachts im Haus des Arztes auf ihn warten wolle: „Chüm zuo mir peid diser nacht / Ins artzetz haus und gib mir chraft!” (2091–2092).
Chrippenchra merkt an diesen Worten, dass seine Patientin von nichts als sexuellen Gelüsten erfüllt ist, was sich für ihn als die ideale Möglichkeit erweist, Mätzli als Hure zu behandeln, mit der er selbst seine eigenen Wünsche befriedigen kann: „‘Trun, du macht ein hüerrel sein, / Mich triegin dann die sinne mein!’” (2099–2100). Unbeherrscht lässt er darauf einen Furz fahren und lacht über die junge Frau, deren Nachname eindeutig sexuelle Bedeutung besitzt, was er sich nun zunutze macht: „Dein nam ghört wol zuo meinem stumph: / So ghört mein stumph zuo deinem muot” (2118–2119). Ganz ohne Weiteres würde sie sich aber nicht vergewaltigen lassen, wie er selbst einsieht, sodass er sogleich zu einer Art Bestechung greift, indem er ihr verspricht, für das sexuelle Vergnügen ihren
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Vater günstig zu stimmen und so die Heirat einzuleiten. Würde sie sich ihm aber nicht gefügig zeigen, würde er den Brief, den er selbst für Mätzli geschrieben hatte, ihrem Vater zeigen, was zu schwerer Bestrafung führen könnte, wie wir aus der Andeutung mitlesen müssen, ohne dass der Text es so genau sagen würde. Die junge Frau weist ihn jedoch mit groben Worten zurück, zeigt sich aber dann völlig hilflos gegenüber seiner sexuellen Attacke, die zur Vergewaltigung führt: „Er sängelt: ‘Da, da, nüssli, da, / Mätzli! Sta, sta, hägili, sta! . . .’” (2139–2140), ohne dass wir genau festzulegen fähig wären, inwieweit sie sich ihm willig oder unfreiwillig hingibt. Ihr steht praktisch keine andere Möglichkeit zur Verfügung, aber sie scheint auch unbekümmert um die Folgen für ihre Jungfräulichkeit den Arzt als Sexualpartner zu akzeptieren, und fordert dann sogar noch eine zweite Runde, weil sie auf den Geschmack gekommen ist: „Daz fräwel sprach: ‘Ir scholt nit fliehen! / Artzet mich en wenig me: / Ich derlaid es bas dan e!” (2156–2157). Als sie aber dann zum dritten Mal von ihm beschlafen werden will, wehrt er mit aller Entschiedenheit ab, vermag er schließlich nicht mehr genügend Potenz aufzubringen, und schickt sie von sich. Natürlich führt dies alles sogleich zu ihrer Schwangerschaft, was die Notwendigkeit einer Heirat mit Bertschi erheblich steigert, aber das diplomatische Geschick des Arztes ermöglicht die rasche Erfüllung des Zieles. Allerdings muss er ihr inzwischen auch Instruktionen darüber erteilen, wie sie dann in der Hochzeitsnacht Jungfräulichkeit vorgaukeln kann, damit ihre Schmach nicht bekannt werde, aber der Arzt weiß sich auch in dieser Situation zu helfen, womit er sich geradezu als ein Tausendsassa bewährt, der weitgehend dem üblichen, eher negativen Stereotyp vom Arzt entspricht, der mehr als Quacksalber denn als seriös medizinisch Praktizierender auftritt. Genau diesen Aspekt sollte Paracelsus später geradezu zynisch in seinen heftigen Breitseiten gegen den gesamten Berufsstand der Ärzte vermerken. Dem Nürnberger Spruchdichter und Verfasser von Fastnachtspielen Hans Rosenplüt (erste Hälfte des 15. Jahrhunderts wird auch der bisher praktisch noch niemals diskutierte oder überhaupt beachtete Spuch “Dy sechs erczt” (wohl fälschlich) zugeschrieben, in dem er die sechs entscheidenden Ärzte vorstellt, die ein Mensch wirklich braucht, um am Leib und an der Seele gesund zu bleiben, nämlich drei für den Körper und drei für die Seele. (Anmerkung: Vgl. dazu Jörn Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg. Stuttgart: Franz Steiner, 1985, S. 234, 262). Zu den ersten drei rechnet er den Koch, den Weinschenk und den Bader, zu den letzten drei gehören der Kanzelprediger, der Beichtvater und natürlich Christus. (Anmerkung: Zitiert nach: Fastnachtspiele aus dem XV. Jahrhundert. Bd. 3. Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins, 30), S. 1083–1088). Im fol-
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genden Spruch “Von den ärczten” bezieht sich der Dichter einleitend auf die berühmten antiken Ärzte Hippokrates, Galen und Orienes (wohl Origenes), die zwar die höchsten medizinischen Künste beherrschen, dann aber von Jesus Christus erfahren, der als der größte Meister und Herrscher über Leben und Tod beschrieben wird (S. 1088–1098). Es geht also dann gar nicht um den Arztberuf oder die medizinische Wissenschaft, sondern um die Passionsgeschichte Christi. Trotzdem dienen uns diese zwei Texte gut dafür wahrzunehmen, wie wichtig der Arzt trotz allem Spott in der Öffentlichkeit angesehen wurde, auch wenn Rosenplüt (oder ein anderer Dichter) mehr an eine ‘holistische’ Konzeption vom guten Leben glaubt (gutes Essen, gutes Trinken, guter Glauben), wie wir es heute ausdrücken würden, als an Medikamente und praktische ärztliche Hilfe. Etwa 100 Jahre später äußerte sich der berühmte Basler Gelehrte Sebastian Brant in seinem Narrenschiff von 1494 u.a. auch über die Torheit derjenigen, die nicht den Ratschlägen der Ärzte folgen. Seine Kritik richtet sich also einerseits gar nicht gegen die professionellen Experten, sondern gegen diejenigen, die deren Autorität nicht beachten und eigenwillig alle Aufforderungen der Ärzte in den Wind schlagen. Andererseits verspottete er in einem späteren Kapitel genau diese Autoritäten, entwirft also wie so häufig ein sehr dialektisches Bild seiner Welt. Das Narrenschiff zielte umfassend auf die Dummheiten der Menschen, die sich allenthalben beobachten lassen, wofür eben das Schiffssymbol mit seiner globalen Besatzung ein ideales Bild abgibt.24 Brant macht sich insbesondere über diejenigen lustig, die von der Meinung erfüllt sind, eine Arznei müsse sofort eine Wirkung zeigen, sonst tauge sie nichts. Im Gegenteil dazu mahnt Brant: Wer will der kranckheyt bald entgan Der soll dem anfang widerstan Dann artzeny muoß würcken langk Wann kranckheyt vast nymbt vberhanck Wer gern well werden bald gesund Der zoug dem artzet recht die wund Vnd lyd sich / so man die vff brech Oder mit meißlin dar jn stech Oder sie hefft / wesch / oder bynd Ob man jm schon die hut abschynd
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Vgl. dazu Joachim Knape: „Sebastian Brant”. In: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk. Hg. von Stephan Füssel. Berlin 1993, S. 156–172.
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Do mit alleyn das leben blib Vnd man die sel nit von jm trib.25
Die Torheit ruhe also nicht beim Arzt, sondern wesentlich beim Patienten, wenn dieser sich nicht der gründlichen Betreuung und Pflege des Ersteren unterwirft und sogar die Unwahrheit über sein Leiden oder seine Krankheit sagt, vielleicht um Schmerzen zu vermeiden, die ihm der Arzt bei der richtigen Behandlung bereiten könnte. Diese Toren aber gleichen all denjenigen, die auch ihrem Rechtsanwalt oder sogar ihrem Priester im Beichtstuhl nicht die Wahrheit gestehen: „Der hatt jm selbs alleyn gelogen / Vnd mit sym schaden sich betrogen” (V. 29–30). Narrheit sei es, einerseits einen Arzt zu konsultieren, andererseits dessen Rezept oder Anweisung in den Wind zu schlagen (V. 31–32), um stattdessen die Hilfe alter zauberkundiger Frauen aufzusuchen. Brant stöhnt sogar voll Entsetzen über den sich immer stärker breit machenden Aberglauben, der die kranken Menschen beherrsche, die die medizinischen Experten missachten und dafür sich meistens eher auf Teufelsanbetung u.dgl.m. verlassen: „Wer kranck ist der wer gern gesunt / Vnd acht nit wo die hilff har kumt / Den tüfel ruefft gar mancher an / Das er der kranckheyt moecht engan” (V. 41–44).
Dann aber äußert selbst Brant eine gewisse Kritik an manchen Ärzten, die genau wie ihre Patienten sich mehr auf ihr eigenes, weitgehend spekulatives Wissen verlassen denn auf die Hilfe Gottes, bei dem allein Rettung vor jeglicher Krankheit zu suchen sei, die meistens bloß symptomatisch für ethische und moralische Probleme einstehe: „Kranckheyt vß sünden dick entspringt / Die synd vil grosser siechtag bringt / Dar vmb wer kranckheyt will entgan / Der soll gott wol vor ougen han” (V. 55– 58).
Durchaus mit der Vorstellung von Paracelsus vergleichbar insistiert der Autor darauf, an erster Stelle sich Gott zuzuwenden, bevor man überhaupt an den Arzt denke, während die Toren von der Annahme ausgehen, sie könnten auch ohne die Gnade Gottes leben: „Vnd meynten leben on syn gnad / Stuerben doch mit der selen schad” (V. 73–74). Freilich beobachtet er ganz realistisch, dass die meisten Menschen während ihrer Krankheit alles Mögliche Gott geloben, aber sobald sie sich wieder gesund fühlen, dann all dies widerrufen oder ignorieren: „Mancher gelobt jn kranckheyt vil / Wie er syn leben bessern will / Dem spricht man // do der siech genaß / Do wart er boeser dann er was / Vnd meynt gott do mitt btrogen han / Bald gont jn groesser plagen an” (V. 89–94).
_____________ 25
Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499. Hg. von Manfred Lemmer. Tübingen 1962 (Neudrucke deutscher Literaturwerke. Neue Folge, 5), S. 59, Nr. 38, V. 9–20. Um spätere Druckfehler zu vermeiden, löse ich alle Superscripta auf.
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Noch schärfer formuliert Brant in dem 55. Stück „Von narrechter artzny” seine satirische Kritik an den höchst unzuverlässigen und nicht vertrauenswürdigen alten heilkundigen Frauen, die vorgeben, über arkane Heilkunde zu verfügen, oder an denjenigen „Scherern”, die sich auf mysteriöse Kräuterbücher verlassen, in denen Rezepte für Salben zu finden seien, mit denen alles und jedes geheilt werden könnte, was als ein deftiger Seitenhieb auf die sogenannte „Drecksapotheke” anzusehen wäre.26 Sarkastisch kommentiert Brant: „Die hant eyn kunst / die ist so guot / Das sie all preseten heylen duot / Vnd darff keyn vnderscheyt me han / Vnder jung // allt // kynd // frowen // man // / Oder fueht // trucken // heiß // vnd kalt” (11–15),
womit auch die alte Humorallehre als überflüssig angesehen werde. Ein Wundpflaster, von einem Scherer hergestellt, könne mühelos jegliche Wunden, Verletzungen, Geschwüre etc. heilen (V. 16–20). Spöttisch entblößt der Verfasser diejenigen Menschen, die öffentlich behaupteten, sie könnten effektiv Wunderheilung bewirken, worin sie Rechtsanwälten glichen, die keinen juristischen Rat zu geben vermöchten, oder Priestern, die keine Ahnung hätten, welche Strafe auf moralische Vergehen zu verhängen sei (V. 26–31).27 Brant differenzierte folglich sorgsam zwischen den gelehrten Ärzten, für die er sicherlich genauso wie lange vor ihm bereits Chaucer Hochachtung empfand, und den Quacksalbern bzw. vermeintlich heilkundigen alten Frauen. Er war nüchtern genug, die überwiegende Vorliebe der gewöhnlichen Menschen wahrzunehmen, eher den Wunderheilern zu folgen als sich den professionellen Ärzten anzuvertrauen.28 Genau den gleichen Tenor beobachten wir in verschiedenen Histori über den berühmt-berüchtigten Till Eulenspiegel, zuerst gedruckt 1510, seitdem aber zu einem unglaublichen Bestseller bis in die Gegenwart hin_____________ 26 27
28
Siehe dazu Francis B. Brévart: „Between Medicine, Magic, and Religion: Wonder Drugs in German Medico-Pharmaceutical Treatises of the Thirteenth to the Sixteenth Centuries”. In: Speculum 83, 1 (2008), S. 1–57. Die Zahl der nicht approbierten männlichen Ärzte und heilkundigen Frauen muss während des ganzen Mittelalters bis zur Frühneuzeit sehr hoch gewesen sein, wie die vielen Proteste der universitär geschulten Ärzte dokumentieren, siehe Haage: „Humanmedizin”, S. 186f. Zur Rolle von Frauen als Ärztinnen und sogar Chirurginnen siehe Renate BlumenfeldKosinski: Not of Woman Born: Representations of Caesarean Birth in Medieval and Renaissance Culture. Ithaca, NY, und London 1990; Britta-Juliane Kruse: „Die Arznei ist Goldes wert”. Mittelalterliche Frauenrezepte. Berlin und New York 1999; Monica H. Green: Women’s Healthcare in the Medieval West: Texts and Contexts. Aldershot, Burlington, VT, et al. 2000. Michael Rupp: ‚Narrenschiff’ und ‚Stultifera navis’: Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498. Münster, New York et al. 2002 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit, 3), S. 155–164.
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ein geworden.29 Ähnlich wie Brant entwirft der anonyme Verfasser, wenngleich in einem stärker literarischen Kontext, ein Kaleidoskop seiner Welt, die er nur noch als Ausdruck von vollkommener Narretei erkennen kann, ob er sich auf Bauern, Fürsten, Kaufleute, Handwerker, Wirtsleute, Juden, Bader oder Frauen verschiedenster sozialer Herkunft bezieht. Genauso geraten die Ärzte in die Zielrichtung seiner satirischen Kritik, denn in der 15. Histori befindet sich der Protagonist am Hof des Bischofs von Magdeburg und gerät mit dem dortigen Arzt in Konflikt, der es als unwürdig für seinen Herrn ansieht, dass sich ein solcher Narr wie Eulenspiegel am Hof aufhält. Weise sollten mit Weisen und Toren mit Toren verkehren, während die Vermengung nur zum Schaden der Ersten führen würde. Alle Anwesenden empfinden dies jedoch als eine Beleidigung und bitten Eulenspiegel, sich eine Strategie auszudenken, um den Arzt eines Besseren zu belehren. Der Erzschelm entfernt sich für vier Wochen und kehrt darauf in der Maske eines Arztes zurück, den der richtige Arzt gleich um Hilfe bittet, weil er selbst unter einer schweren Krankheit leidet. Eulenspiegel fordert ihn auf, eine Nacht unter starkem Schwitzen zu verbringen, was er persönlich beobachten wolle. Um den armen Arzt aber tüchtig zu quälen, platziert er einen hohlen Stein, den er mit seinen eigenen Exkrementen gefüllt hat, an die Wand, wo der Kranke liegt. Sobald sich dieser nachts von dem von dort ausgehenden Gestank wegwenden will, furzt ihm Eulenspiegel fürchterlich ins Gesicht, zwingt ihn aber zugleich, im Bett liegen zu bleiben und bis zum Morgengrauen durchzuhalten. Diese furchtbare Kot- und Gestanks-Tortur schwächt den Arzt so sehr, dass er fast zu sterben meint, vor allem weil Eulenspiegel ihm zugleich ein starkes Abführmittel verabreicht hatte, welches der Arzt für eine Medizin gehalten hatte, die den Schweißausbruch bei ihm bewirken sollte. So kommt es zum erwarteten Malheur, der Kranke beschmutzt sich sogar selbst und merkt erst am Ende, dass ihn Eulenspiegel hereingelegt hat. Als er sich aber bei den Hofleuten und dem Bischof beklagen will, denen er alle Details genau erklärt, um ihr Mitleid zu erheischen, lachen diese ihn nur aus: „‘Es ist gantz geschehen nach Euwern Worten. Ihr sagten nun, man solt sich nit mit Narren bekümeren, wann der Weiß würd dorecht bei Thoren. Aber Ihr sehent, daz einer wol durch Narren weiß würt gemacht, dann der Artzet ist Ulenspiegel geween, den hon Ihr nit kant und hon ihm geglaubt” (S. 47f.).
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Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Hg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1966. Zur Rezeptionsgeschichte siehe Bodo Gotzkowsky: „Volksbücher”. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Teil I: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Baden-Baden 1991, S. 468–488. Zur Forschungsgeschichte kritisch: Albrecht Classen: The German Volksbuch. A Critical History of a Late-Medieval Genre. Lewiston, NY, Queenston, ON, und Lampeter, Wales, 1995 (Studies in German Language and Literature, 15), S. 187–212.
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In der 16. Histori verspricht Eulenspiegel einer sehr besorgten Mutter, ihren kranken Sohn wieder gesund zu machen, der unter schwerer Verstopfung leidet. Kaum ist sie für kurze Zeit aus dem Hause, platziert Eulenspiegel seinen eigenen Kot in die Ecke der Stube, stellt das Stühlchen des Kindes darauf und setzt dieses selbst darauf. Kaum ist die Wirtin zurückgekehrt, bemerkt sie die Veränderung und glaubt sogleich, ohne dies genauer zu überprüfen, ihrem Sohn sei endlich geholfen worden, was sie überglücklich stimmt. Sie bittet Eulenspiegel sogar darum, ihr beizubringen, wie er dieses Wunder bei ihrem Kind vollbracht habe, doch vertröstet er sie auf später. Ohne dass sie es merken würde, verspottet er sie gründlich, und dazu auch die gesamte Zunft der Apotheker und Ärzte, indem er ihr gegenüber betont: „‘Der Artznei kan ich vil machen mit Gottes Hilff’” (S. 50). Noch schlimmer treibt es aber der Protagonist in der 17. Histori, wo er – was ein altes Erzählmotiv darstellt – gegenüber dem Nürnberger Spitalmeister behauptet, jede Krankheit heilen zu können. Dieser, ein geiziger Mensch, möchte so schnell wie möglich die meisten Kranken aus seinem Spital entfernen, weil diese ihm bereits auf der Tasche liegen. Als Vorabzahlung erhält Till nun 20 Gulden und beginnt sogleich mit der Befragung aller Kranken, sagt aber jedem Einzelnen im Geheimen, dass er sie alle später herausrufen würde, und indem er so Schwächsten und Kränkesten unter ihnen allen identifizieren könnte, wäre er in der Lage, die eine sie alle heilende Medizin zu entwickeln, indem er den Zurückgebliebenen zu Pulver verbrennen würde, das er an alle anderen in Wasser aufgelöst für ihre Gesundung verteilen würde. Natürlich kommt es dazu, dass sich alle unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte verzweifelt darum bemühen, so schnell wie möglich aufzustehen und sich aus dem Krankenhaus zu entfernen, damit sie nicht zum Opfer von Eulenspiegels Heilmethode werden. Nackte Angst vor dem Verbrennungstod treibt sie alle aus den Betten, als er dann, mit dem Spitalmeister in der Tür stehend, sie alle laut dazu auffordert, wenn sie denn gesund seien, sich aus dem Gebäude zu entfernen: „Da nun Ulenspiegel nach seinem Anlaß ruffte, da begunden sie von Stat lauffen, etliche, die in 10 Jaren nit vom Bet kumen warn” (S. 54).
Eulenspiegel erhält darauf seine beträchtliche Belohnung und zieht von dannen, während die Kranken nach drei Tagen alle wieder zurückkehren, denn ihr Leiden ist durch diesen törichten Trick keineswegs überwunden worden. Bereits der Stricker hatte sich in seiner Sammlung von Verserzählungen Pfaffe Amis (ca. 1220–1240) auf dieses Motiv gestützt und so zu einem frühen Zeitpunkt bereits eine Persiflage auf den gelehrten Doktor entworfen, der prahlerisch vorgibt, jede Krankheit heilen zu können:
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„wær ir tusent ode me, / ich mache si gesunt e / danne dirre tac hiut zerge, / oder nemt mir min leben” (V. 828–831).30
Hier aber hat der falsche Arzt vermeintlich vor, den Kränkesten zu töten und dessen Blut für die Heilung der anderen zu benutzen. Diese erschrecken zutiefst über diese fürchterliche Aussicht, und jeder hat große Angst, dass sie, falls sie behaupteten, nur noch geringfügig krank zu sein, dann von anderen übertrumpft zu werden. Nur um ihr Leben zu retten, schwören also nun alle, ein Wunder sei geschehen, denn sie hätten alle ihre völlige Gesundheit wieder zurückerlangt (V. 884), und beeiden dies sogar, nur um den fremden Meister zu überzeugen (V. 888–890). Das Nachsehen haben dann sowohl der Fürst als auch die armen Kranken, die genauso wie später in der Histori von Till Eulenspiegel nach wenigen Tagen zurückkehren und fast noch mehr leiden als vorher. Der Erzähler hat aber die Lacher auf seiner Seite und ergießt seinen ganzen Spott sowohl über die Figur des Arztes, obwohl dieser raffiniert operiert und seinen Plan geschickt einfädelt und durchführt, als auch über die leichtgläubigen Menschen, die sich von jedem nur halbwegs überzeugend klingenden Quacksalber hereinlegen lassen. Natürlich zielen Pfaffe Amis und Eulenspiegel bei ihrem brutalem Vorgehen vor allem auf die Torheit der Menschen, die jeder vermeintlichen Autoritätsfigur sofort größten Respekt entgegenbringen, aber beide decken auch auf, wie wenig ihrer Meinung nach dem Stand der Ärzte zu trauen wäre.31 Dies macht sich in der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts noch deutlicher bemerkbar, was die recht herbe Kritik von Paracelsus an seinen Berufsgenossen in ein bemerkenswertes Licht rückt und entscheidend kontextualisiert. Hier konzentriere ich mich auf den Wendunmuth von Hans Wilhelm Kirchhof von 1563 (nachgedruckt bis 1603),32 wo wir häufig auf Erzählungen stoßen, in denen das Verhältnis zwischen Arzt und Patient die wesentliche motivische Funktion einnimmt.33 Allerdings gilt zu beachten, dass Kirchhof, ähnlich wie viele andere Schwankbuchautoren, relativ wahllos und unablässig neue Schwänke mit einer zahllosen Fülle an Themen und Sujets in sein Repertoire aufnahm und damit sozusagen gar nicht _____________ 30
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Des Strickers Pfaffe Amis. Hg. von K. Kamihara. Göppingen 1978 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 233). Umfangreich zum Stricker jetzt Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 26, 41–42, 79–110 et passim. Breiter dazu Rupert Kalkofen: Der Priesterbetrug als Weltklugheit. Eine philologischhermeneutische Interpretation des „Pfaffen Amis”. Würzburg 1989 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, IL). Gotzkowski: “Volksbücher”, S. 513–520. Siehe auch den VD 17: http://gso.gbv.de/xslt/DB=1.28/SET=1/TTL=1/SHW?FRST=2 (Stand: 15.02.2010). Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth. Bd. I. Hg. von Hermann Oesterley. ND der Ausg. Stuttgart und Tübingen 1869. Hildesheim und New York 1980.
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zurande kam, weil er stets am Erzählfaden weiterspinnen wollte. Wenngleich es sich dabei um fiktionale Texte handelt, erlauben uns diese doch in vielerlei Weise, Einblick in die Mentalitätsgeschichte der damaligen Zeit zu gewinnen, den sozialpolitischen Diskurs zu erfassen und die dominierenden öffentlichen Themen wahrzunehmen.34 Insoweit aber als gerade das Motiv der Krankenbehandlung und die Figur des Arztes ein so überragendes Gewicht besonders im 16. Jahrhundert besaßen, überrascht es keineswegs, dass auch Kirchhof sich für beides so interessierte.35 In „Von der ertzte freyheit” (Bd. I, Nr. 113) kommt die öffentliche Kritik an den Ärzten besonders stark zum Ausdruck, denen vorgeworfen wird, legal Mord an den vielen Kranken zu betreiben und ungeschoren dabei sogar noch einen großen Verdienst einzustreichen: „Denn ob sie schon offtmals durch ir ungereimpte artzney ewa manichen menschen tödten, bekommen und schrappen sie dardurch zuosammen, da andere todtschläger am leib härtigklich gestraffet werden, grosses guot und reichliche belonung. Darauß ein sprichwort, dass ein neuwer artzt ein neuwen kirchhof haben muß, bey uns Teutschen entstanden ist” (S. 145). Zur Steigerung der Satire fügt der Erzähler sogleich eine Variante hinzu, wonach ein neuer Arzt eigentlich zwei Friedhöfe brauche, einen für die Kranken, denen er nicht helfen konnte und die deswegen das Zeitliche segneten, und einen anderen für all diejenigen, die er allein wegen seiner falschen oder viel zu scharfen Medizin zum Tode geführt habe. Zur Illustration für diese Lebenslehre wird uns die folgende Anekdote berichtet: Ein Fürst fragte einen sich um die Stelle am Hof bewerbenden Arzt, wie viele Menschen er bereits ins Grabe gebracht habe, weil er vermeintlich von seinen Eltern gelernt habe, nur einen solchen Arzt ernsthaft zu konsultieren, der bereits 30 Menschenleben auf seinem Konto habe. Der Arzt, begierig darauf, unter allen Umständen angeworben zu werden, betont sofort, dass die Zahl bei ihm bereits bei 29 liege, worauf der Fürst nur empört lospoltert und ihn resolut davonjagt, denn er wolle nicht von diesem Arzt zum 30. Opfer gemacht werden. In der heftigst anti-jüdischen Erzählung „Von eim Juden, der ein artzt war” (Bd. I, Nr. 114) tritt ein konvertierter Jude auf, der ein gelehrter Arzt zu sein behauptet. Als ein Abt ihn zu sich rufen lässt, um sich seine Gicht am Fuß behandeln zu lassen, merkt der ehemalige Jude sogleich, nichts bei dieser Sache ausrichten und somit keinen Lohn einheimsen zu können, und er stiehlt daher bloß, als alle anderen sich in der Messe aufhalten, das _____________ 34 35
Albrecht Classen: Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts: Studien zu Martin Montanus, Hans Wilhelm Kirchhof und Michael Lindener. Trier 2009 (Koblenz-Landauer Studien zu Geistes-, Kultur- und Bildungswissenschaften, 4). Vgl. dazu Bea Lundt: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1800: Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2009 (Kultur und Mentalität), S. 86–92.
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Pferd des Abts, was diesen somit dazu zwingt, trotz seiner Gicht zu Fuß zu gehen.36 Kirchhof zeigt eigentlich trotz des anfänglichen bitterbösen Kommentars gar kein tiefer gehendes Interesse an dem religiösen Konflikt, erwähnt auch nur so beiläufig, wie wenig er getauften Juden zu trauen bereit sei, d.h. gar nicht, um dann aber die Situation für seine erzählerische Intention auszunutzen, die eigentlich primär darin besteht, mittels sprachlicher, erstaunlich witziger Mittel Spaß zu verbreiten und humorvolle Unterhaltung zu vermitteln: „Macht also den guoten herren, nicht seiner artzney halben, wider gehen, sondern die not bracht solchs zuowegen, weil er seines pferds in mangel stunde” (S. 146).
So sehr er auch den Juden verachtet, so scheint sein Spott doch viel zentraler den Abt zu treffen, der sich so töricht von einem Quacksalber hereinlegen lässt, der aber offensichtlich ganz geschickt die Rolle eines Arztes spielt, ähnlich wie schon im Fall von Pfaffe Amis und Till Eulenspiegel. Nicht von ungefähr schließt Kirchhof sein Epimythion mit der Bemerkung ab: „Dann wer mit dreck sich waschen wil, / Dem geschicht recht, dass ers seuwbad füll” (S. 146),
was eben auf die gewöhnlichen Menschen abzielt, die sich leichterdings von jedem reinlegen lassen, der nur geschickt die Rolle eines Arztes zu spielen vermag, ohne wirkliche Kenntnisse zu besitzen. Diese Kritik bestimmt auch den folgenden Schwank (“Ein frauw heilet ein mann mit einer zwybeln”, Nr. 115), in dem der Erzähler genau wie seine Vorgänger, d.h. aber auch Paracelsus, heftigst über die Quacksalber und alte Frauen schimpft, die sich medizinische Expertise anmaßen, ohne jegliche Autorität zu besitzen. Jesus Sirach zitierend betont Kirchhof: „man solle den artzt in ehren halten, auff dass man in in der zeit der not haben möge. Und diß ist von geschickten und der ertzney erfarnen männern, nicht vom doctor Schmeltzkessel und den alten vetteln geredt” (S. 146).
Gemeinhin aber würden sich die Menschen davor scheuen, einem seriösen Arzt den angemessenen Lohn zu bezahlen und würden lieber, um Geld zu sparen, billigeren Rat bei diesen zwielichtigen Figuren suchen, woraus aber am Ende nur doppelter Schaden resultiere, wie dieser Schwank illustriert. Die Warnung vor nicht vertrauenswürdigen Ärzten _____________ 36
Die Forschung zu antijüdischen Haltungen in der Frühneuzeit ist sehr umfangreich, siehe z.B. die Beiträge zu: Nicht in einem Bett: Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit. Wien 2005; und zu: Ein Thema – zwei Perspektiven: Juden und Christen im Mittelalter und Frühneuzeit [15. Internationale Sommerakademie des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich, im Juli 2005], hrsg. von Eveline Brugger und Birgit Wiedl. Innsbruck 2007. Siehe auch Nicoline Hortzitz: Der Judenarzt: historische und sprachliche Untersuchungen zur Diskriminierung eines Berufsstands in der frühen Neuzeit. Heidelberg 1994 (Sprache – Literatur und Geschichte, 7).
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besitzt aber zugleich globalere Bedeutung, denn die negativen Folgen seien gleichzusetzen mit denen, wenn man verkochtes Essen zu sich nehme oder eine schlimme Frau heirate, weil beides dazu führe, ein schlechtes Leben führen zu müssen (S. 147). Kirchhof zog es jedoch meistens vor, sich über diejenigen lustig zu machen, die die wahre Kunst eines Arztes nicht richtig einzuschätzen vermögen und sich durch ihre Reaktion auf die medizinische Empfehlung als Toren erweisen, so im Schwank „Von einem doctor und bauwren” (Bd. I, Nr. 109). Hier begegnen wir einem Arzt, der von vornherein als eine sehr gelehrte und fachkundige Person beschrieben wird, an der aber der nachfolgende Witz nicht ausgelassen wird: „ein fast gelehrter doctor medicine, der all gebresten an iderman vertreiben und curiren konte. Darumb er deß gemeinen mans lob . . . in kurtzen über all andere bekommen und verrümpt worden” (S. 138).
Wir fühlen uns fast an Jakob Ruf gemahnt, der ebenfalls aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten höchstes öffentliches Ansehen genoss. Zu diesem Doktor begibt sich nun eines Tages ein törichter Bauer, der um Hilfe für seine fettleibige und dumme Ehefrau bitten möchte, die fast die ganze Zeit schlafend im Bett verbringt. Aber als sich der Arzt zunächst nach seinem Namen und Wohnort erkundigt, äußert sich der Bauer voller Empörung und Erstaunen: „ich meinet ir wüßt alle ding und wisset solche nicht im harm zuo ersehen? Ist doch kein kindt in unserm dorff, dass nicht weiß, dass ich mit urlaub Knorren Cüntzgen heiß” (S. 138).
Der gelehrte und lebenserfahrene Mann lässt sich aber durch solch eine Bemerkung nicht aus der Ruhe bringen und erkundigt sich genauer nach dem Anliegen des Bauern, dessen geringe Intelligenz ihm nicht verborgen bleibt: „Der doctor verstund mit welchem kauffmann er marckt hielte” (S. 138). Das folgende Gespräch zwischen beiden verrät nur zu schnell, welch ein himmelweiter Unterschied zwischen den beiden Personen besteht, begreift der Bauer noch nicht einmal, was der Arzt mit seiner Frage nach dem Stuhlgang seiner Frau meint, verwechselt er ja den Stuhl mit dem Möbelstück, und als ihm endlich ein Licht aufgeht, zeigt er dem Arzt mit seinen Händen den Umfang des Kots seiner Frau, den er als geringfügig einschätzt, wenngleich es sich fast um „vierthalben pfunden” handeln müsste (S. 139). Der Arzt kann sich nicht helfen und bricht in helles Lachen über diesen dummen Menschen aus: „Auß diser erzelung deß villani ward er heftiger zuo lachen getrieben” (S. 139). Das Problem besteht nur darin, dass die Bäuerin ein zu faules Leben führt und bloß kräftig angetrieben werden muss, um wieder ihre völlige Gesundheit zu erlangen, was leicht dadurch möglich sei, dass ihr Ehemann genau die angemessene
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Medizin anwendete, die allerdings, was der Bauer nicht begreift, metaphorisch zu interpretieren wäre: „Nim ungebrennte aschen, welche, da sie von zweyjärigem guckgucksgeschrey am aller bequemlichsten ist! darzuo misch zimlich den safft von bengel und fünffingerkraut, streich ir denselbigen deß morgens, oder wenn sie die seucht ankompt, umb die arm und lenden, oder wo sie deß am meisten entpfindet” (S. 139).
Mit anderen Worten, der besorgte Ehemann solle sie einfach mittels Prügeln aus ihrer Trägheit bringen, was sofort ihre Gesundheit wieder herstellen würde. Aber erst, als ein heftiger Streit zwischen den beiden Personen ausbricht, weil die Bäuerin sowohl den Arzt als auch ihren Mann verächtlich macht und zutiefst beleidigt, kommt es zu Schlägereien, die darin enden, dass sie davonläuft, d.h. sich schließlich in Bewegung setzt, worin er endlich die „ungebrennte aschen” (S. 140) als das entscheidende Heilmittel erkennt, das ihm der Arzt spöttisch und witzelnd empfohlen hatte. Betrachten wir uns zum Abschluss den Schwank „Von einem wurtzelkrämer, der ein doctor seyn wolt” (Nr. 112), durch den wir erneut eine gute Rückverbindung zu Paracelsus gewinnen, auch wenn der Erzähler mit keinem Wort auf den berühmten Gelehrten eingeht. Der Schwank handelt von einem der „landstreicher oder zanbrecher (wie man sie nennt)” (S. 144), der betrügerisch die Rolle eines Wunderarztes spielt und so auch seine Kundschaft findet. Diesmal ist es eine reiche, alte Bäuerin, deren Augenlicht durch eine Krankheit geschwächt ist, die sich aber dem vermeintlichen Heilkünstler anvertraut unter der Bedingung, dass die Bezahlung erst nach ihrer Gesundung erfolgen soll. Dieser weiß nur zu gut, dass er keinen Erfolg haben kann, jedoch ihr Verlangen nach Behandlung nicht ausschlagen darf, um nicht seinem Geschäft zu schaden. Daher platziert er sie für einige Tage in ein dunkles Zimmer und trägt ihr ständig seltsame Salben auf, so als ob sie wirklich Wundermittel wären. Inzwischen nimmt der Quacksalber jedes Mal, wenn er sich von ihr entfernt, einen wertvollen Gegenstand mit sich, um so zu seinem Gewinn zu kommen, solange die Hausfrau nichts kontrollieren kann. Erstaunlicherweise gesundet aber die Bäuerin wider Erwarten, will aber dann den Lohn dafür nicht bezahlen, weil ihr nur zu deutlich geworden ist, wie nutzlos all das Getue und die lächerliche Salbe für ihre Augen gewesen sind. Außerdem bemerkt sie den Diebstahl und schleudert dem Heuchler dann die Wahrheit ins Gesicht: „dann ehe ich mich deiner artzney gefärlichkeit, die mich doch nicht, sonder gott, gesundt gemacht hat, vertrauwete, seh ich noch mit roten und dunckelen augen hin und wider viel haußraht und kleyder, ietzundt aber mit guten augen sähe ich die ledigen stett” (S. 144). Kirchhof will natürlich sein Publikum mit diesem Schwank unterhalten und es zum Lachen bringen. Dies bewerkstelligt er, indem er auf sehr
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bekannte Figuren im alltäglichen Leben seiner Zeit zurückgreift, hier also auf einen Quacksalber, dessen Machenschaften aber von vornherein offengelegt werden. Wir lachen aber auch über die Frau mit ihrem Augenleiden und freuen uns in gewisser Weise geradezu diebisch über die raffinierte Strategie des Betrügers, der trotz seiner Unfähigkeit auf seine Kosten kommt, indem er Gegenstände stiehlt, solange er die Patientin unter seiner Kontrolle hat. Dennoch triumphiert sie, weil ihr Gott, wie sie sagt, die Gesundheit ihrer Augen wieder schenkt, nicht aber, weil der falsche Arzt irgendeinen medizinischen Erfolg gehabt hätte, wovon er ja selbst nicht ausgegangen war. Er hat jedoch das Nachsehen, weil er trotz seiner eigentlich kriminellen Machenschaften immer noch seine Bezahlung verlangt und sich darauf beruft, ihr Augenleiden tatsächlich geheilt zu haben, obwohl, wie der Erzähler betont: „die frauw wird auch über sein verhoffen in solcher triegerey gesund” (S. 144). Obwohl Paracelsus in diesen Kurzerzählungen überhaupt nicht zu Worte kommt oder erwähnt wird, schwingen seine Gedanken irgendwie im Hintergrund doch mit, wenngleich der Schwank keine entscheidende Kritik an den approbierten Ärzten selbst übt, sondern sich nur über die Leichtgläubigkeit der Menschen und die Dreistigkeit des Quacksalbers lustig macht. In der Erzählung kommt es aber dann deswegen zu dem überraschenden Ergebnis, weil die Bäuerin mehr als nur ihr Augenlicht wiedergewinnt. Sie hat neues Gottvertrauen gewonnen und erfahren, dass der Mensch wesentlich von Gott abhängt und nur dann sich seiner Gesundheit erfreuen kann, wenn er sich im Krankheitsfall Gott zuwendet. Wie Paracelsus in der Einleitung zu seinem Liber de longa vita klar zum Ausdruck brachte, und hier ebenfalls zur Sprache kommt, Langlebigkeit schulde sich einerseits dem vernünftigen und gesunden Lebensstil eines Menschen, andererseits aber Gott selbst: Die andere Ursache ist, dass wir die Arznei, den Leib in seiner Gesundheit zu erhalten oder ihm seine Krankheiten zu vertreiben, von dem geschaffen haben, der uns erschaffen hat.37
Auf die Frage der idiota, wieso dann so viele Fürsten und Könige viel zu früh vor ihrer Zeit sterben, antwortet Paracelsus mit einer erneuten, geradezu herben Kritik an den Hofärzten, die mit ihren falschen Heilmitteln und Ratschlägen wirklich den Tod ihrer Herren herbeiführten: daß der Kaiser und der Herren Ärzte weniger als die Bauern auf dem Felde verstehen, und viel eher ihren Fürsten zu dem Tode denn zu dem Leben verhelfen. Weil sie solche Ärzte haben, ist es ihnen nit möglich, auf ihr Alter zu kommen, – was dann eine Solution ist der Unwissenheit der Ärzte, die sich allein des Namens (Arzt) behelfen. Aber wir wollen uns damit zu solvieren auch nit genügen lassen,
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Theophrastus Paracelsus Werke. Bd. 1: Medizinische Schriften, S. 469. Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Willard im vorliegenden Band.
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sondern auch den unordentlichen Brauch der Herren und ihr unziemlich Leben anzeigen, und daß ihr Übermut ihnen ihr Leben abbricht, daß es etwa mehr einer Plage als ihrer Frommheit Ergebnis ist, vielleicht eine eigne Straf. (S. 472–473)
Paracelsus geht dann aber auf kosmische Zusammenhänge des Lebens ein, bezieht sich auf den Einfluss sogar der Gestirne auf das Leben des Menschen, spricht von den vier Elementen und zuletzt wieder von Gott, von dem allein alle Existenz herrührt: „Da nun weiter zu bedenken ist, dass in solchen, jetzt gemeldeten Stücken unser Leben steht, genommen, gefördert und gelenkt werden kann, so wollen wir uns der selbigen weiter unterrichten, was uns zu Gutem und zu Bösem aus ihnen erschließen kann, damit wir die göttliche Kraft und Schöpfung erkennen können, von der wir einen genügenden Anfang zu ergründen uns nit unterstehen, sondern allein die Späne, die davon fallen” (S. 479).38 In gewisser Weise reflektierte die alte Bäuerin in Kirchhofs Schwank genau diese Einsicht, wenn auch humorvoll gebrochen und ohne die universale Perspektive, wie sie besonders von Paracelsus verfolgt wurde. Wenngleich der Arzt seitens der verschiedenen Dichter des europäischen Spätmittelalters mit einem gewissen Respekt betrachtet wurde, überwiegen die ironisch-satirischen Perspektiven, denn mit der Kunst des Arztes scheint es noch nicht allzu weit her gewesen zu sein, vor allem weil die meisten Menschen eher Vertrauen zu Quacksalbern und angeblich heilkundigen Frauen besaßen denn zu geschulten Ärzten. Allerdings konnten wir auch beobachten, dass sich der Spott ebenso und sehr häufig eher auf diejenigen Menschen ergießt, die leichtgläubig jedem Betrüger nachlaufen, der nur ein wenig den Schein erweckt, ein Wunderarzt zu sein und bei jeder Krankheit helfen zu können. Das Lachen über diese Gaukler und Betrüger hallt durch die ganze Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, und es überrascht wenig, Paracelsus unter den Lachern zu finden, jedenfalls insoweit, als er sich scharfzüngig über die Torheit und Ignoranz der meisten Ärzte lustig macht und dafür auf den Wahrheitsgehalt seiner eigenen medizinischen Fertigkeiten pocht. Kein Wunder, dass im Lichte dieser recht kontroversen Situation sowohl Paracelsus ins Zwielicht geriet als auch die Masse seiner zeitgenössischen Berufsgenossen, freilich ohne dass die professionellen und meistens doch recht erfolgreichen Stadt- und Hofärzte wie Jakob Ruf wirklich zur Zielscheibe der literarischen Kritik geworden wären.391
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Siehe dazu den Beitrag von Heinz Schott im vorliegenden Band. Siehe auch den berühmten Leipziger Stadtarzt Heinrich Stromer von Auerbach (1476– 1542), mit dem sich Ingrid Kästner in ihrem Beitrag in diesem Band auseinandersetzt
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Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“. Sünden als Ursache von Krankheiten vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit Matthias Vollmer
Abstract Mittelalterliche Verfasser bearbeiteten das Motiv gottgesandter Krankheit als Sündenstrafe in unterschiedlichen Schriften, besonders aber in den Bußbüchern. Letztere vermitteln ein erstaunliches Bild: Zwar werden die Sünden und die entsprechenden Bußen detailliert beschrieben, doch eine zwingend ursächliche Verbindung zwischen Sünde und Krankheit findet sich nur selten. Wird jedoch ein Zusammenhang zwischen Sündhaftigkeit und Erkrankung hergestellt, dann sollte der moderne Leser zwischen unterschiedlichen Arten von Kausalität unterscheiden. Krankheit ist nicht einfach Sündenstrafe, sondern vielmehr vor allem die Chance zur moralischen Besserung und zur spirituellen Genesung. Medieval authors dealt with the motif of God-sent diseases as a punishment of sinners in various writings, amongst those the Penitential Books in particular are of interest for our context. The latter provide an unexpected scenario: Sins and their adequate punishment were indeed carefully delineated, but a logical causality between sin and disease is hardly to be found. Where a correlation between sinful behavior and disease was established, the modern reader needs to differentiate between different levels of causality. Disease was understood not simply as punishment but rather as an opportunity for moral betterment and spiritual recovery. „Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen gut ist, wenn du seinen Geboten gehorchst und auf alle seine Gesetze achtest, werde ich dir keine der Krankheiten schicken, die ich den Ägyptern geschickt habe. Denn ich bin der Herr, dein Arzt.“ (Ex 15,26)
Überlegungen, die eine Verbindung von Krankheit und Sünde thematisierten, waren bis über das Mittelalter hinaus nicht auf zeitgenössische medi-
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zinische Theorien oder Abhandlungen beschränkt. Religiöse Vorstellungen, sehr oft mit heidnischen Elementen verbunden,1 und der Glaube an die Kräfte der Zauberei spielten besonders während der Christianisierung der frühmittelalterlichen Gesellschaft2 eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Krankheitskonzeptionen. In diesen sind Medizin, Religion und Aberglaube eng miteinander verwoben.3 Die Bußbücher des frühen Mittelalters und die Buß-Summen des hohen Mittelalters greifen regelmäßig auf eine medizinische Metaphorik zurück und konstituieren auch mittels Analogien eine semantische Verbindung von Sünde, Krankheit und Buße. Theologisch-liturgisches Denken und pastorale Praxis wurden als eine welterklärende Einheit gesehen. Der Anspruch dieser Bücher greift tief in das alltägliche Leben der Menschen ein und veranschaulicht den Anspruch der Kirche auf diesseitige und jenseitige Kontrolle. Das Motiv der Krankheit als Sündenstrafe findet sich auch in der Hagiografie und in der Historiografie des Mittelalters. Beide Gattungen berichten Exemplarisches, verankern dieses im unveränderlichen ordo der Heilsgeschichte4 und dienten sowohl der moralischen Belehrung der Leser als auch der Ermahnung zu einem gottgefälligen Leben. Der Grund für die herrschenden Übel in der Welt wurde in der Sünde gesehen.5 Der Topos der Krankheit als Sündenstrafe hatte jedoch nicht nur in den erwähnten Gattungen einen festen Platz, sondern er findet sich auch in der Dichtung sowie in geistlichen und mystischen Schriften.6 Da in der Forschung die Ursächlichkeit des Sünde-KrankheitZusammenhangs unterschiedlich bewertet wird,7 soll eine Auswahl von _____________ 1
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Heinrich Schipperges: Krankheit und Kranksein im Spiegel der Geschichte. Berlin u.a. 1999, bes. S. 39–41 sowie S. 51–56. Kay Peter Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter. Darmstadt 2005, S. 15; ders.: „Kräfte zwischen Himmel und Erde. Magie in mittelalterlichen Krankheitskonzeptionen“. In: Hexerei und Krankheit. Historische und ethnologische Perspektiven. Hg. von Walter Bruchhausen. Münster 2003, S. 23– 46. Werner Heinz: „Medizin und Religion in der Spätantike“. In: Mystik und Natur. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart. Hg. von Peter Dinzelbacher. Berlin und New York 2009, S. 7–38, bes. S. 20ff. Dass dies auch noch im 18. Jahrhundert gilt, zeigt der Beitrag von Heinz Schott im vorliegenden Band. Jean Leclercq: Wissenschaft und Gottverlangen. Düsseldorf 1963. Leclercq ist der Meinung, dass in der Hagiografie die Methoden der Historiografie nur auf eine spezielle Gattung angewendet werden. „Sünde“. In: Theologische Realenzyklopädie. (=TRE). Bd. 32. Berlin, New York 1976– 2004, S.360ff. Besonders Pier Franco Beatrice: „Sünde V“. In: TRE. Bd. 32, S. 389–395, sowie Eike Kohler: „Trost II“. In: TRE. Bd. 34, S. 147–149. Siehe auch den Beitrag von Johannes Grabmayer im vorliegenden Band. Jerome Kroll und Bernard Bachrach: „Sin and the Etiology of Disease in Pre-Crusade Europe“. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 41 (1986), S. 395–414. Die Autoren untersuchen den Zusammenhang von Sünde und Krankheitsursachen in ha-
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Textstellen herangezogen werden unter der Fragestellung, ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen Sündhaftigkeit und Erkrankung hergestellt wurde, der den Schluss zulässt, dass ein Kranker jemand ist, der durch sein fehlerhaftes, sündhaftes Verhalten seine Krankheit mit Notwendigkeit verursacht hat. Wurde Sünde als Begründung oder gar Ursache für Krankheit angesehen? Im Alten Testament findet sich der Zusammenhang von Krankheit als Folge der Sünde im Sinne eines Vergeltungsaspekts an zahlreichen Stellen. Gott selbst als der oberste Arzt straft den Sünder bei Bedarf mit Krankheit. In Jesus Sirach 38,15 heißt es: „Wer gegen seinen Schöpfer sündigt, muss die Hilfe des Arztes in Anspruch nehmen.“ In Dtn 32,39 sagt Gott: „Ich bin es, der tötet und der lebendig macht. Ich habe verwundet; nur ich werde heilen.“8 Für Jahwe sind Krankheiten ein Sanktionsmittel gegen die gestörte Gottesbeziehung des Volkes Israel, das sich von seinen Geboten abgewendet hat. Doch auch Einzelne trifft die göttliche Strafaktion wie Mirjam, die mit Aussatz geschlagen wurde: Krankheit ist hier Folge einer Sünde (Num 12,10–11): „Kaum hatte die Wolke das Zelt verlassen, da war Mirjam weiß wie Schnee vor Aussatz. Aaron wandte sich Mirjam zu und sah: Sie war aussätzig. Da sagte Aaron zu Mose: Mein Herr, ich bitte dich, lass uns nicht die Folgen der Sünde tragen, die wir leichtfertig begangen haben.“
Wird dieser Bestrafungszusammenhang verinnerlicht, dann kommt es unter Umständen zu Schlussfolgerungen wie etwa der von Elifas angesichts der Leiden Hiobs „Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch“ (Hiob 4,8). Sieht man eine Krankheit, ein Unheil, dann muss es verdient sein, dann muss der Betreffende gesündigt haben.9 Doch dieser Schluss ist nicht immer richtig, denn den Freunden Hiobs, die aufgrund des angenommenen Zusammenhangs von Tat und Folge auf eine Schuld Hiobs geschlossen haben, wird von Gott vorgeworfen, dass sie nicht recht von Jahwe gesprochen haben und Hiob muss für sie eintreten. _____________
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giografischen und historiografischen Texten des Frühmittelalters mit dem Ergebnis, dass es einen zwingenden Konnex zwischen Krankheit und Sünde so gut wie gar nicht gibt. In dem Sinne auch Heinrich Schipperges: „Krankheit V“. In: TRE. Bd. 19, S. 686–694, bes. S. 692. Dagegen Wolf von Siebenthal: Krankheit als Folge der Sünde. Eine medizinhistorische Untersuchung. Hannover 1950. Siebenthal erkennt eine ursächliche Verbindung zwischen Sünde und Krankheit: „Doktrinär hielt die Kirche an ihrem Grundsatz fest, die Krankheit sei eine Folge der Sünde.“ Ebd. S. 48. Michael Dörnemann: Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter. Tübingen 2003, S. 15. Zur Frage nach der Gerechtigkeit Gottes siehe: Hiob, Deuterojesaja (Kap. 40-53) und Tobit.
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Jahwe straft nicht willkürlich; bisweilen bleiben die Gründe für seine Vorgehensweise dem Leidenden allerdings verborgen (Hiob, 42,7). Die Strafandrohungen bei Ungehorsam fallen häufig drakonisch aus: „Der Herr heftet die Pest an dich, bis er dich ausgemerzt hat aus dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen. Der Herr schlägt dich mit Schwindsucht, Fieber und Brand, mit Glut und Trockenheit, Versengung und Vergilbung. Sie verfolgen dich, bis du ausgetilgt bist.“ (Dtn 28,21–22)10
Krankheiten sind eine Folge der Sündhaftigkeit; Rechtschaffenheit hingegen bringt Gesundheit. Allerdings wird die Verbindung von Krankheit und Sünde im Alten Testament stärker betont als die von Gesundheit und Gottesgläubigkeit. Belohnungen werden z.B. mit Wohlleben, Kinderreichtum, Langlebigkeit und Siegen über die Feinde belohnt (Dt 28,1–14).11 Gesundheit als erwähnenswerter Wert taucht im vorliegenden Zusammenhang nur selten auf. Im Neuen Testament sind Krankheiten nicht mehr in erster Linie Folgen des Ungehorsams, sondern die Sünden werden als Todsünden und geringere Sünden spezifiziert: „Wer sieht, dass sein Bruder eine Sünde begeht, die nicht zum Tod führt, soll [für ihn] bitten; und Gott wird ihm Leben geben, allen, deren Sünde nicht zum Tod führt. Denn es gibt Sünde, die zum Tod führt. Von ihr spreche ich nicht, wenn ich sage, dass er bitten soll. Jedes Unrecht ist Sünde; aber es gibt Sünde, die nicht zum Tod führt.“ (1 Joh 5,16–17).
Es findet sich auch die Vorstellung der Verbindung von Krankheit und Sünde: „Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben.“ (Jak 5,14-–5)
Allerdings wird eine kausale Verbindung von Tod oder Krankheit als Folge von Sünde von Jesus zurückgewiesen: „Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turms von Schiloach erschlagen wurden – meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht? Nein, im Gegenteil [...]“ (Lk 13,2–5) und: „Unterwegs sah Jesus einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Ober haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“(Joh 9,1–3).
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Siehe auch Gen 3.11ff. Hector Avalos: Illness and Health Care in the Ancient Near East. Atlanta 1995, S. 396.
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Wenn sich auch im Neuen Testament die Auffassung von Krankheit als Strafe im Sinne einer ursächlichen Bedingtheit nicht findet,12 so gibt es doch die Wahrnehmung des Zusammenhangs einer gestörten Gottes- und Menschenbeziehung (Sünde) mit körperlicher Krankheit. Die Aufhebung dieses sündhaften Zustands wird zur Voraussetzung einer folgenden Heilung: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Erst nach diesen Worten wird der Gelähmte von Jesus geheilt. Sündenvergebung und Heilung sind hier zwei verschiedene Vorgänge. (Heilung des Gelähmten: Mt 9,2; Mk 2,5; Lk 5,20). Auch die jüdische und antike Vorstellung, dass Krankheit und Tod bisweilen auf die Einwirkung von Dämonen zurückgehen, findet sich im Neuen Testament. Jesus wird als Exorzist aktiv, wenn er sich an die auszutreibenden Dämonen wendet: „Verlass diesen Mann, du unreiner Geist!“ (Mk 5,8, Mt 8,32; Mk 1,25).13 Für Paulus schließlich ist Sünde die Ursache des Todes (Röm 5–8; bes. Röm 5,12–14). Es leidet nicht nur der Mensch an der Schwäche der Sünde (Röm 5,6), sondern die gesamte Schöpfung ist davon betroffen. (Röm 8,21) „Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen“ (Röm 5,21). Auch die Kirchenväter verfeinern das Sündenverständnis und formulieren ihrerseits Positionen, die in ihren Grundzügen noch im 18. Jahrhundert zu finden sind: Ambrosius von Mailand (um 333–397) stellt fest, dass alles Leid der Menschen ihren Sünden zuzuschreiben sei.14 Heils- und Heilkunde sollen ganzheitlich zusammenarbeiten, da der ganze Mensch nur dann geheilt werden könne, wenn die Krankheit des Leibes und der Seele gleichermaßen kuriert werden.15 Unglück und Krankheiten sind als Glaubens- und Charakterprüfungen anzusehen und Ambrosius zeigt sich entzückt, wenn der Mensch, von Krankheit gequält, dennoch die Schickungen Gottes preist,16 denn „Die Krankheit des Leibes dient der Besonnenheit des Geistes.“17 _____________ 12 13 14 15 16 17
So auch Heinz: Medizin und Religion in der Spätantike, S. 21. Otto Böcher: Christus Exorcista: Dämonismus und Taufe im Neuen Testament. Stuttgart 1972, S. 166. „Ambrosius von Mailand, Exameron“. In: Corpus Scriptorum Ecclesiastorum Latinorum (= CSEL) 32/1. Hg. von Carolus Schenkl. Prag 1897, ND London und New York 1962, S. 234. „Ambrosius von Mailand, Expositio evangelii secundam Lucam“. In: CSEL 32/4. Hg. von Carolus Schenkel. Prag, Wien und Leipzig 1902, S. 183. „Ambrosius von Mailand, Expositio psalmi CXVIII“. In: CSEL 62. Rec. Michael Petschenig, editio altera supplementis aucta curante Michaela Zelzer. Wien 1999, S. 223. Siehe auch Schipperges: „Krankheit V“. In: TRE. Bd 19. S. 691. „Ambrosius von Mailand, Exameron. 1,31“. In: CSEL 32.1: “Infirmitas quoque corporis sobrietas mentis est.“ Nach: Schipperges: „Krankheit“. In: TRE. Bd 19, S. 688f.
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Für Johannes Chrysostomus (um 350–407) ist Jesus nicht Richter sondern Arzt, der gekommen ist, um die Menschen von den Leidenschaften und Sünden zu befreien, die seine Seele krank machen. Der Priester ist wie Jesus ein Heiler, der dem Poenitenten heilsame Mittel verabreicht.18 Wer nicht Maß halten könne, sei nicht nur geistig, sondern auch körperlich krank19 und so wird besonders die Gier nach Reichtum als unheilbare Krankheit eingestuft.20 Die Bergpredigt versteht Johannes als Medizin gegen die Leidenschaften,21 von denen der Stolz die gefährlichste sei.22 Gier, Trunkenheit und Ruhmsucht werden ebenfalls als gesundheitsgefährdend eingeschätzt;23 die meisten Krankheiten lassen sich auf eben diese Sünden zurückführen.24 Körperliche Leiden dienen der Erziehung und zur Erprobung, damit die höheren Güter des Heils empfangen werden können.25 Bei Augustinus (354–430) wird mit therapeutischen Termini die Notwendigkeit der Inkarnation Christi erklärt. Er sieht das Leiden Jesu als Medikament gegen die prinzipiell sündhafte Natur des Menschen an. Der Gekreuzigte ist medicus und medicamentum, der Mensch ist Patient, der wie Christus den Kelch der bitteren Arznei des Lebens zu leeren hat.26 Für den Bischof von Hippo ist der Tod eine Strafe für die Sünde Adams, die alle Menschen zu erleiden haben.27 Allein Gott vermag zu heilen und Augustinus fragt: „Was hilft uns gegen die verborgene Krankheit der Sünde, wenn deine heilende Macht nicht über uns wacht?“28 Doch von welchen Sünden wird hier gesprochen? Was macht den Menschen krank? Zunächst einmal sind es die Begierden: „Jeder wird von seiner eigenen Begierde, die ihn lockt und fängt, in Versuchung geführt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor“ (Jak _____________ 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
„Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. XXIII,2“. In: Patrologia Graeca (=PG). Bd. 57 und 58. Hg. von Jacques P. Migne. Paris 1857–1886. „Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. XLIV,5“. In: PG. 57 und 58. „Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. III,4; Mt. XVI,1-3“. In: PG. 57 und 58. „Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. XV-XXIV“. In: PG. 57 und 58. „Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. XV,2“. In: PG. 57 und 58. „Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. XIX,1; LVII,5; LXXXI,3“. In: PG. 57 und 58. „Johannes Chrysostomus, Homilien in Mt. XXVII,2“. In: PG. 57, S. 345. „Johannes Chrysostomus, Comm. in Rom. XI,3“. In: PG. 60. „Augustinus, Sermo 329, 1-2“. In: Patrologia Latina (=PL ). Bd. 38. Hg. von Jacques P. Migne. Paris 1844–1855; „Sermo 175,3“, ebd. „Augustinus, De Genesi adversus Manichaeos, 2,32“. In: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (=CSEL). Bd. 91. Hg. von Dorothea Weber. Wien 1998, S. 67–172. Augustinus, Confessiones, 9.8. Confessiones/Bekenntnisse. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart. Frankfurt a. M. 1987, S. 454f.: „morbus“ im Sinne von Sünde.
Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“.
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1.14–15). Ähnlich wie Jakobus machte auch Johannes Chrysostomus Laster wie Gier, Ruhmsucht und Völlerei für Krankheit und Tod verantwortlich – nicht etwa, weil sie an sich ungesund sind, sondern weil sie selbst als Zeichen für Krankheit und Tod anzusehen sind. Sie werden als Todsünden deklariert. Die Systematisierung der Todsünden beginnt wohl Ende des 4. Jahrhunderts mit dem System der acht Hauptsünden des Evragius Ponticus29 (345–399) für die Eremitengemeinden Ägyptens und wurde dem Westen überliefert durch den Lasterkatalog Johannes Cassians (um 360–433/435) aus dem frühen 5. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund mönchischen Lebens stellte Cassian in seinen Instituta und seinen Collationes30 einen Lasterkatalog mit acht Hauptsünden auf, der den Mönchen helfen sollte, dämonischen Sündeneinflüsterungen zu begegnen. Als Ursprung aller Sünden stellte er die Völlerei (Gastrimargia) an die Spitze seines Kataloges, weil das Verlangen nach Nahrung unauslöschbar sei. Es folgten Wollust (Fornicatio), Gier (Filargyria), Zorn (Ira), Traurigkeit (Tristitia) und Faulheit (Acedia). Stolz (Superbia) und Ruhmsucht (Cenodoxia) als besonders gefährliche Laster der Seele werden erst dann behandelt, nachdem man die ersten sechs körperlichen Laster überwunden hat. Im 6. Jahrhundert stellte Gregor der Große (um 540–604) seine einflussreiche Liste der sieben Hauptsünden zusammen, die sieben septem pricipalibus vitiis, die nur durch das Bußsakrament vergeben werden können.31 Im Gegensatz zu Cassian werden sie bei Gregor in umgekehrter Reihenfolge sortiert, angeführt von Superbia (Stolz) als Wurzel der sieben Hauptsünden.32 Aus dem Stolz folgen: Inanis gloria (Ruhmsucht), Invidia (Neid), Ira (Zorn), Tristia (Traurigkeit), Avaritia (Gier), Ventris ingluvies/Gula (Völlerei), und Luxuria (Wollust). Gregor sieht einen psychologischen Zusammenhang in der Reihenfolge33 der Laster: Der Stolze (Superbia) neidet seinen Konkurrenten den Erfolg. Neid (Invidia) sorgt für eine innere Unzufriedenheit, die Seelenruhe geht verloren und Zorn (Ira), _____________ 29 30 31
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Columba Steward (OSB): „Evagrius Ponticus and the ‚Eight Generic Logismoi’“. In: In the Garden of Evil. The Vices and Culture in the Middle Ages. Hg. von Richard Newhauser. Toronto 2005, S. 3–34, bes. S. 18f. „Johannes Cassian, Collationes V, 10”. PL. 49, S. 621–625. Auch in: CSEL 13, Hg. von Michael Petschenig. Wien 1886 (2004), S. 129–134. Carole Straw: „Gregory, Cassian, and the Cardinal Vices“. In: In the Garden of Evil. Hg. von Richard Newhauser. Toronto 2005, S. 35–73, bes. S. 39f. Im Gegensatz zu den Todsünden sind die peccata venialia leichte, lässliche Sünden, welche die Seele nicht stark belasten. Sie sind seit dem Sündenfall unlösbar mit der menschlichen Natur verbunden. Thomas von Aquin, Sum theol. 2, I, 89,1. „Gregor der Große, Moralia in Iob, Lib. XXXI, 45. 87-90“. In: Corpus Christianorum Series latina. (=CCSL). Bd. 143b. Hg. von Marc Adriaen. Turnhout und Paris 1985, S. 1610f. (Auch PL. LXXXVI, S. 621ff). „Gregor der Große, Moralia in Job, XXXI, 45, 89”, wie Anm. 32.
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Faulheit/Trägheit des Herzens (Acedia), Gier (Avaritia), Völlerei (Gula) und Wollust (Luxuria) sind die Folge. Diese Sünden werden später auch unter dem Akronym SALIGIA34 zusammengefasst und neu arrangiert. Jetzt lautet die Reihenfolge: Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia. Stolz und Ruhmsucht werden zusammengezogen und Traurigkeit wird durch Trägheit des Herzens ersetzt. In einem Psalter des späten 13. Jahrhunderts wird dies ins Bild gesetzt.35
(Abb 1a) Ganzseitige Miniatur mit Szenen aus dem Marienleben und weiblichen Heiligen; Psalter/Stundenbuch, Liège um 1280, New York, Pierpont Morgan Library, Ms. M.183, f. 9v.
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Möglicherweise zuerst verwendet von Henricus de Segusio († 1271) in seiner Summa super titulis Decretalium. Richard Newhauser: The Treatise on Vices and Virtues in Latin and the Vernacular. Turnhout 1993, S. 192. Siehe auch: Morton W. Bloomfield: The Seven Deadly Sins: An Introduction to the History of a Religious Concept, with Special Reference to Medieval English Literature. East Lansing, MI, 1952 (Reprint 1967), S. 86f.; Arthur Watson: „Saligia“. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. X (1947), S. 148–150, hier S. 149. Pierpont Morgan Library NY, MS. 183, fol. 9v; (Photo: Pierpont Morgan Library) Adelaide Bennett: „Mary Magdalen´s Seven Deadly Sins in a Thirteenth Century Liège PsalterHours“. In: Insights and Interpretations. Hg. von Colum Hourihane. Princeton, NJ, 2002, S. 17–34, hier S. 18f.
Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“.
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(Abb 1b) (Detail von 1a.) Medaillon mit Saligia-Figur; Psalter/Stundenbuch, Liège um 1280, New York, Pierpont Morgan Library, Ms. M.183, f. 9v.
Ein Hochrechteck schließt vier Felder eines Mariologischen Zyklus ein. Vor diese Grundform sind links und rechts je drei Kreisfelder gestellt, die Heilige zeigen. Links oben gehen von Maria Magdalena zwei Äste mit je vier und drei Medaillons aus, welche die sieben Buchstaben SALI und GIA einschließen, ihr zu Füßen kniet ein betender Gläubiger. In ihrem Kontext zeigt die Illustration, dass die sieben Gaben des Geistes die sieben Hauptsünden besiegen können. Die memorative SALIGIA-Formel war so geläufig, dass sie im späten Mittelalter zu einem Verb wurde. Das lateinische saligare bedeutet „eine Todsünde begehen“. Dennoch sind die Lasterkataloge nicht einheitlich, die Trägheit fehlt bisweilen; gerade diese Sünde wird später als Acedia besonders in ihrer Spielart als Melancholie eine prominente Rolle spielen.36 In der Gesellschaft des Mittelalters wurden diese Kataloge fehlerhaften menschlichen Verhaltens als regulative Kategorien des Bösen angese_____________ 36
Siegfried Wenzel: The Sin of Sloth: Acedia in Medieval Thought and Literature. Chapel Hill, NC, 1967. Erich Loos: „Die Hauptsünde der acedia in Dantes Commedia und in Petrarcas Secretum. Zum Problem der italienischen Renaissance“. In: Petrarca. Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Fritz Schalk. Frankfurt a. M. 1975, S. 156–183. Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin und New York 1996.
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hen, die gleichsam als Spiegel und Folie der sündhaften Natur des Menschen dienten und Anweisungen und Vorschläge zur (Selbst)Kontrolle und Buße boten.37 Handlungsanweisungen dieser Art finden sich bereits in den frühen Bußbüchern (liber paenitentialis) des 6. und 7. Jahrhunderts. Ursprünglich in irischen, angelsächsischen und schottischen Klöstern kompiliert, wurden sie gemeinsam mit der Ohrenbeichte von missionierenden Mönchen auf den Kontinent gebracht,38 wo sie rasche Verbreitung fanden. Um 800 musste im Rahmen der Priesterweihe die Kenntnis eines Bußbuches nachgewiesen werden.39 Prinzipiell waren die Bußbücher an alle Christen adressiert, allerdings waren die Bußleistungen der Laien nicht so schwer bemessen wie die der Geistlichen. Die jeweiligen Bußsatzungen, die oft stark voneinander abwichen, waren jedoch keine autoritativ erlassenen kirchlichen Normen wie etwa Konzilsbestimmungen.40 In den Bußbüchern werden die Priester oft als Ärzte der Seele bezeichnet, wie es das Bigotianum, ein englisch und irisch beeinflusstes, um 800 in Franken verfasstes Poenitentiale anschaulich belegt: „Die Macht des Arztes vergrößert sich in dem Maße, wie das Fieber des Kranken zunimmt. Deswegen müssen diejenigen, die sich um die Heilung der Wunden anderer kümmern, sorgfältig darauf achten, welches Alter und Geschlecht der Sünder hat, welche Ausbildung und Fähigkeiten er besitzt, welche Schwierigkeiten ihn zur Sünde führten, welche Leidenschaft auf ihn einwirkte, wie lange er sich der Sünde hingegeben hat, wie groß sein Bedauern ist und sein Bemühen und wie weit er sich vom Weltlichen gelöst hat.“41
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Barbara Rosenwein: „Controlling Paradigms“. In: Anger´s Past: The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages. Hg. von Barbara Rosenwein. London 1998, S. 233–247, hier S. 241. Jennifer O'Reilly: Studies in the Iconography of the Virtues and Vices in the Middle Ages. New York und London 1988. Cyrille Vogel: Les „Libri paenitentiales“ (Typologie des sources du moyen âge occidental 27). Turnhout 1978 und Allen J. Frantzen: Les „Libri paenitentiales“, mise-à-jour (Typologie des sources du moyen âge occidental 27). Turnhout 1985. Capitularia regnum francorum I. Hg. von Alfred Boretius (Monumenta germaniae historicae Capitularia I) Nr. 81, cap. 20, Hannover 1883, S. 179. Raymund Kottje: „Bussbücher“. In: Lexikon des Mittelalters (= LMA). Studienausgabe. 9 Bde. Stuttgart und Weimar 1999, Bd. 2, Sp. 1118–1121. „Paenitentiale quod dicitur Bigotianum“. In: The Irish Penitatials. Scriptores Latini Hiberniae V. Hg. von Ludwig Bieler. Dublin 1975, S. 198: „1. Tanto maior potentia medici quanto magis creuit morbus egroti. 2. Hinc procurantibus aliorum sanare vulnera soleter intuendum est cuius aetatis et sexus sit peccans, qua eruditione inbutus, qua fortitudine exstat, quali gravatione conpulsus est peccare, quali pasione inpugnatur, quanto tempore in diliciis remansit, quali lacrimabilitate et lebore affligitur et qualiter a mundialibus separatur.“ Nach der Übersetzung von Jan Ulrich Büttner: „Sünde als Krankheit – Buße als Heilung in den Bußbüchern des frühen Mittelalters“. In: Homo debilis. Behinderte-Kranke-Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters. Hg. von Cordula Nolte. Korb 2009, S. 57–78, hier S. 63.
Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“.
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Die je nach Schwere der Sünde zugemessenen Strafen umfassten Gebete, Fasten, Geldabgaben, Arbeitsleistungen, Ausschluss von der Teilnahme am Gottesdienst im Kirchenraum sowie körperliche Züchtigung. Bei der Bußzumessung war deren Angemessenheit zu berücksichtigen; Kriterien hierfür waren z.B. Stand, Geschlecht, Alter, Gesundheit, seelische Verfassung, Bildungsgrad und Anfälligkeit gegenüber Versuchungen. Bußbücher geben aufschlussreiche Hinweise auf das Verhalten der mittelalterlichen Gesellschaft und auf das Rechtsempfinden der Kirche – nicht zuletzt in Bezug auf die Sexualität. In einem Poenitentiale des ausgehenden 8. Jahrhunderts ist beispielsweise für Mord, Abtreibung und Oralverkehr siebenjähriges Fasten bei Wasser und Brot vorgesehen, für Analverkehr sogar zehnjähriges Fasten. In den Bußbüchern finden sich zahlreiche Krankheitsmetaphern,42 Sünde und Krankheit werden oft in einem Atemzug genannt; die Todsünde des Stolzes bezeichnet Columban (540–615) als morbus superbiae und sein Lehrer Finnian (um 470–um 549) sieht in der Lepra die rechtmäßige Strafe für den Neid.43 Allerdings findet man keine Deutung der Krankheit als unmittelbare Folge sündhaften Verhaltens. Die Verflechtung der Terminologie von Heil und Krankheit geschieht nicht vor dem Hintergrund einer folgerichtigen, logischen Argumentationsstruktur, sondern sie ist metaphorisch und analogisch intendiert. Seit dem vierten Laterankonzil von 1215/1216 sind die Priester angehalten, nicht nur mindestens einmal jährlich jedem Beichtkind die Beichte abzunehmen (Pflichtbeichte)44 und über die Sünden zu predigen, sondern deren Natur auch erläutern zu können. Auch in den Konzilsbestimmungen wird der Sünder mit einem Kranken und der Geistliche mit dem Arzt verglichen: „Der Priester aber sei besonnen und vorsichtig, damit er nach Art eines erfahrenen Arztes Wein und Öl [Lk10,34] über die Wunden des Verletzten gieße; er erforsche sorgsam die Umstände sowohl des Sünders als auch der Sünde, damit er durch sie klug erkenne, welchen Rat er ihm geben und was für ein Heilmittel er anwenden muss, indem er verschiedene Versuche anstellt, um den Kranken zu heilen.“45
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Darrel W. Amundsen: Medicine, Society, and Faith in the Ancient and Medieval Worlds. Baltimore und London 1996, S.185ff. Siehe: The Irish Penitatials. Scriptores Latini Hiberniae V. Hg. von Ludwig Bieler. Dublin 1975, S. 84. Martin Ohst: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter. Tübingen 1995, bes. S. 32ff. Siehe Cap. 21, „Omnis utriusque sexus [...]“ des vierten Laterankonzils (1215), welches die regelmäßige Ablegung der Beichte, ihre Geheimhaltung durch den Priester, den Empfang der Kommunion an Ostern sowie die Verpflichtungen des Beichtvaters behandelt. „Sacerdos autem sit discretus et cautus, ut more periti medici superinfundat vinum et oleum vul-
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Diese Bestimmungen wurden als so wichtig erachtet, dass sie unverändert in die von Papst Gregor IX. veranlasste Sammlung kanonischer Gesetze, die Dekretalen bzw. den Liber Extra von 1234, übernommen wurden.46 Die Todsündensystematik und ihr Verhältnis zu den Tugenden wurden auch in besonderen Schriften zur Predigt, zur Buße und zur Beichte behandelt.47 Durch die ausgeprägte sprachliche Visualität erhielten diese Traktate eine besondere Wichtigkeit im Rahmen der Priester- und später auch der Schulausbildung; über diesen Weg erreichten sie breite Bevölkerungsschichten und erhielten eine bildgenerierende Funktion.48 In den Sündentraktaten ab dem 12. Jahrhundert konzentriert sich das Interesse nicht mehr so sehr auf die Buße und die Angemessenheit der Strafe, sondern eher auf eine Systematik der Sünden und Laster oft in Verbindung mit anschaulichen Beispielen.49 Thomas von Aquin (1224/1225–1274) untersucht in den Quaestiones disputatae de malo50 die Ordnung und Systematik von lässlichen und kapitalen Sünden (vitia capitalia),51 er bewertet, auf welche Weise Absichten, Handlungen, Dinge und Umstände den moralischen Status einer Handlung beeinflussen und bedenkt dabei auch Unterlassungen und unbestimmte Handlungen, wobei sich auch Thomas gelegentlich der Krank-
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neribus sauciati, diligenter inquirens et peccatoris circumstantias et peccati, quibus prudenter intelligat, quale debeat ei praebere consilium, et cuiusmodi remedium adhibere, diversis experimentis utendo ad salvandum aegrotum.“ Aus: Thomas Aquinas. Summa theologiae. 5 Bde. Hg. von Institutum Studiorum Medievalium Ottaviensis. Ottawa 1945. Bd. V: Supplementum Tertiae Partis, S. 21a–b. Siehe auch die Summa Astesana (Summa de casibus conscientiae (um 1317) des Astesanus de Asti, ein Beichthandbuch für Priester, das auf den Bestimmungen des 4. Lateranums beruht. Auch hier wird der Priester, der die Sünden behandelt, mit einem Arzt verglichen, der die Wunden versorgt. In Amundsen: Medicine, S. 199. „Gregor IX, Decretales, 5.38. cap.12“. In: Corpus Iuris Canonici, Pars Secunda: Decretalium Collectiones. Decretales Gregorii. Hrsg. von Emil Ludwig Richter und Emil Friedberg. Leipzig 1881, S. 9. Und ebd.: Decretales, 5.38. cap. 13: „Medici, vocati ad infirmos, debent ante omnia inducere infirmum ad confessionem, nec quicquam persuadere pro salute corporis, tendens in animarum periculum.“ Martin J. Tracey: „Tugenden und Laster, Tugend- und Lasterkataloge“. In: LMA. Bd. 8, Sp. 1085–1088. Biller, Peter und A.J. Minnis: Handling Sin: Confession in the Middle Ages. York 1998. Brooke, Rosalind und Christopher Brooke: Popular Religion in the Middle Ages. London 1984, S. 123–125. Vecchio, Silvana: „The Seven Deadly Sins between Pastoral Care and Scholastic Theology. The Summa de vitiis by John of Rupella“. In: Newhauser (Hg.): In the Garden of Evil. S. 104–127, hier S. 107. „Thomas von Aquin: De malo questio VIII-XV“. In: On Evil. Übersetzt v. Richard Regan. Hg. und eingeleitet von Brian Davies. New York 2003, S. 317ff. De malo q.VIII, a.1 resp.
Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“.
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heit-Sünde Metaphorik bedient.52 Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts gibt es offenbar eine nur schwer zu überschauende Menge an Texten, die sich mit den Todsünden befassen. Heinrich Seuse (d. 1366) schreibt in seinem Horologium sapientiae, dass die Zahl der Traktate, die sich mit Lastern und Tugenden befassen, so groß sei, dass ein Menschenleben für ihr Studium nicht ausreiche.53 Einer der wichtigsten Traktate ist die um 1250 vollendete Summa de vitiis et virtutibus des Dominikaners William Peraldus54 (vor 1200–1271), das zu einem dominikanischen Standard-Nachschlagewerk zur Predigtvorbereitung wurde. Der Einfluss des Peraldus auf die Bußund Predigtpraxis ist kaum zu überschätzen; bis in die frühe Neuzeit hinein erlebte seine Summa zahlreiche Abschriften, Druckauflagen und Übersetzungen.55
(ABB 2) Der tugendhafte Ritter und die sieben Todsünden. In: William Peraldus, Summa de vitiis, nach 1236, Pergament, London, British Library MS Harley 3244, fol. 27–28.
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Thomas von Aquin: De malo, q. V, 4. Thomas legt dar, dass die Todsünden jeweils auf ein Antriebsgut zurückgeführt werden können, die Völlerei eben auf den notwendigen Ernährungstrieb. Durch einen falschen Vernunftgebrauch kann diesem jedoch eine Richtung gegeben werden, die zur Todsünde führt. Summa theologiae, I-IIae, q. 24, a. 4. Heinrich Seuse, Horologium sapientiae. Hg. von Pius Künzle. Fribourg/CH 1977, S. 540f. Guilelmus Peraldus (Guillaume Peyraut): Summa de virtutibus et vitiis, 2. Hälfte 13. Jh. Paris, Bibliothèque Mazarine MS. 794. Siegfried Wenzel: „The Continuing Life of William Peraldus´s Summa vitiorum“. In: Ad litteram: Authoritative Texts and Their Medieval Readers. Hrsg. von Mark D. Jordan and Kent Emery Jr. Notre Dame, IN, und London 1992, S. 135–163; Newhauser: The Treatise on Vices and Virtues, S. 129. Richard Newhauser: „The Capital Vices as Medieval Anthropology“. In: Laster im Mittelalter – Vices in the Middle Ages. Hrsg. von Christoph Flüeler und Martin Rohde. Berlin und New York 2009, S. 105–124, S. 120.
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Die Krankheit-Sünde Metaphorik findet sich nicht nur in neuen Summae de poenitentia,56 welche nun in kanonisierter Form die früheren Bußbücher ersetzten, sondern auch in Werken paränetischen und lehrhaften Charakters. Ein anschauliches Beispiel für die Verflechtung von medizinischen und theologischen Begrifflichkeiten, Sachverhalten und Denkweisen liefert der Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach (um 1180–1240) in einem Exkurs über die „Medizin der Buße“ (De medicina confessionis) eingeschoben in seine Acht Bücher über Wunder (1225/1227).57 Den Priestern stehe eine „zweifache Medizin“ (duplex medicina) für die Heilung von Sündern zur Verfügung: die Kommunion (communio) und die Beichte (confessio), auf deren Basis sie die „Lepra der Sünden“ (lepra peccatorum) zu beurteilen hätten.58 Die Wortwahl impliziert, dass Sünden nicht mehr nur als ein individuelles Vergehen eingestuft werden, sondern dass sie ansteckend und sozial desintegrierend sind; sie wirken wie Aussatz – Lepra ist hier ein Synonym für die Gefährlichkeit der Sünde schlechthin.59 Ähnlich verwendet auch der Franziskanerprediger Berthold von Regensburg (1200/1210–1272) die Medizin- und Heilmetaphorik in einer Predigt „Über die sieben Arzneien“,60 welche die heilende und erlösende Kraft der liturgischen Zeichen der sieben Sakramente anschaulich machen will.61 Die seelsorgerische Tätigkeit verlangte nach Bertholds Auffassung in besonderem Maße die Fähigkeit des Erfassens, der Beobachtung und der Differenzierung, denn ein Priester müsse sicher die bedeutsame Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden vornehmen kön_____________ 56
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Z. B. die sogenannte Raymundina (1220; 1234): Summa de poenitentia et matrimonio cum glossis de Ioannis de Freiburg. Das älteste dieser Bücher ist wahrscheinlich der Liber poenitentialis des Alanus ab Insulis (1175/1200). Cyril Vogel: „Buße; D. Westkirche 2“. In: LMA. Bd. 2, Sp. 1130–1141, bes. 1134. Zur Gattung dieser Bücher: Thomas N. Tentler: „The Summa for Confessors as an Instrument of Social Control“. In: The Pursuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion. Hrsg. von Charles Trinkaus und Heiko A. Oberman. Leiden 1974, S. 103–126. Ebenso Leonard E. Boyle: „The Summa for Confessors as a Genre and its Religious Intent“. In: Trinkaus u. Oberman (Hrsg.): The Pursuit of Holiness, S. 126–130. „Caesarius von Heisterbach, Libri VIII miraculorum I,23“. In: Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach. Bd. 3. Hg. von Alfons Hilka. Bonn 1937, S. 5*–27*, S. 1–222, dort S. 47. Ebd.: „Christi sacerdotibus duplex medicina commissa est: sacre, ut supra dictum est, communionis necnon et confessionis. Ipsis data est potestas confessiones recipere, de lepra peccatorum iudicare, peccati penam temperare.“ „Lepra als Sünde.“ In: Antje Schelberg: Die Leprosen in der mittelalterlichen Gesellschaft. Göttingen 2000, bes. S. 452–466. Siehe: Berthold von Regensburg, Von den siben erzenîen. Vollständige Ausgabe seiner deutschen Predigten Bd. 2. Hrsg. von Franz Pfeiffer und Joseph Strobl. Wien 1880, ND Berlin 1965, Nr. XLV, S. 81–93. Taufe, Firmung, Eucharistie, Hostie, Buße, Ölung, Priesterweihe und Ehe.
Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“.
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nen. Zur Illustration dieses Sachverhalts verwendete Berthold, in die medizinische Metaphorik verfallend, das nosologische Kategorienpaar ‚Lepra‘ (ûzsetzikeit) und ‚Hautausschlag‘ (ûzgebrosten): „Ir jungen priester [...], ir sullet wizzen, wie ir einen ieglîchen menschen berihten sullet in der bîhte, ob ez ûzsetzic oder ûzgebrosten sî,[...].“62 Die Unterscheidungsfähigkeiten der Priester bei der Beurteilung einer Beichte sind von großer Relevanz, da die kirchlichen Sanktionen für Todsünden von erheblicher sozialer Tragweite für das Individuum sein konnten, wie etwa der Ausschluss von der Eucharistie und der Verweigerung der Bestattung in geweihter Erde.63 Berthold vergleicht die Behandlung eines Todsünders mit der notwendigen Aussonderung eines ansteckend erkrankten Rindes aus der Herde; erweitert wird dieser Vergleich durch die Aufforderung, dass Kinder – nun wieder analog zur Trennung von leprakranken Verwandten – ihre sündig gewordenen Eltern meiden sollten.64 An der polemischen Verwendung des Lepra-Terminus lässt sich die unmissverständliche Absicht aufzeigen, durch Betonung der individuellen und sozialen Gleichsetzung von Sünder und Krankem, normativ und verhaltensformend zu intervenieren und dadurch Kontrolle auszuüben. „Sündentaten“ definieren und bewirken die Andersartigkeit des „sündigen“ Menschen und markieren so die spirituelle wie soziale Devianz des „Delinquenten“ zur normgebenden Schicht. So wird der „Arme Heinrich“ des Hartmann von Aue von Gott für seinen Stolz mit dem Aussatz bestraft und nach einigem Leiden und erfolgter Selbsterkenntnis wieder geheilt.65 Es sei noch der französische Prediger und spätere Kanzler der Pariser Universität, Odo von Châteauroux (um 1190–1273) angeführt, der die Folgen „unreiner“ Sünden auf den Sünder am Beispiel des leprösen Naaman (2. Kön 5,1–27) beschrieb: „Die Lepra der Sünde, die den inneren Menschen verunstaltet, macht ihn abscheulich und stinkend und ansteckend für andere; und sie macht den Menschen unrein gemäß dem Gesetz.“66 _____________ 62 63 64 65
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„Berthold von Regensburg, ‚Von der Ûzsetzikeit‘ (1)“. In: Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten. Bd. 1. Hg. von Franz Pfeiffer. Wien 1862, ND Berlin 1965, Nr. VIII, S. 111. „Berthold von Regensburg, ‚Von der Ûzsetzikeit‘ (1)“. In: Pfeiffer (Hg.): Berthold von Regensburg, Nr. VIII, S. 119. „Berthold von Regensburg, ‚Von der Ûzsetzikeit‘ (1)“. In: Pfeiffer (Hg.): Berthold von Regensburg, Nr. VIII, S. 119f. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hg. von Hermann Paul. Neu bearb. von Kurt Gärtner. Tübingen 2001. Siehe auch den Beitrag von Albrecht Classen im vorliegenden Band, sowie: Albrecht Classen: „Herz und Seele in Hartmanns von Aue ‚Der arme Heinrich‘. Der mittelalterliche Dichter als Psychologe?” In: Mediaevistik 14 (2003), S. 7–30. „Odo von Châteauroux, Sermones de tempore et sanctis“. In: Analecta novissima Spicilegii Solesmensis altera continuatio 2. Hg. von Jean Baptiste Pitra. Paris 1888, S. 188–343, dort Nr. LXXVII (‘In II feria post Dominica III Quadragesimae’), bes. S. 235: „Lepra pecca-
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Im Zusammenhang mit der Pest67 lässt sich der Unterschied von Krankheit zur Seuche, von individueller zu kollektiver Sündenstrafe zeigen.68 In einem anonymen Pest-Traktat von 1411 wird verlangt, dass der Arzt dafür sorgen muss, dass der Patient sein Testament aufsetzt und seine Sünden beichtet, weil Krankheiten nicht allein körperlich, sondern auch als ein Hinweis auf spirituelle Nachlässigkeiten zu begreifen sind. Diese Forderung wurde spätestens seit den Dekretalen Papst Gregors IX. immer wieder gestellt. Auch der geistliche Dichter und Bußprediger Dietrich Coelde (um 1435–1515) schrieb 1470 in seinem Christenspiegel, einem Handbuch zur spirituellen Erbauung, dass ein Kranker vor dem Arztbesuch erst beichten solle, denn Krankheit rühre im Allgemeinen von der Sünde her.69 Während individuelle Sünden selten als unmittelbare Ursache für geistige oder körperliche Krankheiten angesehen wurden70 – eine Ausnahme ist hier die Lepra, die häufiger mit den Todsünden der Wollust und des Stolzes in Verbindung gebracht wurde71 – so wurde das Massensterben des Schwarzen Todes oft als eine von Gott gesandte kollektive Sündenstrafe verstanden.72 In diesem Sinne äußerte sich Erzbischof William Zouche von York (um 1299–1352) im Jahr 1349: „ ... Who does not know what great death, pestilence and infection of the air hangs about various parts of the world and especially England these days. This indeed is caused by the sins of people who, caught up in the delights of their prosperity, neglect to remember the gifts of the Supreme Giver.“73
Generell gesehen thematisierte die Sprache der Pestmetaphorik die Quantität, die der Leprametaphorik hingegen die Qualität des Sündenkontextes. _____________ 67 68 69
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tum, quod deformat hominem interiorem, reddit eum abominabilem, et fetentem et alios inficientem, et reddebat hominum immundum secundum legem [...]“. Christine M. Boeckl: Images of Plague and Pestilence. Iconography and Iconology. Ann Arbor Michigan 2000, S. 46f. In: Peter Lewis Allen: The Wages of Sin. Sex and Disease, Past and Present. Chicago, London 2002. Amundsen: Medicine, S. 211. Ozment, Steven E.: The Reformation in the Cities: The Appeal of Protestantism to Sixteenth-Century Germany and Switzerland. New Haven, CT, 1975, S. 29. Siehe auch Huldrych Zwinglis Pestlied von 1519; dazu der Beitrag von Wolfgang Beutin in diesem Band. George Rosen: Madness in Society. Chicago 1968, besonders Kapitel 7. Richard Palmer: „The Church, Leprosy, and Plague in Medieval and Early Modern Europe“. In: The Church and Healing. Hg. von W.J. Sheils. Oxford 1982, S. 79–101, hier S. 83. Amundsen: Medicine, S. 202, 210. Klaus Bergdolt: Der schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters. München 1994, S. 107ff.; 151ff. Gotts verhengnis und seine straffe. Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 84). Hg. von Petra Feuerstein-Herz. Wiesbaden 2005. The Black Death. Hg. von Rosemary Horrox. Manchester 1994, S. 111–158. Aus: Byrne, Joseph Patrick: Daily Life during the Black Death. Westport, CT, 2006, S. 22.
Sünde – Krankheit – „väterliche Züchtigung“.
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Wenn der Mediziner Paracelsus im Buch Paramirum eine Verbindung von Gott und Krankheit herstellt, dann spricht er als Arzt und reformatorischer Christ: Die Krankheitsursachen sind den vier Entien zugeordnet, die sich vor allem auf die natürlichen Krankheiten ohne religiöse, christliche Aspekte beziehen. Fünftes Ens ist das ens deale, das die natürlichen Krankheiten in die geistige Katharsis überführt, und unter diesem Aspekt macht auch Paracelsus Gott für die Krankheiten verantwortlich: „Aber wie wir euch anzeigen, dz Gott ursacher sei aller kranckheiten, [H1,59] das mercken also: das er geschaffen hat, das uns widerwertig ist, als wol, als das uns nütz ist: darumb, das wir unser fegfewr haben, als wir euch, de purgatorio, weiter unterrichten. Und wiewol er, dieweil und er der ist, der uns die kranckheit beschaffen hat, wol möcht dieselbigen wieder nemmen von uns, [...].“74
Hier geht es nicht mehr um das Verhältnis von Priester und dem Sünder bzw. dem Kranken, das durch eine medizinische Metaphorik ausgedrückt wird, sondern um die Beziehung zwischen dem christlichen Arzt und einem Patienten. Die Herkunft der Krankheit wird auch in den geistigen Makrokosmos eingebunden, Bußleistungen sind dementsprechend von geistiger Natur. Der Arzt soll erkennen, dass die Krankheiten eine reinigende Funktion haben, dass sie eine spirituelle, erzieherische und gottgewollte Dimension aufweisen, die der Arzt jederzeit in Demut zu bedenken hat. Auch zur Buße selbst hat sich Paracelsus geäußert, er macht klar, dass Buße nicht körperlich sondern geistig zu sein hat: „ [...] dann die poenitenz stehet nit im büßen des leibs, sondern des geists im leib.“75 Nicht die Tarifbuße, gute Taten oder gar Ablässe sorgen für Vergebung, sondern allein die Reue. Paracelsus sieht zumindest in diesem Zusammenhang gar keine ursächliche Verbindung von Sünde, Krankheit und Buße. Im Liber lunaticis wird die Sünde als eine Eigenschaft des Körpers aufgefasst, die für die Krankheit der Menschen verantwortlich ist.76 Nicht der Mensch als Ganzes steht vor Gott als totus peccator, sondern die Sünde hat ihren Platz
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Paracelsus, Volumen Medicinae Paramirum Theophrasti, De Medica Industria. Textus paramiri Theophrasti H. ad medicam industriam. Textus parenthesis super ens quintum Liber quintus & non pagoyus Tractatus de ente Dei, Cap. IIII, (H1, 58ff.) Siehe: OnlineAusgabe der Huser-Edition der Werke von Paracelsus im Rahmen des Zürcher ParacelsusProjektes unter Leitung von Urs Leo Gantenbein: www.paracelsus.uzh.ch/texte/H101_VolumenParamirum.html (letzter Zugriff am: 24.03.2010). „Paracelsus, Liber de poeniteniis“. In: Paracelsus, theologische Werke 1: Vita Beata – Vom seligen Leben. Hg. von Urs Leo Gantenbein. Berlin und New York 2008, S. 483. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: „Liber lunaticis“. Sämtliche Werke. 1. Abt. Bd. 1–14. Hg. von Karl Sudhoff. München 1922–1933, Bd. XIV, S. 43–72, bes. S. 43f.
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im Fleisch und der geistige, spirituelle Leib des Menschen vermag grundsätzlich die Sünde willentlich auszuschalten.77 Juan Almenar bezeichnet in seinem Buch zur Syphilis, De morbo Gallico libellus aus dem Jahr 1505, die Priester als geistliche Ärzte, spirituales medici, ein Terminus, der in der christlichen Tradition zurückgeht auf die irischen Bußbücher und auch bei Alanus ab Insulis († 1202) zu finden ist.78 Die spirituales medici des Almenar stellen fest, dass verschiedene Krankheiten von verschiedenen Sünden bewirkt werden, wie etwa häufiges Fieber durch Stolz, Gicht durch Faulheit und Lepra durch Völlerei.79 „ [...] das diese plagen auß der ersten und meysten ursach komen auß dem willen gottes“,80 war für die meisten Autoren der morbus gallicus-Traktate des 16. und 17. Jahrhunderts eine Tatsache. Weniger klar war, welche Sünde die strafende Krankheit bewirkt hatte; Unzucht, Unkeuschheit, Trunkenheit, Hoffart und Geiz werden jedoch häufig als besonders verwerfliche und schädliche Sünden angeführt.81 Der Ansbacher Medicus und Leibarzt der Fürstin von Brandenburg, Tobias Knobloch, eiferte 1620 gegen die von Gott als Strafe geschickte „schändliche Wollust der Menschen“, die mittlerweile so verbreitet sei, dass ihr Wesen völlig verkannt werde und sie „bey vielen vor eine Tugend will gehalten seyn.“82 Auch Luther verwendet Krankheits- und Sündenmetaphern, so etwa in seiner Auslegung der Römerbriefe (Röm 3.28),83 wo er erklärt, dass Gott den Sünder bis zur völligen Heilung erlösen wird,84 oder wenn er sich selbst als Sünder bezeichnet: „Ich bin ein Sünder, du bist gerecht. _____________ 77 78
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Ute Gause: Paracelsus. Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie. Tübingen 1993, S. 116. Dazu: Die Bußordnung der abendländischen Kirche. Hg. v. F.W. Hermann Wasserschleben. Halle 1851, ND Graz 1958, S. 355. Alanus ab Insulis: „Sunt corporales medici, sunt et spirituales. Corporales medici corpora, spirituales, curant animas.“ Sententiae aliae, PL 210, 257. In: Aloysius Luisinus: De morbo Gallico omnia quae extant apud omnes medicos Cuiuscunque nationis. Venedig, Jordanus Zilettus 1566, Bd. 1, S. 310–319, S. 316. Amundsen: Medicine, S. 349. Joseph Grünpeck: „Ein hübscher tractat von dem ursprung des Bösen Franzos. das man nennet die Wylden wärzen. Auch ein Regiment wie man sich regieren soll in dieser zeyt. Augsburg 1496“. In: Zehn Syphilisdrucke aus den Jahren 1495–1498. Hg. von Karl Sudhoff. Mailand 1924, S. 84. Claudia Stein: Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs. Stuttgart 2003, S. 39ff. Tobias Knobloch: De lue Venera. Von Frantzosen kurtzer Bericht. Was für ein Kranckheit/ von deroselben Anfang/ Ursachen und Zeichen/ Auch wie Gesunde zu präservieren/ Kranke aber oder Inficierte zu curieren/ [...]. Giessen 1620, S. 30. Sowie Röm 4,7. Martin Luther: Römerbriefvorlesung. Kritische Gesamtausgabe (=WA). Hg. von der Kommission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Weimar 1883ff. Abt. 1, Schriften. Bd. 56. S. 272, S. 3–19.
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Hier bei mit ist die Krankheit der Sünde, in dir aber ist die Fülle der Gerechtigkeit.“85 Die Unterscheidung in Tod- und lässliche Sünden haben die Reformatoren jedoch abgelehnt, jede Sünde war eine Todsünde, die nur von Gott vergeben werden konnte.86 Anfang des 17. Jahrhunderts, unter dem Eindruck der Pest von 1609 in Süddeutschland, wurden gerade in den Traktaten und Predigten der lutherischen Orthodoxie Seuchen und Krankheiten als Gottesstrafe für das sündhafte Verhalten der Menschen ausgemacht. Auch hier hilft Gott nur dem wahrhaftig Bußfertigen.87 Im 18. Jahrhundert findet sich im Kreis der württembergischen Pietisten das Motiv der Krankheit als Strafe, erweitert um einen pädagogischen Aspekt: So wie die Pietisten ihre Kinder zu frommen und nützlichen Menschen erzogen, so wurden auch sie von Gott, dessen Kinder sie waren, erzogen. Ein wirksames Zuchtmittel waren Krankheiten. Je häufiger diese auftraten, desto besser konnten sich die Schüler darin üben und sich vervollkommnen; man dankte Gott „[...] dass du mich gelehret unter dem leyden [...].“88 Krankheiten werden als „väterliche Züchtigungen“ willkommen geheißen,89 die den Gotteskindern, d.h. den Pietisten als heiligendes Besserungsmittel geschickt werden. Für die Weltkinder, die keine Pietisten sind, ist Krankheit jedoch einfach Sündenstrafe. Gott schickt dem Sünder eine Krankheit, entweder um ein Weltkind mit Nachdruck zu bestrafen und zum Nachdenken anzuregen, oder um ein Gotteskind vor den Versuchungen der Welt zu bewahren.90 Immer wieder wird in den pietistischen Abhandlungen erklärt, dass die Ursache von Krankheit die menschliche Sünde ist; zwar mag es eine natürliche Ursache für den Ausbruch einer Krankheit gegeben haben, doch es ist die Sünde, die den menschlichen Körper geschwächt und für die Krankheit anfällig gemacht hat. Will man den Patienten heilen, dann muss die Sünde erkannt und vor _____________ 85 86 87
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Martin Luther: Weihnachtspostille. WA, Abtl. 1, Schriften, Bd. 10. I, S. 438. Christof Gestrich: Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt: die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung. Tübingen 1995, S. 253. Johann Georg Sigwart: Drey Predigten Von Dreyen Unterschiedlichen Hauptplagen und Landstraffen. Tübingen 1611, S. 95: denn es ist „unmüglich, dass man derselben (der Krankheit) uberhaben seye oder wider abkomme, es seye dann, dass die Sünden erkennet und berewet werden.“ Dazu: Sabine Holtz: „Die Unsicherheit des Lebens. Zum Verständnis von Krankheit und Tod in den Predigten der lutherischen Orthodoxie“. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Hartmut Lehmann und Anne-Charlotte Trepp. Göttingen 1999, S. 135–157. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlaß des Johann Albrecht Bengel, Cod. hist. fol. 1002, 42 III 31.03 1777. Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Göttingen 2005, S. 201. Katharina Ernst: Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 84.
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Gott Buße getan werden. Genesung ist ein göttliches Geschenk, durch tiefe Reue und Gebete erwirkt. Ärztliche Hilfe ist erlaubt, wenn sie nicht der „göttlichen Ordnung" widerspricht, doch es wird betont, dass die Heilung letztlich immer in Gottes Ermessen liegt.91 Die Begriffe Sünde und Krankheit werden in medizinischen und besonders in religiösen Schriften – vor allem im Zusammenhang der Buße – metaphorisch und kontexterweiternd aufeinander bezogen, um zunächst in eher nicht-öffentlicher Weise auf das Verhalten von Individuen maßregelnd und regulierend einzuwirken. Heilung wird auf verschiedenen Ebenen angestrebt, die nicht voneinander getrennt aber auch nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Seit dem 13. Jahrhundert werden die medizinischen Analogien verstärkt zur exemplarischen Erklärung und Rechtfertigung von Epidemien und Seuchen verwendet. Öffentlich und häufig polemisch wird in Buß-Predigten Sünde und Krankheit kausal verknüpft, oft um deviantes Verhalten zu unterbinden oder anzuprangern. Es lässt sich jedoch zeigen, dass Krankheiten, obzwar sie aus den verschiedensten Gründen von Gott gesandt sind, wie etwa zu Ijob, um dessen Gerechtigkeit zu prüfen, zu Paulus, um ihn von der Sünde des Hochmuts zu befreien, oder zu Herodes, um dessen ewige Strafe bereits auf Erden beginnen zu lassen, keine unmittelbare kausale Folge sündhaften Verhaltens sind.92 Im Rahmen des Heilsplans erfüllen sie ebenso wie augenscheinliche Gesundheit den Zweck der seelischen Besserung des Menschen. Im Lorscher Arzneibuch, einem medizinischem Kompendium aus dem 8. Jahrhundert, wird dargelegt, dass Krankheit nicht schlecht und Gesundheit nicht unbedingt gut sein muss: „Sehr heilsam ist ja eine Krankheit (salubris infirmitas), die den Geist in der Härte erschüttert, hingegen sehr verderblich (valde perniciosa) eine Gesundheit, die den Menschen zum Ungehorsam führt. Daher wird mehr in Zucht genommen, wer von Gott geliebt wird, [...].“93
Im Mittelalter gibt es keine verbindliche Doktrin, die besagt, dass Krankheit eine Folge der Sünde sei. Behauptungen, die mittelalterlichen Autoren unterstellen, nicht zwischen Krankheit und Sünde zu unterscheiden,94 _____________ 91 92 93
94
Ernst: Krankheit und Heiligung, S. 82. Kroll und Bachrach: „Sin and the Etiology“. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, 41 (1986) S. 395–414. Codex Bambergensis medicinalis 1. Defensio artis medicinae, 4/5: „Valde enim salubris est infirmitas, quae mentem a durutia frangit, sed valde perniciosa sanitas, quae ad inoboedientiam hominem ducit. Magis ergo corripitur, qui a deo diligitur, [...].“ In: Ulrich Stoll: Das 'Lorscher Arzneibuch'. Ein medizinisches Kompendium des 8. Jahrhunderts (Codex Bambergensis medicinalis 1). Stuttgart 1992, S. 54f. „Writers in the Early Middle Ages lost the distinction between physical disease and sin“ so z.B. Stephen R. Ell: „Concepts of Disease and the Physician in the Early Middle Ages“. In: Janus 65 (1978), S. 153-165. Siebenthal: Krankheit als Folge der Sünde.
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lassen sich so nicht verifizieren. Richtig ist, dass die medizinische Terminologie in die religiösen Schriften übertragen wurde. Doch es wird deutlich, dass es sich um metaphorische und analogische Übertragungen handelt.95 Will man den Zusammenhang von Sünde und Krankheit als Strafe im Mittelalter angemessen bewerten, dann muss realisiert werden, dass das Kausalitätsverständnis im Mittelalter kein neuzeitlich naturwissenschaftliches war, sondern stark aristotelisch geprägt war.96 Es gibt demnach verschiedene Arten der Kausalität und es muss berücksichtigt werden, um welche Kausalität es sich in unserem Zusammenhang handelt. Die kausale Verbindung zwischen Sünde und Krankheit ist nicht die einer causa efficiens; sie wirkt nicht unmittelbar, d.h. wirkursächlich und sie sollte darüber hinaus von einem medizinischen Befund unterschieden werden. Der normativ geprägte Sinnzusammenhang von „Sünde, sündhaftes Verhalten“ und „Strafe“ weist vielmehr auf ein anderes Kausalitätsverständnis hin. Im dargestellten Zusammenhang wird Krankheit vor dem Hintergrund der generellen Sündhaftigkeit des Menschen im Rahmen der übergeordneten Zweckursächlichkeit einer causa finalis im Kontext des göttlichen Straf- und Besserungsprogramms gedeutet und als theologischer Befund angesehen, dem mit herkömmlichen Heilmitteln nicht beizukommen ist.97 Auf die unterschiedlichen Kausalitäten wird auch im Lorscher Arzneibuch verwiesen: „Denn aus drei Ursachen wird der Leib von Krankheiten befallen: aus einer Sünde, aus einer Bewährungsprobe und aus einer Leidensanfälligkeit.“98 Tatsächlich kann z.B. unmäßiges Essen zu Krankheiten führen: dieser Wirkzusammenhang im Kontext der Leidensanfälligkeit wäre wirkursächlich im Sinne der causa efficiens. Wenn überreichliches Essen als Sünde und die folgende Krankheit als erzieherische Strafe oder Bewährungsprobe gedeutet werden, dann handelt es sich nach scholastischem Verständnis um eine causa finalis. Demnach wäre also die Besserung des Menschen die Ursache für die reale Krankheit und nicht die Sünde.99 Die Krankheitsmetaphorik wird gleichnishaft als sinnstiftende _____________ 95 96 97 98 99
So auch Heinrich Schipperges: „Krankheit“. In: LMA, Bd. 5, Sp. 1474–1475. Gerhard Seel: Die aristotelische Modaltheorie. Berlin und New York 1982, S. 346ff. Amundsen: Medicine, S. 188. Codex Bambergensis medicinalis 1, 2/2: „Tribus enim ex causis infirmitates accidunt corpori, id est ex peccato, ex temptatione, ex intemperantia passionum.“ Stoll: Das 'Lorscher Arzneibuch', S. 50f. Für Aristoteles und die mittelalterlichen Aristoteliker war die causa finalis bedeutsamer als die causa efficiens, da erstere sich auf komplexere Strukturen bezieht. Dazu: Wolfgang Kullmann: Aristoteles und die moderne Wissenschaft. Stuttgart 1998, S. 231ff. Allerdings haben dies bereits Ibn Sina, Duns Scotus und William von Ockham kritisiert: es sei nur schwer zu verstehen, wie etwas, das nur angestrebtes Ziel ist, zur Ursache für einen realen Effekt werden kann. Dazu: Wolfgang Achtner: Vom Erkennen zum Handeln: Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehenden Mittelalter. Göttingen 2008, S. 224f.
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Erkenntnishilfe verwendet, um Normabweichungen zu konstituieren und zu sanktionieren. Will man also die mittelalterlichen Aussagen zur Krankheit als Sündenstrafe, die sich bis in die Neuzeit verfolgen lassen, richtig bewerten, dann sollte man den Unterschied zwischen mittelalterlichem und modernem Kausalitätsverständnis berücksichtigen. Bis ins 18. Jahrhundert und genau besehen – besonders wenn man die christlich-theologischen Reaktionen auf AIDS einbezieht100 – bis in die Gegenwart wird Krankheit im religiösen Kontext als Strafe und Buße gedeutet, durch die der Sünder seine Schwäche bzw. Sünde versteht, überwindet und wieder gesund an Leib und Seele werden kann (cura corporis – cura animae). Krankheit ist nicht unmittelbare, zweckfreie Sündenstrafe, sondern ein Erziehungs- und Darstellungselement des göttlichen Heilsplans.101
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Zwischen Physiologie, Philosophie und Theologie: Die Lehre von den „spiritus” im 16. Jahrhundert Jürgen Helm
Abstract Zu den grundlegenden Annahmen antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Medizin gehörte das Konzept der so genannten spiritus (spiritus naturalis, spiritus vitalis und spiritus animalis). Die Vorstellung von den drei „Geistern“ im Menschen war eng verknüpft mit dem platonischen Seelenkonzept, mit der entsprechenden Dreiteilung des Körpers und mit den jeweiligen Hauptorganen Leber, Herz und Gehirn. Von der galenischen und der arabischen Tradition der spiritus-Lehre ausgehend wird in diesem Beitrag die Übernahme des Konzepts in das medizinische, philosophische und theologische Denken des 16. Jahrhunderts dargestellt. Referenzautoren sind Jean Fernel, Michael Servetus und Philipp Melanchthon. Es zeigt sich, dass die Lehre von den spiritus als unverzichtbarer Bestandteil frühneuzeitlicher Anthropologie aufgrund widersprechender anatomischer Befunde zwar modifiziert, aber nicht verlassen wurde. One of the basic concepts of ancient, medieval, and early modern physiology was that of the so-called medical spirits (spiritus naturalis, spiritus vitalis, and spiritus animalis). This concept was closely connected with the Platonic tripartite soul and the corresponding division of the body into three parts, where the principal organs – the liver, heart, and brain – performed their vital operations. The paper gives a survey of the Galenic and Arabic tradition of medical spirits. Focusing on Jean Fernel, Michael Servetus, and Philipp Melanchthon, it demonstrates the adoption of the concept in sixteenth-century medical, philosophical, and theological thought. Because of its relevance for early modern medicine and anthropology the concept of spirits persisted (with some modifications) despite challenging anatomical findings. Zu Beginn ihres Studiums lernen heutige MedizinstudentInnen, dass lebenswichtige Prozesse im menschlichen und tierischen Organismus auf
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der Existenz und Funktion sogenannter Ionenkanäle und Ionenpumpen in den Zellmembranen beruhen. Dies sind spezifische Proteine, die die Durchlässigkeit der Zellmembran für bestimmte Ionen, etwa Natrium, Kalium oder Calcium steuern, und mit deren Hilfe elektrochemische Gradienten zwischen dem extra- und dem intrazellulären Raum aufgebaut und bei Bedarf Aktionspotenziale generiert werden.1 Die StudentInnen und ihre Lehrerinnen und Lehrer sind in aller Regel von der Richtigkeit dieser Vorstellung überzeugt, ohne einen sinnfälligen Beweis für die tatsächliche Existenz dieser Strukturen zu fordern. Nach dem Grund für die Akzeptanz des elektrochemischen Konzeptes muss man nicht lange suchen: Zum einen vermag es viele wahrnehmbare und experimentell induzierte Phänomene zu erklären, und zum anderen fügt es sich perfekt ein in die moderne Physiologie, die funktionelle Zusammenhänge mit naturwissenschaftlichen Modellen zu erklären versucht. Den Studenten des 16. Jahrhunderts mag es ähnlich gegangen sein, wenn sie mit der Lehre von den medizinischen spiritus konfrontiert wurden. Niemand hatte jemals diese spiritus gesehen, aber ihre Existenz wurde als selbstverständlich angenommen und erst im 17. Jahrhundert ernsthaft infrage gestellt. Zu groß war das Erklärungspotenzial, das die spiritus boten, und zu gut passten sie in die philosophischen und medizinischen Denkmuster, als dass man im 16. Jahrhundert auf sie hätte verzichten wollen. Die Kernelemente der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lehre von den spiritus wurden weitgehend den Schriften des spätantiken Arztes Galenos von Pergamon (129–ca. 204) entlehnt. Insbesondere in De usu partium und in De placitis Hippocratis et Platonis ist Galen auf die Funktion der pneumata eingegangen. Kurz zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild2: In der Leber wird aus der aufgenommenen Nahrung das Blut gebildet. Von dort aus wird es über die Venen im Körper verteilt. Ein Teil des Blutes gelangt in das rechte Herz. Durch Öffnungen im Herzseptum tritt etwas Blut in die linke Herzkammer über. Aus diesem Blut und aus der eingeatmeten Luft entsteht im linken
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Vgl. z.B. Stefan Silbernagl und Agamemnon Despopoulos: dtv-Atlas der Physiologie. Tafeln und Texte zu den Funktionen des menschlichen Körpers. 2. Aufl. Stuttgart 1983, S. 26–29. Vgl. zum Pneuma bei Galen: Owsei Temkin: „On Galen's Pneumatology“. In: Gesnerus 8 (1951), S. 180–189; und Leonard G. Wilson: „Erasistratus, Galen, and the Pneuma“. In: Bulletin of the History of Medicine 33 (1951), S. 293–314. Wilson versäumt leider, eine der wichtigsten Galenstellen zum Thema (De placitis Hippocratis et Platonis VII 3./4.) zu zitieren. Vgl. auch Julius Rocca: Galen on the Brain. Anatomical Knowledge and Physiological Speculation in the Second Century A.D. Leiden 2003, S. 59–66 und S. 201–237. Eine zusammenfassende Darstellung einer „Pneumatheorie“ Galens ist nicht ganz unproblematisch, da Galens gesamtes physiologisches System nicht immer widerspruchsfrei und in sich schlüssig ist; vgl. Wilson: Erasistratos, Galen, S. 300.
Die Lehre von den „spiritus” im 16. Jahrhundert
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Herzen das πvεῦµα ζωτικόv, das sich über die vom Herzen wegführenden Arterien im Körper verteilt.3 Das πvεῦµα ζωτικόv dient vor allem zwei Aufgaben: Auf der einen Seite versorgt es die übrigen Körperteile mit der für das Leben benötigten Wärme, die ihren Sitz im Herzen hat,4 und andererseits ist es der „Rohstoff“ für die Bereitung des πvεῦµα ψυχικόv. Der Umwandlungsprozess vom πvεῦµα ζωτικόv zum πvεῦµα ψυχικόv vollzieht sich im πλέγµα δικτυoειδές, dem rete mirabile der medizinischen Tradition, und in den Hirnventrikeln,5 wo sich das πvεῦµα ψυχικόv dann vor allem auch befindet.6 Dieses „seelische pneuma“ ist nicht die Substanz der Seele, sondern es trägt diesen Namen, weil es als deren erstes Instrument zur Realisierung von Wahrnehmung und willkürlicher Bewegung dient.7
Während Galen die Existenz eines dritten pneuma bezweifelte,8 setzte sich in der medizinischen Tradition vielfach die Vorstellung durch, dass ein ernährendes πvεῦµα φυσικόv in der Leber entsteht. Mit der Annahme dieses dritten pneuma war das System der drei Seelenanteile, das Galen in De placitis unter dem Einfluss von Platons Timaios entworfen hatte,9 vollends symmetrisch geworden: Dem ernährenden und zeugenden Seelenanteil in der Leber, dem lebensspendenden und leidenschaftlichen Seelenanteil im Herzen und dem denkenden und den Menschen als Menschen auszeichnenden Seelenanteil im Gehirn entsprach in der medizinischen Tradition jeweils ein spiritus, der die Verbindung zum Körper herstellte.10 Das westliche Mittelalter kannte die spiritus fast ausschließlich über die arabische Tradition. Die theoretischen Schriften Galens selbst, in denen sich die skizzierten Ausführungen zu den pneumata finden, wurden erst mit der Galenaldina von 1525 einem weiteren Leserkreis zugänglich.11 Zu den _____________ 3 4 5 6 7 8
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Vgl. Galen: De placitis Hippocratis et Platonis. Hg. von Phillip de Lacy. Berlin 1978–1984, S. 444,29–446,2. Vgl. Galen: De placitis, S. 438,33–440,3. Vgl. auch Galen: De usu partium. In: Claudii Galeni opera omnia, Bd. III. Hg. von Carl Gottlob Kühn. Leipzig 1822, S. 45f. Vgl. Galen: De placitis, S. 230,19–23 und 446,8–10; Galen: De usu partium, S. 541–542. Vgl. Galen: De placitis, S. 80,16–18. Vgl. Galen: De placitis, S. 444,29–33. Vgl. dazu Temkin: Pneumatology, S. 182: Galen deutet die mögliche Existenz eines πvεῦµα φυσικόv an nur einer einzigen Stelle seines Gesamtwerkes an. Vgl. Galen: Methodus medendi. In: Claudii Galeni opera omnia, Bd. X. Hg. von Carl Gottlob Kühn. Leipzig 1825, S. 839f.: „εἰ δε ἐστί τι και φυσικὸv πvεῦµα, περιέχoιτ’ ἄv και τoῦτo κατά τε τo ἧπαρ καὶ τὰς φλέβας.“ Vgl. Platon: Timaios 69c-72d. In: Platon, Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Bd. 7. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1990, S. 142–153. Zur Symmetrie im physiologischen Konzept des Galenismus vgl. Temkin: Pneumatology, S. 180f., und Marielene Putscher: Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen. Stuttgart 1974, S. 14–17. Vgl. auch Katherine Park: „The Organic Soul“. In: The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Hg. von Charles B. Schmitt. Cambridge 1988, S. 464–484, hier: S. 469. Diese Aussage bezieht sich vor allem auf De placitis Hippocratis et Platonis. Vgl. Nikolaus Mani: „Die griechische Editio princeps des Galenos (1525), ihre Entstehung und ihre Wir-
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wichtigsten Schriften arabischer Autoren, die ab der Mitte des 11. Jahrhunderts in das Lateinische übersetzt und die dann in die Curricula der medizinischen Fakultäten aufgenommen wurden, zählten die Isagoge des Iohannitius (Hunain Ibn Ishaq, 809–837) und der Canon des Avicenna (Ibn Sina, 980–1037)12 sowie ein kleineres Werk des letztgenannten Autors mit dem Titel De viribus cordis.13 Iohannitius beschrieb in seiner Isagoge drei spiritus: den spiritus naturalis, der der Leber entstammt und über die Venen verteilt wird, den spiritus vitalis, der im Herzen entsteht und von dort in die Arterien gelangt, und den spiritus animalis, der im Gehirn gebildet wird und in den Nerven seine Wirkung entfaltet.14 Die Beschreibung der spiritus bei Avicenna war geprägt von seinem Bemühen, in Anlehnung an Aristoteles das Herz als Zentralorgan des Menschen zu etablieren. Auch Avicenna kannte die drei spiritus,15 die jedoch lediglich Veränderungen des einen spiritus, der im Herzen entsteht, darstellen, sodass dem Herzen die Rolle des führenden Organs im Körper zukommen konnte.16 Bemerkenswert ist, dass bei Avicenna der spiritus auch der Ort war, an dem sich menschliche Emotionen wie Freude, Sorge, _____________
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kung“. In: Gesnerus 13 (1956), S. 29–52, hier: S. 45–46; Vivian Nutton: „De placitis Hippocratis et Platonis in the Renaissance“. In: Le opere psichologiche di Galeno. Atti del terzo colloquio galenico internazionale, Pavia, 10–12 Settembre 1986. Hrsg. von Paola Manuli u. Mario Vegetti. Napoli, 1988, S. 281–309, hier: S. 286–288. Werke dieser beiden Autoren standen z.B. lange Zeit auch auf dem Lehrplan in Wittenberg; vgl. Statuten der medizinischen Fakultät vom November 1508, abgedruckt in: Urkundenbuch der Universität Wittenberg. Teil 1 (1502–1611). Hg. von Walter Friedensburg. Magdeburg 1926, S. 48–51. De viribus cordis war auch unter dem Titel De medicinis cordialibus bekannt. Diese Schrift wurde im 15. und 16. Jahrhundert oft mit dem Canon zusammen abgedruckt. Vgl. E. Ruth Harvey: The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance. London 1975, S. 21 und S. 66, Anm. 59. Vgl. Temkin: Pneumatology, S. 188f., und Owsei Temkin: Galenism. Rise and Decline of a Medical Philosophy. Ithaca und London 1973, S. 106f. Vgl. Avicennae principis et philosophi sapientissimi libri in re medica omnes, qui hactenus ad nos pervenire, Bd. II. Venedig 1564, S. 324 (De viribus cordis, Tract. 1, Cap. 1): „quemadmodum enim unicuique membro, quamvis ex ipsa substantia humorum constituatur, nihilominus inest sua complexio ratione singularitatis proportionis quantitatum humorum, & formae commistionis ipsorum: similiter unicuique spirituum, videlicet tam animali, quam vitali, quam naturali.“ Vgl. Avicenna, Bd. I, S. 78 (Canon, Liber I, Fen 1, Doctr. 6, Cap.4) und Avicenna, Bd. II, S. 324 (De viribus cordis, Tract. 1, Cap. 1): „[...] spiritus generales quamvis plures sunt numero, nihilominus unus ipsorum generatione primus est: qui secundum sententiam potiorem philosophorum generatur in corde, & exinde procedendo manat & penetrat in caetera principalia membra, in quibus quum sufficienter permanserit, adipiscitur ibi complexionem particularem & propriam: [...].“ Vgl. Harvey: Inward Wits, S. 23. Zum Verhältnis der spiritus zum calor innatus bei Avicenna vgl. Michael Stolberg: „Die Lehre vom ‚calor innatus‘ im lateinischen Canon medicinae des Avicenna“. In: Sudhoffs Archiv 77 (1993), S. 33–53, besonders: S. 44–46.
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Angst und Zorn auswirkten und konkretisierten.17 Der spiritus verändert je nach Gemütslage seine Menge und Qualität – z.B. wird er vermehrt und verbessert, wenn der Mensch in eine freudige Stimmung gerät, oder er trocknet aus, wenn die Sorge vorherrscht. Umgekehrt kann sich eine aufgrund der Mischung des Blutes mindere Qualität des spiritus auf die Stimmung des Individuums niederschlagen.18 Dieser konzeptionelle Kern der spiritus und ihrer Wirkungen wurde über das Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit tradiert und erst im 17. Jahrhundert infrage gestellt. Residuen des Konzepts lassen sich freilich noch im 18. Jahrhundert nachweisen.19 Aus heutiger Sicht hätten die anatomischen Entdeckungen des 16. Jahrhunderts eigentlich bereits grundsätzliche Zweifel an dem Konzept wecken müssen. Man hielt aber dennoch daran fest. Zwei Beispiele sollen die Persistenz des spiritusKonzeptes verdeutlichen: Entscheidend für die Entstehung des spiritus vitalis im linken Herzen war der Übertritt von Blut aus dem rechten in den linken Ventrikel. Galen hatte entsprechende Öffnungen beschrieben. Die Anatomen des 16. Jahrhunderts hatten diese Poren bei ihren Sektionen jedoch nicht finden können. Da sie sich ein anderes Modell der Herzfunktion nicht vorstellen konnten, halfen sie sich mit der Annahme, dass die Poren sehr klein und mit dem Auge nicht zu erkennen seien.20 Das zweite Beispiel betrifft das rete mirabile, in dem nach der Galenischen Lehre der spiritus animalis aus dem spiritus vitalis entstehen sollte. Auch hier mussten die Anatomen des 16. Jahrhunderts Fehlanzeige erstatten – das rete mirabile war in der menschlichen Leiche ebenso wenig zu finden21 wie die Öffnungen im Herzseptum. Dennoch hielt man wiederum an der grundlegenden Konzeption fest: Man nahm nun an, der spiritus animalis werde in den Arterien und in den Ventrikeln des Gehirns bereitet.22 _____________ 17 18 19
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Vgl. Avicenna, Bd. II, S. 325f. (De viribus cordis, Tract. 1, Cap. 4), dazu Harvey: Inward Wits, S. 16–20 und S. 25f. Vgl. Avicenna, Bd. II, S. 328f. (De viribus cordis, Tract. 1, Cap. 8), dazu ebenfalls Harvey: Inward Wits, S. 26f. Etwa bei Friedrich Hoffmann und seiner Vorstellung vom Äther als treibender Kraft im Organismus. Vgl. Ingo Wilhelm Müller: Iatromechanische Theorie und ärztliche Praxis im Vergleich zur galenistischen Medizin (Friedrich Hoffmann – Pieter van Foreest, Jan van Heurne). Stuttgart 1991, S. 82f. Vgl. Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica libri septem. Basel 1543, S. 589. Vgl. Vesalius: Fabrica, S. 310 und S. 642f. Vgl. Vesalius: Fabrica, S. 622f.: „Ab aere itaque in cerebrum ingresso, ac vitali illo spiritu ob frequentes sane anfractus ad cerebri usus magis magisque adaptato, in cerebri dextro sinistroque ventriculis, et ipsorum mutua concavitate tertio ventriculo animalis spiritus a cerebri virtute elaboretur, quam ab opportuno elementorum ad iustitiam cerebri substantiae temperamento, pendere credimus.“ Vgl. Andrew Wear: „Galen in the Renaissance“. In:
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Man beschäftigte sich weniger mit Zweifeln an der spiritus-Lehre als mit den weiteren Möglichkeiten, die das Konzept bot. Dabei kam es zu einer komplexen Überlagerung von medizinisch-anatomischen, anthropologischen und insbesondere auch theologischen Fragestellungen. Diskutiert wurden grundsätzliche Sachverhalte wie das Verhältnis von Körper und Seele sowie die Fragen nach göttlichen Einflüssen auf die menschliche Existenz und nach der Unsterblichkeit der Seele.23 Der spiritus fungierte in diesen Diskussionen als allgemein akzeptierter, aber pluripotenter Begriff, dessen Bedeutungsgehalt immer wieder neu ausgehandelt und in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt werden konnte.24 In der Folge soll die Pluripotenz des spiritus-Konzepts anhand dreier Schriften dargestellt werden, die allesamt in den Jahren zwischen 1540 und 1554 entstanden sind. Jean Fernels Physiologia und Philipp Melanchthons De anima wurden breit rezipiert und bis ins 17. Jahrhundert als grundlegende Lehrtexte vielfach nachgedruckt. Michael Servets Christianismi restitutio wurde wie ihr Autor wegen des Vorwurfs des Antitrinitarismus verbrannt. 1. Jean Fernel Fernel hat es weder seinen damaligen noch seinen heutigen Lesern leicht gemacht. Sein 1542 erstmals erschienenes und in der Folge mehrfach überarbeitetes Werk25 ist geprägt von seinem Bestreben, alles erklären und in guter aristotelischer Manier zu jeder Wirkung eine Ursache präsentieren _____________ 23
24 25
Galen: Problems and Prospects. Hg. von Vivian Nutton. London 1981, S. 229–262, hier: S. 234. Vgl. zur spiritus-Lehre: Putscher: Pneuma, Spiritus, Geist; Daniel P. Walker: „Medical spirits and God and the soul“. In: Spiritus. IV. Colloquio Internazionale, Roma, 7–9 gennaio 1983. Hrsg. von Marta Fattori u. Massimo Bianchi. Rom 1984, S. 223–244; Michael Sonntag: „‘Gefährte der Seele, Träger des Lebens‘. Die medizinischen Spiritus im 16. Jahrhundert“. In. Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Hrsg. von Gerd Jüttemann, Michael Sonntag u. Christoph Wulf. Weinheim 1991, S. 165–179; Gerhard Klier: Die drei Geister des Menschen. Die sogenannte Spirituslehre in der Physiologie der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1999; Michaela Boenke: Körper, Spiritus, Geist. Psychologie vor Descartes. München 2005. Vgl. Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs. Frankfurt a.M. 1992, S. 14. Fuchs zählt die Lehre von den spiritus zu den „Präideen“ im Sinne Ludwik Flecks. Zur Textgeschichte der Physiologia, die zunächst unter dem Titel De naturali parte medicinae erschien, vgl. John Henry u. John M. Forrester: „Introduction“. In: The Physiologia of Jean Fernel (1567). Translated and Annotated by John M. Forrester. Philadelphia 2003, S. 8f. In der Folge wird nach dieser zweisprachigen (lat.-engl.) Edition zitiert.
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zu wollen. Fernel entwickelte auf diese Weise eine überaus komplexe Theorie des Organismus.26 Den spiritus ist das vierte Buch der Physiologia mit dem Titel De spiritibus et innato calido gewidmet.27 Die Beschreibung der spiritus steht damit zwischen der Darstellung der Temperamente und der Beschreibung der Seelenvermögen. Die Rolle der spiritus als Mittler zwischen Körper und Seele wird durch diese Positionierung zum Ausdruck gebracht. Sucht man nun nach den Kernbegriffen der spiritus-Theorie, stellt man überrascht fest, dass Fernel diese ganz ans Ende des vierten Buches verbannt hat. Erst in den letzten beiden Kapiteln ist von den bekannten drei spiritus die Rede: Der dampfartige spiritus naturalis entsteht in der Leber und verteilt über die Venen das ernährende Vermögen, der luftige spiritus vitalis entsteht im linken Herzen und vitalisiert über die Arterien alle anderen Körperregionen, und der ätherische spiritus animalis entsteht im Gehirn und vermittelt über die Nerven Wahrnehmung und Bewegung.28 Dem im 16. Jahrhundert aufgrund der besseren Kenntnis der Originaltexte Galens erneut aufgekommenen Zweifel an der Existenz des spiritus naturalis begegnet Fernel mit der Erklärung, dass das Blut aufgrund seiner zähen Beschaffenheit nicht geeignet sei, zwischen Seelenvermögen und Körper zu vermitteln. Somit müsse man von der Existenz des spiritus naturalis in der Leber und in den Venen ausgehen.29 Von diesen beweglichen spiritus, die über ihre jeweiligen Gefäße ihre Wirkung im Körper entfalten, unterscheidet Fernel in den vorhergehenden Kapiteln die sogenannten spiritus insiti, die sich in den „ähnlichen Teilen“ finden. Die partes similares, die wir heute als Gewebe bezeichnen würden und zu denen etwa Nerven, Knochen und Fleisch gehören, besitzen neben einem soliden und einem fleischlichen auch einen spirituösen Anteil,30 der für jede Art von Gewebe spezifisch ist. Diese spiritus insiti sind _____________ 26
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Zu Fernels Physiologie und zu seiner spiritus-Konzeption vgl. Daniel P.Walker: „The Astral Body in Renaissance Medicine“. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 21 (1958), S. 119–133; Karl Eduard Rothschuh: „Das System der Physiologie von Jean Fernel (1542) und seine Wurzeln“. In: Karl Eduard Rothschuh: Physiologie im Werden. Stuttgart 1969, S. 59–65; Karl Eduard Rothschuh: „Technomorphes Lebensmodell contra Virtus-Modell“. In: Sudhoffs Archiv 54 (1970), S. 337–354; James J. Bono: „Reform and the Languages of Renaissance Theoretical Medicine: Harvey versus Fernel“. In: Journal of the History of Biology 23 (1990), S. 341–387. Fernel: Physiologia, S. 256–301. Fernel: Physiologia, S. 296–301. Fernel: Physiologia, S. 296: „Non enim sanguis ad id muneris satis est accommodatus, qui nempe crassior mediam inter corpus facultatemque substantiam non est sortitus. Ergo universum animal gubernant principes tres facultates, totidem spirituum vehiculis, ex suis quaeque fontibus, per proprios canales in omne corpus distributae.“ Fernel: Physiologia, S. 272: „Substantiae autem illae tres sunt omneis[sic] in parte similari positae, solida, carnosa et spirituosa, […].“
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die eigentlichen Urheber aller Lebensfunktionen, werden dabei aber gesteuert von den drei beweglichen spiritus.31 Den spiritus insitus stellt sich Fernel als eine Flamme vor, die sich aus der „ursprünglichen Feuchtigkeit“, dem humidum primigenium, und der eingeborenen Wärme speist.32 Die eingeborene Wärme, calor innatus, ist göttlichen und himmlischen Ursprungs. Sie muss von außen kommen. Wäre sie elementaren Ursprungs, ließe sich das Erkalten eines verstorbenen Lebewesens nicht erklären.33 Die eingeborene Wärme erhält jedes Lebewesen gemeinsam mit dem humidum primigenium durch den Samen. In den Samen hingegen gelangt die göttliche, lebensspendende Wärme durch einen spiritus caelestis, einen himmlischen spiritus.34 Diese Ursachenkette zeigt Fernels Versuch, das Phänomen des Lebens in einen kosmologischen Zusammenhang zu stellen. Anklänge an den Neuplatonismus des 16. Jahrhunderts sind dabei nicht zufällig, sondern entsprechen vermutlich Fernels Absichten. Wie Daniel P. Walker bereits vor 50 Jahren gezeigt hat, kommt der Neuplatonismus Fernels jedoch deutlicher als in der Physiologia in seiner Schrift De abditis rerum causis (Über die verborgenen Ursachen der Dinge) zum Ausdruck.35 Dem spiritus kommt bei Fernel letztlich eine Doppelrolle zu: Zum einen gilt er – wie in der medizinischen Tradition – als Instrument der Seele, und zum anderen stellt er die Verbindung her zwischen der himmlischen, göttlichen Sphäre und der elementaren, materiellen Welt. 2. Michael Servet Die Pluripotenz des spiritus-Konzeptes wird bei Michael Servet besonders deutlich.36 Noch stärker als in Fernels Physiologia belegt die Christianismi _____________ 31 32 33
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Fernel: Physiologia, S. 294–297. Fernel: Physiologia, S. 268–273. Fernel: Physiologia, S. 258: „Quinetiam animantis demortuae cadaver, tametsi partium ac totius structuram figuramque retinet, caloris tamen huius ne minimum quidem habet: haberet autem si ab elementis nasceretur, cum in partibus singulis aliqua supersit et resideat quatuor elementorum permistio.“ Fernel: Physiologia, S. 550–552: „Quemadmodum enim hominis essentia atque ratio, quae illius est anima, diviniorem quam qui ex elementis est ortum habet, sic et essentia ratioque carnis qua caro est, aut ossis qua os est, neutiquam ab elementis his densis atque concretis, sed ab elemento stellarum plane caelestem naturam sumit: et haec in caelesti quodam spiritu consistit, hic autem spiritus est in semine, per quod genito toti impertitur.“ Walker: Astral Body, S. 123–125. Zu Servet vgl. Henri Tollin: Die Entdeckung des Blutkreislaufs durch Michael Servet (1511–1553). Jena 1876; Walter Pagel: William Harvey’s Biological ideas. Selected Aspects and Historical Background. Basel 1967, S. 136–153; Jószef Spielmann u. Mihály Sebestyén: „Michael Servetus‘ Physiologie im Lichte seiner Anthropologie“. In: Clio medica 18 (1983),
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restitutio, dass die neuzeitliche Trennung von theologischem, philosophischem und medizinischem Diskurs dem wissenschaftlichen Denken des 16. Jahrhunderts nicht gerecht wird. Die Endform der Christianismi Restitutio war zwischen 1548 und 1552 entstanden und wurde zu Beginn des Jahres 1553 anonym veröffentlicht.37 Servet hatte sowohl Calvin als auch Melanchthon in den Jahren 1546 und 1547 handschriftliche Auszüge des Buches zugesandt. Dieser Versuch, über die beiden prominenten Reformatoren Einfluss auf kirchliche Dogmen zu nehmen, sollte Folgen haben: Anhand der Textauszüge konnte Calvin den Autor nach der Publikation des Werkes identifizieren. Servet wurde gefangen genommen, als Ketzer verurteilt und schließlich im Oktober 1553 in Genf verbrannt.38 In seiner Schrift ging es Servet nicht um die Aufdeckung unbekannter anatomischer Details, sondern um nicht weniger als um die Erneuerung des Christentums auf der Grundlage der biblischen Offenbarung. Kennzeichnendes Merkmal seines theologischen Programms war der Widerspruch gegen die Trinitätslehre. Für Servet sind Christus und Heiliger Geist nicht eigene Wesenheiten, sondern lediglich Modalitäten und Manifestationen der einen Gottheit, durch die diese auf die von ihr geschaffene, materielle Welt einwirkt.39 Die Einwirkung Gottes auf den Menschen erfolgt dabei auf einem physiologischen Weg, nämlich über die Inspiration des Geistes mit der Atemluft. Diese Annahme führte Servet zu seiner bekannten Modifikation des galenischen Modells: Der größte Teil des Blutes, aus dem der spiritus vitalis entsteht, gelangt nicht durch Poren im Herzseptum unmittelbar aus der rechten Kammer in das linke Herz, sondern nimmt einen Umweg über die Lunge, wo es sich mit der eingeatmeten Luft und dem in ihr befindlichen Geist Gottes vermischt.40 Das im linken Herzen entstehende Gemisch aus Blut und spiritus vitalis wird somit zum Träger des göttlichen Geistes. Dieser Vorgang ist nichts anderes als die Beseelung des Menschen. Servet gelang es auf diese Weise, den biblischen Wortlaut, demzufolge die Seele dem Menschen von Gott einge_____________
37
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S. 43–68; Ralf Bröer: „Blutkreislauf und Dreieinigkeit. Medizinischer Antitrinitarismus von Michael Servet (1511–1553) bis Giorgio Biandrata (1515–1588)“. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29 (2006), S. 21–37. Die Exemplare der Erstausgabe wurden im Jahr 1553 fast vollständig vernichtet. Es sind lediglich drei Exemplare (jeweils eines in Wien, Edinburgh und Paris) erhalten; vgl. Spielmann u. Mihály: Michael Servetus‘ Physiologie, S. 61. Für die vorliegende Arbeit wurde der Nachdruck aus dem Jahr 1790 genutzt. Zur Lebensgeschichte Servets vgl. Spielmann u. Mihály: Michael Servetus‘ Physiologie, S. 44–46; Bröer: Blutkreislauf und Dreieinigkeit, S. 23–26. Vgl. Spielmann u. Mihály: Michael Servetus‘ Physiologie, S. 52; Bröer: Blutkreislauf und Dreieinigkeit, S. 22. Michael Servetus: Christianismi Restitutio. Nürnberg 1790 [Nachdr. der Ausg. 1553], S. 169f.
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haucht wird und sich danach im Blut befindet, mit anatomischen und physiologischen Argumenten zu untermauern.41 Den eingangs dargestellten Kernelementen der galenischen spiritusLehre entsprechend, ließ Servet den spiritus vitalis zusammen mit dem Blut über die Arterien in das Gehirn gelangen, wo durch eine weitere Verfeinerung der spiritus animalis entsteht. Ort der Bildung des spiritus animalis sind das rete mirabile und eine „neue Art von Gefäßen“, die plexus choroides, die die Ventrikel auskleiden.42 Da Servet mit dem spiritus animalis auch die höheren Seelenvermögen einschließlich der Vernunft in diese plexus lokalisierte, bleibt die Seele an das Blut gebunden. Wie im Makrokosmos der Welt war für Servet auch im Mikrokosmos des Menschen der Einheitsgedanke prägend. Zwar unterschied er zwei spiritus, den spiritus vitalis und den spiritus animalis, und identifizierte gelegentlich den dritten spiritus mit dem Blut, aber er wies ausdrücklich darauf hin, dass in allen spiritus der eine Geist Gottes wirksam wird.43 Ebenso vermied er eine Aufteilung der Seele in ihre organischen und intellektuellen Vermögen, sondern betonte die Existenz einer einzigen, von Gott dem Menschen eingehauchten Seele. Um Seele zu sein, bedürfe sie der Mischung von Blut und spiritus als materieller Grundlage, des göttlichen Geistes und – zwischen diesen beiden – einer ätherischen Substanz, die sich mit dem Materiellen und dem Göttlichen verbinden könne.44 Diese wie bei Fernel neuplatonisch anmutende Konzeption zeigt, dass Servet den medizinischen spiritus zwar eine besondere Rolle als Träger der Seele zubilligte, sie aber nicht vollends mit der Seele identifizierte. Die Aufnahme des göttlichen Geistes mit der Atemluft führte Servet zu einer optimistischen Anthropologie, die sich nur schlecht mit der Erbsündenlehre der Kirchen vertrug. Zwar hatte sich das Böse durch den Sündenfall im Menschen eingenistet, aber als Geistträger war prinzipiell jeder Mensch in der Lage, sich für das Gute zu entscheiden. Damit war der stellvertretende Tod Christi eigentlich überflüssig. Christen konnten – so Servet – eine noch höhere Stufe der Vervollkommnung erlangen, wenn ihr spiritus im Gehirn durch einen anderen spiritus angehaucht wurde. Dieser Geist, den Servet als sanctus, coelestis, lucidus und als per oris Christi expiratio beschrieb, konnte den bösen Geist Satans vertreiben, der auf dem glei_____________ 41 42 43
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Vgl. Spielmann u. Mihály: Michael Servetus‘ Physiologie, S. 57; Bröer: Blutkreislauf und Dreieinigkeit, S. 23. Servetus: Christianismi Restitutio, S. 170f. Servetus: Christianismi Restitutio, S. 169: „Primus ergo est sanguis, cujus sedes est in hepate, et corporis venis. Secundus est spiritus vitalis, cujus sedes est in corde, et corporis arteriis. Tertius es spiritus animalis, quasi lucis radius, cujus sedes est in cerebro, et corporis nervis. In his omnibus est unius spiritus et lucis Dei energia.“ Vgl. Bröer: Blutkreislauf und Dreieinigkeit, S. 24.
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chen Weg Eingang in das menschliche Gehirn gefunden, die körperlichen spiritus belagert und den Menschen in Versuchung geführt hatte.45 3. Philipp Melanchthon Ein ähnliches Zusammenspiel zwischen den medizinischen spiritus und dem spiritus sanctus findet sich auch in Philipp Melanchthons Liber de anima,46 der im Jahr 1553 erschienenen Überarbeitung des Commentarius de anima von 1540.47 Wie der Titel zum Ausdruck brachte, war Melanchthons Lehrbuch eigentlich ein Buch über die Seele (genau genommen über die christliche Seele) und nicht über den Körper. Dennoch – und damit unterschied sich Melanchthons Zugang zu diesem Gegenstand traditioneller aristotelischer Philosophie gravierend von den Ansätzen anderer zeitgenössischer Philosophen und Theologen48 – handelte fast die Hälfte des Textes von der menschlichen Anatomie. Denn um die Seelenvermögen erklären zu können, so führte Melanchthon zu Beginn seines Buches aus, müsse man auf die Körperteile und Organe eingehen, durch die die Seele ihre Wirksamkeit entfalte.49 Melanchthons Beschreibung des Körpers und der organischen Funktionen war eng an der galenischen Tradition orientiert. Im Blick auf die spiritus entsprach sie weitgehend dem eingangs dargestellten Kernbestand an Begriffen und Ideen. Die Existenz eines spiritus naturalis in der Leber lehnte Melanchthon ab.50 Im engeren Sinn nicht galenisch, aber gleichermaßen traditionell waren Melanchthons Vorstellungen von den Affekten, die er wie Fernel und Servet in das Herz lokalisierte. Der Affekt war für Melanchthon eine Bewegung des Herzens, die der Wahrnehmung oder Vorstellung eines Objekts im Gehirn und dessen Beurteilung unwillkürlich folgt. Positive Affekte wie Liebe und Freude bestehen in einer Erweiterung des Herzens, bei negativen Affekten, etwa der Traurigkeit, zieht sich das Herz zusam_____________ 45 46
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Vgl. Servetus: Christianismi Restitutio, S. 173f. und S. 181f. Philipp Melanchthon: Liber de anima. Wittenberg 1553. Nachgedruckt in: Corpus Reformatorum. Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia, Vol. XIII. Hg. von Carolus Gottlieb Bretschneider. Halle 1846, Sp. 5–178. Im Folgenden wird der Liber de anima nach der Textfassung im Corpus Reformatorum zitiert. Philipp Melanchthon: Commentarius de anima. Wittenberg 1540. Wie verbreitet diese Literaturgattung gewesen ist, beweist Hermann Schüling: Bibliographie der psychologischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Hildesheim 1967; vgl. zur Psychologie im 15. und 16. Jahrhundert auch Park, Katharine u. Eckhard Kessler: „The concept of psychology“. In: Schmitt (Hg.): Cambridge History, S. 455–463. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 20. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 88.
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men. Gleichzeitig verändert sich der vom Herzen bereitete spiritus vitalis: Durch den Schmerz etwa wird er schwächer, bitter und schwarz, durch die Freude hingegen reichlicher, süß und hell. Die Liebe entzündet den spiritus, der Hass hingegen trocknet ihn aus. Andauernde Traurigkeit führt ebenfalls zur Schwächung des spiritus, sodass letztlich auch alle anderen Kräfte des Menschen erschlaffen.51 Bei der Darstellung des Gehirns und dessen Funktionen übernahm Melanchthon zunächst die bekannten Überlegungen. Der spiritus animalis wird in den Ventrikeln des Gehirns aus dem spiritus vitalis gebildet.52 Auf den Bewegungen des spiritus animalis in den Ventrikeln beruht die Funktion der inneren Sinne. Unter Hinweis auf Galen beschreibt Melanchthon drei dieser sensus interiores, nämlich den sensus communis, in dem die Wahrnehmungen der äußeren Sinne gesammelt werden, das Denk- und Urteilsvermögen sowie das Gedächtnis.53 Die Affekte des Herzens und die inneren Sinne des Gehirns zählte Melanchthon wie die unteren Seelenvermögen zu den organischen Vermögen der Seele, weil sie ausschließlich durch körperliche Organe wirken können.54 Die Frage, ob dieser Teil der Seele die spiritus als Instrumente nutzt oder vollends mit ihnen zu identifizieren sei, ließ er offen.55 Von diesen organischen Vermögen grenzte Melanchthon zwei übergeordnete Fähigkeiten der menschlichen Seele ab, die eine gewisse Eigenständigkeit hatten, die aber dennoch mit bestimmten Organen verknüpft waren. Der intellectus ist eng verbunden mit den inneren Sinnen des Gehirns. Das Erkennen, Beurteilen, Schlussfolgern und Erinnern beruht zum einen auf den Eindrücken und Vorstellungen, die von den inneren Sinnen angeboten werden, zum anderen aber auch auf einigen angeborenen Kenntnissen (notitiae innatae), zu denen etwa die Zahlen sowie die Grundregeln des logischen Denkens gehören, aber auch geometrische und moralische Grundsätze.56 Als zweite übergeordnete Fähigkeit der menschlichen Seele bezeichnete Melanchthon den Willen, die voluntas. Der Wille ist verknüpft mit den Affekten des Herzens, und bei den meisten Menschen wird er auch durch diese weitgehend bestimmt. Daneben ist es aber auch möglich, dass der intellectus auf den Willen einwirkt.57 _____________ 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 58, 95, 168–169. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 88. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 120–122. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 138: „Diximus autem antea de potentiis, quae nominantur organicae, id est, quae non exercent suas vires, nisi per organa corporea, […].“ Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 88. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 142–146. Vgl. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 153–154, Sp. 167–169.
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Auf der Grundlage dieser Überlegungen entwarf Melanchthon ein Modell menschlichen Fühlens und Verhaltens, dessen Schauplätze im Körper eindeutig definiert sind. Im Gehirn werden durch die Wahrnehmung oder Vorstellung eines Objektes sowie durch dessen Beurteilungen Bewegungen erzeugt, die über Nerven und den spiritus animalis zum Herzen weitergeleitet werden. Im Herzen setzt daraufhin eine neuerliche Bewegung ein, nämlich der Affekt, der gewissermaßen die „emotionale Reaktion“ des Individuums auf das vom Gehirn erkannte Objekt bestimmt.58 Je nach Affekt zieht sich das Herz zusammen oder weitet sich, und die Qualität des spiritus vitalis im Herzen verändert sich.59 Melanchthon konnte mit seinem psycho-physischen Modell nicht nur die emotionale Reaktion des Individuums, sondern ganz allgemein den Zustand des Menschen nach dem Sündenfall und dessen Angewiesensein auf die göttliche Gnade erklären. Beim ursprünglichen Menschen – so Melanchthon – herrschte im Gefüge von eingeborenen Kenntnissen, Wille und Affekten eine vollendete Harmonie, die von sich aus mit den Absichten Gottes und mit dessen Gesetz übereinstimmte. Nach dem Sündenfall ist diese Harmonie gestört.60 Die Kenntnisse über Gott sind verdunkelt, die Affekte irren ziellos umher und reißen den Willen mal in die eine, mal in die andere Richtung.61 In diesem Zustand bleibt der Mensch so lange, bis Gott sich ihm zuwendet, bis Gottes Wort den Verstand erreicht und bis der Heilige Geist neue Affekte im Herzen hervorruft und den Willen in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen bringt. Wahrer Glaube – so Melanchthon mehrfach in seinem Buch – entsteht somit in zwei Organen: Das Hören und Verstehen des Evangeliums erfolgt im Gehirn, aber das genügt nicht. Für die innerliche Zustim_____________ 58
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Melanchthon: Liber de anima, Sp. 57: „Quanquam autem cor sentit suaves et insuaves motiones per nervos, qui a sexto pari nervorum cerebri in cor deducti sunt, tamen sua quaedam est natura cordis, qua ciet adfectus, laeticia fruitur, et contabescit dolore.” Vgl. auch Sp. 128: „Ergo cum apprehendimus obiectum, et iudicamus bonum aut malum esse, spiritus moti in agnitione, feriunt cor, quod quasi ictum et pulsatum, cietur, et aut expetit obiectum, aut fugit.“ Melanchthon: Liber de anima, Sp. 168–169. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 169: „Fuit autem ante peccatum talis imago, ut potentiae omnes congruerent cum Deo. In intellectu fulsit firma Dei noticia, voluntas et cor congruebant cum Deo, id est, habebant rectitudinem et iusticiam congruentem cum Deo, et libertas voluntatis non erat impedita.“ Melanchthon: Liber de anima, Sp. 164: „Sed haec suavissima harmonia turbata est lapsu primorum parentum. Nunc sunt quidem adpetitiones et adfectus, sed vagantur et longe aberrant a lege Dei, et in non renatis non sunt accensi a Spirito sancto.” Vgl. auch Sp. 163: „Horribiliter enim haec hominum natura languefacta est. In mente caligo est de Deo, et magnum chaos dubitationum. Voluntas aversa est a Deo, non timet Deum, non ardet fiducia et dilectione Dei, negligit aut tristi fremitu fugit eum. Corda varie errantibus adfectibus aliis atque aliis incenduntur, et voluntatem secum rapiunt.“
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mung des Individuums muss die Geistwirkung im Herzen hinzukommen, damit aus der bloßen Erkenntnis im Verstand der willensbestimmende Glaubensaffekt im Herzen wird.62 Durch die Mischung des spiritus sanctus mit dem spiritus vitalis im Herzen, die den Menschen vor dem Sündenfall ausgezeichnet habe63 und die sich nun bei frommen Menschen finde, würden die körperlichen spiritus leuchtender, die Erkenntnis Gottes klarer, die Zustimmung fester und die Bewegungen zu Gott hin glühender.64 Wie Servet postulierte Melanchthon eine unmittelbare Interaktion zwischen den körperlichen spiritus und dem Geist Gottes. Und wie Servet hob er damit die körperlichen spiritus als eine besondere Substanz aus der übrigen Körpermaterie hervor. Die Mittlerfunktion der spiritus zwischen Körper und Seele, die sie auch bei Fernel hatten, prädestinierte die spiritus dazu, auch als Mittler zwischen dem Heiligen Geist und dem Menschen zu fungieren. Der Gefahr, die menschliche Seele zu materialisieren, begegnete Melanchthon durch einen klarstellenden Satz in den einleitenden Abschnitten seines Buches, mit dem er die in der Kirche gebräuchliche Bestimmung der Seele als vom Körper trennbaren und unsterblichen Geist den philosophischen Seelendefinitionen gegenüberstellte und betonte, dass es für die kirchliche Wahrheit keine natürliche Begründung gebe.65 Die drei Fallstudien zu Fernel, Servet und Melanchthon haben die spiritus als einen pluripotenten Begriff im 16. Jahrhundert aufgezeigt. Aus heutiger Sicht sind wir gewillt, die Verwendung der spiritus-Lehre im medizinischen, theologischen und philosophischen Kontext als Transfer von Begriffen von einem Wissensbereich in einen anderen zu deuten oder – in _____________ 62
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Melanchthon: Liber de anima, Sp. 171: „Ita restituitur in nobis vita et iusticia aeterna, et renovatur imago Dei verbo lucente in mente, ut agnitio Dei sit clarior et firmior, et Spiritu sancto accedente motus congruentes cum Deo in voluntate et corde.“ Vgl. auch Sp. 157: „Hanc Evangelii vocem cum audimus, et fide amplectimur, ipse filius Dei, o aeterni patris accendit lucem in mentibus nostris, et Spiritu suo sancto corda inflammat, ut in Deo acquiescant et laetentur, diligant eum, et obedire ei incipiant, petant se ab ipso regi, et rursus fiant templum Dei.“ Melanchthon: Liber de anima, Sp. 164: „Et hae adpetitiones et hi adfectus omnes fuissent ordinati, congruentes ad legem mentis, imo etiam accensi ab ipso Spiritu sancto, qui suas flammas miscuisset spiritibus natis in corde et in cerebro.“ Melanchthon: Liber de anima, Sp. 88–89: „Spiritu vitali et animali actiones praecipuae efficiuntur, vitae conservatio, nutritio, generatio, deinde sensus, motus, cogitatio, adfectus in corde. [...] Et, quod mirabilius est, his ipsis spiritibus in hominibus piis miscetur ipse divinus spiritus, et effecit magis fulgentes divina luce, ut agnitio Dei sit illustrior, et adsensio firmior, et motus sint ardentiores erga Deum.“ Zu Melanchthons spiritus-Lehre vgl. auch Jürgen Helm: „Die spiritus in der medizinischen Tradition und in Melanchthons Liber de anima“. In: Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit. Hrsg. von Günter Frank u. Stefan Rhein. Sigmaringen 1998, S. 219–237. Melanchthon: Liber de anima, Sp. 16: „Anima rationalis est spiritus intelligens, qui est altera pars substantiae hominis, nec extinguitur, cum a corpore discessit, sed immortalis est. Haec definitio non habet physicas rationes.”
Die Lehre von den „spiritus” im 16. Jahrhundert
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Anlehnung an Ludwik Fleck – die spiritus als Verbindungsglieder zwischen unterschiedlichen Denkstilen aufzufassen. Bei solchen Deutungen ist jedoch Vorsicht geboten: Möglicherweise werden durch die heuristischen Kategorien unserer Analysen Mauern errichtet, wo die synthetischen Denker des 16. Jahrhunderts ein weites Feld sahen.
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Jürgen Helm
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Balneologisches Wissen zwischen Antike und früher Neuzeit Werner Heinz
Abstract Die Balneologie ist ein recht spezifischer Bereich medizinischer Heilkunde. Ihr Anwendungsgebiet ist die kurative und die präventive Medizin, ihre Mittel sind die Heilquellen und die Moore, im weiteren Sinne aber alle Formen der physikalischen Therapie. Die römische Antike kannte, wie unterschiedliche Architekturen für Heilbäder, ‚konventionelle‘ Bäder usw. belegen, viele Formen der Balneologie, konnte aber die medizinische Wirkung nicht beschreiben. Nahezu alle Kenntnis davon geht im Mittelalter unter. An der Wende zur frühen Neuzeit besann man sich auf die Wirkung der Bäder – hier sind es v.a. die Heilbäder – und beschrieb sie in einer Fülle von Bäderbüchern. Die Baderegeln zeigen mancherlei Erfahrung, die aber in keiner Weise an die Antike heranreicht. Auch Paracelsus – ihm soll hier das Hauptaugenmerk gewidmet sein – kennt dieses medizinische Wissen im Detail nicht. Er bezieht aber so ziemlich als Einziger seiner Zeit den Arzt mit ein, und er weiß, dass erst das iterative Verfahren in der Balneologie eine Wirkung zeigt. Balneology is a specific item of medical science. It refers to curative and preventive treatment using mineral springs and mud baths and, in a larger sense, to all varieties of hydrotherapy. The variety of spas and other baths in Roman times proves that a distinct knowledge of balneology existed then, but there is no extant description of the medical uses of those baths. Almost all knowledge of balneology was lost during the Middle Ages. Then, at the dawn of the modern age, people rediscovered the benefits of baths and spas, and described them in many books. The rules for bathing reveal some discoveries which were probably unknown in ancient times. Paracelsus, on whom this paper focuses, shows no detailed knowledge of the medical effects of bathing. But he is almost the only author in this period to involve the physician, and, in terms of balneology, he knows that only repeated treatment brings about a lasting effect.
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Werner Heinz
Das Umfeld zur Zeit von Paracelsus Die balneologischen Schriften von Paracelsus scheinen ein wenig ins Abseits geraten zu sein.1 Verweise sind nicht gerade häufig,2 Gleiches gilt der Referierung paracelsianischer Wasser- und Bäderkunde.3 Noch seltener sind spezielle Untersuchungen zur Balneologie des Hohenheimers.4 Bevor man sich mit seinen Schriften, die ja nun auch im Rahmen der zeitgenössischen Bäderliteratur zu sehen sind,5 auseinandersetzt, ist es sinnvoll, sich für einen Augenblick vor Augen zu halten, welche Bedeutung die Menschen vor Paracelsus diesem Lebenselixier beimaßen. Wie ging man (nach einer wahren „Durststrecke“ im früheren Mittelalter,6 bedingt durch die weitestgehende Zerstörung der antiken Wasserversorgungseinrichtungen) im späten Mittelalter mit dem Rohstoff Wasser um? Welchen Stellenwert gab man ihm? Großräumig lassen sich zwei Tendenzen feststellen: Man befriedigte die reine Notwendigkeit zum einen und den Luxus zum anderen. Mit dem Aufkommen der Städte als wirtschaftlichen und administrativen Zentren war in jedem Falle eine verdichtete Bebauung auf umgrenztem Raum gegeben.7 Die dort lebenden Menschen mussten mit ausreichender Menge Frischwasser versorgt werden. _____________ 1
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Pirmin Meier: Paracelsus: Arzt und Prophet. Zürich 20045, S. 88–91 befasst sich auf drei Seiten mit den Bäderschriften des Hohenheimers, um dann – im gegebenen Zusammenhang „wichtiger“ – auf das Consilium an den Abt Johann Jakob Russinger in seiner medizinhistorischen und linguistischen Bedeutung einzugehen. Paul Letter: Paracelsus: Leben und Werk. Klein Königsförde 2000, referiert ab S. 221 die Bäderschriften verhältnismäßig ausführlich, freilich ohne sie in ihrer Bedeutung zu würdigen. Ulrika Kiby: Bäder und Badekultur in Orient und Okzident: Antike bis Spätbarock. Köln 1995, erwähnt nicht einmal Paracelsus. Vgl. z.B. Heinrich Schipperges: Der Garten der Gesundheit: Medizin im Mittelalter. München und Zürich 1985, S. 236–239 mit kurzer Würdigung. Alfred Martin: Deutsches Badewesen in vergangenen Tagen. Jena 1906 (Faksimile-Repr. ca. 1989) verweist auf Paracelsus mit immerhin 15 Nennungen im Text. Walter Schindler: „Das Badebüchlein des Paracelsus.“ In: Archiv für Physikalische Therapie 12 (1960), S. 1–13. Werner Vogler: „Paracelsus und Pfäfers.“ In: Heinz Dopsch und Peter Franz Kramml (Hrsg.): Paracelsus und Salzburg: Vorträge bei den Internationalen Kongressen in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993. Salzburg 1994, S. 517–524. Peter Franz Kramml: „Heilbäder und Bader im Leben des Paracelsus“. In: Dopsch und Kramml, Hrsg. (1994; hier Anm. 4), 525–540. Frank Fürbeth: „Zur Bedeutung des Bäderwesens im Mittelalter und der frühen Neuzeit“. In: Dopsch und Kramml (1994, Anm. 4), S. 463–487. Ders.: „Heilquellen und balneologische Bestseller in der frühen Neuzeit“. In: Forschung Frankfurt. Wissenschaftsmagazin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., H. 1, 1997, S. 18–28. Nikolaus Schnitter: Die Geschichte des Wasserbaus in der Schweiz. Oberbözberg 1992, S. 52. Zu den Kriterien: Bernd Fuhrmann: „Vom Leben in der hochmittelalterlichen Stadt.“ In: Alltagsleben im Mittelalter. Göppingen 2005 (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst; 24), S. 37–58.
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Für die Beschaffung von Trinkwasser hatten die Kommunen nicht nur die benötigten Mengen als Lebensmittel bereitzustellen, sondern auch die Handwerksbetriebe zu bedenken. Der Verbrauch von Wasser in den Wohnhäusern hielt sich in engen Grenzen, da wichtige Bereiche der Hygiene wie das Bad oder das Waschen der Kleidung in öffentlichen Bereichen angesiedelt waren.8 Weit mehr Wasser verlangten innerstädtische Betriebe wie Brauereien9 oder die Textilverarbeitung.10 Um ein ausreichendes Wasserangebot gewährleisten zu können, griff man im späten Mittelalter auf antike Techniken zurück: Man baute Aquädukte. Nur zwei Beispiele seien hier genannt. Im Jahr 1254 beschloss die umbrische Stadt Perugia den Bau eines Aquäduktes, um Wasser vom Monte Pacciano in die Stadt zu leiten. Die Arbeiten zogen sich wegen erheblicher Schwierigkeiten mit Höhenunterschieden über gut zwei Jahrzehnte hin. Im Jahre 1277 nahm man dann den Bau der Fontana Maggiore, des berühmten dreischaligen Brunnens zwischen Dom und Priorenpalast, in Angriff.11 Den antiken Nymphäen gleich hatte der Brunnen die Aufgabe der allgemeinen Wasserversorgung – zugleich war er ein unerhört reiches Stück städtischer Repräsentation: ein großer Luxus der Kommune. Die Stadt Basel versorgte ihre Bürger noch vor 1250 mit frischem Wasser von zehn Quellen, die etwa drei Kilometer südwestlich der Stadt lagen. Die Zuleitung führte über den Stadtgraben hinweg in den linksrheinischen Bezirk, wo dieses sog. Spalenwerk eine Reihe öffentlicher Brunnen sowie auch private Anschlüsse privilegierter Bürger versorgte. Nur wenige Jahre später ergänzte das Münsterwerk diese Wasserversorgung. Es gab hier einen solchen Reichtum an Wasser, dass Aeneas Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. († 1464), diese Stadt neidvoll mit Viterbo nahe seiner toskanischen Heimat verglich. 1493, also im Geburtsjahr von Paracelsus, schlossen die Basler den rechtsrheinischen Teil der Stadt an das sog. Riehemer Werk an. Später lobte u.a. Michel de Montaigne (1533– 1592) den Überfluss an Wasser: Mehr als 300 Brunnen soll es in Basel gegeben haben. Im frühen 16. Jahrhundert bestellte die Stadt Basel den Zimmermann Hanns Zschan (ca. 1450–1525) zum Brunnenmeister. Er ließ – wie weiland Frontinus in Rom – die gesamte Wasserversorgung _____________ 8 9 10 11
Albrecht Hoffmann: „Wassernöte und technischer Wandel in der frühen Neuzeit“. In: Frontinus-Gesellschaft (Hg.): Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit. Mainz 2000 (Geschichte der Wasserversorgung, 5), S. 9–59, hier S. 21 und S. 24–25. Hoffmann (Wassernöte; Anm. 8) S. 23. Vgl. Fuhrmann (Leben; Anm. 7), S. 51 mit weiteren Daten zu Getränken. Duccio Balestracci: „Die Entwicklung der städtischen Wasserversorgung in Italien vom 12. bis 15. Jahrhundert“. In: Wasserversorgung der Renaissancezeit (Anm. 8), S. 61–98, bes. S. 75. Georg Kauffmann: Emilia-Romagna, Marken, Umbrien: Baudenkmäler und Museen. Stuttgart 1977 (Reclams Kunstführer Italien, 4), S. 440.
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ausführlich dokumentieren, und so wissen wir heute von 43 öffentlichen Laufbrunnen, die ständig Frischwasser führten.12 Dieses System also, das neben der Grundversorgung auch einen gewissen Luxus versprach, erlebte Paracelsus in seiner Baseler Zeit, wo er bekanntlich 1527 als Stadtarzt und Professor tätig war.13 Ein Zeitgenosse des Hohenheimers veröffentlichte Hinweise zur Prüfung der Wasserqualität einer Quelle oder eines Brunnens. Wichtig, so der sächsische Arzt und Naturforscher Georg Agricola (1494–1555), sei nicht nur die optische und geschmackliche Probe, sondern auch die Untersuchung der Rückstände, und wenn sich nichts absetze, werde das Wasser eingedampft, um die nicht flüchtigen Bestandteile genau zu beriechen und zu kosten. Wenn aber kein gesundes Wasser zur Verfügung stehe, müsse man die Schädlichkeit zu beheben suchen. Wie das geschieht, hat schon der 1485 gestorbene Nürnberger Arzt Hermann Schedel (nicht zu verwechseln mit Hartmann Schedel und seiner „Weltchronik“ von 1493) dargelegt: Man solle das Wasser abkochen oder – wie wir heute sagen – desinfizierende Substanzen beigeben wie Zwiebeln oder Essig.14 An dieser Stelle müssen wir innehalten, um einige Differenzierungen zu gewinnen. Die Verbesserung des Wasserangebots in Basel zu Paracelsus‘ Zeiten bedeutete einen großen Sprung nach vorn. Die Maßnahmen, die Agricola zur Prüfung der Wasserqualität beschreibt, waren aber nicht neu. Trinkwasser als Lebensmittel mit hohen Qualitätsmerkmalen zu begreifen, ergab sich aus den bereits im 14. Jahrhundert von Giovanni de Dondi (1318–1389) für Abano Terme beschriebenen Verfahren der Wasseranalyse.15 Die festen Bestandteile des Wassers blieben nach dem Eindampfen zurück – ein Verfahren, das in vergleichbarer Weise bereits eineinhalb Jahrtausende zuvor bei den keltischen Salzsiedern gängige Praxis war.16 Aus diesen und weiteren Daten können wir ableiten, dass zur Zeit des Hohenheimers die Wasserversorgung im technischen Sinne vielerorts aufgerüstet wurde.17 In Italien hatte man damit bereits im späten Mittelal_____________ 12 13 14 15 16
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Nikolaus Schnitter: „Hanns Zschans Plan der Basler Wasserversorgung“. In: Wasserversorgung der Renaissancezeit (Anm. 8), S. 213–216. P. Meier (Paracelsus, 2004; Anm. 1), S. 225–227 zur Berufung. Zu Agricola und Schedel: Hoffmann (Wassernöte; Anm. 8), S. 21–23. Fürbeth (Bäderwesen, 1994; Anm. 5), S. 466. Vgl. z.B.: [Kat.] Die Kelten in Mitteleuropa: Kultur, Kunst, Wirtschaft. Salzburg 1980², S. 187 zur Technik des Sudsalzes. Kurt Bittel, Wolfgang Kimmig und Siegwalt Schiek (Hrsg.). Die Kelten in Baden-Württemberg. Stuttgart 1981, S. 227 (Hartmann Reim) und S. 465 (Jörg Biel) zur Salzsiederei. Vgl. den Katalogteil in: Wasserversorgung (2000; Anm. 8), S. 217–242.
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ter begonnen.18 Wiederum zu Lebzeiten von Paracelsus führten die Einwohner von Orvieto auf Anordnung von Clemens VII., der nach dem Sacco di Roma dorthin geflüchtet war, zwischen 1527 und 1543 einen Brunnenbau von knapp 54 Metern Tiefe aus19 – eine faszinierende Leistung zeitgenössischer Technik. – Ob Orvieto oder anderswo: Mit solch massiver Erweiterung des Wasserangebots ließen sich zwei unterschiedliche Bereiche verbinden: Wasser als Lebensmittel und Wasser zur Körperpflege.20 Damit ist in weiterem Sinne die Balneologie angesprochen. Die nähere Betrachtung wird zeigen, dass das Badewesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sich reicher darstellt als zur Zeit des frühen Mittelalters, aber die Standards der Antike dennoch bei Weitem nicht einholen kann. Demgegenüber schreitet die Technik der Wasserversorgung, wie soeben beschrieben, auf einem ganz anderen Niveau fort. Darin also liegt die oben eingeforderte Differenzierung. Antike Errungenschaften und mittelalterliches Desinteresse Das Badewesen der Antike hat in der neueren Forschung einige Aufmerksamkeit erfahren. Auch wenn die Kenntnis über die griechischen Bäder noch immer zu wünschen übrig lässt,21 so sind es doch diese Monumente, die als unmittelbare Vorstufe zu der immensen Vielfalt römischer Bäder und Thermen gelten dürfen. Dieser Bedeutung entsprechend sind die griechischen Bäder in der jüngeren Thermenliteratur gewürdigt worden.22 Die Römer schufen schließlich eine Raumfolge, die den Badegast entlang aufsteigender Wärmegrade ins Heißbad geleitete und von dort aus wieder _____________ 18 19 20 21 22
Duccio Balestracci: „Die Entwicklung der städtischen Wasserversorgung in Italien vom 12. bis 15. Jahrhundert“. In: Wasserversorgung (2000; Anm. 8), S. 61–98. Der Pozzo di San Patrizio nach einem Plan von Antonio di Sangallo d.J. Ansicht und Riss: Balestracci (Anm. 18) S. 84–85 Abb. 19–20; Hintergründe: Georg Kauffmann: EmiliaRomagna, Marken, Umbrien. Stuttgart 1977 (Reclams Kunstführer Italien, 4), S. 390. So die Differenzierung bei: Hoffmann (2000; Anm. 8), S. 24–25. Das Buch von Michaela Hoffmann: Griechische Bäder. München 1999, erfüllt nahezu keine der möglichen Erwartungen; vgl. die Rezension von Werner Heinz in: Nikephoros 16, 2003, S. 305–311. Werner Heinz: Römische Thermen: Badewesen und Badeluxus im Römischen Reich. München 1983, S. 36–51. Inge Nielsen, Thermae et Balnea: The Architecture and Cultural History of Roman Public Baths. Aarhus 1990, Bd. 1, S. 6–13. Fikret K. Yegül: Baths and Bathing in Classical Antiquity. Cambridge 1992, S. 6–29. Hingegen verzichtet Garrett G. Fagan: Bathing in Public in the Roman World. Ann Arbor, MI, 1999, auf eine entsprechende Darlegung. Auf die Bedeutung der griechischen Vorstufen für die römische Badekultur verweist jüngst wiederum: Fikret Yegül: Bathing in the Roman World. Cambridge 2010, S. 41–45.
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zurück in das Frigidarium, den kalten Baderaum. Mit diesem Satz ist nun nicht das Badewesen der Römer erfasst; wohl aber zeigen sich die entscheidenden Tendenzen aller „konventionellen“ Bäder – Heilthermen und medizinische Bäder seien gesondert betrachtet – mit jener Raumfolge, die nach dem Aufwärmen die Abkühlung verlangt, damit das ungute Nachschwitzen unterbindet und auf diese Weise eine den ganzen Körper stärkende Wirkung ausübt. Für den Römer blieb es sich im Grunde gleich, ob er in seinem kleinen hauseigenen Bad, einem städtischen balneum oder in einer großen Thermenanlage sein tägliches Bad nahm: Stets leistete das ausgeklügelte Badeprogramm seinen Beitrag zur Tonisierung des Körpers, weshalb wir tatsächlich von erwiesener medizinischer Wirkung aller Arten römischer Bäder23 sprechen können. Es wird damit ein höchst effektives balneologisches System sichtbar, das die Römer nicht mit Worten beschreiben konnten, dessen Bedeutung für den einzelnen Bürger sich aber in Tausenden von Architekturen zeigt. Vermutlich kann nur die frühere islamische Zeit den Römern Paroli bieten. Mit dieser römischen Badekultur geht ein Höchstmaß an Hygiene einher. Die Sauberkeit stellt sich allein schon durch die öffentlichen Latrinen – etwas Derartiges kannte keine vergleichbare Kultur im Umfeld – und ein riesiges Wasserangebot dar. Eine Vielzahl von Aquädukten führte ausgezeichnetes Quellwasser in die Städte,24 wo die Bürger sich vielleicht an Nymphäen, in jedem Falle an sehr vielen Laufbrunnen25 versorgen konnten – ein Gedanke, der in der Neuzeit wieder stark an Bedeutung gewonnen hat. Im späteren Durchgang wird die römische Badekultur noch einmal eine Rolle spielen. Jetzt sei das Augenmerk für einen Moment auf das Mittelalter gerichtet. Die Defizite gegenüber der römischen Antike sind derart gewaltig, dass eine komplementäre Welt auftaucht. Die Goten kappten die römischen Aquädukte – vorbei war es mit der verschwenderischen Fülle von Wasser. Antike Kurorte wie Baia werden im frühen 6. Jahrhundert _____________ 23 24
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Werner Heinz: „Antike Balneologie in späthellenistischer und römischer Zeit. Zur medizinischen Wirkung römischer Bäder“. In: Wolfgang Haase (Hg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) II, 37,3, Berlin 1996, S. 2411–2432. Vgl. aus der neueren Lit. z.B.: Günther Garbrecht und Hubertus Manderscheid: Die Wasserbewirtschaftung römischer Thermen: Archäologische und hydrotechnische Untersuchungen. Braunschweig 1994 (Leichtweiss-Institut für Wasserbau der TU Braunschweig, Mitt. H. 118 A–C). Damir Kek: Der römische Aquädukt als Bautypus und Repräsentationsarchitektur. Münster 1996 (Charybdis, 12). Klaus Grewe: Licht am Ende des Tunnels: Planung und Trassierung im antiken Tunnelbau. Mainz 1998. Rabun Taylor: Public Needs and Private Pleasures: Water Distribution, the Tiber River, and the Urban Development of Ancient Rome. Rom 2000 (Studia archaelogica, 109). Zu Pompeji: Hans Eschebach: „Die Gebrauchswasserversorgung des antiken Pompeji“. In: Antike Welt 10 H. 2, 1979, S. 3–24.
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noch besungen;26 andere wie Luxeuil-les-Bains unterliegen später in diesem Jahrhundert der Zerstörung dessen, was „die Heiden in alter Zeit in törichter Verehrung“ dahergestellt hätten.27 Ein beredtes Zeugnis des sechsten Jahrhunderts für die Abkehr von früherem balneologischen Wissen findet sich in der Regel Benedikts, wo es ausdrücklich heißt, dass man den kranken Brüdern Bäder gewähren solle, sooft es nützlich erscheine, den Gesunden aber und besonders den Jüngeren gestatte man es weniger.28 Karl der Große muss – wie sein Biograf Einhard berichtet – die Bäder geliebt haben.29 Karl starb 814. Zwei Jahre später leitete Benedikt von Aniane eine Synode, auf der beschlossen wurde, dass die Mönche überhaupt nur zu Weihnachten und Ostern baden sollten.30 Ludwig der Fromme, der als Nachfolger Karls diese Synode abhalten ließ, wollte sich freilich nicht an solche Regeln binden, denn von ihm ist überliefert, dass er immerhin jeden Samstag ein Bad nahm.31 Nun, der Aachener Beschluss von 816 wurde ein Jahr später wieder revidiert.32 Nochmals zwei Jahre später, also genau im Jahre 819, entstand der St. Galler Klosterplan mit immerhin vier unterschiedlichen Bädern.33 Diese Daten haben uns im Zusammenhang mit Paracelsus schon einmal beschäftigt. Außerhalb eines solchen Idealplanes war es mit der Hygiene und dem Badewesen nicht weit her, wie die heitere Geschichte jenes unbekannten Mönchs zeigt, die Caesarius von Heisterbach († um 1240) erzählt: Dieser Mann wusste eine zudringliche Dame nur dadurch abzuwehren, indem er
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Cassiodor Senator (um 527): Variae IX 6, 1-6. Voraussichtlich 2010 wird dazu die deutsche Übertragung von Peter Dinzelbacher vorliegen, dem ich für die freundliche Genehmigung zur Verwendung hier danken möchte! Jonas von Bobbio: Vita Columbani I, 10; hier zitiert nach: Friedrich Prinz: Von Konstantin zu Karl dem Großen: Entfaltung und Wandel Europas. Düsseldorf 2000, S. 316. Benedikt: Regel Kap. 36, 8. Einhard: Vita Karoli Magni 22. – Vgl. insgesamt: Werner Heinz: „Von der Antike zum Mittelalter: Balneologie im Wandel“ (Tagung der Frontinus-Gesellschaft in Aachen 2009; Bericht in Beiheften zu Babesch vorgesehen). Wolfgang Braunfels: Abendländische Klosterbaukunst. Köln 1969, S. 281 mit zweisprachigem Textzitat. Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 8. Konrad Hecht: Der St.Galler Klosterplan. Wiesbaden 1997, S. 171. Florian Huber: „Der Sankt Galler Klosterplan im Kontext der antiken und mittelalterlichen Architekturzeichnung und Messtechnik“. In: Peter Ochsenbein und Karl Schmuki (Hrsg.): Studien zum St. Galler Klosterplan II. St. Gallen 2002 (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte Bd. 52), S. 233–284, hier S. 262. – Zu den Bädern: Hecht (Klosterplan; Anm. 32) S. 61 Abb. 13 (Plan) Nrr. 8, 24, 30 und 33.
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seinen vor Dreck und Ungeziefer starrenden Körper zeigte.34 Und das zu einer Zeit, in der Petrus von Eboli die Bäder von Pozzuoli besang!35 Es lohnt, noch einen Augenblick in Italien zu verweilen. Denn hier ist es die italienische Früh- und Hochrenaissance, die Verbindung zu römischen Bädern schafft. Leon Battista Alberti (1404–1472) eiferte seinem antiken Vorbild Vitruv nach und schrieb „Zehn Bücher über die Baukunst“.36 Und wie weiland Vitruv setzte auch Alberti sich mit Bädern auseinander,37 ohne allerdings die Details antiker Bäder korrekt bestimmen zu können.38 Die weitere Beschäftigung der italienischen Frührenaissance mit antiken Bädern finden wir bei Filarete39 (um 1465) oder Francesco di Giorgio Martini († 1501) mit ziemlich direktem Rückgriff auf Vitruv.40 Raphael Sanzio da Urbino (1483–1520), der mit seinem gesamten Wirken die Hochrenaissance verkörpert, wurde 1508 von Julius II. nach Rom gerufen. Im August 1515 ernannte ihn Leo X. zum Oberaufseher der römischen Altertümer.41 In dieser Funktion liefen bei ihm alle Nachrichten und Bauaufnahmen, darunter etliche Studien von Thermenanlagen, zusammen. Raphael verfügte somit über hervorragende Kenntnisse antiker Bäder und Thermen, die er jedoch – wie etwa der Baderaum des Kardinals Bibbiena im Vatikan (1515/1516) ausweist – nicht unmittelbar umsetzte; vielmehr verband er die Wünsche des Auftraggebers mit antiken Techniken wie der Hypokaustheizung.42 Eine vergleichbare Lösung für einen Baderaum in der Cancelleria in Rom fand 1519/1520 – also gerade noch zu Lebzeiten Raphaels – Antonio da Sangallo der Jüngere.43 _____________ 34 35
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Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 9. Immerhin schrieb aber gut ein Jahrhundert später das Konzil von Magdeburg den Geistlichen vor, alle vierzehn Tage zu baden: Martin (1906; Anm. 3) S. 111. C. M. Kauffmann: The Baths of Pozzuoli: A Study of the Medieval Illuminations of Peter of Eboli’s Poem. Oxford 1959, passim; S. 24 zur Datierung (1211–1220). Raymond J. Clark: „Peter of Eboli and the Roman baths of Puteoli“. In: Janet DeLaine und David E. Johnston (Hrsg.): Roman Baths and Bathing, Part 1: Bathing and society. Portsmouth 1999 (Journal of Roman Archaeology, Suppl. 37 Teil 1), S. 147–151. Ausführlich: Fikret K. Yegül: „The Thermo-Mineral Complex at Baiae and De Balneis Puteolanis“. In: Art Bulletin 78 H. 1, 1996, S. 137–161, hier S. 148–161. De re aedificatoria (1452; vollständige Ausgabe 1485). 37 Buch 8 Kap. 10. Kiby (1995; Anm. 2), S. 116–118. Kiby (Bäder, 1995; Anm. 2), S. 118–120. Kiby (1995; Anm. 2), S. 122–129. John Pope-Hennessy: Raphael. New York 1970, S. 167–168. – Ausführlich mit Auszügen aus dem Erlass Leos: Günter Grimm: „Von der Liebe Raffaels zur Antike“. In: Antike Welt 29, 1998, S. 481–496. Kiby (1995; Anm. 2), S. 137–142. Kiby (1995; Anm. 2), S. 149–150.
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Sein Kollege Baldassare Peruzzi (1481–1536) nahm derweil in Rom die Pläne von zehn römisch-kaiserlichen Thermenanlagen auf.44 In der Zeit der späten Renaissance und des Manierismus ändern sich die Voraussetzungen. Von Serlio (1475–1554), einem Schüler Peruzzis, ist die Auseinandersetzung mit Bädern theoretisch und praktisch überliefert.45 Sein etwas jüngerer Zeitgenosse Andrea Palladio (1508–1580) hat sich zwar noch dem Studium antiker Thermen in Rom gewidmet; er gab aber den Plan der Agrippa-Thermen als reines Fantasieprodukt wieder.46 Selber hat er keine solche Architektur gebaut. Die Zeiten waren jetzt vorüber. Paracelsus Das balneologische Schrifttum von Paracelsus ist – im Gegensatz zu seiner sonstigen Produktivität – eher knapp. Im Wesentlichen erschöpft es sich im Badebüchlein und in der Schrift zu Bad Pfäfers. Seine Schrift Von den natürlichen bedern, entstanden vielleicht um 1525,47 geht zunächst einmal auf die altbekannte Einteilung in warme und kalte Bäder ein48: Anfenglich, so ich die ursach der warmen bedern anzeigen sol, ist die erst ursach separatio und das auf ein solchen grunt zu beschreiben. ... nun weiter was das sei, das da die separatio gescheiden hat, ist gesein kalt und warms, also das das warm in sein wesen komen ist und das kalt auch in sein wesen.
Damit beginnt sein Bäderbüchlein. Es ist eine mühselige Beschreibung der separatio. Walter Schindler49 hat in seiner ausführlichen und noch immer sehr wichtigen Untersuchung des Badebüchleins darauf hingewiesen, dass Paracelsus gegen Ende des ersten Traktats – man könnte sagen: der Einleitung – das Badewesen50 in den Vordergrund stellt51: „ir wissent, das im wasser kein kraft ist aber in den bedern.“ Das ist ganz sicher ein entscheidender Hinweis auf das balneologische Verständnis des Hohenheimers. _____________ 44 45 46 47
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Kiby (1995; Anm. 2), S. 146. Kiby (1995; Anm. 2,) S. 160–169. James S. Ackerman: Palladio. Stuttgart 1980, S. 147 Abb. 108. So: Heinrich Thaler: „Heilbäder und Badewesen zur Zeit des Paracelsus“, in: Heinz Dopsch – Kurt Goldammer – Peter F. Kramml (Hrsg.): Paracelsus (1493–1541): „Keines andern Knecht ...“. Salzburg 1993, S. 109. Kramml, Heilbäder (1994; Anm. 4), S. 527 bevorzugt eine Datierung ins Jahr 1528. Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus: Sämtliche Werke, hg. von Karl Sudhoff, 1. Abt. 2. Bd., München – Berlin 1930, S. 227. Schindler (Badebüchlein, 1960; Anm. 4), S. 6. Schindlers Textzitate sind bisweilen sehr ungenau, und sie sind nicht an der Ausgabe Sudhoff verifiziert. Schindler gebraucht den etwas unglücklichen Begriff „Badetechnik“. Paracelsus, Bäderbüchlein, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 2 S. 230.
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Die Wirkungen der Wässer in den verschiedenen Bädern, die er beschreibt, sind wichtig; sie können aber durch Badezusätze gesteigert werden, wie etwa im Bäderbüchlein zu Bad Pfäfers beschrieben.52 Ein solches Geschehen führt auf den Arzt zurück und seine philosophische Einstellung53: Solcher beder art und eigenschaft lob ich zu erkennen < und > wissen an einem arzt, darin nit alein die medicin, sonder auch die philosophei, so einem arzt gebüren ist, gruntlich verfasset wird.
Die Persönlichkeit des Arztes – ob man wirklich von einem Badearzt sprechen sollte, bleibe dahingestellt – sowie die ärztliche Diagnose sind also für eine „Badenfahrt“ (wie man in dieser Zeit sagt) von hoher Bedeutung54: Es ist auch das höchst an einem arzet, der die kranken in die beder schikt, anfenglich zu wissen, ob der selbig krank in keinerlei weg durch andere arznei möchte geheilt werden, welche erkantnus treffentlich und groß ist.
Ein solches Arzt-Patient-Verhältnis hatte Paracelsus im Sommer 1535 gegenüber Johann Jakob Russinger, dem Abt von Pfäfers, dem er das berühmte Consilium zukommen ließ,55 aufgebaut. Bedeutend sind diese Seiten freilich nicht wegen der durchaus konventionellen Ratschläge, sondern wegen der so seltenen Gelegenheit, die tatsächliche Sprache des Hohenheimers zu studieren.56 Angelegentlich des Besuchs beim Fürstabt dürfte auch das kleine, auf den 31. August 1535 datierte, kaum 20 Seiten starke Buch Vonn dem Bad Pfeffers in Oberschwytz gelegenen / Tugenden / Krefften unnd würckung / Ursprung unnd herkommen / Regiment und Ordinantz entstanden sein.57 Als eine der wenigen Schriften ist dieses Werk zu Lebzeiten Theophrasts veröffentlicht worden. Die Einzelheiten sind allerdings nicht festzustellen.58 Man merkt den Zeilen den kirchlichen Auftraggeber an. Im Bäderbüchlein ist ganz einfach vom Feuer, das im Berg das vorbeifließende Wasser erhitzt, wobei „doch solich feur vom wasser nicht mag erlöscht werden“, die Rede; und weiter zum Wasser59: „und also von disem Aethna _____________ 52 53 54 55 56 57 58 59
Paracelsus, Bäderbüchlein, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 2 S. 249. Zur medizinischen Bedeutung der hier beschriebenen Gichtbehandlung s. Schindler (1960; Anm. 4), S. 8; S. 12. Paracelsus, Bäderbüchlein, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 2 S. 237–238. Paracelsus, Bäderbüchlein, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 2 S. 247. Paracelsus: Das Consilium für den Abt von Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48) I, 9, München 1925, S. 661–665 mit Abbildung der Handschrift. Meier (Paracelsus, 2004; Anm. 1), S. 93–94. Paracelsus, Von dem Bad Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9, München 1925, S. 639–659. Vogler, Paracelsus (1994; Anm. 4), S. 521. Paracelsus, Bäderbüchlein, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 2 S. 233.
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seinem gewonlichen gang nachgêt, bis es kompt auf die planities der erden.“ Im Buch zu Pfäfers liest sich die entsprechende Stelle so60: Wiewol in gutem wüssen ist, das got uf erden brünnent berg geschaffen hat, als etwan in Sicilien, als in Mißen den Kolberg und ander mer, die da ie und ie gebrunnen habent on ablöschlich von wasser.
Die Inhalte sind identisch; die Formulierung verständlicherweise anders. Die beiden Texte liegen vielleicht zehn Jahre auseinander – in dieser Zeit müsste sich schon ein erheblicher Schub an Frömmigkeit durchgesetzt haben, doch das ist nicht so leicht erkennbar. So hat die Annahme, Paracelsus habe einige religiöse Floskeln für den Kirchenfürsten eingebaut, einige Wahrscheinlichkeit für sich. Beim Bad Pfäfers liege – so Paracelsus – die eigentliche Kraft der Wirkung im Wasser61: „und das wasser ist die arzni, die der chirurgicus in allen verzwifleten krankheiten bruchen sol.“ Diese Feststellung wird später noch einmal bekräftigt mit dem Hinweis, dass man hier keine Stundenzahl des Verweilens benennen sollte62: So wüssent ouch das disem bad Pfeffers kein zal der stunt geben mag werden, dan und nach dem die krankheit ist, ouch des bads sterki der jarzit; dan nach sölicher kraft wird der ratschlag vom bad genomen und nit von doctorn. das bad regirt nach sinem willen.
Mit dieser Aussage stellt Paracelsus die Wirkungskraft des Wassers über die Entscheidungsfähigkeit der Ärzte. Das mindert die bereits angeklungene Arzt-Patient-Beziehung nicht; der Arzt ist und bleibt Ansprechpartner und Mittler. Denn die Badezeit muss auch nach dem Status des Patienten ausgemittelt werden63: „Darumb sol der krank, der in disem bad badet, nit nach gemeinem bruch sin badenfart usrichten, sunder nach dem bruch siner krankheit.“ Damit geht der Hohenheimer zumindest einen kleinen Schritt weiter als sein unmittelbarer Vorgänger Laurentius Phrisius resp. Lorenz Fries.64 Der hatte 1519 in deutscher Sprache seine auf Pietro di Tussignano gründenden Regeln veröffentlicht. In der zweiten Regel von Fries heißt es, man möge die Badezeit nicht sofort nach der Ankunft beim Maximum ansetzen, sondern von Tag zu Tag eine Stunde zugeben.65 Wo aber lag diese obere Grenze in dieser Zeit? Herzog Wilhelm von Sachsen verbrachte im Jahr 1476 in Wildbad täglich zwischen acht und neun Stunden _____________ 60 61 62 63 64 65
Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 644. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 649. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 655. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 650. Dazu Kramml (Heilbäder, 1994; Anm. 4), S. 533–534. – Fürbeth (Bäderwesen, 1994; Anm. 5), S. 471. Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 273; er zitiert S. 272–276 die gesamte Regel.
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im Bad; eine solche Zeit hat man auch 1513 wieder vorgeschlagen.66 Solche Badezeiten bringen auch für den gesunden Menschen hohe Belastungen mit sich; somit ist eine allmähliche Steigerung der Zeit im Bad durchaus sinnvoll. Ohnehin rät Lorenz Fries den von Haus aus oder altershalber schwachen Mitbürgern in der siebten Regel, nicht zu lange zu baden.67 Paracelsus hingegen geht spezifisch auf den Patienten ein, und so ist es auch logisch, dass er seiner Abhandlung eine Liste von Indikationen und Kontraindikationen beigibt.68 Auch ist seine Beobachtung, dass sich eine erhoffte medizinische Wirkung nicht mit einem Badeaufenthalt allein einstellen muss, sondern einen zweiten oder dritten nach sich ziehen kann,69 von großer Bedeutung im Sinne der Balneologie. Ein kleiner Ausblick Damit zeigen sich zwischen Theophrastus und seinen Vorgängern doch einige Unterschiede, die hier in einem kleinen Resümee zusammengetragen seien. Bei Paracelsus schlägt immer wieder die ärztliche Erhebung des Sachstandes durch. Insofern verwundert es schon, in der jüngeren Literatur zu Paracelsus zu lesen, es sei ausgeschlossen, dass er Arzt gewesen sei.70 Das Arzt-Patient-Verhältnis wird im Bäderbüchlein genau so thematisiert wie in der Schrift über Pfäfers. Des „doctors rat“71 tritt immer wieder in den Vordergrund, und die Badewässer können – ebenfalls nach ärztlichem Dafürhalten – mit bestimmten Wirkstoffen dotiert werden. Dies sind beachtliche Ansätze zu einer medizinischen Balneologie, die in den älteren Schriften vor Theophrastus so deutlich nicht zu finden sind. Dazu gesellen sich Beobachtungen, die vermutlich in dieser Zeit bei gelehrten Leuten allgemein bekannt gewesen sein dürften, nämlich dass Silber eine desinfizierende Wirkung hat.72 So hat man beispielsweise in der Sacra Infermeria auf Malta – das Spital war 1575 bezugsfertig – das Essen _____________ 66 67 68 69 70
71 72
Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 251; a.a.O. 82: Badezeiten in Wildbad 1521/1529 bei 5½ bis 8 Stunden. Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 274. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 651–654. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 650. Gundolf Keil: „Die medizinische Versorgung durch Bader und Wundärzte zur Zeit des Paracelsus“. In: Volker Zimmermann (Hg.), Paracelsus: Das Werk – die Rezeption: Beiträge des Symposiums zum 500. Geburtstag von Theophrastus Bombastus von Hohenheim, Genannt Paracelsus (1493–1541) an der Universität Basel am 3. und 4. Dezember 1993. Stuttgart 1995, S. 195. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 656. Paracelsus, Bäderbüchlein, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 2 S. 237.
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auf Silbergeschirr gereicht,73 eine im Sinne der Hygiene sehr wichtige Maßnahme. In manchen Punkten folgt Paracelsus seinen Vorbildern, ungeachtet der Frage, ob die Regeln sinnvoll sind oder nicht. Es versteht sich auch heute noch von selbst, dass man im Bad keine Völlerei betreiben und sich vor Zugluft schützen sollte: Paracelsus74 greift auf Fries zurück, aber er sagt nichts Neues. Die Vorschrift sexueller Enthaltsamkeit im Bad taucht ebenfalls im vorparacelsischen Schrifttum75 auf, während Pictorius in seinem Badenfahrtbüchlein von 1560 diese Regel ein wenig relativiert;76 man solle doch schließlich die Kräfte des Bades77 nicht verwirken! Paracelsus war auch nicht der Erste, der nach einer Ursache fragte78; auch da folgt er seinem direkten Vorbild Lorenz Fries. Der Hohenheimer beschränkt sich auf eine Balneologie heilbringender Wässer. Darüber gingen manche Ansätze früherer Zeiten wie z.B. spezifische Öl-, Wein- oder Milchbäder verloren. Auch eine rein physikalische Therapie, wie sie die Römer mit einer Folge unterschiedlicher klimatischer Reize in einem gesamthaften Badedurchgang übten, kannte Paracelsus nicht. Doch in diesem Punkt befindet er sich in bester Gesellschaft seiner Zeitgenossen. Das Alte Römische Reich praktizierte beides: Die nachgerade reichstmögliche Versorgung der Bürger mit bestem Frischwasser und eine ausgefeilte Balneologie, die sich nicht nur in der Wirkung der Heilbäder manifestierte. Die frühe Neuzeit erlebt nur einen Bereich: den guter Wasserversorgung.79 In der Balneologie hingegen ereignet sich nicht viel Neues. Georgius Pictorius benennt in seinem „Badenfahrtbüchlein“ von 1560 viele Autoritäten, unter ihnen Michele Savonarola (der war ein Onkel des 1498 hingerichteten Florentiner Dominikanermönchs Girolamo80), Theo_____________ 73 74 75
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Marianne Buttigieg-Jaklin: Malta. München 1993², S. 71. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 654. So Lorenz Fries in seiner 13. Regel: „du solt meiden das werck der liebe dweil du badest“; s. Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 276. Sein Gewährsmann Pietro da Tussignano hatte in seiner Regel von 1336 sexuelle Zurückhaltung vor Antritt der Kur gefordert, aber allzu große Enthaltsamkeit sei auch nicht angezeigt: vgl. Fürbeth (Heilquellen, 1997; Anm. 5), S. 22 Regel 4. Badenfahrtbüchlein: Wie und wo man richtig badet. Ein kommentierter, übersetzter und mit zeitgenössischen Bildern versehener Nachdruck des Werkes von D. Georgius Pictorius aus dem Jahre 1560. Freiburg – Basel – Wien 1980, S. 45. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48), I, 9 S. 654. So meint Schindler (Badebüchlein, 1960; Anm. 4), S. 12. Natürlich war das auch ein Beitrag zur Hygiene. Dazu allgemein: Uwe Gross: „Archäologische Beiträge zur Hygiene im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 24, 1995, S. 137–143. Schindler (Badebüchlein, 1960; Anm. 4), S. 3. – Klaus Zimmermanns: Florenz. Köln 1985³, S. 32f.
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phrastus und Fries.81 Und er referiert seinen „Conciliator“ – seinen Gewährsmann Petrus von Ebano – mit seinen drei unterschiedlichen Arten von Bädern, als da sind: 1. das trocken-warme Bad, 2. das heiße Dampfbad in der Badstube, 3. die Wasserbäder, beginnend mit dem Bad im Süßwasser.82
Weitere Arten der Badekultur kennt Pictorius offensichtlich nur vom Hörensagen: So das Bad mit Baumöl, zu dem er Montegnana und Avicenna bemüht, um dann noch hinzuzufügen, dass andere Leute meinten, dieses Bad sei wirkungsvoller, wenn man zuvor einen Fuchs oder einen Dachs im Öl gesotten habe.83 Ebenso unpersönlich benennt er die Bäder von Milch resp. aus Wein. Er scheint sie nicht zu kennen, denn es heißt bei ihm nur84: „so schreibt man“ resp. „darzu findt man geschrieben“. Richtig: Der erwähnte herzogliche Leibarzt Savonarola beschreibt unter anderem Öl-, Wein- und Milchbäder.85 Bäder mit frischer Stutenmilch hatten schon in der Antike große Bedeutung. So lästerte der große Satiriker Iuvenal (ca. 60–140 n.Chr.) über die Schönheitsmittel der feinen Damen, sie würden sich mit der warmen Milch waschen lassen, derenthalben sie Eselinnen mit sich führen, und würden sie auch an den Nordpol verbannt!86 Im Sinne einer strengeren medizinischen Indikation kennt das späte Mittelalter auch das Kräuterbad resp. das Kräuterdampfbad. Schon Pietro d’Abano (1250–1315) handelt in seiner Bäderkunde davon.87 Conrad Kieser zeichnet um 1405 ein Kräuter- und Dampfbad;88 um 1540 notiert L. Fries in seiner Badenfahrt eine Kräuterbadestube zu Heilzwecken,89 und in Zürich wird 1553 ein seit Langem bestehendes Bad zu einem Kräuterbad umgewidmet.90 Diese Beobachtungen verraten deutlich, dass die medizinische Indikation für bestimmte Bäder insgesamt eine große Rolle spielte. Von daher _____________ 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90
Badenfahrtbüchlein (Anm. 76), S. 16; die listenmäßige Erfassung a.a.O. S. 109. Pictorius, Badenfahrtbüchlein (Anm. 76), S. 16–18. Pictorius, Badenfahrtbüchlein (Anm. 76), S. 23–24. Pictorius, Badenfahrtbüchlein (Anm. 76), S. 24. Schindler, Badebüchlein, 1960; (Anm. 4), S. 3. Iuvenal, 6. Satire, 457ff. Ausführlicher zu dem gesamten Bereich: Werner Heinz: Baden, Salben und Heilen in der römischen Antike. Augst 1993 (Augster Museumshefte, 13) S. 24. Fürbeth, Bäderwesen, 1994; (Anm. 5), S. 464. Martin, Badewesen, 1906; (Anm. 3), S. 161 Abb. 74. Jüngst: Yegül (Bathing, 2010; Anm. 22), S. 217 Abb. 98. Auch: Wolfgang F. Reddig: Bader, Medicus und Weise Frau: Wege und Erfolge der mittelalterlichen Heilkunst. München 2000, Abb. S. 119. Martin, Badewesen, 1906; (Anm. 3), S. 98 Abb. 43. Martin, Badewesen, 1906; (Anm. 3), S. 160.
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verstehen sich die paracelsischen Hinweise auf die Bedeutung des Arztes sehr gut. Pictorius hingegen, der ja Theophrasts Arbeiten gekannt und einbezogen hat, lässt sich auch über das Verhalten bei Krankheiten91 aus; die ärztliche Kunst scheint bei ihm aber praktisch völlig in den Hintergrund zu treten. So zeichnet sich – nicht nur bei Paracelsus – gegenüber früheren Zeiten eine gewisse Verarmung des balneologischen Wissens ab, während gleichzeitig die Zahl der mit Bädern befassten Bücher gewaltig in die Höhe schnellt. In einer kleinen Übersicht können wir die Gegensätze zwischen der antiken (vornehmlich römischen) und der spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Balneologie wie folgt gegenüberstellen: •
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Die Antike verknüpft die Thermen im weitesten Sinn mit ärztlichem Wirken: Asklepiades von Bithynien wurde als „Kaltwasserdoktor“ apostrophiert; Antonius Musa rettete durch seine Balneotherapie den römischen Kaiser Augustus, was u.a. ein bis heute nachwirkendes Steuerprivileg für Ärzte mit sich brachte92 – in der frühen Neuzeit hingegen spielt im Badewesen die ärztliche Kunst außer bei Paracelsus praktisch keine Rolle.93 Die Antike kannte alle Arten von Bädern: Neben den Thermalbädern und den medizinischen Badekuren gab es den riesigen Bereich der „konventionellen“ Bäder, die ihre Wirkung allein aufgrund der physikalischen Reize, so einer durchdachten Abfolge von verschiedenen Temperaturen, die auf den Körper einwirken, verdankte.94 Im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit kannte man nichts dergleichen – nicht einmal mit der von den Römern bereits perfekt beherrschten Thermoreaktion konnte man umgehen, wie die Vorschriften, nach dem Bad im Bett zu schwitzen,95 beweisen. Die Römer schafften dank der baulichen Organisation ihrer Bäder an geeigneter Stelle die notwendige Abkühlung, die ein unkontrolliertes Nachschwitzen verhinderte. Ein letzter Punkt: Das Bad im Sinne genereller Prävention – auch das wiederum ein Begriff aus unserer heutigen Medizin96 – und „der konstitutionellen Therapie“97 einzusetzen, ist ebenfalls ein Interesse der Antike, nicht der späteren Zeiten. Dafür spricht schon die schiere Häufigkeit dieser Bäder bei
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Pictorius, Badenfahrtbüchlein (Anm. 76), S. 46–54. Heinz, Balneologie (ANRW 1996; Anm. 23), S. 2424–2426. Heinz, Baden (1993; Anm. 86) S. 30–35. Das ärztliche Wissen um Wirkung und Wirksamkeit eingesetzter Methoden ist in der modernen Balneologie eine feste Forderung: Wolfgang Schnizer: „Balneotherapie“. In: Hans-Dieter Hentschel (Hg.), Naturheilver-fahren in der ärztlichen Praxis. Köln 1991, S. 275. Heinz, Balneologie (ANRW 1996; Anm. 23), S. 2412–2415 und S. 2426–2429. So etwa Pietro da Tussignano: Fürbeth (Heilquellen, 1997; Anm. 5), S. 22 zu Regel 8. Lorenz Fries (1519) in seiner neunten Regel: Martin (Badewesen, 1906; Anm. 3), S. 274. Zur Verbindung: Heinz, Balneologie (ANRW 1996; Anm. 23), S. 2426. Heinrich Vogt und Walther Amelung: Einführung in die Balneologie und medizinische Klimatologie (Bäder- und Klimaheilkunde). Berlin, Göttingen und Heidelberg 1952², S. 2.
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den Römern. Das mit den regelmäßigen Badedurchgängen verbundene iterative Verfahren bedeutete zugleich auch eine Beherrschung der Badereaktion, die ja in der Regel erst einmal eine Verschlechterung des Allgemeinbefindens bedeutet.98 Dass deswegen wiederholte Badeaufenthalte erforderlich sind, hat als einer der wenigen – wie oben erwähnt – Paracelsus erkannt.99
Die Balneologie steht somit zu des Hohenheimers Zeiten und auch nach ihm nicht gerade auf sehr hohem Niveau. Sehr viel von dem Wissen, das die Römer einst hatten, war im frühen Mittelalter verloren gegangen und auch am Ende des Mittelalters noch nicht wieder erobert worden – das musste noch lange auf sich warten lassen. Paracelsus gleitet mit im Hauptstrom, hebt sich aber durch sein generelles ärztliches Engagement, das sonst in dieser Zeit so nicht zu finden ist und das er sicher seinem besonderen Blickwinkel und nicht etwa historischer Kenntnis zu verdanken hat, wohltuend von seiner Umgebung ab.
Literaturverzeichnis Ackerman, James S.: Palladio. Stuttgart 1980. Alberti, Leon Battista: De re aedificatoria. Verfasst ca. 1452, veröff. 1485. Übersetzung durch Max Theurer: Zehn Bücher über die Baukunst. Darmstadt 1975. Balestracci, Duccio: „Die Entwicklung der städtischen Wasserversorgung in Italien vom 12. bis 15. Jahrhundert“. In: Frontinus-Gesellschaft (Hg.): Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit. Mainz 2000 (Geschichte der Wasserversorgung; 5) S. 61– 98. Benedikt von Nursia: S. Benedetto, La Regola. Testo, versione e commento a cura di Anselmo Lentini. Montecassino ³1994. Bittel, Kurt, Wolfgang Kimmig und Siegwalt Schiek (Hgg.), Die Kelten in BadenWürttemberg. Stuttgart 1981. Braunfels, Wolfgang: Abendländische Klosterbaukunst. Köln 1969. Buttigieg-Jaklin, Marianne: Malta. München ²1993. Cassiodor Senator: Variae Buch IX. Vgl. dazu jetzt: Briefe des Ostgotenkönigs Theoderich der Große und seiner Nachfolger: Aus den „Variae“ des Cassiodor. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Peter Dinzelbacher. Heidelberg 2010. Clark, Raymond J.: „Peter of Eboli and the Roman baths of Puteoli“. In: Janet DeLaine und David E. Johnston (Hgg.): Roman Baths and Bathing, Part 1: Bathing and society. Portsmouth 1999 (Journal of Roman Archaeology, Suppl. 37 Teil 1), S. 147–151. Dopsch, Heinz und Peter Franz Kramml (Hgg.): Paracelsus und Salzburg: Vorträge bei den Internationalen Kongressen in Salzburg und Badgastein anläßlich des Paracelsus-Jahres 1993. Salzburg 1994.
_____________ 98 99
Vogt – Amelung (Anm. 97), 169–170. Paracelsus, Pfäfers, ed. Sudhoff (Anm. 48) I, 9 S. 650.
Balneologisches Wissen zwischen Antike und früher Neuzeit
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Wahn und Wahnsinn im 16. Jahrhundert. Nebst einem Blick auf die Behandlung psychischer Störungen bei Paracelsus Peter Mario Kreuter
Abstract Dieser Vortrag soll zwei Aspekten von Wahnsinn besondere Aufmerksamkeit schenken. Zum einen geht es um den Wahnsinn als solchen (nehmen wir einfach mal an, es gäbe ihn so) und den damaligen Blick auf diesen, besonders vonseiten derjenigen Historiker, die sich mit geistesschwachen Herrscherpersönlichkeiten auseinandersetzen mussten. Damit wird zugleich das Problem der Quellen angesprochen, denn allzu oft wird reziprok etwas als Wahnsinn oder Geisteskrankheit zu identifizieren gesucht, das auch eine andere Interpretation zulassen könnte. Zum anderen darf die originelle und ganz seinem medizinischen Konzept entsprungene Hexenlehre des Paracelsus nicht fehlen – ohne das Wort „Hexenwahn“ überstrapazieren zu wollen, zeigte der zugleich medizinische und doch auch menschliche Blick des Hohenheimers, dass Hexen wie kranke und besessene Menschen kurierbar waren, nämlich mit christlicher Medizin. This paper focuses on two aspects of madness (assuming that “madness” exists just like that). On the one hand, there is madness as such and the contemporary view of it, especially by historians who had to write about mentally deficient princes. Here there is the problem of sources, which sometimes allow a different interpretation. On the other hand, there is the madness of accused witches, where the medical theory of Paracelsus proved really inventive. While fitting perfectly into his overall medical conceptions, it showed that witches were as curable as other ill or possessed persons, all of whom could all respond to the use of Christian medicine.
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1. Retrospektive Diagnosen sind eine gefährliche Sache.1 Zu leicht wird etwas mit den Maßstäben von heute beurteilt, das nur mit den Maßstäben der eigenen Epoche beurteilt werden dürfte ... Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment vor, Paracelsus würde heute auf einem Psychiater-Kongreß mit dem Wissen und den Erfahrungen aus seiner Zeit zu uns sprechen – wir würden ihn nicht verstehen und die meisten KongreßTeilnehmer würden ihn wahrscheinlich für verrückt halten. Nur wenig besser übrigens erginge es uns, könnten wir das Rad der Geschichte zurückdrehen und würden wir mit unserem Wissen von heute vor den Zeitgenossen des Hohenheimers über psychiatrische Themen sprechen.2
*** In seiner umfassenden Studie zum Wahnsinn in deutschen Herrscherhäusern im 16. Jahrhundert beschrieb H. C. Erik Midelfort die Probleme, mit denen der Historiker konfrontiert wird, wenn er sich diesem Themenkomplex nähert. Schon der Begriff Wahnsinn ist freilich wegen seiner Ungenauigkeit umstritten. Psychiater befassen sich heute nicht mit „dem Wahnsinn“, sondern mit Geisteskrankheiten, Psychosen oder Gemütsleiden; Juristen sprechen von Unzurechnungsfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit, Theologen eher von Entfremdung oder Angst. Den Wahnsinn thematisieren eigentlich nur Historiker sowie konstruktivistische Sozial- und Kulturwissenschaftler, denen es – wie mir – darum geht, ein breites Spektrum von Geistes- und Gemütsstörungen, geistigen Regelverletzungen und Anomalien in den Blick zu nehmen, ohne bestimmte Geisteszustände oder Verhaltensweisen im voraus als krank, unmoralisch oder nicht zurechenbar einzustufen.3
Midelfort hat damit eine zwar nur vage, aber eben doch eine Definition des Begriffs Wahnsinn geliefert, wie er als Arbeitshilfsmittel im Sinne der historischen Forschung zu verstehen sei und auch für die nun folgenden Ausführungen verstanden werden soll. Immer wieder sind Wahn und Wahnsinn bzw. Geisteskrankheit als ein medizinisches oder kulturelles Konstrukt gebrandmarkt worden. Von medizinischer Seite aus hat sich Thomas Stephen Szasz (geb. 1920), Pro_____________ 1 2 3
Vgl. hierzu Karl-Heinz Leven: „Krankheiten – historische Deutung versus retrospektive Diagnose“. In: Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven. Hrsg. v. Norbert Paul u. Thomas Schlich. Frankfurt a. M. und New York 1998, S. 153–185. Gerhart Harrer: „Paracelsus und die psychischen Erkrankungen“. In: Paracelsus (1493– 1541). „Keines andern Knecht ...“. Hrsg. v. Heinz Dopsch, Kurt Goldammer u. Peter F. Kramml. Salzburg 1993, S. 101–107, hier S. 107. Hans Christian Erik Midelfort: Verrückte Hoheit. Wahn und Kummer in deutschen Herrscherhäusern. Stuttgart 1996, S. 17f.
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fessor für Psychiatrie an der Syracuse University in New York, kritisch geäußert und in mehreren Büchern Geisteskrankheit einen von Menschen geschaffenen Mythos genannt.4 Dem hingegen sieht Szasz „mental health as ideology“ an.5 Geisteskrankheit als kulturelles Konstrukt ist eines der Hauptthemen im Werk von Michel Foucault (1926–1984).6 Bereits in seiner frühesten Schrift von 1954 heißt es dazu: Par delà la pathologie mentale et la pathologie organique, il y a une pathologie générale et abstraite qui les domine l’une et l’autre, leur imposant, comme autant de préjugés, les mêmes concepts, et leur indiquant les mêmes méthodes comme autant de postulats. Nous voudrions montrer que la racine de la pathologie mentale ne doit pas être cherchée dans une quelconque „métapathologie“, mais dans un certain rapport, historiquement situé, de l’homme à l’homme fou et à l’homme vrai.7
Betrachtet man die Vielzahl der Fälle, in denen Herrscherpersönlichkeiten ein merkwürdiges, melancholisches, blödes, gar wahnwitziges Verhalten vorgeworfen wurde, so kann der Charakter der Konstruktion in einer Vielzahl von Fällen nicht von der Hand gewiesen werden. Das prominente Beispiel Kaiser Rudolfs II. soll hier stellvertretend stehen. Und doch ... was ist es dann, das Paracelsus in mehreren seiner Werke bespricht? Hat auch er sich in Schriften wie Von den kranckheyten / so die vernunfft berauben an der Konstruktion von Wahnsinn beteiligt?8 Oder ist er selber einer solchen Chimäre aufgesessen? Sind „S. Veyts Thanz / Hinfallender siechtage / Melancholia und Unsinnigkeit / etc.“9 gar nichts Existentes gewesen? Schließen wir diese Gedanken zum Anfang mit einem Zitat Roy Porters ab, das der Einleitung seines Buches Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte entnommen ist. Der hier folgende historische Abriß [...] versucht nicht, echten Wahnsinn zu definieren oder die Natur von Geisteskrankheit zu ergründen.
_____________ 4 5 6 7 8 9
Thomas Szasz: The Myth of Mental Illness. New York 1961; ders.: The Manufacture of Madness. New York 1970; ders.: The Age of Madness. The History of Involuntary Mental Hospitalization Presented in Selected Texts. London 1975. Ders.: Ideology and Insanity. Essays on the Psychiatric Dehumanization of Man. Garden City, NJ 1970, S. 69. Michel Foucault: La folie et la déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1961. Ders.: Maladie mentale et psychologie. Paris 42008, S. 2. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Band 2: Frühe Schriften zur Heilmittellehre. Hg. v. Karl Sudhoff. München und Berlin 1930, S. 391–455. So zu lesen auf dem Titelblatt der von Adam von Bodenstein besorgten Basler Ausgabe von 1567.
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Vielmehr begnügt er sich mit einer kurzen, klaren und vorurteilslosen Darstellung ihrer Geschichte. Doch auch diese Vergangenheit der Psychiatrie ist heftig umstritten, genau wie ihr wissenschaftlicher Status.10
2. Doch nicht nur die genaue Bestimmung dessen, was mit dem Begriff Wahnsinn gemeint ist, bereitet Probleme. Nicht minder schwierig stellt sich die Quellensituation dar. Das gilt bereits für einige der namentlich bekannten Einzelfälle, wie sie H. C. Erik Midelfort untersucht hat – zwar findet man zu Herzog Albrecht Friedrich von Preußen (reg. 1568–1618) oder Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg (reg. 1539–1592) umfangreiche Bestände in den Archiven vor, die den ihnen nachgesagten Wahnsinn zu belegen scheinen, doch ist stets die kritische Lektüre angebracht, denn rasch war im angespannten Klima der Reformation oder im Falle von Erbstreitigkeiten der Wahnsinn bei der Hand, um einen missliebigen Verwandten zu diskreditieren, unter Aufsicht zu stellen oder ein ansonsten als ungewöhnlich betrachtetes Verhalten zu sanktionieren.11 Mehr noch aber trifft dies für Untersuchungen zu, die versuchen, dem Wahnsinn im Leben der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten auf die Spur zu kommen. So gibt es zwar neben Leprosorien, Siechenhäuser und Spitalbauten aller Art seit dem Spätmittelalter auch Orte, wo die Wahnsinnigen hingebracht werden, doch ein Haus allein für ungeschikte leut sucht man zunächst vergeblich – zum Wegsperren von psychisch auffälligen Personen dienten bis ins 16. Jahrhundert vor allem Türme, Kerker und Verliese, auch wenn schon 1247 in England mit St. Mary of Bethlehem („Bedlam“) ein Spital, das wohl seit 1377 auch geistig verwirrten Menschen die Aufnahme ermöglichte, entstand12 und im 15. Jahrhundert in Spanien eine ganze Reihe von Irrenanstalten unter religiöser Leitung eröffnet wurde.13 Im 16. Jahrhundert ist es im Heiligen Römischen Reich üblich geworden, geistig verwirrte Menschen in den Spitälern der Stadt _____________ 10 11
12 13
Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Frankfurt a. M. 2007, S. 10 (Hervorhebungen im Original). Midelfort: Verrückte Hoheit, S. 40, nennt als interessantes Beispiel den bayerischen Herzog Wilhelm V. den Frommen (reg. 1579–1597), der als überzeugter Katholik zwar in strenger Askese lebte und nicht nur Kirchenbauten und Armenfürsorge förderte, sondern sich selbst auch regelmäßig kasteite und immer mehr von der Welt zurückzog, dabei aber eher die gegenreformerische Position übertrieb denn an Wahnsinn litt. Die Gründung des „Bethlem Hospital“, das dann im eigentlichen Sinne der Betreuung der Geisteskranken zugedacht war, erfolgte allerdings erst im Jahre 1546, vgl. Dieter Jetter: Grundzüge der Hospitalgeschichte. Darmstadt 1973, S. 52f. Porter: Wahnsinn, S. 91.
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unterzubringen, die dort ja nur eine Patientengruppe unter vielen waren. Und so finden sich nur sehr summarische und unvollständige Angaben über wahnsinnige Patienten in den Spitälern der Zeit. Ebenso erfahren wir kaum etwas über diejenigen, die, wenn überhaupt, solche Menschen medizinisch betreut haben. Dennoch, im 16. Jahrhundert scheint hie und da einmal ein Narrenarzt in den Quellen auf, meist aber nur schlaglichtartig, nie über einen längeren Zeitraum beobachtbar. Ein solcher Narrenarzt ist für Nürnberg dokumentiert. In aller Kürze lässt sich dieser quellentechnische Glücksfall wie folgt zusammenfassen: Freilich tauchte 1539 in Nürnberg ein Spezialist als sogenannter Narrenarzt auf: Meister Peter Mayr, der sich anheischig machte, den närrischen Leuten wieder zu der Vernunft zu helfen; man überließ ihm zwei Personen im Spital, die er dermaßen kurierte und ihnen half, daß sie wieder gesund wurden und bei guten Sinnen und Vernunft waren; doch muß es später weniger gut mit seinen Erfolgen gewesen sein, denn ein Jahr später bat der Rat ihn, seinen Pfennig anderswo zu zehren!14
Wer dieser Peter Mair (so die häufigste Variante des Namens, die sich in den Quellen findet, doch ist auch Meir und Mayr für ihn belegt) tatsächlich war und woher er kam, lässt sich nicht feststellen. Sicher ist, dass er im Frühherbst 1539 beim Inneren Rat der Freien Reichsstadt Nürnberg um Zulassung als Arzt und um einen Vertrag ansuchte. Da dies für Nichtbürger Nürnbergs nur auf vorherige Einladung durch den Inneren Rat möglich war, darf man annehmen, dass er zumindest einem der 26 Ratsmitglieder bekannt gewesen sein muss, das dann für eine solche Einladung sorgte.15 Jedenfalls wurden ihm am 13. Oktober 1539 zwei Bewohner aus dem Spital zum Heiligen Geist übergeben,16 damit er sie kuriere, denn, so die Begründung, er behaupte ja, dies zu können, wie von ihm vorgebrachte Dokumente ja auch bezeugen würden.17 Das Resultat dieser Behandlung liest sich wie folgt: Die zwen, so dem narrenarzt maister Petern zu curiren undergeben und gesundt worden, also das sie wider bey guten synnen und vernunfft sint, soll man wider zu iren weibern und haushaltungen kommen lassen, und dem spitlmaister bevel-
_____________ 14 15 16 17
Theodor Kirchhoff: Geschichte der Psychiatrie. Leipzig u. Wien 1912, S. 36. George Windholz: „The Case of the Renaissance Psychiatrist Peter Meir“. In: Sixteenth Century Journal 22, H. 2 (1990), S. 163–172, hier S. 165. Ernst Mummenhoff: Die öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege im alten Nürnberg. Neustadt a. d. Aisch 1986, S. 60 [Unveränderter Nachdruck aus „Festschrift zu Eröffnung des neuen Krankenhauses der Stadt Nürnberg“, 1898]. Staatsarchiv Nürnberg (StAN), Reichsstadt Nürnberg, Verlässe des inneren Rates, Nr. 908, fol. 22v; zitiert nach Windholz: „The Case“, S. 165.
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hen, mit dem arzt ze handlen und seiner belonung halben abzekomen, wöll mans ime volgends von meiner herrn wegen wider erstatten.18
Am 8. Dezember 1539 wurde Peter Mair die Erlaubnis erteilt, als Arzt zu praktizieren, doch erhielt er keinen Vertrag, sondern musste auf Honorarbasis arbeiten.19 Zunächst scheint er so auch einige Erfolge verbucht zu haben, denn es wird nicht nur die Zahlung von 20 Gulden in den Quellen erwähnt, sondern auch sein (allerdings gescheiterter) Versuch, Bürger der Freien Reichsstadt Nürnberg zu werden, den er sicherlich nicht unternommen hätte, wenn dies von vornherein aussichtslos gewesen wäre. Auch gelang es ihm, Patienten aus den höhergestellten Schichten der Stadt zu gewinnen, gut zu erkennen an dem Umstand, dass mit einem Mal nicht mehr von anonymen Personen die Rede ist – die „Narren“ bekommen Namen. Das allerdings sollte Peter Mair zum Verhängnis werden, denn nun wurde ihm viel genauer auf die Finger geschaut.20 Offenkundig behandelte er eine der Töchter von Dorothea von Senckendorff-Nold, der Witwe des fränkischen Ritters Erkinger von Senckendorff-Nold. Diese Behandlung verlief nicht zufriedenstellend, es kam zum Disput über die Bezahlung, die Sache gelangte vor den Inneren Rat, und dessen Entscheidung vom 17. September 1540 drückte sehr deutlich eine Unzufriedenheit aus, die nicht nur mit dem aktuellen Fall zu tun hatte: „Peter Meirn, dem artzt sagen, er sol der Senckendorferin das ir folgen lassen, und an den erpotnen 5 fl. zufriden sein, ime auch seins arzneiens halben meiner herrn missfallen anzeigen.“21 Der weitere Gang der Dinge verlief für Peter Mair katastrophal schlecht, und am 28. September 1540 wurde ihm mitgeteilt, dass er Nürnberg zu verlassen habe. So plötzlich, wie Peter Mair in den Quellen auftaucht, so plötzlich ist er auch wieder verschwunden. Und mit ihm verschwinden auch seine Patienten aus den Quellen. Zu gerne hätte man gewusst, wie er „Narrenarzt“ wurde, und wer ihm dies schriftlich beglaubigt hat. Wer waren seine Patienten aus den Spitälern? An welchen psychischen Störungen litten diese? Wie wurde dies erklärt? Wie wurden sie behandelt, bevor Peter Mair sich ihrer annahm? Wie hat er sie letztlich behandelt? Fragen über Fragen,22 deren Beantwortung nicht mehr möglich _____________ 18 19 20 21 22
StAN, Reichsstadt Nürnberg, Verlässe des inneren Rates, Nr. 910, fol. 9; zitiert nach Windholz: „The Case“, S. 166. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Verlässe des inneren Rates, Nr. 910, fol. 17v; zitiert nach Windholz: „The Case“, S. 167. Leider geben die Quellen auf die Frage nach seinen Behandlungsmethoden nur sehr wenig her. Neben der Urinschau wird lediglich erwähnt, dass er Rezepte ausgestellt habe. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Verlässe des inneren Rates, Nr. 921, fol. 2; zitiert nach Windholz: „The Case“, S. 168. Hans Christian Erik Midelfort: A History of Madness in Sixteenth-Century Germany. Stanford, CA 1999, S. 2.
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ist. Und doch belegt der Fall Peter Mair zumindest eines – Spezialisten für Geisteskrankheiten, wie auch immer sie dazu geworden sind, hat es damals schon gegeben. Nicht umsonst legte Peter Mair Wert darauf, dies dem Inneren Rat schriftlich bestätigen zu können. Ein anderes Problem, das sich bei der Beschäftigung mit Krankheit in der Frühneuzeit auftut, ist im weitesten Sinne ein terminologisches. Wie wird eine Krankheit benannt bzw. genannt? Werden hier nicht möglicherweise unterschiedliche Krankheiten unter einem Namen zusammengefasst? Oder wird vielleicht auch umgekehrt eine einzige Krankheit mit verschiedenen Namen versehen? Die bis heute anhaltende Debatte, ob der in Europa zwischen 1347 und 1351 wütende „Schwarze Tod“ identisch mit der Pest sei oder nicht, zeigt auch hier die Schwierigkeit einer genauen Identifikation der Epidemie auf.23 Vielleicht war die durch Yersinia pestis hervorgerufene Pest tatsächlich die Hauptursache des Massensterbens, doch dies im Verbund mit anderen Krankheiten wie Pocken oder Milzbrand, so eine der vielen Hypothesen.24 Oder es war eine Form der Pest, die wir heute so nicht mehr kennen.25 Es kann aber auch die uns heute noch bekannte Pest sein, und all die Fragen, die sich aus den Quellen ergeben, lassen sich bei einer erneuten und kritischen Lektüre beantworten.26 Ähnliche Verwirrungen lassen sich im Falle einer Erkrankung beobachten, die immer wieder mit Wahnsinn und Verrücktheit in Zusammenhang gebracht wird – die Rede ist vom Veitstanz. Dabei kann es sich um die autosomal-dominant vererbte, neuro-degenerative und bis heute unheilbare Chorea Huntington (früher erblicher Veitstanz genannt, auch Chorea major) mit ihren im Spätstadium typischen, tanzartigen und schleudernden Bewegungen der Gliedmaßen und dem Grimassieren der Gesichtsmuskeln handeln, aber auch um Chorea Sydenham (Chorea minor), die postinfektiös-autoimmun ausgelöste Chorea. Mithilfe moderner Möglichkeiten der Diagnostik kann die Krankheit heute eindeutig bestimmt werden. Doch im 16. Jahrhundert war man allein auf die Symptome angewiesen, eben auf die Hyperkinesien und den Mangel an motori_____________ 23 24 25
26
Zu dieser Frage ausführlich David Herlihy: Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas. Berlin 1997. Eduard Seidler u. Karl-Heinz Leven: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege. Stuttgart 72003, S. 122–123. Eine gute Zusammenfassung der Debatte bietet Samuel K. Cohn Jr.: „The Black Death: End of a Paradigm“. In: The American Historical Review 107, H. 3 (2002), S. 703–738. Eine neue Studie, die über den Nachweis von Spuren der DNS des Pesterregers in Skeletten aus Massengräbern Auskunft gibt, ist die von Michel Drancourt et al: „Yersinia pestis Orientalis in Remains of Ancient Plague Patients“. In: Emerging Infectious Diseases 13, H. 2 (2007), S. 332f. Klaus Bergdolt: Die Pest. Geschichte des Schwarzen Todes. München 2006, bes. S. 11–19.
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scher Persistenz. Ist aber alles, was in den Quellen als „Veitstanz“ identifiziert wird, auch wirklich Huntington oder Sydenham? Daran gibt es berechtigte Zweifel, sodass Justus Hecker den Begriff „Tanzwuth“ vorzog und in seinem gleichnamigen Werk sowohl vom St. Johannistanz als auch vom St. Veitstanz sprach und diese in jeweils einem eigenen Kapitel behandelte.27 Bei Alfred Martin werden die definitorischen Probleme nicht geringer – für ihn handelt es sich primär um eine Krankheit, die von anderen Menschen nachgemacht und so zu einem Massenphänomen wurde: Der Veitstanz als Krankheit, mit dem wir es zu tun haben, ist eine Hysterie. Er heisst auch der grosse Veitstanz und führt den wissenschaftlichen Namen Chorea hysterica rhythmica. Sicher fanden sich unter den Veitstänzern auch ausgesprochene Geisteskranke: Maniakalische (im heutigen Sinne) mit grossem Bewegungsdrang und froher Stimmung, chronisch Verrückte, die infolge von Wahnideen tanzten, Katatoniker mit dauernd wiederholten Bewegungen einzelner Körperteile. Das waren wohl die Kranken, die in Strassburg den Tanz begannen, denen es Hysterische nachmachten, und vor allem waren sie es, die sich zu Tode tanzten.28
H. C. Erik Midelfort hält es für möglich, wenn auch nicht für bewiesen, dass es sich beim St. Veitstanz um die Überreste eines alten Besessenheitsrituals handelt,29 was natürlich jede Identifizierung mit einer bestimmten Krankheit von vornherein sinnlos macht. Doch nicht nur die Frage der Begrifflichkeit kann im Hinblick auf bestimmte Krankheitsbilder verwirrend wirken. Ebenso gut ist es möglich, dass manches, was im 16. Jahrhundert als Melancholie bezeichnet wurde, einen Gemüts- oder Krankheitszustand beschreibt, den es heute nicht mehr gibt. Zwar ist dies nur eine Hypothese, doch zeigt das Beispiel des Englischen Schweißes (Sudor anglicus), dass Krankheiten nicht nur plötzlich auftauchen, sondern auch rasch wieder verschwinden können. In fünf Wellen suchte der Englische Schweiß im 15. und 16. Jahrhundert England und weite Teile des Festlandes heim. 1485 wurde im Heer Heinrichs von Richmond, der wenig später als Heinrich VII. (reg. 1485–1509) der erste Tudor-König von England werden sollte, diese Krankheit das erste Mal beobachtet.30 1507 und 1518 kommt es zu weiteren epidemischen Ausbrüchen mit zahlreichen Todesopfern. 1528 bricht sie erneut in England aus, um dann im Sommer 1529 über Hamburg auch auf das Festland zu gelangen und sich rasch über das ganze deutschsprachige Reichsgebiet, die _____________ 27 28 29 30
Justus Friedrich C. Hecker: Die Tanzwuth, eine Volkskrankheit im Mittelalter. Nach den Quellen für Ärzte und gebildete Nichtärzte bearbeitet. Berlin 1832. Alfred Martin: „Geschichte der Tanzkrankheit in Deutschland“. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 24 (1914), S. 113–134 und S. 225–239, hier S. 128 (Hervorhebung im Original). Midelfort: A History of Madness, S. 46–49. Kay Peter Jankrift: Krankheit und Heilkunde im Mittelalter. Darmstadt 2003, S. 131f.
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Niederlande, das Elsass, Skandinavien und das Baltikum auszubreiten.31 Nach dieser Heimsuchung brach die Krankheit aber nie wieder außerhalb Englands aus, und selbst dort kam es nur noch einmal, in den Jahren 1551 und 1552, zu einer Epidemie. Danach verschwand der Englische Schweiß für immer aus der Geschichte. Die Krankheit war nicht nur hochansteckend, sondern zeichnete sich auch durch eine sehr kurze Inkubationszeit aus. Ein bis zwei Tage nach einem Kontakt mit Kranken zeigten sich erste Symptome wie Schüttelfrost, hohes Fieber, Herzrasen, Magenkrämpfe, denen nach einigen Stunden ein plötzliches Hitzegefühl mit quälendem Durst und dem charakteristischen, übel riechenden Schweiß folgte. Bläschenförmige Hautausschläge wurden beobachtet, scheinen aber nicht durchgängig vorhanden gewesen zu sein.32 Offenbar starben die Infizierten an Kräftemangel und Kreislaufversagen, und diejenigen, die überlebten, entwickelten keine Immunität. Als Therapie galt Schlafentzug – nach den Quellen starben die meisten Infizierten im Schlaf, und diesen zu unterbinden war das Ziel von Quälereien wie Nadelstiche oder Rutenstreiche.33 Was nun diese Krankheit genau war bzw. was sie hervorgerufen hat, ist bis heute ungeklärt, ebenso wie ihr plötzliches Verschwinden.34 Nicht lange nach dem ersten Ausbruch verfasste Thomas Forestier einen Traktat über diese Krankheit,35 und 60 Jahre später trug John Caius in seiner Studie alles Wissen zusammen, das man bislang über den Englischen Schweiß erlangt hatte.36 Von Pest über Malaria und Typhus, von Grippe über Lebensmittelvergiftungen bis hin zu Arbo- und Enteroviren wurden die verschiedensten Ursachen in Betracht gezogen – vergeblich.37 In jüngster Zeit wurden Hantaviren ins Gespräch gebracht.38 Auch Milzbrand wurde ein Kandidat.39 Möglicherweise war es eine der genannten Krankheiten. Doch vielleicht auch nicht, denn die Quellenbasis hat sich durch jüngste Studien _____________ 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Kay Peter Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter. Darmstadt 2005, S. 107. „Englischer Schweiß erfaßt Europa“. In: Die Chronik der Medizin. Hg. v. Heinz Schott. Dortmund 1993, S. 143. Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie, S. 107f. Guy Thwaites, Mark Taviner u. Vanya Gant: „The English Sweating Sickness, 1485 to 1551“. In: The New England Journal of Medicine (336) 1997, S. 580–582, hier S. 580. Thomas Forestier: Tractatus contra pestilentiam thenasmonem et dissinteriam. Rouen 1490. John Caius: A boke, or counseill against the disease commonly called the sweate or sweating sicknesse. London 1552. Thwaites, Taviner, Gant: „The English Sweating Sickness“, S. 580. Eric Bridson: „The English ‚sweate’ (Sudor Anglicus) and the Hantavirus Pulmonary Syndrome“. In: British Journal of Biomedical Science 58, H. 1 (2001), S. 1–6. Edward McSweegan: „Anthrax and the Etiology of the English Sweating Sickness“. In: Medical Hypotheses 62, H. 1 (2004), S. 155–157.
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verbreitert, und diese Arbeiten zeichnen ein differenzierteres Bild. Forschungen zur letzten Epidemie von 1551, die über die Kirchenbücher auch statistisch gut fassbar ist, zeigen, dass viele bislang gemachten Angaben über Zahl und vor allem Herkunft der Opfer nicht zu stimmen scheinen – es ist keineswegs so, dass vor allem Männer zwischen 15 und 49 am Englischen Schweiß starben.40 Auch darf nicht vergessen werden, dass alle Epidemien bis auf die von 1507 mit einem Ausbruch der Pest einhergingen.41 Was auch immer diese Krankheit gewesen sein mag – Sudor anglicus bleibt eines der großen Mysterien der Medizingeschichte. 3. Besser scheint die Quellenlage immer dann zu sein, wenn sich das Interesse denjenigen zuwendet, die sowieso im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen oder gar, wie Kaiser und Papst, Fürsten und Stadtpatriziat, selber für die Quellen verantwortlich sind, mit denen sich dann ganze Generationen von Historikern beschäftigen. Selbstverständlich ist auch hier, wie bereits erwähnt, Vorsicht geboten – nicht alles, was in den Quellen „verrückt“ oder „wahnsinnig“ apostrophiert wird, muss wirklich im pathologischen Sinne auch auf eine psychische Störung schließen lassen. Allzu oft waren politische Kabalen oder persönlicher Lebenswandel der Auslöser für solch eine Verleumdung. Nachgerade ein Klassiker unter den (angeblich) verrückten Potentaten ist Kaiser Rudolf II. (reg. 1576–1611/1612). Keine Krankengeschichte des Hauses Habsburg, die sich nicht lang und breit über den „Sonderling, eher dem Okkultismus, der Astrologie und den Geheimwissenschaften zugewandt“,42 auslassen würde. Und Rudolf-Biografen wie auch Autoren von Überblickswerken zur Geschichte der Donaumonarchie müssen sich mit der Frage nach einer möglichen Geisteskrankheit des Kaisers auseinandersetzen und dabei Position beziehen. Er war nie geisteskrank in der klinischen Bedeutung des Wortes, außer vielleicht zwischen 1600 und 1606, als er eine kurze Zeit hindurch an „Anfällen von Me-
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Alan Dyer: „The English Sweating Sickness of 1551: an Epidemic Anatomized“. In: Medical History 41 (1997), S. 362–384, hier S. 375–378. John F. D. Shrewsbury: A History of Bubonic Plague in the British Isles. Cambridge 1970, S. 168. Hans Bankl: Die kranken Habsburger. Befunde und Befindlichkeiten einer Herrscherdynastie. München 42004, S. 44.
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lancholie“ litt, d.h. depressiven Krisen, von denen er sich aber immer wieder rasch erholte.43
Jean Béranger, der den Kaiser sonst eher mit Worten wie „Nonkonformist“44 beschreibt, müht sich hier sichtlich um eine ausgleichende Position. Noch vorsichtiger äußerte sich einige Jahre zuvor R. J. W. Evans. It is doubtful whether Rudolf was in fact ever mad in any serious technical sense; certainly not for longer than brief intervals, as for a time during 1600 or 1606, while much hinges on the meaning, which contemporaries attached to words like „melancholy“ and „possession“.45
Evans spricht hier ein zentrales Problem an: Was meinte wer, wenn er dem Kaiser „Melancholie“ oder „Besessenheit“ bescheinigte? Man könnte auch fragen, warum ...? Hans Bankl hingegen kommt mit seinen Urteilen gleich zur Sache. Unverheiratet lebte er praktisch als Privatmann auf dem Prager Hradschin, eine zunehmende geistige Umnachtung entrückte ihn der Welt. [...] Zeitlebens plagten ihn nervöse Magenschmerzen, aber sein Hauptleiden war ein manischdepressives Irresein. Die Historiker zählen das seinem mütterlich-spanischen Erbe zu. Im Herbst des Jahres 1600 unternahm er mit einem Degen den ersten Selbstmordversuch im Hause Habsburg. [...] Die Auseinandersetzungen mit seinem politisch ehrgeizigen Bruder Matthias, der als Kaiser Nachfolger wurde, sind nicht nur in die Geschichte, sondern durch Grillparzers Drama Ein Bruderzwist in Habsburg auch in die Literatur eingegangen. [...] Der Bruderzwist in Habsburg wurde mit ungleichen Waffen ausgetragen. Rudolf war ein okkultistischer Spinner in Prag, Matthias wollte an die Macht, war aber nur mäßig begabt. [...] Die streitbaren halbirren Brüder Rudolf und Matthias starben ohne legitime Kinder, die Frage der Thronfolge wurde dringend.46
Friedrich Weissensteiner hingegen wägt das Für und Wider in der Frage einer möglichen Geisteskrankheit ab und kommt zu folgendem Schluss: „Jedes Urteil über diesen merkwürdigen Kaiser muß daher von Zurückhaltung und Besonnenheit geprägt sein.“47 Christian Dickinger zählt zwar die Sonderlichkeiten Rudolfs auf und verwendet auch Begriffe wie „Sammelleidenschaft“, „Melancholie und Zornesausbrüche“ oder „depressive
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Jean Béranger: Die Geschichte des Habsburgerreiches 1273–1918. Wien, Köln und Weimar 1995, S. 281f. Béranger: Geschichte des Habsburgerreiches, S. 281. Robert John Weston Evans: Rudolf II and his World. Oxford 1973, S. 47. Bankl: Die kranken Habsburger, S. 44–46. Die Frage, ob die nur mäßige politische Begabung Matthias’ ausreichend ist, um ihn als „halbirren“ abzuqualifizieren, soll hier tunlichst außer Acht gelassen werden. Friedrich Weissensteiner: Die großen Herrscher des Hauses Habsburg. 700 Jahre europäische Geschichte. München 22007, S. 149.
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Anlage“,48 vermeidet aber eine Stellungnahme zum möglichen Wahnsinn des Kaisers. Tatsächlich war Rudolf II. ein Mann mit diversen gesundheitlichen Problemen. Schon sein Äußeres, fast schon idealtypisch die habsburgische Physiognomie verkörpernd, deutet dies an – Rudolf II. hatte, wie viele seiner Vorfahren, eine Progenie, genauer gesagt eine echte Progenie (mandibuläre Prognathie).49 Typisch hierfür ist, neben der gerade für die Habsburger so charakteristischen wulstigen Unterlippe, ein übergroßer Unterkiefer mit stark vorspringendem Kinn. Der überdimensionierte Unterkiefer führt zu einem umgekehrten Überbiss (frontaler Kreuzbiss), der so ausgeprägt sein kann, dass der Mund nicht vollständig zu schließen ist, was nicht nur zu erheblichen Verständigungsproblemen führt, sondern auch eine starke Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme bedeutet – über Kaiser Leopold I. (reg. 1657–1705), der wohl die ausgeprägteste Progenie der österreichischen Habsburger besaß, gibt es zahlreiche und oft despektierliche Schilderungen; eine besonders plastische und unappetitliche Beschreibung findet sich beim osmanischen Geschichtsschreiber und Reisenden Evliyâ Çelebi (1611–nach 1683): Seine Lippen sind wulstig wie die eines Kamels, und in seinen Mund würde ein ganzer Laib Brot auf einmal hineinpassen. Auch seine Zähne sind groß und weiß wie die eines Kamels. Immer wenn er spricht, spritzt und trieft ihm der Speichel aus seinem Mund und von seinen Kamellippen, als ob er erbrechen würde. Da wischen ihm dann die strahlend schönen Pagen, die ihm zur Seite stehen, den Geifer ab.50
Doch nicht nur die Progenie machte Rudolf II. zu schaffen, sondern auch sein mit dem Alter zunehmender Alkoholkonsum war die Quelle einer Vielzahl von Beschwerden; insbesondere könnte eine Reihe von psychischen Auffälligkeiten mit einem Alkoholmissbrauch erklärt werden. Im Jahre 1581 erkrankte Rudolf so schwer, dass man um sein Leben fürchtete, vor allem, da es zunächst nicht gelang, seinen rapiden Gewichtsverlust aufzuhalten.51 Er erholte sich zwar im Laufe des Jahres von dieser Krankheit, doch bot sein Gesundheitszustand danach immer wieder Anlass zur Sorge. Im Verbund mit seiner Weigerung, eine Ehe einzugehen und somit für einen legitimen Nachfolger zu sorgen, brachte Rudolf II. damit die _____________ 48 49 50 51
Christian Dickinger: Ha-Ha-Habsburg. Eine wirklich wahre Familiengeschichte. Wien 2001, S. 72–75. Hans-Joachim Neumann: Erbkrankheiten in europäischen Fürstenhäusern. Augsburg 2002, S. 65–69. Richard F. Kreutel u. Erich Prokosch: Im Reiche des Goldenen Apfels. Des türkischen Weltenbummlers Evliyâ Çelebi denkwürdige Reise in das Giaurenland und in die Stadt und Festung Wien anno 1665. Graz, Wien und Köln 1987, S. 202. Felix Stieve: Die Verhandlungen über die Nachfolge Kaiser Rudolfs II. in den Jahren 1581–1602. München 1879, S. 4f.
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Dynastie in Gefahr, was mehrere Versuche einer Nachfolgeregelung nach sich zog, die uns bis heute erhalten geblieben sind.52 Auf uns übergegangen sind auch die Verhandlungen und Beschlüsse des böhmischen Landtags. Und dort findet sich für die Jahre zwischen 1600 und 1604 mehrmals ein Hinweis auf den angegriffenen psychischen Zustand des Kaisers. Für ein Treffen der Brüder des Kaisers in Schottwien wurde im Jahre 1600 ein Kurzer Discurs. wie der Rom. Kais. Mt. in ihrem itzigen Anliegen vor ihr Person und sonsten zu helfen sein möcht in Auftrag gegeben,53 in dem sich mehrere eindeutige Passagen finden lassen; eine besonders beispielhafte sei hier zitiert: Was anfänglich Ihrer Mt. Person belanget, ist der Natur nach, so fern es nicht von Gott wunderbarlich abgewendet wird, zu besorgen, wo Ihre Mt. nicht bei Zeiten darzu thuen, dass die melancolische, schwere Perturbationes Ihrer Mt. Herz allgemach ausnagen und im Haupt grosse Blödigkeit, Schwindel und Fluss dergestalt erwecken und inwendig kurzer Zeit den Tod verursachen werden, inmassen man schwerlich bei Beharrung dieser Beschwerung glauben kann, dass Ihr Mt. über ein viertel Jahr leben mögen. Derowegen uf alle Weg zu denken, wie doch Ihr Mt. zu einer medicinischen Cur allerunterthänigist zu vermögen sein, denn man hergegen hoffen will, sofern Ihr Mt. nur ein wenig folgen, dass innerhalb weniger Wochen vermittelst göttlicher Hilf die Melancolei aus dem Leib ausgetragen und künftig neue Wachsung derselben leichtlich verhütet werden könnt, allein dass der Leib einmal zwei geöffnet und ein Ader gesprengt und hernach ein gewisser Kräuterwein und Ordnung im Essen und Trinken gebraucht werd.54
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die brüderlichen Erzherzöge alles Interesse daran hatten, ihren kaiserlichen Bruder als einen nicht ganz bei Sinnen seienden Mann darstellen zu lassen, so stechen doch zwei Dinge deutlich hervor. Zum einen ist nicht nur von „Blödigkeit, Schwindel und Fluß“ die Rede, sondern auch von „Melancolei“, womit ein terminus technicus verwendet wird, der zur Beschreibung von geistigen Störungen seinerzeit weitverbreitet war. Und zum anderen werden ganz konkrete Therapievorschläge gemacht, die für die Behandlung von Wahnsinn im 16. Jahrhundert typisch waren: Neben dem fast schon obligatorisch zu nennenden Aderlass und einem Quantum Kräuterwein wird, hier beschränkt auf das Essen, „Ordnung“ verlangt, die wieder hergestellt werden müsse. Auch andere „verrückte Hoheiten“ wurden mit „Ordnung“ behandelt, sei sie auf die Mahlzeiten, den Toilettenbesuch, das Haareschnei_____________ 52 53 54
Zur Verwendung der offenen Nachfolgefrage in der Propaganda gegen Rudolf II. wird auf das Kapitel „Bruderzwist und Nachfolge“ verwiesen in Karl Vocelka: Die politische Propaganda Kaiser Rudolfs II. (1576–1612). Wien 1981, S. 310–317. Die böhmischen Landtagsverhandlungen und Landtagsbeschlüsse vom Jahre 1526 an bis auf die Neuzeit. Hg. v. Franz Dvorsk. Bd. 10: 1600–1604. Prag 1900, S. 92–96. Die böhmischen Landtagsverhandlungen, S. 92f.
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den oder die Kleidung bezogen.55 Dass Rudolfs Selbstmordversuch in diese Zeit der psychischen und persönlichen Belastungen fiel, nimmt da nicht wunder.56 Offenkundig litt Rudolf II. phasenweise an psychischen Störungen. Doch scheinen diese nach 1605 zumindest abgeklungen zu sein, jedenfalls sind sie in den Quellen nicht mehr so manifest, wohingegen die körperlichen Gebrechen nun immer deutlicher zutage treten und ihn zunehmend an der Ausübung der Regierungsgeschäfte hindern. An welchen Störungen der Psyche er konkret gelitten hat, lässt sich indes nicht mehr feststellen. Umso deutlicher kann einer seiner illegitimen Söhne in einen Zusammenhang mit Wahnsinn gebracht werden: Don Julius Cäsar d’Austria (ca. 1585–1609). Diesen hatte Rudolf II. im Jahre 1606 in die Herrschaft Krumau eingesetzt, obwohl sich Don Julius kurz zuvor mit einem Degen so schwer verletzt hatte, dass er von seinem Vater für eine Weile festgesetzt worden war. In Krumau machte sich Don Julius Cäsar alsbald einen Namen als Schürzenjäger;57 er trieb es so schlimm, dass Dienerinnen aus Angst vor ihm davonliefen und der Bürgermeister offiziell beim Kaiser wegen dieses ungebührlichen Betragens Protest einlegte.58 Dann aber verliebte sich Don Julius in Markéta Pichler, die Tochter eines Baders. Sie wurde seine offizielle Geliebte. An seinem Verhalten änderte sich jedoch nichts, und eines Tages verletzte er Markéta in einem cholerischen Anfall schwer und stürzte sie aus dem Fenster der Burg. Sie überlebte, da sie in den Burgteich fiel, und floh zu ihren Eltern. Als Don Julius Cäsar von ihrer Genesung erfuhr, verlangte er ihre Rückkehr zu ihm, setzte, nachdem sich die Eltern diesem Ansinnen verweigert hatten, den Vater Markétas gefangen und drohte damit, ihn hinrichten zu lassen. Die verängstigte Mutter nahm Don Julius den Eid ab, ihrer Tochter nichts anzutun, bevor sie sie ihm übergab. Nur wenig später kam es zur Katastrophe. Am Faschingsmontag des Jahres 1608 verletzte Don Julius Cäsar in einem Tobsuchtsanfall zunächst einen Diener, der aber gerade noch rechtzeitig fliehen konnte. Danach fiel er über Markéta her und ermordete sie bestialisch: Er schnitt ihr die Ohren ab, stach ihr ein Auge aus, schlug ihr die Zähne ein und zerfleischte sie regelrecht, bevor er ihr den Schädel einschlug.59 Fleischfetzen aus ihrem Körper warf er _____________ 55 56 57 58 59
Midelfort: Verrückte Hoheit, weist auf dieses „in Ordnung bringen“ bei der Darstellung des Falles von Herzog Johann Wilhelm von Kleve-Jülich-Berg (reg. 1592–1609) mehrfach hin, so S. 142f. und S. 146–148. Evans: Rudolf II., S. 63. Karl Vocelka: Rudolf II. und seine Zeit. Wien, Köln und Graz 1985, S. 8f. Anton Blaschka: „Das Schicksal Don Julios de Austria: Akten und Regesten aus seinen letzten Lebensjahren“. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der deutschen in Böhmen 70 (1932), S. 220–255, hier S. 227–230. Vocelka: Rudolf II., S. 9.
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im ganzen Raum umher, und erst nach drei Stunden ließ er von seinem Opfer ab.60 Am nächsten Tag überfiel ihn die Reue. Er hielt sich erst eine Zeit lang in dem Raum, in dem die Leiche lag, auf, ehe er sie entfernen ließ, um sie für ein prachtvolles Begräbnis in einem der Klöster von Krumau vorbereiten zu lassen.61 Danach verfiel er körperlich und geistig immer mehr und wurde in Krumau unter Arrest gestellt, bis er schließlich im Juni 1609 an einem Geschwür am Hals starb. Was also war Rudolf II. – wahnsinnig, melancholisch, ein wenig der Welt ent- und damit auch ein wenig verrückt? Was auch immer er war, die Propaganda seiner Brüder hat im Verbund mit der Historiografie des 19. Jahrhunderts, die sich mit diesem so völlig hinter Burgmauern verschanzenden und unnahbaren Kaiser schwertat, zu einem Rudolfbild geführt, das einer Karikatur dieser Herrscherpersönlichkeit gleicht. Zumindest für die erste Phase seiner Regierungszeit, also von 1576 bis gegen 1600, war er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, und nach 1605 scheinen seine psychischen Probleme abgeklungen, wenn auch nicht ganz verschwunden zu sein. Manches angebliche Symptom seines Wahnsinns ist gar keins – blieb er auch unverheiratet und ohne legitimen Erben, so hatte er eine Vielzahl von Liebschaften und stellte immer wieder unter Beweis, dass es ihm an Lendenkraft nicht mangelte. Dichtung und Wahrheit gingen bei Rudolf II. eine verhängnisvolle Allianz ein, die bis heute die Sicht auf diesen Mann beeinflusst. 4. Der Vorwurf des Wahnsinns bzw. eines schwachen Geistes ist vielen gemacht worden. Ein ganz besonders prominentes Beispiel ist zwar nicht im 16. Jahrhundert angesiedelt, doch hatte das Werk des Mannes, dem hier Geistesschwäche unterstellt wird, just im 16. Jahrhundert sein furchtbares Potenzial voll entfalten können. Die Rede ist von Heinrich Kramer gen. Institoris (ca. 1430–ca. 1505), dem Verfasser des Malleus maleficarum. Kramer hatte sich 1484 in Rom von Papst Innozenz VIII. (reg. 1484–1492) die Bulle Summis desiderantes affectibus ausstellen lassen, mit deren Hilfe er zum Inquisitor für Oberdeutschland berufen wurde. Seinen ersten Prozess gegen vermeintliche Hexen suchte er zwischen Juli 1485 und Februar 1486 in Innsbruck durchzuführen, doch ging dies gründlich schief. Zwar konnte er eine Eröffnung des Verfahrens erreichen, doch brachte er durch sein herrisches Verhalten und sein undurchsichtiges Gebaren in finanziel_____________ 60 61
Jan Bauer: Povidné konce Habsburk a jejich p íbuzných. Prag 2008, S. 68. Anton Gindely: Rudolf II. und seine Zeit. 1600–1612. Bd. 2. Prag 1865, S. 339f.
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len Dingen sowohl alle Stände der Tiroler Bevölkerung als auch den zuständigen Bischof von Brixen, Georg II. Golser (gest. 1488), gegen sich auf. Der Prozess wurde schließlich von Herzog Sigismund dem Münzreichen (reg. 1466–1490) niedergeschlagen und Heinrich Kramer des Landes verwiesen. In einem Brief an den Chorherren von Wilthau zieht Bischof Georg Golser ein vernichtendes Fazit der Person Heinrich Kramers. Mich verdrewst des münchs gar vast im bistumb [...] Ich find in des bapst bullen, das er bey vil bäbsten ist vor inquisitor gewesen, er bedunckt mich aber propter senium gantz chindisch sein worden, als ich in hie zu Brichsen gehört hab cum capitulo. Ich hab im geraten, das er solt in sein Closter ziehen und da beleiben; ipse realiter mihi delirare videtur, er wolt villeicht noch geren in der frawn sachen handeln, ich lass in aber darzue nit chömmen, so er vormaln als vast erriert hat in seinem process.62
Was der Bischof hier unterstellt, dürfte mit dem Begriff Alterssenilität recht hübsch umschrieben sein. Doch hat sich Georg Golser hier furchtbar geirrt – zurück in Deutschland verfasste Kramer seinen Malleus maleficarum, für den er sich sogar ein Gutachten der Kölner Universität zusammenfälschte. Dessen verheerenden Langzeitfolgen in der Geschichte der Hexenverfolgungen muss hier nicht mehr weiter nachgegangen werden. 5. Kommen wir nun zu Paracelsus und seiner Sicht auf Wahnsinn bzw. auf die Behandlung desselben. Eine zentrale Rolle für die Heilung spielt für ihn der Glaube an Gott bzw. an Jesus Christus. Und somit bewegt er sich innerhalb des Konzepts, das ganz grundlegend ist für sein medizinisches Denken – ohne den Glauben gibt es keine Heilung. Selbst für die Behandlung von Hexen wird, wie weiter unten zu sehen sein wird, der Glaube an und das Gebet zu Gott eine zentrale Rolle spielen – christliche Arznei, wenn man so will. Was aber ist Wahnsinn für Paracelsus? Vereinfacht gesagt kann Paracelsus’ Verständnis vom Wahnsinn im Sinne einer psychosomatischen Psychiatrie erklärt werden, in der Krankheiten des Leibes auch auf den Geist zurückschlagen und umgekehrt, ohne die Autonomie von Körper und Geist als solche infrage zu stellen.63 Um dies zu erläutern, griff er zumeist auf seine Lehre von der dreigeteilten Natur zurück, die ihm nicht _____________ 62
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Schreiben des Bischofs Georg an Nikolaus, Chorherr von Wilthau, Aschermittwoch, 8. Februar 1486; zitiert nach Hartmann Ammann: „Der Innsbrucker Hexenprocess von 1485“. In: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 34 (1890), S. 3–87, hier S. 85f. Iago Galdston: „The Psychiatry of Paracelsus“. In: Ders.: Psychiatry and the Human Condition. New York 1976, S. 377–389.
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nur eine Analogie zur Dreifaltigkeit erlaubte, sondern neben dem Körper und dem Geist auch die Seele („imago“, „biltnus“) mit einschloss, wobei allerdings die Seele von den Geisteskrankheiten nicht berührt und somit das essenziell Menschliche des Kranken nicht infrage gestellt wird.64 Diese Seele, der innerhalb der Dreifaltigkeit Gott bzw. das Göttliche zugeordnet wird, macht es dann auch möglich, über den Glauben an Gott eine Gesundung zu erreichen. Magische Deutungen der Krankheiten lehnt er strikt ab.65 Die Krankheiten, die Paracelsus in De morbis amentium im ersten Traktat nacheinander behandelt, sind die Epilepsie („vom fallenden siechtagen“), die Manie („Von mania“) und der Veitstanz („Von sanct Veits tanz und die ime gleichen“), dann ein Bündel Krankheiten, das er „Vom ursprung suffocationis intellectus“ betitelt, und schließlich den Wahnsinn allgemein („vom ursprung der rechten unsinnigen leute“). Im nachfolgenden zweiten Teil werden in korrespondierenden fünf Kapiteln die Behandlungsmethoden aufgezählt sowie in einem sechsten Kapitel die „praeservation“ dieser Erkrankungen besprochen. Die Epilepsie wird breit diskutiert, mit genauer Darstellung der Anfälle, und auch in anderen Werken berücksichtigt. Sie stellt aber für Paracelsus einen Sonderfall der Verrückung des Geistes dar, u.a. auch, weil sie jeden Menschen treffen kann – „diser krankheit ist niemants zu gesunt noch zu krank, zu jung noch zu alt, und schadet doch der gesuntheit des leibes nichts, auch zerbricht es das natürlich wesen nicht.“66 Die Symptomatik wird von ihm sehr präzise beschrieben, und er vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass es eine erbliche Komponente gibt.67 Die Manie ist für Paracelsus eine Erkrankung der Vernunft, nicht des Geistes oder der Sinne, und manifestiert sich unterschiedlich. Manche Maniker sind aggressiv und tobsüchtig, andere wiederum „ fast tumb und unbesinnig, fallen gleich nider, mögen nit essen, kozen vil, haben auch fast den durchlauf und brumlen vil mit inen selbs, haben nicht sonder acht auf die leut oder auf ire wonung.“68 Verursacht werde die Manie laut Paracelsus von Dämpfen, die sich oberhalb oder unterhalb des Zwerchfells bilden und in den Kopf hinein „destillieren“. Die ganze Theorie atmet den Geist der Alchemie, und insbesondere beim eher ruhigen Maniker sieht Paracelsus die Melancholie manifestiert.69 _____________ 64 65 66 67 68 69
Midelfort: A History of Madness, S. 115. Wolfgang Klages: „Beiträge des Paracelsus zur psychiatrischen Krankheitslehre“. In: Confinia Psychiatria 3 (1960), S. 238–252, hier S. 242. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung. Band 2, S. 393. Klages: „Beiträge des Paracelsus“, S. 243. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 401. Harrer: „Paracelsus und die psychischen Erkrankungen“, S. 103f.
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Sehr interessant sind die Ausführungen des Hohenheimers zum Veitstanz, denn ihn will er ganz anders bezeichnet wissen. Er schlägt „Chorea lasciva“ vor.70 Ursache sei „alein ein aestimaz und ein angenomen imaginaz, die da wirkt in dem der sich also ein solcher aestimaz schezet und des gleichen im selbs ein solche sach imaginirt.“71 Daher solle der Name des Heiligen vermieden werden. Während einige Menschen den Veitstanz aufgrund ihrer Disposition bekommen, ist er bei anderen die Folge eines lasterhaften Lebens: darumb ist offenbar ein ursach, das die huren und die buben, den wol mit lauten und allen seitenspielen ist, nimer davon komen und allen wollüsten und des leibs freuden gnug tunt mit irem guten willen, aestimaz und imaginaz, in solcher gestalt in die krankheit fallen, die selbige freud und heulen, jauchzen, singen, springen und was dan ir übung gewest ist brauchen und in inen bleibt. diser tanz den wir von huren sezen ist nicht von natur, also das die natur ein ursach wer in dem, wie wir im anfang gesezt haben von den lachenden adern, sondern es ist ein zufal aus einem leichten mutwillen und leicht fertigen schantlichen leben in dem kein vernunft noch sinnlichkeit ist, darumb sie sich also auch schentlich und unvernunftig erzeigen.72
Folgt man seinen weiteren Ausführungen, so stellt man fest, dass sich die paracelsische Definition des Veitstanzes weder auf Chorea maior noch auf Chorea minor bezieht, sondern im Wesentlichen der Definition hysterischer Massenpsychosen entspricht. Insgesamt ist Paracelsus bei der Darstellung des Veitstanzes voreingenommen und geizt nicht mit abwertenden bzw. ungehaltenen Kommentaren – die Krankheit ist eine Strafe für schlechten Lebenswandel.73 Die vierte Geistesstörung, die Paracelsus beschreibt, ist letztlich ein Bündel aus verschiedenen Krankheiten, deren Ursache in einem Befall durch Würmer oder einen ungesunden Lebenswandel zu suchen ist. Eine die alein kompt denen die da würme haben in den intestinen, die ander die alein frauen kompt aus der muter, die drit zu beiden seiten kompt, vom ligen oder sizen oder von ubriger speis oder trank. dazu ist noch eine die alein in dem schlaf kompt und also mit dem schlaf wider aufhört.74
Die Störungen des Geistes bzw. der Vernunft sind dabei nur Symptome für diese Erkrankungen.75 Schließlich kommt Paracelsus auf die „rechten unsinnigen leute“ zu sprechen.76 Diese werden wiederum in vier Gruppen eingeteilt: in „lunati_____________ 70 71 72 73 74 75 76
Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 407. Ebd. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 410. Klages: „Beiträge des Paracelsus“, S. 246. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 413. Harrer: „Paracelsus und die psychischen Erkrankungen“, S. 105f. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 420–426.
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ci“, die unter dem Einfluss des Mondes stehen; in „insani“, den von Geburt an Wahnsinnigen; in „vesani“, die durch Gifte in Speisen oder Getränken um den Verstand gekommen seien; schließlich in „melancholici“, über die er sich nur sehr summarisch auslässt. An dieser Stelle nicht erwähnt werden die Hexen – ihnen hat Paracelsus einen eigenen Traktat gewidmet. In späteren Werken, so in der Astronomia magna, kam Paracelsus immer wieder auf die Frage der geistigen Verrückungen zurück, doch in De morbis amentium finden wir die dichteste Zusammenfassung seiner Beschäftigung mit dem Wahnsinn. Auffällig ist nicht nur der Detailreichtum, sondern auch der Umstand, dass es für ihn mit den „insani“ tatsächlich eine Gruppe von Kranken gibt, die von Geburt an geisteskrank ist, „die da das aus muterleib her erwerben, als ein geschlecht das unsinnig ist oder ein kint unsinnig geboren wird.“77 Zwei Ursachen sieht er hierfür, „eine ursach, das die sperma doran mit sampt der operation ein schult treget, die ander das die erblichen mag in die proles von vater und muter gên.“78 Abgesehen davon sind es aber Hexenwerke und Dämonen, der Mond oder die Musik, die den Menschen den Verstand berauben, womit der Wahnsinn in den meisten Fällen keine Krankheit an sich ist, sondern ein, wenn auch sehr auffälliges, Symptom einer anderen Krankheit. 6. Werfen wir zu guter Letzt noch einen Blick auf die Hexenlehre von Paracelsus. Ausführlich hat er sie in dem fragmentarisch gebliebenen Text De sagis et earum operibus dargelegt, der zwischen 1529 und 1532 verfasst worden sein dürfte.79 Paracelsus richtet sich hier ausdrücklich an den gemeinen Mann und nicht an weltliche oder kirchliche Autoritäten. De sagis et earum operibus war nur eine der Schriften, die Paracelsus in einer Philosophia magna zusammenfassen wollte mit dem Ziel, die Grenz- und Randphänomene der von Menschen bewohnten Welt, mithin also auch die Welt der Geister und Dämonen eingehend zu erläutern und deren Verhältnis zum Menschen zu klären. Nach Paracelsus ist die Stunde der Geburt entscheidend, denn während der Niederkunft kann ein „Ascendent“, ein vom Teufel gesandter böser Geist, in das Kind gelangen. Ein Knabe werde unter dem Einfluss _____________ 77 78 79
Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 423f. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 2, S. 424. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. Band 14: Das Volumen primum der Philosophia magna. Spuria. Hg. v. Karl Sudhoff. München und Berlin 1933, S. 5–27.
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des Aszendenten zu einem Dieb oder Mörder, während ein Mädchen zur Hexe werde. Nach der Geburt verberge sich der Aszendent erst einmal und bleibe während der Kindheit inaktiv, um erst im Erwachsenenalter den Menschen zu boshaftem Handeln zu zwingen. Dabei seien es vor allem Hass und Neid, derer sich der Aszendent bediene, um sich den von ihm besessenen Menschen gefügig zu machen. In einem späteren Stadium leite er durch Träume und Fantasien regelrecht zu Hexenwerken an. Und dies ist ein zentraler Punkt in der paracelsischen Hexenlehre, denn eine Hexe ist für ihn nur ein Instrument des Aszendenten, der sie besitzt. All die Hexenwerke vermeine die Hexe zwar aus eigenem Antrieb zu tun, doch ist sie nur das Opfer eines bösen Geistes. Daher ist die Hexe nicht wirklich böse, und da sie selbst nicht die bewusst Wollende ist, kann der Aszendent in ihr besiegt und vertrieben werden, sofern man ihn nur früh genug erkennt.80 Der günstigste Zeitpunkt für den Kampf gegen den Aszendenten ist das Stadium der „Zeichen“, in dem man die Hexe an Äußerlichkeiten und Verhalten bereits erkennen kann, ohne dass sie mit ihrem Hexenwerk bereits begonnen habe. Daher führt Paracelsus peinlich genau die zwölf Zeichen auf, an denen man eine Hexe erkennen könne: 1. mann fliehen, 2. feirtag eben observierem, 3. zeichnet an inen selbs, 4. zeichnete kinder, 5. ceremonien gebrauchen, 6. verbergen, alein sein, mann nicht fahen, 7. künstlern nachfragen, 8. an sich hengen zeuberin und lernen, darzu sie der geist treibt, 9. kein mann ansehen, 10. selten kochen, haar, stirn nicht waschen, das fleisch, 11. hinder sich in kirchen umbkeren, 12. wol ligen, allein sich versperren – das sind die hauptzeichen, die die hexen am inen haben, so sie der geist ascendens uberwunden hat und will sie zu meistern machen.81
Auffällig ist hier insbesondere die mehrmalige Erwähnung der bewussten Abkehr der Frauen vom Mann, „so sie sich von mannen werfen und irer gar nichts achten.“82 Die Verweigerung von Tätigkeiten wie dem Kirchenbesuch und der Hausarbeit lässt sich als sozial schädliches Verhalten deuten; dem hingegen spielen Merkmale wie Rituale und Zeremonien, die in den Hexentraktaten seiner Zeit so viel Raum einnehmen, keine große Rolle. Wie genau man einer Hexe habhaft werden kann, die das Stadium _____________ 80
81 82
Ein ähnliches Argument führt auch der Johann Weyer (1515–1588), der Leibarzt des Herzogs von Kleve-Jülich-Berg, gegen die Hexenverfolgungen ins Feld. Für ihn war alles Hexenwerk nur eine Illusion von geistesschwachen Frauen, und alle angeblichen Eingriffe des Teufels sind ihm nichts als lächerliche Fantasien. In seinem Hauptwerk De praestigiis daemonum von 1563 führt er dies detailliert aus. Vgl. Johannes Geffcken: „Dr. Johannes Weyer. Altes und Neues vom ersten Bekämpfer des Hexenwahns“. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 13, H. 3 (1904), S. 139–148, hier S. 141f. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 14, S. 12f. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 14, S. 12.
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der Zeichen verlassen und in das Stadium der Werke eingetreten ist, erfahren wir leider nicht. Die bösen Taten der Hexen, die Paracelsus für erwähnenswert ansieht, halten keine Überraschungen bereit. Wetterzauber, dem Paracelsus breiten Raum in seinen Betrachtungen zugesteht,83 Krankheitszauber, Liebes- und Impotenzzauber sind hier zu nennen. Auch der Ritt auf dem Besen, der bei ihm „kunst steckenfaren“ heißt und durch Katzenschmalz, Wolfsschmalz, Eselsmilch und ähnliche Mittel ermöglicht wird, findet sich.84 Bedeutsam ist, dass Paracelsus den Begriff Hexenbuhlschaft zwar verwendet, doch mit einem anderen Inhalt füllt, als es dem üblichen Hexenparadigma seiner Zeit entspricht: Für ihn ist sie die Buhlschaft des Aszendenten selbst um einen Körper, den er besitzen möchte.85 Immer wieder betont Paracelsus, dass nicht die Hexe solche als reales Geschehen gedachten Werke vollbringt, sondern der Aszendent, der ihr die Fähigkeiten dazu verleiht und sie zu solchen Taten drängt. Die Rettung der, besser: Behandlung von Hexen steht ganz unter dem Einfluss des medizinischen und religiösen Weltbildes und könnte mit Fug und Recht christliche Medizin genannt werden. Denn auch Krankheiten werden nach Paracelsus von außen durch Geister und Dämonen ausgelöst, die dann Beschwerden verursachen, welche medikamentös und diätetisch behandelt werden können. Ähnlich werden die Hexen behandelt: Beten und Fasten. Wird dies nur konsequent angewandt, spricht sich Paracelsus für den Verzicht auf Bestrafung aus. dan die werk bezeichnen das ganz end und besteten auch die zeichen, von denen ich hie gesagt hab, domit nicht das sie dester ergerlicher gehalten werden oder zum feur verurteilt und dergleichen. Sonder das sie in die arznei komen und von denen dingen erlöst werden, dieweil uns Christus so vil tröst, so wir fasten und beten, dodurch die geist mögen austreiben [...] wie sie aber all, sind sie durch die arznei, wie hernach folgt, hindan zufüren und sonderlich an zu halten, dieweil die ersten zeichen erfunden werden.86
Der Gedanke an eine Art christlicher Arznei ist nicht abwegig, und man kann seine Hexenlehre tatsächlich in den größeren Kontext seiner Lehre von den Krankheiten stellen. Im Falle der Hexe ist der auslösende Dämon der Aszendent, und die Behandlung lautet auf eine christliche Arznei (Beten) und eine ebensolche Diät (Fasten). Die Hexenlehre des Hohenheimers fügt sich somit durchaus in sein medizinisch-philosophisches Weltbild ein. Zwar gelten auch für ihn die Hexen letztlich als Geschöpfe des Teufels, doch nur mittelbar, da sie von _____________ 83 84 85 86
Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 14, S. 14–19. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 14, S. 25. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 14, S. 23f. Paracelsus: Sämtliche Werke. I. Abteilung, Band 14, S. 13.
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einem Aszendenten besessen und damit nicht direkt für die Taten verantwortlich zu machen sind. Hier schließt sich der Kreis zur paracelsischen Lehre vom Wahnsinn. Leider blieben sowohl seine Schriften über psychische Erkrankungen und Störungen zu seinen Lebzeiten ebenso ungedruckt und seinen Zeitgenossen unbekannt wie seine Hexenlehre.
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Living the Long Life: Physical and Spiritual Health in Two Early Paracelsian Tracts Thomas Willard
Abstract Paracelsus wrote two early tracts on longevity, in which he discussed the theory and practice of preserving human life beyond the normal limits. They received considerable attention in the sixteenth century, but very little afterward. Indeed, they have developed a reputation as incoherent ramblings that are full of superstition, strange words, and coded messages to disciples. However, they reward attention because they promote a holistic or integrative approach to medicine, in which physical, mental, and spiritual health are not to be separated. Here he has made use of many traditions, including alchemy, astrology, herbology, folklore, neoplatonism, and biblical interpretation. Paracelsus schrieb zwei frühe Traktate zur Langlebigkeit, in denen er die Theorie und Praxis der Erhaltung menschlichen Lebens jenseits der normalen Grenzen diskutierte. Sie lenkten im 16. Jahrhundert große Aufmerksamkeit auf sich, später aber scheint man sie weitgehend ignoriert bzw. missachtet zu haben. Genau betrachtet zogen sie sich den Ruf zu, nichts als inkohärentes Geschwafel darzustellen und Texte zu sein, die voll von Aberglauben, fremden Wörtern und verschlüsselten Nachrichten an Schüler strotzten. Sie verdienen aber trotzdem unsere Beachtung, weil sie einen ganzheitlichen oder integrativen Ansatz zur Medizin gefördert haben, bei dem körperliche, seelische und geistige Gesundheit nicht voneinander getrennt werden. Hier hat Paracelsus aus vielen Traditionen geschöpft, einschließlich Alchemie, Astrologie, Kräuterkunde, Volkskunde, neuplatonische Philosophie und biblische Interpretation.
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Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541) wrote two tracts “on long life” (de vita longa). Dated 1526 and 1527,1 they were completed before he left his position as Basel’s city physician and before he began to publish medical texts under the name Paracelsus. After they were posthumously printed, between 1560 and 1570, they were recognized as integral texts in the Paracelsian canon – texts that both deserved and needed commentary. They were translated into English and other languages, but neither has received much scholarly attention in the last century.2 The lack of interest is surprising, inasmuch as the tracts call for a unified approach to physical and spiritual health and for a medical practice that would now be termed integrative or holistic . This essay offers an English-language perspective on these tracts and on the Paracelsian approach to living a long life. After discussing their sixteenth-century editions, it turns to English translations of the seventeenth and nineteenth centuries and to some twentieth-century comments available to English readers. It ends with a textual analysis. The 1526 tract was written in German as a single essay without chapter and book divisions. The 1527 tract was dictated in German, in either four or five books, but it survives in a Latin translation with only a few fragments of the original German. The titles are remarkably similar. The German text was first issued under the Latin title Liber de vita longa (or De longa vita), while the Latin tract appeared as Libri quatuor de vita longa (Libri quinque in the second edition). For convenience, I shall refer to the first by its German title, Vom langen Leben, and to the second by its shorter Latin title, De vita longa. Vom langen Leben is the companion piece of a German treatise on renovation and restoration (De renovatione et restauratione). The two parts may have reached their final version in 1526, when Paracelsus had a medical practice in Straßburg. They were clearly connected to his “principal teachings,” which he called his archidoxa,3 though the exact relationship was not established. Meanwhile, De vita longa is just as clearly the sequel to _____________ 1
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Approximate dates of composition are assigned in the standard edition: Paracelsus: Sämtliche Werke, ed. by Karl Sudhoff and Wilhelm Matthiessen, Part 1: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, 14 vols., Munich 1922–1933. Hereafter Sudhoff. Complementing this edition, Karl Sudhoff: Bibliographia Paracelsica: Besprechung der unter Theophrast von Hohenheim's 1527–1893 erschienen Druckschriften. Berlin 1894, remains the standard reference for early books by and about Paracelsus; I therefore give Sudhoff item numbers in the bibliography. For example, neither tract is mentioned in Charles Webster’s excellent Paracelsus: Medicine, Magic and Mission at the End of Time. New Haven and London 2008. Meanwhile, neither text is excerpted in the otherwise fine new anthology Paracelsus: Essential Readings, ed. by Nicholas Goodrick-Clarke. Berkeley, CA, 1999 (Essential Readings). See The Oxford English Dictionary, 2nd ed. Oxford and New York 1989 (1st ed.1928), „archidoxis“, on the word’s etymology and early uses by English readers of Paracelsus.
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Vom langen Leben, for the first sentence promises a “further” comment on the long life: Since it is becoming to Theophrastus that he should philosophize further concerning long life, it is necessary, in the first place, and worthy to be known, in my judgment, what life is, especially immortal life . . . 4 [Si de vita longa Theophrastum philosophari fas est, necessarium primo scrituque dignum, quid vita sit, existimo, maxime vero immortalis . . . ]5
The opening sentence makes it clear that Paracelsus plans to go beyond the first tract on long life, widening the scope to include immortal life.6 The one question is why the full text survives only in Latin, and the answer is found in the edition prepared by Johann Huser. The text was composed in German and then translated by the young Johann Oporinus (né Herbst; 1507–1568), who assisted Paracelsus in Basel.7 Huser, a physician from Cologne, found German samples (Teutsche Exemplaria) in the assistant’s papers and realized that Oporinus “did not follow the author’s intention [Meinung] in several places.”8 In the 1550s, when Oporinus was established as a Basel philologist, he wrote often-quoted accounts of a drunken Paracelsus dictating new texts at all hours. For example: wenn er besonders betrunken war, (er) nach Hause zurückgekehrt mir etwas von seiner Philosophia zu diktieren, das so schön zusammenhängend zu sein schien, daß es der Nüchternste offensichtlich nicht hätte besser machen können. Ich war dann beflissen, diese Diktate, so gut ich konnte, in die lateinsche Sprache zu übezertzen.9 [When he was very drunk, he returned home to dictate to me some of his philosophy, which seemed so coherent that not even the soberest, most enterprising
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Paracelsus: The Hermetic and Alchemical Writings, ed. by Arthur Edward Waite, 2 vols. London 1894, vol. 2, p. 323. Hereafter Waite. Sudhoff, vol. 3, p. 249. When reproducing Latin quotations, I have modernized the spelling somewhat and have expanded abbreviations; thus breuis becomes brevis, nõ becomes non, and quinq; becomes qunique. Paracelsus briefly touches on the subject in Vom langen Leben, calling it “occult” (verborgen); see Waite, vol. 2, p. 116, and Sudhoff, vol. 3, p. 234. Here he paraphrases 1 Cor. 2: 13. Gerard Dorn refers to Oporinus as the amanuensis of Paracelsus and the translator of this tract. See his note to the reader in Paracelsus: Libri v De vita longa, brevi et sana. Frankfurt a. M.: Christoff Rab, 1583, signature a4r. In book citations, the word “signature” is hereafter abbreviated “sig.” Sechster Theil der Bücher und Schriften . . . Paracelsi, ed. by Johann Huser. Frankfurt: Heirs of Johann Wechel, 1603 (1st ed. 1589), p. 105. The fragments cover pp. 105–113 in this edition and are reprinted in Sudhoff, vol. 3, pp. 293–308. Letter to Konrad Gessner, quoted in Udo Benzenhöfer: Paracelsus. Reinbek bei Hamburg 1997, p. 65. Also see Oporinus’s letter to Johann Weyer, dated Nov. 26, 1555, in Sepp Domandl: „Paracelsus, Weyrer, Oporin: Die Hintergründe des Pamphlets von 1555“. Paracelsus Werk und Wirkung: Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag, ed. by Sepp Domandl. Vienna 1975, pp. 53–70, esp. pp. 54–56.
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fellow could have done better. I was then eager to translate these dictations, as best I could, into the Latin language.]
It is tempting to imagine a yawning student aide trying to keep up with the illuminated (or simply “lit”) physician, and there are sudden asides and digressions in the text to support such a picture – for example, “Some who have reached that age [i.e., 600 years] might be enumerated, did not my pen [calamus] hasten in another direction.”10 Nevertheless, the use of chapter divisions and topic sentences suggests a plan behind even this farthest extension of the author’s Archidoxa. The first printings of Vom langen Leben and De vita longa were issued during what Karl Sudhoff has called the third phase of Paracelsian publication. The first phase included works published during the author’s lifetime, and the second works reprinted after his death. The third phase, which Sudhoff dates 1560–1588, was “the time of the publication of manuscripts from Hohenheim’s estate in various special editions by Bodenstein, Dorn, Toxites, and others” (Die Zeit der Herausgabe des handschriftlichen Nachlasses Hohenheim’s in zahlreichen Sonderausgaben von Bodenstein, Dorn, Toxites und Andern).11 De vita longa appeared in 1560, the first of many Paracelsian tracts collected by the Swiss physician Adam von Bodenstein (1528– 1577) and published in Basel by Peter Perna (1522–1582).12 Bodenstein was a member of the medical faculty in Basel, where Paracelsus had lectured. He was the author of small books on gout and plague as well as a commentary on the Rosarium philosophorum, one of the first printed books of alchemy. He became interested in Paracelsus after he recovered from a serious bout of tertian fever and credited his recovery to a Paracelsian preparation. He considered himself “the first doctor to graduate from a university and take up the wholesome and honest doctri-
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Waite, vol. 2, p. 345; cf. Sudhoff, vol. 3, p. 287. The word translated as “pen” (calamus) has the literal meaning of “reed” and in other contexts could be translated “panpipe”. Sudhoff: Bibliographia Paracelsica, p. 60. For information on Bodenstein, Dorn, and Toxites, see Urs Leo Gantenbein: „Der frühe Paracelsismus in der Schweiz“. In: Nova Acta Paracelsica 10 (1996), pp. 14–46, esp. pp. 27–33. Also see Philip Ball: The Devil’s Doctor: Paracelsus and the World of Renaissance Magic and Science. New York 2006, pp. 346–350. Paracelsus: Libri quatuor De vita longa, ed. by Adam à Bodenstein. Basel: Peter Perna, 1560. For information on Perna, a major publisher of medical and alchemical texts, see Edwin Eliott Willoughby: Fifty Printers’ Marks. Berkeley, CA 1947, pp. 61–62, and Frank Hieronymus: „Paracelsus-Druck in Basel“. In: Heinz Schott and Ilana Zinguer, eds., Paracelsus und seine internationale Rezeption in der frühen Neuzeit. Brill 1998 (Studies in Intellectual History, 86), pp. 36–57, esp. pp. 39–47. For a partial list of Perna’s Paracelsian publications see The Alchemy Website, „Peter Perna, Basel“, http://www.alchemywebsite.com/printer_perna.html (last accessed on July 11, 2010).
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nes of Theophrastus and publicly defend them.”13 For his efforts, he was dismissed from the medical faculty, which gave him the leisure to collect and edit some two dozen manuscripts left by Paracelsus. He died in poverty, at an even younger age than his master. The four-book De vita longa showed every sign of careful preparation, including a preface by the mysterious Valentius of Rhaetia, who offered a tempting overview of books by or about Paracelsus.14 Valentius wrote that Paracelsus left 361 books: 230 on philosophy, 46 on medicine, 12 on politics (republica), 7 on mathematics (i.e., astronomy), and 66 on more occult and abstruse subjects. He added that Paracelsus is mentioned in three other books, making a total of 364 –almost one for every day of the year. The obvious implication was that a trove of Paracelsian manuscripts was out there, possibly in the canton of Graubünden, and that Bodenstein and Perna had access to them. Then, in 1562, Bodenstein brought out a second edition of De vita longa, this one organized in five books. In the introduction to the longer text, he explained: Nos quidem anno 1560. quatuor libros de vita longa typis mandavimus, sed adhuc imperfectos: quia liber quartus totus defuit, ac multa capita primi & tertii lib. ultissima, nunc autem perfectos, ac ex ore Paracelsi diligenter exceptos & recognitos publicamus, quos spero tibi gravissimos, ac utilissimos fore in vita longa producenda, qui pro aetate fortitus es a domino Deo corpus bonum & commodum, quod arte vera in debita harmonia conservari potest.15 [In 1560 we committed to print the four books of long life, but they remained incomplete because the fourth book was entirely lacking plus many chapters of the first and third books. However, they are now complete and diligently taken from the mouth of Paracelsus, and I hope will be most weighty and useful to you in promoting long life in a body both good and serviceable to God, a body which can by art be conserved in true harmony.]
Bodenstein was not just touting the advantages of a new, improved edition; he seemed dismayed to have brought a less reliable text to the public and was convinced the new version preserved teachings that came “out of the mouth of Paracelsus.” In addition to the new fourth book, the 1662 _____________ 13 14
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Paracelsus: Four Treatises of Theophrastus of Hohenheim Called Paracelsus, ed. and trans. by Henry E. Siegrist et al. Baltimore 1941, p. 136. Bodenstein recounted the story in a dedication of 1567, translated on pp. 136–141. Paracelsus: Libri v. de Vita longa, ed. by Adam à Bodenstein. Basel: Peter Perna, 1562, sig. d3r-v. I have consulted a reprint to which Sudhoff has assigned the date 1566 (Sudhoff number 503). Valentius prepared the text of Paracelsus, “De tinctura physicorum” included in Paracelsus: Archidoxa Philippi Theophrasti Paracelsi . . . Zehen Bücher, ed. by Michael Toxites. Straßburg: Theodosius Rihel, 1570, pp. 323–324. Paracelsus: De vita longa, sig. d2r-v. Sudhoff discusses the evidence of that led Huser to identify Oporinus as Bodenstein’s source for the additional material (Bibliographia Paracelsica, pp. 71–72).
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text had an extra chapter in book one, three extra chapters at the end of book three, and four unnumbered sections added to book two. The final book remained unchanged.16 The phrase ex ore Paracelsi lent credence to the belief – which Huser took as fact – that Paracelsus dictated the chapters to Oporinus and that Oporinus gave Bodenstein passages from the original dictation. Nevertheless, a heated dispute broke out between two second-generation Paracelsians. In 1567, the Parisian diplomat Jacques Gohorry brought out the first anthology of Paracelsian writings to be made available in Latin. Gohorry included a life of Paracelsus, an account of his medical philosophy, and a selection of texts, featuring the four-book De vita longa.17 He compared the supposed fifth book to the spurious fourth book of Cornelius Agrippa, and argued that De vita longa was difficult enough as it had first appeared.18 He wrote an extensive commentary on the four-book version, devoting three pages of his own analysis to each page of the original. His Compendium proved sufficiently important that Perna agreed to publish a new edition the following year. However, Perna’s edition included a highly critical appendix by the Belgian physician Gerard Dorn (c.1530–c.1584). Dorn had already written books on alchemy and Paracelsus when he began to collaborate with Bodenstein. The two produced a Latin edition of a text attributed to Paracelsus in 1568.19 Dorn went on to be the principal translator of Paracelsian texts into Latin, almost all of them published by Perna. After reading through Gohorry’s edition, he wrote a thirtypage response to the “venom that Leo Suavius (unknown to me) tried to spew.”20 Dorn’s language was openly abusive, after the manner of contemporary pamphleteering. It was calculated, he said, “to make the imposter repent and come to his senses.”21 He wrote primarily to defend himself against charges that he had made various errors of translation and interpretation, replying to fifteen specific statements in Gohorry’s Compendium. Even Perna’s printer got into the act with a six-page defense of Boden_____________ 16 17
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See Sudhoff: Bibliographia Paracelsica, p. 61, for a detailed comparison of the two texts. Paracelsus” Compendium, ex optimus quibusque eius libris, cum scholiis in libros IIII eiusdem De vita longa, ed. by Leo Suavius (pseud. of Jacques Gohorry). Paris: Rovilius, 1567. For background on Gohorry and the compendium see Allen G. Debus: The Chemical Philosophy: Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, 2 vols. continuously paginated. New York 1977, pp. 146–148. Paracelsus, Compendium, p. 304. Paracelsus, Pyrophilia vexationumque, ed. and trans. by Adam à Bodenstein and Gerard Dorn. Basel: Peter Perna, 1568. Sudhoff places the work, also known as Coelum philosophorum, with other spuria in vol. 14, pp. 405–420. In his Bibliographia Paracelsica, he suggested that Dorn may have been employed at Perna’s firm (p. 174). Paracelsus, Compendium, sig. zz. 7r. Paracelsus, Compendium, sig. bb5v.
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stein and the second edition of De vita longa, which Gohorry had dismissed as a poor imitation of the work of Paracelsus.22 Quite apart from the personal charges, Dorn had good reason to respond. He wanted to clarify the teachings of Paracelsus at a time when the medical establishment was beginning to debate their usefulness. Gohorry was an amateur chemist and botanist, but not a physician. He was attracted to odd causes, such as alchemical allegories, and seemed to care more about magic than medicine. He devoted considerable space to reflections on commerce with spirits, and thus took Paracelsus backward into the Middle Ages when Dorn and others hoped to move his ideas forward. The Englishman Robert Burton was frankly amused by Gohorry’s fascination with the spirit world and wrote in his famous Anatomy of Melancholy: Leo Suavius [Gohorry’s pseudonym], a Frenchman, (out of some Platonists) will have the air to be as full of them [i.e., spirits] as snow falling in the skies and that they may be seen, and withal sets down the means how men may see them; by gazing steadfastly on the sun lighted by its brightest rays, &c., & saith moreover he tried it, proved the dish before eating . . . 23
Gohorry’s interest in spirits fanned the flames lit by medical traditionalists, who accused Paracelsus of using illicit magic to achieve his ends.24 Dorn would soon respond to such charges by the Swiss physician and theologian Thomas Erastus (1524–1583),25 and we shall see that English champions of Paracelsus made similar efforts to play down the role of spirits in medicine. In due course, Dorn prepared his own commentary on the five-book De vita longa, published the year after Perna’s death.26 His commentary on the Archidoxa, including the shorter tract on long life, appeared the next _____________ 22
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Paracelsus, Compendium, sigs bb62-bb8v. In Gohorry’s defense it may be noted that several books of doubtful authorship were printed under the name of Paracelsus during the “third” period of Paracelsian publication, and that the work on which Bodenstein and Dorn collaborated in 1568 was among the first of them; see note 19 above. Robert Burton: Anatomy of Melancholy, ed. Floyd Dell and Paul Jordan-Smith. New York 1927, p. 160; part 1, section 2, member 1, subsection 2. It should be understood that the English noun platonic was commonly applied to alchemists and other occultists; see Oxford English Dictionary, „platonic". See the comments on Gohorry and Paracelsus in D. P. Walker: Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella. London 1958, pp. 96–106. Following the comments of Gohorry, Walker treats the magic of Paracelsus as “demonic,” but he begins by saying Paracelsus does not seem “inteligible” and shows no “coherent patterns of thought.” The “modest admonition” appeared the prefatory pages of Gerard Dorn: De natura luce physica. Frankfurt a. M.: [Christoph Corvin], 1583. or background on the charges of Erastus see Allen G. Debus: The English Paracelsians. New York 1965, pp. 37–38. Paracelsus: Libri v. De vita longa, brevi et sana, ed. by Gerard Dorn. Frankfurt: Christoff Rab, 1583. A further response to Gohorry appears in the expositio following book 5, chapter 1 (pp. 162–164).
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year and was among his last publications.27 As Bodenstein’s edition of the four-book De vita longa began a remarkable run of posthumous interest in Paracelsian manuscripts, Dorn’s comments on the five-book version helped to mark the end of an era. The publishing history of Vom langen Leben and its companion tract De renovatio is much more complicated. Although not printed during the author’s lifetime, they seem to have survived in many manuscript copies. In some, the two tracts were included with the books of the Archidoxa; in others they appeared as adjunct texts. The evidence is complex,28 but the inference is simple. Early readers of Paracelsus regarded these two tracts as books of secrets, rather like the books of the Archidoxa – a work known in Latin translations as one “concerning the secrets of the mysteries of nature.”29 Although written in German, the Archidoxa was first published in a Latin translation printed in Cracow in 1569.30 The volume showed signs of careful preparation, with marginal notes and an index prepared by the Polish physician Johannes Gregor Macer. It was arranged in ten parts, or books, with the twin tracts on restoration and long life coming ninth and tenth. The arrangement must have been based on a manuscript tradition, for it was repeated in the first German edition of the Archidoxa, prepared by the Swiss Paracelsian Michael Toxites (né Schütz; 1514–1581). Toxites had his doubts about the arrangement and included a query at the end of the book on long life, asking whether it was indeed the tenth book.31 He found some confirmation when Perna issued his own version of the Archidoxa later in the year.32 The Perna version had no editorial apparatus, but may well have been typeset from a manuscript provided by Bodenstein. It _____________ 27 28
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Gerard Dorn: Comentaria in Archidoxorum libros x. Frankfurt a.M.: [Christoph Corvinus], 1584. Sudhof devotes much of his forword to the tracts of 1526–1527 to the problem of the Archidoxa and related texts, including Vom langen Leben. See vol. 3, pp. v-li, esp. the first twenty-five pages. Also see his earlier essay „Ein Beitrag zur Bibliographie der Paracelsisten im 16. Jahrhundert“. In: Centralblatt für Bibliothekeswesen 10 (1893), pp. 316–326, 386– 407. Paracelsus, Archidoxorum Aureoli Ph. Theophrasti Paracelsi De secretis naturae mysteriis libri decem, ed. and trans. by Gerard Dorn. Basel: Peter Perna, 1570. Paracelsus: Archidoxae . . . Paracelsi . . . ac mysteriorum naturae scrutatoris & artificis absolutissimi. Libri x, ed. by Adam Schröter. Cracow: Mathias Wirzibiet, 1569. Schröter also prepared an edition of Paracelsus, De preparationibus, also published by Wirzibet in 1569 (Sudhoff item 107). Schröter states that he prepared the edition from a Latin text given him by Count Albert Laski (1527–1605) and ostensibly edited by Paracelsus; see Sudhoff, Bibliographia Paracelsica, pp. 168–174. Paracelsus: Archidoxa Philippi Theophrasti Paracelsi . . . Zehen Bücher, ed. by Michael Toxites. Straßburg: Theodosius Rihel, 1570, p. 322. Paracelsus: Archidoxorum . . . X. Bücher. Basel: Peter Perna, 1570; Sudhoff item 116. I have used Perna’s reprint of 1572.
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too treated the essay on long life as the tenth book; however, it placed the companion book on restoration immediately after the opening book on the microcosm. Toxites used Perna’s sequence when his book was reprinted in 1574.33 (See Fig. 1.) The same sequence was used in Dorn’s 1570 translation, also published by Perna.34 The ten-book sequence made good sense, for Paracelsus began with promises of going beyond the ancients and introducing new medicines and treatments. He referred to a final book “concerning the uses of those which precede it” (vom dem brauch der andern all),35 but he threatened to suppress it so that it would not fall into the hands of idiots. He maintained that his true disciples could deduce the applications of the first nine books, and there is no more likely culmination of those books than in the preservation of life. Partly because De vita longa is pervaded by same concerns about going beyond the ancients and leaving a legacy to deserving followers, it seems possible that the book Vom langen Leben was intended as the tenth book of the Archidoxa, and the later De vita longa as the extension for those who were in on the secrets of Paracelsus. Less than two weeks after Toxites signed his preface, another editor completed the introduction to yet another version of the same text. On the evidence of his portrait, Johann Albert Wimpfen was a thirty-year-old physician and philosopher. He had written a reasoned book on the differences between the ancient medicine of Galen and the modern medicine of Paracelsus,36 and he thought he had obtained a good manuscript of the Archidoxa. Unlike the earlier editions, it had only eight books of the ten books mentioned in the prologue, plus a placeholder for a ninth book which had been planned “but not written” (sed non scriptus). (See Fig. 2.) Compared to the Toxites edition, the Wimpfen edition shows fewer attempts to modernize the spelling and punctuation. This may reflect either his scholarly precision or the haste of his publisher, which is indicated by the printer’s on the last page.37 Wimpfen prepared only one other volume of Paracelsian texts, a group of “similar tracts” based partly on a volume _____________ 33 34 35 36 37
Paracelsus: Archidoxa Philippi Theophrasti Paracelsi . . . Zehen Bücher, ed. by Michael Toxites. Straßburg: Christian Müller, 1574. See note 29 above. Waite, vol. 2, p. 5; Sudhoff, vol. 3, pp. 95–96. Johannes Albertus Wimpinaeus: De concordia Hippocraticorum et Paracelsistarum. Munich: Adam Berg, 1569. For a discussion of the book see Debus, The Chemical Philosophy, pp. 135–139. Paracelsus: Archidoxa ex Theophrasia, ed. Johannes Albertus Wimpinaeus. Munich: Adam Berg, 1570, sig. g4r. The printer does not provide an errata sheet but asks readers to advise him of any errors they note.
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published by Toxites.38 His edition of the Archidoxa might have been overlooked were it not for a singular claim. In a prefatory note, Wimpfen said he presented the several works in the volume “as Paracelsus has left them in his own handwriting” (wie sie Theophrastus in aigner handscirift verlassen hat).39 With these words, he implied that he used a manuscript prepared by Paracelsus, and not simply that he had heard of one that omitted the books on renovation and long life. It was a strong claim for the text’s priority, and a good selling point, but it was also an easy claim to make. The title page of yet another edition of the Archidoxa, printed in Cologne in the same year, said it followed a manuscript in the author’s handwriting (auß des authors Handschrift) and gave the text as he himself ordered it (wie er selbst ordiniert).40 Similarly, a revised reprint of Dorn’s ten-book edition included a title-page note that it was translated from the handwritten manuscript of Paracelsus himself (ex ipsius Paracelsus autographo),41 although the first edition made no such claim and the revision removed the two disputed books. Nor were the claims necessarily false. Paracelsus could have prepared copies for several students, who in turn could have copied the text in a hand very like his own. Either Wimpfen decided the paired books were more important to the Archidoxa than the eight-book structure admitted, or his publisher wanted a greater claim on the book-buyer’s attention, for a reprint later that year offered “Twelve Books of Archidoxa” divided into two parts.42 The new title page gave assurance that the twelve books were arranged in the order indicated at the beginning of book 1 (wie die zu anfang des ersten Buchs nach ordnung verzeichnet). In any case, the claim in the Wimpfen edition made it attractive to Huser as he worked through a manuscript that he thought was in the author’s handwriting (auß Theophrast eigener Handschrift).43 In an editorial note, Huser explained that his manuscript had different chapter numbers. His _____________ 38 39 40
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Paracelsus: Etliche tractetlein zur Archidoxa gehörig, ed. by Johannes Albertus Wimpinaeus. Munich: Adam Berg, 1570; cf. Paracelsus, Ettliche tractatus . . . Paracelsi, ed. by Michael Toxites. Straßburg: Christian Müller, 1570. Paracelsus: Archidoxa ex Theophrastia, sig. *4v. Paracelsus: Archidoxorum Theophrastiae. Cologne: Heirs of Arnold Birkman, 1570. I have not seen a copy of this edition, so cannot know how accurately it follows the Munich edition prepared by Wimpinaeus. Sudhoff, Bibliographia Paracelsica, pp. 198–203, suggests it combines the text of Toxites with the arrangement of Wimpinaeus. Title-page note in Paracelsus: Archidoxorum seu de secretis mysteriis, libri decem, trans. by Gerard Dorn (Basel: Peter Perna, 1582). Paracelsus: Arciodoxa D. Philippi Theophrasti Paracelsi. . . zwölf Bücher. Munich: Adam Berg, 1570. The books on renovation and long life are preceded by tracts on antimony and tinctures. See Huser’s marginal note in the „Register der Schriften“ (sig. *2v).
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manuscript jumped from book 2 to 4, and he opted to create the missing book 3 by shortening book 2 “on the mystery of the elements” and placing the practical notes “on the separation of the elements” in a separate book.44 This became the standard arrangement, preserved in almost all subsequent editions. Huser’s edition of the works of Paracelsus is regarded as the editio princeps. Sudhoff’’s edition gives volume and page numbers from Huser, much as scholary editions of Aristotle give Bekker numbers. From Huser onward, editors have treated the two works on long life as pendants to the Neun Bücher Archidoxa, rather than constituent parts.45 Even Dorn’s Latin translation was affected. The order was preserved throughout his lifetime,46 but it was altered afterward. The Munich editor and publisher Zacharias Palthen, who prepared the first comprehensive Latin edition of the works of Paracelsus, followed Huser’s edition closely, but added new material in the middle to get the ten books that Paracelsus promises in the prologue.47 Later still, the Geneva-based editor Fridericus Bitiskius deleted the material that Palthen inserted, but added a “key . . . from an old German codex.”48 (See Fig. 3.) He explained his addition in a long prefatory note to the reader. Like Huser, Palthenius and Bitiskius placed the books on regeneration and long life immediately after the Archidoxa. Bitiskius boasted that his translation was actually better than the original texts,49 and in one respect he was right. He gave the whole of Vom langen Leben, as Dorn translated it, whereas Huser omitted the last paragraph as it appeared in the editions of Wimpinaeus and others. Not only is the longer ending more eloquent; it returns to the first book of the Archidoxa and to concerns that Paracelsus voices there about keeping “miracles and marvels” from idiots in the medical profession: Hoc optaremus a Domino deo, nobis concedi videlicet, ut libere, contentuque sine, de labore Sophiae liceret scribere (sic ut Idiotae non vilipenderent & intelligerent) ea solum quae nos docuit experintia. Verum propter istos nobis tacendum est cum patientia de miraculis, & magnalibus laboris, in quo terra sancta Sophiae
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Huser, p. 5. Compare the sequence of texts in Huser, pp. 1–113 with that in Sudhoff, vol. 3, pp. 86– 308. Waite generally follows the similar sequence in the Latin folio edited by Fredericus Bitiskius: Paracelsus: Opera omnia, medico-chemico-chirurgica. Geneva: de Tournes, 1658, vol. 2, pp. 1–73 (Sudhoff 381). This edition follows the first Latin folio . Paracelsus: Operum Latine redditorum, vol. 1. Basel: Peter Perna, 1575. Paracelsus: Opera medico chimicorum, 11 vols. in 4. Frankfurt a. M.: Palthenius, 1603– 1605 Paracelsus: Opera omnia, medico-chemico-chirurgica, ed. by Fridericus Bitiskius. Geneva: de Tournes, 1658, vol. 2, p. 35. Isabel Pantin: “The Role of Translations in European Scientific Exchanges in the Sixteenth and seventeenth centuries“. In: Cultural Translation in Early Modern Europe. Ed. by Peter Burke and R. Po-Chia Hsia. Cambridge, England, 2007, pp. 163–179, esp. pp. 172–173.
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quintum esse reservatur. Cum igitur ea tacere nos oporteat, in animo nostro scribere dum taxat volumus, ut in perpetuum nobiscum sepulta manenat absque termino vitae. De vita longa dictum sit hactenus, utpote nostris ac illis, qui foelici necnon subtili sun ingenio praediti.50 [This we could wish conceded to us by the Lord God, that we might write freely, without the contempt of idiots, what experience has taught us about this work of wisdom. But, on account of those idiots, one has patiently to hold one’s tongue with regard to the miracles and marvels of that work of wisdom, wherein is reserved the earth of the wise. Since, then, I must be silent about this, I determine to describe it only among my secrets, that it may remain buried within me, though without any end of life. Thus far have I written on the subject of Long Life for our own and other disciples who are endowed by a happy and subtle intelligence.]51
The same remarks appeared in Wimpfen’s edition: Und wer unser wunsch von Gott / das wir onverschmehung der Idioten sollten schreiben vom labore Sophiae, was allein unsere experients auß weist / so müssten wir schweigen und dulden / das groß wunder laboris Sophiae, darinne terra Quintum esse reserviert. Dieweil wir aber hie[r] schweigen müssen / wöllen wirs inn unser gemüt unzerbrechlich einschreiben / ewig ohne end bey uns zubleiben / und uns das leben o[h]ne ein Termin segen: darbey wir also de vita longa genug gesagt haben den unsern und den höhern / die da angezündt sein mit allen subtilieten.52
Sixteenth-century readers of these final lines would have recognized – as Wimpfen did in his introduction – that Vom langen Leben continues ideas begun in the Archidoxa, ideas to be withheld from hoi poloi. Modern readers can see that Paracelsus regarded some works like the Archidoxa as exoteric, intended for the general reading public, and others as esoteric, meant only for “our own” (unsern). Vom langen Leben belongs to the first category, De vita longa to the second.53 De vita longa represents a legacy “buried within me, though without any end of life.” Vom langen Leben was translated into English in 1656 and again in 1894. Most of De vita longa was also translated in 1894. The translations are fundamentally sound, but they reflect the prejudices of the _____________ 50 51 52 53
Paracelsus: Archidoxorum, trans. Dorn, pp. 247–248; cf. Paracelsus: Opera omnia, ed. Bitiskius, vol. 2, p. 53. Waite, vol. 2, pp. 122–123. Archidoxis ex Theophrastia, sig. g4r-v; cf. Archidoxorum . . . X. Bücher. sig. h1v. Compare Paracelsus, Sechster Theil der Bücher und Schriften, ed. by Huser, p. 80. At this point, Perna’s German edition is identical, while the Toxites edition has several textual variants. Nevertheless, Vom langen Leben is a fine statement of esoteric medicine as the word esotericism is now understood. A recent translation of the Sudhoff text into Spanish has a full introduction and extensive annotations to this effect as well as numerous illustrations from alchemical and other esoteric texts. See Paracelso: El Libro de la larga vida, ed. and trans. by Héctor Avilés Resina. Madrid 2007 (Colleccion Medicina Tradicional de Occidente). The translator seems to be associated with the homeopathic Heliosar Spagyrica in Toledo and its parent organization, the Sociedad de Estudios e Investigaciones Spagyricas.
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translators and of the audiences for which they were intended. The seventeenth-century translation seems to follow the Huser text, as it omits the final paragraph found in the other editions. The nineteenth-century translation explicitly follows the Bitiskius edition.54 The 1656 translation was published as the appendix to excerpts from Paracelsian books of surgery, the Grosse Wundartzney and Kleine Wundartzney. The translator may have been a physician or chemist, for he made it clear in the introductory note “To the Reader” that he was interested mainly in the chemical remedies: Paracelsus Opinion concerning Spirits and Ghosts, and many other his Philosophick Opinions, which indeed are not ordinary; I do not approve them, nor will I here refute them: his Physical [i.e., medical] Practice I do approve, and doubtless, his cures and Physical Experiments which he hath left to us in his Writings (the best part of which are in the following Treatises) are very good; as the experiences of many since his death, who have tryed them, do testifie to us; (viz. Crollius, Baptista Van-helmont, Dorneus, and many other famous Physicians, who have followed his way altogether . . . .55
A note on the title page says the tracts in the volume have been “Faithfully Englished, by W. D.,” who has been identified as one William Dugard.56 However, the adverb selectively would be more appropriate, for he told readers he “abbreviated” the second of three main tracts, “giving you onely the cures.”57 Moreover, he silently omitted whole sentences of Vom langen Leben. At the same time, he added chapter divisions with explanatory headings and transitional sentences, all of which made the remaining material more accessible. Indeed, he presented Paracelsus as a reasonable man, expressing surprise that some thought otherwise: And certainly Basil, which is one of the most famous Universities of the World, would never have chosen him to be their Publique Professor of Physick [i.e., medicine], if he had been a Mountebank or a weak man: He was chosen to be their Professor, when he was but thirty years of age, and there taught Physick publickly
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Waite, vol. 1, p. xv. Hence the minor discrepancies between some German quotations in this essay and their English translations. Paracelsus His Dispensatory and Chirurgery, ed. and trans. by W. D. London: Philip Chetwind, 1656, sigs. A6v-A7r. In addition to Gerard Dorn, the translator mentions Oswald Croll and John Baptist Van Helmont, both familiar to English readers in sixteenthcentury translations. Cf. Charles Webster: The Great Instauration: Science, Medicine and Reform, 1626–1660. London 1975, p. 107. Also see “Dugard, William (1606–1662).” In: Dictionary of National Biography. London 1921–1922, vol. 6, pp. 133–134. The identification is uncertain, but I shall use Dugard’s name for convenience’ sake. Paracelsus His Dispensatory, sig. A8v.
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many years, and many came thither to hear his Physick Lectures from all parts of Germany, from Spain, Italy, France, Hungaria, Poland, Denmark, &c.58
The error of this statement will be obvious to a modern reader, but may simply reflect the general lack of information about the life of the Paracelsus. Dugard’s translation appeared almost a century after the first references to Paracelsus in English-language books of medicine and well after the period covered by the late Allen G. Debus in The English Paracelsians (1965). During that period, Paracelsian texts in English were characterized by a “compromise” such as Dugard later made: the chemical medicines were promoted but not the cosmology on which they were based.59 By 1656, however, there was a new interest in esoteric ideas, and a new wave of occult publication made possible by the breakdown of censorship during the English Civil Wars. In the next 30 years a great many books on alchemy and alchemical medicine were published in England. The Catalogue of Chymicall Books prepared by the London publisher William Cooper between 1673 and 1688 includes 15 Paracelsian volumes.60 The same period saw the translation and publication of many works by Jacob Böhme, a professed follower of Paracelsus, thus promoting a new wave of esoteric piety in authors like Jane Leade and William Law. The second translation of Vom langen Leben was made in 1894, during a second wave of occult publication in England. It appeared in an anthology edited by the American-born occultist Arthur Edward Waite (1857– 1942), a member of several Masonic and Rosicrucian societies. Waite was working for an English lord who practiced alchemy and wanted access to the writings of Paracelsus.61 He himself regarded alchemy as a secret tradition of knowledge about the true nature of man and thus as spiritual science rather than a physical one. He assumed that the “exoteric medicine” of Paracelsus would be “of inferior importance to the modern student,” compared to the esoteric practice.62 He placed the book “On Long Life” after the Archidoxa in a volume devoted to “Hermetic Medicine and Her_____________ 58 59 60 61
62
Paracelsus His Dispensatory, sigs. A7v-A8r. Cf. Debus: The English Paracelsians. New York 1965, pp. 49–85. Debus documents English responses to Paracelsus from 1562 to 1640 and describes the official position of the Royal College of Physicians as the “Elizabethan Compromise”. William Cooper’s A Catalogue of Chymicall Books, 1673–1688: A Verified Edition, ed. by Stanton J. Linden. New York 1987, pp. 77–79. Linden does not accept the attribution to Dugard. R. A. Gilbert: A. E. Waite: Magician of Many Parts. Wellingborough, England 1987, pp. 95–96. Gilbert identifies the likely translator as the Julius Kohn, an Austrian emigré whose identity was unknown to Waite. Kohn also translated Solomon Trismosin: Splendor Solis. London 1920. Waite, vol. 1, p. xvi.
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metic Philosophy,” but for some reason he put it before the book on “Renovation and Restoration.” His translation tends to be word for word, whereas Dugard’s concentrates on the general sense. Where Dugard has “image,” Waite gives “homunculus”. Where Dugard identifies “witchcraft,” Waite has the literal “incantations.” Dugard gives uses the English word “unknown” to translate the German verborgen, while Waite preserves the Latin “occult”.63 It would be tedious to quote whole paragraphs for comparison; suffice it to say that the plain English of Dugard comes across as more sane and lucid than the Latinate prose in Waite. Waite had little regard for De vita longa and relegated it to an appendix, explaining: De vita longa shews Paracelsus at his darkest and, it may be added, at his worst. From beginning to end it is not only unintelligible, but almost incapable of translation. . . . The present version has been reasonably compressed, but it can only be affirmed that it interprets the original about as accurately as can be expected.64
He preserved the additional section on nature spirits, which Gohorry had rejected; however, he removed the book containing alchemical treatments of 14 specific diseases, ranging from life-threatening ones to skin afflictions. Waite’s remains the only translation available to readers of English, it is unlike any version of the treatise in any other language. As Dugard’s version of Vom langen Leben makes it appear more reasonable, Waite’s version of De vita longa makes it seem less so. The removal of all “exoteric” material helps prove his point that the whole treatise resists translation. English scholarship on the two treatises is scarce and occasionally misleading. Like the translations prepared by Dugard and Waite, they tend to emphasize one side only of the body-soul equation. Walter Pagel (1898–1983), a German-trained pulmonologist doing research at the Wellcome Institute in London, turned away from the medical ideas of Paracelsus when he came to De vita longa and emphasized – some say overemphasized – the Neoplatonic ideas that Paracelsus learned from Marsilio Ficino.65 Pagel openly differed with Kurt Goldammer on the extent of Ficino’s influence.66 Meanwhile, he championed the insights of C. G. Jung in what remains the longest essay on De vita longa since Dorn’s commenta-
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Compare Waite, vol. 2, p. 116 and p. 120, respectively, to Paracelsus His Dispensatory, pp. 389 and pp. 400–402. Waite, vol. 2, p. 323 n. Walter Pagel: Paracelsus: An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance. 2nd ed. Basel 1982, pp. 218–226. Pagel: Paracelsus, pp. 226–227.
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ry, which Jung in turn championed.67 Jung’s essay became available to English readers in 1967 with the publication of Alchemical Studies, volume 15 of his Collected Works, and it has influenced the view of Paracelsus without attracting much interest to the tracts on long life.68 Jung’s influence is apparent, for example, in Charles Poncé’s preface to the paperback reprint of Waite’s edition – an essay which Poncé later included in a book of “reflections on Jungian psychology.”69 In the preface he described alchemy as a purely psychic science – “the archetypal language of the soul” and “the product of the Soul Imagining”.70 Similarly, the American Jungian James Hillman has declared that the astronomy of Paracelsus – the system of correspondences linking humans to the stars – “refers to the imaginal realm”.71 These writers have simply confirmed the position that Jung took a generation earlier. Jung acknowledged that Paracelsus owed a debt to Ficino, as everyone had done since Bodenstein first presented the work, but he devoted all his time to working out the author’s “secret doctrine” (Geheimlehre) and made “no attempt to evaluate the treatise as a whole”.72 Jung’s pages on Dorn’s commentary have drawn attention to an important text. However, the whole essay promotes the view of Paracelsus as an occasional and aphoristic thinker. The impression has been enforced by the anthology that Jung’s associate Jolande Jacobi prepared in the year that Jung wrote the essay,73 an anthology that remains the standard in the English-speaking world and has been reissued in German with a new introduction by Gerhart Wehr, author of several books on Jung.74 The Eng_____________ 67
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Pagel: Paracelsus, p. 122 and n. 334. Jung’s reading of Paracelsus has its detractors; see, e.g., Andrew Cunningham: „Paracelsus Fat and Thin: Thoughts on Reputations and Realities“. In: Paracelsus: The Man and His Reputation, His Ideas and Their Transformation, ed. by Ole Peter Grell. Leiden 1998 (Studies in the History of Christian Thought, 85), pp. 53–77, esp. pp. 57–64. C. G. Jung: „Paracelsus as a Spiritual Phenomenon“. In: Alchemical Studies, trans. R. F. C. Hull. Princeton 1967 (Bollingen Series, 20), pp. 109–189; originally published as C. G. Jung: „Paracelsus als geistige Erscheinung“. In: Paracelsica: Zwei Vorlesungen über den Arzt und Philosophen Theophrastus. Zurich 1942, pp. 43–176. Charles Poncé: „Foreword: In Praise of Bombast“. In: The Hermetic and Alchemical Writings of Paracelsus, ed. by A. E. Waite; Boulder, CO ,1976, vol 1. 6 pages, unpaginated. Reprinted in Charles Poncé: Working the Soul: Reflections on Jungian Psychology. Berkeley, CA 1988, pp. 11–18. Poncé: „Foreword“, vol. 1, p. 6. James Hillman: A Blue Fire: Selected Writings by James Hillman, ed. by Thomas Moore. New York 1991, p. 147. Jung: „Paracelsus as a Spiritual Phenomenon“, p. 134 and n. 4. Theophrastus Paracelsus: Lebendiges Erbe, ed. by Jolande Jacobi. Zurich: Rascher, 1942. Paracelsus: Selected Writings, ed. by Jolande Jacobi, trans. by Norbert Gutermann, 2nd ed. Princeton 1958 (Bollingen Series, 28); Paracelsus, Artz und Gottsucher an der Zeitenwen-
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lish edition has even inspired a novel about Paracelsus, written in fragments like those in Jacobi’s anthology.75 Paracelsus is a highly quotable writer, even in English translation. But he is also a systematic thinker – more systematic than any collection of fragments could suggest. I submit that his writing on long life are not the incomprehensible jumble of ideas that Waite has made it out to be. They two tracts develop according to plans announced at the outset, and in keeping with the general plan of the Archidoxa and other early work of Paracelsus. When we look at them more closely, we may be surprised to see how they develop step by step from the author’s basic working principles. We may also find a better balance of theory and practice, as well as medical and spiritual concerns, than the studies just mentioned would suggest. The tracts on long life make the most sense in the larger context of the author’s medical theory as articulated in the Archidoxa and later developed in the Paragranum and Paramirum. The Archidoxa grows from an opening essay on the microcosm of man to a long section on elixirs that can preserve bodies far beyond their normal limits, “so that they may abide hundreds or thousands of years without corruption or change.”76 As we have seen, some early editions, like that of Michael Toxites, included Vom langen Leben as the final book, so that the Archidoxa concluded with the conservation of human life. In similar fashion, the Paramirum starts with the tria prima of salt, sulfur, and mercury; continues with treatment of specific diseases; and ends with discussion of the spiritual body, “created out of the mouth of God.”77 In trying to equate the spiritual body of Neoplatonism and the resurrected body of Christian Scripture, Paracelsus retraces a path he took in the final pages of De vita longa. We have seen that the earlier tract on long life is commonly paired with a tract on regeneration as Die beiden Bücher De renovatione et restauratione und Vom langen Leben. One editor has called Die beiden Bücher a “two-faced work,” one face looking to Neoplatonism and the other to Hermeticism.78 There is the dream of life prolonged through medicine, but also a theory of matter and spirit very different from that of modern science. Even so, there is a realization that the procedures of alchemy, though applicable to the chemical medicine, have their limitations. _____________ 75 76 77 78
de: Eine Auswahl aus seinem Werk, ed. by Jolande Jacobi with an introduction by Gerhard Wehr. Olten and Freiburg i. Br. 1991. Evan S. Connell: The Alchymist’s Journal. London and New York 1992. Waite, vol. 2, p. 69; cf. Sudhoff, vol. 3, p. 184. See Paracelsus: Essential Theoretical Writings, ed. and trans. by Andrew Weeks. Leiden 2008, p. 495 (Paramirum, book 2, chapter 8). Theophrastus Paracelsus Werke, ed. by Will-Erich Peuckert, vol. 1: Medizinische Schriften. Basel 1965, p. 450.
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In the first book of this pairing, Paracelsus explains that true renovation cannot occur in a man in the way that it occurs in a metal. A metal can be reduced to its primal substance, and recreated in an incorruptible body. But a man cannot be similarly reduced: die restauratio und renovatio sollent also in dem menschen verstanden werden, das sein humor radicalis, den der spiritus vitae treibt und ubet, nit hinter sich gezogen werde, sonder gesterkt und für sich getriben. als ein baum, dem da geholfen wird zu der blüe und zu der frucht, und darnach, so das abfelt, widerumb gefördert wird zu tun wie vor.79 [restoration and renovation must be understood this way: that man’s radical moisture, acting upon and energizing the spirit of life, shall not be diminished or driven back, but rather shall be increased in its powers and pushed forward, as a tree to which aid is given for the production of its flowers and fruits, so that when these drop off and are done with others are again procreated as before.]80
But while man himself cannot be restored to his Adamic state, his illnesses can be restored to health in a sort of alchemical procedure: aber zuverstan von der lepra ist also ein umbkeren in dem leib, das nit alein lepra, sonder so ein sterkere krankheit, dan lepra ist, wer, verzert und ausgetriben wird. nit in form, das lepra gescheiden werde vom leib, wie purum ab impuro, sonder in den weg, das lepra sich convertirt in sanitatem, wie ein kupfer das golt wird, oder ein eisen das kupfer wird, des sich dan niemants verwundern sol.81 [concerning leprosy, or any more severe disease which may exist, it is well to know that it undergoes transmutation in the body, not, indeed, that there is a separation of the pure from the impure, but that the leprosy is converted into health, as copper or iron are transmuted into gold.]82
Paracelsus proceeds to list the things that restore health and sets down four “mysteries,” concerning the “first entities” of minerals, gems, herbs, and liquors. The related book on long life picks up here. Paracelsus begins Vom langen Leben by saying that he will now show how medicines can be used to prolong life. He will do so in two ways, first by exploring the theory of extending life, then by discussing the practice of preparing and prescribing medicines to this end. On the theoretical side, he argues that disease does not necessarily result in death, for diseases can be remedied and life can be conserved. Indeed, conservation is a key word in the tract. Paracelsus regards life as a flame that requires fuel, “a burning and living fire” that feeds on wood and reduces it to smoke and ash.83 Here we have the whole tria prima, with the principles of sulfur, _____________ 79 80 81 82 83
Sudhoff, vol. 3, p. 205. Waite, vol. 2, p. 125. Sudhoff, vol. 3, p. 208. For the transmutation of an illness into its corresponding form of health see J.-M. Rietsch in the present volume. Waite, vol. 2, p. 128. Waite, vol. 2. p. 112; cf. Sudhoff, vol. 3, p. 228.
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mercury, and salt represented in the flame, smoke, and ash, respectively.84 Just as a wood fire can be kept going by adding logs to it and shielding it from wind and rain, so a human life can be prolonged. Paracelsus notes that there are different requirements at different times of life – in youth, and maturity, and old age – and that very few have met all of them. The poor cannot afford medical advice, and the rich lead “irregular lives” and ignore the advice they get. Paracelsus nevertheless proceeds with the advice, admitting that others have given the obvious parts of it. The advice concerns diet first, then environment, and finally matters of mental health. He notes that physical and mental health alike are influenced by the heavens, but leaves that aside as pertaining to “astronomy” rather than medicine as such. The term “long life” includes a reference to the first and most familiar of the aphorisms of Hippocrates, commonly known by its first four words: “Life is short, art long” (Vita brevis, ars longa). Paracelsus takes this to mean that diseases progress faster in those who suffer than do the diagnoses, let alone the treatments. He concludes “that such long an art would not serve the brief life (das ein solche lange kunst nicht wol dient dem kurzen leben), and he asserts that the art of Hippocrates must be supplemented with mysteries of nature, arcana, and other mighty works (mysterien der natur, arcanen und andern magnalien).85 With these mysteries, he moves beyond what he calls the ancient medicine to something rather new. He takes the title De vita longa from Marsilio Ficino, the Italian Neoplatonist, who assigned it to the second of three books comprising his De triplici vita. Ficino stated, “Hippocrates was right in saying that art is long and that we are unable to pursue it unless we have a long life” (Quibus sane de causis, artem esse longam una cum Hippocrate recte concludimus, nec posse nos eam, nisi vitae longitudine consequi).86 Ficino was a medical doctor as well as a scholar who translated Plato and others under the patronage of Cosimo de Medici. He worked on the ancient assumption that the body decayed as its constituent “humors” became unbalanced. He proposed to help scholars prolong their lives by soaking up healthful influences from the environment. He recommended sunshine and wine, music and exercise, and much else that a naturally _____________ 84 85
86
Andrew Weeks: Paracelsus: Speculative Theory and the Crisis of the Early Reformation. Albany, NY, 1997, p. 109. “Alia explicatio primi aphorismi Hippocratis,” Sudhoff, vol. 4, p. 539. See Robert E. Schleuter: “The First Aphorism of Hippocrates as Explained by Paracelsus,” Annals of Science 1.4 (Oct. 1936): pp. 453–461. Dorn defines magnalia as “the work of God” (opus Dei); see his Dictionarium Theophrasti Paracelsi. Frankfurt [Christoph Rab], 1583, p. 63. Marsilio Ficino: The Book of Life, trans. Charles Boer. Woodstock, CT, 1994, p, 38; Marsilio Ficino: De vita libri tres, ed. by Martin Plessner. Hildesheim and New York 1978, sig. f1r.
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melancholy scholar might ignore. He took seriously the possibility that planets could influence humans for better or worse, and his approach was later ridiculed as a sort of astrological medicine. Nevertheless, this was Ficino’s most popular treatise in the sixteenth century and almost the only medical work that influenced Paracelsus. The latest edition to be published before his death included Ficino’s defense of astrological medicine and a new treatise on its importance for a healthy life.87 Paracelsus begins De vita longa with an opening nod to Hippocrates and Ficino: our life is long, for neither spirits nor the light of Nature affirm that it is short. The life of the ignorant is short, with art it is long. What is shorter than art? What is longer than life, at least among those who are not superstitious?88 [praetera vita nostra vita nempe longa est, quam nec spiritus, nec lumen naturae brevem esse aiunt. ignorantium vero brevis, cum arte longa. brevius arte quid? vita vero quid longius, inter mortales saltem non superstitiosos?]89
He then goes beyond Hippocrates, even as Dante’s pigrim goes beyond Virgil (Inferno 4.150), noting that the ancient medicine lacked the light of Christian revelation: This was the mistake of Hippocrates throughout all his prescriptions, namely, that he administered to the body instead of to the soul, and that he proposed to preserve the mortal by means of the mortal. The body is a creature, but no so the life, and it is indeed nothing but the daughter of death. Therefore, from Archa descended that which is immortal. But you will say that the Hippocratic Muse is not altogether to be referred to death. Be it so, but you will find a much easier way to health, since the Magnale [great work of God] has descended from above. For God gave unto Hippocrates only those things which are creatures, and among these even the chief mysteries were not imparted in their fullness. To this body God has added another body which is to be regarded as celestial, that, namely, which exists in the body of life. Hereof I, Theophrastus, affirm that this is the work and this the labour.90 [atqui huc omnia sua excerpta retulit Hippocrates, corpusculumque illud per manibus sumere, tanquam subiectum longae vitae, et mortale mortali conservare decrevit, quum in eo nulla unquam fuerit vita, quae ex illius fonte manarit. corpus enim creatura est at non vita, nihilque minus mortis filla. igitur ex archa ea descendit, quae est immortalis. non prorsus referenda est, inquies, Hippocratica musa ad mortalitatem. esto, at multo faciliorem viam ad sanitatem invenias, quandoquidem e superis descendit magnale istud. nihil enim praeter ea, quae creaturae sunt, Hippocrati tribuit deus, imo nec ei ea plene quae creaturae sunt insignia mysteria dedit: sed ad rem. huic corpori deus adiunxit aliud quoddam, puta
_____________ 87 88 89 90
Marsilio Ficino: De vita libri tres. Basel: Barthélemy Westheymer, 1541. The new tract is the work of Guilemus Insulanus (d. 1561). Waite, vol. 2, p. 323. Sudhoff, vol. 3, p. 249. Waite, vol. 2, pp. 324–325.
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coeleste, id quod in corpore vitae existit, de quo Theophrastus ego, hoc opus, hic labor est.]91
With these last words, Paracelsus echoes the sybil in Virgil’s Aeneid (6.129). It is easy to descend to the land of the dead, but difficult to return to the land of the living. Hoc opus, hic labor est. Paracelsus works on the ancient theory that the body’s health comes from a balance of blood, choler, bile, and phlegm (the four humors from which it was made). Paracelsus thinks that health requires a balance of fire, air, earth, and water (the four elements from which the primal limbus originated) but also a balance of salt, sulfur, and mercury (not the common kitchen variety but the three principles, or tria prima, found in all complex bodies). He also thinks that the mixture of elements in a body can be corrupted by outside influences, which he likened to rust on iron in the earlier tract on regeneration.92 Hence his reputation as an early proponent of the infectious theory of disease. Moreover, he suggests a weakened substance can be strengthened by exposure to a concentrated essence or quintessence. Thus his reputation as the father of homeopathic medicine. In fact, he is not a strict homeopath; he proposes to treat worms, scabies, and syphillis with chemicals that will fight them off. But once he coveres some allopathic cures in book 2 of De vita longa, he moves on to homeopathic treatments. This longer text is commonly considered not only difficult and confused, but disordered and deliberately obscured in the manner of many alchemical texts. Waite thought it almost unintelligible, as we have seen, and Jung found it hard to understand (“schwer verständlich”).93 Even Jacques Gohorry, throughout his exposition, implied that it makes sense only in light of Ficino’s earlier work – a point that the intellectual historian D. P. Walker has underscored.94 All of this reinforces the image of a drunken genius dictating to a weary amanuensis. Nevertheless, De vita longa has signs of careful composition, including book and chapter divisions and topic sentences like those that Dugard added to his rendering of Vom langen Leben. What is more, there is evidence of schematic thinking. In the earlier tract on long life, Paracelsus distinguishes three stages of human life – youth, maturity, and old age – and discusses diseases common to each of them. In the later tract, he identifies three kinds of life: mortal life, immortal life and, in between them, long life. Biblical tradition sets the human life span at 70 years (Psalm 90: 10) or, the at most, 120 _____________ 91 92 93 94
Sudhoff, vol. 3, pp. 250–251. Waite, vol. 2, p. 124. See note 64 above and C. G. Jung: Paracelsica: Zwei Vorlesungen über den Arzt und Philosophen Theophrastus. Zürich 1942, p. 82. See note 24 above.
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years (Genesis 6: 3). Immortal life is by definition eternal. However, the Bible tells of men who lived upwards of 900 years, including Adam, Noah and, most famously, Noah’s grandfather Methuselah. Meanwhile, Hermetic tradition maintains that Hermes Trismegistus was an Egyptian prince who preserved his life by practicing what he preached. Citing such examples, Paracelsus claims that life can be extended up to 900 years, and he assigns a similar lifespan to the elemental beings of Alpensagen: the wild people or people of fire, air, earth, and water. The number is not entirely random; Plutarch gives a similar age for the nymphs of Classical myth.95 Paracelsus is not especially interested in stories of his elemental beings or in their legendary names. Indeed, he remarks that the names were given to them by people who did not understand what they represented,96 and he invents still more names for them in De vita longa. The important thing for him is that they can pass from a world of pure fire, air, earth, or water into our world of mixed elements and can interact with humans on occasion. They owe their long lives to the relative purity of their bodies, which are not contaminated with other elements. But because they are not descended from Adam they do not have souls breathed into them by God and they can only hope for eternal life if they somehow receive God’s grace. Perhaps these elemental beings owe some of their appeal to a biblical prophecy, found in the deuterocanonical book of Wisdom (19: 18–21). This prophecy is that the relations of the elements can be changed just as a stringed instrument can be retuned, and that someday men may be able to live in water or fire. Scholars think the prophecy shows the influence of Stoic philosophy and the theory that the elements are connected by divine breaths (pneumata), but the same prophecy had an obvious appeal to alchemists. Paracelsus and others maintain the legend of Elias Artista, a master alchemist who will transform the world at the end of time.97 He takes comfort in the opening dialogue of the apocryphal Fourth Book of Ezra, where the prophet is told that the age will end when there is a preordained number of people like himself.98 Stories of encounters with salamanders and Melusines, who can live in fire or water, strike Paracelsus as confirmation that the Millennium was fast approaching. Such stories also hint that there are be other worlds than our own, perhaps the only _____________ 95 96 97 98
Plutarch, De defectu oraculorum, §11. Paracelsus: „A Book on Nymphs, Sylphs, Pygmies, and Salamanders, and on the Other Spirits“. In: Paracelsus, Four Treatises of … Paracelsus, p. 231. See the treatise „Nova disquisitio de Helias Artista“, Theatrum Chemicum, vol. 4, pp. 214– 246. The legend is developed in Connell’s Paracelsian novel, cited in note 75. 4 Esd. 2: 36 (in most Bibles 2 Esd. 4: 36). Paracelsus refers to this prophecy in the “key” that Bitiskius inserts as the tenth book of the Archidoxa (trans. by Waite in vol. 2, p. 83).
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possibility available in the pre-Copernican era. The alternate, or fairytale, world of the elemental beings represents a threshold between mortal and immortal life – the promise of a prolonged, though still limited, lifespan.99 The Old Testament tells of two men who do not die but are taken up to heaven: Enoch before the Great Flood (Genesis 5: 22) and Elijah afterward (2 Kings 2: 11). Their names appear in various permutations in De vita longa as Paracelsus discusses the “Enochdiani,” which Waite interprets as belonging to “the race of Enoch and Elias.”100 These creatures are farther across the threshold than the elementals, closer to the world of the immortals. In writing about them, Paracelsus arguably came closer to the “inner alchemy” of Chinese medicine than any Western alchemist had come. As the emphasis shifts from gold-making to soul-making, Paracelsus and his disciples enter a new concern with immortal adepts that continues into modern movements like the Theosophical Society.101 The Taoist classic Qing-Jing Jing, known as Cultivating Stillness in one translation and Das Tao der Weisheit in another – is specifically concerned with the attainment of long life through the attunement of the earthly and heavenly bodies, and it holds out the prospect of immortal life.102 In the process, heaven is born from earth, yang from ying, and the spirit is strengthened with herbs and other medicines. As a Ming Dynasty commentator wrote: If mortals in this world do not want to die,They must lengthen their lives, add oil to the lamp, and preserve the great harmony.103
In moving from mortal life to long life and immortal life, Paracelsus moves from one body to another: from the physical body to the astral body and the spiritual body. Mortal life
Long life
Immortal life
Physical health
Purity
Spiritual health
Human beings (Psalm 90: 10)
Mythic beings and God’s elect (e.g., Methuselah)
Enoch, Elijah; the redeemed (John 3: 15)
_____________ 99 100 101
102 103
The fairytale quality of Paracelsus’s life and work is well considered in Sergius Golowin, Paracelsus im Märchenland: Wanderer zwischen den Welten. Basel 1980. Waite, vol. 2, pp. 346, 365. For the influence of Paracelsus on Rosicrucian and other esoteric traditions see Thomas Willard: „Rosicrucian Sign Lore and the Origin of Language“. In: Theorien vom Ursprung der Sprache, ed. by Joachim Gessinger and Wolfert von Rahden, 2 vols. Berlin and New York 1989, vol. 1, pp. 133–157. Cultivating Stillness: A Taoist Manual for Transforming Body and Mind, ed. and trans. by Eva Wong. Boston 1992; Das Tao der Weisheit, ed. and trans. by Hilmar Klaus. Aachen 2008. Cultivating Stillness, p. 20.
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Physical body (the soma psychikon of 1Cor.15.44) Body
Astral body (the soma epourania of 1Cor.15.40) Soul
Spiritual body (the soma pneumatikon of 1Cor.15.44) Spirit
Salt
Sulfur
Mercury
Sense
Imagination (“the star in man”)
Reason
Table 1. Varieties of Life
Like his older contemporary Cornelius Agrippa, he maintains that God had created three worlds and not just one: the elemental world of nature; the celestial world of the stars and planets; and the supernatural world of the angels and archangels. The physical body is made from the elements and belongs in the natural or sublunary world. The astral body originates in the celestial world; and the spiritual body, created by the breath of God, has its origin in the supercelestial world.104 This does not mean that the three bodies are necessarily separated, either in space or in time. The apostle Paul wrote of different bodies, terrestrial and celestial, and of the seed that grows into something new: “It is sown a natural body; it is raised a spiritual body” (1 Corinthians 15: 44). However, Paracelsus maintains that all men have two bodies, earthly and heavenly. He also claims that the different bodies have different kinds of perception: sensory perception in the physical body and “imagination” in the astral body.105 By “imagination” he of course does not mean simple fantasy, or the chance association of ideas formed on sensory impressions. He means “extrasensory perception” in the way the term was first used: “perception by means that are outside of the recognized senses.”106 Over the course of five books, Paracelsus proceeds from one body to the next. In the first book he discusses life in general. In the second he offers alchemical remedies for fourteen specific afflictions of the physical body, and in the third he treats the preparation of elixirs to promote good health by aligning the body with the planets and stars. The fourth book continues the emphasis on astrological medicine, but adds the analogy of _____________ 104 The principal text on the bodies of man is the Astronomia Magna (Sudhoff, vol. 12, pp. 1– 443). Also see Pagel: Paracelsus, pp. 65–72 and Paracelsus, Philosophie der Grossen und der Kleinen Welt: Aus der «Astronomia Magna», ed. and trans. by Gunhild Pörksen. Basel 2008. 105 Dorn glosses imaginatio as “the star in man, the celestial and supercelestial body (astrum in homine, coeleste & supercelestie corpus; Dictionarium, 56). The definition is reproduced in Martin Ruland: Lexicon Alchemiae (Frankfurt: Johann Andrea, 1661), 264. 106 Oxford English Dictionary, „extra-sensory“.
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the elemental beings who enjoy longer lives through their purer nature and their freedom from the curse of Adam. Finally, the fifth and most enigmatic book turns to the spiritual body. In the book’s final chapter, Paracelsus states: what shall I say in this place of those things which the sagacious muse embraces in her canons together with the matrix of the four Scaiolae, which sleep in you, and render your temples anodynic? I occasion so great an astonishment in you that you shall come even to take heed of a poppy. But I confine myself to the cosmographic life, where both the place and the body of Jesihach appear. Further, the things I prescribe I do prescribe beyond the forces of the body and the place. Whosoever understands these things the same has a lawful claim upon the title of a spagyrist.107 [quid dicam hoc de his, quae musa sagax in canonibus suis una cum matrice quatuor scaiolarum complectitur, quae vobiscum indormiscunt, tymporaque in vobis anodynica reddunt. et ego vos etiam atque etiam in tantum stuporem aduco, ut in notitiam papaveris redigamini, sed missa facio illa, et in hoc solum laboro, quod in superioribus libris hactenus monui, in cosmographica scilicet vita, ubi cum locus tum corpus Iesihach apparent. porro etian quae praescribo, praeter loci ac corporis vires, idque spagirice praescribo, hyrdomantice et pyrotechnicus.]108
It is hard to know where to begin. The last of these neologisms, “spagyrist,” is also the best known. It refers to an alchemist who can dissolve and coagulate matter, purifying and recombining substances after the medieval motto solve et coagula.109 Dorn identifies the “Scaiolae” as spiritual powers of the mind and soul (spirituales mentis & animi vires), identifying them with the four elements and drawing comparison to the rapture of Elijah, the baptism of Christ, and the experience of Holy Communion.110 Even Dorn is stumped by “the place and body of Jesihach,” of which he can only say, “It is supernatural.”111 But the whole chapter is captured in the term “cosmographic life.” There is a point beyond which the life lived on earth blends into the life of the cosmos, and beyond which even the long life of nymphs and salamanders pales at the prospect of eternal life.112 When one realizes that the physician must tend to the soul as well as the mind and body, and to the spirit as well as the soul, one sees that _____________ 107 Waite, vol. 2, p. 346. Waite omits the last two nouns, which may be translated “hydromancer” and “pyrotechnician.” 108 Sudhoff, vol. 3. p. 289. 109 See Dorn: Dictionarium, p. 86; also Oxford English Dictionary, „spagyric“. 110 Dorn: Dictionarium, pp. 83–84. They could well be sensation, imagination, understanding, and will – the four “powers of the soul” discussed by Ramon Lull, of whom Paracelsus has just spoken, albeit slightingly. 111 Dorn: Dictionarium, p. 54. 112 See Dorn’s commentary on the chapter in Paracelsus, pp. 175–179. Also see the commentary in Gian Carlo Benelli: Storia di un altro occidente. Rome 2000, pp. 252–254.
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health extends to religion for Paracelsus, and that the physical body is connected through the cosmos to the Creator. For this reason, Paracelsus maintains that anatomy must go beyond dissection to include the study of man’s place in the cosmos and in the plan of God’s creation.113 Although he studied medicine in Padua, and knew about the innovations of Vesalius, he has little use for autopsy and dissection, which he calls the anatomy of cadavers (anatomia cadaverum). He prefers to study and strengthen the individual body’s place in the cosmos, in a process that Dorn terms spagyric anatomy (anatomia spagirica).114 Paracelsus refers to the celestial body as the inner body, and the physical body as the outer one, making them rather like nesting dolls, one inside the other. They are comparable to the different koshas, or sheaths, of Hinduism, moving ever inward from the physical body to the body of bliss, with Brahma or God at the center. Just as in Hindu and Yogic tradition, the heart is the site of perception and imagination is the main faculty. Paracelsus wrote the tracts on long life before the age of thirty-five, the traditional midpoint in life, and he died before the age of fifty. His critics were delighted to note that he could not preserve his own life, let alone the lives of his patients. But he had a ready answer for them in the pages of his Paragranum: Ich will nach meinem Tode wider euch ausrichten als vorher. Ob ihr schon meinen Leib freßt, so habt ihr nur einen Dreck gefressen. Der Theophrastus wird mit euch streiten ohne den Leib.115 [I will oppose you more after my death than before. If you have eaten my body, you have eaten crap. Theophrastus will argue with you without his body.]
Indeed, he left the considerable literary corpus that scholars are still editing, translating, and interpreting. In my own small contribution, I have drawn attention to two little-studied works on longevity. I have suggested that they develop more systematically than recent scholarship indicates and have noted their significance in extending the ideas of the Archidoxa. I have passed over neologisms that puzzled readers from Dorn to Jung and beyond – for example, the “aquaster” (literally the “star water”) which Dorn identified with a vision of something that exists but not as a thing – a notion which Jung found to be, of all the ideas in Paracelsus, _____________ 113 See Thomas Willard: „Donne’s Anatomy Lesson: Vesalian or Paracelsian“. In: John Donne Journal , 3.1 (1984), pp. 34–61. 114 Gerard Dorn: „De Tenebris contra Naturam, et Vita Brevi“. In: Theatrum Chemicum, vol. 1, p. 460. 115 Quoted with a comment in Sergius Golowin: Paracelsus: Mediziner, Heiler, Philosoph. Munich 1991, p. 198. The same line is adapted in Pirmin Meier: Paracelsus: Arzt und Prophet: Annäherungen an Theophrastus von Hohenheim. Zürich and Munich 1998 (PendoPocket, 8), p. 361 (first published in 1993).
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“the closest to the modern concept of the unconscious.”116 Perhaps, like the first English translator of Vom langen Leben, I have made Paracelsus seem more rational than he really was. But I trust I have made the point that he views life in a system that reaches beyond the health of the body to the health of the soul and spirit and so connects his concerns with medicine and religion. His message to the world is that one needs both religion and medicine. Because we have met in the former setting of a sixteenth-century Dominican monastery, it may be worth noting that his voice anticipates one in Gustav Meyrink’s most esoteric novel. The young hero of Der weiße Dominikaner hears the voice in a dream: Jegliches Geschehen, das in unser Leben tritt, hat seinen Zweck; Sinnloses gibt es nicht; eine Krankheit, die den Menschen befällt, gibt ihm die Aufgabe: vertreibe mich mit der Kraft des Geistes, damit die Kraft des Geistes erstarke und wieder Herr werde über die Stofflichkeit, wie sie es einst gewesen vor dem ¸Sündenfall‘. Wer das nicht will und sich mit ¸Arzneien‘ begnügt, der hat den Sinn des Lebens nicht erfaßt; er bleibt ein kleiner Junge, der die Schule schwänzt.117 [Each event in our life has its purpose; it is not meaningless. A sickness that befalls a man gives him the message: Drive me away with the power of the spirit, and thus reinforce the spirit’s strength and make it once more the Lord over the material world as it was once before the Fall. Whoever is unwilling to do that, and relies entirely on medicaments, has missed the meaning of life. He is still a small boy skipping school.]
It sounds rather like the voice of Paracelsus and like his advice on living the long, cosmographic life.
_____________ 116 Dorn: Dictionarium, p. 17; Jung, „Paracelsus as a Spiritual Phenomenon“, p. 140. 117 Gustav Meyrink: Der Weiße Dominikaner: Aus dem Tagebuch eines Unsichtbaren. Vienna 1921, pp. 59–60.
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Fig. 1. Arrangement of books in the Archidoxa as edited by Michael Toxites. Second edition, Straßburg: Christian Müller, 1574 (Sudhoff 158). Source: Münchener Digitale Bibliothek (VD16 P 397).
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Fig. 2. Arrangement of books in the Archidoxa as edited by Johannes Albertus Wimpenaeus. Munich: Adam Berg, 1570 (Sudhoff 120). Source: Google Books.
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Fig. 3. Arrangement of books in the Archidoxa as edited by Fridericus Bitiskius. Geneva: de Tournes, 1658 (Sudhoff 381). Under the last title are included two “different” (varii) tracts on long life. Source: Google Books.
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Mystiker und Wahnsinnige, eine Beängstigung der Philosophie. Die Ausgrenzung a-rationaler Erkenntnisformen als Methode Andreas Brenner
Abstract Wahnsinn ist eine „Krankheit der gestörten Vernunft“, stellt Kant fest und bringt damit eine bis heute verbreitete Sicht auf den Punkt: Wahnsinn ist demnach eine Krankheit und Vernunft, als deren Gegenteil, eine Form der Gesundheit. Maßgeblich ist diese Aussage auch deshalb, weil sie sich eignet, den Begriff der Norm zu etablieren. Wer wahnsinnig ist, weicht ab von der Norm, ist schlicht anormal, umgekehrt wird die Vernunft, als das Gegenteil des Wahnsinns, zur Norm. Wahnsinn und Vernunft, Normabweichung und Normsetzung eignen sich somit für ein gesellschaftspolitisches Programm, das in der Philosophie ihren Ausgang nimmt und weit über sie, bis in die Tiefen gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit hineinreicht. In der ratiozentrierten Kultur des Abendlandes wird mit dem Begriffspaar von Vernunft und dem Anderen der Vernunft nun Politik gemacht. Die Macht, welche die Vernunft auf diese Art erlangt, wird zugleich zum Spiegel des Anderen der Vernunft. Der Blick auf die Entwicklung von Wahnsinn und Vernunft zeigt, dass alles auch hätte anders kommen können und die Ausgrenzung des Wahnsinns keiner Not folgte und mithin auch eine Kultur des Wahnsinns und auch der Mystik denkbar gewesen wäre.
Madness in Philosophy: The Basis for Exclusion or for Recognition? Madness is a “disease of ill reason,” as Immanuel Kant points out. With this observation he illustrates a common view that madness is an illness and reason is the opposite, i.e., a kind of health. This position became important for the establishment of the terms of normality. Madmen differ
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from the norm; that is what makes them abnormal. Viewed the other way around, rationality is the opposite of madness and hence the norm. Madness and reason, difference from the norm or conformity to it, became the criteria for a program that started in philosophy but extended into politics and thus helped to form modern society. The European ratiocentric culture makes political hay with the two terms of reason and unreason. When reason gains power we have to admit that this power is the mirror opposite of reason. When one reflects on madness and reason, it becomes obvious that there was alternative to excluding madness. A culture of madness or mysticism was unimaginable nor impossible. Der Wahnsinn war immer schon eine auffällige Erscheinung, lautes Lachen oder Toben, extreme Grimassen sind auffällig und wollen verstanden oder zumindest in eine Ordnung gebracht werden. Daher verwundert es nicht, dass von Beginn an sich die großen Denker mit dem Phänomen des Wahnsinns beschäftigt haben. Allerdings stellt sich bereits bei dieser bescheidenen und scheinbar empirisch gestützten Aussage ein Problem: Welches Phänomen ist es, das die Aufmerksamkeit der Denker fesselte? Ist es der Wahnsinn, ist es das Genie, ist es die Krankheit, die Gesundheit, die Sünde oder die Berührung Gottes? All diese möglichen Qualifikationen kommen hier in Betracht und machen es nicht eben einfach zu sagen, was eigentlich Gegenstand der Debatte ist. Diese Schwierigkeit wird zusätzlich dadurch verschärft, dass das Wort „Wahnsinn“ sehr jung ist. „Wahnsinn“ ist erst neuhochdeutsch überliefert und kommt von dem älteren „wahnwitz, was ahd. „wan a wizzi“, „dessen Verstand leer ist“, d.h. „ohne Sinn bedeutet.1 Ebenso wie das Englische „madness“ oder das Französische „folie“ ist das Wort Wahnsinn, das sich schließlich in der Gemeinsprache etabliert, nie so richtig zu medizinisch-naturwissenschaftlichen Ehren gelangt, wo man lieber von der „Geisteskrankheit“ spricht. In der Philosophie des 18. Jahrhunderts kennt man dagegen den „Wahnsinn“, der immer wieder mit dem „Wahn“ zusammen auftritt, mit dem es jedoch etymologisch nicht verwandt ist, und hier wird es gleichrangig mit der „Verrücktheit“ gebraucht. Wenn, wie gesagt, der Begriff jung ist, so sind die Phänomene, welche allgemein dem Wahnsinn zugeschrieben werden, doch immer schon aufgetreten und auch debattiert worden. Μαίνεσθαι bedeutet bei Homer das Rasen und Toben, mit dem derjenige, den es überkommt, jede Kontrolle vermissen lässt. Damit taucht auch bereits früh die negative Wertung von dem, was später Wahnsinn _____________ 1
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Stuttgart 1974, hier 3. Bd. Sp. 685.
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genannt werden sollte, auf: Unkontrolliertes Gebrabbel ist deshalb schlimm und sollte verhindert werden, weil es unkontrolliert ist. Verwandt mit der µαίνεσθαι ist die µανίά, die phänomenologisch ähnlich daherkommt und sich in Anfällen von Raserei ausdrückt. Die µανίά hat auch Eingang in den Corpus Hippocraticum gefunden.2 Platon unterscheidet zwei verschiedene Formen des µαίνεσθαι, einmal sind die auffälligen Laute Folge einer Krankheit, das andere Mal sind sie Ausdruck einer göttlichen Gabe. Sokrates: „Und vom Wahnsinn gebe es zwei Arten: die eine sei aus menschlichen Krankheiten entstanden, die andere aus einer göttlichen Abweichung von der gewöhnlichen Norm.“3 Platon unterscheidet hier vier Formen der Abweichung, die mantische (d.h. seherische), die mystische, die poetische und die erotische. Platon geht sogar so weit, Sokrates folgende Aussage in den Mund zu legen: „Nun verdanken wir aber die Entstehung der größten Güter einem Wahnsinn, freilich einem, der durch göttliche Gabe gegeben wird.“4 Damit ist der Wahnsinn geadelt, zumindest sofern er göttlichen Ursprungs ist. Göttlicher Wahnsinn vermag alles, wie es ja das Orakel in Delphi und die Priesterinnen in Dodona belegen, die „im Wahnsinn für Griechenland viel Gutes getan (haben)“, wie Sokrates erklärt, der dann auch fortfährt: „Waren sie aber bei gesundem Verstande, so leisteten sie nur Klägliches oder gar nichts.“5 Göttlicher Wahnsinn ist also dem gesunden Verstande allemal vorzuziehen. Das Problem am Wahnsinn ist aber, das man nicht immer weiß, ob er göttlich, oder ganz einfach menschlich ist. Der Unterschied stellt sich wie folgt dar: Göttlicher Wahnsinn ist „Wahnsagekunst“ (Manike), mangelt es dem Göttlichen, dann ist es bestenfalls „Wahrsagekunst“ (Mantike). Um es klar zu sagen: Auch Menschen sind zur Wahnsagekunst in der Lage, gleichwohl natürlich nur durch die Hilfe der Götter. Diese Art des Wahnsinns dient dem höchsten Glücke des von ihr Besessenen.6 Wahnsinn, so stellt Sokrates (Platon) fest, ist ein Phänomen der Seele. Da diese, wie Sokrates herausgearbeitet hat, unsterblich ist, hat sie bereits an sich etwas Göttliches. Die Seele ist sowohl die Kraft, welche macht, dass Leben lebendig ist, als auch jene Kraft, die zum Denken befähigt. Die Philosophie ist nun jene Beschäftigung, welche Menschen am ehesten dem Göttlichen nahebringt. Da dies eine auf Erden ungewöhnliche Haltung ist, kann es nicht verwundern, dass Philosophen von der Menge als _____________ 2 3 4 5 6
Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1969 (orig. 1948), S. 467. Platon: Phaidros. Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag. Zürich 1974. Bd. III. S. 243, 265a. Platon: Phaidros, S. 209f.: 244a. Platon: Phaidros, S. 210: 244a. Platon: Phaidros, S. 211: 245c.
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verrückt, Sokrates spricht von „verdreht“, angesehen werden.7 Damit haben wir das Spektrum des Themas Wahnsinn abgesteckt: Wahnsinn ist göttlich und befähigt zu höchsten Einsichten; das Phänomen des Wahnsinns, der häufig mit Raserei und wirrem Reden daherkommt, wird jedoch häufig als Verrücktheit angesehen, und, das muss man hier auch noch sagen, ist auch nicht selten Verrücktheit. In jenem Fall haben wir es also mit einer menschlichen Krankheit zu tun, wie sie Sokrates ebenfalls für möglich hält. Wahnsinn und Theologie ist in dieser Konnotation in Europa nicht mehr weiterentwickelt worden, und diese frühen Positionen bilden daher die zeitlich letzte Parallele zu außereuropäischen Ansätzen, in denen Wahnsinnigen häufig die Verehrung der Gemeinschaft entgegengebracht wurde. Man muss bezweifeln, dass Platon mit der Position vom Wahn der Philosophie seinen Lehrer, den authentischen Sokrates, zu Wort kommen lässt, denn diese elitäre Vorstellung steht eigentlich der Lehrpraxis, wie sie der über den Markt von Athen ziehende Sokrates realisiert hat, entgegen. Denn wie wollte man Philosophie lehren, wenn sie nur in der exzeptionellen Weise des göttlichen Wahns möglich wäre? Im Timaios beschreibt Platon unter Bezug auf die antike Säftelehre verschiedene Krankheitsbilder. Einige leibliche Krankheiten können sogar die Seele in Mitleidenschaft ziehen. Eine solche „Krankheit der Seele“ bedeutet „Unvernunft“.8 Der von ihr Befallene wird abwechselnd traurig, missmutig, verwegen oder feige, vergesslich und lernfaul werden.9 Eine Erkrankung der Seele lässt sich u.a. dadurch vermeiden, dass man „gesund“ lebt, und das bedeutet, sich gut nährt und den Leib in Bewegung hält.10 Damit sind also bereits sehr früh im europäischen Diskurs die Würfel gefallen und die Positionierung des Wahnsinns mehr oder weniger zementiert: Wahnsinn ist das Gegenteil der Vernunft. Da mit der sokratischplatonischen Philosophie die Entdeckung und zunehmende Adelung der Vernunft einhergeht, gilt der Wahnsinn als Unvernunft, also als der Feind der neuen Kultur und muss entsprechend auf allen sich bietenden Ebenen bekämpft werden. Den Kampf gegen den Wahnsinn kann man geradezu als den Kitt der abendländischen Philosophie betrachten: Trotz aller Divergenzen findet sie sich in ihren Hauptströmen darin, das Projekt der Vernunft weiter _____________ 7 8 9 10
Platon: Phaidros, S. 218: 249b. Platon: Timaios. Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag. Bd. VI, S. 296: 86b. Platon: Timaios, S. 298: 87a. Platon: Timaios, S. 300: 88b.
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auszubauen und reale oder vermeintliche Abweichungen davon mit der Macht der Rationalität zu bekämpfen. Nachdem diese Position in der griechischen Philosophie einmal zugrunde gelegt ist, geht sie übergangslos in die römische Philosophie über und versieht die Abweichung von der Vernunft zunehmend mit dem Ruch des Unmoralischen. Denn die „insania“, wie der Wahnsinn als die Krankheit der Seele nun häufig genannt wird, stellt, wie Cicero schreibt, eine „Verachtung der Vernunft“ dar.11 Damit erhält, kurz vor Auftreten des Christentums der WahnsinnsDiskurs eine dreifache Ausrichtung: Erstens stellt der Wahnsinn eine Abweichung von der Vernunft dar, zweitens weicht der Wahnsinnige von der Norm ab, denn Vernunft wird zur Norm und drittens wird die Vernunft normativ geadelt, insofern die Vernunftabweichung als Ver- und Missachtung, ja als deren Geringschätzung betrachtet wird. Die moralische Bewertung ist auch bereits bei Platon aufgeschienen, als er Wahnsinn als eine Krankheit der Seele bezeichnete und „Gesundheit und Krankheit“ in Analogie zu „Tugend und Laster“ stellte.12 Man sieht, wie kurz der Schritt zum Sakrileg ist, als den das Christentum dann den Wahnsinn betrachten wird, zwar nicht als Vernunft-, wohl aber und schlimmer noch als Gotteslästerung.13 Inwieweit das Christentum die Entwicklung der Philosophie wiederholt, sieht man daran, dass auch das Christentum, wie noch Platon, einen sowohl guten wie einen schlechten Wahnsinn kennt, denn die Visionen der Heiligen und Mystiker gelten als Wahnsinn und zwar als „heiliger Wahnsinn“.14 Dieser positive Wahnsinn weicht im Zeitenlauf jedoch bald dem dämonischen Wahnsinn. Unverständliches Reden und Benehmen gelten bald nur noch als maleficium, bei dem der Satan mit am Werke sein muss, weswegen in solchen Fällen die beste Behandlung durch den Priester zu erwarten ist. Bis ins 17. Jahrhundert begegnete die Kirche denn auch den durch ihre Gebärden Auffälligen mit Exorzismen,15 so etwa auch bei der Epilepsie. _____________ 11
12 13 14 15
Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum. Stuttgart 1997, IV. Buch Nr. 14: 31, S. 327. Zugleich begründet Cicero hier den später wiederkehrenden Topos, dass nur den Menschen der Wahnsinn befallen könne, Tiere hingegen nicht; in diesem Sinne auch Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Werke in fünf Bänden. Bd. II. Zürich 1988, S. 83. Platon, Timaios, S. 299: 87c. Dirk Matejovski: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996, S. 97–101. Roy Porter: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Zürich 2005, S. 23 Vgl. Jean Starobinski: Besessenheit und Exorzismus. Drei Figuren der Umnachtung. Frankfurt a. M. und Wien 1978.
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Doch kommen wir zurück zur Philosophie und ihrem Umgang mit dem Wahnsinn. Hier sehen wir, dass der in der Antike eingeschlagene Weg mehr oder weniger bis in die Neuzeit hinein weiter ausgebaut wird. Die Differenzen, die hier allmählich sichtbar werden, sind zunächst marginal: So definiert Thomas Hobbes: „A principal defect of the mind, is that which men call madness.“16 Es fällt auf, dass hier die Ursache des Wahnsinns nicht mehr in der Seele gesehen wird, sondern im Geist, wie er sich als Artikulation des Gehirns ausweist. Damit beginnt eine Pathologisierung des Wahnsinns, die die moralische Bewertung, wie sie im Christentum stark gemacht wird, leugnet. Eine weitere wichtige Differenzierung erfährt das Thema dann bereits bei John Locke, der zwischen „Wahnsinnigen“ („madmen“) und „Blödsinnigen“ („idiots“) unterscheidet. „Madmen put wrong ideas together, and so make wrong propositions, but argue and reason right from them; but idiots make very few or no propositions, and 17 reason scarce at all.”
Damit ist dem Wahnsinn endgültig der moralische Makel genommen, und er ist als Krankheit anerkannt. Dies bedeutet für die Wahnsinnigen jedoch keine Rehabilitierung oder Besserstellung, sondern vorderhand lediglich eine Umsortierung: Aus dem Reich des Bösen wandern sie nun in das Reich der Unvernunft. Da dies in säkularer Zeit geschieht, es also kaum noch eine anerkannte Instanz des Göttlichen, welche über das Böse zu urteilen in der Lage wäre, gibt, ist die Vernunft in deren Leerstelle eingetreten. So erklärt sich auch die gesellschaftliche und politische Macht, mit der dem Wahnsinn in der Moderne zu Leibe gerückt wird. Diese Politik ist philosophisch weiter ausgebaut worden. Neben den beiden Engländern ist es vor allem Immanuel Kant, der sich gegen den Wahnsinn stellt. Wichtiger Vordenker in diesem Zusammenhang ist gleichwohl René Descartes, der nicht nur die philosophische, sondern auch die naturwissenschaftliche Entwicklung maßgeblich bestimmt. Descartes‘ Substanzendualismus, der die ausgedehnte, materielle und die unausgedehnte, immaterielle Substanz unterscheidet, sieht in der Zirbeldrüse oder Epiphyse das Bindeglied zwischen Seele und Leib. Vielfach haben Ärzte die Bedeutung der Epiphyse untersucht und sind, wie der Zürcher Arzt Johann von Muralt (1645–1733), zu der Auffassung gelangt, dass Fehlbildungen der Epiphyse zu auffälligen seelischen Reaktionen führt.18 Theodor _____________ 16 17 18
Thomas Hobbes: Human Nature: Of the Fundamental Elements of Policy. In The English Works. Vol. 4. Aalen 1962, S. 57; zu "madness" siehe auch Leviathan, I, 8. Oxford 1998. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Works. Aalen 1963 (Reprint London 1823), Vol. I. Book II, Chap. 11 § 13, S. 151. Michael Kutzer: Anatomie des Wahnsinns. Geisteskrankheit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie. Stuttgart 1998, S. 150. Zur
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Kerckring (1640–1693), der die Ursache des Schwachsinns seines Patienten zu finden versucht, kann diese nicht finden und vermutet, dass der Austausch zwischen Seele und Körper in der Epiphyse seines Patienten blockiert sei.19 Hieran knüpft also Kant an. Kant unterscheidet zwei Arten von „Seelenkrankheiten“, die eine ist die „Grillenkrankheit (Hypochondrie) und die andere „das gestörte Gemüt (Manie)“.20 Kant beschreibt diese beiden Krankheiten wie folgt: Bei der Grillenkrankheit „ist sich der Kranke wohl bewusst, dass es mit dem Laufe seiner Gedanken nicht richtig zugehe.“ Interessant ist der Grund dieser Störung: Es geht nämlich, wie Kant weiß, mit den Gedanken deshalb nicht richtig zu und her, weil „seine Vernunft nicht hinreichende Gewalt über sich selbst hat.“ Die Vernunft hat den Menschen also unzureichend unter ihrer Kontrolle, was man dann, wie Kant erklärt, daran sieht, dass sich bei „Grillenkranken“ „unzeitige Freude und unzeitige Bekümmernisse, mithin Launen, wechseln, wie das Wetter.“ Die Kontrollinstanz Vernunft wird im Falle der Hypochondrie also außer Kraft gesetzt durch Stimmungen, die scheinbar wahllos, weil unbegründet in den Menschen hineinfahren. Dass es sich hierbei um Stimmungen handelt, lässt sich an Kants Bezug auf das Wetter ersehen. So wie ein Hagelsturm oder ein unerwarteter Sonnenschein die gesamte meteorologische Situation zu ändern vermögen, so bringen die Stimmungen von Freude und Bekümmernis alles durcheinander, wenn sie „unzeitig“ daherkommen. Wenn man also grundlose Freude zeigt – dies das Indiz des Manikers – dann ist das ebenso fatal, wie wenn man „unzeitige Bekümmernis“ zeigt, wie dies beim Depressiven der Fall ist. Unzeitig ist dabei, was vor der Zeit und damit auch vor, oder unabhängig der solche Stimmungen begründenden Ursachen geschieht. Wer also lacht, ohne dass es einen Grund zum Lachen gibt, der hat allem Anschein nach eine Grille im Ohr. Beim Grillenkranken ist die Vernunft zwar unbeschädigt präsent, aber es gibt gleichsam Interferenzen, wie sie heute beispielsweise bei Elektrosmog zu beobachten sind. Dass die Vernunft beim Grillenkranken intakt ist, zeigt sich auch daran, dass sich „der Kranke wohl bewusst ist, dass es mit dem Laufe seiner Gedanken nicht richtig zugehe.“ Die Störgeräusche sind dem Betroffenen als solche also wahrnehmbar und er weiß um seine Störung, ohne dass er sie allerdings beheben kann. Anders sieht dies bei der Manie, dem „gestörten Gemüt“ aus. Hier „ist ein willkürlicher Lauf (der) Gedanken (zu beobachten), der seine eige_____________ 19 20
medizinhistorischen Dimension des Wahnsinns siehe auch den Beitrag von Peter Mario Kreuter im vorliegenden Band. Michael Kutzer: Anatomie, S. 150. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht. Werkausgabe Bd. XII, Frankfurt a. M. 1977, S. 513: BA 125.
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ne (subjektive) Regel hat, welche aber den (objektiven), mit Erfahrungsgesetzen zusammenstimmenden zuwider läuft.“21 Das ist also der eindeutig schlimmere Fall: Hier werden die Gedanken wild, lösen sich von der Realität, wie sie empirisch vermittelt wird und entwickeln gleichsam ein Eigenleben. Was dabei herauskommt, kann man entweder "Unsinnigkeit" oder aber „Wahnsinn“ nennen, erklärt Kant. Nicht jede Form der Missachtung der Erfahrungsgesetze ist jedoch gleich Wahnsinn. Ein Tagtraum, bei dem man sich vorstellt, der Bodensee sei aus Vanillepudding, macht einen noch nicht zu einem Wahnsinnigen, sondern in den Worten von Kant lediglich zu einem "Phantasten" oder zu einem „Grillenfänger“. Kommen einem solche Vorstellungen ungerufen, so heißen diese „Überfälle der Phantasterei“. Hier also beginnt es bedenklich zu werden, und man muss sich ernsthaft fragen, ob so jemand nicht reif für das „Narrenhospital“ sei. Ein Narrenhospital ist, wie Kant erklärt, ein „Ort, wo Menschen (…) durch fremde Vernunft in Ordnung gehalten werden müssen.“ Kant, der den Unterschied zwischen „Verstand“ und „Vernunft“ kennt, hält Menschen, deren Verstandeskräfte weniger weit entwickelt sind, sogenannte „Einfältige“, „Unkluge“, „Toren und Narren“ aber auch Einfalts-Pinsel22 nicht für Kandidaten für das Narrenhospital; hierhin gehören lediglich diejenigen, die krank sind an ihrer Vernunft. In dieser Gruppe gibt es aber auch solche, die ausgezeichnet sind durch einen „leichteren, aber ungeregelten“ Zustrom von Ideen; solche Menschen können Genies sein, oder aber auch nur Schwärmer. Bevor wir zu der Bewertung dieses Phänomens von „Kopfkrankheiten“ kommen, sollten wir noch einige Differenzierungen vornehmen. Der Schwärmer ist „exaltiert“ und ein „exzentrischer Kopf“, wer dagegen in sinnloses Hinbrüten verfällt – Kant nennt als Beispiel denjenigen, der immer wieder in Trauer über einen verstorbenen Gatten verfällt und sich damit einen Zustand, der nicht zu ändern ist, anders wünscht – , der ist, wie Kant sagt, „verrückt“.23 Eine harmlose Weise der Anomalie stellt schließlich das „Steckenpferd“ dar.24 Gegen solche „Reiterei“ ist, obwohl sie natürlich belachenswert ist, nicht allzu viel auszusetzen. Anders als diese Formen, die man als „Wahnwitz“ oder „Aberwitz“ bezeichnen kann, ist der „Wahnsinn“ nicht harmlos. Für den Ernst des Wahnsinns sprechen verschiedene Faktoren, welche zugleich den Grund für die Maßnahmen, welche dem Wahnsinn gegenüber zu ergreifen sind, sprechen. _____________ 21 22 23 24
Kant: Anthropologie, S. 513: BA 125. Kant: Anthropologie, S. 524: BA 138. Kant: Anthropologie, S. 514: BA 126. Kant: Anthropologie, S. 515: BA 127.
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Da gibt es ganz praktische Gründe: Wer in seinen Gedanken die Übereinstimmung mit den „Erfahrungsgesetzen“ aufgibt, der kann die anderen unmittelbar gefährden, indem er sie tätlich angreift, mit Worten beleidigt, wobei Kant explizit den „Hochmut“ aber auch die „Raserei“ der Wahnsinnigen nennt, und er kann letztlich sogar ansteckend sein: Wer von schwachen – Kant spricht von „beweglichen Nerven“ – ist, der läuft Gefahr, beim Anblick solcher Kranker „sympathetisch erregt“ zu werden, was bei dem so Erregten letztlich gleichfalls eine „Verrücktheit“ zur Folge haben könnte.25 Es gibt also gute Gründe, die Wahnsinnigen unter Verschluss zu halten. Neben diesen Gefährdungen von Menschen gibt es einen noch wichtigeren Grund, der für Maßnahmen gegenüber denen spricht, welche an der „Krankheit der gestörten Vernunft“ leiden.26 Um die Bedeutung dieser Krankheit ermessen zu können, sollte man wissen, was denn „Vernunft“ ist. Kant definiert diese wie folgt: „Vernunft ist das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt.“27 Daraus lässt sich entsprechend schließen, dass sich ohne Vernunft nichts erkennen lässt. Damit befürwortet Kant keinen absoluten Rationalismus, denn auch die Sinnlichkeit ist zur Erkenntnis vonnöten, wie es Kant in seiner berühmten und griffigen Formel ausdrückt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“28 Nun wird man aber in der „Kritik der reinen Vernunft“ nicht fündig, wenn man nach Gründen für die Angebrachtheit von Maßnahmen gegen die „Kranken der gestörten Vernunft“ sucht. Denn, von der Gefahr, welche von der denkbaren Aggressivität der Wahnsinnigen ausgeht einmal abgesehen, kann man nicht sehen, warum man besonders viel Energie darauf verwenden sollte, sie wegzusperren und möglicherweise zusätzlich sie bessernden Maßnahmen zu unterwerfen. Das scheint ebenso unangebracht, wie gegenüber den Einfältigen besonderen Aufwand zu treiben. Wer an gestörter Vernunft leidet, der hat, so ergibt sich bislang das Bild, in erster Linie selbst den Schaden, denn er erkennt einfach nichts, d.h. er erkennt falsch. Dies ist bedauerlich, aber rechtfertigt, wie gesagt, eigentlich nicht den Aufwand, der den Wahnsinnigen entgegengebracht wird. Der moralische Impetus, der die Maßnahmen gegen die Wahnsinnigen rechtfertigt, ergibt sich hingegen aus der Moraltheorie Kants. Das Ansehen der Menschheit steht und fällt mit der Vernünftigkeit der Menschen. _____________ 25 26 27 28
Kant: Anthropologie, S. 514: BA 126. Zur Bedeutung der Sympathie in der Medizin siehe den Beitrag von Heinz Schott im vorliegenden Band. Kant: Anthropologie, S. 531: BA 146. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. III. Frankfurt a. M. 1977, S. 62: B 25. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S. 98: B 76.
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Denn die „Pflicht (…) muss also für alle vernünftigen Wesen (…) gelten, und allein darum auch für allen menschlichen Willen ein Gesetz sein“.29 Das bedeutet, dass der „Kategorische Imperativ“, die Quintessenz der Kantschen Ethik, steht und fällt mit der Vernunftfähigkeit des Menschen. Die A-Vernünftigen stellen für dieses Prinzip eine vehemente Bedrohung dar. Denn anders als die unvernünftigen Tiere stellen die avernünftigen Menschen eine schwer zu bewältigende Herausforderung für die Vernunft-Kultur dar. Mit ihnen gerät dann all das in Gefahr, was die Kultur des modernen Abendlandes ausmacht, also die Freiheit und die Würde. In diesem Sinne stellt Kant fest, dass „der Fußsteig der Freiheit der einzige (ist), auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen.“30 Und die Würde schließlich ergibt sich aus der Einsicht in die Sittlichkeit. Den durch die Vernunft begründeten Zusammenhang der Sittlichkeit kann man schließlich auch, wie Kant es tut, auf die Formel bringen, dass „das Sollen (…) eigentlich ein Wollen“ ist.31 Wer die Vernünftigkeit dieses Satzes nicht sieht und sich dieser Einsicht verweigert, der ist per definitionem a-vernünftig, weil er, wenn er vernünftig wäre, diesen Zusammenhang eingesehen hätte. Die Konstruktion Kants, die hier wegen ihrer besonders ausgefeilten Statik als exemplarisch für die philosophische Vernunftkonzeption genommen werden kann, ist von der Art, dass man sie nur kritisieren kann, wenn man sich außerhalb ihrer selbst stellt. Wenn man sich außerhalb der Vernunft begibt, gilt man aber als unvernünftig und damit eigentlich schon nicht mehr als anerkannter Gesprächspartner. Damit kommt dem Vernunftkonzept eine ähnliche Eigenschaft zu, wie sie Artikulationen des Wahnsinns – von der Position der Vernunft aus – häufig vorgeworfen werden: die Hermetik und Abgeschlossenheit. Eine Neubewertung des Wahnsinns kommt mit Arthur Schopenhauer in die Philosophie. Einerseits beschreibt er den Wahnsinn als einen krankhaften Gedächtnisverlust und damit zunächst eindeutig defizitär,32 andererseits bringt er den Wahnsinn in die Nähe zum Traum und bezeichnet den „Traum als einen kurzen Wahnsinn und den Wahnsinn als einen langen Traum“.33 Als eine theoretische Herausforderung betrachtet _____________ 29 30 31 32 33
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VII. Frankfurt a. M., S. 56: BA 60. Kant: Grundlegung, S. 92: BA 115. Kant: Grundlegung, S. 84: BA 103. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Werke in fünf Bänden. Bd. II. Zürich 1988. Kap. 32, S. 464. Arthur Schopenhauer: Versuch über das Geistersehen. Werke in fünf Bänden. Bd. IV. Zürich 1988, S. 232.
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er die Tatsache, dass wir im Traum Raumerfahrungen sowie Bilder sehen können, ohne dazu in unseren Sinnen gereizt zu sein.34 Es ist dann, als ob „unser Schädel durchsichtig geworden wäre, so dass die Außenwelt nunmehr, statt durch den Umweg und die enge Pforte der Sinne, geradezu und unmittelbar ins Gehirn käme.“35 In diesem Sinne ist der Traum dem Wachzustand also eindeutig überlegen. Wenn wir den Traum als einen irrealen Zustand betrachten, so nur aus dem Zustand des Erwachens heraus. Im Traum selber hat dieses vermeintliche Korrektiv keinen Platz. Räumen wir dem Traum das Primat ein, dann sieht es genau umgekehrt aus. Wir können, wie Schopenhauer schreibt, dem Traum dann eine Art „zweites Gesicht“ zuschreiben.36 Hat man das Glück, „leicht“, d.h. nicht abrupt oder schreckhaft zu erwachen, dann vermag man Erinnerungen an den Traum zu bergen. Das ist nun doppelt interessant: Da der Traum von Schopenhauer als „kurzer Wahnsinn“ beschrieben wurde und zugleich der Wahnsinn als Weise des Gedächtnisverlustes, so kehrt sich nun also auch das Bild des Wahnsinns um: Der Gedächtnisverlust ist nur vermeintlich und ist lediglich Folge eines mangelnden Erinnerungsvermögens. In Wahrheit haben wir es sowohl im Traum – in kleiner Form – wie im Wahnsinn – im Großformat – mit einer enormen Weitung unseres Wahrnehmungsvermögens zu tun.37 Daher könnte man spekulieren, dass wir in dieser Situation lediglich unvermögend sind, die Weitung unserer Wahrnehmung zu erkennen. Schopenhauer erinnert mit Bezug auf den Traum an den Somnabulismus: Der Schlafwandler nimmt in der Dunkelheit mehr wahr, als ihm bei wachem Geist möglich wäre. Kommen wir zurück zum Wahnsinn: Nicht nur im Volksmund, sondern schon bei Platon und seither durch die ganze Geistesgeschichte zieht sich der Topos von der Nähe von Genie und Wahnsinn. Auch Schopenhauer kommt auf diesen Zusammenhang zu sprechen und erwähnt, dass überragender Intellekt bisweilen mit dem Wahnsinn in Verbindung gebracht werde.38 Man könnte vermuten, dass hierfür die gleichen Gründe gelten, wie sie Kant am Wahnsinn beschrieben hat: Die Vernunft verliert die Gewalt über sich selbst. Wenn nun etwas dran ist, am Zusammenhang von Genie und Wahnsinn, so eröffnet dies einen neuen Blick auf die Vernunft. Die Vernunft ist also allem Anschein nach in gewisser Weise weniger vermögend als die A-Vernunft. Wenn wir aber diese zu vermeiden _____________ 34 35 36 37 38
Schopenhauer: Versuch, S. 237. Schopenhauer: Versuch, S. 240. Schopenhauer: Versuch, S. 239. Schopenhauer: Versuch, S. 241. Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Werke in fünf Bänden. Zürich 1988. Bd. V. § 206, S. 366.
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suchen, indem wir sie diskreditieren, bringen wir uns letztlich um die stärkste Quelle unserer Erkenntnis. Die vor allem in der Neuzeit und besonders bei Kant an die Wand gemalte Warnung, dass die A-Vernunft in das Chaos der großen Unordnung stürze und man umgekehrt auf den Pfaden der Vernunft wandelnd in der Ordnung verbleibe, kann einen daher eigentlich nicht beruhigen. Denn der Preis für diese Ordnung liegt im Verzicht auf die wahre Erkenntnis, die es möglicherweise nur im Wahn oder der seherischen Schau gibt, was man im Mittelalter noch relativ leicht als mystische Vision beschrieb. Diese Vorstellung vermittelt auch Friedrich Nietzsche, wenn er behauptet, „fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt.“39 Wenn man dies akzeptiert, so bleibt dann vielleicht noch dieser Vorteil der Vernunft: Sie bietet eine Basis, auf die wir uns allgemein einigen können, sodass wir irgendeinen Begriff der Objektivität gewinnen können. Aber auch dies überzeugt nicht wirklich, denn die Basis auf die wir uns im rationalen Diskurs geeinigt haben, ist doch letztlich die Rückbindung unserer Impulse und damit unserer authentischen Artikulationen auf eine als Common Sense ausgegebene konstruierte Basis. Diesem Sinn steht der Wahnsinn offensichtlich entgegen. Daher sollte man auch die gut gemeinten, in der Sache aber verfehlten Anstrengungen aufgeben, Vernunft und Wahnsinn vorschnell versöhnen zu wollen. Die Unterschiede sind markant: Die Vernunft will als Kollektivorientierung Ordnung stiften und Erkenntnis bringen, der Wahnsinn will bisweilen das Gleiche, tritt jedoch nie als Kollektivorientierung auf. Daher lässt sich mit der Vernunft und nicht mit dem Wahnsinn ein Terror zur Verwirklichung des besseren Menschen errichten. Während also „das Vernunftsubjekt (sich) niemandem und nichts verdanken will als sich selbst, ist (dies) sein Ideal und Wahn zugleich.“40 Es ist daher erstaunlich, dass immer wieder wie selbstverständlich von den Obsessionen des Wahnsinns die Rede ist, die Vernunft hingegen fraglos als Tor zum Reiche der Freiheit gilt. Diese Gegenüberstellung scheint so nicht haltbar: Auch die Vernunft kann obsessiv sein und auch der Wahnsinn kann Freiräume lassen. Von Pinel über Schopenhauer bis zu Foucault ist das Gespräch über den Wahnsinn als eine Machtdemonstration der Vernunft beschrieben worden. Trifft dies sicher auch im Einzelnen zu, so möchte ich diesen Weg dennoch nicht mitgehen, da andernfalls der Wahnsinn auch unter _____________ 39 40
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bde., Bd. 3. München 1980. Hartmut Böhme und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985, S. 19.
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den Bemühungen seiner Befreiung dem Vernunftdiktat unterworfen bleibt. Erst die Befreiung des Wahnsinns auch von der wohlmeinenden Vernunft verleiht ihm sein eigenes Recht. In dieser Gestalt begegnet man dem Wahnsinn in der Philosophie jedoch kaum. Fündig wird man hingegen in der Dichtung. Die Berührungsängste der Dichter mit dem Phänomen Wahnsinn sind offensichtlich geringer. Gründe dafür mögen sein, dass zwar die Dichter, d.h. die Künstler, nicht aber die Philosophen den Kuss der Muse kennen. Dieser Kuss hat, wie jeder Kuss, etwas Irrationales: Wenn man danach wie von Sinnen zu schreiben beginnt, lässt sich dies rational kaum erklären. Gründe mögen sein, dass man wie Petrarca glaubt, „von einem gewissen göttlichen Hauch angeweht“ worden sei. Ganz ähnlich sieht Boccaccio ein „besonderes Aufbrausen des Erfindens und Redens“, das „aus dem Innersten Gottes hervorgeht“.41 Alda Merini (1931–2009), die 20 Jahre ihres Lebens in der Mailänder Irrenanstalt verbrachte bis sie in den letzten Jahren ihres Lebens zu einer der bedeutendsten Dichterinnen Italiens aufstieg, hat den Wahnsinn als Sinnstiftung erkannt, wenn sie ihre Erfahrung wie folgt in Worte fasst: "Das Irrenhaus ist der verwunschene Berg Zion, auf dem du die Tafeln eines Gesetzes erhältst, 42 das die Menschen nicht kennen."
Einsichten, wie diese, von Menschen also, die sich von der Obsession einer Vernunftorientierung frei fühlen, lassen sich nicht nur bei den als wahnsinnig Pathologisierten beobachten,43 sondern ebenso bei den Mysti_____________ 41
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Zitiert in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1980, Bd. V, Sp. 718. In diesem Sinne dankt bereits der junge Goethe: "Wie dank` ich, Musen, euch, / Daß ihr mich heut` auf einen Pfad gestellet, / Wo auf ein einzig Wort die ganze Gegend gleich / Zum schönsten Tage sich erhellet", Johann Wolfgang von Goethe: Gelegenheitsgedichte aus dem Weimarer Kreise (1783), Hamburger Ausgabe in 14 Bde., München 1981, Bd. 1, S. 111 Alda Merini: La terra santa. In: Vuoto d` Amore. Torino 1991, S. 92 (aus dem Italienischen von Christoph Ferber), siehe auch Franziska Meier: Im gelobeten Land der Poesie. Höllenqualen, Himmelsvisionen – die italienische Dichterin Alda Merini. Neue Zürcher Zeitung, 06.03.2010, S. 64. Die Liste der Autoren mit Wahnsinnserfahrung ist lang und unübersichtlich. Wenige machen jedoch wie Alda Merini ihre Erfahrungen auch als solche explizit, zu diesen Ausnahmen zählt auch Friedrich Hölderlin. Auf einem von ihm mit "Hölderlin im Wahnsinn" betitelten Blatt findet sich u.a. der Satz: "Ich bin jetzt in einer Gewohnheit, aus der ich mein Leben richtiger verstehe." In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 9, Dichtungen nach 1806. Frankfurt a. M. 1983, S. 40. Adolf Wölfli (1864– 1930), der ab 1895 bis zu seinem Tod in der Berner Irrenanstalt Waldau lebte, hat ein immenses malerisches und dichterisches Werk hinterlassen. Im "Trauer-Marsch" heißt es an einer Stelle: "Woh Das Unglük mich erfasste. / Auf der Heerben Lebens=Bahn, / ich an harter, Wand erblasste, / Darumm fang`t nicht vohrnen ahn. / Weil Sie Alles, untterlasste:
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kern. Ohne hier eine vorschnelle Gleichsetzung von Mystik als Wahnsinn oder Wahnsinn als Mystik aufzustellen, fallen doch einige Gemeinsamkeiten auf: Ebenso wie die Wahnsinnigen, so entwinden sich auch die Mystiker einer Zwangsverordnung der Vernunft und daher sehen sich beide gleichermaßen am Pranger der modernen Philosophie. Diese fühlt sich provoziert von denen, die die „Unsagbarkeit“ aussagen und die „Undenkbarkeit“ denken.44 Erneut ist es Kant, der die Anstrengung unternimmt, die Neuerung der Moderne gegen ihre vermeintliche Bloßstellung und Gefährdung zu verteidigen: Erkennt er im Wahnsinn die Krankheit, so in der Mystik die Respektlosigkeit, die den schnellen „salto mortale“ mit „Begriffen zum Undenkbaren“ macht.45 Anstatt sich redlich zu bemühen, wie es die Philosophie zu tun sich angewöhnt hat – und der, wie man ergänzen müsste, in Ermangelung einer sie belebenden Muse auch nichts anderes übrig bleibt – setzen Mystik und Wahnsinn zum Übersprung an. Solchen Sprüngen will Kant unbedingt einen Riegel vorschieben, Philosophie muss seiner strengen Meinung nach irdisch und prosaisch bleiben, denn wollte man etwa beginnen „poetisch zu philosophieren“, wäre das, wie Kant urteilt, ebenso merkwürdig, als würde ein Kaufmann „seine Handelsbücher künftig nicht in Prosa sondern in Versen schreiben.“46 Das Philosophieverständnis Kants, das für Moderne und Gegenwart vorbildlich wurde, verbietet sich mithin Sprünge, wie sie jede gute Poesie auszeichnet. Dass sie sich um ästhetischen Reiz bringt, mag Kant als Preis der Erkenntnis noch hingenommen haben, dass sie dabei auf Quellen der Erkenntnis verzichtet, scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein. Mystiker wie Emanuel Swedenborg bewegen sich Kant zufolge im „Schlaraffenlande der Metaphysik“ aus dem sie, wie Kant unterstellt, ohne Früchte heimkehren.47 „Sinn und Wahnsinn“48 stellen also nicht notwendig einen Widerspruch dar. Der Sinn dieser Konjunktion zeigt sich ebenso in Arbeiten von Wahnsinnigen wie von Mystikern und auch von wahnsin_____________
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/ Wurde ich so schwartz und Rahn: / Weil ich nicht, zum Guhten passte, / Kräht vom Thurm, der Wetter=Hahn." In: Dölf Störmann: Trauermarsch und Himmelsleiter. Ein Projekt über Adolf Wölfli für Musiker und Schauspieler. La Fourmi 2005 (ohne Seitenangaben). Ebenfalls erhellend ist der Roman des Schriftstellers und ehemaligen PsychiatrieArztes Rainald Goetz (* 1954), Ders.: Irre. Frankfurt a. M. 1983. Alois M. Haas: Mystik im Kontext. München 2004, S. 427. Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. In: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe Bd. VI, Frankfurt a. M. 1977, S. 386. Ebd. S. 397, siehe auch Alois Haas: Mystik, S. 430. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers. In: Vorkritische Schriften bis 1768, Werkausgabe Bd. II, Frankfurt a. M. 1977, S. 968. Dies ist auch der Untertitel der zwischen Vernunft und A-Vernunft changierenden Monografie Eva Hesses über Ezra Pound, Dies.: Ezra Pound. Von Sinn und Wahnsinn. München 1978.
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nigen Mystikern zu denen beispielsweise Ezra Pound gezählt werden kann.49 Auf der ersten Ebene stellt die Wiederanerkennung der Einsichtsfähigkeit von Wahnsinn und Mystik eine Befreiung von der Fixierung auf eine wie auch immer geartete Vernunftorientierung dar; in zweiter und grundlegender Sicht bedeutet sie einen Beitrag zur Homogenisierung der abendländischen Kultur, die an ihrem Beginn und in ihrem Fundament eine Offenheit für beiderlei Erkenntnisweisen kannte, die der Vernunft und die der Entrückung von der Vernunft.
Literaturverzeichnis Böhme, Hartmut; Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985. Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum. Stuttgart 1997. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1969 (orig. 1948). Goethe, Johann Wolfgang von: Hamburger Ausgabe in 14 Bde., Band 1: Gedichte und Epen I, München 1981. Goetz, Rainald: Irre. Frankfurt a. M. 1983. Haas, Alois M.: Mystik im Kontext. München 2004. Hesse, Eva: Ezra Pound. Von Sinn und Wahnsinn. München 1978. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Basel 1980. Hobbes, Thomas: Human Nature: Of the Fundamental Elements of Policy. In: The English Works. Vol. 4. Aalen 1962 (orig. 1651). Hobbes, Thomas: Leviathan. Oxford 1998 (orig. 1651). Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 9, Dichtungen nach 1806. Frankfurt a. M. 1983. Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers. In: Vorkritische Schriften bis 1768, Werkausgabe Bd. II, Frankfurt a. M. 1977 (orig. 1766). Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Werkausgabe Bd. III., Frankfurt a. M. 1977 (orig. 1781/1787). Kant, Immanuel: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. In: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe Bd. VI, Frankfurt a. M. 1977 (orig. 1796). Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. VII, Frankfurt a. M. 1977 (orig. 1785). Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Werkausgabe Bd. XII, Frankfurt a. M. 1977 (orig. 1798/1800). Kutzer, Michael: Anatomie des Wahnsinns. Geisteskrankheit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie. Hürtgenwald 1998. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Stuttgart 1974. Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Aalen 1963 (orig. 1690).
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Eva Hesse: Ezra Pound, S. 93.
396 Matejovski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996. Meier, Franziska: Im gelobeten Land der Poesie. Höllenqualen, Himmelsvisionen – die italienische Dichterin Alda Merini. In: Neue Zürcher Zeitung, 06.03 2010, S. 64. Merini, Alda: Vuoto d` Amore. Torino 1991. Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. In Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bde., Bd. 3. München 1980 (orig. 1881). Platon: Phaidros. Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag. Zürich 1974. Platon: Timaios. Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag. Zürich 1974. Porter, Roy: Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte. Zürich 2005 (orig. 2002). Schopenhauer, Arthur: Versuch über Geistersehen und was damit zusammenhängt. In: Parerga und Paralipomena. Bd. I, Werke in fünf Bänden, Bd. IV, Zürich 1988, S. 225–310 (orig. 1851). Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena, Bd. II. Werke in fünf Bänden. Bd. V., Zürich 1988 (orig. 1851). Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Werke in fünf Bänden, Bd. 2., Zürich 1988 (orig. 1844). Starobinski, Jean: Besessenheit und Exorzismus. Drei Figuren der Umnachtung. Frankfurt a. M., Wien 1978 (orig. 1974). Störmann, Dölf: Trauermarsch und Himmelsleiter. Ein Projekt über Adolf Wölfli für Musiker und Schauspieler. Luzern 2005.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Wolfgang Beutin geb. in Bremen 1934. Studium der Germanistik und Geschichte in Hamburg und Saarbrücken. Staatsexamen an der Universität Hamburg und Promotion ebendort 1961/63. Assistent 1963–1968 und Dozent 1971–1999 an derselben Universität. Im selben Zeitraum: Professur und Dozenturen an den Universitäten Göttingen, Oldenburg und Lüneburg. Habilitation an der Universität Bremen 1996, seither dort Privatdozent. Schrieb etwa 70 Bücher (teils zusammen mit Heidi Beutin), dazu Untersuchungen, Aufsätze und Artikel. Themen: Literatur des Mittelalters, der frühen Neuzeit und der Moderne, Schwerpunkt: mittelalterliche Frauenmystik und die Geschichte der erotischen Literatur. Zu seinen belletristischen Werken zählen: u. a. 10 Hörspiele, 7 Romane und ein Band Erzählungen (2010). Zuletzt (alle Bücher 2010): „Die Frau greift in die Politik“ (mit H. Beutin u. a.); „Die Novemberrevolution 1918 in Grundzügen“ (mit H. Beutin u. a.); Neuausg. der Übers. (1908) des Reiseromans „Rom“ von J. S. Machar (ca. 250 S. Kommentierung, zus. mit H. Beutin); „Hilleriana“ (über Leben und Werk des Schriftstellers Kurt Hiller); „Don Juan kommt wieder“, Aphorismen. Zur Geschichte Dachaus und zur Lebensgeschichte von Leonhard Roth verfaßte Beutin zwei Schriften, das Hörspiel: „Ein guter Engel wird abgesägt“ (1964, uraufgef. mit Dieter Borsche und Hans Nielsen), woraus er späterhin den Roman entwickelte: „Unwahns Papiere“ (1978).
PD Dr. Andreas Brenner Studium der Philosophie an den Universitäten Basel, Bonn, Tübingen und Zürich. Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkt: Phänomenologie und Angewandte Ethik. Forschungsschwerpunkte: Angewandte Ethik, Politische Ethik, Phänomenologie. Wichtige Publikationen: Leben. Stuttgart: Reclam 2009 Umweltethik. Ein Lehr- und Lesebuch. Fribourg 2008. (Übersetzung ins Französische) Leben. Eine philosophische Untersuchung. Bern: BBL 2007 Bioethik und Biophänomen. Den Leib zur Sprache bringen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 Tiere beschreiben. (Herausgeber). Erlangen: H. Fischer 2003 Lexikon der Lebenskunst. (zusammen mit J. Zirfas) Leipzig: Reclam 2002, 375 S. (Übersetzung ins Spanische und Koreanische) Ökologie-Ethik. n
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Autorenverzeichnis
Leipzig: Reclam 1996. Streit um die ökologische Zukunft. Neue Ethik und Kulturalisierungskritik. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994. n
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Prof. Dr. Albrecht Classen studierte an den Universitäten Marburg, Erlangen, Millersville, PA (USA), Oxford (Großbritannien), Salamanca (Spanien), und Urbino (Italien). Im Jahr 1986 promovierte er zum Doktor der Germanistik an der University of Virginia. 1987 ging er an die University of Arizona, wo er heute als University Distinguished Professor für „German Studies“ tätig ist, was eine Stufe über dem Full Professor liegt (ungefähr vergleichbar mit dem C-4). Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Mittelalters und der Frühneuzeit, Frauenliteratur und Geistesgeschichte. Wichtige Publikationen: Laughter in the Middle Ages and Early Modern Timess, ed. 2010 Lied und Liederbuch in der Frühen Neuzeit (zusammen mit Lukas Richter), 2010 Urban Space in the Middle Ages and Early Modern Times, ed., 2009 Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts, 2009 Sexuality in the Middle Ages and Early Modern Times, ed., 2008 The Power of a Woman’s Voice in Medieval and Early Modern Literature, 2007 The Medieval Chastity Belt: A The Myth-Making Process, 2007 Der Liebesund Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahrhundert Verzweiflung und Hoffnung. Die Suche nach der kommunikativen Gemeinschaft in der deutschen Literatur des Mittelalters, 2002 SuchHandbook of Mediaval Studies, 3 vols., ed. 2010. n
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Auszeichnungen und Ehrungen: Five Star Faculty Award, 2009 Henry & Phyllis Koffler Prize for outstanding accomplishments in Research/Scholarship/Creative Activity, 2008 Excellence in International Education and Service Award, 2007 AATG Outstanding German Educator Award, 2006 Distinguished Undergraduate Advising/Mentor Award, 2005 Bundesverdienstkreuz am Band, 2004 University Distinguished Professor, 2004. n
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Prof. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio studierte Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Università Statale di Milano sowie Romanistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin; Promotion an der Freien Universität Berlin mit einer medizinhistorischen Arbeit zur Geschichte der Kriminalanthropologie (erschienen 1995 bei Matthiesen); nach einem Forschungsstipendium an der Herzog-August Bibliothek Wolfenbüttel Habilitation 2003 an der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald zum Thema „Medizinische Ästhetik und plastische Chirurgie zwischen Antike und früher
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Neuzeit“ (erschienen 2005 bei Fink). Sie leitet seit 2003 das Institut für Geschichte der Medizin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und ist seit 2005 Sprecherin des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien (IZFG) sowie des 2009 an der Universität Greifswald gegründeten Departments für Ethik, Theorie und Geschichte der Lebenswissenschaften (DETGeLWi Forschungsschwerpunkte: Medizinische Kultur- und Ethikgeschichte, Geschichte der Psychiatrie, Formen des Wissenstransfers.) Wichtige Publikationen: Mariacarla Gadebusch Bondio, Medizinische Ästhetik. Kosmetik und plastische Chirurgie zwischen Antike und früher Neuzeit (Humanistische Bibliothek, Reihe 1, Abhandlungen 52), München 2005; /Die Hand – Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte/ (Hrsg. Mariacarla Gadebusch Bondio), Berlin 2010; /Wissen und Gewissen – Historische Untersuchungen zu den Zielen von Wissenschaft und Technik / (Hrsg. Mariacarla Gadebusch Bondio und Thomas Stamm-Kuhlmann), Berlin 2009; /Exempla medicorum. Die Ärzte und ihre Beispiele (14.-18. Jh.), /(Hrsg. Mariacarla Gadebusch Bondio und Thomas Ricklin), Florenz 2008; /Blood in History and Blood Histories /(Micrologus’ Library, Bd. 13), Florenz 2005, (Hrsg. Mariacarla Gadebusch Bondio); Mariacarla Gadebusch Bondio, “Daedalus sive mechanicus”/./ Von Ingenieuren, Automaten, Medizinern und Göttern, in: /Sudhoff’s Archiv/, 93 (2009), 4–25; Mariacarla Gadebusch Bondio, Blut, blaues, in: /Blauer Reiter - Journal für Philosophie /26/2 (2008), 88–89.
Dr. med. M.Sc. ETH Urs Leo Gantenbein studierte an der ETH Zürich Mathematik und Physik mit Masterabschluss 1979. Nach der Berufstätigkeit als Mathematiker studierte er an der Universität Zürich Humanmedizin mit Staatsexamen 1989 und medizinhistorischer Doktorpromotion 1992. Seit 1994 unterrichtet er an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. 1995 erhielt er den Facharzttitel für Allgemeinmedizin. Von 1993 bis 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich, danach freier wissenschaftlicher Mitarbeiter. 1998 gründete er das „Zürcher Paracelsus-Projekt“ zur Bewältigung anstehender Aufgaben der ParacelsusForschung. Seit da war er Vorstandsmitglied der Schweizerischen ParacelsusGesellschaft und bis 2007 deren Präsident. Nebenher war er Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften und VizePräsident der Internationalen Paracelsusgesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Paracelsus, Paracelsismus, Alchemie, Medizin des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Herausgeber der Neuen Paracelsus-Edition
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Wichtige Publikationen: Der Chemiater Angelus Sala, 1992 – Schwitzkur und Angstschweiß. Praktische Medizin in Winterthur seit 1300, 1996 – Paracelsus. Der Komet im Hochgebirg von 1531, 2006 – Paracelsus, Vita Beata, Neue Paracelsus-Edition, Bd. 1, 2008 – Zahlreiche Fachartikel, insbesondere zu Paracelsus Auszeichnungen und Ehrungen: Ehrenmitglied der Deutschen Bombastus-Gesellschaft
Prof. Dr. Johannes Grabmayer Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Klagenfurt; Promotion 1986 zum Doktor der Philosophie; Assistent am Institut für Geschichte an der Universität Klagenfurt; 1996 Habilitation; Dozent für Geschichte des Mittelalters am Institut für Geschichte an der Universität Klagenfurt; seit 2004 Institutsvorstand Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte (Geschichte der Mentalitäten, Geschichte des Alltags, Historische Anthropologie, Frömmigkeitsgeschichte, Adelsforschung), Wissenschaftstheorie Wichtige Publikationen: Volksglauben und Volksfrömmigkeit im spätmittelalterlichen Kärnten. Wien-KölnWeimar 1994 Zwischen Diesseits und Jenseits. Oberrheinische Chroniken als Quellen zur Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Köln-Weimar-Wien 1999 Erfragt und Gestaltet. Was ich schon immer über das Mittelalter wissen wollte. Klagenfurt 2002 Europa im späten Mittelalter 1250–1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 2004. Hrsg. Österreichische Historische Bibliographie. Graz 2004 ff Hrsg. Akademie Friesach. Klagenfurt 2009 ff Auszeichnungen und Ehrungen: Förderungspreis des Landes Kärnten, 1992
Dr. Werner Heinz 1969 bis 1978 Studium der Theologie, der Archäologie, der Vor- und Frühgeschichte und der Kunstgeschichte 1979 bis 1982 Projekt Badenweiler: Forschungen, Grabungen und Vorarbeiten zur Konservierung der römischen Thermenruine von Badenweiler im Auftrag des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg (als Projekt zeitlich begrenzt) seit 1983 Arbeit als freiberuflicher Archäologe mit eigenen Forschungen, Gastvorlesungen, Aufsätzen und Büchern sowie der Begleitung von Studienreisen 1991 bis 1992 Zwischenzeitliche Arbeiten zum römischen Theater von CH-Augst
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Forschungsschwerpunkte: Architektur und Balneologie antiker Bäder; Symbolhaftigkeit in der Architektur und der Kulturgeschichte (auch: Symbolik der Zahlen); naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie und der Kunstgeschichte; das frühe Christentum in seiner Geschichte Wichtige Publikationen: 1983 Römische Thermen: Badewesen und Badeluxus im römischen Reich 2003 Reisewege der Antike 2005 Der Aufstieg des Christentums: Geschichte und Archäologie einer Weltreligion 2005 Musik in der Architektur: Von der Antike zum Mittelalter 2007 P. Dinzelbacher – W. Heinz, Europa in der Spätantike 300 – 600 Auszeichnungen und Ehrungen: Mitglied des Beirates der internationalen Mittelalterzeitschrift Mediaevistik
PD Dr. med. Jürgen Helm 1983–1990 Studium der Evangelischen Theologie und der Humanmedizin in Göttingen und Marburg, 1990 medizinisches Staatsexamen, 1992 Promotion zum Dr. med., 2004 Habilitation für das Fachgebiet Geschichte und Ethik der Medizin. 1991–1992 Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn-Bad Godesberg, 1993–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent/Oberassistent am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, seit 2003 Geschäftsführer der Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität. Forschungen zur Medizin in der Frühen Neuzeit. Wichtige Publikationen: Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus, Halle 2006; [Hrsg. mit Annette Winkelmann] Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century, Leiden 2001; [Hrsg. mit Karin Stukenbrock] Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2003; [Hrsg. mit Renate Wilson] Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century, Stuttgart 2008.
Prof. Dr. med. habil. Ingrid Kästner – Studium der Humanmedizin in Rostock und Leipzig, klinische Approbation als Ärztin; – Facharztausbildung und Habilitation für Pharmakologie und Toxikologie (Thema zur Psychopharmakologie/ Experimentellen Epilepsie) an der Universität Leipzig; – Zusatzstudium Experimentelle Neuropharmakologie in Leningrad (St. Petersburg) und Tiflis (Tbilisi, Georgien); längere Arbeitsaufenthalte an der Universität Karol Davila in Bukarest; – Oberärztin und Dozentin für Pharmakologie und Toxikologie am Pharmakologischen Institut der Leipziger Universität;
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– seit 1983 am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften der Universität Leipzig, venia legendi für Medizingeschichte; – Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Geschichte der Medizin in der DDR und letzte Nationaldelegierte (1990) bei der Société Internationale d'Histoire de la Médecine (SIHM); – Arbeitsaufenthalte an der Maison des Sciences de l’Homme (Paris); – 2000 apl. Prof. für Geschichte der Medizin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Neurowissenschaften, Fakultätsgeschichte, Medizin im Nationalsozialismus, Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften (DFG-Projekt 1999–2006), seit 2008 Leitung der Projektgruppe „Europäische Wissenschaftsbeziehungen“ bei der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Wichtige Publikationen: – Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus. Leipzig 1985, 2. Aufl. 1989. – Sigmund Freud (1856–1939). Hirnforscher, Neurologe, Psychotherapeut. (mit Christina Schröder). Leipzig 1989, 2. Aufl. 1990 (Sudhoffs Klassiker der Medizin, N.F.; Bd. 6); Lizenzausgabe Wien - Berlin 1990 (Wiener Studien zur Medizin, Geschichte und Philosophie; Bd. 2); ebenso: Zygmunt Freud. Badacz umyslu, Neurolog, Psychoterapeuta: Teksty wybrane. Wroclaw 1997. – The Leipzig Period, 1925–1932. In: Elizabeth Fee, Theodore M. Brown (Eds.): Making Medical History: The Life and Times of Henry E. Sigerist. Baltimore&London 1997, pp. 4–-62. – Das Psychoneurologische Bechterev-Institut in St. Petersburg und die deutschrussischen Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. In: Acta Historica Leopoldina 46 (2006), S. 191–221. – Der jüngere Paracelsismus zwischen Spiritualität und Wissenschaft. In: Mystik und Natur. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart. Berlin, New York 2009, S. 101–121 (Theophrastus Paracelsus Studien; Bd. 1). Wissenschaftskommunikation in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Aachen: Shaker 2009 (= Europäische Wissenschaftsbeziehungen; Bd. 1). – Universitäten und Akademien. (mit Jürgen Kiefer). Aachen 2010 (= Europäische Wissenschaftsbeziehungen; Bd. 2). – Homöopathie im postrevolutionären Russland und der UdSSR. Nach Dokumenten aus dem Archiv des russischen Homöopathen Dr. med. Nikolaj E. Gabrilovi , 1865– 1941. (mit Marina Sorokina). Essen 2010, 328 S. – Herausgabe der Reihe „Deutsch-russische Beziehungen in Medizin und Naturwissenschaften“. (mit Dietrich von Engelhardt). Aachen seit 2000, bisher 16 Bände.
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Auszeichnungen und Ehrungen: – Leibniz-Preis der Universität Leipzig (1986) – Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt (2008)
Dr. Peter Mario Kreuter studierte Mittelalterliche und Neuere Geschichte sowie diverse Philologien an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und promovierte 2001 mit einer Arbeit über den Vampirglauben in Südosteuropa. Von 2001 bis 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange am Romanischen Seminar der Universität Bonn. Anschließend war er bis 2004 an der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn beschäftigt und baute dort die „Virtuelle Fachbibliothek Romanistik“ (DFG-Projekt) mit auf. Von 2005 bis 2008 forschte und lehrte er am Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn und betreute dort das DFG-Projekt „Studien zu medizinisch-naturkundlichen Texten des Paracelsus unter besonderer Berücksichtigung der Problemfelder Chronologie und Echtheit“. Seit dem 1. Dezember 2008 ist er am Südost-Institut in Regensburg tätig, wo er u.a. die „Südost-Forschungen“ redaktionell betreut. Forschungsschwerpunkte: Phanariotenherrschaft in den Donaufürstentümern (1711–1821); Paracelsus und der Einfluss von Volksmagie und Hexenglauben auf sein Werk; Südosteuropäischer Volksglaube an Dämonen, speziell Vampire; Hexen und Hexenverfolgung, speziell im Donauraum; Kulturgeschichte der Nationalhymnen. Wichtige Publikationen: Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin: Weidler 2001 – Les médecins et les morts étranges ou comment le vampire parvint à sucer du sang, in: Symposia. Caiete de etnologie i antropologie 2004, 223–231 – Vom „üblen Geist“ zum „Vampyr“. Die Darstellung des Vampirs und seines kulturellen Hintergrunds in den Berichten österreichischer Militärärzte zwischen 1725 und 1756, in: Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Julia Bertschik und Christa Agnes Tuczay. Tübingen: Francke 2005, 113–127 – Alte Schläuche für neuen Wein? Die Hofkultur der Phanarioten - jenseits von Norbert Elias, in: Studia Universitatis Babe -Bolyai 51, 4, 2006, 137–152 – The Name of the Vampire: Some Reflections on Current Linguistic Theories on the Etymology of the Word Vampire, in: Vampires. Myths and Metaphors of Enduring Evil. Hrsg. von Peter Day. Amsterdam, New York: Rodopi 2006, 57–63 – Les traces de la sorcellerie et de la médecine populaire dans l'oeuvre de Theophrastus Bombast von Hohenheim, dit Paracelse (1493/94–1541), in: Symposia. Caiete de etnologie i antropologie 2006, 111-116 – Paracelsus - und der Werwolf?, in: Nova Acta Paracelsica N. F. 20/21, 2006/2007, 137–146 – The Role of Women in Southeast European Vampire Belief, in: Women in the Ottoman Balkans. Hrsg. von Amila Buturovi und Irvin Cemil n
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Schick. London: I. B. Tauris 2007, 231–241 – „...sondern weiter gwandert durch Ungern, Walachi, Sibenbürgen...“. Zum Stand der bisherigen, auf Siebenbürgen bezogenen Paracelsusforschung, in: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 50, 2007, 147–157 – „Auf dem Karlsplatz war es still.“ Die Inszenierung Prags als Ort des Okkulten bei Leo Perutz und Paul Leppin, in: Faszination des Okkulten. Diskurse zum Übersinnlichen. Hrsg. von Wolfgang Müller-Funk und Christa Agnes Tuczay. Tübingen: Francke 2008, 187–200 – Are Witches Good - and Devils Evil? Some Remarks on the Conception of Evil in the Works of Paracelsus, in: Promoting and Producing Evil. Hrsg. von Nancy Billias. Amsterdam, New York: Rodopi 2010, 271– 278 – Paracelsus und die deutsche Sprache. Nebst Anmerkungen zur deutschlateinischen Mischsprache temporibus Theophrasti et Lutheri, in: Paracelsus im Kontext der Wissenschaften seiner Zeit. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Annäherungen. Hrsg. von Albrecht Classen. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2010, 201– 215.
Dr. Jean-Michel Rietsch ist Gymnasiallehrer für Moderne Französische Literatur und Philosophie. Er hat evangelische Theologie (DEA, Diplôme d’études approfondies), französische Literatur (DEA), Philosophie (DEA) (Strassburg) und Religions- und Theologiegeschichte an der Ecole Pratique des Hautes Etudes (Paris-Sorbonne) studiert. Er promovierte 2002 an der Universität Genf mit einer Arbeit zu „Théorie du langage et exégèse biblique chez Paracelse“. Forschungsschwerpunkte: Beziehungen zwischen Wissenschaft und Theologie, Natur und heilige Schrift; Reiseliteratur und Reiseschriftsteller (besonders Nicolas Bouvier). Wichtigste Publikationen: “Die ‘Unruhe’ als zentraler Begriff des theologischen Denkens Paracelsus’.” In Nova Acta Paracelsica, Neue Folge 19 (2005), S. 67–84; “Nomination et construction du donné chez Paracelse (1493–1541)”. In La mesure du savoir. Hrsg. von F. Gabriel, P. Hummel. Paris 2007, S. 113–129; “Le Labyrinthus medicorum errantium de Théophrast von Hohenheim dit Paracelse (1493–1541). L’allégorie mythologique comme machine de guerre anti-humaniste”. In Métamorphoses du mythe. Réécritures anciennes et modernes des mythes antiques. Hrsg. von P. Schnyder. Paris 2008, S. 287–297; “Paracelse (1493–1541) et le philologue en Minotaure borgne”. In Vérité(s) philologique(s). Études sur les notions de vérité et de fausseté en matière de philologie, Hrsg. von P. Hummel et F. Gabriel. Paris 2009, S. 183–196; «Paracelse (1493–1541) et Jonas : le problème du signe et de la vérité prophétique entre philosophie de la nature et théologie ». In Graphè Nr. 19 (2010), S. 99–116.
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Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott geb. 1946. Studium der Medizin und Philosophie in Heidelberg, München und Glasgow. 1978–1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg im Breisgau. Habilitation für das Fach Geschichte der Medizin 1982. Seit 1987 Professor für Geschichte der Medizin (C4) an der Universität Bonn und Leiter des dortigen Medizinhistorischen Instituts. Hauptarbeitsgebiete: Geschichte der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse; Medizin der Goethezeit (Mesmerismus, Medizin der Romantik); Magische bzw. (al)chemische Medizin (Paracelsismus); Geschichte der Medizinischen Anthropologie Wichtigste Publikationen: Zauberspiegel der Seele: Sigmund Freud und die Geschichte der Selbstanalyse (1985); Die Chronik der Medizin (1993); Der sympathetische Arzt: Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert (Hrsg., 1998); Geschichte der Psychiatrie: Krankheitskonzepte – Irrwege – Behandlungsformen (zusammen mit Rainer Tolle, 2006). Anschrift: Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn, Sigmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn. E-Mail: [email protected]
Dr. Matthias Vollmer studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und wurde mit einer Arbeit über mittelalterliche Buchmalerei im Fach Kunstgeschichte promoviert. Er ist als Lehrbeauftragter im European Studies Program der Freien Universität (FU-BEST) tätig. Die Lehrtätigkeit umfasst interdisziplinäre Kurse zur Kunst- und Kulturgeschichte des Mittelalters, der Renaissance und der Moderne. Gegenwärtig beschäftigt er sich mit den wissenserzeugenden Korrelationen von Bildern, Diagrammen und Texten in den Enzyklopädien des Mittelalters, der Renaissance und der frühen Neuzeit. 2007 Promotion über mittelalterliche Buchmalerei im Fach Kunstgeschichte aktuell Lehrbeauftragter im European Studies Program der FU Berlin (FU-BEST); seit 2008 Adjunct Professor im Rahmen der Public Programmes des Courtauld Institute of Art, London Forschungsschwerpunkte : Wissenserzeugende Korrelationen von Bildern, Diagrammen und Texten in den Enzyklopädien des Mittelalters und der Renaissance; Farbenlehren; Bildwissenschaft Wichtigste Publikationen: 1. Hermes Trismegistos. Poemander oder von der göttlichen Macht und Weisheit, in der Übers. von D. Tiedemann, hgg. von M. Vollmer. Mit einer Einleitung von M. Vollmer, Hamburg 1990, S. VII–XXVII. 2. Philosophie und Theologie des Averroes. Übersetzt von J. Müller. Mit einem Nachwort von M. Vollmer, Weinheim 1991, S. 143–181.
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3. Fortuna Diagrammatica. Das Rad der Fortuna als bildhafte Verschlüsselung der Schrift De Consolatione Philosophiae des Boethius, Frankfurt 2009. 4. „Das Bild vor Augen – den Text im Kopf. Das Rad der Fortuna als textsubstituierendes Zeichen“ In: Reinhold F. Glei / Franz Lebsanft / Nicola Kaminski (Hgg.): Boethius Christianus? Zur Rezeption der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2010, S. 355–386. 5. „The Vices in Michelangelo´s Dream“, in: Michelangelo´s Dream, (Ed.) Stephanie Buck, London 2010, p. 27–37. Anschrift: Freie Universität Berlin, Ebersstr. 30, 10827 Berlin Tel.: 030- 787 07 321
Prof. Dr. Thomas Willard studierte mit dem Literaturkritiker Northrop Frye an der University of Toronto, wo er im Jahr 1978 im Fach Englisch promovierte. Seitdem hat er an der University of Arizona gelehrt, wo er inzwischen als Associate Professor of English and Religious Studies tätig ist. Forschungsschwerpunkte: Alchemie, Esoterik und Hermetik; literarischer Symbolismus; Geschichte der Erforschung der Sprache, Literatur des 17. Jahrhunderts; biblische Literatur. Wichtige Publikationen: Herausgeber von Visionary Poetics: Essays on Northrop Frye, New York, 1991; Jean D’Espagnet’s The Summary of Physics Restored, New York, 2000. Essays in Centre and Labyrinth: Essays in Honour of Northrop Frye, Toronto, 1982; Theorien vom Ursprung der Sprache, Berlin and New York,1989; La linguistique entre mythe et histoire, Münster 1993; Literature and Medicine During the Eighteenth Century, London, 1993; The Legacy of Northrop Frye, Toronto, 1994; Secret Texts: The Literature of Secret Societies, New York, 1995; Northrop Frye: Eastern and Western Perspectives, Toronto, 2003; Esotérisme, gnoses et imaginaire symbolique: Mélanages offerts à Antoine Faivre, Leuven, 2007; Mystical Metal of Gold: Essays on Alchemy and Renaissance Culture, New York, 2007; Northrop Frye: New Directions from Old, Ottawa, 2009.
Register Adelphus, Johannes 138 Aeneas Silvio Piccolomini (Pius II., Papst) 305 Agricola, Gerorg 104, 113, 155, 170, 216, 228, 306 Agrippa, Cornelius 352, 370 Agrippa von Nettesheim 100 Alberti, Leon Battista 185, 310 Albertus Magnus 124, 143, 155, 157, 159 Albrecht II., Kurfürst und Erzbischof 171, 172 Albrecht Friedrich von Preußen, Herzog 326 Alderotti, Taddeo 130, 132, 133, 136, 155, 158, 162 Almenar, Juan 278 Ambrosius von Mailand 265, 282 Antoine de La Sale 21 Antonio da Sangallo der Jüngere 310 Aquin, Thomas von 34, 143, 267, 272, 273 Aristoteles 19, 127, 163, 281, 284, 290 Arnaldi von Villanova 11, 135, 140, 143, 144, 154, 155, 222, 230 Ars magica 100 Ars moriendi 64, 195 Asklepiades von Bithynien 317 Aubert, David 21 Auerbach, Heinrich Stromer von 30, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 175, 179, 180, 181, 256 Augustinus, Bischof 266, 282 Augustus, Kaiser 317 Avicenna 130, 158, 161, 290, 291, 302, 316 Bacon, Francis 4, 43 Bacon, Roger 29, 124, 125, 126, 128, 131, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 159, 162, 163 Benedikt von Aniane 309 Benedikt von Nursia 318 Berthold von Regensburg 274, 275, 282 Bibbiena, Kardinal 310 Boccaccio, Giovanni 185, 206, 207, 208, 213, 393
Bodenstein, Adam von 39, 174, 325, 350, 351, 352, 353, 354, 355, 362, 378, 379 Böhme, Gernot 54, 393, 395 Böhme, Hartmut 54, 75, 393, 395 Böhme, Jakob 40 Bonaventura von Iseo, 130, 131, 133, 134 Borgognoni, Theodoric 133, 157, 158 Borner, Caspar 179 Brandis, Markus 170 Brant, Sebastian 33, 245, 246, 247, 248, 257, 258, 259 Brunfels, Otto 233 Brunschwig, Hieronymus 137, 138, 139, 143, 152, 161 Burton, Robert 353, 376 Caesarius von Heisterbach 274, 283, 309 Camerarius, Johann 172 Canterbury Tales 21, 33, 241, 257 Cassian, Johannes 267, 284, 285 Caxton, William 10 Celtis, Konrad 169 Les Cent Nouvelles Nouvelles 21, 46 Ceratinus, Jakob 175 Charaka 121, 122 Chaucer, Geoffrey 33, 241, 242, 247, 257, 259 Christus als Arzt 27, 34 Chrysostomus, Johannes 266, 267, 284 Cicero 41, 170, 385, 395 Clemens VII., Papst 307 Cochem, Michael 114, 144, 145, 155 Coelde, Dietrich 276 Colette de Corby 53 Columban 271 Cooper, William 360, 380 Cosimo de Medici 366 Curtius, Ernst Robert 383, 395 Cuspinian, Johannes 70 Dante Alighieri 72, 75 Daniel Defoe 185, 189, 190, 194, 202, 208, 209, 210, 212, 213 Descartes, René 11, 41, 48, 292, 301, 386
408 Dorn, Gerard 40, 349, 352, 353, 354, 356, 359, 377, 378, 379 Drewermann, Eugen 16, 44, 200, 213 Dschabir 122, 123, 161 Dschafar al Sadiq 30, 148 Dugard, William 359, 360, 361, 368, 377 Eck, Johannes 174 Einhard 309, 319 Ellenbog, Ulrich 142, 161, 162 Erasmus von Rotterdam 61, 175 Erastus, Thomas 353 Esoterik 13, 40, 44, 408 Essayes or Counsels, Civill and Morall (Bacon) 4, 43 Evliyâ, Çelebi 334, 345 Fernel, Jean 287, 292, 293, 294, 296, 297, 300, 301, 302 Ficino, Marsilio 138, 152, 153, 353, 362, 365, 366, 368, 377, 379 Fieger, Sigmund 144, 154 Filarete 310 Finnian 271 Fludd, Robert 106 Forestier, Thomas 331, 344 Foster, William 106 Foucault, Michel 325, 344, 393 Fracastoro, Girolamo 89, 180 Francesco di Giorgio Martini 310 Franz von Sickingen 172 Franzosenkrankheit 27, 80, 81, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 166, 173, 278, 285 Frey, Jakob 231 Friedrich II., Kurfürst 168 Friedrich III., Kaiser 69 Friedrich III. von Sachsen, der Weise, Kurfürst 171 Fries, Lorenz (siehe Phrisius) Frontinus 305, 309, 318, 319, 320 Fugger II., Jakob 72 Galen 19, 26, 49, 50, 54, 170, 225, 229, 241, 242, 245, 259, 288, 289, 291, 298, 301, 302, 355 Galenaldina 289 Galenos von Pergamon (siehe Galen) Galilei, Galileo 14 Geber 122, 124, 130, 139, 154, 159 Geiler von Kaysersberg, Johannes 59, 66, 77 Gensfleisch, Johannes 64
Register Georg II. Golser, Bischof von Brixen 338 Georg von Sachsen, Herzog 171 Gessner, Konrad 233, 349 Giovanni de Dondi 306 Goclenius der Jüngere, Rudolph 24, 45, 106 Goethe, Johann Wolfgang von 304, 319, 395, 397 Goetz, Rainald 394 Gogh, Vincent van 3 Gohorry, Jacques 352, 353, 361, 367, 378 Gregor IX., Papst 272 Gregor der Große 267, 283 Hartmann von Aue 19, 20, 23, 24, 35, 44, 45, 184, 199, 236, 240, 257, 258, 259, 275, 283 Heinrich der Elsässer 237 Heinrich der Fromme 179 Heinrich VII., König von England 330 Held, George 172 Helmont, Johann Baptist von 359 Hesse, Eva 395 Hexenhammer 109 Hildegard von Bingen 3, 11, 35, 45 Hippokrates 5, 9, 32, 54, 84, 137, 139, 221, 222, 223, 225, 229, 241, 245 Hispanus, Petrus 161, 162, 220, 229 Hobbes, Thomas 41, 388, 397 Hölderlin, Friedrich 394, 395 Hollandus, Isaak 115, 160 Hollandus, Johann Isaak 115, 160 Homer 203, 382 Horaz 170 Hortulus Animae 67 Hummelshein, Anna 177 Hunain Ibn Ishaq (siehe Iohannitius) Huser, Johannes 114, 277, 285, 349, 351, 352, 357, 358, 359, 379 Ibn Sina (siehe Avicenna) Innozenz VIII, Papst 337 Institoris (siehe Kramer) Iohannitius 290 Iuvenal 316, 319 Jacobus von Toledo, 140 Jacques de Vitry 59 Janszoon, Laurens 64 Joachim I., Kurfürst von Brandenburg 171 Johann (der Beständige), Kurfürst 186 Johann VI. Laszlo von Kuenring 68
409
Register Johannes von Muralt 389 Johannes von Merseburg, Bischof 168 Jonas von Bobbio, 309 Julius Cäsar d’Austria, Don 38, 336 Julius II., Papst 310 Jung, C. G. 40, 362, 367 Kant, Immanuel 41, 42, 381, 386, 387, 388, 389, 390, 392, 394, 395, 396 Karl Roberts von Anjou 70 Karl der Große 234, 309 Karl IV., Kaiser 69 Karlstadt, Andreas 174 Kasimir III. von Polen 69 Kaufringers, Heinrich 21 Kerckring, Theodor 387 Kieser, Conrad 316 Kircher, Ahtanasius 216, 229 Kirchhof, Hans Wilhelm 23, 24, 34, 44, 183, 191, 201, 203, 205, 207, 210, 213, 231, 250, 251, 252, 253, 254, 257, 258 Knorr von Rosenroth, Christian 106, 107, 112 Konrad von Würzburg 236, 258 Kramer, Heinrich 38, 337, 338 Kutzer, Michael 387, 396 Law, William 40, 360 Leade, Jane 40, 360 Leo X., Papst 171, 310 Leoniceno, Niccolò 169 Leopold I., Kaiser 334 Lessing, Gotthold Ephraim 211 Lindener, Michael 24, 44, 201, 213, 231, 251, 257 Locke, John 41, 386, 396 Lorscher Arzneibuch 280, 281, 285 Lotter d. Ä., Melchior 170 Luder, Peter 169 Ludwig der Fromme 309 Ludwig I. von Anjou 70 Lullius, Raimundus 134, 143 Luther, Martin 30, 52, 53, 58, 65, 165, 166, 174, 175, 178, 183, 185, 186, 187, 188, 189, 191, 198, 213, 218, 278, 279, 284 Magia alba 100 Magia naturalis 99, 100, 101, 102, 108, 109 Mair, Peter 327, 328 Malleus maleficarum (siehe Hexenhammer) Manutius, Aldus 170 Manzoni, Alessandro 185, 211, 212, 213
Margareta von Porète 3 Maria, Jungfrau 6 Matejovski, Dirk 387, 398 Matthias Corvinus 69, 76 Maximilian I., Kaiser 66, 67, 69, 73, 76, 77, 172 Mayr (siehe Mair) Meir (siehe Mair) Melanchthon, Philipp 36, 175, 179, 287, 295, 297, 298, 299, 300, 301 Merini, Alda 42, 393, 394, 396 Mesues 163, 239 Methley, Richard 53 Meyrink, Gustav 373, 377 Montaigne, Michel de 183, 193, 195, 204, 205, 213, 305 Montegnana 316 Mosellanus, Petrus 170, 174 Musa, Antonius 317 Myconius, Friedrich 60 Newton, Isaac 14, 217, 229 Nietzsche, Friedrich 42, 392, 396 Odo von Châteauroux 275, 284 Oporinus, Johann 145, 349, 351, 352 Osiander, Andreas 58 Palladio, Andrea 311, 318 Paulus Schaller von Seefeld, 68 Pawer, Georg 170 Peraldus, William 273, 285, 286 Perna, Peter 135, 350, 351, 352, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 376, 378, 379 Peruzzi, Baldassare 311 Petrus von Ebano 316 Petrus von Eboli 310 Pfefferkorn, Johannes 176 Philipp Le Bon 21 Phrisius, Laurentius 313 Pichler, Markéta 38, 336 Pictorius, Georgius 315, 316, 317, 320 Pietro d’Abano 316 Pietro di Tussignano, 313 Pinel 395 Pirckheimer, Willibald 30, 165, 166, 173, 174, 175, 180 Pistoris, Simon169, 178 Placebo/Placeboeffekt 4, 5, 9, 16 Platon 289, 302, 383, 384, 385, 391, 396 Pollich, Martin 168, 169 Ponticus, Evragius 267 Pound, Ezra 397
410 Pseudo-Arnald 141 Qing-Jing Jing 369 Ramazzini, Bernadino 216 Raphael Sanzio da Urbino, 310 Rasayana 121, 122, 158 Reisch, Gregor 50, 53 Reuchlin, Johannes 176, 177, 180 Rhazes 239 Roberti, Jean 106 Rudolf II., Kaiser 38, 332, 334, 335, 336, 337, 344, 346 Ruf, Jakob 31, 232, 233, 234, 237, 253, 256, 258, 259 Rupescissa, Johannes von 129, 130, 131, 134, 135, 136, 138, 139, 141, 142, 143, 146, 149, 152, 154, 155, 156, 158 Russell, Bertrand 11, 15, 48 Russinger, Johann Jakob 304, 312 Sastrow, Bartholomäus 183, 192, 194, 204 Savonarola, Gerolamo 136 Savonarola, Giovanni Michele 136, 160 Schedel, Hartmann 233, 306 Schedel, Hermann 306 Schobinger, Bartholomäus 145 Schopenhauer, Arthur 42, 387, 393, 394, 395, 398 Senckendorff-Nold, Dorothea von 328 Senckendorff-Nold, Erkinger von 328 Sender, Clemens 72 Seneca 170 Sennert, Daniel 104 Serlio 311 Servet, Michael 294, 295, 296, 297, 300, 301, 302 Setznagel, Michael 73, 74 Seuse (siehe Suso) Sigmund von Luxemburg 69 Sigismund der Münzreiche, Herzog 338 Sokrates 41, 383, 384 Starobinski, Jean 386, 397 Steinhöwel, Heinrich 233 Stockhausen, Samuel 215, 216, 229 Störmann, Dölf 394, 396 Stricker, Der 249, 250 Stromer, Johann 168 Stromer (siehe Auerbach) Süleyman I., Sultan 178 Suso, Heinrich 57, 77, 273, 285 Terenz 170
Register Tetzel, Johann 172 Till Eulenspiegel, 34, 247, 248, 249, 250, 252, 257 Toxites, Michael 350, 351, 354, 355, 356, 358, 363, 374, 378 Trismegistus, Hermes 368 Trismosinus, Salomon 115, 116 Ulrich II. von Cilli 68 Ulrich V. von Württemberg 69 Ulrich von Hutten 30, 165, 166, 172, 173, 176, 180, 181, 184 Unio mystica 100 Valentius of Rhaetia 351 Vergil (siehe Virgil) Vesalius 291, 302, 372 Vier-Säfte-Theorie 11 Vincent de Beauvais 123 Virgil 366, 367 Visio Tnugdali 53, 77 Vitruv 310 Vogtherr der Ältere, Heinrich 233 Voodoo 16 Waite, Arthur Edward 349, 350, 355, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 367, 369, 371, 377, 378, 379 Waldvogel, Prokop 64 Weyer, Johannes 39, 48, 143, 342, 344, 349 Wilcke, Jodocus 57 Wilhelm von Auvergne, 51 Wilhelm V. von Bayern, Herzog 326 Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg, Herzog 326 Wilhelm von Sachsen, Herzog 313 Wimpfen, Johann Albert 355, 356, 357, 358 Wintar 234 Wittenwiler, Heinrich 33, 231, 242, 243, 259 Wölfli, Adolf 394, 396 Wynkiyn de Worde 10 Zaubersprüche 10, 43, 44, 46 Zerbus, Gabriel 222, 230 Zosimos 120, 156 Zouche, William, Erzbischof 276 Zschan, Hanns 305 Zwinger I., Theodor 145 Zwingli, Ulrich 91, 96, 172, 183, 192, 196, 197, 213