212 50 14MB
German Pages 296 [304] Year 1922
FRANZ VON BUHL
REDEN UND AUFSÄTZE 1900—1921 NACH SEINEM TODE GESAMMELT
MIT EINEM VORWORT VON
HUGO GRAF LERCHENFELD-KÖFERING
y^OjöjP^.
MÜNCHEN UND BERLIN 1922 DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
Alle Redite, einschließlich des Ûbersetzungsrechtes, vorbehalten
Einführung. Der Sommer 1900, der die Trauben der Vorderhardt zum historischen Jahrgang reifen ließ, führte mich in die frohe Pfalz nach Neustadt, dem Mittelpunkt des Rebenlandes. Franz von Buhl wohnte im nahen Deidesheim. Dorthin war 1835 sein Großvater aus dem Badischen infolge seiner Einheirat in das angesehene Haus Jordan gezogen. Ich kannte Franz von Buhl schon von einer flüchtigen Begegnung her. Jetzt brachte »ms die Nachbarschaft einander rasch näher. Der geringe Altersunterschied und zahlreiche Berührungspunkte unserer geistigen Richtung führten während der vier Jahre meiner Pfälzer Dienstzeit eine enge und dauernde Freundschaft herbei. Als ich im Jahre 1920 nach meinem Übertritt in den Auswärtigen Dienst des Reiches als Gesandter nach Darmstadt gehen sollte, war mir für die Annahme dieses Postens nicht zuletzt der Beweggrund maßgebend, daß ich wieder in die Nähe des Freundes gerückt wurde, mit dem ich in den langen Jahren nur durch kurze gegenseitige Besuche und einen gelegentlichen Briefwechsel in Verbindung geblieben war. Die politische Entwicklung seit dem Weltkriege verstärkte in mir den Wunsch, dem gereiften Manne wieder näherzutreten. In der Tat verging während meiner Darmstädter Zeit kaum ein Monat ohne einen Besuch in dem gastlichen Hause Buhl, und ich denke mit besonderer Vorliebe an jene anregenden Stunden lebhaften und vertieften Gedankenaustausches zurück. Wo waren die sorglosen Jahre der Jugend ? Hingeschwunden das Reich, wie es der erste Kanzler geformt hatte! Die sonnige Pfalz unter dem schweren Druck einer fremden Macht! Wie früher lag der stimmungsvolle Sommersitz Hildebrandseck, die mit Liebe und künstlerischem Verständnis gehütete Perle des Buhischen Besitzes, mit seinen Rosen und Baumstücken, eingebettet zwischen die auslaufenden Falten der Hardtberge. Aber es war etwas wie ernste Abendstimmung über des Freundes Dasein gebreitet. Die treubesorgte, kluge Lebensgefährtin
IV war sich der Lage bewußt, sie kannte die Gefahr des Siechtums, in das seine von jeher schwankende Gesundheit zu führen drohte. Am 29. Juni 1921 nahm ein rascher und sanfter Tod den Wohlvorbereiteten aus seinem reichen, werteschaffenden Leben. Weder eine Lebensbeschreibung zu geben, noch das Wesen und Schaffen des Verblichenen ausführlich zu würdigen, ist der Zweck dieser Zeilen. Jedoch verlangt die höchst persönliche Note, die der folgenden Sammlung von Reden und Aufsätzen eigen ist, ein Geleitwort, um auch solchen Lesern den Schlüssel des Verständnisses darzubieten, die über den Werdegang und die Absichten des Verfassers keine eigene Kenntnis besitzen. Die Auswahl des Stoffes aus den vielen hinterlassenen Blättern ist nicht meine Aufgabe gewesen. Daß verhältnismäßig wenige Arbeiten aus den Jahren vor dem Kriege Aufnahme gefunden haben, ist vielleicht zu bedauern. Denn manche von den späteren Arbeiten spiegeln die Erregung des Tages wieder, und scheinen einer der hervorragensten Eigenschaften Franz von Buhls, der maßvollen Abgeklärtheit nicht immer gerecht zu werden. Und doch konnte man sich nicht entschließen, nachträglich manche scharfe, vielleicht den Widerspruch mancher Leser herausfordernde Wendung auszuschalten oder abzuschwächen. Die Unmittelbarkeit hätte darunter gelitten; und schließlich ist es nicht schwer, sich in die politische Spannung jener Tage zurückzuversetzen, um den Sinn der mitunter leidenschaftlichen Angriffe zu erfassen. Franz von Buhl war es nie darum zu tun, literarisch zu produzieren; das politische und wirtschaftliche Leben nahm ihn völlig in seinen Bann; er wollte wirken, allerdings von einer Grundlage seines Wesens aus, die ich kurz als historisch und humanitär bezeichnen möchte. Damit bin ich beim wichtigsten Teil meiner Aufgabe angelangt, nämlich mit wenigen Strichen das Geistige des Freundes zu zeichnen. Ich könnte es kaum richtiger und gründlicher tun als durch den Begriff der historischen und humanitären Richtung. Die Überzahl der Menschen bleibt auf der gleichen Stufe eines in der Jugend abgeschlossenen Bildungsganges stehen. Sie gewinnen vielleicht ein Mehr an Lebenserfahrung und Können, unterliegen aber gleichzeitig einer geistigen und seelischen Verarmung. Buhl gehörte zu den seltenen Menschen, bei denen die humanistische Bildung die Vorstufe einer fortdauernden Entwicklung war. »Hätte ich einen älteren Bruder gehabt, so wäre ich wohl Historiker geworden« — äußerte er ge-
V legentlich. Seine Denkweise war von seiner gründlichen Geschichtskenntnis entschieden beeinflußt. Für ihn war Geschichte nicht nur eine Reihe von Geschehnissen, sondern ein lebendiges Wachstum, das Zelle auf Zelle bildet, so daß die Gegenwart mitten in der Vergangenheit wurzelt und ihrerseits wie in steter Wiedergeburt auf das Zukünftige einwirkt. Diese Denkweise, nicht etwa eine typisch bürgerliche Einstellung, erfüllte ihn mit einem starken Sinn für die Tradition in Gesellschaft und Staat; sie schützte ihn aber auch vor der Gefahr, zugunsten der Tradition das Überwundene, Leblose als berechtigt anzuerkennen; denn auch das durch Herkommen zur Form Gewordene unterliegt dem Gesetz von Werden und Vergehen, es sei denn göttlichen Geistes. Franz von Buhl war ein r e l i g i ö s e r Mensch, eine von Natur christliche Seele — katholisch aus Uberzeugimg, doch mit ausgeprägter individueller Auffassung, von der Notwendigkeit der Formung des christlichen Geistes durch die Kirche durchdrungen, ohne blind für die Unvollkommenheiten alles Menschlichen zu sein. Dabei vertrat er die Maxime der möglichsten Trennimg des religiösen Gebietes von staatlichen Belangen; insofern bekannte er sich zu einer liberalen Auffassung gemäßigter Art. Wem, wie Franz von Buhl, die Heilkraft der historischen und religiösen Besinnung zu Gebote steht, der wird nach dem Beispiel Goethes in der ausgleichenden Beschäftigung mit der Natur und deren Wissenschaft die Ergänzung zur wahren Humanität finden. Von Beruf, durch die Leitung des größten Weingutes der Pfalz, war er mitten in Probleme der Botanik, Ontologie und organischen Chemie gestellt. Aber er haftete nicht an der Außenseite des Praktischen, sondern strebte auch nach wissenschaftlicher Erfassung der Erfahrungen auf allen verwandten Gebieten. Der Weinbau hat sich längst vom dionysischen Genuß naturhafter Erzeugung zu einem der schwierigsten und intensivsten Zweige der Landwirtschaft entwickelt. Studierstube, Laboratorium und Versuchsfeld sind untrennbar mit dem Weinbau verbunden. Buhl war ein eifriger Vorkämpfer gegen alle Rebenfeinde und für die Reinheit und Vollkommenheit des Pfalzweines. Seiner naturwissenschaftlichen Beschäftigung kam vor allem eine feine Beobachtungsgabe für alle Erscheinungen der Natur, ein, ich möchte sagen, gegenständliches Sehen zugute, das ihm alle besonderen äußeren Eigenschaften der Pflanze ohne weiteres einprägte; und so waren ihm die nach seinen eigenen sorgfältigen An-
VI gaben gewählten und gesetzten Gewächse seiner Gartenanlagen wie besondere und beseelte Wesen. Der größte Teil der Reden und Aufsätze führt auf das politische Gebiet. Der Politiker soll von der höheren Warte vertiefter Erkenntnis und geläuterter Erfahrung und unter ruhiger Abwägung der widerstrebenden Forderungen im Dienste des Volksganzen und ohne Rücksicht auf den eigenen Vorteil seinen Weg gehen. Franz von Buhl hat diesem Ideal nachgestrebt, und hätte ihn nicht seine schwache Gesundheit an der vollen Entfaltung seiner Kräfte gehindert, so wäre ihm zweifellos eine bedeutsame Rolle als politischer Führer zugefallen. Bereits sein Vater, Armand Buhl, war Mitglied des ersten Deutschen Reichstages und ein namhafter nationalliberaler Politiker gewesen. Des Sohnes parlamentarische Laufbahn war nur kurz. Nachdem er 1907 als Kandidat der Nationalliberalen und des Bundes der Landwirte zum Reichstag im Wahlkreise Speyer—Ludwigshafen unterlegen war, wurde er im gleichen Jahre für den Wahlkreis Frankenthal—Grünstadt in den bayerischen Landtag gewählt. Eine Reichstagskandidatur bei der Ersatzwahl für seinen verstorbenen Onkel Schellhorn 1909 lehnte er ab. Schon 1911 berief ihn das Vertrauen der bayerischen Krone in den Reichsrat, wo er bis zur Revolution eine eifrige und allgemein anerkannte Tätigkeit entfaltete. Später beschränkte er sich auf die landwirtschaftliche Berufsvertretung und gelegentliches Auftreten in der Öffentlichkeit bei vaterländischen Veranstaltungen. Seine politische Richtung brachte ihn mehr an die Seite rechtsliberaler Politiker wie Marquardsen, Freiherr von Heyl, Casselmann; die jungliberale Richtung bekämpfte er; deshalb trat er mit dem Parteiführer Dr. Bassermann erst während des Krieges in engere Verbindung, und zwar als Gegner des Kanzlers von Bethmann-Hollweg. Ein Parteimann in dem Sinne, daß ihm die Partei mehr gewesen wäre als die im parlamentarischen Gefüge nötige Zusammenfassung von Bürgern einer gleichen oder doch ähnlichen Richtung, um dem Staatszweck zu dienen, war Buhl nie. Er wollte keine Parteiherrschaft, sondern die Führung des Volkes durch Persönlichkeiten, die durch unabhängigen Sinn und Bildung ein überlegenes Urteil besitzen. Wenn dies auch ein wesentlich aristokratischer Standpunkt ist, so war doch Buhl weitab von Auffassungen, die man als feudal oder reaktionär zu bezeichnen pflegt. So war er immer ein entschiedener Gegner des preußischen Klassenwahlrechts,
VII und trat er für die Umbildung der bayerischen Reichsratskammer ein. Im übrigen brauchte man ihn nur im Verkehr mit dem Volke zu beobachten, um zu erkennen, wie hoch er den einfachsten Mann einschätzte, der ihm über die richtigen Eigenschaften des Verstandes und Charakters zu verfügen schien. Noch deutlicher tritt die politische Persönlichkeit heraus, wenn ich Buhls Stellung zu anderen Parteien umschreibe. Mit dem Zentrum und dessen Führern verbanden ihn manche gemeinschaftliche Anschauungen, obwohl er den Anschluß an diese Partei aus seinen staats- und kirchlich-politischen Maximen heraus nie ins Auge gefaßt hatte. Klar erkannte er jedoch die Bedeutung dieser stetigen Partei für unser staatliches Leben, bei der ein geistiges, auf die Weltanschauung gegründetes Band die verschiedenen Berufsstände und Schichten vereinigte. War es doch einer seiner politischen Grundsätze, daß das Wohl des Staates die Verbindimg aller schaffenden Stände zu einheitlicher Arbeit erfordere. Dies ist auch die eine Wurzel seiner entschiedenen Gegnerschaft zur Sozialdemokratie. Die zweite Wurzel dieser Gegnerschaft war die nach seiner Überzeugung im Grunde internationale Einstellung dieser Partei als solcher. Dabei dachte Buhl durchaus sozial. Die Hebung der unteren Volksschichten nicht etwa auf dem Wege patriarchalischen Wohlwollens, sondern durch Verbesserung der Bildungsund Existenzbedingungen war ihm nicht nur platonisches Axiom, sondern Gegenstand tätiger Sorge. Aber er war zu sehr Geschichtskenner, um nicht zu wissen, daß die Herrschaft oder auch nur der überragende Einfluß der Massen Unordnung und Rückgang bedeutet. Die Ereignisse der letzten Jahre haben noch eine Reihe besonderer Elemente in die politische Entwicklung Franz von Buhls gebracht, deren Kenntnis gerade für die Beurteilung seiner aus dieser Zeit stammenden Arbeiten unentbehrlich ist. Vor dem Kriege bewegte er sich im allgemeinen in den auch seiner Familienüberlieferung entsprechenden Bahnen der Bismarckschen Politik. In dieser sah er die beste Gewähr für die Erfüllung der Bedürfnisse des deutschen Volkes, ohne daß er natürlich alle Wege des großen Kanzlers als richtig anerkannt hätte. Die Erscheinungen der Wilhelminischen Epoche erfüllten ihn mit wachsender Besorgnis schon lange bevor sich die Wolken zum Gewittersturm zusammenballten. Diese Bemerkungen gelten vor allem auch von der föderalistischen Auffassung Bismarcks. Gewiß, die deutsche Geschichte hatte die
VIII Notwendigkeit einer starken Reichsgewalt und die Schäden territorialer Zersplitterung nur zu eindringlich bewiesen; aber neben dieser Reichsgewalt hatten die deutschen Stämme und Länder ein nicht nur durch die Dynastien getragenes eigenes und ausgeprägtes Leben, das gerade in der Zusammenfassung reiche kulturelle Früchte trug. Franz von Buhl war ein Pfälzer mit Leib und Seele; er hatte den Ehrgeiz, die Pfalz, wie sie nun einmal aus der Retorte des Wiener Kongresses herausgekommen war, nach allen Richtungen vollkommen zu sehen. Die Verbindung der Pfalz mit dem größeren Bayern war in seinen Augen nicht nur geschichtlich begründet, sondern eine Forderung der Zweckmäßigkeit aus der Erkenntnis, daß der kantonale Geist die Menschen verkleinert und manchen natürlichen Charakterfehler zur Entfaltung bringt. Als dann der Weltkrieg ausbrach, erkannte Buhl nur zu gut, daß allein die Zusammenfassimg aller Volkskräfte im Felde und in der Heimat, nur eiserne Entschlossenheit und bewußte Einmütigkeit, nur rücksichtsloser Einsatz aller Kräfte zum guten Ende führen könne. Er, der diplomatisch gerichtete Politiker, der von sich scherzweise sagte, er sei eigentlich für die diplomatische Laufbahn geboren, es fehle ihm dazu nur ein guter Magen und ein modischer Kammerdiener, — er, der Maßvolle wurde zum leidenschaftlichen Bekämpfer des »Philosophen auf dem Kanzlersessel«, Bethmann-Hollweg, zum Hasser Erzbergers, in dem er hauptsächlich ein zermürbendes Element in unserem Volkskörper und den Verführer der Zentrumspartei erblickte. Den tragischen Tod Erzbergers erlebte er nicht. Er hat aber die Kampfweise der völkischen und reaktionären Radikalen stets auf das schärfste verurteilt. Seine tätige Teilnahme an der Gründimg der Vaterlandspartei erklärt sich nicht etwa aus der Sucht nach gewaltsamen Angliederungen, sondern einzig aus dem Streben, durch Zusammenfassung aller lebendigen Volkskräfte über den Berg zu kommen. Aus dieser Erwägung unterstützte er die militärischen Führer zu einer Zeit, da Berlin nach seiner Meinung »nichts tat und die Hände rang«. Mit einem Mann wie Ludendorff hatte er sonst innerlich keine Gemeinschaft, aber er hielt die vorbehaltslose Unterstützung der Obersten Heeresleitung während des großen Ringens für eine vaterländische Pflicht. Franz von Buhl hatte eine starke ironische Ader, und so waren ihm die Fehler und Schwächen des Volkes nichts Fremdes. Gleichwohl unterschätzte er, wie soviele
IX Deutsche, die psychologischen Volksströmungen während des Krieges, und die Katastrophe von 1918 traf ihn ins Mark. Dazu kam die französische Besetzung der Pfalz und so manche unerfreuliche Erscheinungen der ersten Okkupationszeit. Hier ist der Platz für einige Bemerkungen über sein Verhältnis zum Fremden. Es hat in Deutschland nicht viele so gründliche und feine Kenner französischer Sprache und Kultur gegeben, wie Buhl. Während er, — abgesehen von seiner lebenslangen Vorliebe für Shakespeare, — dem angelsächsischen Geiste erst in späteren Jahren nahekam, reizte ihn von jeher beim Französischen das kulturelle Element, die feine im Lateinischen wurzelnde Form. So hatte er auch, sei es durch Reisen, sei es durch berufliche Tätigkeit, manche persönliche Beziehungen zu Franzosen. Kurz vor seinem Tode hatte er als Frucht jahrelangen Studiums eine Art Kompendium aller gangbaren Wörter in ihren verschiedenen Bedeutungen und Anwendungen fertiggestellt, das von der genauesten Einfühlung in die feingeschliffene französische Sprache zeugt. Politisch war ihm die französische Nation der Neuzeit entschieden widerwärtig. Um so mehr schätzte er deren Bedeutung für die abendländische Kulturwelt des Mittelalters. Die Möglichkeit, ein gedeihliches Verhältnis zwischen beiden Nachbarländern auf Grund loyaler gegenseitiger Verständigimg anzubahnen, beurteilte er aus völkerpsychologischen Erwägungen sehr skeptisch, und so bestand auch keinerlei Verbindung zwischen ihm und den politischen Militärs, welche das Spiel Frankreichs in der Pfalz leiteten. Anfänglich mochten diese wohl hoffen, ihn als Helfer für gewisse Pläne einer Neugestaltung Deutschlands zu gewinnen; denn der Name Buhl war immerhin eine Karte, auf die sich ein Einsatz lohnen konnte: »Le nom de Buhl est drapeau!« In der Tat waren die innerdeutschen Verhältnisse nach der Revolution recht verworren. In den ersten Monaten, als in München Kurt Eisner am Ruder war und in Berlin die Macht jeden Augenblick auf die Räte überzugehen drohte, war es nur zu begreiflich, daß allerhand Pläne für eine selbständige Neuordnung innerhalb des Reiches auch im deutschen Westen auftauchten, an denen gerade ernste und gewissenhafte Politiker nicht achtlos vorübergehen durften. Doch hielt sich Buhl von allen abenteuerlichen, dem Wohle des gesamten deutschen Volkes gefährlichen Plänen und Planern ferne; dies gilt vor allem selbstverständüch von der Bewegimg für die »Freie Pfalz«. Als dann in München wieder die Ordnung eingekehrt war, betonte er jeder-
X zeit offen seinen der Geschichte und Tradition entsprechenden weißblauen Standpunkt. Daß es damals im Sommer 191g gelang, eine nationale Einheitsfront unter Beteiligung vor allem auch der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in der Pfalz herzustellen, begrüßte er als das erste günstige politische Ereignis seit der Katastrophe. Von da ab trat er wieder im öffentlichen Leben hervor. Dabei zeigte es sich, welchen Ansehens er sich allseits auch bei politischen Gegnern erfreute. Letzten Endes ist es dem Manne beschieden, sich durchzusetzen, der sich selber treu den in ihm liegenden Gesetzen folgt. Leider ist es dem Freunde nicht mehr vergönnt gewesen, eine weitere politische Wirksamkeit zum Besten seines Vaterlandes zu entfalten. Als er die Augen schloß, weilte ich gerade fem von Darmstadt. Ein Fehler in der Übermittlung der Nachrichten verhinderte mich, den Freund zur letzten Ruhestätte zu geleiten. Erst mehrere Wochen darauf gedachte ich lange vor dem noch frischen Hügel der vergangenen, gemeinsam verlebten Stunden. Blumen und blühende Sträucher. wie sie dem Toten teuer gewesen waren, umrahmten den ernsten, schlichten, mit dem Zeichen frühchristlicher Symbolik gezierten Stein. So ist mein Vorwort gemeint wie ein in Ehrfurcht, Dankbarkeit und Zuneigung auf das frühe Grab niedergelegter Kranz. Im November 1922.
Hugo Graf Lerchenfeld-Köfering.
Inhaltsverzeichnis. Seite
Heer und Volk. Vortrag im Offiziersklub Bad Dürkheim 1900 . . . Großstadt and Land in ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Wechselbeziehung. Vortrag als Landtagsabgeordneter im Nationalliberalen Verein München, 14. März 1910 Schlußwort nach den Reichstagswahlen 1912, erschienen im Pfälzischen Kuiier am 27. und 29. Januar 1912 Bittere Lehren. Erschienen im Pfälzischen Kurier am 9. November 1912 Zum Gedächtnis der Befreiungskriege. Rede auf dem nationalliberalen Parteitag Kaiserslautern, 9. November 1913 Weinbaufragen in der Kammer der Reichsräte. Sitzung des 27. Febr. 1914 Deutsche Bildung oder westeuropäische Zivilisation. Aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K . Ministeriums des Innern, Kammer der Reichsräte, 21. März 1916 Landwirtschaftsfragen. Aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kammer der Reichsräte 22. März 1916 Französische Revanchepolitik und die Neuromantik der gesta Dei pf Francos. Süddeutsche Monatshefte, Januar 1917 Deutscher Landwirtschaftsrat. Aus der Sitzung des 17. Februars 1917 Kriegswirtschaft. Aus der Rede des Berichterstatters zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kammer der Reichsräte, 27. März 1917 Der deutsche Weinbau. Süddeutsche Monatshefte, Juli 1917 Vaterlandspartei. Rede bei der Versammlung in der Philharmonie, Berlin 24. September 1917 Jugendpflege, Volksvermehrung. Aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kammer der Reichsräte, 18. März 1918 Wirtschaftliche Fragen. Aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kammer der Reichsräte, 19. März 1918 Die nationale Bedeutung der deutschen Landwirtschaft. Rede bei der Kundgebung der landwirtschaftlichen Körperschaften der Pfalz, Neustadt a. d. Hardt, 14. April 1918 Vaterlandspartei. Eröffnungsrede der Versammlung, Neustadt a. d. Hardt, 23. April 1918
1
10 21 30 35 51
57 08 74 96 100 111 128
132
139
147 156
XII Sicherungen. Offener Brief des bayerischen Reichsrates Franz v. Bnhl an seine preußischen Freunde, erschienen im »Tag«, 23724. Mai 1918 Sonntagsdeutsche. Süddeutsche Monatshefte, Juni 1918 Gedächtnisrede auf Graf Kaspar Preysing, gehalten München, 9. Juli 1918 Hebung des Nationalgefahls und konfessionelle Spaltung. Deutsche Stimmen, 28. Dezember 1919 Unsere Schuld. Deutsche Stimmen, 15. Februar 1920 Cannae. Süddeutsche Monatshefte, März 1920 Götzendämmerung. Für die deutschen Stimmen geschrieben, doch in Folge des Kapp-Putsches nicht erschienen, März 1920 Rückblick und Ausblick. Offener Brief an Dr. Stresemann, Pfingsten 1920 Deutsches Allerseelen. Rede zur Gedächtnisfeier der im Krieg Gefallenen, Landesverband Pfalz der deutschen Volkspartei, Neustadt a. d. Hardt, 1. November 1920 Wahlmüdigkeit, eine Fastenbetrachtung. Deutsche Stimmen, 6. März 1921 Einheitsfront. Deutsche Stimmen, 20. März 1921 Wer führt uns? Erschienen im »Gewissen«, 2. Mai 1921 Seltsame Staatskunst. Deutsche Stimmen, 3. Juli 1921
Seite
165 173 178 187 190 205 211 222
237 245 259 268 278
Heer und Volk. Vortrag im Offixiersklub Bad D&rdcheim 1900.
Meine Herren! Das allgemeine Stimmrecht wird oft mit Schulzwang und allgemeiner Wehrpflicht in Verbindung gebracht. Jedenfalls beeinflussen sich politische und Heeresverfassung gegenseitig, auch wirtschaftliche Momente kommen bei beiden zum Ausdruck. Ja, die eigentliche Macht im Staate muß auf die Dauer dem zufallen, der über die Waffen gebietet. Eine Betrachtung der Geschichte unseres deutschen Volkes und Heeres wird uns das lehren. Wir werden uns aber auch mit der Entwicklung in Frankreich zu beschäftigen haben, in Frankreich, mit dem wir uns auf so manchem Schlachtfeld gemessen, dessen friedlichen Einfluß wir so nachhaltig erfahren haben. Als ein Volk von Kriegern traten die Germanen in die Geschichte, ihre Tapferkeit gebot den römischen Legionen Halt, der Plan einer römischen Weltherrschaft scheiterte im Teutoburger Walde. Der Deutschen ganzes Leben schien der Krieg auszufüllen, »nihil agunt nisi armati«, berichtet Tacitus. Mochten in den Gefolgschaften der Fürsten und ihren wechselseitigen Treuverpflichtungen die Keime einer späteren Entwicklung liegen, den Kern des Heeres bildet das freie Fußvolk, »robur apud peditem«. So brachen sie in das alternde Römerreich ein, von Heerkönigen geführt, der eroberte Boden wurde unter den siegreichen Kameraden geteilt. Auch die Stärke des mächtigsten der jungen Germanenreiche, des fränkischen, beruhte durchaus auf dem freien bäuerlichen Heerbann. Bewaffnet erschienen die fränkischen Krieger auf dem Maifeld, hier stimmten sie mit lautem Ruf den Königsgesetzen zu, hier erhoben sie, aller Legitimität zum Trotz, den an Kriegsruhm reichen Karolinger an Stelle des entarteten Merovingersprossen auf den Schild. Aber dieses leicht gerüstete Fußvolk versagte, als aus den Steppen Asiens das Reitervolk der Ungarn hervorbrach, als von den Küsten Skandinaviens die Normannen ausschwärmten, weithin das offene v. B u b i , Reden and Aufsätze.
I
2 Land verheerend. Dem sächsischen Heinrich gebührt der Ruhm, zur Verteidigung zuerst Burgen gebaut und zu erfolgreichem Widerstand schwer gewappnete Reiterheere geschaffen zu haben. Doch dieser neue Heeresdienst zu Pferde in lastender Rüstung mußte von Jugend auf gelernt, stets geübt werden. Um die kostspielige Bewaffnung zu beschaffen, um ein ganzes Leben den kriegerischen Pflichten widmen zu können, mußte der neue Stand vom Fürsten reichlich ausgestattet werden. Diese Ausstattung mußte in der kapitalarmen Zeit in Grundbesitz gewährt werden. Neben diesen nun auf ihnen verliehenen Burgen hausenden Rittern blieb die Verpflichtung der Freien zum Heerbann bestehen, eine Verpflichtung, die um so lästiger fiel, je häufiger Kriege geführt wurden, die unerträglich wurde, als die deutschen Könige, vom trügerischen Glänze der Kaiserkrone geblendet, über die Alpen gegen Rom zogen. So entstand jene Flucht aus der Freiheit, wo der Bauer, um friedlich seine Scholle bauen zu können, einem Herren, geistlichen oder weltlichen, sich zu eigen gab. Es lag in der Natur der Sache, wie in einer Tendenz mittelalterlichen Lebens, begründet, wenn der neue Ritterstand »zu Helm und Schild geboren«, d. h. erblich wurde. Schon Aristoteles hatte in der Reiterei eine adelige Waffe gesehen, jetzt konnte ritterliche Übung selbst Unfreie adeln, Unfreie, die in einem persönlichen Treuverhältnis zum Fürsten standen, seine Dienstmannen, Ministerialen waren. Ein gewaltiges Standesgefühl, ein Korpsgeist beseelte die abendländische Ritterschaft, neben dem selbst die nationalen Gegensätze verschwanden. So stellte sie sich, eigenen Lebens voll, eigentümlichen Gesetzen und Sitten huldigend, neben die großen Gewalten des Mittelalters, das Imperium und das Sacerdotium. Dazu gehörte, daß sie sich schroff nach unten abschloß, jetzt sollte nur der Edle ritterliche Waffen führen, nur er lehensfähig sein. Ohne die Fürsten brach die abendländische Ritterschaft im ersten Kreuzzuge auf, das Heilige Land zu erobern, bald sollte sie sogar in feindlichen Gegensatz zu Staat und Kirche treten. Aus diesem Erleben heraus sang Walter von der Vogelweide: »Frau Welt, du hast gesiegt!« Den Versuchen der Kirche gelang es nicht, die Ritterschaft ihren Zwecken dauernd dienstbar zu machen, mehr Erfolg hatte damit die Monarchie, so unterdrückte Philipp der Schöne von Frankreich, einer der ersten modernen Fürsten, den widerstrebenden Templerorden. Sollte eine wirkliche Staatsgewalt entstehen, so mußte sie mit
3 den Feudalbaronen abrechnen, denn das persönliche Moment in der Feudalität, das Verhältnis des Vasallen zum Herrn, hatte den staatlichen Untertanenbegriff ganz zurücktreten lassen, die Landsassen oder mittelbaren Untertanen waren nur ihren Lehensherren zu Treue und Folge verpflichtet, die Vasallen eines Weifenherzogs konnten also selbst gegen den Kaiser aufgeboten werden. Die Gefahr war um so größer, als fast das ganze Abendland im Lehensverband stand, »nulle terre sans seigneur.« Wie arm war unser Land an Freien geworden! Nur wo am Meeresstrand die Pflicht, die Dämme zu schützen, vom Heerbann befreite, oder wo im Hochgebirge die Grundherrschaft nicht hatte aufkommen können, fanden sich noch freie Bauern. Als Reichsstände aber beschränkten geistliche und weltliche Große die Fürstenmacht fast bis zur Erdrückung. Eine Sprengung mittelalterlicher Bande bedeuteten jene Siege friesischer und schweizer Bauern über stolze Ritterheere, zu noch größerer Bedeutung gelangte jedoch der neue Stand, der sich hinter den Mauern der Städte erhob. Dort waren aus Hörigen freie Bürger geworden, die die Vögte der Herrschaft vertrieben hatten: selbstbewußte Geschlechter und festorganisierte Zünfte. Wenn Landluft unfrei machte, so machte Stadtluft frei. Die Macht der Städte beruhte auf ihrem Gelde. Dem kriegerischen Kreuzfahrer war der friedliche Kaufmann gefolgt, die vielbegehrten Schätze des Orients waren in die Städte Italiens, von da über die Saumpfade der Alpenpässe nach Deutschland gelangt. In echter deutscher Reise- und Abenteuerlust befuhren Hanseaten und Flamländer die nordischen Meere. Ritter, als Pfahlbürger aufgenommen, übten die städtischen Milizen. Aber nicht lange blieb der Bürger gewillt, die Waffen selbst zu tragen, er warb für sein Geld Söldner. Ihrer neuen Taktik, ihrer besseren Bewaffnung konnten die schwer gepanzerten Bitter nicht standhalten. Flandrische Milizen und englische Armbrustschützen siegten bei Crecy und Azincourt, die Erfindimg des Schießpulvers, die rein bürgerliche Kunst des Geschützwesens zumal, mußten eine völlige Umwälzung der Kriegsführung, ja den Sturz der auf ritterlicher Waffenführung beruhenden Feudalaristokratie herbeiführen. Wirklich schien es im 14. und 15. Jahrhundert, als sollte das Deutsche Reich durch die deutschen Städte neu gefestigt werden. Hätten die Städte sich gegen die Fürsten halten können, so wären wir damals zum Einheitsstaat gekommen. Aber die Kaiser, von den Wahlfürsten abhängig, i»
4 jn eigensüchtiger Hausmachtspolitik befangen, standen dem aufkommenden Bürgertum gleichgültig, ja feindselig gegenüber. Als dann der Türke den Orient eroberte, die nordischen Reiche, zu Calmar geeint, gleichwie die englischen Könige, die Hansaprivilegien aufhoben, da versiegten die Geldquellen der Städte, sie mußten den Territorialgewalten erliegen, auch die frei gebliebenen Reichsstädte verloren immer mehr an Bedeutung. Ja, während der Welthandel auf den Meeren neuen Bahnen folgte, wurde der einzige deutsche Zugang zum Ozean, Flandern, kampflos aus dem Reichsverband entlassen. Zur gleichen Zeit trug die weise Politik der französischen Könige ihre Früchte, die, auf die Städte gestützt, die Macht der Feudalbarone gebrochen hatten. Karl VII. konnte damals den ersten Versuch eines stehenden Heeres, der compagnes d'armes, wagen, ein Heer schaffen, das nach dem Kampfe nicht mehr auseinanderlief, und den Grundsatz aussprechen, nur der König sei berechtigt, Truppen zu werben. Sein im Kampfe mit dem Feudalismus so skrupelloser Nachfolger, Ludwig XI. zog dann freilich den für die französische Monarchie folgenreichen Bund mit den Schweizern vor und bezwang mit ihrer Hilfe den letzten großen Vasallen Frankreichs, Karl den Kühnen von Burgund. Dem Kaiser aber blieb nichts übrig, als auch die Schweizer sich selbst zu überlassen, als »Verwandte des Reichs!« In Deutschland hatte sich der Sieg der Fürsten über ihre alten feudalen Standesgenossen, über die Bürger und den Kaiser, entschieden, und die bunte Reichsarmee bot nur ein zu sprechendes Bild der chaotischen Zustände des Reiches. Der Versuch Maximilians, der heillosen Kriegsverfassung durch die Kreisordnung aufzuhelfen, scheiterte denn auch vollständig. Es blieb den Habsburgern ihre große Hausmacht, für deren weltumspannendes Interesse sie auf die nunmehr auftretenden internationalen Söldner angewiesen waren. Dies System war höchst virtuos von den italienischen Condottieren ausgebildet, die heute dem, morgen jenem Dynasten für klingenden Lohn dienten oder ihn um falsches Gold verrieten. Georg v. Frundsberg warb für Karl V. die fast zunftmäßig organisierte Schar der »frumben deutschen Landsknechte«. Das Ganze war Geschäft, der Oberst ein Privatunternehmer, der das Geld zur Werbung, oft auch zum Sold vorschoß. Für etwaige Rückstände hielt man sich durch das Plündern feindlicher Städte schadlos, beim Rückzug spielte man dem Freundesland kaum weniger übel mit. Die Plünderung Roms, die Greuel der spanischen Soldateska
5 und die Horden des 30jährigen Krieges gelangten zu trauriger Berühmtheit. Großes konnte mit diesen Heeren erreicht werden, wenn der Feldherr, wie Gustav Adolf, zugleich König im Lager war; Wallensteins Beispiel mahnt, wie gefährlich ein so großer Name für den kaiserlichen Auftraggeber werden konnte. Für dynastische Zwecke eignete sich das System im ganzen vortrefflich, da es ja auf nationale Begeisterung der Truppen gar nicht ankam, nur ungewöhnlich kostspielig war diese Art der Kriegsführung. Man hat berechnet, daß trotz des gewaltigen Unterschiedes im Geldwert ein Soldat damals teurer zu stehen kam als wie heutzutage. Die Steuerkräfte des Landes mußten aufs äußerste angestrengt werden, jede ständische Aufsicht wurde bei dem eigensüchtigen Kriegszweck aufs peinlichste empfunden. Die Stände waren aber jetzt auch weniger zu fürchten. Die Reformation hatte die Macht der Geistlichkeit schwer erschüttert, selbst den katholischen Fürsten hatte der Papst große Konzessionen machen müssen, und konnte man die Privilegien des Adels nicht geradezu als ein Äquivalent für seine kriegerischen Leistungen bezeichnen? Den Schutz, den der Adel einst gewährte, leistete nun der Fürst, also wurden die Feudalrechte nunmehr als drückendes Unrecht empfunden. Die Burgen waren gebrochen, der Landfrieden hinderte die Herren, dem Stegreiferwerb nachzugehen. Der verarmte Edelmann mußte froh sein, in Hof- und Kriegsdienst des Landesfürsten unterzukommen. Der Bürger des Kontinents aber war noch nicht in der Lage oder auch nur gewillt, sich dem fürstlichen Absolutismus gegenüberzustellen, er zog vor, friedlich seinen Geschäften nachzugehen. Nach dem Dreißigjährigen Kriege war man in Deutschland froh, überhaupt endlich wieder ruhig leben zu können. Die höchste Ausbildung erfuhr der höfische Absolutismus in Frankreich, in unseren Duodezstaaten befleißigte man sich einer lächerlichen Nachahmung. Die kleinsten fürstlichen Standesgenossen wurden vom Glanz des Sonnenkönigs geblendet, jeder wollte, wie er, Gnadenquell sein. Wie Hofleben und Galaoper, so kopierte man die gardes du corps, die maison militaire Ludwigs X I V . Goldstrotzende Uniformen, brillante Paraden konnte »Serenissimus« nicht mehr entbehren. Der Adel drängte sich zu den Offiziersstellen, die er ausschließlich für sich beanspruchte, damit erweiterte sich die Kluft zwischen Gemeinen und Offizieren, die bei den frumben Landsknechten noch ganz kameradschaftlich verkehrt hatten. Anderseits wurde für bessere
6 Vorbildung der Kadetten, für Pensionierung der Invaliden gesorgt, Orden nach Muster des Ludwigskreuzes gestiftet. Diese Herrlichkeit kostete viel Geld, das der Nährstand seufzend aufbringen mußte. Tüchtige Fürsten haben gezeigt, was der Absolutismus leisten konnte; herrschten freilich die Mätressen, so wurde wohl um rein physischer Vorzüge willen ein Tänzer an die Spitze der Truppen gestellt, wie z. B. der bei Roßbach so schmählich geschlagene Prinz v. Soubise. An sich lag die Idee der allgemeinen Wehrpflicht dem Absolutismus durchaus nicht fern. Macchiavelli dachte aus klassischen Reminiszenzen heraus daran. Vauban hat die Frage reiflich erwogen. Ihre Verwirklichung hat zuerst Friedrich Wilhelm I. von Preußen versucht. Er ist, teilweise den Traditionen des großen Kurfürsten folgend, der eigentliche Schöpfer des preußischen Heeres. Jeder preußische Untertan ist für die Waffen geboren, spricht sein Kantonalreglement aus. Dabei wird die Waffenpflicht ausdrücklich als Ehrenpflicht bezeichnet, zu einer Zeit, da die Nachbarn noch Verbrecher zum Heeresdienst verurteilten. Ja, der König selbst erschien in Uniform, sämtliche Prinzen seines Hauses nahmen Dienst in der Armee, und der Adel folgte ihrem Beispiel. Überhaupt ist die moralische Hebung des Offizierkorps spezifisch preußisch: der Offizier soll gehorchen, es sei denn, daß ihm etwas wider die Ehre befohlen wird. War nun nicht Großes erreicht, wenn all die einst so widerspenstigen Junker, die Dohna, die Arnim, die Bülow, die Kleist, und wie sie alle hießen, nun ihren Ruhm auf den preußischen Schlachtfeldern suchten ? Ihnen gesellten sich dann, zumal nach den Siegen Friedrichs des Großen, deutsche Fürstensöhne und Edle aus allen Gauen, für das Erwachen deutschen Nationalgefühls gewiß eine bedeutsame Tatsache, während Österreichs glorreichste Erinnerungen sich außer an die reichsfreien Daun und Schwarzenberg doch vorzugsweise an nichtdeutsche Namen wie Eugen von Savoyen, Montecuculli, die Terski, Kinski, Zichy und Jellachich knüpfen. Friedrich der Große war übrigens weniger liberal als sein Vater, von den bürgerlichen Offizieren, die dieser zugelassen, meinte der Sohn, sie seien der erste Schritt zum Verfall des Heeres, deshalb wünschte er auch die Rittergüter ausschließlich dem Adel zu erhalten. Zur allgemeinen Wehrpflicht jedoch verhielten sich beide Könige ähnlich. Nach dem Kantonalreglement Friedrich Wilhelms I. wurde das ganze Land in Kantone geteilt, die die Rekrutierungsbezirke für je ein Regiment bildeten. Es entsprang den
7 Nützlichkeitsprinzipien des aufgeklärten Polizeistaates, wie das System gleich im Anfange durch eine Masse von Exemptionen im Interesse der »Commerzien « durchbrochen wurde, so wurde ganz Berlin ausgenommen. Friedrich der Große wünschte gar, der friedliche Bürger solle nicht merken, wenn die Nation sich schlägt! Volkserhebungen waren ihm vollends widerwärtig, den schlesischen Bauern verbot er jede Einmischung bei Strafe der Rebellion, den Widerstand der Ostfriesen gegen die Franzosen hat er scharf getadelt. Trotz der Wehrpflicht bestanden zwei Drittel aus Söldnern, und der preußische Werber blieb der Schrecken der Nachbarn. Zeltlager waren deshalb so behebt, weil sie die Desertion verhüteten. Es blieb im wesentlichen beim Alten, und die Schonimg des kostbaren Soldatenmaterials nötigte zu vorsichtiger Taktik und langsamer, methodischer Kriegsführung. Ängstliche Rücksicht mußte auf die Hilfskräfte des Landes genommen werden, da nur siegen würde, wer den letzten Taler hatte. Als Friedrichs Genius die Schranken der Regel durchbrach, als er, wie bei Hohenfriedberg, sich das stolze Recht der Initiative wahrte, da tadelte Prinz Heinrich: »mein Bruder kann nichts als bataillieren«. Heer wie Staat in Preußen standen und fielen mit dem Einzigen Friedrich. Die wirkliche allgemeine Wehrpflicht drängte sich erst auf, als in den Stürmen der Revolution der bourbonische Absolutismus entwurzelt war. Carnot, le grand Carnot, war der Organisator der berühmten levée en masse, des allgemeinen Aufgebots, freilich unter Anwendung aller revolutionären Schreckmittel. Was noch von brauchbaren alten troupiers vorhanden war, wurde mit den conscrits zu demiebrigades verschmolzen. Da die alten hochadeligen Offiziere großenteils emigriert waren, so ergab sich der echt demokratische Grundsatz von selbst, daß jeder Soldat den Marschallstab im Tornister führe. So mangelhaft die Truppen zunächst organisiert sein mochten, so verhinderte schon allein ihre Masse das kleine Heer des Braunschweigers, nach Paris zu marschieren. Freilich, als man wieder aufatmen konnte, als die Bourgeoisie wieder zur Macht gelangt war, da wurde auch schon die allgemeine Wehrpflicht wieder durch die Ersatzleute, die remplaçants, durchbrochen. Die kleinen Leute, die für Napoleon begeisterten Bauernsöhne, waren es, die Frankreichs Schlachten schlugen, was natürlich den Chauvinismus der Pariser Gesellschaft durchaus förderte. So ist die scheinbare Ausnahme von der Regel zu erklären, daß die
8 allgemeine Wehrpflicht reine Eroberungskriege ausschließe. Napoleons Führung glich auch den Mangel des Offizierskorps aus, in dem alte ausgediente Hauptleute unter durch höhere Bildimg und militärische Veranlagung ausgezeichneten jugendlichen Stabsoffizieren standen. Nie um Ersatz verlegen, konnte Napoleon mit bisher beispielloser Kühnheit immer auf das Herz, die Hauptstadt, des Feindes zielen. Der Krieg mußte dann den Krieg ernähren, immer neue Verbündete mußten dem siegreichen Cäsar mit Gut und Blut frohnden. Aus der Republik war das Empire geworden, an der Spitze der gekrönte Condottiere mit seinem prunkenden Gefolge von Marschällen, die die Schlachtennamen des halben Europas als Adelstitel führten. Als aber die große kriegsgewohnte Armee verloren, die Verbündeten abgefallen waren, erwies sich die Basis zu schwach, sein Genie selbst konnte den Mangel an Ersatz nicht mehr ausgleichen. Blücher hat es durchschaut, er äußerte 1 8 1 5 : »wir werden rasch zu Ende kommen, die Franzosen habe ich vor mich, den Ruhm hinter mich, bald wird es knallen, denn der Bonaparte hat ja gar nichts.« Besonders aber hatten die Feinde von Napoleon gelernt, ohne etwa französische Institutionen sklavisch nachzuahmen. Als Deutschlands letzte Hoffnung und mit ihr der preußische Staat und das Heer bei Jena zusammengebrochen waren, da erkannte Stein, daß beide von Grund aus erneuert werden müßten. Eine Befreiung der Bauern, eine freiheitliche Städteverfassung mußten der Heeresreform vorausgehen. Dann wurden die Werbungen im Auslande ganz abgeschafft, die Mannzucht menschlicher gehandhabt. Die Bestimmung des Tilsiter Friedens verbot, die allgemeine Wehrpflicht durchzuführen, Preußen durfte nur 42000 Mann unter den Fahnen halten. Scharnhorst ersann das Krümpersystem, wonach alle drei Monate eine Anzahl von Rekruten eingezogen und größtenteils nach notdürftiger Ausbildung wieder entlassen wurden. Der Rest, sorgfältig eingeübt, blieb als Stamm bestehen. Besonders originell zeigte sich Scharnhorst bei der Bildung des neuen Offizierskorps. Auch hier wurde verkündet: aller bisher stattgehabter Vorzug des Standes hört beim Militär auf. Ein Unterschied jedoch war noch in Deutschland geblieben, der der Bildung. Dieser geistige Zensus, der die Beamten von den Subalternen scheidet, sollte auch die Offiziere von den Mannschaften trennen. Innerhalb des Standes sollte aber der bürgerliche Leutnant ebensogut Offizier sein wie jeder andere. Der französische Dualismus im
9 Offiziersstande war so auf das glücklichste vermieden. Das Selbstgefühl des Landwehrkorps wurde moralisch besonders dadurch gehoben, daß die Offiziere durch Wahlen bei ihrem Ersätze mitzureden hatten, unsichere Elemente sollten hierdurch ausgeschlossen, eine gewisse soziale Erziehung verbürgt werden. Die Organisation der vielgefeierten Landwehr ist vornehmlich das Werk Gneisenaus. In der großen Zeit der Prüfung von 1 8 1 3 konnte es sich zunächst nur um eine Improvisation handeln. Das französische Prinzip der Stellvertretung wies er jedoch schon gleich weit von sich, auch setzte er durch, daß die Landwehr ebenfalls wie die Linientruppen außerhalb der Landesgrenzen verwendet werden durfte. Der politischen Folgen der Bewaffnung des ganzen Volkes war man sich wohl bewußt, das beweist die Proklamation von Kaiisch : »Herstellung der deutschen Verfassung in lebenskräftiger Verjüngimg und Einheit allein durch die deutschen Fürsten und Völker«. Wie dieses Ziel dann durch Heer und Volk auf dem Schlachtfeld errungen, wie zu Versailles im Herzen von Frankreich die neue deutsche Kaiserkrone den würdigsten Träger fand, das, meine Herren, wird stets die stolzeste Erinnerung des deutschen Volkes bleiben.
Großstadt und Land in ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Wechselbeziehung. Vortrag als Landtagsabgeordneter, gehalten am 14. März 1910 im Nationalliberalen Verein München.
Ich bin gerne dem Rufe gefolgt, auch hier als liberaler Agrarier (Renommier-Agrarier hat die »Köln. Volkszeitung« mich genannt) etwas zu sagen über die Großstadt und die Landwirtschaft in ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Wechselbeziehung. Der Großstadt, nicht etwa der Stadt, — wenn Sie sich einen Merianischen Kupfer vergegenwärtigen, wie die scharf umrissenen Linien der mittelalterlichen Stadt mit ihren Mauern und Türmen sich kühn und fröhlich aus der Landschaft emporheben, umgeben von den Landhäusern der reichen Patrizier, während eine Vorstadt von Ackerbürgern die Verbindung bildet zur umgebenden Landschaft, so finden Sie eine enge Verbindung zwischen Stadt und Land schon im äußern Bilde und auch innerlich eine historisch gewordene Einheit. Siesehen hier handeltreibende Geschlechter, Sie sehen Zünfte, festgefügt, die einen goldenen Boden haben, Sie sehen aufsteigende Reihen von Gesellen und einen Zusammenhang auch dem Stamme nach mit der umliegenden Landschaft. Und so hat auch die Stadt einen festen Willen. Gerade in den Städten ist 2um erstenmal der Zustand eingetreten, den wir Politik nennen. Kommt ja auch Politik von polis, und gerade diese griechische nofog war der am energischsten, am festesten, am strammsten zusammengefaßte Begriff städtischer Kultur. Fest geregelt sind die Verhältnisse auch unserer alten Städte zum Lande. In der Stadt ein Markt, auf den die Bauern ihre Produkte bringen, auf dem sie wieder ihre Bedürfnisse bestreiten. Ich brauche nichts zu sagen von der hohen kulturellen Bedeutung dieser Stadt. Wenn wir an die italienischen, die flandrischen Städte denken oder, um nicht so weit zu greifen, an unsere stolzen bayerischen Nachbarstädte Augsburg und Nürnberg, so erübrigen sich weitere Ausführungen. Am schärfsten ist die politische Bedeutung
II
des Stadtbürgertums ausgesprochen in dem Rechtsspruche: »Stadtluft macht frei, Landluft macht unfrei«. Ganz anders die Großstadt. Die Großstadt steht am Schlüsse der historischen Entwicklung ; darüber hinaus kennen wir nichts mehr. Und so treten, wenn ich von den ganz alten, archaischen Städten absehen will, uns große Städte zum erstenmal entgegen am Schlüsse des klassischen Altertums, etwa das ägyptische Alexandria, das syrische Antiochia, ganz besonders aber Rom und Konstantinopel. Hier tritt uns zunächst eine gewisse Unübersichtlichkeit gegenüber. Weit aus dehnt sich die Stadt in der Landschaft, und sie beherrscht weit größere Gebiete wirtschaftlich und politisch als der Gau, mit dem sie die enge Stammesangehörigkeit verbindet. Und so verschieden die kulturellen, so verschieden die wirtschaftlichen Interessen all dieser buntgemischten Bevölkerung sind, innerhalb der Großstadt werden sie zu einer neuen Einheit, die Großstadt folgt ihren eigenen Gesetzen. Sind ihre Bewohner zuerst auch nach einem Ausdrucke, den ein Franzose geprägt hat, déracinés, entwurzelt, so geht doch alsbald ein Prozeß vor sich, der sie zusammenfügt, mit dem stolzen Bewußtsein erfüllt: eben Großstädter zu sein. Eine gewisse Uniformierung, die Gleichheit, die égalité, entspricht der Großstadt. Die Großstadt hat eine Fülle von Bildungsmitteln aller Art. Entstammt ja auch der Begriff eines Museums dem ägyptischen Alexandria. Wenn ich mich ganz modern ausdrücken soll, so zeichnet den Großstädter aus die Reizsamkeit oder die Massensuggestion. So ist es dem Großstädter eigentümlich, kulturelle und politische Fragen auf eine möglichst einfache Form zurückzuführen, so ist der Radikalismus in der Großstadt geboren. Groß war im Altertum natürlich die Wirkung der Rede, während in der Großstadt von heute wir uns ja schwer tun, eine größere Zahl von Zuhörern um uns zu sammeln, schon weil das hochentwickelte Zeitungswesen der viva vox die weiteste Verbreitung verleiht. Auch im ägyptischen Alexandria zeigt sich schon ein Radikalismus der Massen, der wieder in das Gegenteil umschlägt, in den Antisemitismus, worauf dann die Häuser und Synagogen der Juden gestürmt wurden, weil die Juden das Unrecht begehen, die besten Viertel von Alexandria zu bewohnen. Ganz besonders typisch war dieser politische Radikalismus stets in der Geschichte einer ganz modernen Großstadt, in Paris, von den Zeiten der Geusen ab durch die Zeiten der Fronde, und wie groß war die Bedeutung, die gerade Paris für die französische Revolution ge-
12
wonnen hat ! Eigentümlich ist dem Großstädter sein Selbstbewußtsein. Dieses spricht sich besonders aus in seinem raschen, schlagfertigen Urteile, sei es, indem er sich mit politischen Fragen beschäftigt, in Massenversammlungen, sei es, indem er das Recht auf die Straße proklamiert oder wenn eine despotische Faust über ihm regiert. Dann bleibt ihm nichts übrig als der Spottvers — so in Paris das berühmte : »La monarchie absolue tempérée par les chansons«, die absolute Monarchie, gemäßigt durch das Spottlied. Derselbe Spott einst schon in Alexandria, wo er die Städter in große Verlegenheit gebracht hat, sie konnten es aber trotz allem cäsarischen Grollen nicht lassen, sich über Kaiser und durchziehende jüdische Königinnen lustig zu machen. Derselbe Spott dann in Byzanz. Für ein bon mot, ein witziges, treffendes Wort hat der Städter seine Sicherheit stets riskiert. So auch heute wieder der schlagfertige Berliner Witz. Es ist ja klar, daß, wo so viele Menschen beisammen wohnen, einerseits sich anschließt das Fragen, die Neugierde für etwas Berühmtes, für das, was auf der Agora, im Parlament sich ereignet, ein »Quid novi ex Africa?«, andrerseits die Sucht nach der Sensation, das Sichgegenseitigübertrumpfenwollen, der Stich ins Kolossale, der dann wieder die Weltstadt Rom erfüllt hat. Und dies haftet dem Großstädter an, selbst wenn er in die Provinz kommt, er fühlt, daß ihn so etwas wie Großstadtluft umgibt und so ist manchmal der Berliner in der Provinz eine nicht ganz behebte Erscheinung. Dazu kommt, daß dem Großstädter eine Hochschätzung und manchmal eine Überschätzung speziell großstädtischer Interessen eigentümlich ist, sie können künstlerischer oder sportlicher Natur sein, die circenses in Rom, wie in Konstantinopel und ebenso in Paris. Erscheint nicht dem Pariser der Boulevard von der Madeleine bis zur Place de la Concorde als eine eigene Welt? Es ist eine Welt; es ist vielleicht eine künstlerische Welt, aber auch eine künstliche Welt. Und so finden wir auch die Reaktion gegen diese Künstlichkeit bei den Großstädtern selbst. Nicht umsonst ist die Idylle wieder seinerzeit in Alexandria erstanden, finden wir die Lust nach dem Lande in der Georgica bei Virgil und bei Horaz und dann wieder die Pastorale und Rousseau im Paris der Rokokozeit. Es ist eine Liebe zum Lande im Rampenlichte, in theatralischer Beleuchtung; eine gewisse falsche idyllische Sentimentalität mischt sich ein. Wenn ein Pariser in den Alpen ist und den Sonnenuntergang bewundert, hat er kein anderes Wort als : »Schön, wie in der großen Oper!« Und
13
wir in München geben lins wohl kaum der Illusion hin, daß das oberbayerische Bauerntum ganz so ist, wie es in den Stücken im Gärtnertheater erscheint. Dabei äußert sich diese manchmal etwas unglückliche Liebe des Großstädters zum Lande auch in der Propagierung städtischer Ideen auf dem Lande. Man ist rührend besorgt in der Großstadt für das Land; und vom Katheder, von der Tribüne des Landtags, in Versammlungen, was für gute Ratschläge bekommen wir immer von den Großstädtern! Da rühmt der eine leistungsfähige Milchkühe, der andere schwärmt für leichten Pferdeschlag; neulich war ich in einer Versammlung, wo uns sogar aus holdem Damenmunde als Lösung der Dienstbotenfrage die Koedukation empfohlen wurde. Vielleicht nützt die; in einem Bauernmunde müßte sich schon das Wort ganz köstlich ausnehmen! Daher ist ein gewisses Mißtrauen des Landes gegen die Großstadt nicht abzuleugnen. Der Landbewohner fühlt sich in einem schlecht sitzenden Rock oder gar vielleicht — denken Sie an Paris, München ist nicht so elegant — mit einem altmodischen Zylinder nicht an seinem Platz, und wenn er mit einem Großstädter in eine Unterredung kommt, so fühlt er sich ganz sicher unterlegen. Die Bildung auf dem Lande wird schwer erworben. Es stürmen nicht so viele Reize, nicht so viele Anregungen auf uns ein. Sie hat dafür vielleicht den Vorzug, manchmal etwas tiefer zu sein. Dem großstädtischen Selbstbewußtsein stellt sich ein gleichartig provinzielles nicht entgegen. Kein Mensch will Provinzler, Kleinstädter, kein Mensch Hinterwäldler oder Gescherter sein; an die Stelle des Selbstbewußtseins jedoch tritt die ausgesprochene Individualität. Es kommt auch noch dazu, — es spielt eben noch eine große Rolle die Tradition — der Hang zum Althergebrachten, das man erst nach einigem Zusehen gegen die neuesten städtischen Ideen aufgeben möchte, besonders da eine gewisse Erfahrung lehrt, daß das, was jetzt von der Großstadt gepredigt wird, vielleicht in zehn Jahren dort nicht mehr als Evangelium gilt. Wir haben also die Befürchtung dann auf dem Lande leicht nachzuhinken. Diese ländliche Individualität äußert sich, und da bin ich ganz einer Meinung mit Ihnen, manchmal nicht in der allerangenehmsten Art. Ich will nicht an die Raubritter erinnern, nicht an die Quitzows, — aber auch diese haben Enkel, und der Städterhaß ist immer noch recht lebendig. Aber wenn die Zeiten vollendet sind, wenn es gilt, einem großen Ziele zuzustreben, »und wenn die Welt voll Teufel wär«, dann braucht man solche Kernnaturen vom Lande, die man lieben oder hassen muß,
14 wie ein Cromwell war und wie wir sie in unserem großen Kanzler Bismarck besessen haben, an dessen Bilde Sie die junkerlichen Züge nicht vermissen möchten. Trotzdem übt die Großstadt eine gewaltige Anziehung auf das Land und die Provinz. Es ist eine Auswanderung der Arbeitskräfte, oft der tüchtigsten Kräfte, die das Land wohl brauchen könnte; es ist aber ganz besonders eine Auswanderung der Intelligenz nach der Großstadt, die immer eine gewisse Gefährdung durch Verarmung und Verödung des Landes bedeuten könnte. Schauen Sie Paris an. Wer die Geschichte kennt, weiß, daß im Mittelalter eine reiche Eigenbildung war in der Provence, an der Garonne und an der Loire, in der Champagne wie in der Bourgogne und in Anjou. Und da müssen wir uns doch fragen, ob so viele reiche, eigene, bodenständige Bildung aufgegeben werden mußte, um die eine Lichtstadt Paris zu schaffen ? Ist es nicht, als ob aus den Gräbern der Cäsaren das Gespenst der absolutistischen Zentralisation aufgestiegen wäre, das den Untergang des Römischen Reiches rächen wollte an den individualistischen Barbaren ? Und wie kulturell die Bildung einer Großstadt reich bezahlt werden muß, so auch in wirtschaftlicher Beziehung. Sehen Sie auf das alte Rom! Es wird zur Weltstadt nach einem langen, heißen Ringen. Nicht allein aus wirtschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen, nach den Gracchischen Unruhen auf die Verordnung der Proskriptionen Sullas stirbt der römische Bauernstand dahin, dessen Kraft allein das römische Weltreich geschaffen. Es kommt eine Konkurrenz hinzu, da der Kaiser der großen weltstädtischen Bevölkerung Roms Brot um möglichst billigen Preis verschreibt aus Sizilien, Afrika und Ägypten, eine Konkurrenz, der der römische Bauernstand nicht gewachsen war. So ist uns überliefert, daß man schon damals riet, wenn der Körnerbau nicht mehr lohne, solle man doch dann Trüffel bauen, mit großen Vogelkäfigen das Land bevölkern, das kein Getreide mehr trägt. Einer derjenigen Kaiser, die im schlechtesten Rufe gestanden, Domitianus, hat scheinbar so etwas wie eine schutzzöllnerische Anwandlung gehabt. Es ist vielleicht nicht das Schlechteste, was er getan, indem er in den neuen Provinzen den Anbau von Weinstock und Olive verboten hat, offenbar, um diese Kulturen dem italienischen Bauernstande noch zu erhalten, aber die Vernichtung des römischen Bauernstandes war unaufhaltsam. Man hat sich schon in der Kaiserzeit erstaunt, wie in dem Lande Etrurien seinerzeit noch Legionen aufgeboten werden konnten gegen
i5 dieVolsker undÄquer, das jetzt auch nicht die bescheidenste Waffenmacht mehr aufbrachte. Der römische Bauer verschwand, der Colone, der Pächter, folgte ihm, und das römische Reich ist an Verödung zugrunde gegangen, schon ehe die nördlichen Barbaren in seine Grenzen eindrangen. Gehen wir nun zu modernen Verhältnissen über. Vergleichen wir zwei Länder mit ganz verschieden fortgeschrittener agrarischer Entwicklung, unser bayerisches Vaterland etwa mit England. Und da will ich nicht behaupten, daß die ganze englische Landwirtschaft etwa nur dem Freihandel zum Opfer gefallen sei. Es ist ein Kampf, den der englische Bauer seit vielen Jahrhunderten gegen das Einparkieren des Landes, gegen die überhandnehmende Viehzucht und Weidewirtschaft führt. Auf diesen Kampf ist es ja auch im Römischen Reiche zuletzt hinausgekommen, und mir erscheint es immer, als ob aus der so großen Schönheit der Campagna uns ein wehmütiger Hauch von Trauer entgegenwehe über den Untergang eines einst freien Bauernstandes. Und so ist auch in England der Bauer in einem ungleichen Kampfe gestanden gegen den Großbesitzer, der lieber das Getreideland in Weideland verwandelt hat. Aber es wird kaum zu bestreiten sein, daß der Freihandel es schließlich war, der die englische Landwirtschaft in eine so schwere Lage gebracht hat, daß gerade bei den letzten Wahlen nicht so sehr das Vetorecht des Oberhauses, nicht einmal die Finanzreform, die, wie wir ja selbst erfahren haben, die Gemüter stark erregen kann, sondern die Landfrage es war, die die beiden Parteien, Whigs und Tories, gezwungen hat, sich eingehend mit der englischen Landwirtschaft und ihrer Lage zu beschäftigen. Ich verdanke die folgenden Zahlen einerseits dem vortrefflichen Direktor des Statistischen Landesamts, Ministerialrat Dr. Zahn, anderseits dem vielleicht kompetentesten Beurteiler der Frage englischer Landwirtschaft, dem Mr. Jessie Collings, wozu ich noch einige französische Gegenbeispiele fügen werde. Während wir in Bayern 2828000 Einwohner haben, die in Städten mit über 2000 Einwohnern wohnen, wohnen 3770000 auf dem platten Lande. Die englischen Gegenzahlen sind 25 Millionen in den Städten und 7V2 Mill. auf dem Lande. Wenn wir zugeben, und da sind wir doch wohl alle einer Ansicht, daß es für ein Staatswesen, im Altertum wie in der Gegenwart, von besonderer Bedeutung ist, daß ein kräftiger Mittelstand, also eine möglichst große Menge selbständiger Existenzen
i6 uns erhalten werde, so sehen wir mit Befriedigung im bayerischen Staate an Erwerbstätigen im Hauptberufe in den Städten 51,5, auf dem Lande dagegen 60%. Wir können stolz darauf sein, daß Bayern ein landwirtschaftliches, ein Bauernland ist. 40,3% der gesamten Bevölkerung treiben Landwirtschaft, 3 3 % Industrie, 1 1 , 6 % Handel. In der Landwirtschaft sind 2666000 Personen beschäftigt und unter diesen sind 435000 selbständige Betriebsleiter; unter den 3 3 % der Industrie sind 2200000 Personen beschäftigt, darunter 221000 selbständige Existenzen, also eine wesentlich geringere Zahl; der Handel mit seinen 1 1 , 6 % weist 102000 selbständige Existenzen auf. Aber auch die Besitzverteilung ist in Bayern eine außerordentlich glückliche. In Bayern sind unter 670000 landwirtschaftlichen Betrieben nur 535 Großbetriebe mit über 100 ha = 300 Tagw. Und diese 535 Großbetriebe besitzen 93000 ha von einer landwirtschaftlich benutzten Fläche von 4y 4 Mill. ha. Also der Großgrundbesitz spielt gar keine Rolle. Ein Gegenbeispiel bildet Mecklenburg. Hier sind 1 , 3 % der Betriebsleiter Großgrundbesitzer — in Bayern 0 , 1 % mit 2,2% der landwirtschaftlichen Fläche; —diese 1 , 3 % nehmen nicht weniger als 59,7% der landwirtschaftlichen Fläche ein. Ganz eigentümlich ist der Prozentsatz der kleinsten Betriebe, der Zwergbetriebe, unter 2 ha in Mecklenburg: 76,6%, also mehr als 3/4 aller Betriebe. Während also bei uns der Bauemstand außerordentlich überwiegt, gedeihen unter dem Schatten des Mecklenburger Großgrundbesitzes nur noch einzelne kümmerliche Kleinbesitzer, die natürlich dann als Arbeiter auf die Güter gehen, ohne aber völlig dazu auszureichen, wie ja schon die große Polenwanderung — Sachsengänger — nach Mecklenburg beweist. Aber auch die Industrie ist bei uns sehr lebhaft an der Landwirtschaft beteiligt. 74000 industrielle Unternehmer und 61000 industrielle Arbeiter sind landwirtschaftliche Besitzer. Außerordentlich erfreulich und bezeichnend für den aufsteigenden Wohlstand auch unter den Arbeitern ist, daß die Zahl dieser landwirtschaftlichen Besitzer, die 61000 jetzt beträgt, im Jahre 1895 nur 40000 betragen hatte. Ein eigentümliches Zusammentreffen ist es, daß in ganz England, Schottland und Wales nur 61000 landwirtschaftliche Eigentümer überhaupt noch leben! 4000 Personen besitzen vier Siebentel des Bodens von England und Wales. Den 61000 Landeigentümern stehen 477000 Pächter gegenüber. Also hat auch in England der Colone den Bauern vertrieben! Stellen Sie demgegenüber Frankreich mit seinen 4—5 Mill. ländlicher
17 Güter. Diese französischen Bauern sind es, die bewirkt^haben, daß trotz aller Revolutionen und Umwälzungen des vorigen Jahrhunderts Frankreich immer im wesentlichen dasselbe geblieben ist, was es bisher war. Wie sehr die englische Landwirtschaft zurückgeht, sieht man am besten aus folgenden Zahlen: Im Jahre 1851 konnten noch 1300000 landwirtschaftliche Arbeiter ihren Verdienst finden, während ihre Zahl im Jahre 1901 auf 727000 zurückgegangen ist. Es sind gerade die tüchtigsten Elemente aus dem Mittelstande, die in die Städte abwandern, und wenn auf dem Lande Arbeitsmangel ist, strömen sie in die Stadt, bereiten dem städtischen Arbeiter Konkurrenz, und so kommt es, daß man auf dem Lande Dienstbotennot, in der Stadt Arbeitsnot hat. Dazu kommt noch die große Bedeutung des heimischen Marktes. Freihandel mag ja etwas ganz Schönes sein, nur muß es so sein, wie seinerzeit Turgot es wollte, daß alle Länder zum Freihandel übergehen. Jetzt aber, wenn fast alle Länder sich durch Zollschranken abschließen, wenn überall neue Industrien entstehen, sind wir immer mehr auf den einheimischen Markt angewiesen. Dieser heimische Markt ist sicherer —• weniger zu fürchten ist hier die ausländische Konkurrenz —, ferner ist er stetiger in seinen Bedürfnissen. So berichtet die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, daß die festeste Stütze im abgelaufenen Jahre die heimische Landwirtschaft gewesen ist. Ich will es auch mit französischen Worten sagen. Am 11. März 1910 hat der Vorsitzende der Zollkommission im französischen Senat gesagt: »Die Ursache des allgemeinen Wohlstandes Frankreichs ist der ländliche Wohlstand.« Die englischen Sorgen bei den Wahlen kamen hauptsächlich daher, daß von 1878 bis 1909 die englische Getreidebaufläche von 1500000 ha auf 750000 ha gesunken, die Einfuhr von Getreide von 40 auf 85% gestiegen war. Der größte Stolz von Frankreich dagegen ist, daß Frankreich in der gleichen Zeit aus einem Lande der Getreideeinfuhr zu einem Lande der Getreideausfuhr geworden ist. Und hiebei ergibt sich etwas ganz Merkwürdiges: daß die Getreidepreise durchaus nicht nur von Schutzzoll und Freihandel abhängen. Im 3. Quartal 1909 haben 1000 kg Weizen in Liverpool 205 M., in Paris 199,7 M. gekostet. Die Getreidepreise waren, ebenso wie die Fleischpreise, die niedrigsten im schutzzöllnerischen Frankreich. Daraus folgt, daß die Schutzzölle überhaupt keine Dogmen sind, daß die Landwirtschaft zu gewissen Zeiten ja v. B u b i , Reden und Aufsätze.
2
i8 wohl einen Schutzzoll braucht und dann ev. wieder zum Freihandel übergehen kann. Es zeigt sich, daß aus dem gleichbleibenden Boden von Frankreich durch bessere Bewirtschaftimg und genossenschaftliche Tätigkeit eine viel größere Getreidemenge hat produziert werden können, obgleich die Stastistik lehrt, daß die Anbaufläche für Getreide sogar auch in Frankreich zurückgegangen ist. Die Preise für Lebensmittel sind umgekehrt ständig gestiegen. Bei der Milchwirtschaft zeigt sich, daß ein Rückgang der Viehzucht wie in England eingetreten ist. England wäre an sich für Viehzucht ganz hervorragend geeignet. Während aber in Deutschland auf iooo Einwohner 330 Rinder und 177 Milchkühe kommen, in Bayern 550 Rinder und 252 Milchkühe, sind es in England nur 69 Milchkühe. Von der für die Volksernährung so wichtigen Milch kostet der Liter in England, obgleich Irland dabei ist, wo er 19 Pf. kostet, durchschnittlich 23,6 Pf. im Lande und 30 Pf. in London. Darunter leidet natürlich die Säuglingsernährung gerade bei den ärmsten Klassen, wo allerlei Milchkonserven verwendet werden müssen. Trotzdem der Sonderdurchschnitt der Säuglingssterblichkeit in England mit 1 0 % viel günstiger als der bayerische mit 20%, ist die Sterblichkeit der ärmsten der unehelichen Kinder in München 21,7 gegen 24,5% in London. Die Fleischpreise sind in Frankreich besonders günstig, ebenso natürlich die für Gemüse, Obst, Geflügel, Eier. Für Bayern ist eine außerordentlich erfreuliche Zunahme der Schweinezucht zu verzeichnen. Es bleibt mit 308 Schwein auf 1000 Einwohner zwar etwas unter dem Reichsdurchschnitt, der gleich 357 ist, übertrifft aber England, wo auf 1000 Einwohner nur 76 Schweine kommen. Außerordentlich erfreulich hat sich auch unsere Molkerei entwickelt, so im Allgäu, wo damit wieder Schweinemaststationen vereinigt werden können. Und wenn unser Viehbestand etwas zurückgegangen ist, so wird das mehr als ausgeglichen durch die Gewichtszunahme beim einzelnen Stück Vieh. Jedenfalls ist Bayern in der Lage, seinen Konsum aus Bayern selbst zu decken. Weniger erfreulich ist es um die Geflügelzucht bestellt, obgleich im Reiche Bayern neben Oldenburg noch am besten dasteht. Es könnte bei rationellerer Zucht allmählich auch hier ein günstigeres Verhältnis zwischen Einfuhr und Ausfuhr erreicht werden. Wie weit eine gewisse rationelle Zucht den Import beschränken kann, zeigt auch wieder Frankreich, wo innerhalb 19 Jahren der Überschuß der Einfuhr über die Ausfuhr von 100 Mill. auf 15 zurückgegangen
19 ist. Um sich dem großstädtischen Konsum anzupassen, ist es für die Landwirtschaft besonders wichtig, daß sie sich genossenschaftlich organisiert. Sie haben ja in den letzten Jahren die bedauerlichen Vorgänge miterlebt, daß in den Genossenschaften, wenn der kaufmännische Geist fehlt, wenn unberufene Personen an der Spitze stehen, schwere Verluste vorkommen können. Das darf uns aber nicht abhalten, uns zu freuen über das Blühen des Genossenschaftswesens. Und das ist auch der Fall in Frankreich. Wenn die Bauern sich zusammenschließen, wenn ihnen von den Genossenschaften gewisse Richtlinien vorgeschrieben werden können, entwickelt sich die Produktion und kann sich dem städtischen Konsum am leichtesten anpassen. Dann kann auch der Staat eingreifen, man kann auf Milchzucht hinlenken, am Ende mit Leistungsprüfungen. Diese Leistungsprüfungen sind namentlich in Dänemark eingeführt, einem Lande kleinbäuerlichen Besitzes, das ja allerdings begünstigt ist vom Klima und einer außerordentlichen Futtermenge. Wenn wir diese auch nie erreichen können, so ist Dänemark darin doch jedenfalls ein großes Vorbild geworden. Dort hat man die alten Prüfungen von Milchvieh nur nach äußeren Zeichen aufgegeben und neben den äußeren Zeichen Leistungsprüfungen vorgeschrieben, d. h. daß gewissenhaft Buch über die Ergiebigkeit der Kühe geführt werden soll. Zur Hebung der Milchnot kann die Verkehrsverwaltung Züge einlegen, mit denen die Hauptstadt und die großen Städte mit Gemüse und frischem Obst möglichst reichlich versorgt werden. Ich kann mich aus meiner Studentenzeit noch recht gut erinnern, daß man Obst und Gemüse in München sehr selten erhielt; so recht über die Knödel ist man eigentlich nie hinausgekommen. An der Entwicklung unseres Obst- und Gemüsebaues hat also die Großstadt das lebhafteste Interesse. Neben dieser Ernährungsfrage spielt aber auch die Verödung des Landes noch in einer anderen Beziehung eine große Rolle. Wir haben in Bayern einen Wanderungsverlust, die Zahl der Personen, die abwandern ist eine größere als die Zahl derer, die nach Bayern einwandern. Und das ist doch nicht ohne Bedeutung. Von 1901 bis 1905 betrug dieser Wanderungsverlust 2,2 pro Mille, während Preußen trotz seiner östlichen Provinzen durch seinen Westen einen Einwanderungsgewinn von 0,27 hat. Am auffallendsten ist der Kontrast in Sachsen. Während die sächsiche Bevölkerung im Jahre 1871 6,2% der deutschen Reichsbevölkerung und die bayerische Bevölkerung 1 1 , 8 % 2»
20 betrug, hat sich dies bis 1905 so verschoben, daß Sachsen nunmehr 7,4, dagegen Bayern nur 10,8 statt 11,8% Anteil der Bevölkerung des Reiches aufweist. Es bedroht uns also Sachsen in unserer Stellung als zweitgrößter Bundesstaat! Es kommt dazu, daß die Militärlast in einer gewissen Höhe getragen werden muß und daß, wenn das Land nicht mehr dafür aufkommen kann, sie eben die Städte tragen müssen. 4 2 % aller Gemeinden zeigen einen ungünstigen Bevölkerungswechsel, vor allem in Oberfranken und der Oberpfalz — merkwürdigerweise Nordbayern mehr als das südliche — , in der Pfalz ist die Zunahme zufriedenstellend, günstiger in Niederbayern. Es mag nötig sein, die Industrie auch auf dem Lande einzuführen, aber ich glaube, ich hätte ganz vergebens gepredigt, vergebens auf England hingewiesen, wenn ich nicht bewiesen hätte, daß mit der Industrie allein der Verödung des Landes nicht entgegengetreten werden kann. Der Verödung folgt allerdings die Nachwanderung, der Nachschub, aber darin liegt eine große nationale Gefahr. Wie Rom nie den Barbaren zum Opfer gefallen wäre, wenn diese nicht schon vorher die Provinzen überschwemmt hätten, so hätte der Islam niemals so gewaltige Fortschritte gegen das byzantinische Reich machen können, wenn nicht das ganze Land schon von Beduinen bevölkert gewesen wäre — ich glaube, es gibt keine größere Tragödie als den Todeskampf von Byzanz, das untergehen mußte, weil es zur Hauptstadt ohne Land geworden war — auch bei uns zeigt sich schon die gleiche Gefahr. Ich erinnere nur daran, daß die Slawen bereits in Wien eingezogen sind, daß eine polnische Gefahr für Berlin besteht und daß infolge der ungünstigen Verhältnisse auf dem Lande auch bereits in Bayern die ersten Slawen einwandern. Aus diesem nationalen Grunde sind wir alle und die Großstädter im besonderen, außerordentlich interessiert daran, daß das Land bevölkert bleibt von unseren Landsleuten. Ich meine, kein Parteiund kein Fraktionsinteresse kann in so ernsten Zeiten rechtfertigen, wenn der Gegensatz zwischen Stadt und Land zu den vielen sozialen Gegensätzen und zu der traurigen Religionszerklüftung, die wir nun schon einmal haben, auch noch verbreitert würde. Was der bayerische Staat für die Landwirtschaft aufwendet, zahlt die Landwirtschaft wieder reichlich heim in materiellen, sozialen und kulturellen Werten. Und wenn wir vom Lande stolz sind, daß wir eine so schöne Hauptstadt haben, so glaube ich, München darf nicht minder stolz darauf sein, daß es die Hauptstadt des fruchtbaren Bauernlandes Bayern ist.
Schlußwort nach den Reichstagswahlen 1912. Die große Schlacht ist geschlagen, Rechts und Links will das Feld behauptet werden, während doch die Siegespalme nur den Soziald e m o k r a t e n gebührt. Aber die haben sich doch auch für die Freiheit geschlagen? Wirklich? Sozialdemokratie und Freiheit? Sei dem, wie ihm sei, um »Gottes willen« haben sie es kaum getan. Sie werden ihren bürgerlichen Freunden schon die Rechnung präsentieren, und wer wird sie bezahlen müssen ? Natürlich der B e s i e g t e , wie das Rechtens ist. Wer ist nun der B e s i e g t e in der berühmten Schlacht von Philippi, in der vom Geiste Cäsars so gar nichts zu verspüren war? D a s w e r k t ä t i g e B ü r g e r t u m in S t a d t u n d L a n d und jene gemäßigten Parteien, zu denen es sich in seiner großen Masse bekennt. Schon die A r t und Weise des K a m p f e s mußte den R a d i k a l i s m u s fördern. Der R a d i k a l i s m u s aber mit seinen Schlagworten ist der T o d f e i n d j e d e s g e d e i h l i c h e n p o l i t i s c h e n u n d w i r t s c h a f t l i c h e n F o r t s c h r i t t e s , also gerade dessen, was das werktätige Bürgertum in erster Linie bedarf. Das g a n z e Volk aber bedroht er, indem er durch Parteizerklüftung, durch Aufstachelung der konfessionellen und sozialen Gegensätze ihm jene nationale Geschlossenheit raubt, deren es gerade in diesen ernsten Zeiten dringend bedarf. Und ernst ist die Zeit! Denn die Ereignisse des Sommers zeigten in grellem Lichte, wie nahe wir einem Krieg mit England waren, der Sturz des französischen Ministers um der einzigen bösen Tat willen, daß er mit Deutschland zu friedlichem Vertragsschluß kam, belehrte uns, wessen wir uns von den Franzosen zu versehen haben. Der tripolitanische Krieg scheint uns die Freundschaft beider Streitenden zu kosten. Die italienische war seit Algeciras nicht mehr hoch ein-
22 zuschätzen, auch die Türken waren nicht mehr recht zuverlässig seit jener Revolution, die wir so bejubelt haben, einmal weil sie eine Revolution war und noch besonders, weil sie von den Jungtürken ausging. Wir schwärmen nämlich, wie etwa zu Zeiten des Hambacher Festes, für alle Revolutionen von China bis Portugal und besonders für alles J u n g e . Dagegen wäre nur zu erinnern, daß die erlauchteste politische Körperschaft, die je die Welt gesehen, der römische Senat, wie schon sein Name sagt, ein Rat der A l t e n war. Aber dafür sind wir eben im Jahrhundert des Kindes«! Bei dieser Stimmung weiter Volkskreise ist wirklich wohl zu überlegen, ob wir demokratischen Neigungen allzu großen Einfluß auf unsere auswärtige Politik einräumen dürfen. Es ist zu bezweifeln, ob dann die deutschen Interessen jene leidenschaftslose und ruhige Würdigung finden würden, wie sie ausländische Fragen einmal erheischen, und deren sie sich bei anderen Völkern, die politisch länger geschult sind, erfreuen. Wenn in jüngster Zeit sich französische Radikale mit dem absoluten Zaren verbündeten, so waren sie eben nur die wahren Söhne jenes Frankreichs, dessen allerchristlichster König mit dem Großtürken, dessen großer Kardinal mit dem protestantischen Gustav Adolf um f r a n z ö s i s c h e r Zwecke willen sich verbündet hatten, zu einer Zeit schon, wo die religiösen Gegensätze noch ausschlaggebend schienen. Deutsche schlugen sich gegen Deutsche auf allen Schlachtfeldern der Welt um religiöser und dynastischer Grundsätze willen von den Staufen bis Napoleon, ja noch 1866! Es hat den Deutschen von je nicht an Kraft und Mut, sondern an E i n h e i t und N a t i o n a l g e f ü h l gefehlt! Jedenfalls wird man nicht sagen können, daß der neue R e i c h s t a g für würdige Behandlung auswärtiger Fragen größere Gewähr biete als der aufgelöste, der ja noch in seinen letzten Tagen durch den Mund der Führer der nationalen Parteien so kräftige, und wie der Erfolg lehrte, wirksame Töne gegen England fand. England ist seit jenem Appell an das Schwert wesentlich freundlicher geworden und unterzieht die Politik Sir Edward Greys soeben einer hoffentlich wirksamen Revision. Sehr bezeichnend war, daß in dieser denkwürdigen Sitzung nur durch die G e w a l t der T a t s a c h e n die Führer der Rechten sich zusammenfanden, während die von freisinniger Seite geforderte Propaganda des Rechtes in dieser bösen Welt bedenklich an gewisse Debatten des 48 er Reichstages erinnerte. Jetzt, bei den zu unserem
23 Schutze eben dringend gebotenen Heeresvorlagen, wird sich ja der neue Reichstag national bewähren können. Von w i r t s c h a f t l i c h e n Fragen war, so wichtig sie doch gerade für das werktätige Bürgertum sind, im Wahlkampfe merkwürdig wenig die Rede, mindestens bei uns auf dem Lande. In den Großstädten ließ sich ja mit der »Teuerung« wirksam operieren. Bei uns verschmähten sie die Parteien der Linken, wohl weil sie die junge Einigkeit gefährden mußten und weil bei der von der ganzen Welt bestaunten Blüte unseres Wirtschaftslebens die Sünden der Reichsfinanzreform nicht genügend vor Augen geführt werden konnten. Um über die unbequemen Gegensätze zwischen Schutzzoll, allmählichem Abbau der Zölle und völligem Freihandel hinwegzukommen, appellierte man »an den deutschen Idealismus« und suchte die doch für die wirtschaftliche Existenz von Millionen entscheidenden Fragen geringschätzig als »Magenfragen« abzutun. Man reichte dem Brot Heischenden Steine, freilich glitzernde Steine, wie sie den politischen Kindern gefallen. Bei den Nachwahlen zum vorigen Reichstag hatten die S t r e i c h hölzer eine große Rolle gespielt, aber bei den Sommerreisen ins Ausland hatten sich inzwischen wohl die Großstädter überzeugt, daß jene selbst in den freiesten Ländern schlechter und teurer sind als bei uns. Es blieb also als einigendes Moment nur mehr der H a ß gegen J u n k e r und P f a f f e n im »Zeichen der Kultur« übrig. Der Kampf gegen die »Kutten« ist ein Mittel, das man in Frankreich und anderen romanischen Staaten immer dann anwendet, wenn man über innere Schwierigkeiten hinwegkommen, etwa sich einer versprochenen Einkommensteuer oder Altersversicherung entziehen will. Früher führte man bei inneren Nöten auswärtige Kriege, heute tut es ein bißchen »Kulturkampf«. Der gehört zu den Sicherheitsventilen bei gefährlicher Dampfspannung. Niemand kann mehr beklagen als ich, daß in Deutschland konfessionelle Gegensätze eine so große Rolle spielen, aber glaubt man wirklich mit den derzeit beliebten Mauerbrechern den Turm des Zentrums einreißen zu können? Wenn eine Mehrheit im neuen Reichstag sicher ist, so ist es die von Zentrum, Polen usw. und Sozialdemokraten. Ausgeschlossen ? Könnte nicht etwa das Zentrum aus der unbehaglichen Defensive zu der so bequemen, bei der Art, wie heute bei uns regiert wird, völlig
24 ungefährlichen Angriffsstellung übergehen, und sollten sich wirklich die Sozialdemokraten unter keinen Umständen, auch nicht um des eigenen Vorteils willen, bereit finden lassen, an des Zentrums Seite zu fechten ? Wie groß der deutsche Idealismus noch immer ist, sieht man daraus, wie tapfer das süddeutsche Volk gegen die Junker gekämpft hat, die es doch gar nicht bei ihm gibt, die es nur vom Hörensagen kennt. Wenn heute ein junger Herr von Bismarck mit all seiner Genialität und Charaktergröße in einem süddeutschen Wahlkreis mit Agrarierhilfe es bis zur Stichwahl brächte, alle liberalen Männer schlössen sich mit den Roten zum Kampfe zusammen unter dem jubelnden Beifall der linksliberalen Presse, die ja schon längst auch für Nationalliberale in allen Fragen der Kultur und Freiheit das meißgebende Urteil spricht. Nur nicht etwa rückständig erscheinen, lieber läßt man sich zu jenem Freisinn der Biedermeierzeit des vorigen Jahrhunderts zurückführen, wie er damals frisch duftend aus gewissen französischen und belgischen Backöfen kam. Seitdem ist er allerdings recht altbacken geworden, und aufgewärmt mundet er nicht besser. Neben einigen Wahrheiten, die schon im alten Rom niemand mehr ernstlich bestritten hat, werden gewiße allgemeine Grundsätze aufgetischt, die für alle Zeiten, alle Völker, alle Religionen gelten sollen und jenem Jahrhundert der Aufklärung entstammen, dem jeder nationale und historische Sinn abging. In der Geschichte, wie in der Naturwissenschaft sind diese Maximen längst überholt, in der Politik werden sie immer als freisinnig so laut gepriesen, daß sich der Gebildete schämt, wenn er sich nicht zu ihnen bekennt. Das heißt man eben »Fortschritt« wohl gar »Kultur«! Freilich führen die Radikalen der romanischen Völker solche Phrasen auch im Munde, nur glauben sie nicht an dieselben wie viele unserer braven Politiker und Wähler. Die dortigen Herrn Abgeordneten sind furchtbar praktisch, auch für die eigene Tasche, wie wir es unseren deutschen Volksvertretern niemals wünschen wollen. Diese praktische Seite romanischer Politik verbietet es dem Ausländer, sich in dem Gewirre der dortigen Parteien auszukeimen. Das parlamentarische Spiel des Ministerstürzens, das man ja so gern bei uns einführen würde, hat dort immer eine persönliche Note. Das werktätige Volk steht diesen Kämpfen meist recht teilnahmslos gegenüber, als ideal wird es nirgends empfunden.
25 Eine großartige Parteibildung zeigt dagegen das englische Parlament, besonders des achtzehnten Jahrhunderts, obgleich kein Land der Welt auswärtigen und radikalen Einflüssen weniger zugänglich, keines in seiner insularen Abgeschlossenheit einseitiger national war als damals England. Seitdem dies anders zu werden anfängt, klagen gerade die einsichtigsten Engländer über einen Niedergang des parlamentarischen Lebens, aber an einen »Kulturblock« hat noch kein Engländer gedacht. War doch auch Englands größter Genius Shakespeare allem demokratischen Wesen abhold, und wie viel bedeutet er für die Kultur Englands und der ganzen Welt! Man sollte deshalb nicht lächelnd über die Frage hinweggehen, ob nicht konservative Elemente von großem Wert für die Kultur sein können. Jeder Historiker, vor allem unsere größten, Ranke und Treitschke, würden sie ohne Zweifel bejahen, selbst Mommsen mindestens für die römische Geschichte sie nicht verneinen können. Volksversammlungen dürften jedenfalls auch im Lande der Dichter und Denker nicht darüber entscheiden können 1 Von der Kultur, die wir von der Sozialdemokratie etwa zu erwarten hätten, können sich unsere gelehrten Parteifreunde ein Bild machen, wenn sie die Artikel lesen, die gerade jetzt über den gewiß nicht reaktionären, großen Preußenkönig erscheinen. Sie werden dann vielleicht doch nicht die Gefahr unterschätzen, die in solcher Aufklärung für weite Kreise unseres deutschen Vaterlandes hegt! Eine fernere Eigentümlichkeit des engüschen Parlaments war es, daß Klassengegensätze darin nie eine entscheidende Rolle spielten, die Führer der beiden politischen Parteien, der konservativen wie der liberalen, waren vielfach Adelige mit großem Grundbesitz, selbst wenn es zum Kampfe gegen die Lords ging. J a , man schätzte derartige Politiker wegen ihrer Unabhängigkeit nach oben und unten ganz besonders, wenn ihnen auch nie im Unterhaus wegen ihrer Geburt eine besondere Stellung eingeräumt wurde. So berechtigt nun auch der Wunsch des deutschen Bürgertums ist, daß ihm die gebührende Stellung im Staate eingeräumt wird, so ist doch davor zu warnen, daß man dem Besitze ein zu großes Recht einräumt, der in Deutschland allein allgemeine Geltung hat, der B i l d u n g . Es lag doch gerade im 48 er Parlamente und in den Landtagen der 6oer Jahre eine große Gefahr darin, daß zu viele P r o f e s s o r e n dort saßen. Zur Zeit Bismarcks gewaltiger Leitung trat dieser Mangel nicht so sehr zutage, zumal die Diätenlosigkeit für genügend unabhängige Männer sorgte. Jetzt, nachdem das Volk mündig geworden, ist der Mangel an
26 praktischen Männern sicher gefährlich, zumal uns Deutschen »der Professor im Leibe steckt«. Doktrinäre Politik war immer schädlich, und die Streitigkeiten der gelehrten Herren sind ebenso verrufen, wie man im Ausland einen Streit um Worte, einen deutschen, une quereile d'Allemand nennt. Ich möchte, wie gesagt, im Radikalismus nicht nur den größten Feind politischer Gesundimg, sondern auch der Kultur erblicken. Ungemein schädlich wirkt er auch auf die Wähler und die Parteien. Daß er das kann, verursacht die mangelhafte, politische Schulung des deutschen Bürgertums. Dieses, das doch jetzt seine Geschicke selbst in die Hände zu nehmen wünscht, beschäftigt sich mit Politik nur intensiv in Wahlzeiten. Dann wird allerdings am Stammtisch freilich eifrig politisiert. Da sitzt dann irgendeine Lokalgröße vor, die, um sich als unerschrockener Mann zu beweisen und den Zuhörern zu imponieren, gewaltig loswettert und vielleicht wirklich am Wahltag den Mannesmut so weit treibt, im wohlgeschützten Klosett eine sozialistische Stimme abzugeben. Um es »denen« — einem ziemlich unbestimmten Begriff alles Autoritativen — zu beweisen! Wahltag ist Zahltag. Besagter Stammtisch und seine Politik ist — wie Sauerkraut und Schweineknöchel — deutsche Nationaleigentümlichkeit. In der ausländischen Karikatur erscheint der Deutsche als Brummbär unter dem Maßkrug mit Pfeife und Zipfelmütze, freilich etwas eingeschüchtert durch die hohe Polizei und die biedere Ehehälfte, die ihn, wenn er auch brummt, doch durch alle Fährlichkeiten des Lebens sicher geleiten. Sonst bildet er sich bei seinem Morgenkaffee aus seinem Leibblatt seine politische Überzeugung. So vorbereitet, ohne jedes tiefere Studium, das er, der sonst so Gründliche, fast niemals auf Politik verschwendet — geschweige denn, daß er je auf den Gedanken käme, einmal fremde politische Überzeugung zu prüfen — geht er also in die Wahlversammlungen. Dort findet er sich einem unglücklichen Wesen gegenüber, dem Höfling des Volkes, dem Herrn K a n d i d a t e n . Leider hat sich noch kein geistreicher Lustspieldichter dieses dankbaren Gegenstandes bemächtigt, er braucht mal nicht ein Aristophanes zu sein, er müßte doch wirken. Der Herr Kandidat will vor allem nicht anstoßen, alles Persönliche, Charaktervolle muß also unterdrückt werden, wie das Mädchen aus der Fremde will er jedem eine Gabe reichen, über kleine Widersprüche dabei kommt man ja leicht hinweg, vor der nächsten Wahl braucht man ja kaum
27 Rechenschaft zu geben, die Vorsehung oder die Partei wird dann auch wieder für eine zugkräftige Parole sorgen. Es ist auch furchtbar, was sich alles an ihn herandrängt, jede kleine Interessentengruppe bis zu den Impfgegnern und alle die Notabein in allen Nestern des Wahlkreises mit den eigenen Wünschen und denen des Nestes. Politisch gebildet sind die Wähler nicht und »so Sache populär zu mache, is halt entsetzlich schwer«, wie Nadler sagt, der Pfälzer Dichter. Zunächst wirft der Kandidat den Herren Schmeicheleien an den Kopf, die man sich in jeder gebildeten Gesellschaft verbitten würde. Dann preist er das Programm der Partei an, wie Seifenfabrikanten ihre Ware — Sunlightseife, Pear's Soap, Dörings Seife mit der Eule — was die Partei schon alles getan hat — in Wirklichkeit sind zwar fast alle unsere großen Gesetze durch Zusammenwirken verschiedener Parteien mit der Regierung zustande gekommen gegen den Widerspruch der Radikalen — das ist aber noch nichts gegen alles, was seine Partei noch tun wird! Dann wird dem Kandidaten wohler, er kann ordentlich gegen die meist nicht anwesenden Gegner losziehen. Wohl ihm, wenn er das selbst alles glaubt! Aber um die etwas altbackenen Maximen schmackhafter zu machen, macht er es wie die Hausfrau, die über die altbackenen, aufgewärmten Semmeln eine süßliche Himbeersauce gießt — er appelliert an Gefühle! Die sollen wie im Rührstück die trockenen Thesen schmackhafter machen. Gefühle, Sentimentalität gehören zum Radikalismus, Robespierre war wie Rousseau sentimental, was ersteren nicht hinderte, massenhaft die Köpfe anderer herunterzuschlagen, im Namen der Menschheit, der Bruderliebe! Sentimental waren auch die Girondisten, die weniger extrem, sehr groß im Reden, klein im Handeln, sich immer weiter drängen ließen, bis sie, die die Radikalen immer zu ihrer sanfteren Methode zu erziehen hofften, ohne irgendein Übel hindern zu können, selbst ihre Köpfe auf das Schaffot tragen mußten. Ja, R a d i k a l i s m u s ist g e f ä h r l i c h a u c h f ü r die ihm verb ü n d e t e n P a r t e i e n ! Aber wir hoffen ja, in der Zukunft unsere Sozialdemokraten nach badischem Muster noch rechtzeitig zu Revisionisten erziehen zu können. Um jedoch in der Gegenwart zu bleiben, so verstehe ich, offen gesagt, die W a h l p a r o l e und die T a k t i k u n s e r e r P a r t e i nicht recht. Schon die Führung scheint mir — etwa wie es in Japan vor der Reform zwei Staatshäupter gab — etwas zwiespältig zu sein. Wer erteilte
28 denn die Befehle, der Herr General mit seinem Stabe oder die Herren Patrouillenführer des Vortrupps? Und war es denn wirklich nötig, den Führer der Partei, Bassermann, in einem Wahlkreis wie Saarbrücken unterzubringen, wo er nur mit S o z i a l i s t e n h i l f e gewählt werden konnte? M u ß s o l c h e D a n k e s s c h u l d b e i n a t i o n a l e n F r a g e n n i c h t l ä s t i g , j a bes c h ä m e n d s e i n ? Welche Gefühle mußten denn unsere Herren Chefs anschleichen, als sie die G l ü c k w ü n s c h e des A u s l a n d e s a n die H e r r e n G e n o s s e n lasen? Schon nach dem ersten Wahlkampf! Mußte denn wirklich auch noch Köln, dessen Fall mit Frohlocken in der Fremde begrüßt wurde, den Sozialisten geopfert werden? Klingt T r i m b o r n s Aufforderung, t r o t z d e m die N a t i o n a l l i b e r a l e n im Rheinland zu w ä h l e n , nicht beschämend für nationale Männer unserer Partei ? Auch möchte ich es bezweifeln, ob sich die Nationalliberalen in B a y r e u t h mit dem Verluste von A n s b a c h trösten oder ist dort die Blockliebe schon so heiß, daß man den Genossen die eigenen Sitze gönnt? Wozu der Lärm?
Was ist erreicht?
Eine M e h r h e i t von S c h w a r z und R o t und eine n i c h t z u b e s c h ö n i g e n d e N i e d e r l a g e des d e u t s c h e n B ü r g e r t u m s . Wer trägt die Schuld? Zunächst das Bürgertum selbst. Jedes Volk hat die Politik, die es verdient. Wenn man im Wahlkampf fragte — etwas benommen von all den schönen Versprechungen — ja, wer besorgt aber unsere n a t i onalen und w i r t s c h a f t l i c h e n Interessen, wer wirkt für s o z i a l e n Ausgleich ? Dann hieß es beruhigend — denn die Bedeutung solcher Forderungen ließ sich ja nicht wegleugnen — auch für sie wird sich im Reichstag eine Mehrheit finden. Natürlich an der Seite der Parteien, die man eben so heftig bekämpfte! I s t das n u n e r n s t e P o l i t i k , wie sie der d e u t s c h e B ü r g e r f o r d e r n d a r f ? I s t d i e s e w ü r d i g der e r n s t e n Z e i t , wo j e d e S t u n d e e i n e n W e l t k r i e g b r i n g e n k a n n , wo das Ausland darauf wartet, ob es uns uneinig findet, um über uns herzufallen, oder so voll von Friedensliebe, daß es uns auch ohne Krieg jede Forderung a b t r o t z e n kann? Wenn unser Haus vom Feuer bedroht ist, dann ist nicht Zeit zu überlegen, ob wir es etwa im Jugendstil neu möblieren wollen!
29 Gewiß, auch die R e g i e r u n g trägt Schuld, dem Lenker der Reichspolitik im Philosophenmantel fehlt die angeborene Farbe der Entschließung — so nahe er in seinen Anschauungen unseren Nationalliberalen professoraler Färbung kommen mag, in schweren Zeiten ist seine Hand zu schwach, das Steuer zu führen. Statt, nach des unvergleichlichen Bismarcks Muster, dem irrenden Volke Leiter zu sein, tritt er wie der Epilogus im alten Spektakelstück erst dann auf, wenn der Vorhang gefallen ist, um die Moral zu verkünden. V o r a l l e m a b e r l i e g t die S c h u l d am w e r k t ä t i g e n B ü r g e r t u m s e l b s t , das sich aufhetzen läßt zur Rache für manche gesellschaftlichen Unannehmlichkeiten oder Zurücksetzungen von junkerlicher Seite, statt Rechenschaft zu fordern über Fragen, die ihm das L e b e n bedeuten, nationale und wirtschaftliche, das die P o l i t i k a l s Z e i t v e r t r e i b vor W a h l e n betrachtet, statt ihnen e r n s t e s S t u d i u m und a l l e v e r f ü g b a r e K r a f t zu leihen. Erst muß das deutsche Bürgertum wollen, was es b r a u c h t , und wissen, was es will, ehe es anderen seinen Willen aufzwingen kann.
Bittere Lehren November 1912.
Die »Kölnische Zeitung« weist in einem bemerkenswerten Artikel »Deutsche Niederlagen ?« auf die bedenklichen Steigerungen des Selbstgefühles unserer französischen Nachbarn hin, die sich mit dem Glauben erfüllen, daß auf den thrakischen und makedonischen Schlachtfeldern das französische Geschütz das deutsche, der französische Lehrmeister den deutschen besiegt habe. An dem Beispiel der Bulgaren wird treffend gezeigt, daß dieses gesteigerte Selbstbewußtsein und das Vertrauen in die eigene Kraft bei den ersten entscheidenden Zusammenstößen des modernen Volkskrieges von ausschlaggebender Bedeutung ist. Daraus zieht das Blatt die Lehre, daß die große Presse einmal Wasser in den französischen Champagner gießen, vor allem aber dem eigenen deutschen Volke seine Kraft und Stärke vermehrt zum Bewußtsein bringen müsse. Es zeichnet dann nicht minder treffend jenen uns ureigentümlichen Geist des Nörgeins, des Besserwissens hinter dem Stammtisch, der uns ja längst zum Gespötte der benachbarten Nationen gemacht hat. Daran schließt es die nicht genug zu beherzigenden Worte: »Den Sieg erringt der Geist, der das Volk und mit ihm das Heer beseelt, der Geist der Siegeszuversicht, der unbedingten, Unterordnung und des Vertrauens zu den Führern und die Qualität der Führer, also ein gut geschultes, verantwortungsfreudiges, weder durch p o l i t i s c h e , noch sonstige Zänkereien zersetztes einheitliches Offizierskorps, das in unerschütterlicher Treue der Person seines Kriegsherrn ergeben ist. Alle diese Vorbedingungen sind bei uns vorhanden. Zwar gibt es Mäuse genug, die an diesen Wurzeln unserer Kraft nagen. Vor a l l e m v e r s u c h t m a n die S c h i c h t e n des Volkes, d e n e n u n s e r S o l d a t e n t s t a m m t , gegen die O f f i z i e r e aufzuhetzen.
3i Gegen diese L e u t e s o l l t e man j e t z t mit v e r e i n t e r und v e r m e h r t e r K r a f t den K a m p f aufnehmen. Statt dessen trägt man auch in die von jenem Unkraut noch nicht berührten Kreise die Unruhe und die Saat des Mißtrauens gegen die verantwortlichen Stellen des Heeres, die dann naturgemäß auch in das Offizierskorps eindringen werden. Das ist der Weg, der zum Abgrund führen muß, wenn man n i c h t beizeiten auf ihm i n n e h ä l t ! « Zum Abgrund in der Tat! Hocherfreulich; wenn sich unsere große Presse endlich auf den rein nationalen Boden stellt! Vor Tische las man anders! Kaum vor Jahresfrist wurde die große Schlacht von Philippi geschlagen1), in der der Geist des unheilvollsten deutschen Kanzlers, dem wir die Zerrissenheit der nationalen Parteien verdanken, am hellen Tage umging. Von einer Rücksicht auf das Ausland war da keine Rede. Unsere Weltpresse mußte doch wissen, welchen Eindruck die IIO sozialistischen Mandate, die Möglichkeit eines sozialistischen Reichstagspräsidiums auf das Ausland machen muß. Gerade Köln wurde den Sozialisten ausgeliefert, ob nun die Liberalen tätige Wahlhilfe leisteten oder untätig beiseite standen. Diese Zeichen politischer Unzufriedenheit wußte das Ausland wohl zu deuten, zumal Frankreich seit Jahrhunderten seine Größe vor allem der deutschen Zerrissenheit verdankt. Die Tüchtigkeit der deutschen Waffen hat Frankreich stets zu schätzen gewußt, die deutsche Uneinigkeit durfte es fast immer bei seiner Politik in Rechnung stellen. Eine nationale Geschlossenheit der Armee ist nicht zu erhalten, das Vertrauen zu den Führern nicht zu erhoffen, wenn die nationalen Parteien sich selber nicht zusammenfinden können, so lange das Mißtrauen und die Unzufriedenheit auch von l i b e r a l e r Seite zu politischen Zwecken immer weiter geschürt wird. Konnte doch eine finanzt e c h n i s c h e Frage, wie die der E r b s c h a f t s t e u e r , in den Vordergrund des Kampfes gestellt, ja zum Scheidewort für die wahren Patrioten gestempelt werden. Wir werfen unseren Diplomaten vor, daß sie die Zeichen der Zeit falsch verstanden haben, wir verlangen von ihnen, daß sie umlernen, sich den veränderten Zeiten anpassen sollen. Ist nicht auch für unsere P o l i t i k e r die Zeit zur Umkehr und Einkehr gekommen ? Jetzt, wo sich die Slawen zu gefahrdrohendem Bunde zusammenschließen, wo sich die lateinischen Schwestern traulich wiederfinden, bleibt auch
32 auf deutschem Boden keine Muße mehr für internationale Träumereien, für das Dichten vom ewigen Weltfrieden. Nichts gefährdet diesen mehr als das Vertrauen unserer kriegerischen Nachbarn auf unsere Friedensliebe, die alles duldet. Jeder nüchtern erwägende Patriot muß die Möglichkeit und bedingte Notwendigkeit eines Weltkrieges ins Auge fassen und auf ihn auch politisch gerüstet sein. Dann ist es freilich aus mit dem schönen Traum einer großen liberalen Partei. In den friedlichen Wäldern der D e m o k r a t i e Naumanns können n a t i o n a l l i b e r a l e Männer nicht hausen, nicht gemeinsam kämpfen mit P a r t e i g r ö ß e n , welche die B i l d e r des K a i s e r s und B i s m a r c k s n i c h t in einem liberalen Heim dulden wollen! Die Jungtürken — vielleicht auch die Jungperser und andere Helden, die unsere Uberale Presse so überschwenglich gefeiert hat — könnten uns lehren, daß der Import fremder Schlagwörter, die ja auch unser radikaler Liberalismus noch immer als unselige Erbschaft aus dem achtzehnten Jahrhundert fortschleppt, zwar kriegsberühmte Reiche zerstören kann, daß aber selbst Zauberformeln, wie Einheit und Fortschritt, wirkungslos bleiben, um die von unberufenen Händen geschaffene Verwirrung wieder zu lösen. Hinfällig wird nicht minder die gekünstelte Trennung unserer berühmten Taktiker zwischen R e i c h s - und L a n d e s p o l i t i k , selbst die badischen und verwandten Lehrmeister eines »wahren Liberalismus« müßten doch endlich einsehen, daß man sich nicht für die kleinen, häuslichen Bedürfnisse mit demselben Roten verbünden kann, den man im nationalen Interesse des Reiches bekämpfen muß. Uber die so voreilig gepriesenen Erziehungsfrüchte werden ihnen wohl die patriotischen Äußerungen gerade auch der süddeutschen Sozialistenpresse die Augen geöffnet haben. Und gerade in diesen schweren Tagen ernstester politischer Besorgnis müssen im patriotischen Augsburg Nationall i b e r a l e an die Wahlurne gehen, um einen S o z i a l d e m o k r a t e n zu wählen, weil man mit dieser Partei unter dem Segen ehemaliger Minister und Honoratioren aller Art auf 6 J a h r e ein u n k ü n d b a r e s W a h l b ü n d n i s geschlossen hat, das auch kein Selbsterhaltungstrieb rechtfertigen dürfte. In der b a y e r i s c h e n K a m m e r sah man ja freilich auch bei dem von Politikern so geschätzten, allerdings weiteren Kreisen so gleichgültigen Sport der Geschäftsordnungsdebatte die Liberalen brüder-
33 lieh an der sozialistischen Seite. Und da wundert man sich noch, wenr die liberalen Reichsräte geringe Lust zeigen, an der Seite der Herren Müller, Quidde, Kohl usw. zu fechten ? Noch bedenklicher wird diese Politik dadurch, daß sich die Geg e n s ä t z e zwischen Süd und Nord durch diese häuslichen Liebeleien vertiefen. Gerade unsere Schwärmer für Einheit und Fortschritt fangen an, bedenkliche Partikularisten zu werden. Jeder Politiker eines badischen oder schwäbischen Seekreises glaubt Preußen meistern zu können, das Mißtrauen gegen den führenden Bundesstaat, wie er historisch geworden, unverantwortlich schüren zu müssen. Den Franzosen ist es wohl bekannt, welche Rolle Preußen bei Deutschlands Einigung gespielt, sie wissen nur zu gut, daß es das Preußen Bismarcks war, nicht das der Revolutionen und Volksversammlungen! Mit inniger Freude müssen sie sehen, wie die Mainlinie sich wieder schärfer abhebt. Wollen uns jungliberale Politiker wirklich in die Zeiten vor Bismarck zurückführen, sollen wir noch einmal alle die liberalen Kinderkrankheiten mit dem Schwärmen für Polen und Freiheit durchmachen? Mit Blut und Eisen ist das Reich begründet, wer weiß, ob wir nicht bald wieder mit Blut und Eisen für seinen Bestand kämpfen müssen ? Entweicht der kriegerische Geist, so fällt die Form. Das lehrt uns der Türken jäher Fall! Vor den großen n a t i o n a l e n F r a g e n muß P a r t e i g e i s t v e r s t u m m e n ! Oder reizt vielleicht das Hadern des ungarischen Parlaments in dieser schicksalsschweren Stunde, jenes Parlamentes, das uns seinerzeit so oft als Vorbild hoch gepriesen worden, auch jetzt zur Nachahmung ? Parteipolitisch zerfetzt, in konfessionellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen gespalten, können wir nicht jene n a t i o n a l e Geschlossenheit aufweisen, die nicht nur die Blüte, sondern sogar die E r h a l tung eines Volkes in dieser harten Welt bedingt. Das können wir von jenen schlichten bulgarischen Bauern lernen, denen sich unsere Weltweisheit so überlegen dünkt, wie man als Soldat für sein Vaterland und seinen König, ohne viel zu fragen, zu fechten und zu sterben weiß und so die Größe seiner Nation verbürgt. Auch die bulgarische Größe hat nicht die demokratische Weisheit von Parlament und Parteien vorbereitet, sondern die feste Hand eines klugen Herrschers, der aber getragen wurde von der Begeisterung seines Volkes, der sich stützen durfte auf ein von einem Geiste erfülltes wohl diszipliniertes, politisch nicht verseuchtes Volksheer. v. B u h l , Reden and Aulsätie.
3
34 Für uns ist es höchste Zeit, uns zu erinnern, daß wir auch wirtschaftlich und sozial alles, was wir sind, dem Vaterland schuldig bleiben ! Ihm allein gehört in dieser ernsten Stunde unsere ganze Kraft! Auf die Pflichten gegen das Vaterland müssen allenthalben unsere politischen Führer das Volk hinweisen und selbst wenn der liebgewordene Beifall zunächst ausbleiben sollte, unter Zurückstellung von Parteizwecken, den festen Zusammenschluß aller nationalen Elemente erstreben. Das Ziel ist klar, der gerade Weg der beste, Freund ist, wer mit uns kämpfen will, Feind, wer sich der nationalen Geschlossenheit entgegenstemmt oder beim Kampfe um die höchsten Güter tatenlos träumend zur Seite steht. Kein taktischer Einwand kann diese einfache Wahrheit verschleiern. Wir haben Vertrauen zu unserem Führer, möge er die Zeit nützen und jung und alt wird sich willig um die alte Fahne scharen. Alle Patrioten aber werden einig sein, daß uns eine wahrhaft n a t i o n a l e l i b e r a l e P a r t e i nie dringender nötig war als heutel
Zum Gedächtnis der Befreiungskriege Rede, gehalten auf dem nationalliberalen Parteitage am 9. November 1913 zu Kaiserslautern. Meine
Herren! Man sprach einmal von Festgeläute, Man sprach von einem Feuermeer, Doch was das große Fest bedeute, Weiß es denn jetzt noch irgend wer?
Diese bittere Frage stellte Uhland schon 1816, so schnell waren die Lehren der glorreichen Befreiungskriege vergessen worden, und wenn wir auch heute die deutsche Einheit in blutigem Ringen auf Frankreichs Schlachtfeldern erkämpft haben, so ist auch jetzt wieder Werktag geworden und seine Sorgen drohen die Erinnerungen an Deutschlands Niedergang und Erhebung zurückzudrängen I So tut auch uns not, uns in diesen Tagen des Gedächtnisses mit dem Geiste jener Tage der Befreiung wieder zu erfüllen, sind doch die finsteren Mächte noch immer nicht überwunden, die die Knechtimg heraufgeführt. Neuer geistiger Kämpfe um die höchsten Güter eines Volkes, die nationale Eigenart und die Selbstbestimmung, wird es bedürfen und wer wäre mehr berufen, hier in erster Reihe zu fechten, als unsere Partei ? Der Sieg kann uns nur winken, wenn wir uns innerlich selbst befreien von den Schlagwörtern des Radikalismus, wenn wir, wie jene Helden von 1813, beseelt sind von heißer Liebe zu unserem Vaterlande, wenn jeder einzelne alles dransetzt für des Ganzen Wohl. Bei dieser Einkehr müssen wir uns zunächst nach den Worten König Ludwigs des Ersten fragen: w a s w a r es d e n n , d a s d i e B e f r e i u n g s k r i e g e n ö t i g g e m a c h t h a t ? Die Sünden der Väter hatten sich gerächt bis in die spätesten Glieder — gerade die reiche Begabung, die Empfänglichkeit für fremde Ideale war den Deutschen zum Fluche geworden. So entschwand den Staufern vor dem Glänze der römischen Kaiserkrone der Sinn für die praktischen Pflichten eines deutschen Herrschers, so haben in den Religionskriegen auf allen 3*
36 Schlachtfeldern Europas Deutsche gegen Deutsche gefochten, bis nach dem Westfälischen Frieden Deutschland zum Tummelplatz fremden Ehrgeizes, das Reich zum Spott für die Völker der Welt geworden war. Während die französischen Könige in steter emsiger Arbeit einen mächtigen Nationalstaat schufen, pflegten die Deutschen das Sonderleben des Stammes. Freilich erhoben sich auf dem weiteren Boden des Koloniallandes, in Preußen und Österreich, zwei Großmächte voll reichen, eigenen Lebens, ihr Gegensatz schien aber die d e u t s c h e Z e r s p l i t t e r u n g verewigen zu sollen. Und noch tragen wir an der Väter Schuld, Millionen von Deutschen leben außerhalb unserer Grenzen. Welche Bedeutung hätte die deutsche See- und Kolonialmacht gewinnen können, wenn die Niederlande dem Reiche erhalten geblieben wären? Dann wären die Millionen der Auswanderer nicht unserem Volkstume verlorengegangen, deutsch könnte die Sprache der Welt sein, unsere Arbeit, unsere Gedanken könnten die fernsten Küsten der Meere befruchten! Dem Unabänderlichen nachzutrauern, ist des Mannes nicht würdig — auch so blieb uns ein stolzes Reich, auch so ist der Deutschen Anteil an der Bildung der Welt unermeßlich! Aber nicht nur gegen äußere Feinde war das alte Reich ohnmächtig geworden, es war auch bei seiner Zersplitterung unfähig, rechtzeitig die bessernde Hand an die inneren Schäden zu legen. Das ewig Gestrige blieb, Vernunft ward Unsinn, Wohltat Plage, veraltete Feudalrechte schlugen den Bauern in schwere Fesseln, indeß eine Unzahl von Lasten und Schlagbäumen den Gewerbfleiß des Bürgers lähmten. Aller politischer Sinn schien in den kleinen Territorien erstorben, die Eifersucht der größeren Staaten hemmte das Eingreifen, ja, jede ersprießliche Entfaltung der Reichsgewalt; so mußte die Hilfe von außen kommen — freilich um welchen Preis ? — Ohne nationalen Widerstand zu finden, fluteten die f r e m d e n I d e e n über die schutzlosen Grenzen, wie es die Raubscharen Ludwigs des Vierzehnten getan. Gewiß war im Mittelalter unser geistiges Eigentum durch mannigfache Entlehnung aus dem Süden und Westen bereichert worden, beruht doch auf dieser gegenseitigen Befruchtung germanischer und romanischer Art unsere europäische Kultur, jedoch ungestraft darf sich vom Fremden nur aneignen, wer im sicheren Besitz des Nationalen ist. Jetzt aber, wo der Sinn für das Vaterländische bis auf den Instinkt erloschen schien, drohte die fremde Flut unsere nationale Eigenart wegzuspülen. Wie man an den Höfen Versailles bis zu den Mätressen nachahmte, so
37 drang mit der fremden Mode auch fremder Sinn in das Bürgertum, so daß es sich der deutschen Sitte zu schämen lernte. Die fremden Ideen griff man aber um so begieriger auf, als sie sich im weltbürgerlichen Gewände darboten. So hatte sich, als das mittelalterliche Ideal des Gottesstaates an Stärke verloren hatte, der europäische Gemeinsinn in der enthusiastischen Verehrung des Altertums zusammengefunden, bis dann, als auch diese Götter wieder verblichen, der Mensch sich selbst zum Gott setzte, indem er seine V e r n u n f t als ewig, unveränderlich und unfehlbar auf die Altäre erhob. Die allgemein gültigen Gesetze der Mathematik glaubte man, in einem Zeitalter, dem jeder Sinn für Entwicklung und das geschichtlich Bedingte fehlte, auch auf die geistigen und staatlichen Beziehungen der Menschen anwenden zu dürfen. So ist die s t a r r e , u n h i s t o r i s c h e A n s c h a u u n g des Rad i k a l i s m u s zum e c h t e n E b e n b i l d des u n g e s c h i c h t l i c h e n 18. J a h r h u n d e r t s geworden, hat diese allem Lebensvollen und Vaterländischen fremde Doktrin stets den ihr zusagenden Boden in Zeiten des Niederganges und der Völkermischung gefunden. Ihren Lehren jubelte schon die bunte Menge Alexandriens und des spätkaiserlichen Roms zu, wie auch heute der Radikalismus ein echtes Großstadtkind ist. So unnatürlichen Verhältnissen vorzüglich angepaßt, pflegt doch der Radikalismus seine ewig gleichen Forderungen im Namen von Natur, Vernunft und Menschheit zu erheben, ja, er glaubt nach den Grundsätzen der Vernunft ein Naturrecht schaffen zu können. Andere Götter duldete diese Vernunft nicht neben sich, selbst im Innern des Menschen wollte sie die Kräfte des Gemütes und des Willens ausschließlich meistern. Allem geschichtlich Gewordenen in Staat und Kirche erklärte sie den Krieg, und da sie sich über alle nationalen und sittlichen Unterschiede der Menschen souverän hinwegsetzte, so war ihr Vaterlandsliebe ein Vorurteil, eine öde Gleichheit aber das natürliche Ideal! Die Staatsform, die einer solchen mathematischen Gleichheit am besten entsprach, war natürlich die Republik und für dieses republikanische Ideal schienen ja auch die Erfahrungen des klassischen Altertums zu sprechen. Die Frage, wie diese Freistaaten Griechenlands und Italiens historisch bedingt waren, wog eben so leicht wie jene, ob nicht die Übertreibung des demokratischen Prinzips zum Untergang des attischen Staates geführt habe. Statt dessen erklärten die französischen Philosophen, die Grundlage des Freistaates sei die Tugend, und so erschienen selbst die harten, selbstsüchtigen Junker Roms, jene
38 kaum von Briten erreichten Herrschernaturen als leuchtende Vorbilder republikanischer Bürgertugend! Die furchtbare Not antiker Sklaven, die jene politischen Gebilde erst ermöglichte, war freilich längst vergessen. Diese modischen Lehren politischer Weisheit fanden nicht nur wegen der klassischen Erinnerungen und der Not der Gegenwart leicht Eingang, sie wurden auch in elegantem, leicht faßlichem Französisch vorgetragen, das damals alle Gebildeten beherrschten, indeß ihre Oberflächlichkeit durch den nichts schonenden gallischen Witz verdeckt war. Andere Lehren hatten die Fürsten jenen sinkenden Zeiten des Altertums, die die Brutstätte des Radikalismus waren, entlehnt, vor allem jenes orientalische Dogma der Gottähnlichkeit, welchem die letzten Cäsaren gehuldigt und von dem einst die Germanen die Welt befreit hatten. Der Fürst erschien als die Verkörperung des Staatsgedankens, kein ständisches Recht, kein Herkommen, keine Freiheit des Gewissens oder der Persönlichkeit sollte seinem Willen gegenüber Bestand haben. Dem Radikalismus zeigt der A b s o l u t i s m u s wesensverwandte Züge in seiner ausschließlichen Eintönigkeit: ein Gesetz, ein Glaube, ein König schien allein die Geschlossenheit des Staates zu verbürgen. So hat Ludwig XIV. der Revolution vorgearbeitet, indem er alle Sondergebilde in Provinz und Gemeinde niederhielt — die nationalen Ansprüche mußten vor dem dynastischen Interesse zurücktreten. Wenn alles an der Person des Fürsten hing, so konnte freilich die straffe Zusammenfassung des gesamten staatlichen Lebens in den Händen eines genialen Königs die Grundlagen des modernen Staates schaffen. Was bedeutet uns nicht der Name Friedrichs des Großen, der zuerst unser Volk wieder mit nationalem Stolze erfüllte? Auch das Andenken seiner großen Gegnerin, Maria Theresia, ist gesegnet geblieben. In allen größeren Staaten wurde Veraltetes schonungslos beseitigt, das Übermaß individuellen Sondertums wurde in die Schranken staatlichen Lebens gezwungen, das wirtschaftliche in Handel und Gewerbe erfuhr mächtige Förderung. Jedoch gerade diese väterliche Fürsorge, die dem Bürger selbst das Denken abnehmen wollte, entwöhnte ihn der Selbsthilfe. Gewohnt, alles Heil von Oben zu erwarten, ermangelte unserm Bürgertum jenes stolzen Selbstgefühls, jenes Dranges nach politischer Betätigung, der seine angelsächsischen Zeitgenossen erfüllte. Ein Kind seiner Zeit, huldigte der Bürger einem platten Nützlichkeitsfanatismus, froh, wenn nur der Friede büeb. Die politische
39 Unerfahrenheit des Bürgertums hat sich an Frankreich in der Revolution furchtbar gerächt, nicht minder seine politische Gleichgültigkeit beim Zusammenbruch des heiligen römischen Reiches hier bei uns. Aber in dieser Zeit hoffnungslosesten politischen Zerfalles schien dem Deutschen eine neue Welt zu erstehen in dem R e i c h e des Idea l e n , ein g e i s t i g e s D e u t s c h t u m ungeahnter Herrlichkeit war in den unvergänglichen Worten unserer Dichter und Denker erwachsen und dort wurzeln noch heute die Kraft unseres liberalen Idealismus, freilich auch dessen weltbürgerlichen Träume. Hier hatte Lessing den großen geistigen Befreiungskampf gekämpft gegen französische Unnatur, derselbe Dichter aber, im Geiste des 18. Jahrhunderts befangen, sah in dem Patriotismus nur »eine heroische Schwachheit«! Voll tiefer Tragik bleibt es doch, daß diese Zeit höchster geistiger Erhebung mit dem politischen Niedergang zusammenfiel, so daß Deutschlands größter Dichter, Goethe, der nationalen Befreiung fremd gegenüber stand, wie Deutschlands größter Fürst, Friedrich der Große, dem Geistesleben unserer Nation. Aber erscheint uns nicht auch selbst künstlerisch der Marquis Posa des jugendlichen Schillers kalt neben den lebenssprühenden Helden eines so nationalen Dichters wie Shakespeare? So vollendet endlich die Werke sein mögen, die Schiller und Goethe aus dem ewig jungen Borne der Antike geschöpft, des Volkes Herz, und auch das unsere, packen viel mehr vaterländische Helden, wie Götz und Faust, wie Wallenstein und Teil. Wie diese Großen flüchtete auch unser liberales Bürgertum nur zu gern zu den Idealen ferner Zeiten und fremder Völker, — und ist nicht auch unsere heutige Kunst dem nationalen Leben unseres Volkes seltsam entfremdet ? Was bedeutet diesem alle literarischen Strömungen des Auslandes von Norwegen bis Japan ? Damals gewann freilich in Rousseau ein französischer Schriftsteller den größten Einfluß auf das deutsche Geistesleben. In begreiflicher Reaktion gegen die Überfeinerung des Rokoko wendete sich dieser seltsam weltfremde Denker schließlich gegen jede Kultur und gegen jedes staatliche Leben. Erklärte er der ausschließlichen Herrschaft der kalten Vernunft den Krieg, so setzte er an ihre Stelle eine tränenreiche, unmännliche Empfindsamkeit. Seine allen geschichtlichen Erfahrungen widersprechenden sentimentalen Vorstellungen von der angeborenen Güte des heute von der Kultur verbildeten Menschen, von der Entstehung des Staates, des Eigentums erwiesen sich für eine stetige Entwicklung nicht minder verhängnisvoll als der alles zer-
-P setzende Spott Voltaires. Rousseaus Geisteskinder waren jene Revolutionäre, die, wie Robespierre, in weichlichen Empfindungen zerschmelzen konnten, während sie ihren weltfremden Phantastereien schonungslos Tausende ihrer eigenen Mitbürger opferten. Das Treiben dieser Männer zerstörte dann freilich jäh den Traum eines goldenen Zeitalters von Freiheit und Menschenglück, das unsere Denker von der Französischen Revolution erwartet hatten. Voll Abscheu wendeten sie sich von dem Anblick sich selbst zerfleischender Minderheiten, die um die Herrschaft über das unglückliche Land rangen und jede Regung von Freiheit im Blut erstickten. Zwar blieb bei vielen der Wahn bestehen, daß eine revolutionäre Partei, deren Herrschaft beständig bedroht ist, je Freiheit gewähren könne, jedoch selbst bei Umwälzungen, die von Philosophen herbeigeführt werden, herrscht ausschließlich das rohe Naturgesetz des Selbsterhaltungstriebes. Wie eine Befreiung wurde es auch in Deutschland empfunden, als in dem gewaltigen Korsen N a p o l e o n B o n a p a r t e der Bändiger der Revolution erstand. Seltsamerweise haben in jüngster Zeit sozialistische Kreise, die sich gegen das Aufwallen des Nationalgefühls in diesen Tagen der Erinnerung stemmen, in diesem Manne den Vollstrecker revolutionärer Wünsche sehen wollen. So kommt, — freilich etwas spät — jener gewaltige Menschenverächter Napoleon zum Ruhme eines Freiheitshelden, er, dem mit den Revolutionären allerdings die Unterdrückung jeglicher Freiheit gemeinsam ist, der aber niemals seine ganze Geringschätzung für die Phrasen republikanischer Ideologen verhehlte! Frankreich war des revolutionären Treibens herzlich satt, so begrüßte es in Bonaparte den Erretter, der Ordnung in Gesetzgebung und Verwaltung brachte, unter dessen Regiment Bürger und Bauer sich des neuerworbenen Besitzes freuen, ihren Gott in alter Weise verehren durften, dessen gewaltiger Arm jede Reaktion, wie jede neue Umwälzung unterdrücken würde. Die konstitutionellen Formen aber blieben leerer Schein, Napoleons eiserner Wille regierte Frankreich. Und Frankreich blieb Napoleon treu, so lange er den Sieg an seine Fahnen zu fesseln wußte, das einst republikanische Frankreich jubelte dem Kaiser zu, der in Gegenwart des Papstes sich die Krone aufgesetzt und dessen Reich das Karls des Großen weit zu überstrahlen schien. Die Machtmittel des Kaisertums waren aber dem alten Regime entlehnt: straffste Zentralisation ohne jede Selbstverwaltung, eiserne Disziplin der Armee, die Carnots Scharfblick zum Massenheer umgeschaffen
4i hatte. Auch bediente sich der Kaiser einer in allen Listen geschulten Diplomatie, die vor keinem Treubruch zurückschreckte, um mit den gewaltigen Mitteln einer neuen Zeit die alte Politik Ludwigs XIV. fortzusetzen, die in der Ohnmacht der Nachbarn die Bürgschaft für Frankreichs Größe sah. Was hatten dem die absolutistischen Mächte entgegenzusetzen? Die alte Staatskunst, die ohne jede Rücksicht auf nationale Unterschiede Abrundungspolitik trieb, hatte durch die polnische Teilung die Ostmächte entzweit. Preußen hatte in Basel das linke Rheinufer preisgegeben, tatenlos glaubte es zusehen zu können, wie auf den Schlachtfeldern Italiens und Deutschlands um Europas Geschick gerungen wurde, wie Österreichs Herrscher, in zwei schweren Kriegen besiegt, sangund klanglos die römische Kaiserkrone niederlegte, die seit tausend Jahren das Sinnbild germanischer Herrschaft gewesen war. Nirgends regte sich nationaler Sinn bei Deutschlands Fürsten und Völkern, in Rastatt buhlten die Gesandten deutscher Höfe um die Gunst eines Talleyrand, indessen sie um den Besitz unglücklicher Standesgenossen feilschten; bald verehrten sie in Napoleon den hohen Protektor des Rheinbundes, der ihnen die neuerlangte Souveränität gewährleistete. In Preußen wie im ganzen Norden Deutschlands aber waren Regierung und Volk von schlaffer Friedensliebe erfüllt und Goethe schrieb damals an Schiller, er wolle das Gebirge des Thüringer Waldes, das sonst die kalten Winde schicke, als eine Gottheit verehren, wenn es diesmals die Eigenschaften einer Wetterscheide habe. In der Armee aber, die sich seit den Lorbeeren Friedrichs des Großen als die erste der Welt dünkte und in diesem Glauben noch durch die leichten holländischen Siege bestärkt wurde, war den Forderungen der neuen Zeit, den Ergebnissen der neuen Technik keinerlei Rechnung getragen, wie keinerlei Band vaterländischer Kameradschaft Offiziere und Mannschaften einigte. Was konnten die greisen, methodischen Feldherrn aus einer anderen Zeit dem Elan der von jugendlichen Marschällen geführten, für ihren Kaiser begeisterten französischen Truppen entgegensetzen, als ein Napoleon doch Preußen zu den Waffen zwang? G r e n z e n l o s war d a n n auch der S t u r z des p r e u ß i s c h e n S t a a t e s , die Schmach der Ubergabe der Festungen übertraf noch die der Niederlage im Felde. Die schöngeistige Gesellschaft Berlins aber, die mit den höchsten Fragen der Menschheit tändelnd gespielt, deren Aufklärung sich so leichtfertig über die alte Sitte hinweggesetzt, drängte
42 sich würdelos an den korsischen Imperator, in dem sie den Genius bewunderte ! Ihm leistete auch die preußische Bureaukratie, mit den Ministern an der Spitze, wie selbstverständlich den Treueid, froh, wenn sie das gewohnte Tagewerk ruhig fortsetzen konnte, Ruhe erschien als erste Bürgerpflicht. Licht auf dem düstern Grunde hebt sich jedoch die edle Gestalt der Königin Luise ab, wie sie die Treugesinnten ermutigte, wie sie mit der vornehmen Würde einer wahren Fürstin selbst einem Napoleon entgegentrat, der sie mit hämischen Verleumdungen verfolgt, und deren Herz dann brach ob all der Not ihres geliebten Preußens. »Fuimus Borussi«, Preußens Ende schien gekommen. Mit dem Scharfblick des Hassers hat Napoleon zuerst erkannt, was dieser Staat für Deutschland bedeutete, und alle innern und äußern Feinde Deutschlands sind ihm in diesem Hasse nachgefolgt; glaubt doch auch heute der Radikalismus seine endgültigen Siege nur auf preußischen Barrikaden erfechten zu können! Aber umsonst hoffte Napoleon, der Preußen fast die Hälfte seiner Länder geraubt, diesen Staat durch politische, militärische und finanzielle Unterdrückung völlig vernichten zu können, P r e u ß e n s K r a f t s o l l t e sich e r w e i s e n in g l ä n z e n d e r E r h e b u n g ! In dieser furchtbaren Prüfung hat sich dieses Volk unüberwindlich gezeigt, in dieser Zeit der schwersten N o t i s t das n e u e P r e u ß e n erstanden, das sich damals das Anrecht auf die Vormachtstellung in Deutschland erwarb. Freilich bedurfte es zuvor einer politischen, einer militärischen, einer geistigen Erneuerung, aber eine gütige Vorsehung hat Preußen zur rechten Stunde die rechten Männer gesandt. Zum Erneuerer staatlichen Lebens ward ein Edelmann aus dem Reiche, F r e i h e r r vom S t e i n . Voll selbstbewußten Stolzes, voll glühender Vaterlandsliebe, wies er alles Undeutsche schroff von sich — so ist er in seiner unbestechlichen Treue zu sich selbst bereits den Zeitgenossen als Napoleons gefährlichster und unversöhnlichster Feind erschienen. Sein klarer Blick erkannte, daß nur freie Männer das Joch der Fremdherrschaft brechen konnten, daß aber nur der Bürger sich als freies, lebendigeres Glied des Staates fühlen konnte, der dessen Geschick mitbestimmen durfte. So baute er im bewußtem Gegensatze zur Französischen Revolution, die mit dem Umstürze der monarchischen Spitze begonnen hatte, den freien Staat von unten auf und kehrte so zu jener Selbstverwaltung zurück, die vor alters das Kennzeichen germanischer Staatenbildung gewesen war und die sich nur die Angelsachsen bewahrt hatten. So sind denn
43 Steins Städteedikt sowie seine Bauernbefreiung die Grundlagen des neuen Preußens geworden. Neben dem stolzen Reichsfreiherrn schuf nun der Bauernsohn S c h a r n h o r s t das alte Berufsheer zum Volk in Waffen um. Jetzt wurde die alte Forderung, daß jeder Freie die Waffen tragen müsse, einst die Grundlage der karolingischen Wehrverfassung, dann wieder im Kantonalsystem Friedrich Wilhelms I. ausgesprochen, zur Wahrheit! Jetzt verschwanden die zahllosen Befreiungen, die einst aus wirtschaftlichen Gründen der behutsame Absolutismus ausgesprochen hatte. Geradezu von sittlicher Bedeutung aber wurde, daß im Gegensatz zu Frankreich, auch der Reiche sich nicht loskaufen durfte. Da Napoleons Argwohn Preußen nur ein Heer von 42000 Mann zugestand, so mußten die in mögüchst kurzer Zeit ausgebildeten Soldaten zur Landwehr entlassen werden. So hat Preußen denn im Jahre 1813 ein Heer von 272000 Mann aufstellen können, wobei schon auf 17 Einwohner 1 Soldat traf. In der Landwehr aber, der auch die freiwilligen Jäger zugeteilt wurden, schloß sich endlich die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten, die gerade bei uns pedantischen Deutschen so unüberbrückbar erschienen war. In den Schlachten wetteiferte dann die studierende Jugend der Landwehr an Tapferkeit und Ausdauer mit dem Bauernsohne der Linie, während im Lager ein Geist treuer Kameradschaft Offiziere und Mannschaften vereinte. So hat die militärische Schöpfung Scharnhorsts das neue Preußen nicht minder fest zusammengeschmiedet als die politische Steins. Die Jahre napoleonischen Druckes ließen nun auch endlich unser deutsches Vaterland sich aufraffen zur großen geistigen Befreiung. Vor der rauhen Wirklichkeit verflogen die weichlichen weltbürgerlichen Träume, die Not lehrte beten. Es waren die Einfältigen und Schlichten, die das erste Beispiel nationaler Erhebung gaben; wie die Spanier im unbarmherzigen Kleinkriege, so zeigten die Tiroler unter Andreas Hofers Führung, wie einfache Bauern für ihren Kaiser, für ihren Glauben, für ihre Heimat zu siegen und, wenn die Übermacht erdrückend war, auch zu sterben wissen. Jetzt besannen sich auch die Gebildeten wieder ihrer heimischen Kultur, sie faßten wieder ein Herz zum deutschen Recht und zu deutscher Sitte, sie lauschten auf die Lieder und Sagen des Volkes. Jetzt sangen die Dichter von den Tagen, da eiserne Ritter zum Heiligen Lande gezogen waren, jetzt sammelte man Urväter Hausrat und bewunderte der Vorfahren Baukunst an den hohen Domen. Vor allem aber sehnte man sich zurück nach dem Glänze der alten Kaiserkrone und sah voll
44 Schmerz, wie immer noch die Raben um den Kyffhäuser flogen. Jetzt endlich erbarmten sich die deutschen Dichter und Denker der Not der Gegenwart, heißer Haß gegen die Fremdherrschaft weht uns aus Kleists Hermannsschlacht entgegen. Die Lieder eines Arndt, eines Körners, der selbst sein jugendliches Leben dem Vaterlande opfern sollte, begeisterten die kampfesmutigen Scharen und fanden über den Grenzen ein treues Echo in den Gesängen des Schwaben Uhland und des Franken Rückert. Ja, mitten im Lager des Rheinbundes erglühte der bayerische Kronprinz Ludwig für das große »teutsche« Vaterland. In Preußen aber waren es Wilhelm v. Humboldt, der sich selbst aus den Idealen der Aufklärungszeit hatte durchringen müssen zu lebendigem Staatsbewußtsein, der in den Zeiten schwerster Bedrängnis die Stiftung der Berliner Universität anregte. Dort lernte nun zu den Füßen eines Schleiermachers, eines Fichte die studierende Jufend die schwere Lehre, daß das Leben des einzelnen inhaltslos ist, wenn es nicht Stütze findet an einem kräftigen nationalen Staate. Die schlichten Bürgersöhne erfüllte Turnvater Jahn mit vaterländischem Geiste. In tiefster Seele wurde dann aber das ganze Volk erschüttert durch den Anblick der traurigen Trümmer der Großen Armee, die auf Rußlands eisigen Fluren ihren Untergang gefunden hatte, wenn sich auch kein Arm gegen die von Gott Gezeichneten erhob. Trommler ohne Trommelstock, Kürassier im Weiberrock, So hat sie Gott geschlagen. Mit Roß und Mann und Wagen!
T i e f e E m p ö r u n g , h e i ß e r D u r s t n a c h R a c h e u n d ein f e l s e n f e s t e s G o t t v e r t r a u e n w a r e n die g e w a l t i g e n A n t r i e b e der g r o ß e n V o l k s e r h e b u n g des J a h r e s 1813. D i e S t u n d e des G e r i c h t e s h a t t e g e s c h l a g e n . Nicht um eine Verfassung zu erkämpfen, eilte das ganze wehrhafte Volk zu den Waffen, den vaterländischen Boden galt es vom fremdem Joche zu befreien, die Schmach wollte es rächen, die Preußen aus der Reihe der großen Völker gestrichen. Deutsch und christlich, wie ihre Väter, wollten diese Helden leben und sterben. Von diesem Geiste beseelt, mußte ihnen der Sieg bleiben, einem ganzen Volke, das so gewillt war, Gut und Blut in die Schanze zu schlagen, konnte auch eines Napoleons Genius nicht auf die Dauer widerstehen. Jedoch bedurfte es noch der r e t t e n d e n T a t ! Der dies zuerst wagte, war der alte Y o r c k , geradezu eine Verkörperung
45 des trotzigen Junkers, knapp in der Rede, herrisch im Dienst, doch treu besorgt iür seiner Leute Wohl. So hat er seinen Kopf gewagt und damit nicht allein seinem König das Heer gerettet, sondern auch die Zaudernden mit fortgerissen. Jetzt ermannte sich Friedrich Wilhelm der Dritte zur Abreise nach Breslau, von dort wandte er sich in schlichtem Aufruf an sein Volk. »Der K ö n i g rief und a l l e , a l l e k a m e n ! « Da gab es weder Unterschied des Glaubens noch der Partei. Steins Widersacher, der Junker von der Marwitz, hat dann im Feld gestanden neben Männern, die später in der deutschen Republik ihr trügerisches Ideal fanden. Zum echten Sinnbild für diese schlichte eisereneZeit wurde dann das schlichte eiserne Kreuz, das der König am Gedenktage der Königin Luise stiftete. Noch heute rührt es uns bei Treitschke zu lesen, wie Bauern ihre väterliehe Scholle verkauften, um sich ausrüsten zu können, wie Bergknappen von ihrem kärglichen Lohne Kameraden ausstatteten, wie man Gold für Eisen gab. Und diese Opfer an Gut wie Opfer an Blut gab das ganze Volk freudig dahin für einen Staat, von dem sich kein Lohn erhoffen ließ, der noch im Kampfe stand gegen eine Welt in Waffen, geführt von einem der gewaltigsten Kriegshelden aller Zeiten. Wer konnte wissen, wie die eisernen Würfel fallen würden ? Das höchste Heil, das letzte lag im Schwerte! In B l ü c h e r fand sich ein Führer, wie ihn die Stunde heischte. Keiner unserer Helden ist volkstümlicher geworden als der greise Marschall Vorwärts mit dem jugendlichen Herzen. Sein Leben lang blieb er der rote Husar, der das Schreibervolk haßte, dem aller Standesdünkel fremd war, fromm, freimütig und lebensfroh zugleich. Er, der niemals mir und mich zu unterscheiden lernte, war doch in allen Künsten und Listen des Krieges so erfahren, daß Napoleon in dem »alten Fuchse« seinen gefährlichsten Gegner sah. In edler Freundschaft mit Blücher verbunden war es der schlichte Gneisenau, der zum eigentlichen Organisator des Sieges wurde und doch die schwere Kunst verstand, bescheiden sich hinter dem eigentlichen Führer zurück zu halten. Ein Yorck, ein Kleist, ein Bülow haben dann Preußens Waffen wieder zu Ehren gebracht, bis in der gewaltigen V ö l k e r s c h l a c h t bei L e i p z i g Deutsche aus Nord und Süd, seit Jahrhunderten zum ersten Mal wieder in treuer Waffenbrüderschaft die fremde Zwingherrschaft brachen. Söhne aller deutschen Stämme sind dann 1814 gemeinsam nach Frankreichs Hauptstadt gezogen — nach den langen Jahrhunderten der Zwietracht endlich wieder gemeinsame glorreiche Errinnerungen. Die Welt erzitterte wieder vor
46 dem Namen der waffengewaltigen Deutschen, die sie so lange als Dichter und Träumer verspottet hatte. »Das Herrlichste, das Ihr erstritten, wie kommt's, daß es nicht frommen mag?« Die Feder verdarb, was das Schwert erstritten. Steins patriotische Ratschläge verhallten ungehört, weder wurde das Elsaß, damals noch ein auch in seiner Gesinnung überwiegend deutsches Land, zurück verlangt, noch eine einigermaßen befriedigende Reichs Verfassung gewährt. Als dann die süddeutschen Staaten, Bayern voran, Verfassungen gaben, trat zur alten Rivalität zwischen den beiden Großmächten noch der Gegensatz zwischen dem konstitutionellen und dem absolutistischen Deutschland. Es war ein verhängnisvoller Fehler Preußens, daß es die Gewährung der versprochenen Verfassung so lange verzögerte, es verlor damit die innerpolitische Führung Deutschlands, auf die es sich in den Befreiungskriegen ein unbestreitbares Recht erstritten, während ihm die handelspolitische Vormachtstellung von selber zufiel. Das süddeutsche Parteileben aber wurde zu unserm Unheile auf das fremde Beispiel Frankreichs und Belgiens angewiesen, eine Entwicklung, die noch bis heute den politischen Ausbau des Reiches hemmt und die unselige Parteizersplitterung zur Folge hat. So folgten 50 Jahre schwerer Irrungen und Wirrungen, noch bedurfte es eines Bruderkampfes und eines gewaltigen, an Siegen beispiellos reichen Krieges, ehe wiederum eines Napoleons Kaisermacht in den Staub sank und am 18. Januar 1871 der erlauchte Wilhelm I. im Spiegelsaale zu Versailles den Glanz der Kaiserkrone erneute, die jetzt nicht mehr die Weltherrschaft bedeuten sollte, sondern das Sinnbild der blutig erstrittenen deutschen Einheit war. Diesmal waren den Deutschen nicht nur Helden auf dem Schlachtfeld, sondern in B i s m a r c k einer jener gewaltigen Staatsmänner erstanden, wie sie in Jahrhunderten nicht wiederkehren und wie sie Jahrhunderten die Wege weisen. Der von ihm geschaffenen Reichsverfassung, die ohne jede graue Theorie die Rechte des Reiches und der Bundesstaaten sorgfältig abwägt , ist es hauptsächlich zu verdanken, daß D e u t s c h l a n d s F ü r s t e n treu zu Kaiser und Reich stehen, wie sie gerade in diesem Jahre aufs neue durch ihr Gelöbnis zu Kelheim und Leipzig der eifersüchtigen Welt bewiesen. Des neuerstandenen Reiches Herrlichkeit hat so den alten Stammeshaß überwunden und ein festes Bündnis eint uns in der auswärtigen Politik der habsburgischen Monarchie.
47 Wie aber steht es im deutschen V o l k e ? Eine glänzende wirtschaftliche Entwicklung, wie sie unsere Geschichte selbst in den glücklichsten Zeiten nie gekannt hat, ein waffengeübtes Heer und eine stolze Flotte, deren beider Heldenmut im Kampfe um die Luft sich täglich neu erweist, ein Geist sozialer Fürsorge, der noch beispiellos ist in den Reihen der Völker — und dennoch vielfach Mißmut, und dennoch steht mancher grollend beiseite, wenn wir die Feste nationaler Erinnerungen feiern! Konnte doch hier in dieser Barbarossastadt, mitten in der Pfalz, wo die Ruinen von Deutschlands Schmach in den französischen Raubkriegen erzählen, die Frage laut werden, ob die P f a l z n i c h t b e s s e r bei F r a n k r e i c h g e b l i e b e n w ä r e ! Weite Teile des deutschen Volkes haben sich eben noch immer nicht innerlich bef r e i t von j e n e m f r e m d e n Geist des R a d i k a l i s m u s , der in den Revolutionszeiten das Nationalgefühl zu ersticken drohte, haben die ernsten Lehren aus der Zeit der Schmach und der Erhebung vergessen. Es rächt sich eben, daß Steins Lebenswerk unvollendet blieb, daß nicht eine von seinem Geiste erfüllte Generation Preußen in verfassungsmäßige Bahnen führen durfte. Wie sich die Fürsten des ganzen Kontinents unter Metternichs Leitung zur heiligen Allianz zusammenschlössen, die alle Regungen des Nationalgefühls und der Freiheit ersticken zu können glaubte, wie die Reaktion ihr Heil von Wien oder St. Petersburg erwartete, so fielen die Liberalen in die weltbürgerlichen Träumereien des 18. Jahrhunderts zurück, so erhofften Bürger und Arbeiter die goldene Zeit von den Straßenkämpfen in Paris. Dichter und Literaten von glänzendem Stil, wie Börne und Heine, übten ätzende Kritik an dem Bestehenden, das nur wert schien, in Schande unterzugehen. Eifrig lauschte ihnen der Philister in der Bürgerstube und am Stammtische, und so drohten wir Deutsche zu jenen tatenlosen Nörglern zu werden, als die wir im Auslande noch heute verschrieen sind! In den kleinlichen Verhältnissen jener Zeit verloren unsere Politiker den weiten Blick und erschöpften sich in künstlich konstruierten Systemen nach fremden Mustern. Noch schlimmer war es, daß sich damals auch bei uns jene Klasse von Berufspolitikern bildete, die praktisches Wissen durch die Doktrin ersetzte und ganz im Sinne der Allgemeingültigkeit der Aufklärung nach Rezepten des Auslandes, den sozialistischen Frankreichs oder den manchesterlichen Englands, deutsche Wirtschaftsfragen lösen wollte. J a , der nationale Instinkt versagte vollständig gegenüber Fragen auswärtiger Politik, in jenen
48 Tagen der Polenbegeisterung wie noch heute mancher Schwärmer sich mit jedem Ausländer verbinden möchte, wenn er nur die Jakobinermütze trägt, ohne nach Deutschlands Interesse zu fragen! Wieviel deutscher Idealismus hat sich dann an der unlösbaren Frage des Jahres 1848 nutzlos versucht! Und ist denn heute, nach der Reichsgründung, unser d e u t s c h e s B ü r g e r t u m g a n z von S t e i n i s c h e m G e i s t e beseelt? I s t es sich b e w u ß t , daß p o l i t i s c h e n R e c h t e n e r n s t e p o l i t i s c h e P f l i c h t e n e n t s p r e c h e n ? Wie im Evangelium geht gar mancher auf seinen Meierhof oder zu seinem Gewerbe, wenn der König zum hochzeitlichen Mahle ruft. Und doch sind diejenigen, die durch Tüchtigkeit im bürgerlichen Leben, die durch Wissen und Erfahrung sich auszeichnen, gerade gut genug, ihres Volkes Führer zu sein. Solcher Führer hat noch jedes Volk bedurft; seit Kleons, des Gerbers, Tagen hat die Politik lärmender Versammlungen, die Tyrannis von unten, den Staat zum Abgrund geführt. Auf Catilina folgt ein Cäsar, auf Robespierre ein Bonaparte, oder das Reich muß zerschellen. Politischer Erfolg aber ist mit politischer Tradition eng verknüpft. Freilich bei uns sitzt jetzt das neue Gewand des Reichtums manchen noch schlecht, gleich Emporkömmlingen berauschen sie sich an seinen Genüssen, ohne an seine Verpflichtungen zu denken, während des Reichtums trügerischer Glanz unten Begehrlichkeit und das Erbübel aller Demokratien, den Neid, erzeugt. In wissenschaftlichem Aufputz gebärdet sich öder Materialisnus, verloren geht die Ehrfurcht vor dem Unergründlichen, jener schlichte, fromme Sinn, der die Helden von 1813 vor allem ausgezeichnet hat. Wie viel Kraft hat doch der englische Liberalismus aus den religiösen Bedürfnissen des Volkes geschöpft, während bei uns, nach romanischem Muster, weite Kreise der Gebildeten und noch mehr der Halbgebildeten, auf sie mit dem ganzen Dünkel der Aufklärung herabsehen, wie ja noch heute ein bißchen Kulturkampf mancher politischen Größe geradezu Lebenszweck ist. Unsere Großstädter scheinen ja künstlerische Fragen tiefer zu bewegen, aber gehen nicht auch sie vielfach noch seltsamere Wege, als die ästhetischen Kreise von 1806, bald diese, bald jene Richtung als Evangelium wahrer Kunst überlaut preisend, ohne doch zu einheitlichem Stil zu gelangen? Sind sie nicht in Gefahr, jede Fühlung mit dem künstlerischen Empfinden des Volkes zu verlieren ? In diesen Tagen vaterländischen Gedenkens hat kein deutscher Dichter Worte gefunden, die wirklich zu des Volkes Herzen drangen, wohl aber hat mancher Künst-
49 ler, mancher Literat ungestraft unserer heiligsten Gefühle in Wort und Bild gespottet. Können wir ruhig zusehen, wie dieser Geist der h ä m i s c h e n Verneinung in immer w e i t e r e K r e i s e unseres V o l k e s d r i n g t , wie er unsere J u g e n d v e r f ü h r t ? Sollen wir w a r t e n , bis auch unser Heer damit e r f ü l l t i s t , bis sich unsere Offiziere und M a n n s c h a f t e n gerade so wenig vers t e h e n , wie auf dem S c h l a c h t f e l d e von J e n a ? Mit Ausnahmegesetzen ist es freilich nicht getan, geistige Kämpfe müssen mit geistigen Waffen entschieden werden. Handelt es sich aber um diese höchsten vaterländischen Güter, dann gebührt es uns, in der ersten Reihe der Kämpfer zu stehen, dahin weisen die stolzesten Traditionen unserer Partei 1 Als der gewaltige Staatsmann Bismarck dem Werke deutscher Einigkeit den Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückte, da war es B e n n i g s e n , der den L i b e r a l i s m u s , als er in seiner doktrinären Form jämmerlich versagte, auf die n a t i o n a l e Grundlage s t e l l t e und ihn so von dem alten Fluche des öden Theoretisierens und der Weltbürgerlichkeit befreite. Nun konnte er sich mit allen national gesinnten Parteien zusammenfinden auf dem g e m e i n s a m e n Boden h i s t o r i s c h e r W e l t a n s c h a u u n g , die in der Wissenschaft schon längst jenen Radikalismus überwunden hatte, den ein Du Bois-Reymond geradezu als Denkfehler bezeichnet hat. Im dieser geschichtlichen Auffassung gefestigt, haben Bennigsen und seine Freunde den stolzen Bau des neuen Reiches mit aufführen dürfen, und nur ein von ihr erfülltes Bürgertum wird das große Werk der Vergangenheit vollenden, im Geiste Kants staatlichen Zwang mit wahrer Freiheit vereinigen können, nur diese Weltanschauung verbürgt die Zukunft unseres Volkes. Unser n a t i o n a l l i b e r a l e s B e k e n n t n i s ist n i c h t e t w a , wie man uns einreden will, eine b e h u t s a m e A b a r t des R a d i k a l i s m u s , die in der V o r s i c h t den besseren Teil der T a p f e r k e i t s i e h t , nein, es ist eine im g e i s t i g e n Ringen erworbene, u n e r s c h ü t t e r l i c h e Ü b e r z e u g u n g , die sich n i c h t meistern l ä ß t von r a d i k a l e n Theorien. Mögen diese ura l t e n Lehren sich daher auch t a u s e n d m a l als f o r t s c h r i t t lich g e b ä r d e n , mag auch eine gewisse G r o ß s t a d t p r e s s e sie uns wieder und wieder als echt l i b e r a l aufdrängen wollen — sie sind n i c h t Geist von unserm G e i s t e ! Wir dürfen nicht um ihretwillen dem deutschen Volke die dankbare Verehrung für seine Helden rauben, die das Vaterland befreit und geeinigt v. B u h l , Reden und Aufsitze.
4
5° haben, ihm die Freude vergällen am Reiche, das jene ihm erstritten. Diese F r e u d e am R e i c h muß auch den Ärmsten erheben über die Sorgen des A l l t a g e s , auch er muß sich fühlen können als ein Glied der K e t t e , die uns mit dem Großen unserer V e r g a n g e n h e i t v e r b i n d e t , auch ihm g e b ü h r t ein A n t e i l an der K u l t u r , die uns unsere F ü r s t e n des Geistes g e s c h e n k t , und die wie jede w a h r h a f t große K u l t u r der W e l t g e s c h i c h t e keinem anderen B o d e n ersprießen k o n n t e als dem des V a t e r l a n d e s !
Weinbaufragen in der Kammer der Reichsräte. 27. Februar 1914. Der Bericht behandelte den Antrag der Abgeordneten Stang, Spindler, Siben und Genossen, betreffend Schutz und Förderung des einheimischen Weinbaues. Ich bitte das Hohe Haus, wie früher in ähnlichen Fällen den Beschlüssen der Kammer der Abgeordneten beizutreten, da sich die Notlage des bayerischen Weinbaues, die die Vorschläge lindern sollen, durch die Ungunst der Witterung und die Verheerung der Rebschädlinge noch vermehrt hat. In der Sache selbst glaube ich mich auf allgemeine Bemerkungen beschränken zu sollen, einmal weil ich sonst schon früher Gesagtes wiederholen müßte, dann weil in der nächsten Zeit die Berufsorganisationen, der deutsche Weinbauverband und der deutsche Landwirtschaftsrat, zu den Zollfragen Stellung nehmen werden und ich diesen Verbänden in keiner Weise vorgreifen möchte. Ich begrüße es aber durchaus, daß die Abgeordnetenkammer schon jetzt das Augenmerk der bayerischen Staatsregierung auf den Notstand des heimischen Weinbaues gelenkt hat, wie ich auch die entgegenkommende Haltung der Herren Regierungsvertreter sehr dankbar empfunden habe. Es ist schon in der anderen Kammer hervorgehoben worden, daß die Notlage der Winzer nicht nur durch die Mißernte der letzten Jahre verschuldet ist, sondern daß auch die fortschreitende Kapitalisierung unseres Wirtschaftslebens, die zu schnellerem Umsatz zwingt, ungünstig wirkt. Eine dauernde Belastung des deutschen Weinbaues bedeuten auch die seit der Einführung der amerikanischen Rebe ins ungemessene gestiegenen Schädigungen der Feinde des europäischen Weinstocks, denen auch noch ein allzu ausschließlich betriebener Anbau der Rebe Vorschub geleistet hat. Selbst wenn man dieser Feinde 4*
52 Herr werden kann, so wachsen doch die Kosten der Bekämpfung zu solcher Höhe, daß eine Rentabilität in früherem Sinne kaum zu erhoffen ist. Dazu kommt, daß wir an der Nordgrenze der Verbreitung der europäischen Rebe Weinbau treiben müssen, daß also die Zahl der durch die Ungunst der Witterung hervorgerufenen Mißernten bei uns viel größer ist als in dem klimatisch mehr begünstigten Ausland, und das Neue ist, daß infolge unseres nassen Klimas auch die Schädlinge, neu eingeschleppte sowohl wie altbekannte, jetzt in weit größerem Maße auftreten und bei uns viel verheerender wirken als in den Ländern mit trockenem Sommern. Es darf deshalb wohl die Frage aufgeworfen werden, lohnt es sich unter diesen veränderten Verhältnissen überhaupt, den deutschen Weinbau zu erhalten? Seine Erhaltung erscheint aber dringend geboten sowohl aus wirtschaftlichen wie aus sozialen Gründen. Wirtschaftlich können eben jene trockenen sonnigen Hänge, an denen seit alters die Rebe wächst, rationell nur durch Weinbau ausgenutzt werden, wie uns die ödungen Frankens beweisen, wo das alte Rebland nicht in neue Kulturen übergeführt werden konnte. Wo etwa in der Ebene eine solche Überführung unrentabler Weinberge möglich ist, da muß mit allen Mitteln versucht werden, dieses Land besonders der Viehzucht zurückzugeben, eben damit der Winzer nicht allein auf den Ertrag des unsicheren Weinbaues angewiesen bleibt. Sozial aber verdient der Weinbau um deswillen die staatliche Fürsorge, weil bei ihm eine äußerst glückliche Besitzmischung sich findet. Kaum ein anderer Zweig der Landwirtschaft gibt so vielen selbständigen Existenzen auf einer so kleinen Fläche Raum, keiner weist so viele Arbeiter mit eigenem Besitze auf, die also im bestem Sinne des Wortes an die Scholle gebunden sind. Wenn aber das Ausland unter wesentlich günstigeren Verhältnissen auch heute noch produziert, so wird der Schutz des Winzerstandes zunächst ein Zollschutz sein müssen. In der Kammer der Abgeordneten wurde schon auf die billigen spanischen, dalmatinischen und italienischen Weine hingewiesen. Ich darf hinzufügen, daß mir ein hervorragender südfranzösischer Praktiker versichert hat, daß er noch bei einem Preise von 7 % Centimes für den Liter, also 6 Pfennigen, mit Nutzen produzieren kann. Damals waren aber im Süden Frankreichs die Weinpreise zum Teil unter 3 Centimes für den Liter gefallen, in einem Produktionsgebiete, dessen normale Ernte die deutsche um mehr
53 als das Vierfache übertrifft. Dabei handelt es sich um kleine Konsumweine, die zum Verschnitt ungeeignet sind. Gegen ihre Überflutung müssen wir also zunächst unseren Produzenten im Quantitätsgebiete schützen. Es kann doch wohl kaum bestritten werden, daß das prozentual außerordentlich geringe Quantum von Weinen hoher Qualität, wie es auf Gütern alten Rufes erzeugt wird, die Konkurrenz des Auslandes viel weniger zu fürchten hat als der kleine Tischwein, der das Haupterzeugnis der deutschen Produktion darstellt. Der Liebhaber von Franken- oder Pfälzerweinen bevorzugt eben bestimmte Kreszenzen, für die er entsprechende Preise bewilligt und die im Auslande nicht erzeugt werden können. Für den großen Produzenten ist daher Markenschutz gegen die inländische Konkurrenz wichtiger als Zollschutz. Der kleine Produzent des Qualitätsgebiets bedarf beider. Der Produzent im Quantitätsgebiet ist es, der unter allen Umständen vor der Konkurrenz des Auslandes geschützt werden muß, wie die allenthalben neu eröffneten spanischen Weinstuben im Quantitätsgebiet aufs neue beweisen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in Jahren mangelnder Reife kleine deutsche Weine mit Produkten des Auslandes verschnitten werden. In normalen Jahren sind die für uns ja fast ausschließlich in Betracht kommenden deutschen Weißweine entweder selbständig konsumfähig oder sie sie finden leichten Absatz, wenn sie mit den Weinen anderer deutscher Gebiete verschnitten werden. In guten Jahren aber, die bekanntlich beim Weinbau für so viele schlechte entschädigen müssen, verhindert die Konkurrenz der Auslandsweine eine lohnende Preisbildung. Dieser Sachlage waren sich auch alle Berufsverbände bewußt, als sie mit der großen Mehrheit des Deutschen Reichstags die Deklaration des Verschnitts mit Auslandsweinen forderten, und groß war die Erbitterung, als das Auswärtige Amt um günstiger Handelsverträge willen das ganze Weingesetz scheitern lassen wollte, wenn der Reichstag nicht in der Verschnittfrage nachgeben würde. Die deutschen Weinbauverbände sind völlig unpolitisch, aber sie sind nicht gewillt, um einer programmatischen Forderung des Freihandels willen die ganze Existenz des deutschen Winzerstandes aufs Spiel zu setzen, und sie sind deshalb stets einmütig für Zollschutz eingetreten und werden wohl auch jetzt einmütig höhere Zölle fordern. Zollfragen sind lediglich Fragen der Zweckmäßigkeit, Theorien müssen eben den Tatsachen weichen. Es kann doch unmöglich verlangt werden, daß auf wirtschaftlich als not-
54 wendig erkannte Maßregeln um deswillen verzichtet wird, weil sie nicht in eine Parteischablone passen. Zu meinem lebhaften Erstaunen ist bei der Diskussion über diese Zollfragen in der Kammer der Abgeordneten nicht nur mein Name genannt, sondern auch meine politische Überzeugung in die Debatte gezogen worden. Aus dieser habe ich nun nie ein Hehl gemacht, ich will daher auch hier offen bekennen, daß ich vor allem aus nationalen, dann aber auch aus wirtschaftlichen Gründen und nicht zuletzt im Interesse der Erhaltung eines kräftigen Mittelstandes stets und unbeirrt durch parteitaktische Rücksichten für ein Zusammenwirken aller nationalen, den Schutz der deutschen Arbeit in Landwirtschaft und Gewerbe gewährleistenden Parteien und Berufsverbände eingetreten bin und eintreten werde, allen manchesterlichen und partikularistischen und mehr noch allen radikalen und internationalen Tendenzen muß ich also folgerichtig entgegentreten. So bitte ich auch in diesem Falle das Hohe Haus, für genügenden Zollschutz, der natürlich nicht prohibitiv wirken soll, einzutreten und bei der Neuregelung der Zollverhältnisse die bisherigen Tarifsätze der Einfuhrzölle auf Wein, Most, Schaumwein sowie auf Trauben und Traubenmaische eine Erhöhung erfahren, zuzustimmen. Die Tragweite des Antrages, daß die bisher gewährte Stundung der Einfuhrzölle auf Wein und Traubenmaische bei Beträgen von über 500 M. aufgehoben wird, vermag ich nicht voll zu ermessen: Vielleicht hört bei dieser Frage die Staatsregierung auch die Berufsorganisationen; vorläufig habe ich keine Bedenken, zuzustimmen. Man will ferner die Zahl der Eingangsstationen um deswillen beschränken, weil sachverständiges Kontrollpersonal, das die außerordentlich verschiedenartigen Auslandweine nicht nur nach ihrer chemischen Beschaffenheit, sondern auch durch die sogenannte Zungenprobe beurteilen kann, natürlich nicht in genügender Zahl zur Verfügung steht, um den Grenzdienst an allzu vielen Stellen ordnungsgemäß zu versehen. Ich will nur bemerken, daß es auch im Interesse des Handels liegt, daß ausländische Weine an der Grenze so genau geprüft werden, daß eine spätere Beanstandung im Binnenverkehr ausgeschlossen erscheint. Eine schikanöse Erschwerung des ausländischen Imports hegt schon um deswillen allen Beteiligten fern, weil die inländische Produktion nicht den heimischen Bedarf deckt.
55 Ein weiterer Antrag, der die gleiche Behandlung ausländischer und inländischer Weine bezüglich der Belastung mit Landessteuern und kommunalen Abgaben fordert, ist, wie ich glaube, auf meine Anregung von der K. Staatsregierung schon an den Bundesrat gebracht worden. Ich möchte ihm dort ein freundliches Schicksal wünschen. Besonders dankbar bin ich den Herren Antragstellern dafür, daß sie bei der Formulierung die Kellerkontrolle gleichmäßig auch außerhalb der Weinbaubezirke strengstens zu betätigen jede Spitze gegen ein anderes Weinbaugebiet vermieden haben. In der Tat herrscht allgemein die Überzeugung, daß eine scharfe Kontrolle den Ruf des Weines nur heben kann, wie wir ja zu unserer Freude in der Pfalz, nachdem die Folgen der ersten sensationellen Weinprozesse überwunden waren, erleben durften. Daher habe ich kein Bedenken, die Zustimmung zu diesem Absatz in der vorliegenden Fassung zu empfehlen. Der Antrag schlägt ferner vor, es solle jenen bayerischen Winzern, deren Weinberge heuer keinen oder nur einen geringen Ertrag geliefert haben und deren wirtschaftliche Existenz infolge wiederholter Mißernten der letzten Jahre ernstlich gefährdet worden ist, durch Befreiung von der Entwährung der Grundsteuern und Bodenzinse, durch Gewährung unverzinslicher Darlehen und durch andere subsidiäre Maßnahmen eine tatkräftige Förderung zuteil werden. Das sind mannigfaltige Wege, die zur Linderung der Notlage vorgesehen sind. Ähnliche Forderungen hat schon 1831 mein Urgroßvater Jordan in der Kammer der Abgeordneten erhoben, und zur Zeit sehen wir die Kammern aller weinbautreibenden Bundesstaaten mit ähnlichen Fragen beschäftigt. Bezüglich des Erlasses der Grundsteuer und Bodenzinse hat ja bei uns die K. Staatsregierung bereits eine allseits befriedigende Erklärung abgegeben. Sonst handelt es sich um eine Hebung der wirtschaftlichen Lage durch Stärkung des Kredits, billigen Bezug der Betriebsmittel und genossenschaftlichen Zusammenschluß sowie durch die Erziehung zu rationellerer Wirtschaft, durch Belehrung und Vorbild. Vorbildlich können natürlich zunächst die königlichen Domänen wirken, in Musterbetrieben hegt aber auch die soziale Bedeutung des größeren Grundbesitzes. Ich brauche ja nur an die großen Güter des Rheins etwa zu erinnern, die soviel zum Weltrufe des Rheinweines beigetragen haben und denen die anderen Qualitätsgebiete heutzutage keineswegs nachstehen. Übrigens sind fast alle Qualitätsverbesserungen im deutschen Weinbau der Privatinitiative der größeren Grundbesitzer
56 zu verdanken, denen sich die Staatsdomänen anschließen. Auch den Rat der Wissenschaft pflegt der größere Grundbesitzer sich zuerst zunutze zu machen. Das wird in Winzerkreisen bereitwillig anerkannt, und es ist deshalb nicht angängig, künstlich einen Gegensatz zwischen größerem und kleinerem Besitze zu konstruieren. Latifundienbesitz ist bei einer so intensiven Kultur, wie es der deutsche Weinbau ist, schon technisch ausgeschlossen. Im genossenschaftlichen Zusammenschlüsse können meines Erachtens unter geeigneter Leitung, die sowohl technisch wie kaufmännisch genügend vorgebildet ist, die Winzervereine sich viele Vorteile des Großbetriebs sichern und haben in der Tat den guten Ruf der Produktionsgebiete wesentlich gehoben. Genau wie dem Großbetrieb ist auch ihnen die Verständigung mit dem Weinhandel zu empfehlen, da ein so vielgestaltiges Produkt wie der Wein des Zwischenhandels weit mehr bedarf als die mehr gleichartigen Erzeugnisse der eigentlichen Landwirtschaft. Die finanzielle Stärkung der bestehenden Kassen möchte ich dringend empfehlen. Leider sind auch die Klagen, daß ein besseres Eingreifen der Bayerischen Landwirtschaftsbank jetzt noch nicht zu erreichen war, berechtigt. Ich möchte hier empfehlen, daß die K. Staatsregierung bei diesen Fragen die Berufs Vereinigungen zu Rate ziehen möge. Es scheint mir ein allgemeines Gesetz zu sein, daß bei der eigentümlichen Gestaltung, die unsere politischen Verhältnisse in Deutschland genommen haben, diesen unpolitischen Gebilden eine immer größere wirtschaftliche Bedeutung zukommt, daß es daher nur im Interesse einer voraussehenden Staatsregierimg hegen kann, wenn sie derartige Vereinigungen in jeglicher Weise unterstützt. Gerade darum hat mich das Lob so besonders gefreut, das allenthalben den pfälzischen und fränkischen Weinbauvereinen gespendet wurde. Daß ich mich ihm voll anschließe, brauche ich wohl kaum besonders zu betonen. Da ich also in allen wesentlichen Punkten mit den Herren Antragstellern Stang, Spindler, Siben und Genossen übereinstimme, darf ich auch dieses Hohe Haus bitten, dem Beschlüsse der zweiten Kammer beizutreten.
Deutsche Bildung oder westeuropäische Zivilisation? Rede zum Haushalt des K. Ministerium des Innern, Kammer der Reictasräte am 21. März 1916.
Meine Hohen Herren! Ich möchte mir zunächst einige allgemeine Bemerkungen gestatten, die sich auf Fragen beziehen, die im Ausschuß und in der Vollversammlung der anderen Kammer berührt worden sind. Zunächst kann ich mich nur voll dem Lobe anschließen, das der treuen Pflichterfüllung unserer Beamtenschaft während dieser ernsten Kriegszeit gespendet worden ist. Ja, ich möchte dieses Lob auch für die Zeit vor dem Kriege ausdehnen und für die Zukunft daraus den Schluß ziehen, daß wir in der Organisation und Vorbildung unserer Verwaltungsbeamten gewiß keine grundstürzende Veränderung vorzunehmen brauchen. Im Gegensatze zu den parlamentarisch regierten Ländern haben wir keine politischen Beamten. In Frankreich dagegen ist z. B. schon der Minister von einem Stabe strebsamer junger Leute umgeben, die nicht etwa die Verwaltungsgeschäfte besorgen — das tun einige ältere Herren, die von jedem der ewig wechselnden Ministerien immer wieder übernommen werden — dazu würde jenen oft die Vorbildung fehlen, denn sie sind meist Journalisten und angehende Politiker. Vorzüglich verstehen sie sich jedoch darauf, einmal dem souveränen Volke zu suggerieren, was es eigentlich will und dann im Auslande die Meinung zu verbreiten, daß Frankreich noch immer der Vorkämpfer der Zivilisation ist. Ihre Haupttätigkeit ist aber die Vorbereitung der Wahlen, an deren Ausgang alle Beamten höchstpersönlich interessiert sind, da die Verwaltungsstellen die Beute der siegreichen Partei zu sein pflegen. Will sich daher der Verwaltungsbeamte auf seinem Posten erhalten, so muß er auf jede freie Betätigung seiner politischen Überzeugung verzichten. Ja, bei einem Skandalprozesse der letzten Jahre stellte sich heraus, daß über ganz Frankreich ein Denunziantentum organisiert ist, daß die Privatverhältnisse der Offiziere und Beamten
58 nach solchen Verbrechen durchstöbert, ob sie oder ihre Frauen etwa die Messe besuchen oder gefährlichen Umgang in Schlössern pflegen. Wie sehr sticht von diesen Zuständen die strenge Unparteilichkeit, das soziale Pflichtbewußtsein unserer Beamten ab, die dafür auch im Privatleben ihrer Uberzeugung ungescheut nachleben und ihren politischen Ansichten, soweit es sich mit der Natur des Amtes verträgt, auch gegen die Regierung Ausdruck verleihen dürfen. Diese freie Meinungsäußerung ist dem französischen Freistaate ebenso unbekannt, wie die Selbstverwaltung der Gemeinden. Die Tatsache, daß Beamte nur nach ihrer Fähigkeit und ihren Leistungen angestellt und befördert werden, wie bei uns, ist sogar der Theorie parlamentarisch regierter Länder fremd. Wir dürfen uns daher rühmen, das bestverwaltete Land der Welt zu sein. Den unvergleichlichen Taten unseres Heeres, den staunenswerten Ergebnissen unserer Wissenschaft, den weltbekannten Erfolgen unserer Technik, dem unvergleichlichen Fleiße unserer werktätigen Volksklassen, stehen das Organisationstalent und die Leistungsfähigkeit unserer Beamten im weitesten Sinne völlig ebenbürtig zur Seite. Das sollen wir aller Welt auch laut verkünden, einmal dem Auslande, dann aber auch unseren eigenen Volksgenossen. Diese E r k e n n t n i s u n s e r e r V o r z ü g e soll u n s e r e N a t i o n m i t jenem b e r e c h t i g t e n Stolze e r f ü l l e n , der ihr Fremden gegenüber jenes Gefühl der ruhigen Sicherheit verleiht, die aus geschichtlichen Gründen leider unserem Volke so oft fehlt. Wir sind Fremden gegenüber zu extremen Werturteilen geneigt, besonders aber zu einer kritiklosen Bewunderung und Nachäffung fremder Zustände und Einrichtungen, die von wenig Selbstachtung zeigt und uns daher auch die Achtung des Auslandes nicht erwerben kann. Auf freundlichere Gefühle haben wir ja ohnehin nicht zu rechnen. Mag man uns auch eine gewiß bedauerliche Unterschätzung des Wertes der Umgangsformen vorwerfen, der Hauptgrund für die mangelnden Sympathien des Auslandes liegt doch in der Tatsache, daß wir aus Dichtern und Denkern zu lästigen Konkurrenten geworden sind. Unsere beispiellose, vielbeneidete Entwicklung ist eine Erscheinung, die man im Auslande nicht versteht, und für die man die Erklärung in einer Art von wissenschaftlicher Zwangsorganisation sieht, die jede Freiheit ausschließen müsse und darnach strebe, sich die ganze Welt dienstbar zu machen. Diese Vorstellung erklärt sich nur aus der fabelhaften Unkenntnis des Auslandes über unsere politischen Einrichtungen, deren geschichtliche Begründung man dort verkennt und
59 über die man, ohne sie zu verstehen, nach der radikalen Schablone aburteilt. So sind in den letzten Jahren von Engländern, Amerikanern und Franzosen Bücher über Deutschland veröffentlicht worden, die eine naive Unwissenheit und Verständnislosigkeit bekunden und dabei eine unerhörte Gehässigkeit zur Schau tragen. Zur Richtigstellung geschah fast nichts, ja wir schienen sogar stolz darauf zu sein, daß diese Vertreter fremder Kulturnationen überhaupt geruhten, sich mit uns zu beschäftigen. Zum Teil konnten sie sogar auf unsere eigenen Urteile über politische und soziale Verhältnisse berufen und so den Schein der Unparteilichkeit erwecken. Gewiß steht auch u n s e r e P r e s s e an Fleiß und Sachlichkeit hoch über der ausländischen, sie verkauft sich nicht einer unsauberen Börsenspekulation oder fremdstaatlichen Interessen, sie öffnet ihre Spalten nicht dem Skandal, der die englischen und französischen Blätter so oft erfüllt, aber leider hat auch sie bei der Besprechung innerpolitischer Fragen die Wirkung auf das Ausland oft außer acht gelassen. Sie war dabei nur das Spiegelbild der Stimmungen ihres Leserkreises. Gerade unsere gebildeten Stände sind ja mit ihrem Beruf oder ihren Liebhabereien so eifrig beschäftigt, daß sie für ein eingehendes sachliches Studium politischer Fragen keine Zeit zu haben glauben. Von Natur indeß zur Kritik geneigt, lassen sie sich bei ihrem politischen Urteil meist von Gefühlen leiten. Die Zeit der Spannung vor dem Kriege, die durch stets vermehrte Rüstungen und die Übernahme immer neuer Pflichten durch Staat und Gemeinden stetig wachsende Steuerlast erzeugte nun allenthalben eine gereizte Stimmung, die natürlich auch in der Presse ihren Ausdruck fand und vom Auslande als Zeichen wachsender Unzufriedenheit gedeutet wurde. Ich habe selbst vor dem Kriege von sonst einsichtigen französischen Politikern über unsere inneren Verhältnisse Urteile gehört, die offenbar polemischen Artikeln unserer Zeitungen etwa über die Fragen der Wahlrechtsreformen oder des Zolltarifs entnommen waren. Vielfach entstellt wurden nun aber solche Presseäußerungen geflissentlich von einem bestimmten Zentrum, etwa einer Stadt des französisch sprechenden Auslandes aus, in der ganzen Welt verbreitet und so die Meinung über Deutschland aufs ungünstigste beeinflußt. Bei dieser geistigen Mobilisation gegen uns lieferten besonders die Franzosen die Ideen, sie stellten es so dar, als ob wir unter dem Drucke von preußischen Junkern und Militärs dumpf dahinlebten und zum Ersatz für die mangelnde Freiheit die wirtschaftliche, ja die politische Herrschaft
6o über die ganze Welt erstrebten. Sollten da nicht gerade die Franzosen, die sich ja von jeher als die besonderen Werkzeuge der himmlischen oder irdischen Vorsehung ansehen, berufen sein, die Welt und uns selbst von so gehässiger Tyrannei und Bedrohung zu befreien ? Die Wirkung einer solchen Propaganda konnte um so weniger ausbleiben, als ja die große Presse des Auslands untereinander in engster finanzieller und politischer Fühlung und unter dem Einflüsse skrupelloser Staatsmänner stand, die die Bearbeitung der öffentlichen Meinung von jeher virtuos handhabten. Der Ton dieser Presseerzeugnisse in beiden Weltsprachen aber wußte sich allen Bedürfnissen ihrer Leser anzupassen von dem witzelnden Artikel einer mondänen Revue bis zu den gemeinen Verleumdungen irgendeines Hetzblattes. Im eigenen Lande nahm man freilich lächelnd die politischen Skandale, den zersetzenden Parteikampf als vielleicht nicht erwünschte Folgen freier staatlicher Einrichtungen hin, als sich aber auch bei uns die ä t z e n d e S a t i r e als p o l i t i s c h e s K a m p f m i t t e l einbürgerte, da wurde sie von der ganzen Welt begrüßt, um unsere Beamten und Offiziere verächtlich zu machen. Wie die Kritik, so hat auch der Humor im öffentlichen Leben gewiß seine Rechte, die harmlosen Neckereien zwischen verschiedenen Berufsständen sind bei uns uralt. Wer hätte sich bei der ja nicht immer kurzweiligen politischen Betätigung nicht schon an unseren älteren Witzblättern erfreut, der zersetzende Hohn aber jener in der Abgeordnetenkammer gekennzeichneten Journale ist Import aus dem durch gehässige Parteikämpfe längst vergifteten Ausland. Diese Art der Satire bleibt uns wesensfremd, mag sie sich heute auch noch so laut als patriotisch gebärden. Leider fand weder dieses Treiben die gebührende Zurückweisung noch wurde für sachliche Aufklärung des Auslandes durch Klarstellung der deutschen Verhältnisse gesorgt. Der Vorwurf dieses Versäumnisses kann der Reichsregierung so wenig erspart werden, als den meisten unserer politischen Führer. Man wollte vor aller Welt objektiv, modern und frei von Vorurteilen erscheinen, in der Hoffnung, daß die Wahrheit sich doch die Bahn brechen müsse. Nim das sehen wir ja heute, wie wir auch den Dank dafür ernten, daß wir immer unseren Wunsch friedlicher und freundlicher Nachbarschaft bekundeten. Ein solches Maß von gutem Willen und Objektivität konnte sich das realer denkende Ausland bei unserer Weltlage überhaupt nicht vorstellen, es witterte daher hinter unseren so ehrlichen Erklärungen, daß wir gegen niemand etwas im Schilde führten, geheime, ganz besonders machiavellistische Pläne.
6i Daß sich dagegen unsere Feinde dem Auslande wie dem eigenen Volke als Hüter und Vorkämpfer europäischer Zivilisation und Freiheit zu suggerieren gewußt, habe ich schon berührt. Welche gewaltige Wirkung mußte aber auch auf der Phantasie der Russen zum Beispiel Konstantinopel mit seiner geschichtlichen und religiösen Tradition ausüben, während es für die Gegenwart die Herrschaft über den Balkan und Kleinasien zu verbürgen schien. So hat auch das Ziel der Wiedereroberung Elsaß-Lothringens die in scheinbar heillosen Parteikämpfen gespalteten Franzosen doch wieder zu vereinigen vermocht. Uns aber würde die Abkehr vom Geiste Bismarcks zu dem etwa des 18. Jahrhunderts mit seinen Idealen einer westeuropäischen Kultur und seiner Überschätzung des reinen Intellekts in Zukunft ebensowenig zur inneren Einigung kommen lassen, wie uns unsere Friedensliebe den Weltkrieg erspart hat. Einigen könnten uns nur gemeinsame Ziele, die die ganze Phantasie unseres ganzen Volkes erfüllen und alle Kräfte des Willens auszulösen vermöchten. Nicht der Versuch einer Ausschaltung geistiger Kämpfe, sondern nur die begeisterte Liebe zum gemeinsamen Vaterlande und seiner geschichtlich gewordenen Kultur könnte die wirtschaftlichen und sozialen wie die Gegensätze der Weltanschauung überwinden, die unser Volk heute auf das tiefste bewegen. Daß wir uns auch heute noch nicht von diesem Zuge zum Auslande befreien konnten, ist auch in anderen Parlamenten beklagt worden, so namentlich, daß selbst während des Krieges bei der Behandlung durch den Zensor jene Blätter, die aufbauen auf den Tendenzen einer westlichen Kultur, einer gewissermaßen k o s m o p o l i t i s c h gesinnten Freunsdchaftlichkeit gegen die Weststaaten, den Vorzug genießen vor denen mit stark n a t i o n a l e n Tendenzen. Aber ist es denn wirklich diese w e s t e u r o p ä i s c h e Z i v i l i s a t i o n auch für unser Volk das erstrebenswerte Ideal, wie es unsere Feinde glauben machen wollen? Gewiß hat keine Kultur der Welt je ganz auf sich gestanden, wie viel weniger unsere deutsche. Wer könnte, wer möchte aus ihr vor allem die Elemente des Christentums und dann die der Antike wegdenken ? Diese beiden haben wir uns völlig angeeignet, sie sind untrennbare Bestandteile unserer Bildung geworden, ja gerade sie haben ihr Ewigkeitswert verliehen. Aber trotzdem ist unsere Kultur bodenbeständig geblieben und das verleiht ihr ihren Wert nicht nur für uns, nein für die ganze Welt. Wie die Bildung Athens gerade deshalb, weil sie ursprünglich ist, der übertragenen, kosmopolitischen Alexandriens weit
62 überlegen ist, so wird auch unser Volk für das ganze Universum ledig lieh aus eigener Kraft dauernd Wertvolles schaffen können. Nur sinkende Zeiten hegen kosmopolitische Neigungen, man sammelt und sichtet Eigenes und Fremdes, wenn die Schöpfungskraft versiegt ist, wie man am Abend auf das vollbrachte Werk zurückschaut. Für uns aber ist noch voller Tag mit allen seinen Mühen und Kämpfen. Von einer hohen Warte aus hat der Berichterstatter des preußischen Abgeordnetenhauses, Herr v. d. O s t e n - W a r n i t z , darauf hingewiesen, wie bei der diesen späten Zeiten eigentümlichen Rationalisierung die Würdigimg des Lebens selber und die Erkenntnis für seine praktischen Kräfte verloren geht, wie aus der Welt allmählich ein System von Schatten und Schemen wird, das mit der Wirklichkeit wenig mehr gemein hat. Er hat dann mit besonderem Nachdruck die Bedeutung der M ä c h t e des Willens, der K r a f t u n d der P h a n t a s i e auch im politischen Leben hervorgehoben und die Reichsregierimg aufgefordert nach dem Beispiele Bismarcks, diese sehr realen Machtfaktoren auch in diesem Weltenkriege zu entfesseln. Diese Betonung der wahren Quellen nationaler Machtentfaltung sollte gerade bei uns im temperamentvollen Süden lauten Widerhall finden, wie ja auch der Norden mit dankbarer Begeisterung die erhebenden Worte, daß unserem Volke nicht der Preis des furchtbaren Ringens vorenthalten werden dürfe, vernahm, die von hier zu ihm hinüberschallten. Auch unser heißer Wunsch ist es, daß die Reichsregierung neben den Faktoren der Kraft und der militärischen Gewalt auch die immateriellen und idealen Faktoren sich auswirken lasse, die in unserem Volke in so reichem Maße vorhanden sind. Das würde im Lande das Vertrauen zur Regierung stärken und unsere Zukunft verbürgen. Diese Kräfte wachrufen, heißt n i c h t b l i n d e n H a ß erwecken. Denn es ist eine hohe Tugend unseres Volkes, und gerade der von unserem Feinde so sehr geschmähte Treitschke hat dies an ihm gerühmt, daß es auch die Vorzüge des Gegners zu schätzen vermag. Ohnmächtige Wut äußert sich in den niedrigsten Verleumdungen, wie die Feigste am lautesten prahlt. Ziert nicht Großmut gerade den, der sich seiner Stärke bewußt ist ? Waren nicht unsere tapfersten Kämpfer stets ritterlich gegen die Person des überwundenen Feindes ? Wahre Größe hat sich immer von Übermenschentum ferngehalten, aber alle Kräfte des Willens und der Begeisterung eingesetzt zur Erreichung des einmal erkannten Zieles. Gerade das Volk hat dies immer richtig gefühlt und die angeborene Farbe der Ent-
63 Schließung der Blässe des Gedankens vorgezogen, aus der richtigen Empfindung heraus, daß, nach einem Rankeschen Worte, aus dem Choc entgegenstehender Kräfte sich der Fortschritt der Weltgeschichte vollziehe. Die Helden, die Männer der freudigen Tat sind daher stets die Lieblinge des Volkes gewesen; ihrer Führung hat es stets blind vertraut. Diese Entfaltung aller geistigen, sittlichen und religiösen Kräfte soll uns a u c h n a c h dem Kriege erhalten bleiben, sie soll uns hinüberführen über den kleinlichen Zank der Parteien, den heute der Burgfrieden kaum überdeckt. Auch hier kann es sich nicht darum handeln, eine blasse Mittellinie zu finden, auf der alle im Wege des Kompromisses sich einigen könnten. Wer möchte sich in vaterländischen, in religiösen Fragen zu Kompromissen verstehen ? Die wahren Führer des Volkes gewiß nicht! Ihrer aber bedürfen wir erst recht nach dem Kriege, wenn es gilt, die Wunden zu heilen und Zerstörtes neu aufzubauen. Wer wollte bei diesem Wettkampfe der Geister die großen treibenden Kräfte der Überzeugungstreue, des Temperaments und des Charakters ausgeschaltet sehen ? Was wir uns erringen müssen, ist, daß jeder auch bei dem Gegner die Überzeugung achtet, die nach bestem Wissen und Gewissen das Wohl unseres Volkes erstrebt, daß aber alle das Gefühl des großen gemeinsamen Ganzen durchdringt. Dann kann selbst die durch unsere Geschichte bedingte, so oft beklagte Verschiedenheit der Weltanschauungen als Zeichen unseres geistigen Reichtums segensreich wirken und uns auch das Verständnis anderer Völker erschließen. Nicht ängstlich sollten daher die verbündeten Regierungen die Geister zu bannen suchen, sie sollte sie vielmehr entfesseln, in sich selber aber die Kraft und den Willen finden, alle zum gemeinsamen Vaterlande hinzuführen. Wird aber unser g e b i l d e t e s B ü r g e r t u m auch dann noch teilnahmslos zur Seite stehen, wird es auch dann noch nicht erkennen, daß es berufen und verpflichtet sei, sich mit den Fragen der inneren und äußeren Politik ernstlich zu befassen ? An unsere Gebildeten ergeht die Mahnung zur Vertiefung an Stelle materialistischer Verflachung, die ehrfurchtslos den großen Rätseln des Lebens gegenübersteht. Statt immer neuen Reizen nachzujagen, statt jede fremde Strömung sich anzuempfinden, müssen sie der Väter kulturelles und politisches Erbe erst erwerben, um es sicher zu besitzen. Trotzdem warnt gerade die h e u t e offiziöse Presse vor nationaler Beschränktheit, gerade sie verlangt, daß wir uns an die politischen Institutionen
64 unserer fortgeschrittensten Feinde anpassen, und verheißt uns dann zum Lohne dafür die Aufnahme in die europäische Gemeinbürgerschaft. Für mich lehrt dieser Krieg, daß unsere innerstaatlichen Einrichtungen — und nur um diese handelt es sich bei diesem Etat — diese furchtbare Probe eines Kampfes gegen eine Welt in Waffen glänzend bestanden haben. Sollte die Reichsregierung aus diesem Kriege eine andere Lehre ziehen, sollte auch sie zu ihrer Stütze nach dem p a r l a m e n t a r i s c h e n R e g i m e verlangen ? Ihre offiziösen Organe könnten es glauben machen und verletzen dabei durch ihre Neigung zu fremden Importen — kulturellen und politischen —, durch ihre zarte Rücksichtnahme selbst auf imberechtigte Gefühle des Auslandes, das vaterländische Empfinden weiter Kreise unseres Volkes, die einer energischen nationalen Führung begeistert zujubeln würden. Haben sich denn die vielgepriesenen freiheitlichen Institutionen unserer westlichen Gegner in und vor dem Kriege wirklich so glänzend bewährt ? Das vielberufene älteste Parlament der Welt hat von dem zum Kriege treibenden Machenschaften seiner Leiter ebensowenig eine Ahnung gehabt, als die Mehrheit der italienischen Volksvertretung den Kriegshetzereien der Gasse widerstehen konnte! P f l i c h t e i n e r d e u t s c h e n R e g i e r u n g aber ist es, deutsches Wesen im Innern zu pflegen und ihm nach außen die gebührende Geltung zu verschaffen, ihre Kraft wird sie nicht sowohl in moralischen Eroberungen in der Fremde, sondern vor allem in den national empfindenden Schichten des eigenen Volkes finden müssen. Auch in einer der ernstesten Fragen des nationalen Lebens scheint das deutsche Volk in diesem Jahrhundert den verhängnisvollen Einwirkungen der westlichen Zivilisation, die bestimmt scheint, ihr eigenes Grab zu graben, gefolgt zu sein. Schon vor dem Kriege hat das Problem des G e b u r t e n r ü c k g a n g e s uns her beschäftigt, und ich glaubte mich in Ihrem Hohen Ausschusse den Ausführungen meines sehr verehrten Herrn Vorgängers im Referate wie denen über öffentliche Moral völlig anschließen zu sollen. Wenn ich nun doch hier auf den Geburtenrückgang zurückkomme, so geschieht es um deswillen, weil bei den Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhause der Regierungsvertreter, Geheimrat Dr. K r o h n e , erschreckende Tatsachen bekanntgab, die in ganz Deutschland berechtigtes Aufsehen erregt haben. Daß der Geburtenrückgang in Frankreich einen bedrohlichen Charakter annahm, war ja längst bekannt. Schon im Jahre 1 9 1 1 überstieg dort die Zahl der Todesfälle die der Geburten, in der ersten Hälfte des Jahres
65 1914 überwogen erstere um 25000. Die Kriegspolitik der französischen Staatsmänner muß schon deshalb als ein ungeheurer Frevel an ihrem eigenen Volke erscheinen. Während sich auch in Belgien und England die Verhältnisse sichtlich verschlechtern, schien die Gesundheit unserer Zustände noch an die Zeiten zu erinnern, wo Tacitus die Germanen seinen entarteten Landsleuten als leuchtendes Vorbild hinstellte. Wir erreichten den Höchststand der Lebendgeburten auf 1000 Personen im Jahre 1876 mit 40,9 — in Bayern sogar 44,2 — , und der langsame Geburtenrückgang schien bis zur Jahrhundertwende durch eine merkliche Abnahme der Todesfälle mehr wie ausgeglichen. Dann aber folgte seit 1900 in 13 Jahren ein plötzlicher Geburtenabsturz von 35 auf 27 — in Bayern*) von 37,9 auf 29,4 — ein Absturz, wie ihn kein Kulturvolk in so kurzer Zeit erlebt hat. Während in Deutschland 1900 476000 Ehen geschlossen wurden, im Jahre 1913 aber 510000, war die Zahl der 1913 geborenen Kinder um 166000 geringer als im Jahre 1900. Der Überschuß der Geburten über die Todesfälle betrug in Bayern auf 1000 der mittleren Bevölkerung 1913 in den Städten 7,6 auf dem Lande 13, in München 6,4. Im Jahre 1910 hatte dieser Geburtenüberschuß in Deutschland 13,6, in Frankreich 1,8, in Belgien 8,5, in Großbritannien 11,4, in unseren bayerischen Städten 8,5, dieselbe Zahl wie in Belgien, auf dem Lande 13,8, in der Pfalz 16,8 betragen. Seit 1900 hat in Deutschland die Sterblichkeit um 4,4 auf 1000 abgenommen, die Geburtenziffer aber um 7,7, das heißt, sie ist um 75 Prozent stärker gesunken als unsere Sterblichkeit! Diese Zahlen reden doch eine furchtbar beredte Sprache. Wie werden wir uns künftig einer Welt von Feinden erwehren können, wenn unsere Volkskraft versiegt, wie einst in Hellas und Rom, wie heute in Frankreich? Diese Fragen zwingen uns zu ernster Einkehr und zur Prüfung der diesen Erscheinungen zugrunde *) Geborene und Geburtenüberschuß, berechnet auf 1000 der mittleren Bevölkerung.
Geburten: 1876 1900 1913
Deutschland 4°.9 35 — 27,—
Bayern 44.2 37.9
Deutschland
Bayern 12,1 ".3 II.5
1876
14,6
1900
13.6
1913
12.5
29.4
v. B u h l , Reden und Aufsitze.
Städte 42.3 36,2
23.8 Üb erschuß: Stidte
9.1 IO,I 7.6
Land 44,6 38.4 31.5
München
Land 12,8 II.7 I3.°
Manchen
Pfalz 44.8 39 — 29,2
41.1 37 — 21,7
Pfalz 21, 17.7 13.9
9.7
10,7
6,4 5
66 liegenden Ursachen. Zunächst fällt dieser Geburtenabsturz in eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs. Damit soll gewiß nicht gesagt werden, daß zur Abwehr nicht auch wirtschaftliche Maßregeln ergriffen werden müssen, es kann ja gar nicht bestritten werden, daß die Wohnungsfrage, besonders in den Städten, hier eine bedeutsame Rolle spielt. Nach der Anschauung des von mir vorhin erwähnten Sachverständigen Geheimrat Dr. K r o h n e kann aber von einer Rassenverschlechterung keine Rede sein, ja selbst die furchtbaren Geißeln der Volkswohlfahrt, die Geschlechtskrankheiten und der Alkoholismus, hätten in den letzten Jahren eher abgenommen. Bedrohlich zugenommen zu haben scheint aber die Zahl der Verbrechen gegen das keimende Leben, und immer aufdringlicher macht sich, bis in die letzten Dörfer hinein, die Anpreisung der empfängnisverhütenden Mittel breit. Dem Wunsche nach einem reichsgesetzlichen Verbote solcher Mittel hat sich auch der preußische Minister des Innern angeschlossen, und ich hege das feste Vertrauen, daß auch die K. Bayerische Staatsregierung im gleichen Sinne wirken wird. Doch dürfen wir nicht verkennen, daß es sich bei alledem nur um eine Bekämpfung der Symptome handelt, daß aber die Ursache selbst tiefer liegt. Die Beschränkung ist gewollt, nicht durch Natur oder Not verursacht. Es handelt sich hier also nicht so sehr um eine soziale und wirtschaftliche, sondern in erster Linie um eine F r a g e der Moral, wie auch der preußische Minister des Innern anerkannt hat. Von diesem Standpunkt aus hat die Frage schon 1909 der Bischof von Regensburg, dann 1913 der gemeinsame Hirtenbrief der norddeutschen Bischöfe beleuchtet, dessen hoher sittlicher Ernst auch auf Angehörige anderer Konfessionen tiefen Eindruck gemacht hat. Daß die s i t t l i c h - r e l i giöse E r n e u e r u n g der V o l k s g e s i n n u n g die Hauptsache bleibt, wie Julius Wolf, der Vorsitzende der Gesellschaft für Bevölkerungspolitik es ausdrückt, darauf scheinen auch die Erfahrungen in Frankreich hinzudeuten, wo gerade die reichsten Departements auf demLande, die neuzeitlichen Anschauungen huldigen, eine ebenso starke Bevölkerungsabnahme zeigen wie die Großstädte, während die ärmere Bretagne, die ihren religiösen Traditionen treu geblieben ist, immer noch eine Zunahme aufweist. Wie dem auch sei, wir alle sollten an das religiöse, vaterländische und soziale Gewissen unseres Volkes und ganz besonders unserer gebildeten Stände appellieren. Vor dem Kriege hat gerade in den wohlhabenden Schichten mit steigendem Reichtum das Bedürfnis nach Luxus, nach neuen fremdartigen Genüssen bedenklich
67 zugenommen, die Sucht sich auszuleben, ein mit schwächlichem Ästhetentum seltsam gepaartes Ubermenschentum die alte schlichte Art der Väter, die diese doch auf die höchsten geistigen Höhen geführt hatte, zurückgedrängt, und dieses Beispiel hat leider auf weite Kreise unseres Volkes verheerend gewirkt. Möge auch hier der Krieg der große Erneuerer sein, der ja so eindringlich lehrt, wie wenig der einzelne losgelöst bedeutet, wie er sich deshalb nicht schrankenlos den vermeintlichen Rechten seiner Individualität hingeben, sondern als bescheidenes Glied sich in das große Ganze einfügen muß. Mögen gerade die sozial gehobenen Schichten bedenken, daß die unerbittliche Logik der Weltgeschichte sie dann immer ihrer führenden Stellung beraubt hat, wenn sie sich ihrer Pflichten gegen die Gesellschaft entschlugen.
Auszug aus dem Bericht zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Landwirtschaft, Kammer der Reichsräte. 22. MSrz 1916. Meine hohen Herren! Es dürfte doch wohl weiteren Kreisen in diesem Kriege klar geworden sein, wie wir es der deutschen Landwirtschaft in allererster Linie verdanken, wenn der Plan unserer Gegner, uns durch Aushungerung zu einem schmählichen Frieden zu zwingen, scheitern muß. Nicht so allgemein bekannt ist es, daß unsere heimische Landwirtschaft ihre Leistungsfähigkeit gerade in letzter Zeit gewaltig gesteigert hat, daß also neben der weltbekannten und weltbeneideten Entwicklung unserer Industrie und unseres Handels auch ein ebenso erfreulicher Aufschwung unserer Landwirtschaft stattgefunden hat, so daß auch hier unser werktätiges Volk mit an der Spitze der Welt steht. Die Statistik der letzten 25 Jahre lehrt uns, daß in dieser Zeit die landwirtschaftlich benutzte Fläche sich nur in bescheidenem Maße vermehrt hat, ja daß trotz unserer starken Volksvermehrung die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen abgenommen hat und daher ihr prozentualer Anteil von 1882 bis 1907 von 4 2 , 5 % auf 28,6% gesunken ist. Außerordentüch gestiegen sind aber die Erträge der landwirtschaftlichen Produktion; es wurden also auf den Hektar weit höhere Durchschnittsernten erzielt, jede K u h gab durchschnittlich einen höheren und fettreicheren Milchertrag, das Schlachtvieh setzte reichlicher und schneller Fleisch an. Da für uns die Erträge der drei wichtigsten Nahrungspflanzen, des Weizens, des Roggens und der Kartoffel, von besonderer Bedeutung sind, so möge mir gestattet sein, hier statistische Zahlen anzuführen, die ich vornehmlich dem Werke: »Die Deutsche Landwirtschaft unter Kaiser Wilhelm II« von Professor Dr. Dade, entnehme. Danach hat Deutschland auf den Hektar in den Jahren 1885—90 durchschnittlich
69 I 5 , i dz Weizen, n , 8 dz Roggen und 101,8 dz Kartoffeln geerntet, während 1912/13 22,6 dz Weizen, 18,5 dz Roggen und 150,3 dz Kartoffeln erzielt wurden. Das bedeutet in der gleichen Zeit eine Steigerung der Getreideernte von 18 auf 26 Mill. t oder von 46,3%; der Ertrag an Kartoffeln ist um 48,9% von 29,7 auf 44,2 Mill. gestiegen, also um fast 15 Mill. t, ein Überschuß, der für sich allein etwa dem heutigen Bedarf der deutschen Bevölkerung nach Kartoffelnahrung entspricht. Die Erträgnisse sind also stärker gewachsen als die Bevölkerung; wir sind somit gegen die Gefahr der Aushungerung heute besser geschützt als vor 25 Jahren. Am auffallendsten aber tritt die Leistungsfähigkeit unserer Landwirtschaft in die Erscheinimg, wenn wir unsere Erträge mit denen unserer Feinde und der Vereinigten Staaten Amerikas im Vergleich stellen. Da ist zunächst bekannt, daß England glaubte, seinen Ackerbau seiner industriellen und kommerziellen Entwicklung zum Opfer bringen zu müssen. Man tat dies freudigen Herzens, ohne freilich die soziale Wirkung der Aufhebung der Kornzölle voraussehen zu können. Wir freilich sind, wie die meisten kontinentalen Staaten, andere Wege gegangen, wir haben unsere blühende Landwirtschaft erhalten, ohne daß dadurch der gewaltige Aufschwung unserer Industrie oder unseres Handels irgendwie gehemmt worden wäre. In England stehen denn auch nur 26,8% des Bodens noch unter dem Pflug, der Bauernstand ist in Großbritannien fast verschwunden, in Irland in schwerer Notlage, während bei uns 50%, in Frankreich 47,6% des Bodens noch dem eigentlichen Ackerbau dienen. Vergleicht man nun die Durchschnittserträge etwa für Weizen und Kartoffeln, so trug der Hektar in Deutschland 1906—1910 20,1 dz Weizen und 136 dz Kartoffeln (1912 150 dz), in Frankreich 13,6 dz Weizen und 86 dz Kartoffeln, in Italien 9,3 dz und 60 dz, während die Zahlen für die gewaltigen Flächen Rußlands 6,05 dz Weizen und 72 (1912 81,7) dz Kartoffeln, für Amerika 9,8 dz Weizen und 65 dz Kartoffeln lauten. In England, wo natürlich nur der ertragreichste Boden für den Ackerbau verwendet werden kann, sind die Zahlen für den Weizen etwas höher (nämlich 22,1 dz), für die Kartoffeln aber gleich. Der englischen Bevölkerung stehen aber doch nur 6 Mill. t heimischen Getreides gegenüber unseren 25 Mill. t, 6,5 Mill. t heimische Kartoffeln gegenüber unseren 45 Mill. zur Verfügung. Nachrichten aus Frankreich besagen, daß dieses Land trotz seiner geringen Volksdichtigkeit im ersten Kriegsjahre genötigt war, 2 Mill. t Weizen im
70 Werte von 660 Mill. Fr. Gold einzuführen. Für die Einfuhr von Kartoffeln stehen aber, seit wir, unsere Verbündeten und Rußland ausscheiden, Importländer nicht mehr zur Verfügung, so daß dort bei der diesjährigen schlechten Ernte mit einer Kartoffelnot zu rechnen ist. Der russische Ministerrat hat im November vorigen Jahres einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem die Gouvernements um Petersburg und Finnland als von Lebensmittelnot bedroht erklärt werden. Daß Italien zu seiner verhängnisvollen Politik durch die mangelhaft gesicherte Volksernähnmg mitbestimmt wurde, ist ja bekannt, aber auch einem englischen Staatsmann muß es doch schwere Sorge bereiten, wenn schon im Frieden sein Vaterland allein für Weizen jährlich eine Milliarde an das Ausland zahlen muß. Mehr noch erfordert seine Fleischversorgung, da drei Viertel der gesamten Weltausfuhr für den englischen Markt benötigt wird. Im Kriege führt aber der Mangel an Schiffen zu einer Erhöhung der Frachtsätze, die sich zum Teil verzehnfacht haben, und die dadurch bedingte Teuerung der wichtigsten Lebensmittel wird noch dadurch verschärft, daß auch die Erzeugnisse der See durch den Rückgang der Fischerei um 7 5 % im Preise gestiegen sind. Wohin aber würde England kommen, wenn es einst die Herrschaft über die See einbüßen würde? Unsere Landwirtschaft stellte jedem Einwohner 1912 140 kg Roggen, 87,6 kg Weizen und (1907) 46,2 kg Fleisch zur Verfügung. Vor 25 Jahren waren die Zahlen 135 kg Roggen, 69,3 kg Weizen und 29,3 kg Fleisch. Am gewaltigsten ist aber die Ertragssteigerung bei der Kartoffel, wie schon oben ausgeführt ist, hier bleibt ein gewaltiger Überschuß für die Viehhaltung, der auch die Steigerung der Wiesenerträge um 7 Mill. t in den letzten Jahren zugute kommt. Diese günstige Lage verdanken wir in allererster Linie der immer intensiveren Bodenbearbeitung, die Maschine findet immer häufigere Verwendung, und im Reichsanzeiger vom 15. Dezember 1915 wird angegeben, daß 1912 auf den Quadratkilometer Anbaufläche Deutschland 1322 kg, England 189 kg und Frankreich 97 kg Düngesalz verwandten. Aus dieser Ertragssteigerung unserer deutschen Landwirtschaft dürfte wohl der Schluß zu ziehen sein, daß hier die Entwicklung einen hochbefriedigenden Verlauf genommen hat. Wir müssen uns deshalb hüten, mit rauher Hand einzugreifen und so hemmend und verwirrend zu wirken. Es verdankt unsere Landwirtschaft ihre Entwicklung einmal unserer Wirtschaftspolitik, dann dem Zusammenarbeiten von
7i Wissenschaft und Praxis sowie dem deutschen Organisationsgeiste. Ein reich entwickeltes Genossenschaftswesen, mannigfache Fachvereine mit und ohne politischen Anstrich haben die Ergebnisse deutscher Forschung in den weitesten Kreisen verbreitet und für ihre praktische Verwertung gesorgt. Staatliche Förderung hat erheblich zum Aufschwung mitgewirkt, wir dürfen aber nicht verkennen, daß auch die deutsche Landwirtschaft ihre größten Erfolge der P r i v a t i n i t i a t i v e verdankt. Diesen Geist der Initiative, die sich mehr auf sich selbst als auf den Staat verläßt, zu erhalten und zu pflegen, muß daher auch die Aufgabe einer künftigen Gesetzgebung sein. Unsere heutige landwirtschaftliche Besitzverteilung, die eine glückliche Mischung mittleren und größeren Besitzes darstellt, ist einer selbstsicheren Entwicklung durchaus günstig. Wir sind gleich weit entfernt von den rückständigen Verhältnissen der romanischen und slawischen Landwirtschaft wie von dem Latifundienwesen Englands. Deutschland und besonders Bayern sind im wesentlichen Bauernländer geblieben, und die große Mehrzahl der Besitzer stehen als Eigentümer auf ihrer Scholle. Die Zahl der großen Betriebe, zu denen wir ja schon Güter über 100 ha rechnen, ist in Bayern eine sehr bescheidene, die zudem von 1895—1907 von 621 auf 535 gesunken ist, ihr Anteil an der landwirtschaftlich benutzten Fläche beträgt nur 2,2%, was etwa einem Zehntel des Reichsdurchschnittes entspricht. Wir dürfen nicht vergessen, wie gerade der größere Grundbesitz durch sein Beispiel wirkt. Ihm verdanken wir hauptsächlich die Einführung eines intensiveren Betriebs mit Maschinen, er hat gezeigt, wie man durch rationelle Düngung und Bearbeitung auch leichteren Böden noch lohnende Ernten abgewinnen kann, er hat ferner durch landwirtschaftliche Nebenbetriebe das Nationalvermögen sehr erheblich bereichert. Selbst die Genossenschaft kann ihn hier nicht voll ersetzen, und es muß doch nachdenklich stimmen, wenn in der neueren Zeit die Intensität der Bewirtschaftung im Norden stärker steigt als im Süden oder Westen. Der Vertreter der K. Staatsregierung hat dies bestätigt und darauf hingewiesen, daß gerade auf den leichten Böden Norddeutschlands durch die Verwendung künstlicher Dünger, besonders des Kalis, die Intensität gegenüber dem früheren Ernteergebnisse gewaltig gesteigert ist, während die schweren Böden Bayerns schon früher verhältnismäßig lohnende Erträge abwarfen. Daß auch bei Kleinbesitz unter günstigen Verhältnissen eine hohe Intensität möglich ist, beweisen die Pfälzer
72 Ergebnisse, die mit 24,1 dz Weizen lind 197 dz Kartoffeln (1913) die englischen übertrafen. Mit seinem maschinellen Betriebe liefert aber der größere Besitz ein Anschauungsmaterial, wie es durch auch noch so gründliche mündliche und schriftliche Belehrung nicht ersetzt werden kann. Ganz direkt verdanken wir aber die Intensität dem immer mehr verbesserten Saatgut, dessen hauptsächlichste Züchter, die sich Weltruf erwarben, größere Besitzer und Domänenpächter sind. Bei der Viehzucht teilen sich Gutsbesitzer und Bauer in den Ruhm, durch rationelle Züchtung schnellwüchsiger Tiere und frühreifer Tiere im Frieden 9 5 % des heimischen Bedarfs an Fleisch gedeckt zu haben, während zu gleicher Zeit die Milchproduktion durch Züchtung und Fütterung etwa auf das Anderthalbfache des Durchschnittsergebnisses einer Kuh stieg. Daß die Landwirtschaft damit zunächst auf die Erzielung einer Rente arbeitet, ist volkswirtschaftlich entschieden zu begrüßen, denn der sogenannte Luxusbetrieb, der nicht rechnen muß, gibt einmal ein unwirtschaftliches Beispiel, dann aber besteht bei ihm die Gefahr, daß der Boden seiner natürlichen Benützung entzogen wird. Diese Gefahr ist ja bei uns jedem Gymnasiasten bekannt, der aus seinem Horaz und Tacitus von den römischen Latifundien und den Extravaganzen ihrer Besitzer hört; bei unseren Bodenpreisen und unserer Volksdichtigkeit steht aber kaum zu befürchten, daß weite Strecken Landes etwa zu extensivem Weidebetriebe oder zur Züchtung von allerlei exotischem Getier verwandt würden. Latifundien finden sich entweder in Ländern sehr primitiver Kultur, oder sie werden durch eine verkehrte Gesetzgebung geschaffen, wie in England. Was nun den so viel angefeindeten befestigten Grundbesitz anlangt, so wird der Wirtschaftspolitiker zugeben müssen, daß ihm eine hohe Bedeutung für die Waldpflege zukommt, die ja nur dann nachhaltig betrieben werden kann, wenn ihr eine lange Besitzdauer gewährleistet wird. Als Gegenbeispiel möge Frankreich dienen, dessen viel beklagte Entwaldung eine direkte Folge der Besitzumwälzung in der Französischen Revolution ist. Überhaupt hat die Zivilgesetzgebimg der Französischen Revolution auf die Landwirtschaft ungünstig gewirkt. Das Pflichtteilrecht wurde von Napoleon hauptsächlich deshalb eingeführt, um den großen landwirtschaftlichen Besitz, bei dem er eine Vorliebe für die alte Monarchie voraussetzte, zu zersplittern. Das Ziel wurde erreicht, daneben aber als Abwehr das Zweikindersystem. Daher ist auch ganz im Gegen-
73 satz zu uns der Rückgang der französischen Bevölkerung gerade in den ländlichen Departements am stärksten. Ich kann aus eigener Anschauung versichern, daß die französische Landwirtschaft im ganzen, bei aller anerkennenwerten Leistung einzelner, trotz der Gunst des Klimas und des Arbeitsgeschickes der Franzosen der deutschen an Intensität weit nachsteht, ja entschieden rückständig ist. Es fehlt das Beispiel des großen Besitzes, der dort vielfach Luxuszwecken meist abwesender Kapitalisten dient, und unser Genossenschaftswesen, das bei der Parteizerklüftung sich auch kaum je entwickeln kann. Dagegen darf man im allgemeinen die Verteilung des deutschen Besitzes eine glückliche nennen, jedenfalls hat sich ganz im Gegensatz zur Industrie bei der Landwirtschaft der mittlere Besitz nicht nur erhalten, sondern sogar vermehrt. Heute darf uns aber diese Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft mit der sicheren Hoffnung erfüllen, daß wir, wenn auch unter mancherlei Entbehrungen und Einschränkungen, diese schwere Zeit des Krieges durchzuhalten vermögen. Das Pflichtbewußtsein unserer ländlichen Bevölkerung, das deutsche Organisationstalent haben sich auch im Kriege glänzend bewährt. Die mustergültige Bestellung des von unseren Truppen besetzten Feindeslandes mag jenen französischen Praktikern als widerwillig anerkanntes Beispiel vorschweben, wenn sie für den eigenen Boden, der n i c h t m e h r genügend bestellt wird, einen militärisch organisierten Anbau fordern. Schon vor dem Kriege hat der russische Staatsmann Kriwoschein die Landwirte seines unermeßlichen Vaterlandes nach deutschem Vorbild zu organisieren versucht, wie ja die Zaren schon vor Jahrhunderten heute so schlecht gelohnte deutsche Bauern als Kolonisatoren in ihr Reich riefen. Bei uns selbst sind aber die Verdienste unserer Landwirtschaft vor dem Kriege oft verkannt worden, möge nach demselben die Überzeugung allgemein werden, daß es ein Lebensinteresse unseres Volkes ist, die Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, ebenso wie die der Industrie ungeschwächt zu erhalten und nach Möglichkeit noch zu steigern.
Französische Revanchepolitik
und die Neuromantik der gesta Dei per Francos. Süddeutsche Monatshefte, Januar 1917-
Wir haben im Kriege gelobt, daß wir nicht mehr sentimental sein wollen. Selbst der Widerstrebende muß ja erkennen, daß allein rücksichtsloses Handeln zum Ziele — dem ehrenvollen Frieden — führen kann — und daß diese Art, den Krieg zu führen, weil die kürzeste — auch die menschlichste ist. Manche von uns haben sich dabei, einem Zuge unseres Wesens folgend, nach einem fremden Beispiel umgesehen, und sind nun bestrebt, englischer als die Engländer, machiavellistischer als die Italiener zu erscheinen. Gewiß kann man auch vom Feinde lernen — diese Ausführungen sollen selbst dazu anregen — aber allzu gewaltsamen guten Vorsätzen ist die Dauer selten beschieden, und zum Gewaltmenschen — sei es in angelsächsischer oder in Renaissanceprägung — steckt uns der Professor doch noch zu sehr im Leibe. Freilich schien gerade in der letzten Zeit vor dem Kriege der deutsche Professor •— in auffallendem Gegensatz zum neunzehnten Jahrhundert — soweit es nicht sein Fach geradezu erforderte, sich dem politischen Getriebe fast völlig zu entziehen. Selbst diejenigen Politiker nun, die sonst die weltfremden Theorien des Professorenparlaments in der Paulskirche am lautesten verspottet hatten, haben die Stimme des deutschen Gelehrten in den politischen Kämpfen der letzten Jahre schmerzlich vermißt. So wahr es ist und so eindringlich es hervorgehoben werden muß, daß in den schicksalsschwersten Stunden den Männern der Tat ebenso das entscheidende Wort gebührt, wie bei den wirtschaftlichen Vorbereitungen vor allem die nüchterne Stimme der Praxis gehört werden muß, so darf darüber doch nicht vergessen werden, daß hinter all den Kämpfen unserer Tage große geistige Gegensätze stehen, die mit geistigen Waffen ausgefochten werden müssen. Diese Ideale sind es aber doch wohl in erster Linie, die uns Mut zum Ausharren geben, wie wir ja auch auf sie bauen, daß sie unseren Kampf als guten vor der Nach-
75 weit erscheinen lassen. Wie steht es aber mit der Mitwelt ? Ihr zuliebe bemühen wir uns doch so über alle Maßen objektiv zu sein, ihr zuliebe glauben wir doch, die leicht allzu laute Sprache der Begeisterung dämpfen zu müssen, so willkommen auch Begeisterung sein müßte, um dem eigenen Volke über das Schwere hinwegzuhelfen — und doch scheint diese Mitwelt eher auf der Seite der Franzosen zu stehen, die sich so gar nicht bemühen, objektiv zu bleiben, die nicht nur Begeisterung, nein auch fanatischen Haß gegen uns im eigenen Volke und nicht bei diesem allein zu erwecken gewußt haben. Gerade die Franzosen sind doch von jeher gewohnt, sich selbst in das hellste Licht zu stellen, und trotzdem ist es ihnen nur allzu oft gelungen, wiederum nicht nur das eigene Volk von dem gesta Dei per Francos — den Taten Gottes durch Frankreich — zu überzeugen. Von Interesse dürfte indeß sein, daß in letzter Zeit neben der republikanischen Propaganda auch eine romantische Strömung einsetzte, um den Ruhm Frankreichs im letzten Jahrtausend zu verkünden. Dies ist zunächst wohl geeignet, in uns eine schmerzliche Erinnerung daran wachzurufen, wieviel die deutsche romantische Schule zu jenem Feuer der Begeisterung beigetragen hat, das unsere Jugend in die Freiheitskriege hineinriß, wie dann später unser Bürgertum — gerade vom Gedanken an die alte deutsche Macht und Herrlichkeit aus — die Neuerstehung des Vaterlandes ersehnte, wobei dann freilich eine selten glückliche Fügung die Vollendung des Werkes, wie es diesen Idealisten vorschwebte, den Händen eines der gewaltigsten Realisten anvertraute, den je die Weltgeschichte gesehen. Während damals jedem Auge der tiefe Sinn des blutigen Ringens um die deutsche Kaiserkrone klar war, standen wir jetzt plötzüch, ohne jede geistige Vorbereitung mitten in dem uns aufgezwungenen Weltkrieg. Selbst die Jahrhundertfeier des glorreichen Befreiungskriegs, dem wir doch unser ganzes staatliches Dasein verdanken, hatte wenig mehr als einige schwungvolle Reden gebracht, ja die deutsche Dichtkunst hatte nichts zu bieten gehabt als ein tändelndes Puppenspiel, wie sie auch im Kriege bettelarm geblieben ist. Auch diese Eindrücke waren untergegangen unter dem ödesten Parteigezänk zwischen Verbrauchern und Erzeugern, zwischen Nord und Süd, bei der unerquicklichen Erörterung über Militärgewalt und bürgerliche Freiheit, die sich an den Zaberner Fall anschloß. Diese unsere Haltung bei Ausbruch des Weltkrieges, verglichen mit der Frankreichs, könnte doch meines Erachtens auf einen gutgläubigen Neutralen nicht ohne Eindruck bleiben. Er kann doch
76
unserer Regierung und unseren Parteien nicht zutrauen, daß sie das gewagte Verfassungsexperiment in Elsaß-Lothringen unternommen hätten, wenn sie nicht auf einen noch lange dauernden Frieden gerechnet hätten, und im deutschen Reichstag wäre doch eine solche Zaberndebatte nicht möglich gewesen, wenn man die kommenden Ereignisse auch nur von Ferne geahnt hätte. Noch eben hatten unsere Witzblätter zur Freude unserer zahlreichen Freunde im Auslande unseren Leutnant aufs schmählichste verhöhnt, als schon unsere jungen Offiziere — in leider nur allzu großer Zahl — ihr junges Leben in todesmutigem Ansturm für das Vaterland hingaben. Aus unserer Großstadtpresse aber konnte das Ausland ersehen, daß wir von einer herrschsüchtigen Kaste geknebelt und ausgebeutet wurden; wie sollte diese freilich damals schon für deutsche Art eintreten, wenn sie auch heute noch, mitten im blutigen Ringen, für die Zukunft keinen besseren Rat weiß, als daß wir uns die Duldung des Auslandes durch Übernahme fremder Institutionen erbetteln sollten. Aber es fand sich auch sonst kaum ein Gelehrter, Schriftsteller oder politischer Führer, keiner der geistig Großen, der das eigene Volk für seine eigene Art zu begeistern verstand, und noch weniger einer, der fremde Völker für Deutschlands Eigenart und seine stolze Geschichte hätte erwärmen können. Genau das gegenteilige Bild wies Frankreich auf. Dort war man des erbärmlichen Kulturkampfes und der ewigen Parlamentsskandale herzlich müde, um so freudiger wandte sich die Begeisterung des Volkes der Armee, als dem Stolze und der Hoffnung des Landes zu. Als nun beim Eisenbahnerstreik von 1910 Briand seinen vor Wut schäumenden ehemaligen sozialistischen Parteigenossen zurief: »Wenn wir, um die Verteidigung der Grenzen zu sichern, den Boden der Gesetzlichkeit hätten verlassen müssen, gut! Dann hätten wir ihn verlassen«, dahatte auch die Regierung plötzlich die Mehrheit der Nation hinter sich, die sich voll Ekel von dem parlamentarischen Treiben ihrer Auserwählten abwand te. Poincaré wurde offen als der Revanchepräsident bezeichnet, niemand zweifelte daran, daß das Land auf die Dauer die Lasten der neu eingeführten dreijährigen Dienstzeit nicht tragen könne, sondern daß das Gesetz nur den Zweck habe, möglichst bald die Revanchearmee zu schaffen, die Ergebnisse der außerordentlichen Sendung Delcassés nach Petersburg, des diplomatischen Geschicks der Cambon und Barrère in London und Rom wurden von der ganzen Nation auf das sehnsüch-
77 tigste erwartet. Trotzdem diese kriegerische Stimmung dem Ausland natürlich nicht unbekannt bleiben konnte, wandten und wenden sich seine Sympathien doch Frankreich zu, das eben von je verstanden hat, zunächst im Herzen des eigenen Volkes, dann aber auch bei der übrigen Welt die Überzeugung zu erwecken, daß es ein ganz besonderes Werkzeug der, je nach den verschiedenen Zeiten mehr oder minder überirdisch gedachten, Vorsehung sei. Die Wege der Propaganda für französische Art sind außerordentlich verschieden und passen sich den mannigfaltigsten Bedürfnissen an. So kann schon eine Operette für französischen Geist werben, einem rumänischen Bojaren bleiben vielleicht Eindrücke einer Kultur, wie er sie in den Cabarets am Montmartre oder nach Abschluß der nächtlichen „promenade des grands ducs« bei der Zwiebelsuppe mit den Marktfrauen erhalten hat, ein sein ganzes Leben bestimmendes Ideal. Weit größer ist natürlich das Publikum für die revolutionär-republikanische Suggestion. Wie sehr wir selber, trotz allem Weltkrieg, in ihrem Bann stehen, zeigt ein Blick in unsere große Presse, die bei dem Konflikte zwischen der Duma und Stürmer*) fast ängstlicher darum besorgt war, ob die ewigen Errungenschaften von 1789 gewahrt würden, als ob der Ausgang des Kampfes dem deutschen Interesse entspräche. Gewiß, wir empfinden diese Idee gar nicht mehr als spezifisch französisch, aber darin liegt eben die französische Suggestionskunst, die die Vorstellung, daß die übrige Welt nur so eine Art Annex und Resonanzboden Frankreichs sei, auch andern Völkern um so leichter beibringt, je fester sie selbst daran glaubt. Daß dies selbst für England bis zu einem gewissen Grade gilt, beweist, wie wir alle klopfenden Herzens Anteil daran nehmen, ob es dem Waliser Radikalen gelingen würde, das englische Volk mit einem mögüchst allgemeinen Wahlrecht zu beglücken; wir waren uns alle, mindestens instinktiv, bewußt, daß es sich darum handelte, ob der Welt noch einmal die Verwirklichung eines Ideals beschieden sei, obgleich doch England als klassisches Land des Parlamentarismus schon bei Montesquieu gefeiert wird. Das französischbelgische Vorbild beansprucht eben ausschließliche Geltung, gerade weil es doktrinär ist, und so sind auch Rousseaus Phantasmen überall zu Dogmen geworden, über die man — dafür sind sie ja Dogmen — in rechtgläubigen Kreisen überhaupt nicht diskutiert. Dieser doch eigentlich reaktionäre Standpunkt wird denn auch selbst bei uns ganz allgemein als frei und fortschrittlich bezeichnet, so daß einer weiteren franzö-
78 sischen Propaganda kaum mehr etwas zu tun übrigbleibt. Trotzdem hat sich die französische Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten liebevoll und in z. T. glänzend geschriebenen Werken mit der Französischen Revolution beschäftigt, und neben Staatsmännern wie Mirabeau hat selbst der Urheber der Septembermorde, Danton, einen Biographen und Verteidiger gefunden. Diese revolutionäre Geschichte und Legende hat zumal nach all den Umwälzungen des neunzehnten Jahrhunderts in den romanischen, slawischen und nordischen Ländern jenes radikale Gemeingefühl erzeugt, das in den anders gearteten, weil historisch gewordenen Einrichtungen Deutschlands mit echt demokratischer Intoleranz den Feind der europäischen Freiheit und Zivilisation schlechthin sieht. Trotzdem sind gerade wir Deutsche seit Generationen bemüht, auch unserseits diese Legende zu fördern, und erkennen nicht einmal, wie sehr wir uns bloßstellen, wenn wir jetzt geloben, da3 wir uns nach dem Kriege diesen Idealen unserer Todfeinde nach Kräften anpassen wollen. Es ermangelt nur scheinbar der Folgerichtigkeit, wenn Frankreich trotz seiner Feindschaft gegen den deutschen Militarismus sich für den Soldatenkaiser Napoleon und seine Marschälle begeistert, sieht es doch in ihm nicht den Gewaltherrscher, sondern den ruhmgekrönten Erben und Vollstrecker der Revolution und ihrer Ideale. Sollte da nicht auch in unseren Tagen aufs neue der Freiheit ein solcher Vorkämpfer entstehen können? Vielleicht wäre es in der Tat gelungen, allmählich die Welt mit dem parlamentarisch-republikanischen Ideale zu erfüllen, zumal sich ihm alles, was politisch oder geschäftlich international interessiert war, zuwandte — wenn diesem Ideale nicht die Verwirklichung beschieden, gewesen wäre, und zwar gerade in Frankreich selbst. Dort hatte noch Mac Mahon monarchistisch-klerikale Anwandlungen gehabt, dann kam aber mit Grevy der schlichte Mann der republikanischen Tugend, mit ihm kam aber auch die allzu sparsame Gattin und der Unglücksschwiegersohn Wilson, der nur allzu bald in schmutzige Börsenjobberei und Ordensschacher verwickelt war. So heftete sich der Skandal von Anbeginn an die republikanische Tugend und dazu jener Fluch der Lächerlichkeit, den Frankreich noch aus der eleganten Welt seiner Königszeit übernommen hatte. Amerikaner und Slawen — auch wir bemühen uns darin zu folgen — stoßen sich zwar bei männlichen und weiblichen Vorkämpfern für neue Ideen nicht an gewissen Absonderlichkeiten, die ihnen eigentümlich zu sein pflegen und die wir bei gewöhnlichen Sterb-
79 liehen einfach lächerlich fänden. Der Franzose dagegen bleibt im Konventionellen befangen, hat aber für das Praktische einen scharfen Blick, solang diesen keine Leidenschaft trübt — und so reizte denn jener Vertreter des Volkes, der in die Philisterjahre gekommen ist, von Sentenzen trieft und von nichts so erfüllt ist als von seiner Bedeutung, zunächst seine Spottlust. Dann klangen aber auch jene Phrasen, die man jugendlicher Begeisterung zugute halten mochte, auf die Dauer recht hohl und verbargen nur sehr oberflächlich das Erbübel eines jeden Parlamentarismus, der sich nicht auf geistig und wirtschaftlich führende Schichten stützen kann, den Mangel nämlich an beruflichem Wissen und Können, an Sachkenntnis also und an Erziehung zum Führer von Menschen. Diese Erziehung aus England einzuführen, haben aber bekanntlich unsere kontinentalen Theoretiker versäumt, und ich fürchte, unsere radikalen Philister würden darin etwas Aristokratisches, also durchaus Verwerfliches wittern. Der alte Aristoteles freilich meinte schon, bei der menschlichen Unvollkommenheit sei eine Vereinigung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie das Beste, und ihn überschreien, hieße noch nicht ihn widerlegen. Nun, auch der Franzose hat sich theoretisch für die Demokratie entschieden, praktisch aber stößt er sich schon an dem Mangel an Umgangsformen, und wann er es verzeihen könnte, daß sein Erwählter die eigenen Geschäfte über denen des Staates nicht vergäße, so muß er doch an den immer neuen und immer schlimmeren Parlamentsskandalen schweren Anstoß nehmen. Kurzum, die Verwirklichimg des Ideals, für das man so lange gekämpft, brachte eine schwere Enttäuschung. Die Erwählten selber nun empfanden die steigende Mißachtung immer peinlicher. Um den Wähler, der doch der einzige Quell ihrer Macht war, wieder an sich zu fesseln, mußten sie seine Leidenschaft aufstacheln, was man am einfachsten durch einen neuen Kulturkampf erreichte, der dann in der Tat jahrzehntelang alle freien Geister beschäftigte und von lästiger Kritik abzog, und der fernerhin den Vorteil hatte, in weiten Kreisen Europas die Franzosen wiederum als Vorkämpfer des Lichtes erscheinen zu lassen. Diesen Ideen vermochte auch die geistreiche Skepsis eines so glänzenden Schriftstellers wie Anatole France weithin Anhänger zu erwerben, schließlich hat er aber in seinem jüngsten Romane »Der Blutdurst der Götter« die Jakobiner der heiligen Revolution selber verhöhnt und mußte so zum Anarchismus oder dem Nichts führen. Dies war doppelt unverzeihlich, als ja bekanntlich nichts so
8o wenig Spott verträgt als republikanische Tugend. Für die kamen überhaupt böse Tage, selbst die antiklerikale Leidenschaft begann abzuflauen, die angekündigten Reformen, wie die der Einkommensteuer, hatte man immer wieder verschoben, die Bilanz war kläglich, der Nimbus verblichen, und so war den Ärmsten, wie Jouvenel *) ergötzlich schildert, nur die republikanische Kameradschaft geblieben, die die Gegensätze zwischen Regierung und Partei verwischte und in dem immer unbequemer werdenden Wähler den wirklichen Feind sah, dem zuliebe man mit stumpfer Waffe Scheinkämpfe aufführen mußte, ohne freilich sich selbst oder der Regierung ernstlich wehe zu tun. Als der eigentliche Herr erwies sich aber immer klarer das Geschäftsinteresse, das sich durch Reklame auch die Großmacht der Presse dienstbar gemacht hatte und damit über die öffentliche Meinung verfügte. Was blieb den armen parlamentarischen Herren des Landes dann anders übrig, als sich in so schlimme Zeiten zu schicken und vielleicht für sich selber einen kleinen Vorteil herauszuschlagen : Passe-moi la rhubarbe, je te passerai le séné, Hand wird nur von Hand gewaschen, wie wir sagen würden. Meine persönlichen Erfahrungen bestätigen, wie wenig ernst man in Frankreich Parteiunterschiede nimmt und wie sehr man im Abgeordneten den Agenten seiner Wähler sieht. So besuchte mich ein bekannter französischer Abgeordneter, der als Referent für den Etat der Landwirtschaft mit einem Herrn aus dem Ackerbauministerium in Deutschland eine Studienreise machte. Ich hatte zum französischen Abgeordneten einige deutsche Kollegen und Gutsbesitzer geladen und freute mich herzlich, wie leicht sich bei einem Glase Pfälzer die Agrarier beider Länder fanden. Während die Herren Parlamentarier immer eifriger die Landwirtschaft schützten, frug ich den Herrn aus dem Ministerium, welcher Partei gehört denn eigentlich der Herr Abgeordnete an ? Als ich die Antwort, er rechne sich zur radikal-sozialistischen Gruppe, angesichts der gerade laut herüberschallenden konservativen Anschauungen, mit etwas erstauntem Gesichte quittierte, erhielt ich den klassischen Bescheid: Was wollen Sie, das sind doch nur Etiketten (ce ne sont là que des affiches), seine Wähler sind radikal-sozialistische Bauern, also muß er auch ein radikal-sozialistischer Agrarier sein, wenn er auch aus einer ganz klerikalen Familie stammt. Wie hoch die Herren Parlamentarier im freien Frankreich eingeschätzt werden, mag auch ein Brief beweisen, den ich erhielt, als ich zum ersten Male kandidierte. »Ihre zahlreichen hiesigen Freunde«
8i — hieß es dort — »begreifen nicht, daß Sie in die Politik gehen, Sie haben doch einen bekannten Namen, genügendes Vermögen und einen Ihnen zusagenden Beruf, warum also wollen Sie Abgeordneter werden ?« Der Schreiber war ein junger Gelehrter, der außerhalb jeden Verdachtes reaktionärer Gesinnung stand, aber das ist so die französische Ansicht, wenn auch die Gerechtigkeit verlangt, daß ich bezeuge, daß ich unter den französischen Abgeordneten und Senatoren viele gebildete, kenntnisreiche Männer — und zwar nicht nur auf der Rechten — gefunden habe. Über das parlamentarische Regime dachten sie freilich selbst recht skeptisch — in guter Gesellschaft erröteten sie wohl sogar ein bißchen über ihr marktschreierisches Metier. Es ist eben ganz falsch, anzunehmen, daß das persönliche Ansehen der Abgeordneten mit der Macht des Parlaments steigt. Auch Parlamente werden nach ihren Leistungen beurteilt. Da indeß die freie Presse aller Länder diese kleinen Gebrechen des als allgemeines Ideal zu erstrebenden Parlamentarismus verschwiegen hatte, so hätte die Propaganda für die Ideen von 1789 noch lange ungestört weitergehen können, wenn nicht in Frankreich selbst eben aus der Enttäuschung über die dritte Republik vom Schwiegersohn Gr6vys bis Panama heraus eine neue nationalistische Strömung eingesetzt hätte, die nach meiner Meinung für den Ausbruch des Weltkrieges lind die Haltung des französischen Volkes und mancher Neutralen während des Krieges von größter Bedeutung war und ist. Bei uns hätten Regierung, Parlament und Volk die Gefahr viel früher erkennen müssen, wenn man die Bewegung und ihre Wirkung auf das Ausland richtig eingeschätzt hätte. Unsere große Presse versagte, weil ihr diese Strömung unbequem war, die die kosmopolitischen Ideale des achtzehnten Jahrhunderts und Rousseaus weinerliche Sentimentalität bekämpfte, also nationalistisch, in gewissem Sinne konservativ und wohl sicher katholisch war, drei Eigenschaften, denen gegenüber, ganz wie zu Voltaires Zeiten, unsere Radikalen bekanntlich die viel gerühmte Objektivität und Voraussetzungslosigkeit zu verlieren pflegen. Man dachte eben die neuen Schwarmgeister mit dem oft bewährten großen Interdikt des Totschweigens belegen und so unterdrücken zu können. Das Mittel versagte völlig, wie unsere ganze Vogelstraußpolitik vor dem Kriege. Es ist aber nicht angängig, etwa nur der Presse, oder der Diplomatie oder sonst einer Stelle die alleinige Schuld an dieser Verv. Bubi, Reden und Aufsitze.
6
82 blendung zuschreiben zu wollen, unser ganzes Volk hat in den letzten Jahren immer nur die Dinge so sehen wollen, wie sie nach seinen Theorien und Träumen hätten sein sollen. Von Jahr zu Jahr schwoll der Strom der Reisenden an, der in irgendeinem fremden Lande eine saison oder season mitmachen wollte. So gelehrig sie kleine Moden — auch literarische — nachäfften, so verständnislos sahen sie auf das geistige Leben des Auslandes herab und verstärkten so den — gewiß unberechtigten — Vorwurf, daß wir ein Volk von snobischen Emporkömmlingen seien. Aber auch die ernsten, wissenschaftlich gebildeten Kenner des Auslandes haben es versäumt, uns zu warnen, daß immer neue geistige Kräfte ins Feld geführt würden, zunächst um den alten Einfluß Deutschlands im Reiche der Gedanken zu brechen und dann einen großen Völkerbund unter französischer Führung gegen die wissenschaftliche Barbarei der Deutschen herbeizuführen, die ja ohnehin auf allen Märkten der Welt immer lästigere Konkurrenten würden. Gerade deshalb, weil die Geschäfte in der Tat gut gingen, wollten wir unserseits unsere Ruhe haben, und so hätten wir auch auf Warnungsstimmen schwerlich gehört. Und so konnte denn im Spätsommer 1914 der glorreiche Kreuzzug der Franken für Freiheit und Zivilisation mit russischer, britischer, japanischer Hilfe, unter der wohlwollenden Neutralität Amerikas gegen uns einsetzen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Bewegung von Frankreich ausging. Das Schimpfwort Barbar wurde zwar -— in Anlehnung an das klassische Altertum — schon sehr frühe von Italienern gegen uns geschleudert, in der heutigen Form als barbarie scientifique, wissenschaftliche Barbarei, findet es sich meines Wissens aber zuerst bei Bourget in seinen pages de critique et de doctrine 1912 in folgendem Zusammenhang: 1870/71 hätten die Schüler des vielberufenen Schullehrers von Sadowa nach den Regeln ihrer materialistischen Wissenschaft Frankreich mit Feuer und Schwert verwüstet, nach den Vorschriften derselben, aus Deutschland eingeführten, Wissenschaft hätten dann die Helden der Kommune die Pariser Kunstdenkmäler methodisch mit Petroleum verbrannt. Es ist derselbe Dichter Bourget, der schon 1889 in seinem Roman Le disciple den Kampf gegen die deutsche Wissenschaft und die Philosophie Schopenhauers eröffnet hatte. Der Anstoß ging also von der Literatur aus, ein ja gerade in Frankreich ganz gewöhnlicher Vorgang, zumal dieses Land in den broschierten billigen Romanen mit Recht seine erfolgreichsten Pioniere sieht. Diesen
83 literarischen Ursprung verleugnet auch die Folge nicht, nicht nur, weil die Deutschenhetze auch fernerhin hauptsächlich von Literaten weitergeführt wurde, sondern weil von vornherein zwei verschiedene Typen einander gegenübergestellt wurden, wie sie wohl der Phantasie eines Romanschriftstellers entsprungen sein mögen, die dann erst nachträglich wissenschaftlich bewiesen und begründet werden sollten. Der eine ist der F r a n z o s e , der von der V e r n u n f t g e l e i t e t , a u s sozialen I n s t i n k t e n h e r a u s d e n edlen R e g u n g e n s e i n e s H e r z e n s s p o n t a n f o l g t u n d so h a l b b e w u ß t , h a l b d u r c h geh e i m n i s v o l l e K r ä f t e g e f ü h r t , an der B e f r e i u n g u n d Z i v i l i s a t i o n der g a n z e n M e n s c h h e i t a r b e i t e t . So erstreckt sich denn auch seine Vaterlandsliebe zunächst natürlich auf Frankreich selbst, dann aber auf die ganze Welt, der ja seine Taten, eben weil sie vernünftig sind, zugute kommen müssen, ebenso wie seine Kunst die Kirnst schlechthin ist, weil sie allein den ewigen Gesetzen der Harmonie und Ordnung entspricht. Der Barbar ist individualistisch, rückständig, nur utilitarischen Motiven zugänglich, seine dunklen Triebe werden planvoll auf gewisse Ziele hingelenkt, wo sie gewaltige, meist aber zerstörende Wirkungen ausüben. Geleitet wird er entweder von außen und oben, oder er setzt sich selbst das Ziel, wie es ihm die Wissenschaft gezeigt hat. Das verfolgt er dann rücksichtslos, ohne auf irgendwelche humane Regungen zu hören, in kalter Gleichgültigkeit, ohne durch Liebe oder Haß sich irgend beeinflussen zu lassen. Er ist also eine Denkmaschine, die von der Hand der Obern oder aus selbst gesetzten Motiven gelenkt wird. Sein Vaterlandsgefühl bedeutet den hochmütigen, ungeselligen Abschluß von aller Welt. Er ist kein Mensch von Fleisch und Blut, ein friedliches Zusammenleben mit ihm ist sohin nicht möglich, er muß, wenn nicht vernichtet, so doch unschädlich gemacht werden. Diesen edlen Zweck verfolgen jetzt die Lateiner, Briten, Slawen, Japaner, Gelbe und Schwarze. Darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben. Sollte wirklich dieser ganze Haß auf eine französische literarische Strömung zurückzuführen sein? .Keineswegs ausschließlich, natürlich liegen die britischen und slawischen Motive ganz wo anders, auch Frankreich verfolgt selbstverständlich zunächst politische Ziele, der Geist aber, der unsere Feinde in diesem Kriege beseelt und auf die Neutralen nicht ohne nachdrücklichen Eindruck bleibt, dürfte doch der französischen Neuromantik entspringen, wie sie in den neunziger 6»
84 Jahren entstanden ist. Gewiß kann man uns auch im Namen der Ideen von 1789 bekämpfen. Das geschieht in der Tat, ich habe ja auf das republikanisch-parlamentarische Gemeingefühl des westlichen Europas und Amerikas schon hingewiesen, aber die Brandmarkung als »wissenschaftlicher Barbar« ist viel gehässiger. Erst in ihrem Namen ist der Ausschluß aus der menschlichen Gesellschaft möglich, da eine Besserung, mindestens solange das Deutsche Reich als politisches und wirtschaftliches Gebilde besteht, unmöglich ist, — bei einem neuen Rheinbunde ließe sich eher von Ausgleich reden! Dieser französischen Neuromantik liegt eine doppelte Enttäuschung zugrunde, zwei Ideale hatten die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begeistert, einmal das parlamentarischrepublikanische, dann aber das wissenschaftliche. Mit Hilfe der Wissenschaft hoffte der Mensch nicht nur immer weiter im Erkennen fortzuschreiten und die Welt immer mehr seiner Herrschaft zu unterwerfen, er hoffte von ihr auch moralischen Halt und das Erkennen des Weges, um das Glück der Menschheit heraufzuführen. Keines der beiden Ideale hatte Frankreich retten können, statt der republikanischen Tugend herrschten die Geschäftspraktiken der leitenden Parlamentarier, die Wissenschaft hatte die Niederlage nicht abgewendet, ihre Technik schien eher dem Feinde zugute gekommen zu sein, der Pessimismus der damals herrschenden Philosophie konnte keinerlei Trost spenden, ja die Naturwissenschaft schien die allmähliche Erschöpfung der französischen Rasse vorauszusagen. Politisch hätte man — rein abstrakt natürlich — eine Anlehnung an den konservativen germanischen Geist erwarten können, der eine glückliche Mitte zwischen dem lateinischen Radikalismus und dem russisphen Absolutismus hielt. Zumal jetzt in den neunziger Jahren, da wir in Deutschland den Kulturkampf abgebrochen hatten und, von manschesterlichen Doktrinen endlich befreit, eine Politik der sozialen Aussöhnung trieben, wäre von unserer Seite, da Caprivi sich entschieden Westeuropa zuwandte und die Rückversicherung mit dem absoluten Zaren aufgegeben hatte, Frankreich einer freundlichen Annäherung sicher gewesen. Für Frankreich war dies aber psychologisch ausgeschlossen, eine eventuelle konservative Regierung hätte erst recht die nationalistischen Revancheinstinkte ausnützen müssen, die selbst die Radikalen, die einst für die Befreiung Polens geschwärmt hatten, an die Seite Rußlands führte, die Front mußte unter allen Umständen klar gegen den Sieger von 1870 genommen werden. Den Überlieferungen der guten, alten französischen Schule gemäß, wie sie seit
85 Franz I. und Richelieu gepflegt wurden, haben inner politische Sympathien oder Antipathien niemals entscheidenden Einfluß auf die französische auswärtige Politik ausgeübt, was natürlich nicht ausschließt, daß sie dann stark betont werden, wenn dies im politischen Interesse hegt, sie haben sich eben dessen Zwecken unterzuordnen. Meines Erachtens muß daran der Versuch jeder Versöhnungspolitik Frankreich gegenüber, die sich auf Sympathien oder gemeinsame Auffassungen stützen würde, scheitern. Konnte eine konservative Strömung also die Franzosen nicht an unsere Seite führen, so richtete sich der Kampf gegen die Wissenschaft ganz selbstverständlich gegen unsere Gelehrten. Die geistigen Führer der französischen Nation hatten von der deutschen Wissenschaft nachhaltigen Eindruck erfahren, viele Franzosen hatten vor 1870 auf unseren Hochschulen studiert, selbst die Enttäuschungen der Niederlage vermochten zunächst nur die vielleicht widerwillige Achtung vor unseren wissenschaftlichen Leistungen zu erhöhen. Daß eine Bewegung, die eine Erneuerung Frankreichs durch die gebildete Jugend erstrebte, sich gegen Philosophen, wie Auguste Comte und Renan, die unter deutschem Einfluß das Christentum ablehnten, richten mußte, versteht sich von selbst. Aber auch Taine, der die kritische Methode der deutschen Geschichtschreibung an das Werk der Französischen Revolution und des Kaiserreichs, die man bisher rhetorisch verherrlicht hatte, anlegte, wurde bekämpft, so daß er sich in seine savoyische Heimat zurückzog. Viktor Hugos Sentimentalität fand keine Gnade mehr, und endlich stürmte die Jugend auch gegen das 18. Jahrhundert als antinational an, dasselbe Jahrhundert also, das die Väter noch als das große gepriesen und dessen Ideen doch noch heute in Europa so breiten Raum einnehmen. J a , auch vor den unwandelbaren Grundrechten und Grundsätzen der großen Französischen Revolution machten die jugendlichen Bilderstürmer nicht halt, schon Bourget meinte, die Kraft Frankreichs beruhe auf seinem Bürgertum, das sogar die »verlogene Mittelmäßigkeit der Politiker« und die »brutale Gewalt der Zahl im allgemeinen Wahlrecht«, la plus monstrueuse et la plus inique des tyrannies, ertragen hätte. War es aber wirklich noch ein bürgerliches Ideal, das man jetzt im klassischen Jahrhundert Ludwigs X I V . suchte, während derbere Geister allerdings bereits bei Rabelais angelangt waren? Jedenfalls wollte man in der Renaissance, und mehr noch im 17. Jahrhundert, die hervor-
86 stechendsten Eigenschaften des französischen Geistes, nämlich die Einfachheit, Klarheit, Stärke, die Liebe zur Ordnung und Bestimmtheit, den feinen Geschmack und die feine Sitte, die Ironie, wie die Ablehnung alles Übertriebenen in glänzendster Entfaltung sehen. Seltsam klang das diesen Zeiten entnommene Losungswort: D i s z i plin und A u t o r i t ä t im Frankreich des 20. Jahrhunderts, dem klassischen Lande der ewigen Ministerkrisen, wo gerade ein südfranzösischer Winzerstreik alle staatliche Ordnung über den Haufen zu werfen drohte. Wiederum welch schmerzlicher Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit! Aber auch das weltmännisch-ästhetische Ideal des klassischen Jahrhunderts allein konnte unmöglich die Erneuerung Frankreichs bewirken. Da mußte man an stärkere Gefühle appellieren, an die religiösen. Auch in bürgerlichen Kreisen hatten die armseligen Schikanen, mit denen die Herren Combes, WaldeckRousseau und Clemenceau ihren Kulturkampf führten, das schon erstorben geglaubte religiöse Interesse wieder geweckt, ein großer Teil der Aristokratie, einzelne Provinzen des Nordwestens waren dem alten Glauben treu geblieben. Wir finden nun hier bei dem jungen Frankreich durchaus nicht nur spontane Regungen, sondern es laufen auch Erwägungen unter, wie die: Religion ist nötig für die Gesellschaft, da nur sie den Menschen zwingt, seine Vernunft den Bedürfnissen der Allgemeinheit unterzuordnen. Die geschichtliche Form der Religion in Frankreich aber ist der Kathoüzismus; darum müssen wir, um gute Franzosen zu sein, katholisch sein. Kein Wunder, wenn der Spott der Gegner diese jungen Herren »klerikale Atheisten« taufte. Aber auch mystische Regungen machten sich besonders in der Dichtkunst geltend, und immer breitere Schichten ergriff jene Schwärmerei für das Mittelalter, dessen Ritter in den Kreuzzügen zum ersten Male der Welt den Ruhm des französischen Namens verkündet hatten, dessen Höhepunkt Ludwig der Heilige bildet — jenes Ideal des christlichen, gerechten Königs — an dessen Ausgang jenes Mädchen von Orleans steht, das nach hundertjährigem Krieg den Boden des Vaterlandes vom Nationalfeind befreit hat. Sollte auch das moderne Frankreich nach so vielen Spaltungen und seiner schweren Niederlage sich selbst unter dem Patronate der seligen Jeanne d'Arc wiederfinden? Jedenfalls erschienen diese Jahrhunderte romanischer und gotischer Kunst, da die Cluniazenser der kirchlichen Idee den Sieg verschafft, da der heilige Bernhard dem Kaiser und den Königen
8; das Kreuz gepredigt, da die Troubadours den Ruhm ihrer Dame verkündigt und ritterliche Sänger die Taten Karls des Großen und der Helden der Tafelrunde gepriesen, da auf der Universität von Paris die Scholastik dem jung erstarkten Geiste europäischer Wissenschaft seine Bahnen gewiesen hatte, als die erste glänzende Auswirkung des französischen Genius, der damit die europäische Kultur begründet habe, eine Kultur, vor deren Ideale, nicht zuletzt durch die sittliche Hebung der Frau, selbst die des klassischen Altertums erbleichen müßten. Als Symbol dieser Kultur, ja des französischen Geistes selbst, erschien die zum Himmel strebende K a t h e d r a l e , deren Steine einst freudig Geistliche und Laien, Ritter und Bürger, Freie und Hörige aufeinander geschichtet, deren gemeinsamem Wirken dann der harmonische Gedanke der Gothik, wie durch eine geheime Kraft geweckt, entsprungen sei. Welch furchtbare Anklage gegen die Regierung, daß sie diese herrlichste Verkörperung französischen Wesens schmählich verfallen ließ? Aber die schmerzliche Trennung blieb •—, es gelang nicht, ganz Frankreich unter dem Banner der Jungfrau wieder zu einen. Wieder andere wandten ihr Interesse den erfolgreichen Staatsmännern zu, an denen die Geschichte der alten Monarchie von Philipp II. August bis Ludwig X I . , von Heinrich IV. bis Richelieu so reich ist, oder verherrlichten ihrerseits die napoleonische Epoche, wobei sie vor allem den genialen Kaiser und Feldherrn selbst bewunderten, der nunmehr als der Bändiger, nicht als der Vollstrecker der Revolution erschien. Mit dieser Heldenverehrung für die Großen der Vorzeit ging die Verachtung all der schwächlichen kosmopolitischen, humanitären, sentimentalen Erregungen Hand in Hand, die einst auch in Frankreich die Geister so bewegt hatten. E. Faguet schreibt 1912: La tendance générale est l'anti-intellectualisme. Das Zeitalter des lächelnden Zweifels machte einem Kult der Kraft Platz. Nicht Gelehrte wollten diese jungen Franzosen werden, nein, als Soldaten, koloniale Forscher, Flieger wollten sie ihrem Vaterland daheim und über den Meeren dienen. Einstweilen wandten sie sich dem Sporte zu, und manchmal schienen ihnen weniger Bayard als die Rauhreiter Mr. Roosevelts Vorbilder sein zu sollen, so jenem Mr. Raymond Guaros, der das Boxen preist, bei dem man im Auge des Gegners den unabwendbaren Zusammenbruch zu erspähen lerne, und der dann fortfährt, »das Boxen gab uns endlich den Geschmack
88 am Blut w i e d e r . . . Wir mußten einsehen, daß man uns betrogen hatte«. Der Krieg soll dem Leben seinen Reiz verleihen, und zwar in der rohen, sportlichen Auffassung einer Art von gewaltigem Boxkampf, kein Wunder, daß der Engländer, dem ich dieses Zitat entnehme (NineteenthCentury, J u l y 1 9 1 3 »Frankreichs Wiedererwachen«), hinzufügt: »Der Sport hat dieses Geschlecht gehärtet, hat es gelehrt, die weichlichen Neigungen des vorhergehenden zu verachten, Humanität und jede andere Sentimentalität zu hassen.« Können wir uns da noch über Brutalitäten wundern, die wir mit Entsetzen gerade bei den Offizieren der ritterlichsten Nation und des kulturstolzen Englands während des Weltkrieges gefunden haben? Aber auch die sozialistische Bewegung schwoll in Frankreich immer mehr an ; konnte sich doch keine Partei eines so zugkräftigen Führers wie Jaurès rühmen. Während die wirtschaftlichen Kämpfe sich immer mehr verschärften, schien Frankreich rettungslos in zwei Lager gespalten, an dem Kampfe zwischen dem Geiste der Monarchie und der Revolution innerlich verbluten zu sollen, wie wir einst die Reformation fast mit unserem nationalen Leben hätten bezahlen müssen. Da wurde zunächst die geistige Synthese gefunden: Es ist eben der g a l l i s c h e G e i s t , dem Europa seine ganze Kultur, seinen ganzen Fortschritt verdankt, der sich spontan in immer neuen Formen und Klassen verkörpert. E r war es, der den Geistlichen und Rittern, wie der vornehmen Welt des klassischen Jahrhunderts, wie endlich dem dritten Stande in der Revolutionszeit sein Gepräge aufdrückte, allen Fortschritt hat er aus sich selbst geschaffen, nur seinen sozialen Idealen, der ihm innewohnenden Vernunft folgend, hat er — um ein Goethisches Wort zu gebrauchen: der Gottheit lebendiges Kleid gewirkt: gesta Dei per Francos! Sollte es unmöglich sein, nun auch seine Söhne zu einigen, nicht unter den Lilien, nicht unter dem roten Banner der Revolution, nein, unter der Trikolore in einem neuen furchtbaren Rachekrieg ? Wie aber sieht nach französischer Meinung der Feind in diesem Kriege aus ? Trägt er die Züge des wissenschaftlichen Barbaren ? Hören wir Reynaud, der sich seit Jahren mit uns beschäftigt hat und noch 1914 eine »Allgemeine Geschichté des französischen Einflusses in Deutschland« herausgegeben hat. Ihm ist die hervorstechendste Eigentümlichkeit des Germanen sein Festhalten am Her-
8g gebrachten, er kann selbst dann nicht zum Fortschritt gelangen, wenn er einsieht, daß seine Einrichtungen überlebt sind. Der tiefste Grund ist der deutsche Individualismus, aus dem heraus der deutsche Geist auch die Reformation geschaffen hat, die die europäische Einheit gesprengt hat. Im gewöhnlichen Leben ist freilich Deutschland das Land der Ordnung, der Organisation und des still schaffenden Fleißes ; hier leuchtet ja der Nutzen dieser Eigenschaften jedem ein, ihnen hat Deutschland schon zur Hansazeit seine Blüte verdankt, gerade so wie heutzutage. Aber sobald wir uns über die Sphäre des Alltäglichen erheben, mangelt uns dieser Sinn für die Ordnung, wir wären nie zu einem Nationalgefühl gelangt, wenn uns nicht die » f r a n z ö s i s c h e n E n z y k l o p ä d i s t e n « diesen Gedanken suggeriert hätten. Da nun auch Preußen eine künstliche Schöpfung seiner Fürsten nach französischen Vorbildern und im französischen Geiste ist und außerdem das Beste der geistigen und materiellen Mitarbeit französischer Réfugiés verdankt, so gehört wohl offenbar auch Preußen und somit das neue Deutsche Reich zu den gesta Dei per Francos? Goethe und Nietzsche werden angeführt, um zu beweisen, daß uns die Einheit des Stiles in allen wesentlichen Äußerungen des geistigen Lebens fehlt. Mag die dunkle Welt der Instinkte und des Unterbewußtseins im deutschen Gemüt unserer Lyrik einen gewissen Reiz verleihen, der höheren Kunst mangelt es an Ordnung und Klarheit. Wenn Frankreich in seiner Vernunft und der gefälligen Form eine höhere moralische, ästhetische und intellektuelle Einheit gefunden hat, die geeignet ist, alle Völker mit gemeinsamen Idealen zu erfüllen, so vereinzelt der deutsche Individualismus und die deutsche Rührseligkeit den Menschen, der nur in sich das Maß aller Dinge findet and sich den großen gemeinsamen Strömungen verschließt, die den Fortschritt der Menschheit bedeuten. Vor allem aber fehlt es der deutschen Kultur an der Ursprünglichkeit, sie hat etwas Gewolltes, Bewußtes: zuerst wird die Theorie aufgestellt, dann die Tatsachen ihr angepaßt, die Ideen werden hier nicht aus den Zuständen abgeleitet, sondern die Zustände bewußt nach der Idee geschaffen, das *ilt für das politische wie für das wirtschaftliche und ästhetische Gebiet. Der Anstoß kommt von außen her, die deutsche Vaterlandsliebe ist nicht aus der Liebe zur Scholle entsprungen, sondern das Ergebnis einer gedanklichen Arbeit, die sich mit geschichtlichen und ohilosophischen Studien beschäftigt hat. Die preußische Industrie,
9° wie das Kunstleben Dresdens oder Münchens sind nicht die Folgeerscheinungen einer geschichtlichen Entwicklung, sie verdanken ihr Dasein einem fürstlichen Befehl. Ja selbst unserem Fleiß und unserem Bildungshunger geht die Reflexion voraus, wieviel wir anderen Nationen nachzuholen haben. Selbst unsere Duldsamkeit ist nur eine Folge unserer geistigen Gleichgültigkeit, jener passiven Haltung unserer Kultur, die eben jeden einzelnen seines Weges gehen läßt, ja nicht einmal den Fluch der Lächerlichkeit als Hemmung kennt. Die Franzosen ihrerseits hätten nicht der Welt das Gepräge ihres Geistes aufdrücken können, wenn sie duldsam, unparteiisch hätten sein wollen, ja, der eigenen Vergangenheit hätten sie keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, so habe Frankreich in dem langen Laufe seiner Geschichte einen großen Teil der Kulturschätze, die es in so überreichem Maße geschaffen, selbst wieder zerstört. Deutschland hingegen, weil weniger schöpferisch, sei mit dem Seinen haushälterischer umgegangen, von den großen geistigen Strömungen nicht berührt, habe es sich schon früh jene berühmte Objektivität gestatten können, die, wie der Franzose gnädig zugesteht, eine unserer schätzenswertesten Eigenschaften ist, wenn sie sich eigentlich auch nur aus unserer Lauheit und unserem Mangel an schöpferischer Kraft erklärt. Ich muß gestehen, daß mich dieses herablassende Lob für diejenigen meiner Landsleute geradezu freut, die des Gedankens Blässe der frischen Farbe der Entschließung selbst in nationalen Dingen vorziehen, sie haben es reichlich verdient! Zum Schlüsse kommt dann natürlich das Schreckbild des von Waffen starrenden Reiches, das die Herrschaft der Ottonen, ja Karls des Großen zu erneuern, die Niederlande, den Norden und Osten Frankreichs (1914 geschrieben, also vor der Eingabe der schaffenden Stände!), die Schweiz, Deutschösterreich seinem Einfluß zu unterwerfen bestrebt ist, dessen Nationalgefühl, sich an historischen Erinnerungen berauschend, als Alldeutschtum in immer schärferen Gegensatz zur französischen Zivilisation gerät. Die immer weiter fortschreitende Industrialisierung, die wieder jener geheimnisvolle einheitliche Wille lenkt, dem sich die Massen ebenso blind unterwerfen wie die Männer der Wissenschaft, erzeugt ein Bedürfnis nach immer weiterer Ausbreitung seines Einflusses und seiner Machtsphäre nach außen, wie sich ihm im Inneren jede persönliche Würde und Freiheit beugen muß, so daß sich im Vaterlande Kants das alte Pflichtgefühl in ein Strebertum
9i verwandelt hat, das nur noch von oben Belohnung sklavischer Dienste erwartet. So wächst dieses unheimliche Reich des militärisch-industriellen Absolutismus ins ungeheuerliche, eine Bedrohung für die Zivilisation wie für die Freiheit der Staaten und den Frieden der Welt. Wie ganz anders hatte einst Frankreich die Welt durch seine Mäßigung beherrscht, durch seinen edlen Idealismus, durch sein festes Vertrauen auf den Sieg der Vernunft. Aber auch künftig können ihm und damit der Welt noch schöne Tage beschieden sein. Nur muß es sich auf sich selbst besinnen, sich vom fremden — soll heißen deutschen und nordischen — Einfluß befreien und seinem alten Ideale des chevalier courtois aus der gothischen Zeit wieder zuwenden oder jenem des honnête homme des klassischen Jahrhunderts, der sich an der männlichen Sprache Corneilles, den stolzen und reinen Versen Racines, den lächelnden Göttinnen Girardons oder der heiteren Gartenkunst Lenôtres erfreute. Hören wir noch Péguy, das Haupt der neukatholischen Dichterschule, ihm ist die Freiheit das bezeichnende Merkmal des wahren Franzosen: C'est pour cela, dit Dieu, que nous aimons tant ces Français Et que nous les aimons entre tous uniquement E t qu'ils seront toujours mes fils aînés. Ils ont la liberté dans le sang. Tout ce qu'ils font, ils le font librement, Ils sont moins esclaves et plus libres dans le péché même Que les autres ne le sont dans les exercices. Uns muten diese Verse fast gotteslästerlich und jedenfalls nicht als Verse an, doch über Lyrik wollen wir nicht mit Franzosen streiten. Eher wäre vielleicht festzustellen, ob sich die Ansicht des französischen Genius nicht im Laufe der Zeiten über die Unterwerfung unter den Willen eines anderen geändert hat ? Dem preux et féaux, also dem chevalier courtois des Mittelalters, galt die Treue ebenso als die erste aller Tugenden wie jenen germanischen Gefolgschaften, von denen Tacitus berichtet; ein Teil des Adels hat ja auch noch dem sinkenden Sterne des Königtums die Treue bis in die Vendée bewahrt. Sollte das daher kommen, daß in den Adern »dieser ersten und glänzendsten Verkörperung des französischen Genius« so viel deutsches Blut floß ? — Für den honnête homme des klassischen 17. Jahrhunderts beruhte der Staat auf dem Gegensatz un roi, une loi, une foi — ein König, ein Recht, ein Glaube — so nahm er den Widerruf des Edikts von
92 Nantes gleichmütig hin, wie so manche Züge der Monarchie Ludwigs X I V . , die man heute — z. B. die Verwüstung der Pfalz — als scheußlichste Auswüchse eines barbarischen Militarismus mit vollem Rechte brandmarken würde. Aber, wie Péguy meint, welche Sünden müssen nicht dem peuple inventeur de la cathédrale vergeben werden ? An Selbstgefühl fehlt es diesen Franzosen wahrlich nicht. Wie wirkt nun eine solche Verherrlichung des französischen Geistes auf seine Freunde, besonders auf den englischen Bundesgenossen? Ich habe in der mir zugänglichen englischen Literatur nirgends ein Wort der Verwahrung gefunden, wohl aber allenthalben Bewunderung für das neu erwachende »Jungfrankreich«. In den rein geistigen Sphären scheint das Vaterland Shakespeares und Newtons neidlos dem Gallier den Vortritt lassen zu wollen und sich mit mehr irdischen Kompensationen zu begnügen. Vielleicht wird im künftigen britischen Weltreich den Franzosen die Stelle überwiesen, die die Griechen im römischen einnahmen, wo sie sich ja als Philosophen, Dichter, Köche und Barbiere auszeichneten. Im jetzigen Weltkrieg hat sich der Engländer die geistige Mobilisierung leicht gemacht, sie fiel wohl nach dem Grundsatz der Arbeitsteilung den Franzosen zu. Mein vorhin zitierter englischer Gewährsmann bedauert von uns mit frommem Augenaufschlag, daß das liebe, alte Vaterland der Dichter und Denker sich amerikanisiert habe und zum Tummelplatz materialistischer Streber- und Mammonsknechte herabgesunken sei. Daß die freigesinnte Liga, deren heiliges Feuer Frankreich schürt, sich mit der Erneuerung des Katholizismus, die doch für den Puritaner nicht minder schmerzlich ist als für den Freigeist und dem Semiten ein Greuel, abfindet, mag noch angehen, aber ist es denn noch keinem der schwärmerischen Verehrer des französischen Genius im demokratischen Lager aufgefallen, daß dessen Ideal ein a r i s t o k r a t i s c h e s ist ? Der Aristokratie gehört doch der chevalier courtois an, und der honnête homme ist echter Adel. Was heute die französische Kunst auf der Bühne wie im Roman darstellt, ist jene »Welt« von Paris, die freilich nach so vielen Blutmischungen nur ein klägliches Abbild jener Gesellschaft des ancien régime ist, von der Talleyrand meint, daß, wer in ihr nicht gelebt hat, nicht wisse, was leben heißt. Für das arbeitende Volk hat die französische Literatur stets nur Verachtung gehabt. Hat sich aber in Frankreich, oder sonst wo, irgendein Schriftsteller gegen die pornographischen Verleumdungen erhoben,
93 die der auch von unseren Modernen so aufdringlich gepriesene Führer einer Schule, die sich noch dazu naturalistisch nannte, Zola, in seinem Roman L a Terre auf die französischen Bauern häufte? Was wäre denn heute Frankreich, wenn seine Bauern, die jener berühmte »Vorkämpfer der Freiheit« als in Schmutz und Habgier verkommen geschildert hat, nicht immer wieder zu seinen Fahnen eilten und seine Schlachten schlügen? Dies Lob glaubt ihnen der Feind schuldig zu sein! Unsere Bildung und Kultur, über deren Ewigkeitswert wir keine fremden Richter brauchen, war stets b ü r g e r l i c h , in Bürgerhäusern sind die unvergänglichen Werke der bildenden Kunst in der Renaissancezeit wie die der Dichtung im 18. Jahrhundert geschaffen worden. Dort ist auch die deutsche Wissenschaft emporgeblüht, deren gewaltige Wirkung nur Unverstand leugnen könnte. Der Geist bürgerlicher Freiheit schuf jene reich gestalteten Verfassungen unserer mittelalterlichen Städte, wie der Gedanke der Genossenschaft der Selbstverwaltung urgermanisch ist, bei uns hatten sich freie Bauern erhalten, während Frankreich nach dem Sprichwort nulle terre sans seigneur nur Herren und Hörige kannte. Die maßlosen Übertreibungen absolutistischen wie jakobinischen Geistes und ihre »vernunftmäßige« Begründung sind uns in den Zeiten tiefster religiöser und politischer Spaltung von romanischen Völkern, besonders von Frankreich, aufgedrängt worden. Unser neues Verfassungsleben ist daher eine Rückkehr zu uns selbst, während die heutige französische Republik die die Freiheit des einzelnen ausschließende Zentralisierung und Bureaukratie des Absolutismus beibehalten und nur den Selbstherrscher durch unduldsame Mehrheiten ersetzt hat. So freudigen Dank wir den Fürsten und Staatsmännern zollen, die uns zur Einheit geführt, den gewaltigen Feldherren, deren Schwert heute die ganze Welt mit Schrecken vor dem deutschen Namen erfüllt, als sein geistiges Eigen darf das Reich doch vor allem das deutsche Bürgertum beanspruchen, in dessen Herzen die Sehnsucht nach der Einheit zuerst wieder erwacht ist, auf dessen Vaterlandsliebe und Fleiß auch heute seine Macht und Stärke beruht, die unseren Feinden als der Ausfluß einer geheimnisvollen, dämonischen Gewalt erscheint. Woran es unserem Bürgertum gebricht, das ist Bewußtsein seines Wertes und seiner Würde, die ihm Sicherheit auch den Fremden
94 gegenüber verbürgen würde. Noch gefährlicher ist sein Mangel an politischem Sinn, an praktischem Blick für das Tatsächliche, jene verhängnisvolle Neigung zu sentimentaler Schwärmerei und tatenlosem Träumen, der uns den Namen des Hamlet unter den Nationen eingetragen oder derber gesagt, den deutschen Michel zum Spott der Völker gemacht hat, obgleich es doch derselbe Michel ist, der in der Stunde der Not mit seinem guten Schwert den Teufel in die Hölle treibt. Freilich ergreift er dieses Schwert erst, wenn der Teufel schon los ist. So ist denn auch dieses Mal kein Volk schlechter vorbereitet in den Weltkrieg eingetreten als wir — wir kannten weder unsere Feinde noch uns selbst. So fremdartig und manchmal künstlich uns die Bewegung des jungen Frankreichs auch erscheinen mag, so sehr wir die eitle Uberspannung des Selbstgefühls und den Mangel jeglichen kritischen Sinns auch belächeln mögen, mich will doch fast ein Gefühl des Bedauerns beschleichen, daß mein Volk nicht so mit allen Fasern seines Herzens an der Väter geistigem Erbe hängt, daß wir selbst jetzt noch beim Donner der Geschütze fragen können, ob der Preis heimischer oder fremder Art gebührt. Sie können nicht einmal hassen, meinte neulich der »Temps«. Das traf wie jenes oben erwähnte Lob der Objektivität! Daß aber dem so ist, darin trifft unsern Gelehrten ein vollgerütteltes Maß der Mitschuld. Wo waren unsere Historiker vor dem Weltkrieg ? Hat sich außer Dietrich Schäfer irgendeiner an unser deutsches Nationalgefühl gewandt ? Es ist doch maßlose Objektivität, wenn in einem bekannten historischen Sammelwerk derselbe Wert, nämlich der einer Art geographischen Anhängsels, der Geschichte der Feuerländer oder der Malaien beigemessen wird wie der unseres eigenen Volkes! Anderen war die Geschichte, durch die die Helden doch so dröhnend schreiten, nur eine Art Entfaltung der Massenpsyche, also ein biologischer Vorgang. Solche Geschichtschreibung verschuldet es, wenn neulich in einer großen Zeitung stand, für große Staatsmänner sei heute kein Platz mehr, die Massenpsyche ersetze sie; nun, die jüngste Zeit hat gezeigt, daß die Massenpsyche einen Hindenburg nicht ersetzen kann, daß doch noch am rechten Orte Helden entstehen, die man nur zu finden und zu halten wissen muß. Was soll ich noch alles von den bildergeschmückten oder auf Büttenpapier gedruckten Büchelchen sagen, die man durchblättert, aber nicht liest ? Es muß gerade herausgesagt werden, Frankreich hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine
95 ganz andere vaterländische Geschichtsschreibung aufzuweisen als Deutschland. Wir haben dem Bildungshunger unseres Volkes eine Menge populärer Büchlein naturgeschichtlichen Inhalts geboten, was ja an und für sich verdienstlich ist, aber man verallgemeinerte doch wohl unzulässig noch unbewiesene materialistische Theorien und hat damit die Ehrfurcht vor dem Unbekannten zerstören helfen und unsere wissenschaftlichen Leistungen im Ausland in unverdient schlechten Ruf gebracht. Gab es z. B. wirklich nichts Näherhegendes für das deutsche Volk als etwa sogenannten tastenden Versuchen eines Beckengehirns bei den Sauriern nachzuspüren? Findet keiner unserer zahlreichen Forscher mehr die Zeit, unserem Volke, unserer gebildeten Jugend zu erzählen von den Großtaten der Ahnen, wie ihre Vorgänger unsern Vätern und Großvätern getan ? Fühlen sie nicht in sich den Beruf, in uns jenen selbstsicheren Stolz zu erwecken auf die kriegerischen und friedlichen Taten unserer Vorfahren, die einst die Welt mit ihrem Ruhm erfüllt haben, auf daß auch wir wieder Pioniere werden können für deutsches Wesen ringsum in der ganzen Welt?
Deutscher Landwirtschaftsrat. Sitzung des 17. Februar 1917. A b ä n d e r u n g des Vereinsgesetzes.
Meine Herren! D a ß im Zeichen des Burgfriedens eine solche Vorlage der verbündeten Regierungen an den Reichstag kommen sollte, könnte ja zunächst vielleicht überraschen, denn die Erklärung, Gewerkschaften seien unpolitische Vereine, denen also auch die Jugend ungehindert beitreten kann, muß nicht nur in konservativen, sondern in allen nationalen Kreisen die äußersten Bedenken hervorrufen und bei der eigentümlichen, geistigen Verfassung dieser Kreise vielleicht sogar Gefühle der Entrüstung auslösen. Es könnte ja auch als Unfreundlichkeit der Reichsleitung erscheinen, daß sie zu den Beratungen der obersten landwirtschaftlichen Organisation Deutschlands keine Vertreter abgesandt hat. Beides ist aber nach meiner Auffassung psychologisch zu erklären: Die Reichsleitung glaubt an den Fortschritt und •— das ist ein konservativer Zug bei ihr — sieht diesen Fortschritt noch immer in den französischen Ideen von 1789. Sie ist auch von einem unerschütterlichen Vertrauen beseelt, daß Inland und Ausland, daß das ganze Volk und alle Parteien von ähnlichen Idealen erfüllt und so guten Willens sind, daß sie nur der rechten Belehrung bedürfen, um auf dem Boden dieser Ideale sich zusammenzufinden. Sie hat ja deshalb, trotz scheinbarer Mißerfolge, es nie aufgegeben, unsere gegenwärtigen Feinde, besonders die des Westens, von der Reinheit unserer Absichten zu überzeugen, und stets den festen Willen bekundet, nach dem Kriege wieder mit ihnen in jene Kulturgemeinschaft einzutreten, die eben nach ihrer Auffassung auf den Ideen von 1789 beruht. Selbst die konservativen und nationalen Elemente sind an sich nicht bösen Willens, sie ermangeln nur der richtigen Belehrung. Nichts ist aber der wünschenswerten Einstellung des Geistes auf allgemeine Ideen schädlicher als Differentiierungen! Mit den nationalen Bestrebungen kann man sich insofern noch abfinden, als die
97 freien Völker bereit sind, auch in ihren besonderen staatlichen Einrichtungen die gemeineuropäischen Theorien zu verwirklichen und nicht etwa geschichtlich begründeten Anschauungen gemäß ihr öffentliches Leben einrichten wollen. Verwerflicher sind religiöse Vorurteile, und am schlimmsten ist jedes Standesgefühl, insonderheit auch das berufsständige. Denn die Ideen von 1789 setzen eben Menschen schlechthin voraus, die ja leider wohl noch ihre eigene Sprache reden, in ihren Empfindungen aber möglichst gleichartig sein müssen. J a , man kann wohl sagen, daß selbst Fachkenntnisse für die allgemeine, also möglichst einfache und einleuchtende politische Begriffsbildung, die dann als Schlagwort die Masse beherrscht, entschieden schädlich sind. Deshalb hat die Reichsleitung bei ihren Maßregeln über Höchstpreise stets den Konsumentenstandpunkt als normalen zugrunde gelegt und die Fachberatung nach Möglichkeit ausgeschaltet, deshalb ist sie auch heute hier im Landwirtschaftsrat bei den Fachleuten ganz folgerichtig nicht vertreten. Wir müssen diesen Standpunkt zu begreifen suchen. Freilich meint z. B. Kjellen, daß die deutschen Auffassungen in einem unerhört siegreichen Kampf gegen die verblassenden Ideale der Französischen Revolution ständen, aber das ist eine schwedische, keine offizielle Auffassung. Und wenn M. Briand, der heutige leitende, französische Minister, einmal etwas spöttisch von der Furcht mancher Staatsmänner sprach, nicht fortgeschritten genug zu erscheinen, so geschah dies in einem unbewachten Augenblick, offiziell kämpft er und kämpfen gerade die erleuchtetsten Geister seines Landes, die im Innersten mit tiefster Verachtung auf das parlamentarische System und seinen Triumph der mangelnden Sachkunde herabschauen, für die gleichen Ideale von 1789! In dem Vertrauen auf diese Ideale ist es wiederum verständlich, wenn die Reichsleitung vor dem Kriege meinte, sich in ihnen selbst mit unversöhnlichen Feinden, die ja alte Vorkämpfer aller Freiheiten waren, zusammenfinden zu können, erstaunlich nur, daß sie auch trotz ihres augenscheinlichen Mißerfolges im Äußeren im Innern auch jetzt noch an die Möglichkeit der Versöhnung grundsätzlich Unversöhnlicher glaubt. Das ehrt ihren Glauben, den sie mit Rousseau teilt, an den guten Willen aller Menschen, selbst der Berufspolitiker. Oder sollte ich mich täuschen ? Ist es vielleicht doch hohe Politik, die sie veranlaßte, dieses Zugeständnis an die Sozialdemokraten zu machen I Zwar, glaubt die Reichsleitung an das Vaterlandsgefühl der Sozialv. B u b i , Reden und Anisätie.
7
98
demokraten, so dürfte sie ihr keine Belohnung dafür zusagen, denn Patriotismus bezahlen zu wollen, hieße doch den Empfänger beleidigen! Das uns feindliche Ausland und seine neutralen Freunde glauben an diesen Patriotismus jedenfalls nicht, sie werden in der Konzession — gewiß mit Unrecht •— ein Zeichen der Schwäche sehen, denn die hohe Zahl sozialistischer Abgeordneter wurde vom Ausland schon vor dem Kriege nicht als eine Folge der mehr oder minder bewußten Wahlpolitik der Reichsleitung in der Frage der Erbschaftssteuer angesehen, sondern als Ausdruck der wachsenden Unzufriedenheit mit dem Bestände des Reiches selbst. Dieser Faktor wurde von unseren Feinden in Rechnung gestellt, und aus den jetzigen Zugeständnissen an die Sozialdemokratie wird das Ausland — natürlich wieder mit Unrecht — ein Zeichen der Furcht vor einer sozialistischen Bewegung der »Straße« sehen. Ich fürchte also, daß der gute Wille der Reichsleitung wiederum im Inland und Ausland schmählich verkannt wird. Vielleicht ist aber die ganze Maßregel nur ein Auskunftsmittel, um über eine augenblickliche Schwierigkeit hinüberzukommen und die Herren um Scheidemann etwa für die nächsten 14 Tage bei guter Laune zu halten ? Doch dazu erscheint mir denn doch der Einsatz abschreckend hoch! Die Durchdringung unserer Jugend, also der Hoffnung auf die Zukunft, mit den utopischen Lehren der Sozialdemokratie, die noch der Staatssekretär v. Bethmann selbst als Gift bezeichnete, die Aufreizung zum Klassenkampf scheint mir die nationale Geschlossenheit, der wir doch bei unserer Lage so dringend bedürfen, auf das äußerste zu gefährden. Ist aber nicht die Summe nationaler und religiöser Überlieferungen der kostbarste Schatz, den jeder von uns sein Eigen nennt, und ihn sollten wir gerade der Jugend unseres schwer arbeitenden Volkes entreißen wollen? Entreißen lassen für verschwommene Ideen, die die Wissenschaft längst als utopisch verworfen hat ? Sollte an die Stelle des stolzen Bewußtseins, ein Deutscher zu sein, unserer Jugend ein proletarisches Klassenbewußtsein eingeimpft werden, das am Ende auf dem Neide beruht ? An die Stelle ehrfurchtsvoller Ergebenheit in das Walten einer Vorsehung, die Hoffnung auf einen Zukunftsstaat, dessen Einrichtungen etwa denen des heutigen Zuchthauses entsprechen? Denn daß die Sozialdemokratie ihrerseits diesen Idealen etwa entsagen wollte, dürfte eine der vielen Täuschungen sein, denen sich die Reichsleitung hingegeben hat und immer wieder hingibt. Vielleicht kommt ihr einmal die Einsicht, vielleicht kommen
99 neue Männer. Wie aber soll uns ein neuer Staatsmann zu größerer Freudigkeit an unserem nationalen Wesen führen können, wenn erst einmal unsere Jugend den Irrlehren der Sozialdemokratie und dem Ideale des Klassenkampfes ausgeliefert ist ? Das darf nicht geschehen! Woher soll die Hilfe kommen — von Preußen? Verzeihen Sie dem Bayern die Skepsis! Einer meiner Freunde sagte mir neulich, er sei jüngst in seiner nationalen Not nach Berlin gefahren, dort habe er zwar eine Reichsleitung mit Reichstag und Reichsämtern und einen Landtag voll aufrechter preußischer Männer und Ministerien gefunden — eine preußische Staatsregierung aber habe er nicht finden können!
Auszug aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kriegswirtschaft. Kammer der Reichsrflte, 27. März 1917. Hohe Herren! Wenn ich auch in diesem Jahre die Ehre habe, vor diesem Hohen Hause über die kriegswirtschaftlichen Beschlüsse der Kammer der Abgeordneten zu berichten, so darf ich — ohne mir irgend eine Kritik über die Tätigkeit des anderen Hauses anmaßen zu wollen — doch meiner lebhaften Freude darüber Ausdruck geben, daß man dort von allen Seiten mit sichtbarem Erfolge bestrebt war, das Einigende hervorzuheben und, über den in der Natur der Sache liegenden Gegensätzen, das gemeinsame Ganze im Auge zu behalten. Da ich nun auch Ihre Zustimmung zu den Beschlüssen in den wesentlichen Punkten erhoffen darf, so wird dieses harmonische Zusammenwirken beider Kammern sowohl im Innern den notwendigen Ausgleich der Interessen fördern, wie auch nach außen den Eindruck nicht verfehlen, daß beide Häuser wie die K. Staatsregierung in vollem Einklang bestrebt sind, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Herr zu werden, die Ernährung des Volkes zu sichern und so das Durchhalten zu ermöglichen. Dieser Hoffnung dürfen wir uns nach unserer wirtschaftlichen Lage zuversichtlich hingeben, freilich auch nicht in dem Bestreben erlahmen, alle Kräfte nutzbar zu machen und in den freudigen Dienst des Vaterlandes zu stellen. Damit wird auch unsere parlamentarische Tätigkeit in dieser schweren Zeit von jenem Geiste getragen sein, der Bayern den hohen Ruhm gesichert hat, daß es wohl seine Verfassung öfters den veränderten Verhältnissen angepaßt, aber nie gebrochen hat. Bayern beweist auch dadurch nur wieder, daß es ein kerndeutsches Land ist, denn es ist deutsche Art, bei Neubildungen an das geschichtlich Bewährte anzuknüpfen, statt jene Politik der Revolutionen und Staatsstreiche zu befolgen, die bei lateinischen und slawischen Völkern das politische und wirtschaftliche Leben so schwer zu erschüttern pflegen. Jene
IOI
Welt von Feinden aber, die uns rings umgibt, wird auch vergeblich sich bemühen, aus den Verhandlungen unserer Kammern jenen Gegensatz zwischen Nord und Süd herauszulesen, den ihre leichtfertigen Staatsmänner bei ihrer freventlichen Herausforderung Deutschlands in Rechnung gestellt hatten. Hat ihnen darauf schon die bis in den Tod getreue Waffenbrüderschaft aller deutschen Stämme mit der Schärfe des Schwertes die gebührende Antwort gegeben, so ist uns Zurückgebliebenen die Einheit und Größe unseres deutschen Vaterlandes ein nicht minder hohes Ideal, für das wir alle Kräfte einzusetzen unabänderlich entschlossen sind und um dessentwillen wir, in allen Schichten unseres Volkes, die, im Vergleich zu den Prüfungen, die unseren Heldensöhnen auferlegt iin.l, immerhin kleineren Leiden willig ertragen, die die Kriegsführung britischer Brutalität unter schnödem Bruch jeden Völkerrechtes unseren Frauen, Greisen und Kindern durch den Versuch der Aushungerung auferlegt. Es ist ja selbstverständlich, daß in einem so großen Wirtschaftsgebiete wie dem deutschen, mit so verschiedener Besitzverteilung und Bevölkerungsdichtigkeit, mit so großen Unterschieden in Klima und Intensität der Bebauung, widerstreitende Bestrebungen sich geltend machen müssen, die einer Regelung von einer Zentralstelle her, etwa Berlin, widerstreben; dabei sind natürlich gewisse Wünsche des Südens denen des Nordens entgegengesetzt, es wurden aber in der Kammer der Abgeordneten die Eigentümlichkeiten der norddeutschen Bewirtschaftung von verschiedenen Seiten durchaus gewürdigt; wogegen man sich wendete, das war jener » B e r l i n - F r a n k f u r t e r Geist«, wie er dort genannt wurde. Als seine Träger wurden besonders jene K r i e g s g e s e l l s c h a f t e n bezeichnet, die, eine seltsame Paarung bureaukratischen und kapitalistischen Wesens, mit ihren Versuchen einer Zentralisation in der Tat die Züge jenes Geistes in hervorragendem Maße tragen. Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber, daß dieser Geist, den besonders einige Weltblätter als den allein gültigen darzustellen belieben, gar kein deutscher ist, sondern ein Import aus dem Westen. Er ist ein Kind der französischen Entwicklung, die aus einem überspannten Absolutismus in einen öden Radikalismus, aber unter Beibehaltung der Zentralisation, umschlug, das geistige Leben der Provinz zugunsten der Hauptstadt ertötete und jede Selbstverwaltung selbst in den Gemeinden erstickte. Ich weiß wohl, daß jene Kriegsgesellschaften bei dem wohl auch unseren amtlichen Stellen unerwar-
102 teten Ausbruche des Krieges, dessen Dauer erst recht niemand voraussah, gewissermaßen improvisiert wurden und daß jetzt eine radikale Änderung nur Verwirrung stiften müßte, ich weiß mich aber auch mit den beiden Häusern des Landtages einig, wenn ich bitte, bei dem Neuaufbau unseres wirtschaftlichen Lebens, dem französischen Ideale des intoleranten, gewaltsamen Beugens unter eine Zentralgewalt mit seiner öden Gleichmacherei das deutsche der Freiheit und verständnisvollen Duldung mit seiner Selbstverwaltung und freiwilligen Unterordnung im Dienste des Ganzen entgegenzustellen. Es hat manche Verwirrung — nicht nur in ländlichen Kreisen — angerichtet, daß die diese kosmopolitischen Tendenzen vertretende Großstadtpresse sich als offiziös hinzustellen wußte. Auch die Reichsleitung sollte eben in der Wahl ihrer Freunde vorsichtig sein und den Anschein vermeiden, als ob sie ihr Ohr nicht allen Vaterlandsfreunden — und das sind in dieser Zeit doch nahzu alle Deutschen — gleich willig leihen würde. Wenn jetzt endlich im dritten Kriegsjahre durch Abbruch der durchaus nicht romantischen Ruine des Jesuitengesetzes, und hoffentlich auch der kleinlichen Beschränkungen des katholischen Kultus in einigen Bundesstaaten, die religiöse Befriedigung erreicht werden soll, so scheint mir im wirtschaftspolitischen Programm der Zukunft der wichtigste Punkt der zu sein, die wirtschaftlichen Gegensätze, die von kraftvollen, selbstbewußten Berufsverbänden getragen werden, zu einem Ausgleich durch Betonung des nationalen Gedankens zu bringen. Eine solche Politik der F r e i h e i t u n d v e r s t ä n d n i s v o l l e n D u l d u n g würde sich der gewaltigen Entfaltung des gesamtdeutschen Nationalgefühls in diesem Weltkriege bedienen können, ohne auf das reiche Sonderleben verzichten zu müssen, das eben deutsche Art ist und dem wir die wirtschaftliche und geistige Blüte unserer Kultur verdanken und die, der geschichtlichen Entwicklung entsprechend, in unserer Reichs Verfassung gewährleistet ist. Gerade die K. bayerische Staatsregierung scheint mir ganz besonders als Hüterin dieser Freiheit berufen zu sein. Den Vorwurf des Partikularismus braucht sie nach den Lehren dieses Weltkrieges gewiß nicht zu befürchten, wenn sie den Charakter des Deutschen Reiches als Bundesstaat betont. Wenn sie aber sich gegen die Z e n t r a l i s a t i o n u n d B e v o r m u n d u n g in den Fragen des wirtschaftlichen Lebens wenden würde, so hätte sie die Erfahrungen dieser Kriegszeit und die Billigung der großen Menge des Volkes in Nord und Süd für sich. Was die echt-
103
deutsche freiwillige Organisation zu leisten vermag, das zeigt die Weltstellung unserer Industrie und unseres Handels, beweist das deutsche Genossenschaftswesen bei der landwirtschaftlichen Erzeugung, während die spöttische Frage bei jeder neuen Kriegsgesellschaft wieder auftaucht, ob es ihr wieder gelingen würde, das von ihr behütete Erzeugnis hinwegzuorganisieren. Meinte doch neulich ein großes norddeutsches Blatt, als eine Reichsaaleinfuhrgesellschaft in irgendeinem Berliner Hotel neu gegründet wurde, selbst diesem zählebigen Fische würde es kaum gelingen, seine Organisierung zu überdauern. Freundlicher als diesen Gesellschaften steht die öffentliche Meinung den K r i e g s ä m t e r n gegenüber. Sie sind aus der Kriegszeit geboren, und es ist nicht zu bestreiten, daß die besondere Lage eine einheitliche Zusammenfassung unserer wirtschaftlichen Kräfte, einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der verschiedenen Teile des Reichsgebietes erheischt, sie sind daher gegenwärtig als Zentralbehörden durchaus an ihrem Platze, und sie werden um so ersprießlichere Dienste leisten können, in je engere Fühlung sie mit den bestehenden Verwaltungsbehörden treten, deren mustergültige Leistungen, trotz der unheimlich wachsenden Arbeitslast, zu meiner lebhaften Freude auch in der Kammer der Abgeordneten die verdiente Anerkennung fand. Dagegen scheint es mir falsch, wenn man nun auch in den einzelnen Bundesstaaten solche Ämter schaffen will, zumal bei uns in Bayern scheint mir dazu kein Bedürfnis zu bestehen. Wie manche Kranke immer nach neuen Ärzten mit neuen Mitteln rufen und zunächst von den Erfolgen der neuen Behandlung entzückt zu sein pflegen, so rufen gewisse Kreise bei uns nach neuen Ämtern, neuen Männern. Diese neuen Männer pflegen neue Programme aufzustellen, die neue Hoffnungen erwecken, gegenseitig überfließendes Vertrauen — und dann nach den ersten Flitterwochen die Enttäuschung! Auch der neue Mann kann ja nicht Wunder wirken, jedenfalls verfügt das neue Amt nicht, wie die alten Ämter, über einen Stab mit den Verhältnissen vertrauter Hilfsarbeiter, die doch gerade bei uns in Deutschland schon in Friedenszeiten ihr bestes Können an ihre Aufgaben gesetzt haben und die wirtschaftlichen Kräfte, Land und Leute, aus eigener Anschauung kennen. Die Beschlüsse der Kammer der Abgeordneten zielen nun dahin, daß bei den Militär- und Zivilbehörden Sachverständige aus den Kreisen der Landwirtschaft, des Gewerbes und des Handels zugezogen werden. Ich glaube, man kann diesem Wunsche nur zustimmen, wenn auch
104
anerkannt werden muß, daß der neue Herr Staatssekretär des Innern Helfferich sich nicht so ausschließlich des Rates der Theoretiker bedient, wie sein Vorgänger, sondern bestrebt ist, mit den Vertretern der schaffenden Stände Fühlung zu bekommen. Daß bei den Kriegsgesellschaften neben der ausgedehnten Zuziehung von Fachleuten auch eine stärkere Zuziehung Bayerns gefordert wird, erscheint schon deshalb notwendig, weil Bayern als verhältnismäßig industriearmes Land an den Kriegsgewinnen weniger beteiligt ist als mehr begünstigte Bundesstaaten und weil diese gewaltigen Kapitalsverschiebungen eine schwere Sorge für unsere wirtschaftliche und finanzielle Zukunft bedeuten. Ich darf daran wohl die bestimmte Hoffnung knüpfen, daß die K. Staatsregierung für eine möglichst große Beschäftigung unserer Industrie mit allem Nachdruck eintritt und, wo sich nur irgend Gelegenheit bietet, für die Ansiedlung neuer Industrien sorgt. Die andere Kammer verlangt ferner die Nachprüfung des finanziellen Gebarens der Kriegsgesellschaften, sowie eine Regelung der Preisgestaltung durch die Reichsprüfungsstelle; dem ist wohl ebenso zuzustimmen, als daß sie eine Ausnutzung der Monopolstellung dieser Gesellschaften für die Zeit nach dem Kriege zu verhindern sucht. Wir wollen aber nicht verkennen, daß die Wurzel des Übels tiefer hegt, daß der w i r t s c h a f t l i c h e S o z i a l i s m u s in diesem Kriege vollständig versagt hat. Schon vorher hatte zunächst eine wissenschaftliche Richtung der Nationalökonomie, manche Ausschreitungen verallgemeinernd und mit Recht sich gegen den allzu großen Materialismus unserer Zeit wendend, den Wert der Privatinitiative unterschätzt. Dieselbe Tendenz waltete auch in anderen Zweigen der Wissenschaft, den Wert der Persönlichkeit herabzudrücken und biologische Erfahrungen auf das geschichtliche und politische Gebiet anzuwenden. Das ging soweit, daß man, mindestens für die Gegenwart, die Möglichkeit großer Führer leugnete und die Lenkung unserer Geschicke der Massenpsyche anvertrauen wollte. Der Krieg mit Männern wie H i n d e n b u r g , L u d e n d o r f f , T i r p i t z , S c h e e r , Zeppelin hat uns eines besseren belehrt. Aber auch unser wirtschaftliches Leben hätte nie diese Höhe erreicht, unsere Industrie hätte nie diese gewaltige Entwicklung nehmen, nie Millionen von Arbeitern Brot gewähren können, wenn ihr die großen Kapitäne, Erfinder und Unternehmer gefehlt hätten! Daß manche von ihnen vielleicht schroffe Herrennaturen waren, ist ja zuzugeben, aber in psychologischen Gesetzen begründet, ebenso
105
wie, daß sie sich von Rücksicht auf außergewöhnliche Gewinne leiten ließen. Mittelmäßigkeiten sind sicher bequemer — vielleicht auch ethisch höher zu werten, — aber Erfolge darf man sich von ihnen nicht erwarten! In einem geordneten Staatswesen wird der Schutz der Rechte des Schwächeren gegen Übergriffe gewährleistet werden können und müssen, eine Herrschaft der Plutokratie wie sie der große amerikanische Freistaat und zum Teil auch England und Frankreich zeigen, wäre bei uns ausgeschlossen. Aber innerhalb dieser Schranken können wir, die wir unsere ungünstige geographische Lage auch im Wirtschaftsleben durch außergewöhnliche Leistungen ausgleichen müssen, solcher energischer Naturen nicht entbehren. Die F u r c h t vor der s t a r k e n P e r s ö n l i c h k e i t beherrscht ja gewisse selbst führende Kreise auch im politischen Leben, dem instinktiven Empfinden unseres Volkes ist sie indes völlig fremd, dieses hat von je in seinen großen Männern seine natürlichen Führer gesehen, es weiß, daß es nur auf diese in der Stunde der Gefahr sich verlassen kann. Als nach den Stürmen der Revolution das ganze soziale und wirtschaftliche Leben Frankreichs, allen Theorien der Philosophen zum Trotz, die ja eine goldene Zeit hatten heraufführen und auch die Nationalökonomie nach »vernünftigen« Gesetzen hatten regeln wollen, zusammengebrochen war, da warf sich die ganze Nation, die reich gewordenen Spekulanten wie das schmählich ausgebeutete, hungernde Volk in die Arme Bonapartes. Diesem kam dabei seine außergewöhnliche Menschenkenntnis zu statten, während alle Theoretiker einen Idealmenschen zu konstruieren pflegen und sich dann wundern, wenn in der harten Wirklichkeit die auf diese falsche Voraussetzung aufgebauten Systeme elend wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen. Darin liegt es auch begründet, wenn jede bureaukratisch-theoretische Reglementierung unseres Wirtschaftslebens scheitern muß. Es ist, als wenn man einen Baum künstlich ernähren wollte, nachdem man ihm zuvor all die unzähligen kleinen Saugwurzeln abgeschnitten hat, mit denen er in weitem Umkreis und aus der Tiefe sich alle erreichbare Nahrung selbst sucht. Wenn man der Landwirtschaft und der Industrie jeden Anreiz zur Produktion nimmt, wenn man den Handel ausschalten will, so hieße das, namenloses Elend heraufbeschwören. Auch mir sind Fälle bekannt, wo aus einer übertriebenen Rücksicht auf die Valuta wichtige Nahrungsmittel aus dem Auslande nicht haben eingeführt werden dürfen. Ich komme noch in anderem Zusammenhang
io6 auf die Weinpreise zurück, hier möchte ich nur sagen, daß sie in der Tat eine beängstigende Höhe erreicht haben. Besonders groß ist der Mangel an Rotwein, ich habe schon vor mehr als einem Jahre im Namen des deutschen Weinbauverbandes das K. preußische und K. bayerische Kriegsministerium auf die Rotweinnot aufmerksam gemacht, die mir besonders wegen der Lazarette bedenklich erschien. Nun erbietet sich einer unserer angesehensten Weinhändler, 1200001 guten Rotweins zu dem jetzt ungewöhnlich billigen Preise von 2,50 M. für den Liter aus der Schweiz einzuführen, er hat nachgewiesen, daß er für sich den gewiß nicht unbescheidenen Nutzen von 1 0 % berechnet hat. Das betreffende Reichsamt will die Einfuhr nur gestatten, wenn der betreffende Weinhändler auf jeden Nutzen verzichtet, die Reisekosten könne er ja in Rechnung stellen. Das Amt hat also wieder einen Idealmenschen konstruiert: den Händler ohne jeden Eigennutz! Sollte dieser Typ wirklich aus der Retorte hervorgehen, so müßte er verhungern, also aussterben! Einstweilen bleiben dann freilich unsere Kranken ohne preiswerten Rotwein! Wenn unsere Ämter den Rat der Fachleute, die ihnen ja als Interessenten verdächtig zu sein pflegen, verschmähen, so sollten sie mindestens auf die Dichter hören, freilich auf einen Dichter wie Ludwig Thoma, der die Menschen sieht, wie sie wirklich sind. Bei uns wird ja zurzeit die Frage viel erörtert, ob die Großstädte ohne die vielen tausend privaten Beziehungen zum Lande ausreichend ernährt werden können, vielleicht nehmen Seine Exzellenz der Herr Staatsminister des Innern Gelegenheit sich zu diesem, gerade München besonders interessierenden Gegenstand nachher auszusprechen. Über das Ziel sind wir uns ja alle einig, daß nämlich, wie es in einem der uns vorliegenden Beschlüsse heißt, für genügende Zufuhr und deren zweckmäßige Organisation sowie für sachgemäße Aufbewahrung und gerechte Verteilung der Lebensmittel zu sorgen sei. Dann wird die Pflicht der Erzeuger zur Ablieferung bestimmter Bruchteile an gemeindliche Sammelstellen betont, um dem verwerflichen Aufkaufen durch einzelne vorzubeugen und die Ablieferung einheitlich und sachverständig durchzuführen. Leider besteht über die Wege, die zu diesem Ziele führen, Meinungsverschiedenheit. Ich meine nun, es müßte auch auf das psychologische Moment Rücksicht genommen werden. Es muß doch verbitternd wirken, wenn in einem benachbarten Bundesstaat einer barmherzigen Schwester Eier, die sie in ihrem Heimatsdorfe für die Verwundeten unseres Deidesheimer
107
Lazarettes gesammelt hatte, durch einen Gendarmen vor allen Leuten am Bahnhofe beschlagnahmt werden. Mich aber führt es doch in einen Gewissenskonflikt, wenn ich von der mir nach Ablieferung der bestimmten Quote verbleibenden Butter nichts einer erkrankten Münchener Dame zuwenden darf, und ich, der sittlichen Pflicht gehorchend, durch Übertretung der Verordnung ein schlechtes Beispiel geben muß. Als Hindenburg, der, so karg an Versprechungen er auch ist, durch seine Taten zum wahren Vertrauensmann des Volkes geworden ist, sich an die Erzeuger wandte, da sind gerade auch unsere bayerischen Bauern zu Mehrleistungen gern bereit gewesen. Die Reichsstellen können daraus die Lehre ziehen, daß der Appell an das Vaterlandsgefühl bei unserer ländlichen Bevölkerung nicht versagt, zumal, wenn er von einer zwingenden Persönlichkeit ausgeht. An dieser Stelle sei all den Beamten, Geistlichen, Lehrern, Politikern und all den berufenen Führern und Beratern des Volkes gedankt, die aufklärend und mahnend gewirkt haben, sowie der mannigfachen Veranstaltungen gedacht, die, wie der Landfrauentag, geeignet waren, das gegenseitige Verständnis zwischen Stadt und Land zu fördern. Unterdessen aber verordnen alle Stellen, alte wie neue, nicht ohne Reibungen untereinander, weiter! Es mag ja ein Fehler deutscher Gründlichkeit sein, in den sich überstürzenden und widersprechenden V e r o r d n u n g e n , die wie ein Hagelschauer auf uns herniederprasseln, ein System suchen zu wollen, es ist aber vielleicht doch das Erstaunen verzeihlich, wenn z. B. in dem Obstland der Pfalz ein Ausfuhrverbot für Obst bestanden hat, während Milchziegen ohne jede Beschränkung von Händlern aufgekauft werden durften, um in Mannheim als Hammelrippchen verspeist zu werden. Bei mir vielleicht doppelt verzeihlich, weil ich mich seit Jahren als Vorstand des landwirtschaftlichen Bezirksvereins, bei dem beklagenswerten Rückgang der Viehhaltung in unseren Weinbaugebieten, für die Einführung der Ziegen eingesetzt hatte, die jetzt zu fabelhaften Preisen der notleidenden Winzerbevölkerung abgekauft werden. Es hat vieler Bemühungen bei den verschiedensten Stellen in Bayern und in Berlin bedurft, bis das Schlachtverbot auch für Milchziegen durchgesetzt wurde, was um so verwunderlicher ist, als ein solches für weibliche Zicklein schon früher bestanden hatte. Auch das System der Zuteilungen ist für den Laienverstand undurchdringlich. Da werden z. B. die Zwetschgen beschlagnahmt und einer großen Pfälzer Konservenfabrik, trotz ihrer
IO8 Vorstellungen, hannoverische Zwetschgen zugewiesen, die nach langen Reisen verfault ankommen, während das gleiche Schicksal des Verfaulens unterdessen die Pfälzer Zwetschgen trifft, denen man Aufkäufer anzuweisen vergessen hatte. Als alle verdorben waren, wurde dann die Beschlagnahme aufgehoben. Die Karpfen aus den Weihern des lothringischen Okkupationsgebietes mußten langsam gegen Berlin an Zügen vorbeifahren, die Straßburg mit norddeutschen Karpfen versorgten, die natürlich sich auch nicht durch besondere Frische mehr auszeichneten. Manchmal zeigt allerdings eingehendes Studium der Verordnungen einen Ausweg, so konnte ich mein mangels von Käufern dem Verderben ausgesetztes Fallobst dadurch als beschlagnahmefreie Tafeläpfel retten, daß ich sie in Kisten verpackt Verwandten verschenken durfte, in Körben wären sie als Wirtschaftsobst dem Verkehr entzogen gewesen! Die Hohen Herren verzeihen, wenn ich diese kleinen, meist persönlichen Erlebnisse hier angeführt habe, ich glaubte aber so am besten die Wirkungen des Systems auf das Objekt der Gesetzgebung verdeutlichen zu können. Jedenfalls darf man sich durch sie den Humor nicht verderben lassen, diese Irrungen und Wirrungen beweisen nur die außerordentliche Schwierigkeit, von einer Zentralstelle die Ernährung eines Volkes von 70 Millionen durchführen zu wollen. Daß das Problem aber gelöst werden muß, darüber sind wir alle einig, ebenso wie in der schärfsten Verurteilung aller der Machenschaften, die diese Notwendigkeit aus strafbarem Eigennutz erschweren. Herr Abgeordneter Dr. S c h l i t t e n b a u e r hat die wohlbegründete Mahnung an unser Volk gerichtet, von dem G e i s t e des M a m m o n i s m u s , wie er es nannte, sich abzukehren und sich wieder mehr den höheren und idealeren Gütern der Nation zuzuwenden. Wirksam hat gerade er, der doch ländlichen Kreisen sehr nahe steht, darauf hingewiesen, daß zusammen mit der Tag und Nacht unermüdlich tätigen Bauersfrau gerade die Frau des Arbeiters, die trotz eisiger Kälte stundenlang an Lebensmittelläden ansteht, um für ihre Kinder ein Maß Kartoffeln zu bekommen, so recht den Durchhaltungswillen des deutschen Volkes bekundet. Grell heben sich davon manche Verfehlungen ab, leider lehrt uns die Geschichte aller Zeiten — so vor allem die der französischen Revolution — daß es immer Leute gegeben hat, die die Not der Kriegszeiten zum eigenen Vorteile in schnödester Weise ausgebeutet haben. Meine Hohen Herren, ich bin überzeugt, daß auch Sie dem Beschluß
109
der Kammer der Abgeordneten, der die rücksichtslose Verfolgung des K r i e g s w u c h e r s verlangt, Ihre Zustimmung geben werden, wie Sie es auch mit mir für selbstverständlich halten, daß man in einem Rechtsstaate, ohne Ansehen der Person, gegen jeden Verbrecher vorgeht. Nun, diese Schatten dienen nur dazu, die Opferwilligkeit unseres Volkes in allen seinen Schichten in um so hellerem Lichte erstrahlen zu lassen. Daß in dieser ernsten Zeit die moralischen Verpflichtungen viel weiter gehen, als die gesetzlichen, hat der agrarische Abgeordnete L u t z im Auge, wenn er erklärt, daß jeder Landwirt, der von den ihm übrigen Lebensmitteln etwas zurückhält, sich des Vergehens schuldig macht, ein Verbündeter der Engländer im schnöden Aushungerungsplan zu sein. Ja, ich möchte sagen, es besteht für jeden Erzeuger die Verpflichtung, so gut und reichlich wie nur möglich, den Markt mit Gütern zu versorgen; eine Einschränkung der Produktion an unentbehrlichen Lebensmitteln aus eigennützigen Motiven erscheint mir fast noch verwerflicher als die vielleicht durch übertriebene Angst veranlaßte Zurückhaltung. ' Ich kann nun nicht schließen, ohne darauf hinzuweisen, daß viele Mißstände der o f f i z i ö s e n S c h ö n f ä r b e r e i und Vertuschung zuzuschreiben sind. Die innere Einheit und Geschlossenheit unseres Volkes wurde dann erreicht, als nach Ablehnung des Friedensangebotes England als der brutale Feind vor aller Augen erschien, der uns kaltblütig aus dem egoistischen Händlerinteresse mit roher Gewalt vernichten will. Auch im Wirtschaftskampfe wird jeder einzelne dann seine volle Pflicht tun, wenn ihm der volle Ernst der Lage klar geworden ist. Deshalb habe ich es so begrüßt, daß der Herr Staatssekretär des Innern — ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger — bei uns im deutschen Landwirtschaftsrat erschienen ist und uns nachwies, daß es sich um einen Kampf des deutschen Adlers mit dem britischen handelte, einen Kampf, der mit allen Mitteln bis zum bittern Ende auszufechten ist. Das war ein Bruch mit dem System, die wirtschaftliche Lage immer als rosig darzustellen, von Rekordernten zu sprechen und immer irgendeinen Separatfrieden in nahe Aussicht zu stellen. Warum sollte sich denn da der einzelne einschränken und wozu dann noch weitere Opfer bringen ? Unser Volk ist doch nicht wie zarte Kinder, die man begütigen, vor rauhem Zugwind behüten muß! Nein, unsere Nation ist mündig geworden, das beweist die stolze Ruhe, mit der sie in diesem Augenblicke dem furchtbaren Entscheidungskampfe der
HO nächsten Zeit entgegensieht, das beweist das unerschütterliche Vertrauen, das sie zu unserer Heerführung zu Wasser und zu Lande hat. Gegen die Heeresleitung wäre jenes Säen von Mißtrauen aussichtslos, von dem neulich Seine Exzellenz der Herr Ministerpräsident gesprochen hat. Wer dies unternehmen, wer die militärische Autorität untergraben wollte, der würde auf Granit stoßen! Wozu also in politischen und wirtschaftlichen Dingen jenes Beschönigen, Beruhigen, Beschwichtigen? Unser Volk will nicht den Hader der Parteien, aber es will von seinen Sorgen, den heißen Wünschen seines Herzens sprechen dürfen! Und hat denn nicht die Tagung unserer Kammer gezeigt, daß Männer verschiedener wirtschaftlicher und Weltanschauung sich ruhig, in vom Geiste der Vaterlandsliebe getragenen Verhandlungen über Dinge aussprechen können, die jetzt alle Herzen und Geister bewegen. Kein Mensch denkt an Weltherrschaft, an Vergewaltigung fremder Völker; was wir erkämpfen wollen, ist jener sichere s t a r k e d e u t s c h e F r i e d e n , von dem neulich der Herr Reichskanzler sprach und den wir auch für unser wirtschaftliches Leben brauchen, ein Frieden, der unserer Landwirtschaft jene Siedlungsgebiete verschafft, deren sie bedarf, um unser Volk auch in Zukunft ernähren zu können, unserer Industrie die Erze, auf daß sie auch künftig unsere schimmernde Wehr schmieden und zugleich Millionen von Arbeitern Brot schaffen kann, ein Friede endlich, der unserer Flotte und somit unserem Handel Stützpunkte für jene Weltgeltung sichert, die unser reichbevölkertes Land nötig hat, sollen nicht wieder seine Söhne heimatlos in fremde Länder wandern. Wie vor der Tapferkeit unserer Ahnen im Teutoburger Walde jene römischen Legionen dahin sanken, die unserem Lande die Freiheit rauben wollten, wie unsere Vorfahren in den Freiheitskriegen die Zwingherrschaft Napoleons brachen, der ein gallisches Imperium über Europa erträumte, so möge die Vorsehung uns gewähren, daß wir die Freiheit der Meere erstreiten und so den Erdkreis von der brutalsten und gleißnerischsten Tyrannei bewahren, die ihn je bedroht hat, der angelsächsischen und ihres Götzen Mammon.
Der deutsche Weinbau. Süddeutsche Monatshefte, Juli 1917. Die außergewöhnlich hohen Weinpreise haben das Interesse weiter Kreise in jüngster Zeit auf den deutschen Weinbau gelenkt, dessen Notlage ja schon in den letzten Jahren den Reichstag wie die Parlamente der beteiligten Bundesstaaten, Preußens sowohl wie Süddeutschlands, nur allzu oft beschäftigt hat. Daß wirklich eine Notlage vorhanden war, und, wie hier gleich bemerkt werden mag, noch weiter fortbesteht, beweist am besten der Rückgang der deutschen Weinbaufläche, von 120000 ha im Jahre 1906 auf 109000 ha im Jahre 1912 und auf 91815 ha im Jahre 1916. Die erschwerten Arbeitsverhältnisse im Kriege mögen ja in einzelnen Fällen die Neuanpflanzung gerodeter Weinberge verzögert haben, immerhin weist auch die Statistik von 1914 nur 101000 ha aus, die mit Reben bepflanzt waren. Die gleiche Statistik lehrt uns aber auch den Grund dieses Rückganges. Die Erntemengen sind im Durchschnitt erheblich gesunken, während die Kosten der Erzeugung gestiegen sind und die Verschuldung der Winzer unheimlich gewachsen ist. Dabei fällt noch besonders ins Gewicht, daß ein Übergang zu einer anderen Kultur gerade in den bevorzugtesten Lagen schon wegen des Wassermangels unmöglich ist, selbst der oft angeratene Obstbau wäre an den steilen, trockenen Hängen der Mosel, des Rheingaus, unserer Pfalz vielfach ausgeschlossen. Haben doch z. B. an der Saar heute in Weinberge verwandelte Berghalden früher nur dem unter normalen Verhältnissen unrentablen Schälholzbetrieb gedient, und findet man doch in manchen Weingebieten, z. B. in Franken, verlassene Weinberge, die keinem anderen Zweige der Landwirtschaft zugeführt werden können. Die Einschleppung der amerikanischen Reblaus, der europäische Reben nicht widerstehen können, hat denn auch in manchen Ländern, so besonders in Frankreich, geradezu zu einer Katastrophe geführt, und der Schaden, den sie dem französischen Nationalvermögen zugefügt hat, ist auf 16 Mil-
112 liarden geschätzt worden. Sinken der Güterpreise, Verarmung der Winzer, Verödung ganzer Landstriche durch Auswanderung waren die Folgen der Verseuchung. Als Beispiel möge das südfranzösische Departement Hérault mit der Hauptstadt Montpellier dienen. Dort wurden, unmittelbar vor dem Auftreten der Reblaus, 1869, auf einer Fläche von 220000 ha 15200000 hl Wein erzeugt. 1883 standen nur noch 43000 ha, die 2148000 hl Wein lieferten. Diese gewaltige Einschränkung der Produktion, die sich auf das ganze französische Weingebiet allmählich erstreckte, trieb natürlich auch dort die Preise stark in die Höhe, so daß die Minderbemittelten einen Ersatz für den gewohnten Tischwein suchten. Sie fanden ihn im Absinth, und so setzte gerade in diesen Jahren die furchtbare Ausdehnung des Alkoholismus in Frankreich ein. Freilich ist es dann später gelungen, mit der Reblaus zu leben, aber dieser neue Weinbau forderte einen solchen Aufwand an Kosten und Sorgfalt, daß er in minderbegünstigten Gebieten aufgegeben werden mußte. Ferner brachte er eine vollständige Umwälzung des Besitzes mit sich. Gerade die kleinen und mittleren Winzer mußten ihre Weinberge und Rebfelder veräußern, die kapitalreiche Spekulanten zusammenkauften, um darauf mit maschinellem Großbetrieb, freilich auf Kosten der Qualität, möglichst große Ernten zu erzielen. Weinbauaktiengesellschaften auf altem Bauernland sind eine moderne Errungenschaft, die dem amerikanischen Feinde im Süden Frankreichs verdankt wurde. Die an Quaütät äußerst geringen, schlecht haltbaren Produkte dieser neumodischen Industrie, die vielfach mit allerlei Chemikalien hergerichtet waren, fanden schwierig Absatz, und die notleidenden Winzer des Südens bedrohten nun die dritte Republik geradezu mit einer Revolution, als sie in gewaltigem Zuge auf Paris marschieren wollten, um dort die gesetzliche Abhilfe zu verlangen. Waren doch die Preise auf 4, ja auf 2 Pf. für den Liter gesunken, was natürlich nicht einmal die Erntekosten deckte. Vor solchen Verheerungen blieb nun allerdings der deutsche Weinbau durch die deutsche Gesetzgebung verschont, die den auch bei uns immer wieder eingeschleppten Schädling durch ein mit deutscher Gründlichkeit durchgeführtes Ausrottungsverfahren in Schranken zu halten gewußt hat. Die Millionen, die bis jetzt für diese Bekämpfung vom Reich und den Bundesstaaten aufgewendet worden sind, sind gewiß gut angelegt, ist ihre Summe doch bescheiden gegenüber den Milliardenverlusten, die die Reblaus andern weinbautreibenden Ländern zugefügt
H3 hat. Aber dessen ungeachtet befindet sich unser Weinbau in einer Krise, die in manchen Gegenden geradezu seinen Bestand gefährdet. Um ihre Ursachen zu verstehen, müssen wir auf die eigentümlichen Umstände etwas näher eingehen, die den deutschen Weinbau beeinflussen. Von größtem Einfluß ist natürlich das Klima, und hierbei ist der Qualitäts- und der Quantitätsbau zu unterscheiden. Es mag ja zunächst auffallen, daß wir in Deutschland an der Nordgrenze des Weinbaus Weine von so hervorragender Güte erzeugen, wie sie in ihrer Eigenart unübertroffen dastehen. Von den eigentlichen Dessertweinen abgesehen, die, ein Kunstprodukt, durch teilweises Einkochen des Mostes und Versetzung mit Weingeist erzeugt werden, gedeihen die höchsten Weinqualitäten überhaupt nur in gemäßigten Ländern, man denke, außer an Deutschland, an Frankreich und Ungarn. Es scheint, daß gewisse Bukettstoffe allein bei langsamer Reife sich entwickeln, wie denn ja auch andere Früchte, Erdbeeren, Pfirsiche usw., ihr feinstes Aroma gerade dort entfalten, wo sie noch eben, wenn auch langsam, voll reif werden. Darin liegt ja auch der Vorzug der in freiem Lande gezogenen Frucht vor der in künstlicher Wärme getriebenen. Die Weine südlicher Länder sind gleichartiger, können geradezu als Typen gehandelt werden, was ihre Verwendung als neutrale Verschnittweine, die dem Gesamtprodukt nicht ihre Eigenart, sondern eine gewisse Fülle und besonders einen gewissen Alkoholgehalt geben sollen, begünstigt. Unsere Qualitätsweine indessen weisen ja bei dem verhältnismäßig räumlich so begrenzten Gebiete eine erstaunliche Mannigfaltigkeit auf. Wie nahe liegen doch die Gebiete der Saar und Mosel, des preußischen Rheingaus, Rheinhessens, der Pfalz und auch Frankens auf der Karte beieinander, und doch braucht man nicht Kenner zu sein, um ihre Produkte zu unterscheiden. Ja selbst die einzelnen Gemarkungen und sogar die Lagen haben ihre besonderen Vorzüge. Am Rhein weist z. B. der Markobrunner einen feinen »Stahl« auf, den ein kaum einen Büchsenschuß entfernter anderer Weinberg niemals erreicht, an der Mosel ist der Bernkastler Doktor durch seinen Rauchgeschmack bis nach England berühmt, und selbst der Laie wird das Förster Ungeheuer wuchtiger finden als die unmittelbar benachbarte, durch elegante Süße ausgezeichnete Forster Elster, und dabei werden alle diese Hochgewächse von derselben Traubensorte, dem v. Buhl, Reden und AufsAtxe.
8
U4 Riesling, gewonnen. Zeitlich besteht die gleiche Verschiedenheit wie räumlich; selbst gute Jahrgänge lassen sich durch Geschmack und Geruch leicht unterscheiden, eine Eigentümlichkeit, die unsere Hochgewächse viel mannigfacher erscheinen läßt als etwa die Weine von Bordeaux, Burgund und Tokay. Diese feinen Unterschiede, das Entzücken des Kenners, bedingen aber auf dem Weltmarkte eine gewisse Schwierigkeit für den Absatz. Die Amerikaner z. B. wünschen immer die Marken »wie gehabt«, was eben bei unseren Weinen nicht zu liefern ist, während sich die Champagnerfabrikation diesen Wünschen dadurch anpaßt, daß sie gute und geringe Jahrgänge so miteinander verschneidet, daß sie ein möglichst gleichmäßiges Produkt erzielt. Früher spielte dieser Verschnitt auch im deutschen Edelwein eine größere Rolle, man suchte die verschiedenen Qualitäten des Rheingaus und der Pfalz z. B. auszugleichen, und so war die Marke Liebfrauenmilch vielfach eine solche Vereinigung rheinischen und pfälzischen Weines. Allmählich aber lernten immer weitere Kreise die speziellen Vorzüge der verschiedenen Gebiete kennen, und besonders auf den Weinversteigerungen bildete sich der Geschmack des Publikums aus. Man begann eben den Wein zu schätzen wie etwa ein Kunstwerk, ein in sich vollendetes Ganzes, das durch Vermengung mit anderen nur verlieren konnte. Die Versteigerungen nun, die jährlich das ganze Produkt eines bestimmten Qualitätsgebietes, für Mosel und Saar z. B. in Trier, in aufeinanderfolgenden Tagen zu Markte brachten, gewährten allen Kennern und Liebhabern einen guten Uberblick über das gesamte Wachstum eines bestimmten Jahrganges und die Möglichkeit, ohne erhöhte Kosten durch den Zwischenhandel, den ihnen zusagenden Wein selbst zu erwerben. Fast sämtliche größeren Gutsbesitzer und die meisten Winzergenossenschaften an Saar, Mosel, Rhein und in der Pfalz pflegen ihre Edelweine etwa anderthalb Jahre nach der Ernte in Versteigerungen feilzubieten und haben sich zum Verein der Naturversteigerer zusammengeschlossen. Diese Vereinigung bietet auch dem Verbraucher erhebliche Vorteile. Bei hohen Konventionalstrafen müssen sämtliche Besitzer ihre Weine — soweit sie eine gewisse Qualität besitzen — zur Versteigerung bringen, dürfen also nicht etwa besonders zugkräftige Nummern vorher wegverkaufen, sie dürfen nur eigene Weine — in einigen Fällen auch aus gekauften, aber selbst gekelterten Trauben gewonnene — zu Markt bringen, und sie bürgen für volle Wahrheit ihrer Angaben
"5 über Jahrgang, Traubensorte, Lage und Sorgfalt der Lese. Also muß ein 1915er Deidesheimer Kieselberg Riesling Auslese unverschnittener Kieselberg des Jahrganges 1915 sein, der durch sorgfältige Auslese aus Rieslingtrauben gewonnen wurde, muß völlig frei von Zucker- und Wasserzusatz und nur der gebräuchlichen Kellerbehandlung unterworfen worden sein. Nach dem geltenden Weingesetz muß jeder Wein naturrein sein, nicht nur, wenn er ausdrücklich als solcher bezeichnet wird, sondern auch, wenn er den Namen eines bestimmten Produzenten und die Versicherung einer sorgfältigen Lese trägt. Diese sorgfältige Lese spielt gerade beim deutschen QualitätsWeinbau eine außerordentliche Rolle, sie erklärt auch zum Teil die große Mannigfaltigkeit der deutschen Edelweine. Ein feiner Rotwein kann nur aus Vollreifen, aber noch nicht faulen Trauben gewonnen werden, letztere sind schon wegen der Farbe und der fehlenden Gerbsäure auszuscheiden. Dagegen sind edelfaule Beeren, entweder wie Rosinen von der Sonne eingetrocknet oder aber mit dem graubraunen Rasen des Edelfäulepilzes bedeckt, geradezu Vorbedingung für die Hochgewächse am Rhein wie an der Hardt, während Mosel und Saar wieder ihre Eigenart dem zwar Vollreifen, aber noch nicht in Fäulnis übergegangenen Riesling verdanken. Die Edelfäule wird nun durch die Nebelregen des Spätherbstes begünstigt, die Lese kann also nur eine Spätlese sein, die Güte des Weines wird daher nur auf Kosten der um diese Zeit rasch schwindenden Menge gewährleistet. Leider stellen sich aber bei der Fäulnis auch andere Pilze und Bakterien ein, zumal bei anhaltendem Regen der grünliche Pinselschimmel, der dem Weine eine ganz abscheuliche Säure gibt, während bei zu großer Hitze die Gefahr besteht, daß besonders in durch Wespen oder Vogelfraß beschädigte Beeren Essigbakterien dringen, die den Wein völlig verderben können. Es ist daher ein sorgfältiges Auslesen nicht der ganzen Trauben, sondern auch der einzelnen Beeren durch langjährig geschulte Winzerinnen notwendig, um ein wirkliches Hochgewächs zu erzielen. Bei dem eigentlichen »Ausbruch« werden überhaupt nur die einzelnen Beeren, unter sorgfältigster Überwachung, von den Trauben abgepflückt und so in oft tagelangem Mühen aus einer größeren Fläche etwa die bescheidene Menge von 600 bis 8001 Maische erzielt, die dann das Halbstück (6001) oder Viertelstück jenes Weines ergibt, der jetzt die fabelhaften Preise von mehr als 100 M. bringt, was berechtigtes Aufsehen erregt hat. 8»
n6 Diese Preise erklären sich natürlich einmal aus den besonderen Verhältnissen des Krieges, und jeder einsichtige Besitzer wird selber froh sein, wenn normale Zeiten auch hierin wiederkehren. Jedoch berichtet der kenntnisreiche Geschichtsschreiber des deutschen Weinbaus, Dr. F. v. Bassermann-Jordan, schon von einem römischen Weine, bei dem die Flasche etwa 20 M. nach heutigem Gelde gekostet hat, und berechnet ferner, daß eine 1852er Deidesheimer Auslese aus unserm Weingute nach heutigem Werte ungefähr 40 M. die Flasche gebracht hat, während ein 1893 er Steinberger aus der preußischen Domäne mit fast 70 M. bezahlt worden ist. Es ist bei der Beurteilung solch hoher Preise nicht nur die Seltenheit solch hervorragender Jahrgänge in Rechnung zu stellen, sondern auch die Tatsache, daß durch das Herausnehmen der edelsten Beeren natürlich die Güte der anderen Hochgewächse des betreffenden Gutes, denen sje entzogen wurden, herabgemindert wird. Es fragt sich also: ist es überhaupt wirtschaftlich, auf Kosten der Menge, solche teueren Auslesen zu erzielen? Das ist nun doch der Fall, ihre Notwendigkeit ergibt sich aus dem Wettbewerb der einzelnen Weingebiete; denn derartige Auslesen heben den Ruf der ganzen Gegend und lenken die Aufmerksamkeit des Konsumenten wie des Handels auf die Produkte des gesamten Gebietes, so daß sie indirekt auch dem mittleren und kleineren Besitzer zugute kommen. Früher, als noch nicht weitere Kreise durch die Versteigerungen auf die Güte der Edelweine der Mosel und der Pfalz z. B. hingewiesen waren, galten die Namen »Deidesheimer« oder »Moselwein« eben als Bezeichnungen für einen besseren oder leichten Tischwein, wenn sie nicht gar wie die Weine der Mittelhardt als Verschnittweine vom Handel weit unter ihrem Werte aufgekauft wurden. Da nun, wie wir später sehen werden, sowohl die Zahl der Mißernten wächst, wie die Produktionskosten immer steigen, so drohte der Weinbau in diesen Gegenden unrentabel zu werden. Der Rückgang der Bevölkerung in den Weinbaustädtchen sprach eine ebenso beredte Sprache wie die unheimlich steigende Verschuldung des Winzerstandes. Da zeigte sich die wirtschaftliche Bedeutung des größeren Besitzes, der allein über die nötige Fläche und das nötige Kapital verfügt, um solche Auslesen zu erzielen, die sich, schon durch die Prämierungen auf den Weltausstellungen, die Anerkennung schließlich erzwangen. Dr. v. Bassermann-Jordan weist auch nach, daß es in früheren Jahren gerade die geistlichen Güter in Franken und am Rhein — man denke an
ii 7 die Namen Steinberg und Johannisberg — waren, die Qualitätsbau mit Auslesen betrieben und so ihren Gewächsen Weltruf verschafften. Im 19. Jahrhundert war es dann der gebundene Besitz am Rhein und an der Mosel und Saar, der diese Funktion übernahm. Ich bin mir wohl bewußt, wie wenig ich mit der Zeit in Einklang stehe, wenn ich — obgleich ich mich hierbei auf das Zeugnis des ja heute so viel gepriesenen Machiavelli berufen kann — für die nützliche Wirkung des gebundenen Besitzes hier auf den Qualitätsbau eintrete, ich kann aber auf die bittere Erfahrung hinweisen, wie schwer es der Pfalz geworden ist, den wahren Wert ihrer herrlichen Erzeugnisse zur Geltung zu bringen, da ihren Lagen die Erinnerung an alten geistlichen Besitz und Klang adeliger Namen fehlte. Eine zu große Teilung der bestehenden Weingüter oder des zu ihrer Bewirtschaftung nötigen Kapitals müßte den so schwer durch die Versteigerungen der letzten Jahrzehnte errungenen Ruf wieder gefährden und würde sich in niederen Preisen auch bald dem kleinen Winzer fühlbar machen. Frankreich, das ja seit der Revolution keine Fideikommisse mehr kennt, kann nicht als Gegenbeweis angeführt werden, da die dortigen berühmtesten Weinschlösser in die Hände der in Paris weilenden Börsenmagnaten, wie z. B. der Rothschild, übergegangen sind; diese Betriebe sind aber schon als reine Luxusbetriebe, die auf die Kosten gar keine Rücksicht zu nehmen brauchen, durchaus nicht vorbildlich zu nennen, eher sogar schädlich. Ob aber der Staat in der Lage wäre, so viel Domänen aufzukaufen, um den großen Privatbetrieb und dessen Initiative zu ersetzen, erscheint mir fraglich. Ein Blick in eine beliebige Weinkarte aber lehrt, daß aus einmal bekannt gewordenen Gebieten auch Qualitätsweine kleinerer Besitzer heutzutage mit Lage und Jahrgang aufgefühit werden, wie die Ergebnisse der Versteigerungen auch in normalen Jahren vor dem Kriege beweisen, daß sie lohnende Preise erzielten. Vorbildlich wirkt natürlich auch der größere Besitz sowohl im Rebbau wie in der Kellerbehandlung. Nur ist dabei zu beachten, daß in der eigentlichen Technik des Weinbaues gerade der Qualitätsbetrieb sich für Neuerungen weit weniger eignet als der Quantitätsbau. Auf den steilen trockenen Hängen kommen die künstlichen Dünger nicht so zur Wirkung als in den feuchten Lagen der Ebene, die Lage schließt auch den Maschinenbetrieb fast völlig aus, endlich müssen feine Weine bei mäßigem Drucke langsam abgekeltert werden, schon damit man nicht die Stiele und Kerne
II8
der Trauben zerquetscht, was dem Weine einen unangenehmen Beigeschmack verleihen würde. Der Kenner wird daher, ob ihn sein Weg an den Rhein oder an die Garonne führt, schon den alten Holzkeltern, die noch nicht durch die eisernen weit schneller pressenden hydraulischen ersetzt sind, ansehen, daß er sich in einem Qualitätsgebiet befindet. Aber mit den steigenden Löhnen verteuert dieser altmodische Handbetrieb natürlich den Qualitätsbau sehr erheblich. Ja, warum wird dieser dann nicht aufgegeben ? Für seine Beibehaltung sprechen durchaus nicht sentimentale Gründe, sondern sie ist ein Gebot der Notwendigkeit ! Unsere Qualitätsgebiete bringen die Masse der Trauben nicht auf, die für einen rentablen Quantitätsbau erforderlich sind. Das mußten unsere Bauern in der Pfalz zu ihrem Schaden erfahren, als sie, durch die vielen schlechten Jahrgänge entmutigt, die Weinstöcke auf starken Fruchtertrag anschnitten. Trotz reichlicher Düngergaben starben die Reben darauf einfach ab. Wir können gewisse, heute hoch bezahlte Berglagen landwirtschaftlich überhaupt nicht anders ausnutzen als durch Weinbau, und zwar durch Qualitätsbau, und Qualitätsbau bedarf wieder, um lebensfähig zu sein, der hochbezahlten Spitzen. Unsere klimatischen Verhältnisse führen es aber mit sich, daß die Zahl der nassen, sonnenlosen Jahre, die den Wein nicht ordentlich ausreifen lassen, oder in denen der Fruchtansatz durch schlechtes Blütenwetter ungenügend ist, viel größer ist als in mehr begünstigten Ländern. Dafür können natürlich nur lohnende Preise guter Jahrgänge entschädigen. Der deutsche Qualitätsbau muß daher mit einer weit längeren Reihe von Jahren rechnen, als z. B. der Obstbau, wenn von einer Rente die Rede sein soll, und diese Rente wird immer bescheiden sein. Der pfälzische Sachverständige für Weinbau führt in einer interessanten Berechnung aus, daß trotz der hohen Preise der letzten Versteigerungen eine Rente von nur 3 % in 10 jährigem Durchschnitt erreicht wurde. Wie groß die Preisunterschiede sind, möge ein Beispiel aus meinem eigenen Betriebe lehren; dort kostete der Liter Forster Kirchenstück im Jahre 1893 20 M., während er im folgenden Jahre, trotz geringerer Erntemenge, mit nur 70 Pf. bezahlt wurde! Beim Quantitätsbau sind die Preise, — abgesehen von der jetzigen Kriegszeit — natürlich gleichmäßiger, die Ernteergebnisse größer — bis viermal so groß — der Betrieb aber einfacher. Zunächst fällt die Notwendigkeit der Spätlese fort, die reifen Trauben brauchen also nicht den Unbilden der herbstlichen Witterung ausgesetzt zu wer-
ii9 den, das etwa mangelhafte, zu sauere Produkt kann durch Zucker und einen bescheidenen Wasserzusatz verbessert werden. Die Nachfrage nach kleinen Konsumweinen ist selbstverständlich viel größer und gleichmäßiger, ob nun die Weine vom Handel aufgekauft werden wie in der Südpfalz oder in den Quantitätslagen Rheinhessens, oder ob sie, wie die badischen und württembergischen, im Lande selbst einen lohnenden Absatz finden. Daß der technische Betrieb beim Massenbau mehr den Erleichterungen der Neuzeit angepaßt werden kann, wurde schon oben erwähnt. Alles in allem beweist das stattliche Aussehen der Winzerorte, daß in früheren Zeiten sowohl der Qualitäts- wie der Quantitätsbau unsere fleißigen Winzer ernähren konnte. Mit Mißjahren mußte immer gerechnet werden bei unserm wechselvollen Klima, aber, wie das alte Sprichwort sagt: »der Wein zieht den Bauern aus, aber er zieht ihn auch wieder an«. Leider ist jedoch im zwanzigsten Jahrhundert eine Wendung zum Schlimmeren eingetreten. Der sehr verdienstvolle, leider vor kurzem verstorbene Reichstagsabgeordnete Wallenborn in Trier hat hiei sehr interessante Zahlen gegeben. Der Preisrückgang der Weinberge betrug danach in den Jahren 1900—1912 an der Mosel, Saar und Ruwer 20—75%, bei 50 Winzergenossenschaften des gleichen Gebietes stieg die Verschuldung von 1900—1910 um 5 2 2 % ! In anderen Gegenden war die Lage nicht minder traurig. Die Ursache dieser Verschuldung ist die steigende Zahl der Mißernten; die Mosel hatte von 1850—69 nur fünf Fehljahre, von 1 9 0 1 — 1 9 1 2 aber deren neun zu verzeichnen, auch unsere Pfälzer Weingutsbesitzer haben in der gleichen Zeit nur in drei Jahren einen die Selbstkosten übersteigenden Gewinn buchen können. Dabei brachte 1916 wiederum einen völligen Ausfall, und leider hat die größere Anzahl der Winzer und Gutsbesitzer ihre 1 9 1 5 e r Ernte gleich im Herbst zu den damals gedrückten Preisen veräußert. Der Notstand ist also gleich geblieben. Was aber verschuldet die vielen Mißernten ? Ganz allein die immer schärfere Heimsuchung unserer heimischen Reben durch tierische und pflanzliche Schädlinge. Es handelt sich dabei einmal um neue, meist aus Amerika eingeschleppte Rebfeinde, dann aber haben auch unsere altgewohnten Rebmotten sich in unheimlicher Weise vermehrt. In früheren Zeiten bestand zwischen dem Weinstock und seinen Schädlingen, die seit alters her in gewissen Jahren verheerend aufgetreten waren,
120 ein Zustand des Gleichgewichtes. Da wurde in den 50 er Jahren aus Amerika ein Pilz, das Oidium, eingeschleppt, der die noch unreifen Trauben als grauer, übelriechender Schimmel überzog. Dieser Pilz verursachte große Ernte Verluste, bis es der Wissenschaft gelang, in dem Schwefel ein Bekämpfungsmittel zu finden, das bei einigermaßen günstiger Witterung Abhilfe verschafft. In einem so nassen Sommer wie 1916 versagt freilich auch der Schwefel. Die Verheerungen dieses Pilzes lenkten nun die Blicke auf die üppig wachsenden amerikanischen Reben, deren Einführung von Sachverständigen und Behörden empfohlen wurde, um den altersschwach gewordenen europäischen Weinbau zu verjüngen. Diese Maßregel sollte erst recht verhängnisvoll werden, weil mit den Amerikanern die damals noch imbekannte Reblaus nach Europa kam. Die europäische Rebe vermochte ihr auf die Dauer nicht zu widerstehen, und so sah man sich genötigt, da, wo das Ausrottungsverfahren nicht mehr der Seuche Herr werden konnte, die durch mächtiges, gegen die Angriffe des Insektes besser geschütztes Wurzelwerk sich auszeichnenden, amerikanischen Rebarten zu verwenden. Da diese von Natur keinen trinkbaren Wein lieferten, und auch die Kreuzungen mit der europäischen Rebe nicht die in sie gesetzten Hoffnungen verwirklichten, so sah man sich gezwungen, die heimischen Sorten auf amerikanische Unterlagen zu veredeln. Bei uns in Deutschland spielt dieser neue Weinbau noch keine bedeutende Rolle, wohl aber hat ein Ende der 70er Jahre mit diesen Reben eingeschleppter neuer Pilz, die Peronospora, große Verheerungen bei uns angerichtet und scheint sich leider dauernd eingebürgert zu haben. Sie befällt zunächst die Blätter, geht dann aber auch auf die Trauben über, wo sie die »Lederbeeren« verursacht, die schließlich abfallen. Die Vernichtung der Blätter allein genügt jedoch schon, nicht nur die Ernte des Jahres zu vernichten, sondern auch die künftigen in Frage zu stellen, da ohne die Assimilation der Kohlensäure aus der Luft durch die grünen Organe das Holz nicht ausreifen und die Fruchtknospe sich nicht ausbilden kann. Von Peronospora befallene Reben sind daher besonders frostempfindlich und unfruchtbar. Da sich die Sporen des Pilzes mit unheimlicher Schnelligkeit über ganze Länder verbreiten, so gefährden sie bei nassem Wetter oft in wenigen Tagen die ganze Ernte. Der Zufall hat im Kupfervitriol ein Mittel finden lassen, das freilich nur vorbeugend wirkt und daher immer von neuem aufgebracht werden muß, solange sich neue Blätter bilden.
121
So ist ein 5—7 maliges Spritzen mit Kupferkalkbrühe keine Seltenheit mehr, und in feuchten Jahren kann, wie 1906, die Ernte doch nicht mehr gerettet werden. Diese Krankheit gefährdet gerade jene tieferen, feuchten und nährstoffreichen Lagen, die für den Massenbau in Betracht kommen, ohne indessen in nassen Jahren die trockenen Hänge des Qualitätsbaus zu verschonen. Auch kommt bei diesen Pilzkrankheiten sehr erschwerend hinzu, daß sie ihre verheerende Wirkung gerade in jenen feuchtwarmen Jahren ausüben, die früher, z. B. 1828, ungemein fruchtbar und durch die reiche Entwicklung des Edelfäulnispilzes für die Qualität sehr wertvoll waren. So haben diese amerikanischen Pilze eine vollständige Umwälzung der heimischen Produktion hervorgerufen und sind in hohem Grade für die steigende Zahl der Mißernten verantwortlich. So sehr es nun einleuchtet, daß die den kräftiger wachsenden, amerikanischen Reben angepaßten Schädlinge für den schwächeren europäischen Weinstock verhängnisvoll werden mußten, so schwer ist es zunächst einzusehen, warum sich in jüngster Zeit auch unsere altheimischen Schädlinge plötzlich so gewaltig vermehren und weshalb ihren Zerstörungen die Natur nicht in gleicher Weise ein Ziel setzt, wie wir es doch z. B. bei den ihnen nahe verwandten Schädlingen der Forstkultur gewohnt sind. Von Würmern, die die Blüten zusammenspinnen und die halbreifen Trauben auffressen, war schon im Mittelalter die Rede, aber ihre Verheerungen dauerten immer nur ein paar Jahre und beschränkten sich auf gewisse Gebiete, während wir nun seit 1897 ihnen einen wesentlichen Teil der ganzen deutschen Weinernte opfern müssen. Es handelt sich hier um einen Kleinschmetterling, den Traubenwickler, der seinen volkstümlichen Namen des Heu- und Sauerwurmes daher hat, daß seine erste Generation zur Zeit der Heuernte die Blüten auffrißt, während die zweite in den reifenden Beeren haust und sie mit Hilfe verschiedener eindringender Pilze* und Bakterien zur vorzeitigen, sauren Fäulnis bringt. Diesem Nachtschmetterling hat sich nun — eine wahre Geißel gerade der bevorzugtesten Lagen — ein verwandter, aber mehr bei Tage schwärmender Wickler zugesellt, die sogenannte bekreuzte Form, deren Bekämpfung wesentlich dadurch erschwert wird, daß sie sich nicht, wie der obengenannte einbindige Wickler, fest an Generationen bindet, sondern von der Blüte an, während der ganzen Vegetationszeit, sich als Ei, Raupe, Puppe und Schmetterling gleichzeitig vorfindet. Trotzdem man kostspielige Bekämpfungsarten, mechanische,
122 wie durch Abbürsten der Rinde im Winter, durch Lampenfang, und chemische, durch Insektengifte, versuchsweise und im großen angewandt hat, gelang es bis jetzt nicht, dieses Schädlinges Herr zu werden oder auch nur seine Verheerungen wesentlich einzudämmen. Der einzelne ist natürlich im Kampfe gegen einen so flüchtigen Schädling, zumal bei der großen Zersplitterung des Weinbergbesitzes, machtlos, und ich kann auch an dieser Stelle den verbündeten Regierungen den von mir in der bayerischen Reichsratskammer erhobenen Vorwurf nicht ersparen, daß sie der gesamten Schädlingsfrage nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt haben. Diese Schädlingsfrage ist aber von gar nicht genug zu betonender Wichtigkeit nicht nur für Landund Forstwirtschaft, sondern auch für die Volksgesundheit — man denke nur an die Verschleppung von Seuchen durch Mücken, Fliegen und Schmarotzer, wie die Kleiderlaus, die Trägerin des Flecktyphus. Wir sind in wirklich wissenschaftlicher Erforschung aller dieser Fragen weit hinter anderen Ländern, besonders hinter Amerika, zurückgeblieben. Warum nun aber hilft sich, wie bei unserem Weinbau, die Natur, wie sonst so oft, nicht selber ? Zuerst wohl, weil der Mensch aus Nützlichkeitsfanatismus störend in das Gleichgewicht der Natur eingegriffen hat. Als in den reblausverseuchten Ländern die dortige Produktion in unerhörtem Grade sank, wurde in den noch verschonten Gebieten jedes Fleckchen Landes für den Weinbau ausgenützt. Damals verschwanden die wildwachsenden Sträucher, ja, selbst die Obstbäume wurden als minder nützlich umgehauen, die Zwischenkulturen als unrationell aufgegeben. So dehnte sich die »Kultursteppe «immer weiter aus, wie alle Steppen arm an Arten, aber reich an Individuen. Damals scheint die bekreuzte Form entweder eingewandert oder von wildwachsenden Pflanzen auf die Reben übergegangen zu sein. Jedenfalls bot die unendliche Rebfläche dem Wickler unbegrenzte Vermehrungsmöglichkeiten, während seinen, zum Teil auf andere Pflanzen angewiesenen Feinden der Unterschlupf und die Fortpflanzungsmöglichkeit genommen wurde. Herr von Berlepsch hat dies für die Vögel und Fledermäuse mit Sicherheit nachgewiesen; die Vogelwelt spielt aber bei der Bekämpfung der Weinbergschädlinge eine große Rolle, so vor allem die Höhlenbrüter, die, wie die Meisen, die Winterpuppen in ihrem Versteck aufsuchen, während die insektenfressenden Zugvögel die Schmetterlinge erhaschen, und die Finkenarten mit den Räupchen ihre Brut füttern. Aber nicht nur auf die Vögel, auch auf
123 die Raub- und Schmarotzerinsekten hat die allzu auschließliche Kultur der Rebe nicht minder schädlich gewirkt. — Bekanntlich beginnt die Vegetationszeit der Rebe erst spät, und so stellt sich auch der Traubenwickler, trefflich an die Lebensbedingungen des Weinstockes angepaßt, erst zur Zeit der Rebenblüte ein. Seine Feinde aber finden, seitdem alle anderen Bäume und Sträucher mit der auf ihnen lebenden Insektenfauna verschwunden sind, wenn sie im zeitigen Frühjahr aus ihrer Winterruhe erwachen, keine Nahrung mehr, müssen also verhungern oder auswandern. So ist z. B. nachgewiesen, daß gewisse Schlupfwespen, die im Sommer ihre Eier im Heuwurm ablegen, im Frühling bestimmter, auf Schlehen und Obstbäumen lebender Raupen als Zwischenwirte bedürfen. Daraus würde sich dann auch erklären, warum manche Gegenden, in denen neben dem Wein auch Obst gebaut wird, so augenfällig von den jüngsten Verheerungen verschont geblieben sind. In dem noch ursprünglicheren Südtirol wird ebenfalls durch Schlupfwespen der Traubenwickler in gewissen Schranken gehalten, wie bei uns in der Südpfalz eine Mordfliege die Schädigungen einer anderen auf der Rebe hausenden Raupe, des Springwurmwicklers, ein Ziel gesetzt hat. Bekanntlich spielen bei vielen schädlichen Forstinsekten Seuchen eine große Rolle, die durch Pilze hervorgerufen werden. Derartige Krankheitserreger befallen in der Tat auch unseren Wurm, ihrer Verbreitung scheinen wir aber selbst entgegenwirken zu müssen, weil uns die früher genannten, aus Amerika eingeschleppten Pilze zur Anwendung von Pilzgiften zwingen, wenn wir überhaupt noch Weinbau treiben wollen. Man schützt ja Seidenraupen vor ihren Krankheiten durch Einschwefeln, auch Kupfervitriol ist ein Desinfektionsmittel — wir scheinen also gezwungen zu sein, unsern gefährlichsten Feind noch mit aller Sorgfalt zu immunisieren! Alle diese Fragen bedürfen dringend der Klarstellung, wenn unser Weinbau — und inzwischen ist unser Obstbau ähnlich bedroht — erhalten bleiben soll. Gerade amerikanische Erfahrungen bei der Bekämpfung von Schädlingen durch ihre natürlichen Feinde lassen die Hoffnung nicht schwinden, daß auch wir doch noch dieser Insekten Herr werden können. Einstweilen aber verursachen noch tierische und pflanzliche Schädlinge dem Nationalvermögen unberechenbare Verluste. Hat doch 1906 in der Pfalz der Traubenwickler einen Schaden angerichtet, der mäßig auf 8 Millionen geschätzt wurde, und ebenso hohe Werte sind im gleichen Jahre dort der Peronospora
124
zum Opfer gefallen. Der fränkische Ernteverlust betrug damals sogar 96% der normalen Ernte. 1910 verursachte das Zusammenwirken beider Schädlinge am Rhein und in der Pfalz einen Ausfall von etwas mehr als drei Viertel der Ernte, während ihnen in ElsaßLothringen 84%, in Württemberg und Baden 90% zum Opfer fielen. 1916 hat endlich neben der Peronospora und dem Traubenwickler auch noch das Oidium zu einer vollkommenen Mißernte geführt. Es dürfte durch diese Zahlen bewiesen sein, daß die wachsende Zahl der Fehljahre durch das Überhandnehmen der Schädlinge verschuldet ist, aber auch in glücklicheren Jahren wird der Weinbau durch die Notwendigkeit der Schädlingsbekämpfung außerordentlich verteuert. Als Beispiel diene mein eigener Betrieb. 1885, als Schädlingsbekämpfung noch nicht zu den regelmäßigen Lasten gehörte, kostete bei uns die Bestellung eines Morgens (ein Viertel Hektar) an Geld und Naturallöhnen, von Ernte- und Düngekosten abgesehen, M. 275. Seitdem sind die Löhne natürlich gestiegen, und so hat sich diese Summe 1913 — dem letzten normalen Jahre — auf 400 M. erhöht. Nun sind aber die Kosten der Schädlingsbekämpfung noch dazugekommen, die 1913 an Pilzgiften 129 M. verlangten; für die nicht einmal gewährleistete Vernichtung des Heu- und Sauerwurmes wurden 3 1 1 M. aufgewendet, also zusammen mehr als die normalen Bebauungskosten.4) Daß im Kriege diese Ausgaben noch wesentlich gestiegen sind, versteht sich von selbst, kosten doch Dünger und Bekämpfungsmittel das Doppelte und Dreifache, und ganz abgesehen von der Steigerung der Löhne hält es natürlich außerordentlich schwer, die nötigen Arbeitskräfte zu beschaffen. Der Winzer selbst hat in all den Gegenden, wo der Weinbau vorwiegt, nur wenig Vieh und Äcker, er muß also die knappen Lebensmittel zu hohen Preisen selbst kaufen, was also auch sein Produkt, den Wein, verteuern muß. Leider ist zu befürchten, daß auch im Frieden die zur Schädlingsbekämpfung nötige Menschenarbeit nur schwer dem Weinbau zugeführt werden kann, und so ist es wohl nicht zuviel gesagt, wenn man die Behauptung aufstellt, daß von der Lösung der Schädlingsfrage die Zukunft des deutschen Weinbaus abhängt. Es wäre aber auch in sozialer Hinsicht sehr zu bedauern, wenn unser Weinbau immer weiter zurückgehen sollte, denn in keinem anderen heimischen Zweige der Landwirtschaft findet sich eine solch
125
glückliche Mischung von größerem und mittlerem Besitze, und selbst die kleine Parzelle kann hier noch so ausgenützt werden, wie sonst nur noch bei dem doch räumlich sehr beschränkten Gartenbau. Besitzende Arbeiter sind in Weinbaugegenden die Regel, und der Aufstieg vom Arbeiter zum Bauern, vom Bauern zum Gutsbesitzer ist gerade hier eine häufige Erscheinung. Hierbei zu beachten, daß selbst der größte Privat weinbergbesitz in Deutschland 75 ha kaum übersteigt, und daß 25 ha, 100 Morgen, allgemein schon als großes Weingut gelten. Überall aber, wo der Weinbau als unrentabel hat aufgegeben werden müssen, ist eine Abwanderung in die Stadt zu beobachten; Pfälzer und Rheinländer wanderten schon in früheren Zeiten massenhaft nach Amerika aus, wenn eine Reihe schlechter Jahrgänge aufeinander folgten, sonst aber waren sie, im besten Sinne des Wortes, »an die Scholle gebunden«. Wenn aber auch der kleine Besitz in den Qualitätsgebieten lohnend bleiben soll, so muß er die Konjunktur ausnützen, von dem Ansteigen der Preise beim fertigen Produkt, also etwa anderthalb Jahre nach der Ernte, Vorteil ziehen können. Vorher kann die Güte des Weines nicht mit Sicherheit beurteilt werden. Es handelt sich hier aber überhaupt um Preisschwankungen, wie sie sich nur bei sehr wenigen Waren, jedenfalls bei keinem Erzeugnis der Landwirtschaft auch nur annähernd wiederfinden. So hat der berühmte Jahrgang 1893, dessen Güte zunächst nicht erkannt wurde und der daher nur mäßige Herbstpreise brachte, den Wert der Qualitätsweine von 1889 und 1892 sehr gedrückt. Dieses große Risiko späterer Entwertung ist nicht nur bei dem den Laien oft übermäßig erscheinenden Preisaufschlag des Handels für ausgebaute Weine zu berücksichtigen, sondern es zwingt auch den Aufkäufer von Trauben bei seiner Kalkulation vorsichtig zu sein. Es erhellt hieraus auch, wie schwierig eine angemessene Preisregulierung in der gegenwärtigen Kriegszeit sein muß, so sehr die gegenwärtigen Mißstände in der Preisgestaltung zu beklagen sind und so sehr normale Preise schon deshalb in wohlverstandenem Interesse von Weinbau und Weinhandel hegen, damit nicht der größte Teil des deutschen Volkes gezwungen wird, sich des Weingenusses zu entwöhnen. Aber auch in normalen Zeiten hätten die 1915er nach der Mißernte von 1916 teurer werden und eben in diesem Anziehen der Preise hätte auch der Winzer Ersatz für den späteren Ernteausfall finden müssen. Diesen wird er aber nur dann finden können, wenn ihm die Möglichkeit geboten ist, seinen Wein so lange
126 im eigenen Keller zu halten, bis er zum Genüsse fertig ist. Da nun eigene Keltern und Kelleranlagen für den kleinen Winzer eine zu große Festlegung von Kapital bedeuten, so muß hier das gemeinschaftliche Keltern und Ausbauen der Weine durch die Winzervereine einsetzen. Dadurch wird auch bei reichen Ernten ein allzu großes Angebot von Trauben vermieden, das ein Sinken der Preise verursachte, da ja der Winzer aus Mangel an Aufbewahrungseinrichtungen zum sofortigen Verkauf genötigt war. Überhaupt hat sich für den kleineren Rebbauer unsere vom gesamten Ausland uns beneidete Genossenschaftsbewegung als hervorragend nützlich erwiesen. Einmal verschaffen Darlehensgenossenschaften dem Winzer den in keinem anderen Zweige der Landwirtschaft so unumgänglich notwendigen Kredit, damit er die schlechten Jahre überstehen kann, bis wieder eine lohnende Ernte kommt. Dann führen ihm Konsumvereine die nötigen Dünger und die mannigfaltigen Bekämpfungsmittel in guter Beschaffenheit zu und bewahren ihn so vor der Geheimmittelindustrie, die ihn unter aufdringlichster Reklame auszubeuten versucht. Endlich aber und vor allem sichern ihm eigentliche Winzergenossenschaften durch gemeinsames Einkellern der Maische und Versteigerung der Weine die Vorteile des größeren Betriebes. Gewiß wird auch durch den gemeinschaftlichen Zusammenschluß die Privatinitiative nicht ersetzt, die Blüte eines Winzervereins hängt in allererster Linie von der Persönlichkeit ihres Leiters ab, aber die musterhafte Organisation der übergeordneten Verbände, die zugleich die Geldgeber sind, übt, nachdem die Kinderkrankheiten überwunden sind, eine heilsame Kontrolle aus. Auch sind die Verbände bemüht, durch Belehrung und Satzung die Betriebe der einzelnen Winzer rationeller zu gestalten, für richtige Auswahl der Traubensorten, sachgemäße Düngung, wirksame Schädlingsbekämpfung zu sorgen und auf sorgfältige Lese zu dringen. Dadurch, daß dann die Ernte nicht zu früh angesetzt wird, und daß möglichst gleiche Qualitäten aus gleichen Lagen zusammengelegt werden, wurde auch die Güte des Produktes wesentlich gesteigert. Die Versteigerungen, in denen die Winzer vereine, abgesehen von den Schankweinen in der eigenen Wirtschaft, ihre Weine zu Markt bringen, haben nicht nur den Erfolg dieser Bemühungen und der einer sorgfältigen Kellerbehandlung erwiesen, sondern auch dazu beigetragen, den Ruf des ganzen Weingebietes zu erhöhen. Es ist deshalb erfreulich, daß ihr Verhältnis zum Handel ein besseres geworden ist, als es
1 27 anfänglich erschien. Dies wurde von Seiten der Genossenschaften auch dadurch erreicht, daß sie auf den kostspieligen und zeitraubenden Detailverkauf verzichtet haben und, wie die größeren Besitzer, ihre Ernte nur in den üblichen Gebinden von 600—12001 absetzen. Der Handel hat sich aber allmählich daran gewöhnt, seinen Bedarf, mindestens an Qualitätsweinen, auf Versteigerungen zu decken und an Stelle der Verschnitte Originalgewächse mit Herkunftsbezeichnung zu führen. Ich glaube, daß diese Entwicklung eine gesunde ist, sie wird auch durch die deutsche Weingesetzgebung erstrebt. Beim Quantitätsbau ist eine sachgemäße Verbesserung durch Zuckerwasserzusatz von höchstens einem Fünftel, gesetzlich zulässig, diese ist auch ökonomisch zu rechtfertigen, es soll ja damit nicht eine ungemessene Vermehrung herbeigeführt, sondern die Weine denen normaler Jahre angenähert werden. Eine Kontrolle, wie sie kein ausländischer Staat kennt, bürgt dafür, daß diese Grenzen eingehalten werden und daß die Weine vom Zusatz gesundheitsschädlicher Chemikalien frei bleiben. Das deutsche Publikum kann deshalb getrost seinen Bedarf in deutschen Weinen decken, ob es einen edlen Tafelwein oder einen leichten Tischwein sucht, es hilft dann seinerseits mit, den deutschen Winzer für seine äußerst mühevolle, oft durch die Ungunst der Jahre so schlecht gelohnte Arbeit zu entschädigen.
Vaterlandspartei. Rede bei der Versammlung in der Philharmonie zu Bertin, 24. September 1917. Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen die Grüße der bayerischen Freunde unserer vaterländischen Sache zu überbringen. Grüße aus jenem Bayern, das ja im Rufe des Partikularismus steht und das in der Tat augenblicklich seine Sonderart gegen die Eingriffe der hier beliebten Zentralisierung zäh verteidigt. Sollten aber unsere Feinde, denen der Reichtum deutschen Sonderlebens unverständlich bleibt, daraus für sich günstige Schlüsse ziehen wollen, so hat ihnen ja das bayerische Schwert in West und Ost die gebührende, doch wohl unvergeßliche Antwort erteilt. Daß wir aber auch die politischen Sorgen, die Sie in diesem Augenblick bewegen, teilen, beweist, daß sich sofort, als die Kunde Ihrer ostpreußischen Schilderhebung zu uns drang, bayerische Männer und Frauen der verschiedensten politischen- und Weltanschauung zu gleichem vaterländischen Wirken zusammen gefunden haben. Sind schon in unserem Vorstande Mitglieder beider Kammern, Zentrumsangehörige und Liberale vertreten, so haben unseren Aufruf Gebildete und schlichte Männer aus dem Volke, Städter und Bauern unterzeichnet. Wenn es sich um das gemeinsame deutsche Vaterland handelt, dann steht der temperamentvolle Süden nie zurück. Das wollten auch wir Daheimgebliebenen erhärten, indem wir uns Ihren Reihen anschlössen, wenn auch manche an dem Namen »Partei« einen gewissen Anstoß nahmen. Gerade bei uns in Bayern sind von je die Parteianschauungen scharf ausgeprägt, in Parteikämpfen haben wir für unseren Landtag ein gleiches, allgemeines, direktes Wahlrecht erstritten. Freilich, ob wir dadurch Gnade in den Augen Wilsons, jenes salbungsvollen Sittenrichters jenseits des Ozeans finden, kümmert uns wenig. Stolz sind wir aber darauf, daß bei uns die Beamtenlaufbahn jedem Fähigen offen steht und diesem dabei ein so weitgehendes Recht freier politischer Meinungs-
129 äußerung zusteht, wie es in dem viel berufenen parlamentarischen Westen unerhört ist. Unsere Liebe zur Gerechtigkeit, unser freiheitlicher Sinn empört sich gegen jede Tyrannei, auch gegen die brutale der Mehrheit, die zumal in den romanischen Ländern längst im Namen der Gleichheit jede Freiheit unterdrückt hat. So halten wir auch treu zu unserem angestammten Herrscherhaus, an heimischem Brauch und Glauben, mögen die Forderungen der jeweils herrschenden politischen Mode an Seine und Themse lauten, wie sie wollen. Mit Veraltetem freilich wollen auch wir aufräumen, und so erschien es auch uns eines großen Staatsmannes würdig, überall im deutschen Vaterlande alle die reichen Kräfte, die in allen Schichten unseres Volkes schlummern, dem Ganzen dienstbar zu machen; unserer freudigen Mitarbeit in Rat und Tat könnte er sicher sein. Aber ist jetzt, da die glühende Lohe des Weltkrieges unser Vaterhaus bedroht, wirklich der Augenblick zu überlegen, ob wir uns mit modernem englischen Komfort wohnlich einrichten wollen? Jetzt müssen doch alle — unter Führung der Berufenen — die Kette schließen, um zunächst den Brand zu löschen, alle, die am alten Vaterhause hängen, und welcher Deutsche hätte nicht während dieses Weltkrieges empfunden, mit welch unzerreißbaren Banden er an sein väterliches Erbe verknüpft ist, wie er, von diesem losgelöst, sich selbst verlieren müßte ? Das war doch der Geist jener unvergeßlichen Augusttage des Jahres 1914, und dieser Geist lebt auch heute noch fort, wenngleich alle die tausend Widerwärtigkeiten des Alltags ihn manchmal zu unterdrücken scheinen und wenn auch nur allzulange die schlaffe, unfrohe Art, mit der im entscheidendsten Augenblick der deutschen Geschichte die Zügel der Regierung geführt wurden, jede Begeisterung zu ertöten drohte, so daß aus dem kleinlichen Gezänke der Interessenten, der Erbfluch der Deutschen, die Zwietracht, neu zu erstehen schien. Hier die warnende Stimmen zu erheben, wem käme das mehr zu, als uns im deutschen Westen und Süden, die wir unter der Zerissenheit des Vaterlandes bei unseren schlecht geschützten Grenzen auch dann noch schmerzlich zu leiden hatten, als Preußens Fürsten endlich wieder im Norden eine deutsche Großmacht geschaffen hatten. Wenn nun heute, trotz all der herrlichen Taten unseres Heeres, wiederum Stimmen laut werden, die unsere reichgesegneten Lande jenseits des Rheines für Frankreich fordern, worauf können sich dann diese Hoffnungen unserer Feinde gründen? Doch nur v. B u h l , Reden und Aufsitze.
9
130
darauf, daß wir im inneren Hader das stolze Werk Bismarcks schmählich verfallen lassen, daß wir die alten weltfremden Dichter und Träumer geblieben sind, die selbst die Fremdherrschaft willig ertrugen. Nein — unserer Väter Erbe ist uns heute teurer als je, und so stolz wir auf die erhabenen Offenbarungen deutschen Geistes sind, so haben wir doch gelernt, daß die Voraussetzung nationaler Kultur nationale Macht ist, daß alle Geistesblüten verdorren müssen, wenn der Boden, dem sie entsprießen, verarmt, wie die Renaissance Italiens mit der Fremdherrschaft dahinsank, wie der Glanz Athens zu erbleichen begann seit jenem faulen Frieden des Nikias! Im Gegensatz zu den alternden Zivilisationen des Westens ist unsere deutsche Kultur noch nicht zur vollen Entfaltung gelangt, birgt unser heimischer Boden noch reiche Schätze. Sie können wir nur heben und ausprägen in freiem, nationalen Schaffen; für uns ist noch nicht jene müde Zeit alexandrinischer Weltkultur gekommen, die nur von Erinnerungen zehrt. Welche geistigen und künstlerischen Werke verheißt uns noch der deutsche Süden gerade jetzt, wo der deutsche Katholizismus als gleichberechtigt immer mehr anerkannt, sich immer freudiger in den Dienst des gemeinsamen Vaterlandes stellt, in geistigem Schaffen, wie die Waffe in der Hand. Ja Ströme edelsten Blutes sind geflossen für deutsche Art und deutsches Land von allen seinen Söhnen. Treue um Treue: diese furchtbaren Blutopfer, die unser ganzes Volk gebracht hat, alle die Hoffnungen, die mit der blühenden Jugend und der Volkskraft unserer Nation dahingemäht sind, heischen von uns, daß wir, alles kleinlichen Zwistes vergessend, in trotziger Geschlossenheit ausharren, bis wir eine breitere Grundlage erkämpft haben für die künftige nationale und geistige Größe Deutschlands, für die unsere besten Söhne ihr Leben hingegeben haben. Unsere Toten haben von uns zu fordern, daß wir alle zusammenstehen, Nord und Süd, Städter und Bauer, der Kaufmann der Hansa wie der Senn der Alpen, Arbeiter und Unternehmer im gewerbfleißigen Westen wie im ländlichen Osten. Der Väter reiches Erbe zu wahren gilt es für uns, die wir im Schatten der rheinischen Dome hausen, wie für das Deutschtum Luthers und Kants, für das liederreiche Schwaben und das kunstfrohe Bayern nicht minder wie für jenes Deutschland, das in Potsdam und Weimar seine Ideale findet. So haben sich zur Verteidigung der deutschen Erde und des deutschen Geistes gegen fremde Zwingherrschaft vor hundert Jahren Fürsten und Völker enge zusammengeschlossen;
i3i Feldherren wie Blücher und Yorck, wie Scharnhorst und Gneisenau wurden die Führer eines Volkes, das vor kurzem nur künstlerischen und weltbürgerlichen Idealen nachzuleben schien. Zum Kampf der Geister aber riefen Männer auf wie Stein und Fichte, wie Arndt und Görres und entzündeten in der Jugend jene Flamme vaterländischer Begeisterung, der auch die Kriegskunst eines Napoleon nicht zu widerstehen vermochte. Nur so konnten jene Rheinlande zurückgewonnen werden, die einst zu Basel jene schwächliche Sehnsucht nach Frieden um jeden Preis so schmählich geopfert hatte. Als dann die Zeiten erfüllt waren und dem deutschen Volke die Vorsehung in Bismarck den gewaltigen Reichsgründer erweckte, da mußte — eine Folge des alten Zwistes — zunächst im schmerzlichen Bruderkrieg um die Führerschaft gerungen werden. Als aber dann die Kaiserkrone auf Frankreichs Schlachtfeldern neu erkämpft war, da bezwang der Genius Bismarcks gerade die Herzen des Südens, denn wir empfinden stolz und frei genug, um uns willig in den Dienst eines Größeren zu stellen. Beim Ausbruch des heutigen Weltbrandes blieb uns freilich der zwingende Staatsmann versagt, aber wir durften uns emporrichten an den gewaltigen Taten unseres bewaffneten Volkes zu Lande wie zu Wasser, unter dem Meeresspiegel wie hoch in der Luft, wiederum verbürgen unserem Heldenvolke unvergleichliche Heerführer neue Jugend, u n s vor allen Völk e r n entstand ein Hindenburg, ein Ludendorff, ein Tirpitz, deren Namen nicht in Äonen untergehen. Ihnen schenkt unser Volk in Nord und Süd, in allen seinen Schichten jenes felsenfeste Vertrauen, das es sich nicht erbetteln läßt. Sie sollen die Rächer unserer Toten sein, sie uns jenen starken deutschen Frieden erkämpfen, der das Ziel unserer Sehnsucht ist und der durch neues Leben alle die schweren Opfer lohnen soll, eine Bürgschaft deutscher Geltung für künftige Geschlechter. Wer wäre so vermessen, in dieser Schicksalsstunde, die die Zukunft von Jahrhunderten in sich birgt, Mißtrauen in unsere Herzen säen zu wollen ? Wer wird es wagen, sich zwischen das deutsche Volk und seine Helden zu stellen? Wer?
Auszug aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kammer der Reidisräte. 18. Mflrz 1918.
Meine hohen Herren! In der Kammer der Abgeordneten nehmen die Verhandlungen über die Jugendfürsorge und Jugendpflege einen breiten Raum ein, da ja die Verwilderung unserer Jugend eine der traurigsten Folgeerscheinungen der langen Kriegszeit ist. Ein Antrag auf Schaffung eines Jugendgesetzes wurde zwar abgelehnt, sonst aber die ganze Frage des Jugendschutzes bei diesem Haushalt behandelt, obgleich nur die Staatserziehungsanstalten und die Fürsorge für Gefährdete und Verwahrloste in das Bereich des Staatsministeriums des Innern gehören. Seine Exzellenz der Herr Staatsminister hat selbst bemerkt, daß es schwer ist, die Frage nach Ressorts zu trennen und auch ich habe im Ausschusse mir erlaubt, hier einige Bemerkungen zu machen, soweit sie die Heilung der durch den Krieg bewirkten Schäden betrifft und mit der inneren Erneuerung unseres Volkes zusammenhängt. Ich habe schon in einem früheren Berichte mir die Bemerkung gestattet, daß der materialistische Zeitgeist mit seinem schrankenlosen Individualismus und der Hand in Hand gehenden Sentimentalität sich in dem »Jahrhundert des Kindes« an niemand mehr versündigt hat, als an unserer Jugend. Leute, die als Zweck dieses Daseins betrachten, sich ausleben zu wollen, werden schlechte Erzieher sein. Die Lebensgeschichte fast aller Führer unseres Volkes beweist, daß neben der mütterlichen Liebe die Strenge des Vaters die für jede Erziehung notwendigen Hemmungen gebracht hat. Die sentimentale Auffassung der Großstädte aus jener sorglosen Zeit vor dem Kriege ist nun in der Kammer der Abgeordneten von keiner Seite zum Ausdruck gebracht worden. Im Gegenteil, fast alle Redner enthüllten ein düsteres Bild von der zunehmenden Verwilderung der der väterlichen Zucht beraubten Jugend. Auch das schlechte Beispiel
133 der Erwachsenen wurde gebührend hervorgehoben. Kino- und Wirtshausbesuch, der mangelnde Sparsinn der vielfach überreich entlohnten Jugendlichen, die Überreizung der Phantasie durch die Schundliteratur, Dinge, mit denen sich ja auch die Erlasse der Generalkommandos beschäftigten', wurden gebrandmarkt. In das grellste Licht traten aber die Mißstände durch einen vom Herrn Staatsminister bekanntgegebenen Polizeibericht vom 13. Januar 1918: »Die stärkste Mehrung haben die Verbrechen und Vergehen gegen das Eigentum erfahren und ist hierbei wohl besonders bemerkenswert, daß in einer großen Zahl der Fälle wie auch bei den beiden von Jugendlichen verübten Raubmorden keineswegs eine Notlage die Triebfeder zur Straftat gebildet hat, sondern der durch keine sittlichen Hemmungen eingedämmte Wille nach einem höheren Lebensgenüsse. Viele der Jugendlichen, die nicht den hohen Arbeitsverdienst haben wie ihre Altersgenossen, wollen es diesen trotzdem in der Lebenssucht gleichtun, und viele, die reichlich verdienen, verlieren anscheinend jeden Maßstab für die richtige Bewertung des Geldes und sind, statt zu sparen, nur darauf aus, sich noch mehr Mittel für ein ihrer Ansicht nach genußreiches Leben zu verschaffen.« Die Genußsucht nun, der hier die Hauptschuld für die Verfehlungen gegeben wird, wird ja durch die schwere Zeit nach dem Kriege einigermaßen eingedämmt werden, das Beispiel können aber nur Erwachsene geben, die sich selbst von dem materialistischen Geist frei gemacht haben. Erziehen kann nur, wer selbst erzogen ist oder sich selbst erzieht. Um eine Erziehung handelt es sich in allererster Linie, darin pflichte ich dem Herrn Abgeordneten Walterbach ebenso bei, wie es Se. Exzellenz der Herr Staatsminister getan hat. Es scheinen mir aber bei dieser Frage auch gewisse geschichtliche Vorgänge nachzuklingen. Wir leiden an einer Überschätzung des Wissens als solchem, auf das wir daher auch bei der Heranbildung unserer Jugend das Hauptgewicht legen, unter Vernachlässigung der Bildung des Willens und unter Verachtung der Form. Das hochmütige Herabsehen auf äußere Formen im Verkehr mit Menschen hat uns, wie ich aus eigener Reiseerfahrung weiß, bei anderen Völkern außerordentlich geschadet, und es ist tief bedauerlich, daß das Goethische Scherzwort: »Im Deutschen lügt man, wenn man
134 höflich ist«, in manchen Kreisen auch heute noch als ein Kennzeichen deutscher Gradheit und Ehrlichkeit gilt. Das ist nun nicht aber in unserer Rasse begründet, die feine Sitte und Mäze war unseres Rittertums Ideal, und ein Verkehr mit der ländlichen Bevölkerung der weitesten Teile des Deutschen Reiches beweist, wie tief angewurzelt natürliche Sitte gerade bei unserem Bauernstand ist. Erst in jenen Zeiten der religiösen und wirtschaftlichen Gärung am Ende des Mittelalters erscheint der Grobian, dessen naturgetreues Ebenbild unsere wüst tuende Jugend ist. Bezeichnend ist ferner, daß auch in unserem gebildeten Bürgertum, das in den Zeiten des Sturms und Drangs gegen die höfische Etikette reagierte, sich bis heute noch kein nationaler Typ des wohlerzogenen und doch seiner Würde bewußten Mannes ausgebildet hat, sondern daß wir dem romanischen Auslande den Kavalier, dann England den Gentleman entlehnten. In den armen Zeiten nach dem Dreißigjährigen Kriege war Bildung fast der einzige Besitz, der unserm Bürgertum zugänglich blieb, daher jener Bildungshochmut, der unsere Klassengegensätze namentlich in den Städten so unglückselig verschärft hat. Die körperliche Ausbildung wurde ebenso vernachlässigt, bis dann die Nachahmung des englischen Sports gewiß Besserung gebracht hat, wenn sie auch zu manchen Auswüchsen führte. Ich will die Frage der Wehrkraftvereinigungen hier nur streifen, aber sicher ist es, daß wir an der körperlichen Ausbildung unserer Jugend nicht nur ein militärisches Interesse haben. Mit vollem Recht hat der Herr Abgeordnete Müller Hof, auf die gefährliche Lücke hingewiesen, die bei der männlichen Jugend zwischen der Entlassung aus der Fortbildungsschule und dem Eintritt in das Heer klafft, ich möchte hier aber darauf hinweisen, daß auch bei der weiblichen Jugend noch nach dem 16. Lebensjahr die Pflege einsetzen muß, wenn wir tüchtige Hausfrauen und Mütter erziehen wollen, ich sollte glauben, daß die hier wirkende soziale Liebestätigkeit der Unterstützung aus Staats- und anderen Mitteln aus denselben Gründen würdig wäre wie die Säuglingspflege. Von besonderer Bedeutung ist natürlich die Ausbildung des Charakters bei der gesamten Jugendpflege, und wenn hier das Elternhaus versagt, so wird Schule und Kirche dafür eintreten müssen. Der wahrhaft Freie wird sich selbst Schranken setzen. Bei der Erziehung aber muß die alte Zucht und Sitte mithelfen, um jenes Pflichtgefühl gegen Staat und menschliche Gesellschaft wachzurufen, dessen jede Gemeinschaft bedarf, wenn sie sich
135 selbst erhalten will, was der Krieg so eindringlich jedem lehrt, der lernen will. Der mächstigste Ansporn zur freien Betätigung im Dienste des Ganzen werden aber stets die Ideale der Religion und des Vaterlandes sein, denen wir am Ende ja alle alles schuldig bleiben. Meine hohen Herren 1 Seitdem wir das letztemal uns mit den ernsten Lebensfragen der V o l k s v e r m e h r u n g beschäftigt haben, sind diese in immer steigendem Maße innerhalb und außerhalb der Parlamente behandelt worden. Berufene Stellen und Dilettanten haben Ratschläge erteilt, wie immer, wenn das öffentliche Interesse stark erregt ist. Da nun des Schwärmers Ernst leider nur allzu oft nicht mit des Weltmannes Blick gepaart ist, so besteht die Gefahr, daß Maßregeln gefordert und auch durchgesetzt werden, deren Folgen noch nicht klar zu übersehen sind, daß mein an Symptomen herumkorrigiert, anstatt die Wurzel des Übels zu fassen. Ich glaube, die Reichsregierung hat mit Recht zunächst durch ihre Gesetzesvorlagen auf den Gebieten heilend wirken wollen, über die nahezu Übereinstimmung herrscht, indem sie den Kampf aufnahm gegen die Prostitution und den Vertrieb von empfängnisverhütenden Mitteln. Die militärische Statistik über den Zugang von Geschlechtskranken b$i Heer und Marine beweist, daß es möglich ist, diese Erkrankungen durch geeignete Vorschriften ganz wesentlich einzuschränken, wobei natürlich der Übertragung derartiger Zwangsmaßregeln auf die Zivilbevölkerung sehr erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Es wird sich aber niemand der Täuschung hingeben, daß durch Zwang allein oder auch lediglich durch gesetzgeberische Maßregeln diese unser ganzes Volksleben bedrohenden Übelstände behoben werden können. Ist doch auch die einschneidende Gesetzgebung der römischen Kaiserzeit gescheitert, obgleich jenen Zeiten die furchtbare Geißel der Geschlechtskrankheiten unbekannt war und lediglich die gewollte Kinderlosigkeit der Todeskeim war, dem die antike Bildung erlag. Daraus aber in tatenlosem Pessimismus folgern zu wollen, daß wir es mit einer unabänderlichen Entwicklungserscheinung zu tun haben, wäre völlig falsch. Gerade die Geschichte der neuesten Zeit zeigt am Beispiel Japans, daß uralte Völker zu neuem Leben erwachen können und durch kräftigste Betonung des Nationalgedankens allen Theorien zum Trotz sich zur Großmacht mit stark wachsender Bevölkerung aufschwingen können. Ein Volk nun, wie das unsrige, das sich mit unvergleichlichem Mute und bewunderungswürdiger Zähigkeit im
136 Kampfe gegen eine Welt in Waffen nicht nur behauptet, sondern dem bunten Gemenge von Feinden Hieb auf Hieb erteilt, braucht gewiß nicht an seiner Zukunft zu verzweifeln. Müder Pessimismus ist überhaupt nicht deutsch, er ist von außen gekommen, als uns nach dem Dreißigjährigen Kriege jene weltbürgerlichen Ideale überfluteten, denen wir bei unserer jammervollen Zerrissenheit nationale Dämme nicht entgegensetzen konnten. Damals verdrängte der Väter Sitte jener schrankenlose Individualismus, der von der Renaissance dem sinkenden Altertum entnommen, zwischen sich und dem Weltganzen der Sippe, dem Stammesgefühl und der Vaterlandsliebe keinerlei Recht einräumen wollte und den auf Ständen begründeten Nationalstaat dem Absolutismus opferte. Dann folgte philosophische Aufklärung, die den Glauben der Väter verachtend, das ganze Leben mit der kühlen Vernunft meistern und nur die Freuden des Diesseits genießen wollte. Es ist ja bekannt, wie ungünstig unter der Herrschaft dieser Ideen sich die Bevölkerungsbewegung in Frankreich gestaltet hat. Dem Sammelwerk Faßbenders entnehme ich einen Ausspruch des bekannten französischen Militärbevollmächtigten Sjtoffel in Berlin kurz vor Ausbruch des 70er Krieges: »Nachdem Frankreich alles verspottet hat, verlor es die Fähigkeit, noch etwas zu verehren, Tugend, Familienleben, Vaterlandsliebe, Ehre, Religion gelten einem frivolen Geschlecht als Gegenstand des Gelächters«. Es sind dieselben wehmütigen Betrachtungen, denen Horaz in der letzten seiner Römeroden schon vor zwei Jahrtausenden so ergreifenden Ausdruck verliehen hat. Daß es sich aber vor allem darum handelt, den herrschenden Materialismus zu überwinden, beweist die Feststellung des Nationalökonomen Leroy-Beaulieu, daß Kinderarmut der religionslosen Volksschule folgt, wie auch die Statistik zeigt, daß die arme, aber katholische Bretagne noch einen Geburtenüberschuß aufweist, während die Zahlen bei den aufgeklärten Bauern des reichen Tales der Garonne fast ebenso erschreckend sind wie die der Großstadt Paris. Darum fordert nach der »Kölnischen Volkszeitung« jetzt noch die medizinische Akademie eine moralische oder religiöse Aktion in den Schulen. Unsere Städte aber nähern sich in beunruhigendem Maße dem französisch-belgischen Vorbild. Ich habe schon in meinem früheren Berichte an dieses Hohe Haus den deutschen Bischöfen geglaubt dafür danken zu müssen,
137 daß sie zumal ihre warnende Stimme schon frühzeitig erhoben haben, und der Herr Bischof von Rottenburg hat die schöne Mahnung geprägt: mehr Ehrfurcht und mehr Freude. Männer aller Konfessionen und Weltanschauungen haben schon im Frieden in gleichem Sinne auf unser Volk zu wirken versucht. Dieser furchtbare Weltkrieg aber hat doch jeden einzelnen gelehrt, daß er nur als Teil des nationalen Ganzen Bedeutung haben kann. Diese Erfahrungen sollten uns vor allem Übermenschentum befreien, wie die Wut unserer Feinde die Träume vom Weltgewissen verscheuchen sollte. Gewiß haben die Ideen der Universalität ihre Berechtigung durch die Weltgeschichte bewiesen, der einzelne muß aber Stellung zu ihnen nehmen von dem festen Boden des Volkes aus, mit dem er durch Geschichte und Tradition verwachsen ist. Bedauerliche Entgleisungen der jüngsten Zeit — ich erinnere nur an den völlig unbegründeten Angriff auf den Herrn Reichskanzler Grafen Hertling — nötigen mich zu der Feststellung, daß doch wohl jedem deutschen Patrioten bewußt sein soll, daß dieses Nationalgefühl durchaus vereinbar ist mit der Treue zur katholischen Kirche, die ja recht eigentlich die Schöpferin der europäischen Kulturnationen gewesen ist. Jedem der da sehen will, muß doch die Tapferkeit unserer katholischen Soldaten beweisen, daß man mit allen Fasern seines Herzens an der Religion seiner Väter hängen kann und doch stündlich bereit ist, sein Leben für das deutsche Vaterland hinzugeben. Nicht an die deutschen Katholiken, nicht an die schlichten Söhne des Volkes, an gewisse Kreise der Gebildeten muß die Mahnung zur Umkehr sich richten. Alle Bewegungen in der Kulturwelt pflegen von einer kleinen, einflußreichen Minderheit auszugehen, bis sie immer weitere Kreise umfassend zu den Tendenzen und Forderungen der Mehrheit anschwellen. In der Studierstube des Philosophen, in den Salons der eleganten Welt, in den Kreisen der Schriftsteller sind die Ideen der französischen und russischen Revolution wie die des Materialismus und der Aufklärung geboren worden. Dort wurden sie erdacht, dort hat man zuerst mit ihnen gespielt, zu Schlagworten geworden, haben sie die Welt erschüttert. Die Umkehr muß daher von unseren gebildeten Schichten verlangt werden. Sie müssen statt der Vergötterung des eigenen Ich wieder mehr Ehrfurcht lernen vor den Schätzen, die die Tradition unserer Väter aufgehäuft, sie müssen mit tiefsittlichem Ernste sich mit der großen Frage unseres Volkes befassen, sie müssen sich der
138 freudigen Pflichterfüllung gegen Staat und Gesellschaft hingeben. Statt selbstüberhebender Kritik und müder pessimistischer Skepsis sollten sie Freude empfinden an den unvergleichlichen Taten unseres Heeres und der Vorsehung danken, die in der Stunde tödlichster Gefahr unserem Volke in Waffen so geniale Führer gesandt hat. Hat doch allem vernünftigen Abmahnen zum Trotz die oberste Heeresleitung in einem beispiellosen Feldzuge von 12 Tagen unseren Stammesbrüdern in den baltischen Provinzen gegenüber die nationale Pflicht erfüllt, der Ukraine und Finnland die Freiheit mit dem Schwerte erobert, für die unsere Feinde nur tönende Worte haben und so den Frieden erstritten, den alle Diplomatie in Monaten dem hinterlistigen Feinde nicht abgewinnen konnte. Vor allem aber fordern die schweren Zeiten des Wiederaufbaues unseres Wirtschaftslebens einen tatenfrohen Optimismus, dem sich unser Volk nur dann hingeben wird, wenn wir uns einen guten Frieden erstreiten können. Sonst müßte unter der fast unerschwinglichen Steuerlast sich weiter Kreise eine dumpfe Resignation bemächtigen und es käme zu dem Geburtenrückgang auch noch der Verlust durch Auswanderung gerade unserer kräftigsten Jugend. Schaffung möglichst viel selbständiger Existenzen durch Siedelung und innere Kolonisation, Erhaltung des Bauernbesitzes und des Handwerkes, günstige Wohnungsverhältnisse sowie die Möglichkeit des Aufstieges für alle Klassen der Bevölkerung können allein jenes Vertrauen auf die Zukunft schaffen, in dem alle Sachkenner das beste ökonomische Mittel gegen den Geburtenrückgang erblicken. Soziale Fürsorge, ein kräftiger Schutz des Mittelstandes, Belebung des vaterländischen und religiösen Gefühls im ganzen Volke wie besonders bei der Erziehung unserer Jugend, Ausbau der Selbstverwaltung und Hebung des Standesgefühls an Stelle der öden Gleichmacherei, das scheinen mir die Aufgaben einer vorausschauenden Politik zu sein, um die zahllosen Wunden zu heilen, die dieser Krieg geschlagen hat. Pflicht des Staatsmannes aber, der der wahre Führer des Volkes sein will, ist, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und das Staatsschiff mit kraftvoller Hand nach diesen vaterländischen Zielen hinzusteuern, anstatt es in der Dünung durch vergangene Strömungen aufgepeitschter Wogen dahinschaukeln zu lassen.
Auszug aus der Rede als Berichterstatter zum Haushalt des K. Ministeriums des Innern, Kammer der Reidisräte. 19. Marz 1918. H o h e H e r r e n ! In Ihrem Hohen Ausschuß habe ich allgemeine Bemerkungen gemacht, die sich zunächst an die eindrucksvolle Kundgebung der gesamten Landwirtschaft Bayerns am 27. Februar dieses Jahres zu München angeschlossen haben und aus der ich den Satz herausgenommen habe, daß die Preisgabe des Prinzips der Selbstversorgung aus eigener Kraft sowohl mit Lebensmitteln als auch mit Rohstoffen die Preisgabe unserer politischen Macht und Selbständigkeit bedeutet, daß es also nicht die Interessen der Landwirtschaft allein, sondern die Lebensinteressen des Staates und des Reiches sind, die mit der Zukunftsfrage der deutschen Landwirtschaft zusammenhängen. Ich habe hier noch darauf hingewiesen, daß über diese wirtschaftlichen Fragen hinaus die Erhaltung unserer Landwirtschaft sich als Jungbrunnen unseres Volkes als gebieterische Notwendigkeit erweist, wie ein Blick in die statistischen Aufstellungen über die Geburtenzahl in Stadt und Land zeigt und auch die Geschichte lehrt, daß der Untergang der antiken Welt eine Folge der Verödung des Landes war, wo die Sklavenplantage und die Einfuhr billigen Getreides, um die Wünsche der ewig unruhigen Großstadtbevölkerung zu befriedigen, den Bauernstand vernichtet hatte, auf dem die Kraft des römischen Weltreichs und der Sieg seiner Legionen beruhte. Ich habe dann gefragt, ob sich unsere heutigen, verbündeten Regierungen gegen den Ruf nach billigerem Brot widerstandsfähiger erweisen werden, und gemeint, jedenfalls seien sie nicht von der Schuld freizusprechen, daß die Lehre, daß uns nur die Politik des nationalen Schutzes von Landwirtschaft und Industrie instand gesetzt hat, durchzuhalten, daß wir dabei lediglich auf die eigene Wirtschaft angewiesen waren und sogar noch in der Lage waren, an unsere Verbündeten Nahrungsmittel abzu-
140
geben, in dem Streit der politischen Meinungen vergessen zu werden droht. Ich habe sodann ausgeführt: Entgegen der Staatsweisheit der römischen Republik, die erst die Kaiserzeit vergaß, soll jetzt der politische Einfluß des Landes im Namen der Gleichheit zugunsten der Großstädte geschmälert werden; ob sich dann die Politik des Schutzes der nationalen Arbeit aufrechterhalten lassen wird, erscheint mir sehr zweifelhaft. Möge es unseren Feinden nicht gelingen, das deutsche Volk, dessen scharfes Schwert sie eben zu fühlen bekommen, durch den Import ihrer Ideale auf die Knie zu zwingen und durch den Apell an unser Weltgewissen uns zur Ablegung unserer militärischen und wirtschaftlichen Rüstung zu verleiten, damit wir dann einem neuen Überfall leicht zum Opfer fallen. Die romanischen Nationen selbst pflegen bei ihrem so stark ausgeprägten Nationalgefühl sich durch diese Ideale, die sie im Munde führen, in praktischer Politik wenig beirren zu lassen, das republikanische Frankreich ist viel schutzzöllnerischer gewesen als das Kaiserreich. Sie können sich den Luxus radikaler Anschauungen viel leichter gestatten, weil sie im Grunde viel nüchterner und konservativer sowie egoistischer sind als wir. Wie groß die Gefahr ist, daß die wirtschaftlichen Lehren dieses Krieges zugunsten von Konsumentenwünschen und Parteiidealen außer acht gelassen werden, beweist nicht nur ein Blick in unsere Großstadtpresse oder das Anhören gewisser Volksredner, auch wissenschaftliche und berufstechnische Erörterungen wenden sich gegen unsere Politik des nationalen Schutzes. So gibt die Denkschrift der Handelskammer über die zoll politischen Annäherungen Österreichs zwar zu, daß die Kriegserfahrungen, politisch-militärische Gründe eher das Gegenteil des Freihandels, »Autarkie«, zu erfordern »scheinen«, nennt aber die Aufstellung genügend hoher Schutzzölle ein sehr rohes Mittel, weil sie auf die Konsumenten fallen müßten. Besonders die Agrarzölle will sie im Interesse der industriellen Arbeiterbevölkerung abbauen. Das ist ja ein wohlbekanntes Argument des Freihandels, gegen das meines Erachtens mit Recht eingewendet wird, daß sich die Lebenshaltung der Arbeiterbevölkferung unter dem Schutzzollsystem erfreulicherweise sehr gehoben hat. Bedenklich erscheint mir aber, daß mit dem Schrei des Unwillens gedroht wird, »der das ganze Land durchziehen würde«, wie es dort heißt, wenn etwa eine Erhöhung der Agrarzölle verlangt würde, oder daß auf die Kriegsgewinne der Landwirt-
141
schaft hingewiesen wird; das könnte doch so gedeutet werden, als ob eine Agitation entfesselt und damit ein Druck auf die K. Staatsregierung ausgeübt werden soll. Dabei verlangt dieselbe Denkschrift eine Erhöhung des Zolles auf Sensen, die doch die landwirtschaftlichen Produktionskosten steigern müßte, und möchte im Interesse der Volksernährung in Erwägung gezogen sehen, ob die hygienischen und seuchenpolizeilichen Bedenken gegen den Vieh verkehr fortbestehen; die von ihr wohl erwartete Erleichterung würde aber unseren heimischen Viehstand gefährden, wie die schweren Zeiten beweisen, die Österreich 1911 heimgesucht haben, was die Milchversorgung der großen Städte auf das ungünstigste beeinflussen müßte. Ein Ausspielen der Interessen von Industrie und Landwirtschaft gegeneinander — das hat gestern in dankenswerter Weise Herr Reichsrat Dr. v. Rieppel auch erklärt —scheint mir nicht angängig; unter der Schutzzollgesetzgebung hat gerade unsere Industrie ihren von der ganzen Welt beneideten Aufschwung genommen, der gewaltige Rückgang der Auswandererziffer beweist aber, wie günstig dieses Wirtschaftssystem auf unsere Bevölkerungsbewegung gewirkt hat. Deshalb könnte es kein Staatsmann wagen, um augenblicklicher Stimmungen willen, dieses System zu wechseln, es sei denn, daß er die Verantwortung auf die Mehrheit des Parlaments abwälzen könnte. Die russischen Zustände zeigen uns, wie in verhältnismäßig kurzer Zeit das ganze Wirtschaftsleben eines Volkes zerstört werden kann; ich bin weit entfernt, sie mit den unsrigen zu vergleichen; dazu denke ich von der Vaterlandsliebe unserer Bauern und Arbeiter viel zu hoch, und die Spekulationen unserer Feinde auf Umsturz bei uns müssen scheitern. Dagegen scheint mir die Gefahr bei unserem Volke größer zu sein, als bei parlamentarisch mehr geschulten Nationen, daß es sich von abstrakten Theorien und sentimentalen Gefühlen hinreißen läßt und daß die öffentliche Meinung gesetzgeberische Maßregeln fordern kann, die schwer in unser Wirtschaftsleben eingreifen müßten. Darin würde ich die Gefahr des ausgesprochenen oder jenes latenten Parlamentarismus sehen, dem wir zuzusteuern scheinen. In England und bei den romanischen Völkern ist diese Gefahr dadurch gemildert worden, daß große führende Persönlichkeiten das Parlament und damit die Nation mit sich reißen, bei uns scheint mir dies schon um deswillen unmöglich, weil das Parlament nie diesen Einfluß haben kann, da uns die Zentralisation, die Voraussetzung wäre, widerstrebt. Uns
142
müßte der Parlamentarismus immer etwas Fremdartiges bleiben, zumal dem bundesstaatlichen Charakter unseres Reiches würde er völlig widersprechen; seit der Paulskirche ist kein deutsches Parlament mehr wirklich volkstümlich gewesen. Unserem Wirtschaftsleben müßte aber ein derartiges System um so gefährlicher werden, je größeren Einfluß die Großstädter mit ihren künstlichen Lebensbedingungen hätten. Im Gegensatz zur erwähnten Denkschrift scheint mir aber der gegenwärtige Augenblick zu einer handelspolitischen Neuorientierung besonders ungünstig gewählt, weil sich ja einmal die weitere wirtschaftliche Entwicklung jetzt am wenigsten überblicken läßt und weil die Übergangszeit mit ihrem Mangel an Rohstoffen und Nahrungsmitteln ganz andere Bedürfnisse hat als normale Zeiten. Es ist nur zu leicht begreiflich, daß jetzt weite Kreise durch die gewaltige Preissteigerung alles dessen, was zum Leben notwendig ist, sehr erregt sind, es ist nur bedauerlich, und auch daran ist die Reichspolitik zu Anfang des Krieges schuldig, daß diese Erregung sich gegen die schaffenden Stände kehrt, statt gegen unsere Feinde, die durch die völkerrechtswidrige Blockade diese anormalen Zustände geschaffen haben, um unser ganzes Volk mit Weib und Kind auszuhungern. Darüber wird ganz vergessen, daß es doch eine gewaltige Leistung unserer Landwirtschaft ist, daß sie ein so dichtbevölkertes Land wie Deutschland überhaupt zu ernähren vermag. Vergleicht man nun die heutigen Höchstpreise für Brotgetreide mit den Preisen unmittelbar vor dem Kriege, so sind dieselben in Deutschland nur um 50% gestiegen, dagegen sowohl in den neutralen wie feindlichen Ländern um 100% und darüber, ganz abgesehen von Rußland, wo infolge der völligen Entwertung des Geldes der Getreidepreis vielfach um das Sechsfache des Friedenspreises und darüber gestiegen ist. Dazu kommt noch folgendes: In Deutschland sind die Höchstpreise für Getreide im nächsten Wirtschaftsjahre heute noch nicht festgesetzt, während sie bei unseren Feinden im Interesse der Getreideerzeugung schon längst besimmt sind. So wird die englische Regierung für Weizen aus der Ernte 1918 M. 337 für die Tonne zahlen, für Gerste 328 M. für die Tonne und für Hafer 3 1 1 M. für die Tonne. Nun reicht aber weder in England noch auch in Frankreich und in Italien die heimische Produktion aus, der so benötigte ausländische Weizen muß aber infolge der Frachtraumnot mit 7—800 M. für die Tonne bezahlt werden.
143 Wie verteuernd muß es aber auf alle Industrieprodukte Italiens wirken, wenn dort die Tonne Kohlen von 30 Lire im Jahre 1913 auf 330 bis 400 Lire gestiegen ist, was noch wesentlich dadurch verschärft wird, daß die Entwertung des italienischen Geldes im Verhältnis zum englischen etwa 58% beträgt. Dem ist gegenüberzuhalten, daß nach den Mitteilungen des Herrn Finanzministers in unserem Ausschuß vom 18. Januar dieses Jahres Pfälzer Großkohlen pro t von 15,6 M. im Jahre 1914 nur auf 24,6 M. gestiegen sind. Auch für die Übergangszeit scheinen mir die Ernährungsverhältnisse bei uns günstiger zu hegen als bei unseren Feinden, und zwar deshalb, weil wir einmal selbst eine sehr hohe Erzeugung haben, weil wir aber durch den jetzigen Friedensschluß und die bevorstehenden Friedensschlüsse etwa mit der Hälfte derjenigen Länder in Frieden kommen werden, die bisher Getreide für uns geliefert haben, und weil bei diesen Ländern die Exportfrachtraumnot, da ja die Waren auf dem Landwege zugeleitet werden können, in keiner Weise in Betracht kommt. Ganz im selben Sinne haben sich auch unsere vereinigten landwirtschaftlichen Verbände ausgesprochen, die ebenso, wie Herr Dr. Heim sich ausdrückte, auf dem Prinzip der Ergänzung und Zweckmäßigkeit unserer Beziehungen zu dem benachbarten Staat Österreich-Ungarn vor allem geregelt werden sollen. Ich habe mir aber auch auszuführen erlaubt, daß, wenn es sich um die Lebensinteressen des deutschen Volkes handelt, wie dieser Krieg doch eindrücklichst gelehrt hat, diese Lebensinteressen auch bei den diplomatischen Verhandlungen nicht außer Betracht gelassen werden können. Aus den Verhandlungen über den Zolletat ergibt sich nun, daß dies bei unseren Verhandlungen mit Österreich-Ungarn nicht der Fall war und daß der bekannte Warnungsruf des Herrn Geheimrats Dr. Heim auch heute noch nur zu berechtigt ist. Davon glaube ich mich in Berlin überzeugt zu haben. Diese politischen Rücksichten widersprechen auch dem Bismarckschen Satze, daß mit wirtschaftlichen Trinkgeldern politische Freundschaften nicht erhalten werden können, — Freiherr v. Schön hat allerdings den deutschen Rotweinbau seinerzeit der italienischen Bündnistreue geopfert! Ich glaube aber, diesem sollten wir nicht folgen, sondern wie wir unseren Bundesgenossen herzlichst eine weitere Entwickelung ihres Wirtschaftslebens wünschen und bereit sind, dieselbe zu fördern, soweit dies in unseren Kräften steht, muß, wie in der Kammer der Abge-
144
ordneten Herr Abgeordneter Dr. S c h l i t t e n b a u e r schon ausgeführt hat, das Prinzip der Selbsternährung als Grundlage für die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit und Macht des Deutschen Reiches anerkannt werden. Das kommt natürlich unseren Bundesgenossen künftig auch ebenso zugute, wie wir heute nur dadurch in der Lage waren, ihnen wirksame Hilfe zu leisten. Ich habe schon im Hohen Ausschusse davon gesprochen, daß ich der festen Überzeugung bin, daß Seine Exzellenz der Herr Staatsminister sich dafür einsetzen wird; leider sind aber meines Erachtens seit Bismarcks Entlassung die Wege des Auswärtigen Amtes dunkel, so daß man selten weiß, von wannen der Geist kommt, der dort gerade weht. Jedenfalls möchte ich heute namens des Ausschusses die dringende Bitte an Seine Exzellenz wiederholen, daß er mit allem Nachdrucke dahin wirkt, daß die von ihm erwähnten »politischen Rücksichten« uns nicht dauernden wirtschaftlichen Schaden bringen. Ich glaube, es wird vielleicht doch nicht ganz so leicht sein, den diplomatischen Wagen aus den Geleisen der Vorverhandlungen wieder auf die richtige Bahn zu lenken, die allein zum Ziele führt. Vestigia terrent. Es ist selbstverständlich, daß wir bei unserem stark bevölkerten Lande die Intensität der heimischen Landwirtschaft noch weiter fördern müssen. In erster Linie kommen hierfür die Verwendung richtigen Saatgutes und ganz besonders die vermehrte Anwendung künstlicher Düngmittel in Betracht, und es ist nur zu hoffen, daß Bayern gegenüber anderen Bundesstaaten nicht vernachlässigt wird. Was die Landwirtschaft besonders bedarf, wenn die Erzeugung gehoben werden soll, ist eine gewisse Stetigkeit in den Preisen ihrer Produkte, die meines Erachtens die Preispolitik der Kriegswirtschaftsstellen oft hat vermissen lassen. Ich möchte aber betonen, daß es der Landwirtschaft nach dem Urteile aller Sachkenner nicht auf hohe, sondern auf auskömmliche und gleichbleibende Preise ankommt. Die Schaffung einer Länderbank, die in der Kammer der Abgeordneten angeregt worden ist, darf ich auch hier empfehlen. Ebenso habe ich mich gegen die Sommerzeit ausgesprochen, in der ich gewissermaßen ein Symbol einer gewissen Staatskunst sah, die alles, selbst die Bahnen der Gestirne regeln zu können sich vermaß. Daß die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Steigerung der Intensität unserer landwirtschaftlichen Erzeugnisse ausgenützt werden sollen, ist von allen Seiten dankbar anerkannt worden.
145 Daß zur Hebung der wirtschaftlichen Lage des kleineren und mittleren Besitzers das Genossenschaftswesen beiträgt, ist sowohl in Ihrem Hohen Ausschusse, wie schon in der allgemeinen Debatte wieder hervorgehoben worden. Die Beschlüsse der Kammer der Abgeordneten wünschen nun eine Unterstützung zur Bildung von Vereinigungen von Landwirten zur Beschaffung von Maschinen, um dadurch die Intensität des Betriebes zu steigern. Es ist ja nur folgerichtig, wenn wir auch diesen Bestrebungen, dem kleineren Besitze die Vorteile des größeren Betriebes zu sichern, unsere Zustimmung erteilen. Ich habe mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß keine Frage uns bei der Landwirtschaft in der Zukunft mehr beschäftigen wird als die landwirtschaftliche Arbeiterfrage. Daß bei der Demobilisation, wenn die Kriegsgefangenen zurückgezogen werden, eine schlimme Übergangszeit entstehen wird, ist selbstverständlich. Ich habe mir ferner erlaubt zu bemerken, daß durch den Friedensschluß auch wohl die Verhältnisse der slawischen Wanderarbeiter berührt werden und uns vielleicht eine wertvolle Hilfe von jenen süddeutschen Landsleuten kommen könnte — es handelt sich da um Schwaben und Pfälzer —, die seinerzeit von den Zaren im südlichen Rußland angesiedelt worden sind und die jetzt aus den unerträglich gewordenen Verhältnissen herauszukommen trachten. Ich habe darauf hingewiesen, daß der Plan besteht, sie in den baltischen Provinzen anzusiedeln, und habe namentlich hervorgehoben, daß der dortige Großgrundbesitz zu sehr namhaften Opfern bereit ist, um für sie Bauerngüter zu schaffen. Nach der Landarbeiterfrage ist es die Frage der Landflucht, die uns immer mehr beschäftigen wird, nicht nur wegen ihrer ökonomischen, sondern auch wegen ihrer volkshygienischen Folgen. Diese Frage geht weit über die rein wirtschaftlichen Interessen hinaus und kann zu einer Lebensfrage für das deutsche Volk werden. So wertvoll der theoretische Rat auch sein mag, hier wird die Landwirtschaft in der Hauptsache auf die Selbsthilfe angewiesen sein. Es müssen aber alle Fragen, die das Land irgendwie berühren, in Zusammenhang gebracht werden mit der Frage der Jugendpflege. Diesem charitativen Zwecke müssen sich immer mehr Kräfte widmen, Kirche und Schule werden ihre mächtige Hilfe leihen müssen. Ich glaube aber, daß bei den ländlichen Verhältnissen vor einer Zersplitterung gewarnt werden muß, konfessionelle Organisationen werden hier die besten • . B o h l , Reden und Aufeitxc.
1°
146
Dienste leisten können. Auch bei diesen Lebensfragen der Landwirtschaft wie unseres Volkes werden gesetzgeberische Maßnahmen nicht genügen, daß aber behördliche Reglementierung sogar mehr schaden als nutzen kann, das hat wirklich der Krieg gelehrt. Besonders im Anfang des Krieges wurde von Reichs wegen die berufliche Beratung geradezu geflissentlich außer acht gelassen, man glaubte, der großen Organisation von Fachleuten entraten zu können, deren Kritik unbequem war, und die Schwierigkeiten durch eine Unzahl von Verordnungen ersticken zu können. Die Schwierigkeiten wuchsen, mit ihnen die Verordnungen. Dadurch entstand eine Rechtsunsicherheit und schließlich kam, was kommen mußte, man wurde abgestumpft, eine höchst beklagenswerte Verwirrung selbst der Moralbegriffe war die Folge. Die Geschichte der ersten französischen Republik und des Direktoriums bietet ein Beispiel, daß, je mehr man jede Kleinigkeit verfolgt, um so sicherer die großen Verbrechen, die derartig aufgeregte Zeiten immer zeitigen, den in sich verstrickten Maschen der Gesetzgebung entrinnen. Damals schuf ein Napoleon Wandel, wir rufen nicht nach einem Diktator. Was wir wollen, ist besonnene Überführung dieser außerordentlichen Verhältnisse in die gewohnte privatinitiativ aufgebaute Wirtschaftsordnung. Dazu bedürfen wir des Rates der Praktiker, die reine Theorie hat wirtschaftlichen Fragen gegenüber noch immer versagt. So habe ich zuletzt mir erlaubt, die Bitte auszusprechen, ob es nicht möglich sein würde, neben dem neuen Reichswirtschaftsamt einen Reichswirtschaftsrat zu schaffen, in dem die Vertreter der verschiedenen Stände mit der Industrie, dem Handwerk und der Landwirtschaft zusammenarbeiten sollten. Ich bin der festen Uberzeugung, daß sie in diesem Zusammenwirken auch die Identität ihrer Interessen, die Stärkung des heimischen Wirtschaftslebens und damit unseres Vaterlandes erkennen müssen. Eine Vorbedingung muß aber erfüllt werden: Zunächst muß die ganze bayerische Landwirtschaft organisiert werden und diese Neuorganisation wird sich nicht sklavisch an irgendein Vorbild zu binden brauchen, sondern soll der Ausdruck sein der ganzen Landwirtschaft, des großen wie des kleinen Besitzes, des bescheidenen Bauerns wie des Winzers, wir wollen dabei weder den Rat der Technik noch der Verwaltung entbehren.
Die nationale Bedeutung der deutschen Landwirtschaft. Kundgebung der landwirtschaftlichen Körperschaften der Pfalz, Neustadt/Hardt, 14. April 1918. Meine sehr verehrten Herren I Sie werden fragen, warum wir jetzt, wo nach Ludendorff nur die Taten sprechen sollen, wo uns die Herzen fast still stehen bei der Erregung, mit der wir die Entscheidung des Weltgeschickes verfolgen, Sie zu einer Versammlung hierher einberufen haben. Aber es ist doch unsere Pflicht, daß wir Zeugnis ablegen für die nationale Bedeutung unserer Landwirtschaft, weil in ihrem Boden die Wurzeln der gegenwärtigen und der künftigen Größe unseres Volkes ruhen und daß wir unsere warnende Stimme erheben müssen, wenn sachunkundige Hände an diese Wurzeln rühren. Nie haben wir ja mehr als jetzt gefühlt, daß auch wir nur ein Teil des großen Ganzen sind, daß wir nichts bedeuten, ja daß wir nirgends anders leben können, als auf dem Boden des Vaterlandes. Dieses Gefühl, stark und tief wie es ist, verpflichtet uns zu treuester Pflichterfüllung und Opferwilligkeit, um die riesige Dankesschuld abzutragen, die wir unserem Volke in Waffen und seiner genialen Leitung, in deren Händen Deutschlands Geschick ruht, schulden. Denken Sie an die Entscheidung in der Schlacht bei Saarburg, an die Bedeutung des Sieges unseres Kronprinzen Rupprecht, vergleichen Sie unsere Lage mit der Frankreichs, das seinen wahnsinnigen Haß mit der Verwüstung seiner fruchtbarsten Gegenden, Flanderns und der Pikardie, gerade eben bezahlen muß. Wenn aber unsere unvergleichlichen Heldensöhne ihr Blut einsetzen für des Reiches Bestand und Herrlichkeit, darf uns dann ein Opfer zu viel sein? Freilich das Bewußtsein dürfen auch wir haben, daß wir an bescheidenerem Platze auch Kämpfer gewesen sind, auch unserer bedurfte das Vaterland, um dem Ansturm einer Welt von Feinden IO»
148
in unerhörtem Grade nicht nur standhalten, sondern ihnen auch immer neue Schläge austeilen zu können. Der Fleiß des deutschen Bauern, deutsche Wissenschaft und Technik, jene Politik des Schutzes nationaler Arbeit, die der Genius eines Bismarck eingeleitet, Förderung durch den Staat wie genossenschaftliche Selbsthilfe, hatten schon vor dem Kriege die deutsche Landwirtschaft auf eine Höhe gebracht, die von keinem anderen Lande erreicht wurde, wie die Höhe des Bodenertrages beweist. Unsere Produktion an Getreide, Hackfrüchten und Vieh ist stärker gewachsen als unsere Bevölkerung. In den letzten 25 Jahren vor dem Krieg ist der Hektarertrag von Weizen und Kartoffeln fast um 50% gestiegen, die Brotgetreideerzeugimg deckte mehr als die des Fleisches gar 95% des Bedarfs. Sorgfältigere Saatzucht, intensivere Anwendung von Kunstdüngern, planmäßige Erhöhung der Leistungsfähigkeit bei der Viehzucht haben diesen staunenswerten Erfolg gezeitigt. Verdankt wurde er vor allem der S e l b s t h i l f e des einzelnen Landwirtes, wie der Genossenschaften, Bauern und Gutsbesitzer, Betriebsleiter und Gesinde haben alle Teil daran, ermöglicht wurde er durch eine weise Politik, die die erdrückende Konkurrenz des unter viel günstigeren klimatischen Verhältnissen, bei billigeren Arbeitskräften und schlechterer Währung arbeitenden Auslandes fernhielt. Daß in derselben Zeit unsere heimische Industrie ihren von der ganzen Welt beneideten Aufschwung nahm, die Bevölkerung stetig wuchs, die Auswanderung aber fast aufhörte, sollte jedem Einsichtigen die Berechtigung dieser Politik des Schutzes der nationalen Arbeit beweisen. Die große Prüfung hat aber unsere Landwirtschaft während des K r i e g e s bestanden, denn ihr allein verdanken wir es, wenn der jedem Völkerrecht Hohn sprechende Plan unserer Feinde, die da stets die Phrasen von Menschlichkeit und Kultur im Munde führen, unsere Frauen, Kinder und Greise auszuhungern, zuschanden würde. Freilich müßte die Absperrung zusammen mit der verminderten Produktion und dem großen Bedarf nicht nur unseres Heeres, sondern zum Teil auch unserer Bundesgenossen und der Neutralen ernste Einschränkungen im Gefolge haben, zumal auch die Gunst der Witterung uns nicht immer treu blieb, daß aber diese Beschränkungen Folgen des teuflischen Hasses unserer Feinde und nicht des Versagens unserer Landwirtschaft waren, das hätte die Regierung
149 des Herrn v. Bethmann laut vor aller Welt verkünden sollen. Das aber hätte nicht zu seinem Traum einer Verständigung mit dem Westen gepaßt, lieber ließ er die schweren Angriffe der Großstadtpresse gegen unsere Landwirtschaft, die Verhetzung von Land und Stadt zu, Versöhnung nach außen, Parteizwist im Innern, das war damals Staatsweisheit. Hierbei führten Theoretiker das große Wort, es paßte nicht zum System Bethmann-Delbrück, daß die landwirtschaftlichen Berufsvertreter gehört wurden. Mit sehr gelehrter Begründung wurde der Schweinemord gefordert und durchgeführt, die Fettnot begann und als Sinnbild jener Tage ist uns noch die künstlich vorgerückte Bethmannszeit geblieben, deren Segnungen wir uns wieder von morgen ab zu erfreuen haben werden. Freilich mahnt sie auch an die Vergänglichkeit irdischer Größen, deren Uhr ja jetzt abgelaufen ist. Unter der Kanzlerschaft des klugen Grafen v. Hertling ist es entschieden besser geworden, und seit den glänzenden Siegen unseres Heldenpaares weht auch im Innern ein frischerer Wind. Aber natürlich, eine böse Erbschaft ist uns trotzdem verblieben, die wir durch immer neue Verordnungen zu regeln versuchen, so daß kaum ein Beamter noch viel weniger ein Landwirt wissen kann, was eigentlich Rechtens ist. Uralte Römerweisheit aber prägt das Wort: »je schlechter die Regierung, um so mehr Gesetze«. Bei alledem ist zuzugeben, daß Verordnungen nötig waren. Die Kriegswirtschaft ist eben keine normale Wirtschaft; auch die Landwirtschaft muß ihren Teil der Lasten tragen, sie soll die Opfer, die für das große Ziel der Selbsterhaltung gebracht werden müssen, freudig auf sich nehmen. Da ist vielfach geklagt worden, daß gerade in ländlichen Kreisen die Kriegsanleihe nicht so reichlich gezeichnet wurde, wie möglich gewesen wäre. Sind daran etwa die Flaumacher schuld, die mit ihren tausend Bedenken an jedem Wirtshaustisch ihrem gepreßten Herzen Luft machen ? Wenn diese selbst ein Hindenburg und Ludendorff nicht eines besseren belehren können, so sollte doch der Bauer dem Heldenpaar mehr vertrauen als jenen Unglücksraben, die noch immer falsch prophezeit haben. Oder sollte die rasende Gewinnsucht, die in allen Kriegen gewisse, durchaus nicht bodenständige Kreise erfaßt, auch den Bauer zum eigenen Schaden zu Spekulationen verführen ? Am Kriege sich zu bereichern, verschmäht jeder von stolzem Vaterlandsgefühl erfüllte Mann! Über-
150 fluß durch Konjunkturgewinne möge benützt werden, um die tausend Wunden zu heilen, die dieser Krieg geschlagen hat — voll können wir unsere Dankesschuld doch nie abtragen! Gerade die berufenen Führer der Landwirtschaft haben die Berechtigung von Höchstpreisen für die wichtigsten Lebensmittel stets anerkannt, wie sie auch im Namen der Gerechtigkeit solche für Produktionsmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfes forderten. Wenn der Unternehmungsgeist und die Technik unserer Industrie immer neue Waffen, Geschütze, U-Boote, Gase erfindet und schafft, um von unseren Fluren den Feind fernzuhalten, so ist es unsere Ehrenpflicht, auch für auskömmliche Ernährung der Arbeitennassen zu sorgen, die diese herstellen, ebenso wie für das Heer, das uns verteidigt. Gewiß erzielte die Industrie große — vielleicht manchmal übermäßige Gewinne und viele Arbeiter finden jetzt reichlichen Lohn. Aber andere Zweige leiden durch den Krieg Not, und denken Sie doch an die Millionen von Festbesoldeten, des städtischen Mittelstandes, an Beamte, Witwen mit karger Rente, die unter der durch den Feind verschuldeten Teuerung schwer leiden. Wenn wir arme Frauen in den Städten in Nässe und Kälte stundenlang vor Läden stehen sehen, so müssen wir unser Gewissen fragen, ob wir auch alles getan haben, um diesen Bedürftigen zu annehmbaren Preisen die nötige Nahrung zu verschaffen, sind es doch deutsche Landsleute, die Not leiden. Da werden wir doch nicht fragen, was die glauben, ob sie unsere politischen und wirtschaftlichen Anschauungen teilen, sie entgelten lassen, was uns vielleicht in einem Zeitungsartikel geärgert hat. Nein, meine Herren, der Feind steht draußen, für inneren Zwist ist jetzt keine Zeit. Ein innerer Feind ist freilich geblieben, der treueste Bundesgenosse der Engländer, der Wucherer, der die Not des Nächsten zu unsauberen Spekulationen ausnützt. Ihn müssen wir alle bekämpfen, ihn treffe die ganze Schwere des Gesetzes. Aber klare Bestimmungen dürfen wir verlangen, es muß jeder wissen, was verboten und was erlaubt ist. Sonst verwirren sich die Rechtsbegriffe. Sich nicht erwischen lassen, ist eine Schulbubenmoral, die aufrechten Männern widerstrebt, und zu der der Staat nicht durch unausführbare Verordnungen zwingen sollte. Es soll aber ausdrücklich anerkannt werden, daß das bayerische Kriegswucheramt, im Gegensatz zu denen anderer Bundesstaaten, unsere Weininteressenten gehört hat und bestrebt ist, berechtigten Wünschen nachzukommen. Wenn sich bisher gezeigt
I5i hat, daß eine Höchstpreisfestsetzung für Weine unmöglich ist, so kann doch anderseits nicht bestritten werden, daß bei aller Freude über die Entschuldung des Winzerbesitzes, auf die Dauer so hohe Preise schädlich wirken müssen, einfach deshalb, weil, sobald wieder normale Zeiten kommen, sich keine Käufer mehr für so überbezahlte Weine finden werden. Der Weinbau braucht, wie die gesamte Landwirtschaft stetige, lohnende, nicht übertriebene Preise, damit er rechnen kann, eine solide Wirtschaftsführung ist die Grundlage auch seines Gedeihens. Für die wichtigsten Lebensmittel sind aber, wie gesagt, in der Kriegszeit Höchstpreise ein notwendiges Übel, daß wir den billigsten Weizen, die billigsten Kartoffeln, die billigsten Kohlen haben, darin liegt die Gewähr für den Endsieg, der allenfallsige Opfer reichlich lohnen wird. Mißlicher sind ohne Zweifel die Verhältnisse für die Viehhaltung; immerhin ist es auch da gerade bei uns in der Pfalz gelungen, eine Vereinbarung über die Milchpreise mit den Konsumenten herbeizuführen. Der städtischen Bevölkerung möglichst viel Milch zuzuführen, ist aber erst recht nationale Pflicht jeden Landmanns, seit die Pflege unserer Säuglinge und Kinder eine der ernstesten Lebensfragen unseres Volkes geworden ist. Schon hier sehen wir, daß die genügende Menge der Lebensmittel noch wichtiger ist als die Preisgestaltung. Auch da müssen wir Opfer bringen, wenn wir die nationale Bedeutung der Landwirtschaft allgemein anerkannt sehen wollen. Zur Produktion fehlt es ja an allem, an Arbeitskräften, Gespannen, Maschinen, Düngemitteln, während gleichzeitig die Kosten für Produktionsmittel, wie für Kleidung und Schuhwerk unheimlich gestiegen sind. Mit Recht hat ferner Dr. Heim darauf hingewiesen, daß gerade die Landwirtschaft, die mit viel längeren Umlaufzeiten rechnen muß als die Industrie, hier Raubbau treibt, der sich später fühlbar machen muß. Aber wir müssen produzieren, müssen die Äcker bestellen, dürfen kein Vieh unnötig abschaffen, die Hühner nicht abschlachten, trotz allem Ärger und aller Scherereien mit Verordnungen und Gefangenen! Bedenken Sie doch, wenn diese Gefangenen, die uns heute das Feld bestellen helfen müssen, als Herren hier schalteten, wenn feindliche Heere unsere Saaten zerstampften, unser Vieh forttrieben, wenn feindliche Granaten den Boden unserer Weinberge zerwühlten! Das zwingt uns zum demütigen Danke an die Vorsehung, die uns noch zu Großem bestimmt haben muß und zu erneutem Gelöbnis
153
treuer Pflichterfüllung. Sind uns da nicht unsere Bäuerinnen, unsere Greise und Kinder ein leuchtendes Beispiel, haben doch sie unter den schwierigsten Verhältnissen die heimische Produktion aufrecht zu erhalten geholfen? Lesen Sie doch die Klagen der französischen und italienischen Staatsmänner, wie viel Boden in diesen doch klimatisch viel mehr begünstigten Ländern unbestellt bleibt, so daß sie ihre viel schwächere Bevölkerung nicht zu ernähren vermögen und immer mehr auf die durch unsere U-Boote gefährdete, fast unerschwinglich teuere überseeische Einfuhr aus Amerika angewiesen sind. Ja, den deutschen Bauer macht uns kein Land nach, so wenig wie den deutschen Soldaten, Arbeiter und Techniker. Das sieht das Ausland zu seinem Schrecken, — dürfen wir aber auch im Inland dauernd auf die Anerkennung der nationalen Bedeutung unserer Landwirtschaft rechnen ? Werden die eindringlichen Lehren dieses Krieges nicht im Streit der Meinungen und im Parteigezänk vergessen werden? Einen großen Fehler hat unser Volk, es hängt an seinen Theorien, die es in die Wolken hinauf baut, unbekümmert, ob es dabei die Erde unter den Füßen verliert. Und diese Theorien können auch recht hochstehende Kreise erfassen, aus diesen Theorien ist unsere Reichsleitung recht unsanft durch den Ausbruch des Weltkrieges erweckt worden, und auch dann konnte sie sich von ihrem Luftschloß der Völkerversöhnung nur schwer trennen. So schwer, daß das nüchterne Ausland Arglist vermutete! Aber daß unsere Reichsleitung bei den letzten Wahlen der Wahlparole nach b i l l i g e n S t r e i c h h ö l z e r n keine n a t i o n a l e P a r o l e entgegenzusetzen verstand, ist doch ein schlüssiger Beweis, daß sie, wie unsere Diplomaten, einen Weltkrieg für ausgeschlossen hielt. Daß jedoch der Schrei nach billigen Zündhölzern überhaupt zur Wahlparole werden konnte, die unser ganzes Volk, namentlich auch die Frauen, tief erregte, läßt mich für den künftigen Schutz unseres wirtschaftlichen Lebens einigermaßen fürchten. All ihre Phrasen von Freiheit und Gleichheit haben Franzosen und Amerikaner nie abgehalten, sehr hohe Schutzzölle einzuführen, nur bei uns muß der wahrhaft freisinnige Mann zugleich Freidenker und Freihändler sein. Der Zauber steckt eben im Wörtchen — frei —. Auch haben sich die beiden großen Republiken in ihrer Handelspolitik nicht durch diplomatische Rücksichten irre machen lassen, getreu dem Bismarckischen Satz, daß man nicht durch h a n d e l s p o l i t i s c h e T r i n k -
153 g e l d e r politische Freundschaften erhalten kann. Freiherr v. Schön hat trotzdem der italienischen Bündnistreue den deutschen Rot-, weinbau geopfert, mit dem Erfolge, daß Italien heimlich mit Frankreich abschloß, wohin es doch gewiß seinen Weinüberfluß nicht ausführen kann. Ob heute nun der Bismarckische Geist oder die Trinkgelderpolitik im Auswärtigen Amt herrschte, darüber werden die Herrn Sie aufklären, die nach mir sprechen. Daß dagegen die königliche bayerische Staatsregierung in vollem Einklang mit unseren beiden Kammern stets für die berechtigten Ansprüche der Landwirtschaft eintritt, erkenne ich mit Freuden an, eben so weiß ja jeder Winzer, daß der Leiter des neuen Reichswirtschaftsamtes, unser Landsmann Freiherr v. Stein gewiß landwirtschaftlichen Interessen gerecht zu werden bestrebt ist. Aber es walten auch andere Einflüsse, die sehr mächtig sind. In der bestimmtesten Weise hat unser Herr Minister des Innern sich gegen die Verkürzimg der Selbstversorger ausgesprochen, diese Maßregel als untunlich und ungerecht bezeichnet, durchgedrungen ist er damit ebenso wenig als mit seinen Klagen gegen die Zentralisierung durch die wie die Pilze aus der Erde emporschießenden Kriegsgesellschaften, die nächstens alle Berliner Hotels in Beschlag legen werden. Wie die Verhältnisse sich in Preußen gestalten werden, ist schwer zu sagen, jedenfalls gibt es zu denken, wenn nach seinen Erklärungen im Herrenhaus der dortige Minister des Innern sich schon heute auf eine Mehrheit stützt, die noch gar nicht gewählt ist. Noch viel bedenklicher aber erscheint mir, wenn ein Mann wie unser engerer Landsmann Helfferich, dessen hervorragende Sachkunde auch seine Gegner nicht zu leugnen vermögen, vor dem Friedensschluß vom Reichstage gestürzt wird, um einem noch unerprobten Parlamentarier Platz zu machen, politisches Bekenntnis also der Sachkunde vorgezogen wurde. Daß die Vermehrimg der großstädtischen Vertreter auch nicht gerade das Vertrauen der Landwirte auf Vertretung ihrer Interessen im Parlament erhöht, darauf hat Dr. Heim mit vollem Recht in München hingewiesen. Vogelstraußpolitik hilft hier so wenig wie tatenloses Jammern. Ungesetzlicher Mittel werden wir uns nie bedienen, aber wachsam müssen wir sein, uns fest zusammenschließen und nach Kräften dafür sorgen, daß gerade in der Ubergangszeit nach dem Kriege, wenn die Handelsverträge erneuert werden, die Stimme der Landwirtschaft auch wirklich gehört werden muß. Daß wir Landsleute uns zusammen-
154 finden, dafür bürgt uns die Münchener und die heutige Versammlung, daran habe ich überhaupt nie gezweifelt. Gerade weil der Bauer mit seinem Boden und dem Herkommen so fest verwachsen ist, gerade weil er so zäh an Glauben und Überzeugung hängt, weiß er auch jede ehrliche fremde Meinung zu schätzen. Gewiß bestehen auch in unseren Reihen wirtschaftliche Gegensätze, Oberland und Unterland sind manchmal über die Zuckerwassermengen getrennter Ansicht gewesen, über das Abreiben der Stöcke haben wir uns als temperamentvolle Pfälzer — in diesem Saalbau — einmal fast an die Köpfe bekommen und trotzdem steht heute der deutsche Weinbauverband einiger zusammen als je. Die königliche Staatsregierung sollte also nicht länger zögern und endlich den berufsständigen Zusammenschluß in der L a n d w i r t s c h a f t s k a m m e r einführen, der aber alle, größeren und kleineren Besitz, Winzer und Bauer umfassen muß! Die Stimme einer Kammer hat naturgemäß ein größeres Gewicht als die eines einzelnen Vereins. Aber wir müssen noch weiter den Schutz der gesamten n a t i o n a l e n Arbeit auf unser Banner schreiben, eben weil unser Wirtschaftsleben immer inniger ineinandergreift und weil auf diesem nationalen Wirtschaftsleben unsere Macht beruht, wie der Krieg aller Welt bewiesen hat. Fürst Bismarck hat beim Übergang zur Schutzpolitik einen V o l k s w i r t s c h a f t s r a t verlangt, den aber die Mehrheit des Reichtages abgelehnt hat. Der Scharfblick des Genius sieht eben weiter als Mehrheiten, ihn hat ja die Vorsehung zum geborenen Führer des Volkes bestimmt, der sie zur Höhe führen will. Heute nun müssen wir erst recht beim Reichswirtschaftsamt einen R e i c h s w i r t s c h a f t s r a t fordern, denn wir bedürfen der berufsständigen Organisation dringender als je. Es darf nicht ferner im Belieben der Staatsmänner stehen, ob die sachverständigen Vertreter des schaffenden Volkes gehört werden oder nicht. Sprudelt doch aus dem Boden unseres Wirtschaftslebens die Quelle unserer Kraft, die nicht verschüttet werden darf durch den Staub der Tagesmeinungen, den der Wind bald da, bald dorthin wirbelt, jener Staub, der da ersticken, nicht aber Schichten bilden kann, in denen neues Leben zu wurzeln vermag. Ein furchtbar warnendes Beispiel bietet Rußland, aus dem Theoretiker eine Hölle geschaffen haben, in der trotz der reichen Naturschätze das eigene Volk verhungert. Aber wir sind ja keine Russen, unsere Bauern stehen ja noch fest auf ihrer Scholle, sie können und müssen den Kern
155 bilden, an den sich die anderen Schichten anschließen können. Mögen unsere Herren Politiker uns nur bald wieder normalen Zeiten zuführen und den bewährten Schutz der heimischen Produktion auch ferner angedeihen lassen, dann wird die deutsche Landwirtschaft auch künftig ihre nationale Bedeutung bewähren können. Lassen Sie mich zum Schlüsse daher den irdischen Lenkern unserer Geschicke unseren Staatsmännern, Parlamentariern und besonders unseren Herren Diplomaten in Anlehnung an ein Wort ihrer immerhin erfolgreichen und schließlich sogar populären Kollegen Bismarck und sicher in seinem Geiste zurufen: Fallt nur dem deutschen Bauer nicht in die Zügel, er sitzt schon von selbst fest im S a t t e l und euch allen hat er in diesem K^ieg gezeigt, daß er besser r e i t e n kann als unsere Feinde!
Vaterlandspartei. Eröffnungsrede in Neustadt a. d. Hardt, 2 1 . April 1918.
Meine Herren! Wenn ich Sie hier als erster Vorstand der bayerischen Vaterlandspartei begrüße, so gestatten Sie mir zunächst über den Namen der neuen Vereinigung zu sprechen. Dieser Name hat uns im Süden nie gefallen und auch Exzellenz v. Tirpitz hat neulich die Benennung als nicht sehr glücklich bezeichnet. Der Vorwurf der Vaterlandsfeindlichkeit gegen andere Parteien liegt uns völlig fern. Wir erkennen gerne an, daß alle großen Parteien •— nur die sogenannten Unabhängigen nehmen sich selber aus — sich auf den Boden des Vaterlandes gestellt haben. Der Name ist lediglich so zu verstehen, daß die Vaterlandspartei das Vaterland im Geiste des 4. August über alle Parteitaktik stellen will, daß sie Politiker aller Parteien umfassen will, die als Frucht dieses Krieges nicht lediglich die Abwehr des Feindes, sondern ein größeres und stärkeres Vaterland, in dem sie die beste Gewähr für den künftigen Frieden sehen, erstreben. Sie hält dieses äußere Ziel für so wichtig, daß sie während des Krieges allen Parteikampf bannen will, um so die einheitliche innere Front herzustellen, die der Heerführung wie der Reichsleitung die Herbeiführung eines siegreichen Friedens ermöglicht. Es ist also die Vaterlandspartei eine Partei, die gar keine Partei sein will, sondern eine Vereinigung von Deutschen aller Richtungen und Weltanschauungen, die sich zur Erreichung ihres hohen Zieles zusammenscharen. Ich persönlich bin z. B. der Überzeugung, daß Parteien im politischen Leben bestehen müssen, daß es gar kein Glück für ein Land ist, wenn das Parlament von ehrgeizigen Gruppen beherrscht wird wie in Frankreich, die sich auf das Land wie eine Beute stürzen. Wir Deutschen, wir nehmen die Dinge viel zu ernst, bei uns ist die Partei ein Stück Weltanschauung, in dem ein großer Teil des deutschen Idealismus steckt, den wir uns gewiß
157 nicht für die angelsächsische Brutalität roher Gewaltpolitik, verbrämt mit Phrasen von Menschlichkeit, eintauschen wollen. Ja, es ist ein Zeichen des deutschen, geistigen Reichtums, daß wir das vaterländische Ziel auf so verschiedenen Wegen glauben erreichen zu können. Gerade deshalb sind wir auch das toleranteste Volk der Welt, während Frankreichs Geschichte eine Geschichte fanatischer Unterdrückung der anders denkenden Minderheit ist. Kein Land achtet weniger die freie Ausübung der Meinung als das französische, mag dort ein Parlament die Herrschaft führen, ein Ludwig XIV. oder ein Napoleon. Ein Volk mit so reichem Stammesleben wie das unsere, das schon im Mittelalter die politische, später so oft die geistige Führung in Europa gehabt hat, das niemals zu einer Zentralisation gekommen ist wie England oder Frankreich, muß verschiedenartige Ideale haben. Mögen aber unsere Erinnerungen an unseren rheinischen Domen oder an der Wartburg hängen, mögen wir unser Ideal in Potsdam oder in Weimar finden, so wollen wir uns dieser Mannigfaltigkeit unseres geistigen Strebens und Schaffens erfreuen, aber auch nicht vergessen, daß wir die Großtaten unseres Geistes mit der politischen Zerstückelung haben bezahlen müssen, bis wir uns im 19. Jahrhundert in schweren Kämpfen die Einheit erstritten haben. Daß schon in den Befreiungskriegen der katholische Görres für die heilige Sache des Vaterlandes neben dem liberalen Arndt und dem demokratischen Jahn mit flammender Begeisterung eingetreten ist, daß der fromme Tiroler Andreas Hofer sich bis zum Tode getreu gegen den Erbfeind erhoben hat, wie dann die harten protestantischen Junker Yorck und von der Marwitz, das soll auch unseren Enkeln ein hehres, nie zu vergessendes Beispiel sein. Auch in diesem Weltkrieg opfern Deutsche aller Konfessionen und Weltanschauung in unvergleichlicher Tapferkeit ihr Leben für des Reiches Bestand und Größe. Wir daheim haben die heilige Verpflichtung, allen religiösen und politischen Hader zu unterdrücken, aber auch jeder kräftigen und ehrlichen Überzeugung Achtung zu zollen, selbst wenn wir sie nicht zu teilen vermögen. Denn ganze Männer brauchen wir, ganze Männer aber haben ausgesprochene religiöse und politische Überzeugungen, alle müssen willkommen sein, die sich in den Dienst des Vaterlandes stellen, diesen Burgfrieden wollen wir uns hinüberretten auch in die Zeit nach dem Kriege! Möge nie wieder Glaubens- und Klassenhaß auf deutschem Boden sein Haupt erheben!
15« Alldeutsche Tendenzen sind es dann, die von der feindlichen Presse der Vaterlandspartei zum Vorwurf gemacht werden. Der Begriff ist zunächst vieldeutig. Er ist zum Schlagwort geworden, muß etwas Furchtbares bedeuten, doch weiß niemand recht was. Nim — über die Kriegsziele kann man ja verschiedener Meinung sein, ist es auch in den Reihen der Vaterlandspartei. Für den Politiker jedenfalls ist die Politik die Kunst des Erreichbaren. Was aber erreichbar ist, das wird uns vor allem die Oberste Heeresleitung bestimmen. Wenn aber alldeutsch heißen soll, daß wir uns beim Frieden lediglich von deutschen Rücksichten bestimmen lassen, wie der siegreiche Franzose von französischen, der Engländer von englischen sich leiten lassen würde, dann würde ich das Wort »alldeutsch« als Ehrentitel für mich gerne in Anspruch nehmen. In dem furchtbaren Ernst dieses Weltkrieges, bei den unerhörten Beschimpfungen unserer Feinde, irgendwelchen weltpolitischen Träumereien nachzulaufen, vom Weltgewissen zu reden, halte ich für würdelos. Was würde man von einem Privatmann sagen, der dem geifernden Gegner immerfort seine Wertschätzung versicherte? Das Ziel jedes Krieges ist der Frieden. Wenn erst wieder Frieden ist, so wird auch Deutschland wieder zu den universalen Fragen Stellung nehmen müssen, es wird seinen Platz wieder in dem geistigen Leben der Völker einnehmen, in dem die anderen uns ebensowenig entbehren können wie wir sie. Christentum und Altertum, germanischer und romanischer Geist haben unsere heutige Kultur geschaffen, sie werden auch in Zukunft die Bildung bestimmen. Jetzt aber im Kriege können Friedensapostel und Bußprediger uns nur in der Achtung der Welt herabsetzen, derselben Welt, die die Taten des deutschen Schwertes unwillig bewundert. Der erste Schritt aber, die Achtung der Welt zu gewinnen, ist die Selbstachtung, das stolze Bewußtsein der eigenen Würde. Aber außer dieser kühlen Selbstachtung müssen wir uns wärmeren Gefühlen hingeben, der Freude an den herrlichen Taten unseres Heeres und seiner genialen Leitung, der Begeisterung, die allein über all das schwere Leid und die Entbehrungen dieser schweren Zeit hinweghelfen kann. Es war deshalb eine der sonderbarsten Äußerungen Bethmannischer Staatskunst, daß er glaubte, unser Volk könne den Weltkrieg mit philosophischer Gelassenheit führen! Das erinnerte an jene längst überwundenen Ideale des 18. Jahr-
159 hunderte, der Zeit der Kabinettskriege, als selbst ein Lessing in der Vaterlandsliebe eine heroische Schwachheit sah. Völlig verkehrt war aber die Annahme, daß wir durch diese Kühle unsere Feinde versöhnen könnten. Nicht einmal hassen können sie, schrieb der »Temps«. Bethmann selbst ist schon, weil er sich nicht erwärmen konnte, dem Herzen des Volkes nicht näher gekommen und wenn auch sein philosophisch-diplomatisch-politischer Stab mit all den beflissenen Würdenträgern, Professoren und Damen tausendmal für ihn Vertrauen und wieder Vertrauen heischte. Hindenburg hat nie um Vertrauen gebettelt, er hatte Taten statt Worte, unser ganzes Volk fühlte instinktiv, daß die Entscheidung auf des Schwertes Schneide steht. Auf was aber sollten wir bei Herrn v. Bethmann Vertrauen haben? Hindenburg war im Osten kalt gestellt, Tirpitz war entlassen, Wien hatte die diplomatische Führung, der innere Zwist war aufs neue jäh emporgelodert. Als nun gar die Gefahr entstand, daß unsere schwächliche Friedenssehnsucht dem Ausland neuen Mut geben würde, daß diplomatische Bedenken unseren Helden in die Arme fallen, den U-Bootkrieg nicht zur vollen Wirkung kommen üeßen, als berufene und imberufene Diplomaten und fürstliche Briefe drohten, die herrlichen Taten des Heeres in Nichts zu verkehren, da erhoben sich Männer aller Parteien, um solchem Treiben Einhalt zu gebieten. Neben dem Dreigestirn Clemenceau, Lloyd George und Ehrenwilson, die doch selbst dem Gutgläubigsten lehren mußten, daß Friedensangebote nur als Zeichen der Schwäche gedeutet würden und so den Krieg verlängerten, ist es vor allem der Vaterlandspartei zu danken, daß sie unser Volk wachgerufen, daß sie die Netze zerrissen, die über unser Heldenpaar geworfen werden sollten. Als dann der Kanzler stürzte, ging die Welt nicht aus den Fugen, ja, er verschwand merkwürdig klanglos, er hatte kaum einen Freund, der ihm eine Träne nachgeweint hätte. Als aber gar ein kurzer Feldzug in Rußland, gegen alles Sträuben unserer Herren Diplomaten durchgesetzt, in 12 Tagen erreichte, was Monate von Verhandlungen nicht hatten bewirken können, als die Deklamationen des Herrn Trotzki in den bekannten öffentlichen Verhandlungen, auch eine Forderung der neuen Zeit, plötzlich verstummten und die sozialistischen Welterneuerer recht kläglich zu Kreuz krochen, da hatte das deutsche Schwert die Friedensresolution totgeschlagen. Das
i6o Begraben können wir eigentlich jetzt ihren Urhebern ruhig überlassen, nur daß eine derartige Politik nicht gerade den Ruf der deutschen Zuverlässigkeit in der Welt erhöhen dürfte. Warum sind aber wir, die wir uns gegen diese Politik der Friedensresolution, die den Krieg verlängert, erhoben, in der ganzen gesinnungstüchtigen Presse als Räuber und Mörder verschrien? Daß ich, der ich als Agrarier den Zwang der Kriegswirtschaft am eigenen Leibe spüre, im Solde der Kriegsindustrie den Krieg verlängern will, dagegen brauche ich mich wohl kaum zu verteidigen. Ebenso beklage ich auf das lebhafteste, daß nicht vor dem Krieg ein Weg gefunden wurde, die preußische Wahlrechtsreform in befriedigender Weise zu lösen, schon darum, weil durch diese innerpolitischen Kämpfe Preußen während des Weltkrieges in gewissem Sinne ausgeschaltet ist, was geradezu den bundesstaatlichen Charakter des Reiches gefährdet. Daß aber der durch eigene Fehler ins Wanken geratene Staatsmann im letzten Augenblicke, als er wissen mußte, daß er verloren war, die p r e u ß i s c h e W a h l r e c h t s f r a g e in einer Form in das politische Leben schleuderte, die heftigste Kämpfe hervorrufen mußte, nur um sich zu r e t t e n und um durch einen Zwist das Volk von den weltbewegenden Fragen des Krieges abzuziehen, das freilich betrachte ich als eine geradezu a n a r c h i s t i s c h e S t a a t s k u n s t , mochte auch Herr v. Bethmann noch so sehr von der Notwendigkeit seiner Erhaltung als Kanzler für das Wohl der Welt und Deutschlands überzeugt sein. Wenn unser Haus vom Weltbrand umlodert ist, dann ist wahrhaftig nicht Zeit, sich zu überlegen, ob wir es im Innern nach englischem oder französischem Geschmack mit allem Komfort der Neuzeit einrichten wollen. Dann sind alle Hände nötig, um den Weltbrand zu löschen. Mit vollem Recht hat neulich der »Vorwärts« geschrieben, daß jetzt innere Kämpfe Kraftverschwendung seien, daß man nicht, wenn zwei Pferde nach vorwärts zögen, einen anderen Gaul hinten vorspannen dürfe. Hoffentlich entschließt sich die Reichsleitung recht bald, störrige Gäule endgültig abzuschirren. Eine einheitliche Leitung brauchen wir im Weltkrieg, und das deutsche Volk weiß recht gut, wo seine wahren Führer sind. Wirtschaftlich, politisch und diplomatisch sind wir imvorbereitet in den Weltkrieg getaumelt, militärisch war alles aufs genaueste vorbereitet, der Erfolg mußte so fallen, wie er fiel.
I6I
Aber gegen die Mehrheit des Parlamentes haben wir uns versündigt, das Verbrechen wird mir gerade jetzt nach der Versammlung vom vorigen Sonntag aufs neue vorgehalten. Ich bekenne mich schuldig, aber versichere zugleich, daß niemand mehr als ich bedauern kann, daß außer in den Augusttagen 1914 der deutsche Reichstag nie der Führer des deutschen Volkes in diesem Kriege gewesen ist. Wer wie ich in Traditionen aufgewachsen ist, die in dem deutschen Reichstag die Krönung der Reichsgründung zu sehen gewohnt waren, der muß es schmerzlich empfinden, wenn heute nicht die Schlechtesten froh sind, wenn die Herren Parlamentarier ohne neues Friedensangebot oder sonstigen Zwischenfall friedlich auseinandergegangen sind. Die Panikstimmung des 13. Juli 1917, die an gewisse schwarze Börsentage erinnerte, ebenso wie die Z a b e r n d e b a t t e vor dem Kriege, die im Ausland, namentlich in Amerika, unermeßlichen Schaden getan hat, jetzt wieder die Verhandlungen beim O s t f r i e d e n s s c h l u ß hätte wirklich der deutsche Reichstag dem deutschen Volk ersparen können I Wenn die Mehrheit mehr Vertrauen zur Kriegsführung gehabt hätte, Einflüsterungen weniger zugänglich gewesen wäre und etwas langsamer im Bestreben, das Heft in die Hand zu bekommen, wären wir weiter, der Reichstag auch. Einer Vaterlandspartei hätte es nicht bedurft I Soll im Reiche Burgfrieden herrschen, dann muß er erst im Reichstag geschlossen werden wie im englischen und französischen Parlament. Nim könnte man ja einwenden, daß die Mehrheit keine sehr fest gefügte ist, daß die Beschlüsse immer nur durch Kompromisse zustande gekommen, was eine zielbewußte Leitung der Dinge ja ausschließt. Aber selbst gegen richtige, feste Mehrheiten darf man ankämpfen, gerade im Musterlande England beruht darauf das ganze parlamentarische System, während der jakobinische Wohlfahrtsausschuß und die Bolschewiki sich als unantastbar hingestellt und jede Minderheit unterdrückt haben. Nun gar eine Mehrheit, von der man heute auf morgen gar nicht weiß, ob sie noch besteht, die wird man doch bekämpfen dürfen, bekämpfen müssen, wenn man in seinem Gewissen, über das Mehrheiten keine Gewalt haben, von ihrer schädlichen Politik überzeugt ist. In der ganzen Weltgeschichte ist alles Große, vom Christentum an, gegen Mehrheiten durchgesetzt worden. So v. B o h l , Reden und AoiUtze.
IX
162 hat auch Bismarck sein Werk der nationalen Einigung im Kampf gegen eine erdrückende Mehrheit begonnen. Diese hat ihm erst zugejubelt, als die entscheidenden Schritte getan waren, wie die Menschheit so oft nach dem Tode den geistig Großen Denkmäler setzt, die sie im Leben verkannt und bekämpft hat. Es war stets der Schritt der Helden, der durch die Weltgeschichte hallte, der Genius ist es, der das Walten des Geschickes vorausahnend erkennt, der sich seiner Verantwortung für die zukünftigen Geschlechter bewußt ist, eine Verantwortung, die ihm niemand in der Welt, am wenigsten eine Mehrheit, abnehmen kann. Denn der Wille des Staates ist, wie der schwedische Gelehrte Kjellen so treffend ausführt, nicht die Summe der Einzelwillen, das nationale Leben strömt dahin wie ein breiter Strom, und die jeweils lebenden Geschlechter sind nichts als die vom Winde gekräuselten Wellen. Wo aber die wahren Führer unseres Volkes zu finden sein würden, das war doch wirklich in diesem Weltkrieg nicht allzu schwer zu entscheiden! Um sie hat die Vaterlandspartei sich geschart, ihrer Führung vertraut sie sich an, deren Ziele sind die ihren! Sollte es wirklich eines freien Mannes nicht würdig sein, einem größeren zu dienen? Ist diese freiwillige Selbstbeschränkung nicht gerade das Zeichen der inneren Freiheit? So haben es uns Schiller und Kant gelehrt, so verkünden es alte Religionsstifter und Morallehrer der Menschheit. Möge das Übermenschentum sein Stündchen prahlen und toben, in diesem furchtbaren Weltkrieg mußte jeder Einsichtige empfinden, daß er nichts ist ohne sein Vaterland, ein Stäubchen, eine verschwärmte Biene 1 Freilich, unsere Feinde möchten uns einreden, daß wir uns vom Militarismus befreien müßten, ein feiner Plan, dann wären wir ja waffenlos ihren höchst irdischen Zwecken preisgegeben! Aber würden denn die Franzosen nicht alle Freiheit hingeben für einen neuen Napoleon, lassen sich nicht die Engländer von einem Walliser Advokaten knechten und sind denn die Amerikaner frei? Ihr Gott ist das goldene Kalb, sein salbungsvoller Priester Herr Wilson, der seine Armeen und Flotten, seine Freiheit und Menschlichkeit seinen Verbündeten und uns ungefähr so anpreist, wie ein smarter Yankee die beste Seife der Welt vor dem Kriege angepriesen hatte. Warum sprechen denn unsere Herren Diplomaten nicht, wie der rote Tag es verlangt, einmal zum amerikanischen Volk, daß seine Wahlkorruption, sein Mangel an sozialer
i63 Gesetzgebung uns Ärgernis gibt, ist doch gerade unser Arbeiterschutz den Maßgebenden in dem berühmten Freistaat ein Dorn im Auge, hat doch der Gegensatz zu unseren sozialen Ideen die amerikanische Plutokratie an die Seite Englands gebracht. Wenn die Engländer immer von dem guten, alten Deutschland reden, das nur seine Machtpolitik aufgeben müßte, um wieder als Land der Denker und Dichter gefeiert zu werden, so geht die Rechnung auf die im Ausland sattsam bekannten und als bedientenhaft verspotteten Deutschen, die da gewohnt waren, alles Ausländische zu preisen, aus dem Westen ihre politischen Theorien zu beziehen, wie die neuesten Erzeugnisse der Pariser und Londoner Mode. Die Vaterlandspartei aber möchte alle Deutschen auf den Boden der Tatsachen zurückführen, mit der Demobilisierung der Phrasen beginnen, von der neulich die Frankfurter Zeitung freilich nur unter dem Strich sprach, sie überzeugen, daß nach einem Naturgestz, der Wille des Staates Machtwille sein muß, was durchaus nicht ausschließen muß und ausschließen soll, daß wir anderen Völkern gerecht, den Schwachen ein Schutz sein können. Aber nicht nur an die Theoretiker wenden wir uns, deren ehrliche Überzeugung wir achten werden, auch wenn wir sie bekämpfen, unsere schwerste Aufgabe ist, die L a u e n u n d H a l b e n a u f z u r ü t t e l n . Die Gleichgültigkeit der gebildeten Kreise gegen ihre politischen Pflichten, gegen den Staat war eine der bedenklichsten Erscheinungen vor dem Kriege! Nach dem wundervollen Gleichnis des Evangeliums sind ihrer nur zu viele auch während dieser furchtbaren Kriegszeit dem königlichen Hochzeitsmahle fern geblieben, weil sie Kriegsgewinne suchen oder im Tratsch und Klatsch des täglichen Lebens untergehen oder ihren kleinen Neigungen auch heute noch folgen, Kriegsbriefmarken und Kuriositäten sammeln oder wohl gar in Maskentänzen neue, künstlerische Anregungen suchen, während draußen an der Somme oder in Flandern der Tod unseren Helden zu so blutigem Tanze aufspielt. Das sind die wahren geistig Armen, die sich der großen Zeit verschließen wollen, weil sie fühlen, daß sie zu klein für sie sind, weil ihr Herz zu eng ist, unser ganzes, weites Vaterland umschließen zu können. Darum müssen wir an die Hecken und Zäune gehen, wo sich das arbeitende Volk findet, dessen gesunder Sinn die schlichte Größe dieses Heldenzeitalters wohl zu erfassen vermag. ii*
IÖ4 Wir wissen wohl, daß unsere Worte schwach sind, gegenüber der Beredsamkeit der Taten unseres Heeres und seiner genialen Führung. Unser Werk ist groB und schwer, aber wir werden nicht erlahmen, um im Sinne Hindenburgs mitzuhelfen, die innere Front herzustellen und dadurch auch im Innern aller Hindernisse Herr werden.
Sicherungen. Offener Brief des bayerischen Reichsrates Franz v. Buhl an seine preußischen Freunde. Trotz der selbstverständlichen Scheu, mich in innere preußische Verhältnisse als Bayer einzumischen, erscheint mir die Rückwirkung der preußischen Wahlrechtskämpfe auf die politischen Verhältnisse des ganzen Reiches und die Beziehung der Bundesstaaten zueinander so bedeutend, daß auch ein Süddeutscher das Wort ergreifen darf. Politisch dogmengläubig bin ich nicht, ich glaube vielmehr, daß überhaupt kein Wahlrecht erdacht werden kann, durch das die politisch und wirtschaftlich wirkenden Kräfte eines Volkes zum klaren, viel weniger zum gerechten Ausdruck kommen. Nun gar von gewissen Forderungen, wie etwa der Gleichheit, zu behaupten, daß sie für alle Zeiten und alle Völker gelten, scheint mir jenem kindlichen Alter zu entspringen, in dem man in Dachstuben oder eleganten Salons Systeme ersann, um die Welt zu beglücken. Es entbehrt nicht des Humors, daß man derartige Theorien noch heute als fortschrittlich bezeichnet, wo doch die Anwendung etwa der Ideen Tolstois Rußland in jenen durchaus nicht paradiesischen Urzustand des inneren Kampfes aller gegen alle bei äußerster Schwäche gegen außen zurückführt. Tragisch wäre indes, wenn sich auch jetzt wieder in Deutschland Staatsmänner fänden, die an die westeuropäischen Ideale, die unsere Feinde nur im Munde führen, wirklich ehrlich glaubten. Wie der Parlamentarismus im Westen wirklich aussieht, hat ja zur rechten Zeit Unterstaatssekretär Müller in einem Vortrag ausgeführt, von dem ich eben in den Tagesblättern lese. Er scheint von englischen Verhältnissen auszugehen, und ich kann meinerseits nur versichern, daß französische führende Politiker mir das Wesen ihres parlamentarischen Systems beim Glase Wein lächelnd genau in den gleichen Farben geschildert haben. Ich fahre deshalb auch nicht ums Morgenrot aus schweren Träumen empor und stelle mir bei Tagesgrauen die
i66 bange Frage, ob meine Partei — die nationalliberale — denn auch freisinnig genug in ihren politischen Anschauungen sei. Ich glaube, dazu liegt um so weniger Veranlassung vor, als mir durch den Weltkrieg auch der Wert der Ideen von 1789 erschüttert erscheint, wobei ich mich auf die geistreichen Ausführungen des Schweden Kjellön berufen kann, der ja als Ausländer bei meinen Landsleuten allen Anspruch hat, als Autorität anerkannt zu werden. Von meinem hochverehrten Reichsratskollegen, Ihrem Herrn Ministerpräsidenten, dem Grafen Hertling, darf ich aber annehmen, daß ihn auch die verführerischsten Ausführungen der Großstadtpresse, ja selbst die in die staatsmännischen Falten der Toga gehüllten Abendartikel eines Weltblattes am Main nicht auf radikale Bahnen bringen werden. Meine persönlichen Erfahrungen berechtigen mich also zur Hoffnung, daß mit dem gegenwärtigen Herrn Ministerpräsidenten eine Verständigung auch von den Gegnern des gleichen Wahlrechts gefunden werden kann, nicht obgleich, sondern weil er ein Süddeutscher ist. In Deutschland findet leider der bekannte Satz, daß der Prophet nichts in seinem Vaterlande gilt, häufig umgekehrte Anwendung. Deutsche Propheten verlieren nämlich ihrerseits, indem sie den Blick in die blauesten Fernen richten, recht oft die richtige Schätzung für das Naheliegende, das nicht von »weither« und zu einfach ist, um mit den konstruierten ausländischen Idealen verglichen zu werden. Wir Süddeutschen haben Herrn v. Bethmann nie verstanden und glaubten an ein Ressentiment des Frankfurter Abkömmlings gegen seine altpreußische Umgebung. Dagegen ist sich Graf Hertling wohl bewußt, daß kein Staat so stolze Erinnerungen hat wie das Preußen des großen Kurfürsten, des großen Königs, des großen Kanzlers, der großen Heerführer, und er weiß, daß, wenn sich die radikalen Wellen einmal verlaufen haben, im preußischen Volke diese Traditionen wieder zu mächtigem Leben erwachen werden. Er kann deshalb auch unmöglich eine Staatskunst billigen, die etwa nach französischem Muster durch administrative Versetzungen innere Politik treiben wollte und dadurch die Gegensätze völlig nutzlos verschärfen würde, nutzlos schon um deswillen, weil sich das deutsche Gerechtigkeitsgefühl gegen Benachteiligung verdienter Beamten aus politischen Gründen empören müßte. Hat doch Graf Hertling selbst, als er in Bayern die Bildung des Ministeriums übernahm, diesen
167 Forderungen der Gerechtigkeit durchaus entsprochen, und hat doch sein in politischen Überzeugungen sehr entschiedener Parteifreund Graf Soden keinen einzigen Beamten aus dem ihm anvertrauten Ministerium des Innern entfernt und bei Beförderungen niemals konfessionelle oder politische Motive mitsprechen lassen, was auch von seinen politischen Gegnern stets willig anerkannt wurde. Daß aber ein preußischer Ministerpräsident von der Erfahrung des Grafen Hertling gerade jetzt den Wunsch haben sollte, sich auf die Radikalen zu stützen, ist doch schon um deswillen recht unwahrscheinlich, weil diese selbst im gegenwärtigen Augenblick sich im Hauptausschuß des Reichstags heiß bemühen, aller Welt zu beweisen, daß keine Regierung sich rühmen darf, ihrer Unterstützung sicher zu sein, und wenn sie tausendmal durch ihr Vertrauen berufen wäre. Von einem solch unbestechlichen, aufrechten Parlamentarismus könnten freilich ngländer und Franzosen selbst noch lernen — nur leider kann wohl niemand mit diesen Katonen regieren! Um so weniger sollten gemäßigte Parteien die kgl. Staatsregierung zu dem ja gewiß interessanten, aber gefährlichen Experiment des deutschen Parlamentarismus gerade in einer Zeit drängen, wo sich in furchtbarem Kampfe die Geschicke der Welt entscheiden! Aber auch andere Rücksichten sollten alle gemäßigten — im weiteren Sinne konservative — Politiker abhalten, es gerade jetzt zum Konflikte kommen zu lassen. Vor mir liegt ein Artikel des »Tags« vom 9. Mai aus der Feder des Professors Metger, der ausführt, wie jetzt im Weltkrieg ein Wahlkampf wirken müßte. Ich will nicht viel Gesagtes hier wiederholen, sondern nur darauf hinweisen, daß es ja gerade die Radikalen sind, die durch innerpolitische Kämpfe die Augen unseres Volkes von den Geschehnissen des Weltringens abziehen wollen, und daß die Parole gegen das »plutokratische« Wahlrecht zurzeit des blühenden Kriegswuchers ohne Zweifel zugkräftig ist. Es kommt gar nicht darauf an, daß gerade die Plutokraten, wie ja auch Unterstaatssekretär Müller nachweist, sich mit freiheitlichen Institutionen ebenso trefflich abzufinden wissen wie Mephisto mit der Polizei, sondern auf das Schlagwort selbst, das die Absichten der Radikalen fördern muß. Die Geschäfte der Radikalen können aber besonnene Politiker nicht fördern wollen, und zum ehrenvollen Untergang des in Schönheit Sterbens scheint mir solange reichlich Zeit zu sein, als unser Heer in immergleicher Abwehr und
i68 Angriff des Reiches Bestand und künftige Größe sichert, und Männer wie Hindenburg und Ludendorff doch die Gewähr bieten, daß die Vorsehung der Deutschen Untergang nicht wollen kann. Da scheint mir doch statt der großen Geste eher dio »verdammte Pflicht und Schuldigkeit« am Platz zu sein, die im Innern die Verhältnisse leidlich so ordnet, wie es eben die Zeit zuläßt. Das erste Erfordernis scheint mir zu sein, alter Vorurteile vergessend, zunächst einmal eine innere Front herzustellen, die, wie die Dinge einmal hegen, Konservative, Zentrum und Nationalliberale umfassen muß, wenn die Forderung der Sicherung unseres nationalen und wirtschaftlichen Lebens erfüllt werden soll. Dagegen können doch nur die berühmten »taktischen« Einwände gemacht werden. Nun ist aber diese Taktik eine Kunst, die nur in dem künstlichen Lichte der Wandelgänge gedeiht, dort ihre Virtuosen findet und in den endlosen Beratungen der Fraktionszimmer großgezogen wird, das nüchterne Licht des Tages dann jedoch nicht aushält und zudem die Hauptschuld trägt, daß weiten Kreisen des Volkes wie der Gebildeten die Politik so unverständlich bleibt wie die Metaphysik. Jedenfalls scheint es mir unzulässig, wegen irgendwelcher noch so interessanter Einzelfragen die großen Ziele zu vergessen und künstlich eine Lage zu schaffen, die schließlich müdem Gegner nützt. Der Gegner steht und bleibt links, die ganzen politischen Geschehnisse während des Weltkrieges beweisen das. Die Großtat der nationalliberalen Partei war es' daß sie sich in den sechziger Jahren von den liberalen Theoretikern trennte und so die Reichsschöpfung unter Bismarck ermöglichte. Heute darf die Partei der Enkel sich doch nicht spalten lassen, sich selber ausschalten! Gerade das deutsche Bürgertum bedarf wie in den schicksalvollen Zeiten der Reichsgründung einer geschlossenen Partei, die die nationalen Ziele über ihre liberalen Doktrinen stellt. Sie wird Seite an Seite mit den Konservativen und dem Zentrum kämpfen und die Oberste Reichsleitung jetzt stützen müssen, wo sie mit der Obersten Heeresleitung einträchtig zusammenarbeitet und mit ihr von gewissen Verzichtpolitikern heftig bekämpft wird. Insofern geht Reichspolitik vor Landespolitik. Die »Kölnische Volkszeitung« hat völlig recht, wenn sie in ihrer Abendnummer vom 10. Mai schreibt: »Das deutsche Volk will, daß die Einigkeit zwischen der Obersten Reichsleitung und der Obersten Heeresleitung in keiner Weise gestört werde, und erhofft nur von der Erhaltung dieser Einigkeit die endliche Be-
169
endigung des ganzen Weltkrieges und die Erringung einer Sicherung ffir unsere nationale Existenz.« Das Zusammengehen der großen nicht radikalen Parteien im Reich und in den Bundesstaaten, also vornehmlich auch in Preußen, scheint mir die wichtigste Sicherung der weiteren wirtschaftlichen und innerpolitischen Entwicklung des Reiches wie Preußens. Wenn einmal der Führer des preußischen Zentrums ganz andere persönliche Sicherheiten gewährt als jener nur allzuviel genannte Reichstagsabgeordnete, der sich als besonderer Diplomat und Hellseher aufspielt, der aber bisher nur die doch auch ihm heilige Sache aufs schwerste bloßzustellen geeignet scheint, so sollten doch auch ganz allgemein die konfessionellen Gegensätze nach den Lehren dieses Weltkrieges zurücktreten. Die herrlichen Taten unserer katholischen Truppen, die warme Begeisterung von Herrscher und Volk für die Sache des Reiches gerade in unserem feurigen Süd müssen doch auch den hartnäckigsten Zweifler bekehren. Das Wort Kulturkampf sollte aber bis auf die Erinnerung verschwinden, denn jene Weltanschauung, die dieses für Katholiken schwer kränkende Wort schuf, hat sich in Wissenschaft und Politik nur als eine zeitlich bedingte Strömung erwiesen, die auf Allgemeingültigkeit keinerlei Anspruch erheben kann, während die kulturelle Bedeutung des Katholizismus in immer weiteren Kreisen erkannt wird. Wenn aber dieser Krieg die Ideale der Vaterlandsliebe und der Religion als den köstlichsten Besitz erwiesen hat, dann sollen sie auch unserer Jugend und den schwer um den Lebensunterhalt ringenden arbeitenden Klassen erst recht erhalten bleiben. Da nun ein Religionsunterricht, wenn er lebendig sein soll, nur auf konfessioneller Grundlage möglich ist, so vermag ich nicht einzusehen, warum ein liberaler Mann sich gegen eine Sicherung des bisherigen Charakters der Volksschule aussprechen müßte. Bei der entscheidenden Rolle, die die Frage der Volksvermehrung heute spielt, sollte doch auch jeder ernste Politiker des Wortes von Leroy-Beaulieu, des anerkannt ersten französischen Nationalökonomen, eingedenk sein, daß in Frankreich der Geburtenrückgang überall dort eintrat, wo die religionslose Schule eingeführt wurde. Die für den Liberalen selbstverständliche Achtung vor jeder in ehrlichem Kampfe errungenen Überzeugung hat damit gar nichts zu tun, und ich darf darauf hinweisen, daß bei uns in Bayern die Lehrfreiheit auf den Universitäten auch von klerikalen Regierungen
170
nicht angetastet wurde und unsere Hochschulen an regem geistigen Leben andern nicht nachstehen. Die Gefahr einer klerikalen Regierung ist aber doch in Preußen verschwindend gering! Sicherungen gegen sie sind kaum geboten, wohl aber gegen die Radikalisierung, weil unser Volk nur zu leicht geneigt ist, für fremde Theorien die bewährte Eigenart aufzugeben. Die Begeisterungsfähigkeit für das Fremde und das Abstrakte ist von je unseres Volkes Erbfluch gewesen, wie es so oft Bismarck beklagt hat, dem ja auch Theoretiker unter den Landsleuten die Reichsgründung mehr noch erschwert haben als fremde Heere und Diplomaten. Nun hat sich bei uns in Bayern im parlamentarischen Leben die Sicherung der qualifizierten Mehrheit bei Verfassungsänderungen durchaus bewährt, ihr ist es vor allem zu danken, wenn wir uns bei dem in diesen Tagen bevorstehenden hundertsten Jahrestag der bayerischen Verfassung rühmen dürfen, daß bei uns diese Verfassung nie gebrochen worden ist. Bei völliger Gleichberechtigung der Ersten Kammer auch in Budgetfragen ist es ferner bei uns geglückt, die notwendigen Reformen rechtzeitig durchzuführen, und in diesem Weltkrieg ist die Einheit zwischen der Regierung und den beiden Kammern nie ernstlich gestört worden. Auch sind uns häßliche Szenen erspart geblieben, aus denen das Ausland auf gefährlichen inneren Zwist hätte schließen können, im Gegenteil, vaterländische Kundgebungen und das warme Gelöbnis der Treue zum Reich müßten unsere Feinde belehren, daß ihre Spekulation auf den Zwist zwischen Nord und Süd völlig verfehlt war. War es doch ein freisinniger Abgeordneter, der dem Pazifisten Förster gegenüber von politischen Kastraten sprach! Und doch klagt man über bayerischen Partikularismus! Vielleicht mit Recht! Daß dieser Partikularismus aber mit einer machtvollen Reichspolitik wohl vereinbar ist, beweist, daß gerade die Führer des linken Zentrumsflügels am energischsten gegen »die Erzbergerei« Stellung genommen haben. Trotzdem ist die Entfremdung zwischen Nord und Süd für die innere Politik eine nicht unbedenkliche Erscheinung. Nur richtet sich dieser Partikularismus gegen die von der sogenannten Mehrheit des Reichstags geforderte Zentralisation und gegen die Aufsaugung des Kapitals durch die Unmenge von offiziösen Reichsgesellschaften in Berlin, die sich bei uns wie auch im Westen des Reiches einer immer steigenden Unbeliebtheit zu erfreuen haben. Ich glaube, daß gegen diese unsere innerpolitische und wirtschafts-
i7i politische Einigkeit gefährdende Zentralisation vor allem »Sicherungen« geschaffen werden müssen. Ich möchte nun ein homöopathisches Mittel vorschlagen: erwecken Sie den preußischen Partikularismus, besinnen Sie sich in der Prinz-Albrecht-Straße der preußischen Eigenart, schaffen Sie eine preußische Staatsregierung, und führen Sie an unserer Seite den Kampf gegen die dem Wortlaut wie dem Geist der Reichsverfassung widersprechende Zentralisierung. Es ist für uns im Süden, und darin möge die Rechtfertigung dieser meiner Zeilen liegen, unerträglich, wenn Preußen auf die Dauer ausgeschaltet, wenn von den Reichsämtern in Preußen hineinregiert wird und wenn preußische Stimmen im Bundesrat zur Verwischung des bundesstaatlichen Charakters unseres Reiches mißbraucht werden. Wir bewundern die preußische Geduld, was würden wir in Bayern sagen, wenn Reichsbeamte unser Ministerium majorisieren würden? Gewiß, die Spitze muß nach Verfassung und der Natur der Dinge einheitlich sein, aber die Mehrheit der preußischen Minister muß die preußischen Interessen, zumal die fiskalischen, die ja mit unseren zusammenfallen, wahren können. Da kenne ich nur eine konstitutionelle Sicherung, nämlich durch Ministerverantwortlichkeit, jedem Minister muß sein Gehalt von der Kammer, und sofern er auch im Reichsdienst steht, mindestens die Repräsentationsgelder bewilligt werden. Dabei wird er der preußischen Kammer Rede stehen müssen. Liberale und Zentrum haben solange für dieses Ideal gekämpft, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß sie gegen diese Sicherung ernstliche Bedenken haben können. Aber auch die Konservativen haben doch zu Bethmanns Zeiten sehen müssen, wie gefährlich konstitutionelle Unklarheiten sind; hat man doch an ihr monarchisches Gefühl appelliert, wenn man mit patriarchalischen Mitteln demokratische Zwecke verfolgte. Es hätte wohl der Linken besser angestanden, wenn sie gegen diesen Druck protestiert hätte. Das war kein Kampf mit blanken Waffen! Wie nun die von mir so dringend empfohlene Einigung zwischen den konservativen Parteien, dem Zentrum und den Nationalliberalen beschaffen sein soll, darüber steht dem Süddeutschen weder die nötige Sachkenntnis zu Gebote, noch überhaupt ein Urteil zu. Er darf nur darauf hinweisen, daß ihm eine Einigung ein dringendes Lebensinteresse unseres deutschen Volkes zu sein scheint, und er darf wohl auch über die Sicherungen reden, deren Tragweite er glaubt
172 als bayerischer Politiker beurteilen zu können. Er darf aber vielleicht noch zum Schluß eine persönliche Mahnung anknüpfen, daß das Getöse des Kampfes an sich schon mißtönend lyirkt, wenn wir mit all unserem Sinnen und Trachten auf die Nachrichten von der Westfront lauschen, wo sich eben das Geschick der Welt entscheidet. Ich kann mich voll in die Gefühle des Grafen Spee versetzen, der, um dem inneren Hader zu entfliehen, sich an die Westfront flüchtete. Wenn einige Herren der Linken für solche Empfindungen ein überlegen sein sollendes Gelächter hatten, so richten sie sich selbst. Ich glaube aber auch, von den Bänken der Staatsregierung sind besonders zu Anfang einige reichlich scharfe Äußerungen gefallen. Auf die Dauer kann doch wohl ein preußischer Minister nicht gegen den Geist regieren, der Preußen groß gemacht, das System und sein Träger trügen den Todeskeim in sich, so sollte schon der Trieb der Selbsterhaltung zu mehr Ruhe mahnen. Vestigia terrentl Daß die Vertreter des alten Preußentums sich temperamentvoll äußerten, kann im Staate Friedrichs des Großen und Bismarcks nicht überraschen, dessen Siege auf dem Schlachtfeld dem preußischen Temperament in allererster Linie zu verdanken sind. Philosophische Gelassenheit, weltbürgerliche Resignation, daß die große Flut doch kommen müsse, waren es, die Preußen und mit ihm das Reich an den Rand des Abgrundes geführt haben. Wenn die Flut heranbraust, dann doch tausendmal lieber auf die Dämme zu ihrem Schutze nach dem Muster des Deichgrafen von Schönhausen! Daß aber Dr. Friedberg, der Herr Vizepräsident des kgl. Staatsministeriums, nach dem von ihm etwas abgewandelten Wort der alten Orsina*) nun auch seinerseits das Temperament verlieren wollte, hat mich doch etwas erstaunt. Warum gesteht er nicht ein, daß er, wie wir alle, schwer an Bethmanns Erbe trägt, daß er in ernstem Ringen, wie Graf Hertling, aus seinem vaterländischen Gefühl heraus, vor den Riß getreten ist ? Die Fiktion einer Kontinuität der Staatsverwaltung kann er doch nach Bethmann nicht aufrecht erhalten, er sollte vielmehr mit warmem Herzen und kühlem Verstand mit den nichtradikalen Parteien erwägen, welcher Sicherungen das alte Preußen bedarf, um seinem deutschen Berufe auch ferner nachkommen zu können, und im Bunde mit ihnen die Sicherheit finden, daß nie mehr Bethmannsche Tage kommen können, die uns drinnen und draußen so unendlichen Schaden zugefügt haben.
Sonntagsdeutsche Verehrtester Herr Professor I Sie schreiben mir, daß ich wie weiland Odysseus vieler Menschen Städte gesehen und ihren Sinn erkannt und daß ich deshalb vielleicht mir ein Urteil darüber bilden könne, warum wir Deutsche im Vergleich mit andern solche Träumer sind. Im Drange der Geschäfte und der Politik kommt nun meine Antwort natürlich zu spät, und ich habe in dem vortrefflichen Hefte Ihrer Zeitschrift über die deutschen Träumer so interessante, geschichtlich und psychologisch begründete Abhandlungen gelesen, daß ich nicht weiß, ob meine schlichten persönlichen Erfahrungen noch mitteilungswürdig sind. Immerhin sind es Erfahrungen — wenn auch die eines Laien —, und da mich der Gegenstand schon seit langem beschäftigt, so darf ich 'vielleicht von dem sonstigen Vorrecht der Damen, der Nachschrift, Gebrauch machen. Sie haben ganz recht, ich bin auf meinen Reisen und im Inland mit allen Schichten der Bevölkerung zusammengekommen und da ich als Sohn eines Weinlandes mich noch nicht zum angelsächsischen Ideal der »vornehmen Reserve« habe aufschwingen können, sondern im Gegenteil der ganz ketzerischen Ansicht bin, daß dieses Ideal nur dazu taugt, etwaige Mängel an Erziehung und Bildung zu verdecken, so habe ich auf der Landstraße wie im Gasthof und Eisenbahnwagen ungescheut Unterhaltungen angeknüpft und dann Schlüsse gezogen. Das Endergebnis ist nun in aller Kürze etwa folgendes. Jedes Volk hat nach dem französischen Sprichwort die Fehler seiner Vorzüge. Wir sind vor allem geordnet. Die vielen Anordnungen in öffentlichen Anlagen, die liebevolle Fürsorge des Schutzmanns und die väterliche Bevormundung unserer Behörden entspringen vor allem unserem Ordnungssinn, der denn auch heutzutage etwa den Herren in der Ukraine ein Greuel ist. Das darf uns aber beileibe nicht verleiten, etwa dort keine Ordnung zu schaffen, weil für uns die Beschaffung von Brot wichtiger sein muß als Beliebtheit am Don. Dieser Ordnungssinn beherrscht aber auch
174 unser Privatleben. Wir haben Werktagsanzüge für die Arbeit, Schürzen und Kittel, Sonntags legen wir jedoch bessere Kleider an, um in die Kirche oder spazieren zu gehen. Jeder deutsche Reisende weiß, daß diese Unterscheidung zwischen Sonntag und Wochentag in Gewand und Haltung weder im Süden, noch in Paris oder England zu finden ist. Kein deutscher Arbeiter würde so in den Wald gehen, wie sein englischer Kollege sich auf dem Rasen des Hydepark inmitten des elegantesten Londons herumflegelt, von unseren ehemaligen Verbündeten im schönen Land Italia ganz zu schweigen. Aber wir gehen, methodisch wie wir sind, noch weiter, wir ziehen mit dem Rock auch einen neuen Menschen an. Der Herr Wachtmeister daheim bei seiner Frau in Pantoffeln ist gar nicht so martialisch, das kommt erst, wenn er gestiefelt und gespornt im Kasernenhof steht. Und beim Talar ist es nicht anders als bei der Uniform. Am Stammtisch redet der Herr Professor wie ein anderer Mensch, weder so feierlich, noch so überlegen klug wie auf dem Katheder oder am Schreibtisch. Dort legt er nämlich geistige Toilette an. Diese g e i s t i g e S o n n t a g s t o i l e t t e scheint mir aber überhaupt das für uns Deutsche Bezeichnende zu sein. Im Werktagsgewand, in unserem Beruf sind wir tapfere Soldaten, fleißige geistige oder körperliche Arbeiter, klug berechnende Kaufleute, vorsichtig wägende Gelehrte, Ärzte, voll Scharfbück für den einzelnen Fall. Im geistigen Sonntagsrock ist uns dagegen »ein Erdenrest zu tragen peinlich«. Da streifen wir das Besondere ab. Da flüchten wir uns ins Ideale, für das die Gesetze des gemeinen Lebens mit seiner Alltagsklugheit nichts gelten. Und diesen Rock legen wir immer an, wenn es sich um allgemeine Dinge handelt, für die wir uns erwärmen, für die wir andächtig schwärmen, ohne indeß mit allzu viel praktischer Kenntnis über sie belastet zu sein. Ja wir fürchten, diese ideale Welt, in die wir uns im Festtagsgewand flüchten, durch dieses Arbeitsgerät des Werktags geradezu zu entweihen! Hand aufs Herz, uns beiden geht es manchmal ebenso, wenn wir jetzt im Maienmorgen durch die Fluren streifen oder nach des Tages Arbeit ein Stündchen auf dem Sofa ruhen. Da schaffen wir uns eine Welt, die viel schöner ist als die wirkliche, da sind wir Engel ohne Flügel, voll Taubeneinfalt! Holde Jugendeselei, sagt Heine, und wir Deutschen sind eben immer noch ein junges Volk! Und wenn wir dann ganz in dem Gefühle selig sind, dann meinen wir, die andern, unsere Gegner, müßten ebenso empfinden wie wir,
175 wir bräuchten sie nur einzuladen, mit uns zu schwärmen, dann würden sie sich bald überzeugen, wie edel, hilfreich und gut wir sind. Seid umschlungen, Millionen! Die kennen aber unsere Sonntagstoilette nicht, wollen uns nur im Werktagskleide sehen und haben überhaupt für unsere Innenpoesie und Gemütlichkeit kein Verständnis, weil sie selbst das Bedürfnis dazu nicht in sich fühlen. Ja, haben denn fremde Völker keine Ideale? Gewiß, jedoch andere! Der Angelsachse liebt die Freiheit, aber wie er sie meint, nämlich daß alle andern ihm dienen, ihn bereichern müssen, damit er eben frei sein kann. Ähnlich dachten schon die alten Römer. Der Franzose, eitel, will glänzen, gegenüber Höherstehenden ist Gleichheit sein Ideal, für die Freiheit der Nebenmenschen fehlt ihm jeder Sinn, er ist besonders in Meinungen ebenso intolerant, wie der Angelsachse selbstsüchtig ist. Wir nun schätzen die Freiheit sehr hoch und doch wissen wir uns unterzuordnen, wenn wir unseren Führern vertrauen. Die Gleichheit wird ja jetzt von den politischen Führern nicht ohne Erfolg gepflegt, aber so ganz Herzenssache ist sie uns schon um deswillen nicht, weil wir am Besonderen, Ererbten haften. Die Brüderlichkeit endlich wächst bei uns mit dem Quadrate der Entfernung, in der Familie, unter Nachbarn, Kollegen und gar Landsleuten pflegen wir zu Einschränkungen geneigt zu sein, quereile allemande, sagt der Franzose mit dem Scharfblick der Hasser. Unser wirkliches Ideal scheint mir die G e r e c h t i g k e i t zu sein. Gewiß der höchsten eines, sagt doch der Herr: Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. Aber dieses Gottesreich ist nur möglich, wenn alle Menschen guten Willens sind. Das ist ein Ideal, aber keine Wirklichkeit. Wenn nun noch der tief in uns liegende Zug nach der Ferne dazu kommt, der Glück und Ideal jenseits der Berge, Meere, ja jenseits der Wolken sucht, so kann dieses Streben nach Gerechtigkeit dem Fremden gegenüber zum höchsten Unrecht gegen das eigene Volk werden. In unserem Sonntagsreiche gibt es keine Grenzen, in dem begrenzten Räume dieser Welt stoßen sich hart die Sachen. Wie oft gefährden wir schon bei uns, indem wir Verbrechern oder Lasterhaften gerecht zu werden uns bestreben, unsere Jugend, unser Volk! Im Leben des Alltags sollten wir alles tun, um unsere Ideale zunächst beim eigenen Volke zu verwirklichen, wir werden dies nur können, wenn wir die Gesetze erkennen, die diese Welt regeln und die wir in unserer Idealwelt so leicht mit den
176
Gedanken aufheben können. Das politische Leben ist aber Alltagsleben, da gilt das evangelische Wort: seid klug wie die Schlangen! Wir dürfen uns nicht unser eigenes Volk oder unsere Feinde zuerst in der Sonntagswelt konstruieren, wie sie sein sollten, um sie dann um so sicherer beglücken zu können. Lesen Sie die Reden vieler unserer Politiker und fragen Sie sich mal in nüchternster Werktagsstimmung, sind denn die Menschen wirklich so, wie dieser freundliche Herr sie uns schildert ? Ist aber die Prämisse falsch, kann dann der Schluß richtig sein? Schürfen wir noch tiefer: sündigen wir nicht an unserem Volke, wenn wir ihm immer vorstellen, wie tugendhaft, reif und verständig es ist? War das nicht der Grundirrtum der Pädagogik im Jahrhundert des Kindes, und wenn wir nicht Lehrmeister sind, die auch tadeln müssen, übernimmt dann nicht das rauhe Leben unser Amt und züchtigt mit Skorpionen, wo wir kaum eine Hand zu erheben gewagt hatten ? Mir kommt es wirklich manchmal so vor, als ob der beste Staatsmann und Pädagoge der ist, der genug Vertrauen besitzt, um die ihm Anvertrauten vor ihren eigenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dummheiten zu bewahren. Das ist grob ? Ein Volksmann hätte das freilich ganz anders gesagt — mancher Staatsmann der jüngsten Vergangenheit auch. Bismarck dagegen hat sogar aus tiefstem Herzen heraus vom blinden Hödur gesprochen. Jedenfalls, wie jeder stolze Mann den Schmeichler verachtet, sollte das Volk sich vor denen hüten, die ihm immer nur Tugenden andichten, sie sind selbstsüchtiger Zwecke mindestens stark verdächtig. Nun ist aber die Gerechtigkeit doch wirklich eine deutsche Tugend, der wir vor allen Völkern die Fähigkeit verdanken, selbst am Feinde das Gute zu erkennen, und der jene edle Duldung entspringt, die unser Volk von je ausgezeichnet hat. Gewiß muß uns diese Tugend erhalten bleiben. Sache der nüchternen Politiker ist nur zu zeigen, daß es gar nicht so leicht ist, hier auf Erden zu erkennen, was gerecht ist, und daß unsere erste Pflicht ist, unserem Nächsten, unserem Volke also, vor allem gerecht zu werden. Was kann dann nicht alles im Namen der Gerechtigkeit verlangt werden? Ein Seehafen für Polen, der die deutschen Ostmarken auseinanderreißt, ein Steuersystem, das unser ganzes wirtschaftliches Leben vernichtet I Hätten wir vor dem Kriege eine »gerechte« Wahlkreiseinteilung gehabt, so wäre vielleicht die nötige Rüstung nicht bewilligt, jedenfalls aber die Landwirtschaft den Konsumenten geopfert worden.
177 wodurch wir dem Feinde schutzlos preisgegeben worden wären, der uns gewiß nicht nach Gerechtigkeit behandelt hätte. Der Hinweis auf den Krieg hätte da gar nichts genützt, weil an den in Deutschland niemand ernstlich geglaubt hat, eben weil wir in unserem Sonntagshimmel lebten. Daß Professor Förster und Professor Quidde durch ihr Gerechtigkeitsgefühl für unsere Todfeinde uns unermeßlichen Schaden getan haben, sehen immer weitere Kreise ein, wie konnte sich aber nur eine Behörde finden, die diesen Männern Auslandspässe ausgestellt hat? Eben wieder aus Gerechtigkeit — ist ein Paß dem Kaufmann, dem vaterländisch Gesinnten billig, so ist er dem kosmopolitischen Gelehrten nur recht! Unsere Feinde machen Defaitisten den Prozeß, nur sie mißhandeln Neutrale, die sich freilich dann nicht bloß fügen und ihnen zu Willen sind, sondern gar uns mitsamt unserem Gerechtigkeitssinn Barbaren schelten. Können nicht vielleicht auch unsere Volksführer unseren Gerechtigkeitssinn mißbrauchen, indem sie Richtlinien für eine gerechte Ostpolitik aufstellen, um damit ihren Rachedurst an Reichs- und Heeresleitung zu kühlen? Doch halt! Das ist ein zu politisch Lied, und »sie sind alle ehrenhafte Männer!« Also genug davon! Sie fragen nun noch, verehrtester Professor, woran man merkt, ob man den nüchternen Werktagsdeutschen vor sich hat oder den Sonntagsträumer ? Da gibt es untrügliche Zeichen: Ist es ein Preuße, so fängt er meist mit den Worten an: »Erlauben Sie einmal«, und dann hört er so bald nicht wieder auf. Ganz allgemein aber wird die Stimme laut, der Redefluß und die Gesten werden lebhafter, die Wangen röten sich, wenn er vom Idealen redet. Ruhige Gegenrede reizt ihn geradezu, Sie müssen selber mitschreien, dann fühlt er sich wohler. Wenn wir uns ganz genau beobachten, können wir, glaube ich, die Symptome manchmal an uns selbst beobachten, wir pflegen dann abstrakt zu werden, denn wir sind allgesamt Deutsche und so steckt uns allen, nach Goethe, der Professor im Leibe, sogar Ihrem treu ergebenen agrarischen Freunde F r a n z Buhl.
v. B u h l , Reden und Aufe*tte.
12
Gedächtnisrede auf Graf Kaspar Preysing. 9. Juli 1918. Johann Kaspar Graf v. Preysing-Lichtenegg-Moos wurde am 28. Juni 1880 als zweiter Sohn des Greifen Konrad und der Gräfin Christiane, geborene Gräfin Arco-Zinneberg, auf Schloß Moos geboren. Dort wuchs er auf dem Lande auf, in den Traditionen eines uralten Geschlechtes, dessen Geschichte aufs innigste verwachsen ist mit Niederbayern, dem bayerischen Herrscherhause und der katholischen Religion. Der Vater, weit bekannt als Führer des niederbayerischen Volkes, jahrelang Reichstagsabgeordneter, war nach dem Satze »Adel verpflichtet« eingetreten für das engere Vaterland wie für die Wehrkraft des Deutschen Reiches, getreu dem Gebote des Heilands: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Die Mutter, das noch heute hochverehrte Haupt der Familie, war erfüllt von dem Geiste des lebendigen Christentums, das in Demut sich dem Schicksal beugt und in allem Gott die Ehre gibt. Graf Kaspar Preysing war sich stets bewußt, wie viel er dem Geiste seines Hauses, seiner christlichen Erziehung verdankte, und mit Stolz betrachtete er sich als ein Güed in der Kette eines Geschlechtes, das seit Jahrhunderten für sein Vaterland von Bedeutung war. Auch die Freude am Land ist ihm sein ganzes Leben hindurch geblieben, das Landleben, das Fischen, das Jagen ist neben dem Soldatenberuf seiner Ahnen stets seine Herzenslust gewesen. Leicht fiel ihm, dem Landedelmann, der Umgang mit den einfachen Leuten aus dem Volke, der Bauern Interessen sind ihm, nach der alten guten Sitte seines Hauses, stets die eigenen gebheben. In sich selbst gefestigt, seiner Überlieferungen und seines Wertes bewußt, verschmähte er den äußeren Schein im täglichen Auftreten, wahrhaft vornehm in seiner Schlichtheit wie in der äußeren Sitte. Den Süddeutschen verriet die formale Begabung, das Meistern der Sprache, die lebhafte Phantasie, gleich fesselnd war er als Redner wie als Erzähler. Aber
179 auch der klassische Unterricht, den er in Feldkirch wie auf dem Gymnasium in Landshut empfing, hat tief auf ihn gewirkt, eine große Sprachenbegabung, ein lebendiger historischer Sinn zeichnete ihn aus. Gleich seinem Bruder und Vorgänger im Reichsrat, Max Emanuel, hatte er lebhaften Sinn für alles Schöne, er hat mir oft erzählt, wie es ihn freuen würde, das väterliche Schloß würdig ausbauen zu können. Und so war dieser echte Sproß seines Hauses, dieser treue Sohn seiner Eltern, an denen er mit rührender Liebe und Verehrung hing, eine fest umrissene, eigenartige Persönlichkeit, die mit freiem, hellem Blick den Dingen ins Angesicht sah und über alles sich ein eigenes Urteil bildete. So wuchs er auf, »der Stämme geradester im ganzen Wald«. So ist er sich treu geblieben sein ganzes Leben lang, »denn keine Macht und keine Zeit zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Treu gegen sich selbst, konnte er auch anderen treu sein, so ist er bis in den Tod treu geblieben seinem Vaterland und seinem König, seiner Kirche, seiner Familie, seinen Freunden, seinen Kameraden im Felde. Ganz im Geiste seiner Vorfahren, die dem weißblauen Banner nach den Niederlanden und Oberitalien, nach Böhmen und Ungarn, nach Rußland und Frankreich gefolgt waren, war er vor allem eine Soldatennatur. Den kühnen Reitergeist hat er nie verleugnet, weder auf dem Schlachtfeld noch auf der Tribüne des Reichsrates, so wenig wie den ritterlichen Sinn: »nach Ehre schmeckten beide«. So war der militärische Beruf des jüngeren Sohnes ihm Herzenssache, als er 1899 bei den Schweren Reitern eintrat und im März 1901 Leutnant im neu errichteten 7. Chevaulegerregiment wurde. Dort hat er sich dann auch besonders als Patrouillenoffizier bewährt, das Übersetzen von Kavalleriepatrouillen über Ströme und Flüsse, die Organisation des Schwimmdienstes brachte ihm die erste Anerkennung: seine Versetzung zum Generalkommando des 3. bayerischen Armeekorps. Aber es drängte ihn, das im Frieden Erlernte auch im Felde zu erproben. Als 1912 der Balkankrieg ausbrach, wurde auf eine Empfehlung Seiner kgl. Hoheit, des Prinzen Ludwig, an von der Goltz-Pascha hin Graf Preysing beim türkischen Heere angenommen. Er folgte, wie er selber schrieb, »dem Anreiz, den eben Krieg und Kriegsgeschrei auf Soldaten ausübt. Ich gebe mich keiner Täuschung hin, daß das Unternehmen gewagt ist, aber dazu bin ich Soldat«. Und bald gelang es ihm, den Namen Preysing angesichts Europas auf dem Schlachtfeld der entscheidenden Tscha12*
i8o daldschalinien zu Ehren zu bringen. Dort stellte er im heftigsten Granatfeuer fest, daß die Bulgaren an einer ganz anderen Stelle standen, als das türkische Oberkommando angenommen hatte, was dann von entscheidender Bedeutting für die künftigen strategischen Maßnahmen wurde. Der türkische Oberbefehlshaber sprach ihm in einem Tagesbefehl seine Anerkennung aus, die französische Zeitung »la Croix« aber urteilte, ohne die Erkundung des Grafen Preysing wären die Türken bis an den persischen Golf zurückgedrängt worden. Seine glänzend geschriebenen Berichte, voll überraschenden Urteils über die militärische Lage, erregten Aufsehen beim deutschen Großen Generalstabe und fanden die Anerkennung Seiner Majestät des Kaisers. Man hat mir erzählt, wie Graf Preysing, vom Kriegsschauplatz hinweg, nach durchfahrener Nacht sich unverzüglich ins Generalstabsgebäude begab, um auch mündlich über das Erlebte zu berichten, trotz aller Strapazen voll sprudelnder Lebendigkeit und Frische. Der Tod des ältesten Bruders stellte dann unerwartet Graf Kaspar auch politische Aufgaben durch seine Einführung in den bayerischen Reichsrat im Januar 1914. Der Präsident dieser hohen Kammer hat der leider nur allzu kurzen Tätigkeit Graf Preysings das ehrende Zeugnis ausgestellt, »daß er als Mann von hoher geistiger Begabung, von feurigem Temperamente, ungewöhnlichem Betätigungsdrange und außerordentlicher Willensenergie mit der ganzen Kraft seiner starken Persönlichkeit für seine Ideale und Überzeugungen eingetreten sei«. Daß er mutvoll und sonder Scheu seiner Meinung taktvollen Ausdruck gab, ein Adeliger von echtem Schrot und Korn, bezeugte ihm der Präsident der Abgeordnetenkammer. Und so steht er in der Tat vor unseren Augen, auch im politischen Leben ein Ritter ohne Furcht und Tadel. Er selbst hat wohl einmal gesagt: »ich schließe mich der Partei an, von der ich für das Vaterland am meisten erhoffe«. Das ist aufzufassen, wie etwa der Name »Vaterlandspartei« verstanden werden soll, als einer höheren Warte, auf der sich im Dienste der Vaterlandspartei Männer aller Parteien und Weltanschauungen sammeln können. Denn Graf Preysing war Parteipolitiker im besten Sinne des Wortes. Er war ein Mann von viel zu lebhaftem Temperamente, von viel zu kräftigen Überzeugungen, zu sehr gefestigt in den vaterländischen, religiösen und politischen Überlieferungen seines Hauses, als daß er sich mit einer blassen Politik der mittleren Linie begnügt hätte. Seine kampfesfrohe Natur zeigte sich auch in der
I8I
politischen Debatte, auch im politischen Leben wollte er Führer sein, wie es der Vater gewesen, wozu er das Zeug in sich fühlte. Seinem klaren Blick blieb die Notwendigkeit der Parteipolitik, der Fühlung mit der Presse nicht verborgen, aber sein Idealismus kannte kein anderes Ziel, als des Vaterlandes Bestand und Größe. Schon seine Einführung in den Reichsrat fiel in eine politisch bewegte Zeit, schon gleich am ersten Tage wollte er in der neuen Würde für die Ehre seiner preußischen Kameraden in Zabern eintreten, die im Reichstage gegen die Demokratie nicht genügend gewahrt werden sei. Und als dann der Weltbrand emporgelodert war, da mußte das bängliche Schwanken Bethmannscher Staatskunst einer soldatischen Natur wie der seinen im innersten Wesen zuwider sein. Für ihn war die Anwendung der wirksamen U-Bootwaffe, der kühne Angriff, auf dem Schlachtfelde wie in der Diplomatie, die beste Verteidigung, das einzige Mittel, die Feinde zum deutschen Frieden zu zwingen. Sein Unmut über die schwunglose Gestaltung der äußeren wie der inneren Politik führte Graf Preysing gleich zu Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit mit Männern verschiedenster Anschauungen zusammen, auf die das Feuer seiner Begeisterung, seine gewandte Dialektik, die Lauterkeit seiner Gesinnung den nachhaltigsten Eindruck nicht verfehlte. So mußte er zu einem der Führer jener Bewegung werden, die über den »unabhängigen Ausschuß«, der in England den Hauptfeind erkannte, zur Vaterlandspartei hinüberführte. Er aber war von Anfang mit mir darüber einig, daß sich die hohen Ziele dieser Vereinigung mit dem hehren homerischen Verse umschließen ließen: Eig oiutvog äqiatoq ¿fitveg ntqi naiQTjS, »ein Wahrzeichen nur gilt, sich für das Vaterland zur Wehr zu setzen«, daß unter diesem Zeichen der Aufopferung für das Vaterland sich Männer der verschiedensten Parteien, unter voller Wahrung ihres persönlichen Standpunktes, zu jener geschlossenen Front hinter der Obersten Heeresleitung zusammenschließen müßten, deren diese im Innern bedurfte, um draußen einen starken Frieden zu erzwingen. Sich selbst aber blieb er unerschütterlich treu; ähnlich wie bei Bismarck, hatte auch sein Verhältnis zum König, der einst der Freund seines Vaters gewesen, der ihm den Eintritt in das türkische Heer erwirkt hatte, einen stark persönlichen Charakter. So ging er zu seinem Landesherrn, um ihm ins Angesicht seine Bedenken über die politische Lage unter Bethmanns Kanzlerschaft darzutun,
182 so hat er noch bei seiner letzten Anwesenheit in München die Sache seiner Kameraden seinem höchsten Herrn persönlich vorgetragen. Mit stolzer Befriedigung erfüllte es den katholischen bayerischen Edelmann, daß gerade seine bayerischen Landsleute aus den Kreisen um die Donau, in edlem Wettbewerb mit den anderen deutschen Stämmen Schulter an Schulter kämpfend, sich durch besondere Heldenkraft hervortaten. Eben seiner heißen Liebe zu Vaterland und Kirche entsprang dann sein sehnlicher Wunsch, daß seine katholischen Glaubensbrüder regen freudigen Anteil an den politischen Geschicken des Reiches nehmen sollten. So stolz er darauf war, einem altbayerischen Geschlecht anzugehören, und so treu er die Stammeseigentümlichkeiten zu wahren wußte, so eifrig wirkte er einem engen partikularischen Abschluß gegen das große Ganze entgegen. Er glaubte, daß im Bundesstaate die Stellung Bayerns genügend gefestigt sei, und daß ihm gerade bei dieser Staatsform auch ein weitreichender Einfluß auf die Gestaltung der Reichspolitik gebühre, dessen Berechtigung Bayern durch freudiges Sicheinsetzen für das große Ganze erweisen müsse und würde. Nicht minder war er überzeugt, daß der Katholizismus einen wesentlichen Faktor in dem kulturellen und politischen Leben des Reiches bilden müsse und so fürchtete er, daß die aufdringliche Tätigkeit gewisser vielgeschäftiger Politiker der Gesamtheit der deutschen Katholiken den Vorwurf zuziehen könne, als ließen sie sich von anderen politischen Erwägungen leiten, als von rein vaterländischen. Er fürchtete von einer national protestantischen Reaktion gegen solche internationalen Machenschaften ein Aufleben des Kulturkampfes ebenso sehr, als er bei einer weiteren Radikalisierung um die Erhaltung der christlichen Schule besorgt wurde. Dabei sah er die Notwendigkeit einer volkstümlichen Politik durchaus ein, er vertraute auf die Werbekraft der vaterländischen und religiösen Ideale, für die sich mutig einzusetzen er als die vornehmste Pflicht des Staatsmannes und Politikers ansah. So mußte er in Gegensatz gegen eine nur lavierende Staatsregierung treten, wie er sich anderseits sofort dem Grafen Hertling anschloß, als er erkannte, daß dieser ein gutes Einvernehmen mit der Heeresleitung erstrebte. Er, »der sein Knie vor keinem anderen beugte als vor des Himmels Herrn und seinem König«, trat völlig frei von Vorurteilen den sozialpolitischen Aufgaben der Zeit gegenüber, sein
i«3 ganzes Herz aber gehörte dem Lande, in einem kräftigen Bauernstande, wie im Mittelstand überhaupt, sah er einen Grundpfeiler staatlicher Entwicklung. Deshalb setzte er sich für die Siedlungsbestrebungen ein und die Erhaltung des Mittelstandes war eine der hauptsächlichsten Beweggründe bei seiner Forderung einer hinreichenden Kriegsentschädigung, wie in seinem bekannten Antrage'). Er war sich, wie ich aus vielen Unterhaltungen mit ihm weiß, vollständig klar, daß sich in normalen Zeiten diese seine Ziele nur innerhalb der Parteientwicklung erreichen ließen, so darf ihn das Zentrum zu den seinigen rechnen, wie er denn auch stets mit den Führern dieser Partei, und zwar beider Flügel, des mehr demokratischen, wie des mehr konservativen, in enger Fühlung stand. Hier versuchte er mit großem Geschick stets zu vermitteln, wie er darüber hinaus eine Sammlung all der Parteien erstrebte, die sich auf den Boden des Vaterlandes stellten. Er freute sich, daß er als bayerischer Reichsrat, frei von Fraktionszwang und wahltaktischen Rücksichten, bei aller Kraft seiner Überzeugungen, doch eine gewissermaßen neutrale Stellung hatte, und daß er so allein auf sich gestellt seine Persönlichkeit voll für das Ziel einer nationalen Sammlung einsetzen konnte. Wie so oft bei Charakteren von starker Überzeugung, die sich ihres eigenen Wertes voll bewußt sind, fand sich auch bei ihm jene Achtung anderen Anschauungen gegenüber, wie seine Sicherheit in der Beherrschung der Formen und eine angeborene diplomatische Begabung ihm bei der Anknüpfung von persönlichen Beziehungen mit den Führern der verschiedensten politischen Parteien zustatten kam. Eines freilich verlangte er, daß alle Parteirücksichten vor den vaterländischen zurücktreten müßten, auf das schmerzlichste empfand er den Riß, der durch unser Volk geht, bei dem weltpolitische Träumereien noch heute, trotz des Weltkrieges, weit mehr Geltung haben als bei unseren Feinden. Daß aber so viele unserer Gebildeten sich der Not des Vaterlandes versagen, aus Eigennutz, Trägheit oder weil sie auch jetzt noch ihren kleinlichen ästhetischen Neigungen frönen, konnte ihn mit herber Erbitterung erfüllen. Solche Gesinnungen empfand er als den schnödesten Undank gegen unser todesmutiges Heer, unsere unvergleichliche Flotte und deren geniale Leiter, aber auch gegen die Vorsehung, die uns diese Helden gesandt und uns allen vergönnt hat, jedem für sein Teil, an dem gewaltigen Werke der vaterländischen Behauptimg und Erneuerung mitzuwirken.
184
Auf das schärfste betonte er die Pflicht eines jeden Deutschen, nicht nur auszuharren, sondern freudig alle Opfer zu bringen, wie er sie gebracht hat und wodurch er uns allen in seinem Leben wie durch seinen Tod zum hehrsten Vorbild geworden ist. Es war der Mutter opferfreudiger Geist, der in ihm lebte. Sein stolzer Sinn hat nicht nur jede Bereicherung durch den Krieg verschmäht, dem Edelmann wie dem Patrioten widerstrebte in gleichem Maße jeder Kriegswucher; willig hat er auf sein Fideikommiß schwere Lasten gehäuft, um Kriegsanleihe zeichnen zu können. Noch ganz andere Opfer hat er im Weltkrieg selbst gebracht. Daß er, den der Reitergeist einst an die Tschadaldschalinie geführt, dem Rufe seines Königs freudigst folgte, als es galt, das Vaterland gegen eine Welt in Waffen zu schirmen, entsprach ja nur seinem eigensten Selbst. Für seine parlamentarischen Pflichten war noch Zeit, wenn die Reservestellung oder eine neue Verwundung ihn, den Ungeduldigen, zum Stilleliegen zwang. So wohl er sich freilich bei kühner Erkundung im Sattel fühlte, so sehr mußte eben seinem ritterlichen Sinn die niedrige Rachsucht und die Gemeinheit der Feinde empören. Er, der selbst gefangenen Offizieren gegenüber die selbstverständliche Höflichkeit des geborenen Edelmannes übte, fand Worte flammender Entrüstung über die Greuel französischer Instruktionsoffiziere gegen unsere Kriegsgefangenen in Rumänien, unter denen sich der eigene Bruder befand, und seine letzte Rede im Reichsrat klang aus in einer Brandmarkung der Verderbtheit der französischen Kultur unserer Zeit. Noch jüngst haben seine Worte Nachhall gefunden in den Vergeltungsforderungen des deutschen Reichstags. Um so wärmer trat er ein für die eigenen Kameraden — und Kamerad hieß ihm jeder, der für Deutschland die Waffe trug. Aber nicht auf die private Wohltätigkeit wollte er die Tapfersten der Tapferen angewiesen sehen, ungescheut sprach er es aus, daß es Ehrenpflicht des Staates sei, für die heimkehrenden Krieger zu sorgen. Für diesen seinen eigensten Antrag, der seinen Namen weithin bekannt gemacht hat, scheute er weder Reisen ins Hauptquartier noch nach Berlin, aber auch in Volksversammlungen lieh er der Begeisterung für die Kameraden freudigen Ausdruck, ihrer Sache wollte er sein politisches Leben weihen. Wie wenig er sich dabei schonte, habe ich selbst erfahren, als er auf einer Werbereise bei mir abstieg, obgleich der von schwerer Verwundung langsam Genesende sich noch nicht allein im Bett aufzurichten vermochte.
I85 Denn auch das Opfer seiner Gesundheit hatte er freudig im Dienste des Vaterlandes gebracht. Nachdem er 1914 in jener Schlacht von Lothringen gekämpft hatte, die der Pfalz die schreckliche Verheerung durch den Feind ersparte, wurde er, nach den Kämpfen an der Maas im Westen und in Galizien im Osten, bei Brest-Litowsk das erstemal verwundet. Schon zwei Monate später finden wir ihn bei dem Feldzuge in Serbien, von dessen fröhlichem Reiterleben er so gern erzählte, und dann ging es nach Rumänien, wo er die zweite, diesesmal schwere Verwundung, einen Bauchschuß, erhielt. Wie oft hat er die Kühnheit seiner Reiter bei der Erstürmung des Walachendorfes gerühmt und seiner eigenen Heldentaten dabei vergessen! Wieder genesen, ermöglichte ihm die Reservestellung in Frankreich die Wiederaufnahme seiner parlamentarischen Tätigkeit, aber diese erzwungene Ruhe war eine schwere Prüfung für sein feuriges Temperament. Endlich rief ihn das heißersehnte Telegramm hinweg zur großen Offensive nach Frankreich. »Ich erlebe hier Großartiges«, war der letzte Gruß aus dem Felde, den er seinem Freunde, Reichsrat Freiherrn v. Frankenstein, sandte, dem er das Schicksal seines Antrages ans Herz legte. Dann kam der Todesritt! Am frühen Morgen des 14. April, es war in den Tagen des Ansturms auf Bailleul, unternahm Graf Preysing eine mit hervorragender Kühnheit ausgeführte Erkundungspatrouille. Um 3 Uhr nachmittags traf ihn eine englische Granate, ihn tödlich verwundend. Nach 5 Stunden qualvollen Leidens ist er ohne Klage verschieden. Er starb, wie er gelebt — der letzte Gruß an die Mutter mit der Versicherung, daß er die heiligen Sakramente empfangen. Dann kam der Abschied von seiner Schwadron — in einem rührenden Briefe hat sein Bursche an meinen Diener von dem letzten Händedruck seines treubesorgten Herrn geschrieben lind diesem so, ohne es zu wissen, das schönste Denkmal gesetzt. Zuletzt noch die Bitte an seinen Oberleutnant, folgende Nachricht an die Reichsratskammer gelangen zu lassen: »Graf Preysing schwer verwundet, kann seinen Antrag nicht mehr einbringen.« Sein Divisionskommandeur übermittelte die Bitte mit den Worten: »Ich erfülle hiermit den letzten Wunsch dieses von der ganzen Division schmerzlich betrauerten, tapferen Offiziers, dessen unvergleichliche Begeisterung und Hingebung für seine Pflicht noch in der letzten schweren Todesstunde so leuchtend zum Ausdruck kam.« So ist er sich selbst, dem Vaterlande, dem Glauben, den Seinen, den Kameraden
i86 treu geblieben bis in den Tod, der die schmerzliche, aber würdigst Krönung seines Heldenlebens war. »Mit der Hand focht er und in Herzen betete er zum Herrn.« Seinen Geist gab er dem Kriege, seil Herz dem Könige, sein Blut dem Vaterlande, die Ehre aber Goti So möge er mitten unter seinen heldenhaften Kameraden sanft ruhei in Frankreichs blutgetränkter Erde, bis auch er zur Vollendung ge führt wird.
Hebung des Nationalgefühls und konfessionelle Spaltung. Es ist in letzter Zeit die Frage aufgeworfen worden, ob zur Hebung des Nationalgefühles eine eigene Organisation geschaffen werden solle. Ich bin der Auffassung, daß die nationale Arbeit bei den politischen Parteien geleistet werden muß. Uns hier in der Pfalz hat die Haltung der Deutschen Volkspartei, die Reden zumal der Führer Stresemann und Heinze, durchaus befriedigt, unser hauptsächlichstes Organ im besetzten Gebiete, die »Kölnische Zeitung«, führt eine würdige Sprache, und unsere Pfälzer Neuorganisation der Deutschen Volkspartei unter der Leitung Herrn Direktor Burgers flößt allgemein Vertrauen ein. Aber mit Sorge sehen wir den konfessionellen Zank wieder erwachen, selbst unter den Augen der Besatzungstruppen werden manche Fragen, die lediglich eine sachliche Behandlung verdienten, mit dem Bekenntnis verknüpft. Man spricht wieder — oft sogar mit einem Fragezeichen — von der nationalen Haltung der Katholiken. Da sehe ich nun an allen Ecken und Enden Schwierigkeiten und sogar Gefahren. Da ich mich seit Jahren mit der Frage beschäftige, darf ich mich ja wohl als Sachverständigen betrachten, ich glaube auch dann, wenn sie mir Herzenssache ist! Die große augenblickliche Gefahr ist natürlich Herr Erzberger. Der schadet unendlich jeder Sache, der er zu dienen vorgibt. Er ist, was man einen gerissenen Politiker nennt, mit allen Wassern gewaschen, mit allen Hunden gehetzt, nur fehlt ihm jede der Eigenschaften, die zu einer wirklich führenden Persönlichkeit gehören. Er hat aber — wie ich aus guter Quelle höre — gerade links des Rheines wenige Freunde. Viel schlimmer jedoch ist die indirekte Wirkimg seines Treibens: sehr weite protestantische Kreise werden durch sein Auftreten nur
i88 in der längst im geheimsten gehegten Überzeugung bestärkt, daß eben auf Katholiken kein rechter Verlaß sei, da sie doch immer in erster Linie Glieder der Papstkirche seien. Dazu kommt das nicht minder unausrottbare Vorurteil bei »Freidenkenden,« daß Katholiken innerlich immer unfreie Menschen blieben, die wohl eine gewisse formale Bildung haben möchten — in deren Augen fast ein Mangel — aber von voraussetzungsloser Geisteskultur als unmündig auszuschließen wären. Man sehe die Geschichtsauffassung unserer Gebildeten: nicht nur das protestantische Preußen gegen die katholischen Bayern und Osterreich, nein, auch Elisabeth gegen Spanien, ja selbst Cromwell gegen Irland I Sogar freisinnige Katholiken stehen unter diesem Banne fälschenden Vorurteils, und war nicht selbst der lange Kanzler — und mit ihm viele Herren und Damen — selbst mitten im Kriege von solchen Auffassungen durchaus nicht frei? Gerade die hinderten aber ebensogut eine »voraussetzungslose« Politik, wie die Abneigung der Linken gegen das zaristische Rußland. Wirkung: Auf die geistig weniger Selbstbewußten der Katholiken das Gefühl der Zurücksetzung, ein Ressentimentgefühl, bekanntlich der fruchtbarste Nährboden der Erbitterung, zum mindesten aber eines Mißtrauens, das jedes herzliche Hand-in-Hand J Gehen ausschließt. Völlig verkannt wurde aber in Deutschland die große katholische Renaissance, die von England (Newman, Manning) und Frankreich ausgehend, gerade gebildete Kreise der katholischen Welt mit hohem Selbstgefühl erfüllt und jene Umwertung einleitete, in der wir mitten drinstehen, die vor allem ein Gefühl der geistigen Überlegenheit erzeugte gegenübar dem ratlos werdenden Materialismus, mit starker Betonung der Bedeutung einer formalen Kultur, der Notwendigkeit einer freiwilligen inneren Bindung gegenüber dem als Schlagwort schal gewordenen »Sichausleben« unserer grünen Jungen und Backfische. Hier führen uns Brücken zu anderen Völkern — und leider kaum eine zum deutschen Protestantismus! Dazu kommt bei vielen katholischen Politikern eine maßlose Enttäuschung über die Haltung und Widerstandskraft der protestantischen Kirche in der Revolutionszeit. Schuld Erzbergers ist es dagegen, daß leider für einen nationalen Agitator die Versuchimg recht nahe liegt, große Scharen zu sammeln unter dem Rufe: Hie Deutschtum, hie die drei Internationalen, die schwarze, die rote, die goldene •— daß dies gerade die Farben Erz-
189
berger-Scheidemann-Mossescher Herrlichkeit sind, ist ein Witz, auf den noch niemand gekommen zu sein scheint. Aber wird erst einmal protestantisch und deutsch einander gleich gesetzt — wenn auch unter der »gnädigen« Anerkennung der Ausnahmen und unter der Betonung, nichts läge ferner als der Kampf gegen religiöse Überzeugungen — dann ist der Riß da — und unsere Feinde triumphieren, weil dieser Riß unheilbar ist!
Unsere Schuld Als nach der durch ihn verschuldeten Niederlage vom Cannae Terentius Varro, den die Gunst der Gasse erhoben hatte gegen die »Kriegsverlängerer« des Senates, allein, ohne Heer, in Rom erschien, gingen ihm die Senatoren bis ans Tor entgegen, um ihm zu danken, daß er an der Rettung des Vaterlandes nicht verzweifelt habe. Mommsen sieht den Grund des jähen Sturzes der römischen Macht in dem Mißtrauen zwischen Regiment und Regierten — in der Wiederherstellung des Einigkeit und des Vertrauens, trotz allen berechtigten Grolles gegen die Demagogie, aber die herrliche und unvergängliche Ehre des patrizischen Senates. Wir jedoch haben einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß eingesetzt, vor dem Feldherrn erscheinen mußten, die unser Heer zu unerhörten Siegen geführt hatten und in dem Männer zu Gericht sitzen, deren Politik den Niederbruch der Heimat und damit den der Front wesentlich verschuldet haben. Freilich glaubt man durch solches Verfahren das Ausland für uns günstig zu stimmen, gibt doch auch ein Tscheche die Akten des Auswärtigen Amtes heraus, die unsere Schuld vor aller Welt beweisen sollen und damit den Versailler Frieden rechtfertigen, dessen harte Bedingungen ja durch die Annahme der ausschließlichen deutschen Schuld begründet werden. Haben doch schon während des Krieges deutsche Gelehrte unser Volk zur öffentlichen Buße aufgefordert, damit es im Büßerhemd wieder in die Gemeinschaft der Nationen aufgenommen würdet Gerade den Gelehrten würde es anstehen, den wahren Grund unseres Niederganges, die große Schuld unseres Volkes zu untersuchen, nämlich den Mangel an vaterländischer Gesinnung, an historisch begründetem Staatsgefühl. Hat doch eben jetzt, wo wir Millionen von losgerissenen Deutschen den Scheidegruß senden müssen, die deutsche Nationalversammlung die glorreichen Farben schwarzweiß-rot niedergeholt, für die bei der Gründung des Reiches und jetzt gegen eine Welt von Waffen Millionen deutscher Söhne gekämpft,
i9i gesiegt haben und gefallen sind. Muß den Scheidenden nicht die Heimat fremd werden unter jenem Schwarz-rot-gold, das nur demokratische Träume versinnbildlicht, denen Verwirklichung schon einmal durch die harte Staatsnotwendigkeit versagt bleiben mußte. Frankreich aber hat nach dem Kriege 1870/71 Heinrich dem Fünften die Thronanwartschaft in erster Linie darum versagt, weil er die Trikolore durch das Lilienbanner seiner Ahnen ersetzen wollte. Als im Paris der Kommune die rote Fahne gehißt wurde, erhob sich ganz Frankreich gegen seine Hauptstadt, wir aber glaubten unter diesem Zeichen zur Weltverbrüderung zu kommen, die dann von den Soldaten unserer Gegner mit verächtlicher Handbewegung abgewiesen wurde. Da wir immer das Fremde verehren müssen, so huldigten wir dem Friedensbringer Wilson, den heute sein eigenes Volk mit so geschäftsmäßiger Kühle beiseite schiebt. Ihm zu Gefallen wollten wir uns amerikanischen Ideen anpassen und auch heute scheint wieder den Machthabern eine Umwandlung Deutschlands in eine Art United States mit willkürlich gezogenen schnurgeraden Grenzen vorzuschweben, was die Zerschlagung Preußens, des einzigen deutschen Staates auf realpolitischer Grundlage, bedeuten würde — freilich war die Inszenierung so unger schickt, daß dann zum größten Erstaunen unserer Staatslenker desüddeutsche Partikularismus in hellen Flammen aufloderte! In Amerika selbst haben es unsere deutschen Landsleute, im Gegensatz zu den Iren, nie zu maßgebendem Einfluß gebracht, weil sie nur zu rasch ihr Nationalgefühl verlieren. So steht an der Spitze eines der durch Deutschenhaß hervorragendsten Blätter der Sohn eines Deutschen, den wir bei einer gelegentlichen Reise nach seinem alten Vaterland so byzantinisch feierten, wie wir es bei Männern zu tun pflegen, die der Goldglanz amerikanischer Millionen umstrahlt, feierten, obgleich er seinem ehrlichen deutschen Namen schon damals einen anglofranzösischen Klang gegeben hatte. Vor mehr als 150 Jahren mußte Frankreich Kanada im Pariser Frieden an England abtreten, die alten französischen Kolonisten aber sind Franzosen und Katholiken geblieben, die ohne wesentlichen Zuzug aus der Heimat in ihrem neuen Vaterlande noch heute politisch und kulturell einen maßgebenden Einfluß ausüben. Wie die Familientraditionen nicht einmal alte deutsche Adelshäuser, die seit Jahrhunderten auf den väterlichen Schlössern hausen, vor der Slavisierung geschützt hat, so hat auch das deutsche Blut in den europäischen Fürstenhäusern den Weltkrieg gegen das
192
Mutterland nicht gehindert, während jede englische oder französische Prinzessin überall der eifrige Anwalt ihrer nationalen Interessen geblieben ist. Wie viele unserer Intellektuellen und Geldleute haben die Sache der Entente verfochten, wie schon seit jenem Flavus, dem Bruder Armins, so viele Söhne Deutschlands gegen die Heimat die Waffen getragen haben. Und seit 19 Jahrhunderten hat sich jene Politik des Tiberius bewährt, der die Deutschen dem eigenen Zwist zu überlassen riet, durch den sie immer wieder die eigene Macht untergrüben. Die wahre Tragik unserer Geschichte liegt darin, daß es unserem Volke nie beschieden war, seine begeisterte Hingabe an die Ideale instinktiv mit nationalen Zwecken zu verbinden. Die Renaissance bedeutete für Italien die nationale Wiedergeburt seines geistigen Lebens, Kreuzzüge und Revolutionskriege haben nicht nur französischen Geist in alle Welt getragen, sondern auch die Macht des Mutterlandes erhöht — unser Vaterland wurde durch die Reformation zerrissen, wie es früher Kämpfe zwischen Papst und Kaiser zerspalten hatten. Im gleichen kirchenpolitischen Kampfe hatte sich das ganze katholische Frankreich um sein nationales Königtum geschart, dem päpstlichen Einspruch zum Trotz einigten sich in England geistliche und weltliche Lords mit dem Bürgertum gegen die Krone und erstritten so schon vor 700 Jahren jene freiheitliche Verfassung, die, wie keine andere der Welt, organisch erwachsen, geradezu den Inhalt des angelsächsischen Lebens bildet. Uns, bei denen die gemütliche Anhänglichkeit an die nächste Umgebung und die angestammten Herren das Gefühl für Macht überwog, blieben die staatsschöpferischen Gedanken versagt, wir waren hier auf fremde Importe angewiesen, die, ob es sich nun um das französische Schaukelsystem der verschiedenen Gewalten oder die manchesterlichen Wirtschaftslehren Englands handelte, bei uns zu Dogmen erstarrten, und gerade wegen ihrer fremden Herkunft als besondere Kleinodien geschätzt wurden. *
*
*
So bedroht augenblicklich wieder gerade uns die große Völkerseuche des ungreifbaren, formlosen Bolschewismus, obwohl doch dieser seine Heimat, die staatenfeindliche Steppe, nicht verleugnen kann! Steins großer Verfassungsentwurf ist Torso gebheben, dem in den Stürmen von 1848 dann das Notdach einer westeuropäischen Verfassung aufgesetzt werden mußte. Das Reich aber war gar seit den
193 Reformationskriegen zum Monstrum geworden, von dem staatlich fester geformte Nachbarländer Stücke abrissen und nach dem gewaltigen Aufschwung der Befreiungskriege überließen wir Deutsche wieder den Abschluß den Zünftigen, die dann jenen elenden Kompromiß der Bundesakte unter dem wohlwollenden Beifall der europäischen Mächte zustande brachten. Der französische Nationalstaat ist die Schöpfung seiner Könige im Bunde mit Kirche und Bürgertum, das britische Weltreich haben die englischen Stände sich selbst geschaffen. Da unser Bürgertum sich der gebieterischen Pflichten gegen den Staat entschlug, so stand unser glänzender Aufstieg nach der Abrechnung von 1866 auf den zwei Augen unseres gewaltigsten Staatsmannes und blieb Episode, wie es das Lebenswerk Friedrich des Großen geblieben ist. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht! So hat nach Bismarcks Entlassung trotz des unerhörten wirtschaftlichen Aufschwungs innerer Hader dem deutschen Bürger die Freude am Reich vergällt, die Novemberstürme 1908 sind vorübergebraust und unser Parlament hat doch wieder den Regierenden resigniert die Leitung der auswärtigen Geschicke überlassen. Furchtbar war freilich das Erwachen aus den kosmopolitischen Träumen einer nur materialistischen Zielen nachstrebenden Gesellschaft, als nun doch der Weltkrieg ausbrach, an dessen Möglichkeit gerade in Deutschland kaum jemand ernstlich geglaubt und auf den sich daher niemand politisch, wirtschaftlich und geistig vorbereitet hatte. Hoch lohte die nationale Begeisterung empor, vor der sich unsere damaligen Machthaber ebenso bekreuzigten, wie es ihre Vorgänger 1806 getan hatten. Unsere Taten im Felde erweckten die unwillige Bewunderung selbst der Feinde — zu Hause versagten sämtliche politische Faktoren. Während die englischen und französischen Staatsmänner, den furchtbaren Ernst der Lage einem Gegner gegenüber, den man militärisch unterschätzt hatte, klar erkennend, alle Kräfte ihrer Länder zusammennahmen, wiegten uns Regierung und Parlament ein in den Gedanken, daß der gewaltige Daseinskampf durch einen schiedlichen Verzichtfrieden beendet werden würde, nach dem jeder wieder seinen Geschäften nachgehen könne. Tatenscheu suchte jeder Faktor die Verantwortimg auf den anderen abzuwälzen, und während man der Heeresleitung selbst ihre Siege verdachte, überließ man die diplomatische Führung wieder dem Bundesgenossen in Wien. Dem hatten wir auch die Einleitung des Spieles, unbelehrt durch die bosnische Krise, überlassen und waren so in den v . B u h l , Reden and Aaisätze.
13
194
Krieg getaumelt, den zu vermeiden man allgemein bestrebt war. Während in den demokratischen Ländern der Welt, der uralten Römerweisheit eingedenk, daß die Toga den Waffen zu weichen habe, die Parlamente sich geradezu ausschließen ließen und während des Kampfgetümmels draußen an der Front die erbittertsten Gegner den Burgfrieden wahrten, erprobte sich bei uns in inneren Kämpfen jene gewaltige Summe von Haß und Neid, wie sie der Deutsche nur gegen seine Landsleute aufzubringen vermag. Wohl dämmerte damals dem deutschen Bürgertum die Erkenntnis, daß jedes Volk auf die Dauer nur die Regierung hat, die es verdient, aber nach der Zermürbung der Kriegsjahre versank es doch wieder in jene tatenlose Resignation, die jede Regierung, ob sie sich nun auf göttliches Recht oder den Willen der Gasse beruft, als Schicksalsfügung, wenn auch heftig kritisierend, hinnimmt. Selbst Ungarn beschämt uns heute an ordnender Kraft, in ihm lebt noch der Wille, aus dem Chaos, in das es mit viel geringerer Schuld als wir gestürzt wurde, sich wieder zu erheben. Wir sehen mit Befremden, wie gerade die gebildeten Schichten des deutschen Volkes, in Parteigruppen zersprengt, den politischen Problemen ratlos gegenüberstehen, weil sie der politischen Schulung entbehren, die durch Theorien nicht ersetzt werden kann. Ja, die eifrige Beschäftigung mit geistigen Problemen scheint bei unserem Bürgertum den Machtwillen geradezu zu lähmen und seine politische Teilnahmslosigkeit scheint ebenso sehr Voraussetzung als Folge der Bevormundung durch den Obrigkeitsstaat zu sein, der unsere politischen Organe — biologisch gesprochen — verkümmern ließ. Trotz glänzender Anfänge hat in der Tat die politische Entwicklung des deutschen Volkes unter besonders ungünstigen Sternen gestanden. Jener tragische Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der durch unsere Geschichte geht, offenbart sich zumal in der Tatsache, daß gerade die Zeiten, in denen sich der Reichtum und die Tiefe des deutschen Genius besonders bekundete, sich so oft für unsere nationale Entwicklung verhängnisvoll erwiesen, weil gerade die größten Söhne unseres Volkes ihren idealen Zielen sich voll hingaben und dabei die politischen Notwendigkeiten entweder verkannten oder ihnen teilnahmslos gegenüberstanden. So hat das blendende Phantom des römischen Imperiums gerade unsere größten Kaiser des Mittelalters immer wieder verführt, und während sie die Schutzherren der ganzen Christenheit sein wollten, haben sie in Deutschland für das Erhaschen
195 der Schatten alle wirkliche Macht an die Landesfürsten aufgegeben. Dieser irreale Zug nach dem Fernen wurzelt so tief in unserem Wesen, daß wir ehrlich, unter Opfern, bereit sind, eine vermeintliche Weltmission zu erfüllen, wie etwa im Interesse Europas die gelbe Gefahr bekämpfen zu müssen! Das mißtrauische Ausländ wollte aber hinter der Maske des Lohengrins den Machiavelli erkennen. Dieser romantische Schimmer idealer Bestrebungen trübt unserm Volk so sehr den politischen Blick, daß wir noch heute verkennen, wie im Mittelalter Heinrich der Löwe und die Hansa die wahren deutschen Interessen vertraten, und wir die wirtschaftlichen Ausdehnungsbestrebungen der Städte geradezu als Ausfluß kleinlichen Krämergeistes verachten I Jedenfalls vermochten die erstarkten Landesfürsten jene Verbindung von Krone und Bürgertum zu verhindern, auf die gestützt Ludwig der Elfte in Frankreich noch rechtzeitig die Macht der Vasallen brach, ehe die religiösen Wirren der Reformationszeit zu dem regionalen Gegensatz auch noch den konfessionellen brachten. So fand die anbrechende Neuzeit auch in England und Spanien festgeeinte Staaten, die eine einheitliche Kirchenpolitik ermöglichten. Bei uns aber mußte der Kaiser nicht nur auf eine straffe Einigung verzichten, die Macht der Fürsten zwang ihn sogar, eine Hausmacht sich selber zu schaffen, deren Interessen dann auch für ihn naturgemäß die des Reiches überwogen. Als nun gar die Kurfürsten in dem saturierten Habsburg den ungefährlichsten Anwärter für die Krone sahen, machten dessen Weltinteressen eine nationale Einigung ebenso unmöglich wie eine nur von nationalen Interessen geleitete Außenpolitik. Natürlich hat das erstarkte Landesfürstentum auch den Verlauf unserer Reformationsgeschichte wesentlich beeinflußt. Im Gegensatz zu Calvin sah sich Luther genötigt, das Kirchenregiment statt in die Gemeinde in die Hände der Territorialherren zu legen, denen damit sogar die Entscheidung über die Konfession ihrer Untertanen zufiel. Damit brach natürlich die Einheit des Reiches vollständig zusammen und ebenso selbstverständlich war es, daß der mächtigste protestantische Staat die Führung seiner Glaubensgenossen gegen das katholische Kaiserhaus auch mit Hilfe des Auslandes erstreben mußte, also der deutsche Dualismus entstand, der jede deutsche Auslandspolitik von vornherein unmöglich machte. Damit verlor dann die alte Hansapolitik jede Stütze im Reich und mußte den durch die Reformation gestärkten Nationalstaaten des Nordens erliegen. Was Wunder, wenn nun auch 13*
196
die Niederlande, wo bürgerliches Leben seine höchste Entfaltung gefunden, sich zuerst vom Reich und dann vom Hause Habsburg losrissen und wir damit die Hoffnung auf Seegeltung und Kolonisation begraben mußten? Ja, die deutschen Lutheraner sahen nun kirchliches und weltliches Regiment in einer Hand vereinigt und mußten jetzt zum weltlichen auch das Seelenheil einer hohen Obrigkeit überlassen. Das gewaltige wirtschaftliche und politische Ferment des Calvinismus, das die ganze angelsächsische Welt in Gärung versetzt und ohne das weder die britische Weltherrschaft noch der amerikanische Imperialismus verständlich wären, blieb bei uns ebenso wirkungslos, wie die Geisteskräfte der Gegenreformation, die die romanischen Großmächte mit neuem Leben erfüllten, in Deutschland nur lokalen Einfluß ausübten und die Trennung noch verschärften. •
•
•
So geriet denn unser Bürgertum gerade in den Zeiten, da Humanismus und Reformation uns die Emanzipation des Individuums gebracht hatten, nur unter drückendere Bevormundung, während zugleich die fruchtbaren Wechselbeziehungen sich lockerten, in denen es während des Mittelalters mit den Völkern des Westens gestanden. Dadurch wurde nun jener alte deutsche Hang zum einsamen Brüten und zum Ausleben im engsten Kreise verstärkt, zugleich jene Lust zum Krausen, Sonderbaren, das uns an einer Figur Riemenschneiders oder an einer Novelle Rabes zu entzücken vermag, uns aber unter den Völkern Europas immer mehr vereinsamen mußte. Es verschäl fte sich noch jene nationale Unterschätzung des Formalen, jene eigensinnige Rechthaberei und das Konventikelwesen, als die Abkehr des Welthandels nach dem Westen und das furchtbare Elend des Dreißigjährigen Krieges die heimische Welt immer enger und farbloser gestaltete. Da in diesen armen Zeiten Wissensbildung unser einziger Besitz blieb, so wurde sie überschätzt, und zumal im Norden tat sich jene unglückselige Kluft zwischen gebildet und ungebildet, zwischen beamtet und nicht beamtet auf, die glücklichere Ländei nicht kennen. Da aber die große Welt fehlte, um die mühsam erworbenen Kenntnisse auf ihren wahren Wert einzuschätzen, so entwickelte sich jene Lehrhaftigkeit, die uns das Ausland so oft vorwirft, das in Deutschland den Schulmeister Europas sieht — und Schulmeister sind zwar sehr nützlich, aber selten beliebt.
197 Jedoch selbst zu einer einheitlichen Bildung, die alle führenden Schichten des Volkes umfaßt hätte, sollten wir zunächst nicht kommen, da der geistige Mittelpunkt, die Hauptstadt, fehlte. Da setzt auch hier der fremde Einfluß ein, die Fürstenhöfe folgten der französischen Mode. Um die Welt kennen zu lernen, reiste der junge Kavalier nach den Großstädten des Westens, eignete sich deren Gesittung an, um nach seiner Rückkehr ebenso hochmütig auf die heimische Umgebung herabzusehen, wie der Gelehrte auf die frivolen Sitten und die gutsitzenden Kleider des Auslandes. Längst aber hatte auch dieser sich aus der heimischen Enge nach der Fremde gesehnt und war nur zu geneigt, sie der Heimat gegenüber zu überschätzen. Wir rühmen uns unserer Objektivität, aber was ist von ihr in den Lehrstreitigkeiten der Theologen und Professoren je zu spüren gewesen, wo ist sie bei unseren heutigen Wirtschafts- und Klassenkämpfen zu finden — oder ziert etwa diese Tugend die Reden unserer jüngsten Minister, wenn sie sich mit politischen Gegnern auseinandersetzen ? Nein, objektiv sind wir nur in den Fragen, die uns nicht recht am Herzen liegen, also in den nationalen! Dort verbirgt sich hinter unserer Objektivität nur die Gleichgültigkeit. Gleichgültig stehen wir aber den großen Lebensfragen unseres Volkes nur deshalb gegenüber, weil uns die Enge jener Zeiten zu Berufsmenschen erzogen hat, die nicht über ihre vier Wände zu sehen vermögen, wenn sie nicht sogar im stillen Kämmerlein der Welt ganz vergessen und sich in die blauen Fernen der Metaphysik flüchten. Eine sehr weltgewandte ausländische Dame sagte mir einmal: »Der Deutsche ist immer präokkupiert, er unterhält sich nicht, er doziert.« Dozieren muß er aber, weil ihn seine eigenen Theorien und Interessen ganz erfüllen, weil er so lange den natürlichen freien Verkehr mit Menschen anderer Stände und anderer Anschauungen hat entbehren müssen, weil bei uns jene vermittelnde Klasse verkümmert war, die in den Ländern des Westens eine so kulturfördernde Rolle gespielt hat. Darf man es in unserer demokratischen Zeit wagen, auf die Bedeutung des Patriziats für die die kulturelle und politische Entwicklung eines Volkes hinzuweisen ? Vielleicht fühlen doch manche, die burschikos und formlos die feinere Sitte als des freien, aufrechten Mannes unwürdig abweisen, im innersten Herzen die Bedeutung der gesellschaftlichen Überlegenheit, jener vornehmen Sicherheit des Auftretens, wie sie nur alte Kultur verleiht. Jedenfalls wäre politisch die Begründung der beiden größten Weltreiche, des römischen und des britischen, nicht
198
möglich gewesen ohne führende Familien, die durch lange Reihen von Geschlechtern nicht nur neben dem Intellekt auch den Willen erzogen haben, sondern auch jene Selbstbeherrschung, die den Affekt unter der gesicherten Form zu verbergen weiß, wie sie die Muße ihrer bevorzugten Stellung zu nutzen verstehen, um die schwere Kunst der Politik zu erlernen und mit dieser Kunst dann dem öffentlichen Wohle zu dienen. Voraussetzung ist, wie Mommsen gezeigt, daß diese führenden Schichten in enger Verbindung mit dem ganzen Volke bleiben, daß jede emporstrebende Befähigung sich ihnen anpassen kann, daß sie sich nicht zur Kaste abschließen. Sie rechtfertigen ihre Stellung dadurch, daß sie die selbstbewußten Vorkämpfer bürgerlicher Freiheit sind, die aufrecht auch vor dem Throne stehen. Darin liegt die hohe Bedeutung der englischen gentry, ohne die das englische Volk nie seine Freiheit so früh errungen hätte und die in allererster Linie die stetige Entwicklung des britischen Reiches gewährleistete. Daß es in Frankreich zu einer so gewaltigen Revolution kommen mußte, hat nicht zum letzten die Tatsache verschuldet, daß sich sein Adel zum Höflingstum erniedrigt hat. So ging die politische Führung an das Bürgertum allein über, das naturgemäß leichter durch radikalere Elemente verdrängt werden konnte, mit denen sich dann freilich die hohe Finanz vortrefflich abzufinden verstand. Das französische Geistesleben zeigte aber schon längst vor der Revolution dieselbe Geschlossenheit wie das nationale, da sich die geistig und gesellschaftlich führenden Schichten im Salon zusammengefunden hatten. Von dort ging jene Propaganda französischer Ideen aus, auf der Frankreichs Weltstellung nicht minder beruht als auf seiner realen Macht, der Salon wurde nicht weniger die hohe Schule der französischen Diplomatie wie der englische Landsitz die der britischen Staatskunst. Das bleibende Verdienst dieses Patriziats beider Länder aber ist, daß es die große gesellschaftliche und politische Tradition geschaffen hat, der auch die französische und englische Demokratie nicht in letzter Linie ihre Erfolge verdankt. Uns hat diese Vermittlung zwischen den bürgerlichen und den höfisch-aristokratischen Kreisen bitter gefehlt, dies hat zur Verschärfung der Gegensätze namentlich in Preußen geführt, wo der Junker, der so Gewaltiges auf dem Schlachtfelde und im Staatsdienst geleistet, dem geistigen Leben des Bürgertums fern blieb. Auch hier sind sehr hoffnungsreiche Ansätze — wie nahe hatte Kaiser Max der bürgerlichen Kunst Oberdeutschlands gestanden — in dem deutschen Elend zu-
199 gründe gegangen. Unsere unglückliche Entwicklung brachte uns auch noch den in allen anderen Kulturländern unerhörten Gegensatz von »Potsdam und Weimar«. Als uns eine gütige Vorsehung jene einzigen Dichterfürsten erweckt hatte, wandten diese ihr segnendes Auge von dem vaterländischen Geschicke des eigenen Volkes und suchten wiederum ihre Ideale in der Ferne. Jetzt wurde die stille Größe der Antike in bewußtem Gegensatz zu der Ärmlichkeit des heimischen Lebens gestellt, wie zu der Humanistenzeit sollten wir wieder ästhetisch zu Menschen, aber nicht zu Deutschen erzogen werden. Selbst in den »Deutschen Stimmen« wurde jüngst ausgeführt, daß ein Goethe seinem Vaterland entwachsen sei, daß er, angezogen von der Größe Napoleons, auf alle nationale Beschränktheit herabsehen mußte. Nein, tausendmal nein, seiner heimatlichen Erde bleibt auch der Größte tief verschuldet, sucht er nicht dort seine Kraft, so wird selbst er entwurzelt. Denn jtede höchste Kultur ist bodenständig, darauf beruht die unendliche Überlegenheit Athens über Alexandria. Schöneres ist nie gedichtet worden als jenes Chorlied des ödipus auf Kolonos, in dem Sophokles seiner Heimat den Dank gezollt hat, oder jene wunderbaren Verse, in denen Shakespeare in »Richard den Zweiten« England preist. Hat nicht Shakespeare auch jetzt, als sich die Weltgeschicke in diesem Kriege so furchtbar vollzogen, in seinen sich so gewaltig von dem nationalen Hintergrunde abspielenden Königsdramen selbst zu uns Deutschen mächtiger gesprochen, als etwa die höfischen Schicksale eines Tasso ? Ist nicht der westöstliche Di van, wohin Goethe sich »flüchtete«, als sein Vaterland um seine Existenz kämpfen mußte, mit Recht unserm Volk stets fremd und nur anempfunden erschienen ? In zorniger Entrüstung hat schon damals der Patriot Perthes von Goethes Kunststücken gesprochen. Und wie mußte nun gar bei kleinen Geistern die Projektierung der eigenen Persönlichkeit ins Riesengroße wirken? Ihr mußte der Übermensch entspringen, der trotz all des dyonisischen Getöns zu der inneren Schwäche des Projizierenden in lächerlichem Gegensatz steht. So laut gebärden sich wahrhaft selbstbewußte Helden nicht! Nur schade, daß wir nicht selbst diese Tiraden mitsamt der blonden Bestie energischer abgewiesen haben, und daß so unsere Feinde sie gegen uns ausnutzen konnten. Unser Volk stand dieser Verherrlichung des auch historisch völlig verzeichneten Cesare Borgia und anderen Maskeraden vollkommen teilnahmslos gegenüber, wie es sich auch durch die geschickteste Dialektik nie wird einreden
200
lassen, daß die antiken Draperien des zweiten Teils des Fausts der Gretchentragödie gleichwertig seien, die der jugendliche Dichter noch aus der vollen nationalen Kraft seiner Seele schuf. Goethes Jugendwerke werden zusammen mit Schillers hohem Ethos für alle künftigen Geschlechter das kostbarste Erbgut unseres Volkes bleiben. An sie konnte auch jene romantische Schule anknüpfen, die endlich Deutsche jeden Standes und Bekenntnisses in der Begeisterung für unser Volk und seine Geschichte einte. Christlicher Glaube und christliche Kunst, heimische Sitte und heimisches Recht, Volkslied und Muttersprache schienen endlich die ihnen zukommende grundlegende Bedeutung für die deutsche Bildung zu erlangen. Besonders die Geschichtsforschung, wie sie Ranke und seine Schüler vortrugen, schien berufen, die geistige Führung des deutschen Volkes zu übernehmen. Daß aber die Blüte der Romantik so rasch wieder dahinwelkte, daran trug wiederum die Schuld das Versagen unserer führenden Schichten. Für alte deutsche Kaiserherrlichkeit hatte man sich begeistert, aber ein einiges Deutschland nicht schaffen können, das blieb ein geographischer Begriff. An dem deutschen Bund aber, wie ihn die Feder der Diplomaten geschaffen, übte das junge Deutschland seinen ätzenden Spott, während die Demagogenverfolgungen, die selbst einen Arndt nicht verschonten, unsere Gebildeten mit wachsender Erbitterung erfüllten. Der Staat Friedrichs des Großen gab sich zum Schergen Metternichs her •— statt sich kühn an die Spitze der nationalen Bewegung zu stellen! Dem Weltbund der Fürsten entsprachen die weltbürgerlichen Ideale des Liberalismus und des Sozialismus. Das Schlimmste aber war, daß die romantische Auffassung des Staates als Organismus durch die mechanische ersetzt wurde. *
*
•
Hatte unser Bürgertum nur allzulange die Leitung seiner Geschicke der Obrigkeit überlassen, so seih man jetzt in der Regierung, ja in dem Staate geradezu den Feind, den der freie Mann bis auf die Barrikade bekämpfen müsse. Jeder, der sich gegen die Zwangsgewalt des Staates auflehnte, war sicher, als Held gefeiert zu werden, und die Kammern sahen ihre wichtigste Pflicht darin, die Rechte des Staates zu beschneiden, den man zum »Nachtwächter« zu erniedrigen gedachte. Eine ebenso natürliche Folge dieser Auffassung war, daß die einzelnen Klassen sich nicht mehr als untrennbare Glieder der Gesell-
201
schaft betrachteten, sondern es für ihr heiligstes Recht hielten, sich von ihr gewaltsam loszureißen. Auch dieser Gedankengang konnte auf den Beifall weitester Kreise unseres Volkes rechnen, die, einer geschichtlichen Auffassung des Staates bar, sich nur von sentimentalen Anwandlungen leiten ließen und utopistischen Plänen der Neugestaltung um so leichter zugänglich waren, je mehr diese sich in einem philosophischen System darstellten. Heute erleben wir ja zu unserem Entsetzen, daß nach dem Gesetz der allmählichen Infiltrierung solcher Lehrmeinungen aus den oberen in die unteren Schichten der Gesellschaft diese Bestrebungen das »klassenbewußte Proletariat« beherrschen, das in Taten umsetzen will, was das Bürgertum nur träumte. Ging die Tendenz des älteren Liberalismus dahin, das Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsleben möglichst zu beschränken, so forderte umgekehrt die sozialistische Utopie seine völlige Unterwerfung unter die ebenso unhistorisch konstruierte Staatsgewalt. Sozialisten und Liberale aber fanden sich in ihrer Bekämpfung der Kirche zusammen, während doch die englischen Liberalen viel folgerichtiger und weitsichtiger für freie Betätigung des religiösen Lebens eingetreten waren. Dieser Kulturkampf hat dann gerade in Deutschland, wo man die belgischen Theorien trotz völlig verschiedener Verhältnisse gedankenlos importierte, das Parteileben heillos verwirrt und die Mehrheitsbildung der Parlamente, und damit ihre tätige Anteilnahme an der Regierung, ganz unnötig erschwert, die konfessionelle Spaltung aber erheblich verschärft! In dem nun wild aufsprossenden Journalismus herrschte nicht mehr der Geist eines Görres, sondern glänzten die Heine und Börne, die ihren Hohn nicht nur gegen politische Erbärmlichkeit der Gegenwart, sondern gegen alles richteten, was unserem Volk heilig bleiben mußte. Diese Geister ermöglichten endlich jene verhängnisvolle Verbindung von Finanz und Opposition in kosmopolitischen Gedankengängen zu jenem Großstadtgeist, der noch im letzten Weltkrieg durch seine Presse dem Ausland die giftigsten Waffen lieh, um das eigene Vaterland zu bekämpfen. Auf geistigem Gebiete übernahm nun allmählich die Naturwissenschaft die Führung, die gerade in Deutschland ihre Triumphe feierte und deren immer neue Gebiete erschließende Tätigkeit auch unser Wirtschaftsleben ungeahnt befruchtet hat. Aber die Naturwissenschaft strebte die Alleinherrschaft an, selbst Philosophie und Geschichte wollte sie zwingen, ihr Kärrnerdienste zu leisten. Alles organisch
202 Gewachsene wollte sie den Gesetzen der toten Materie unterwerfen, was sich mit Sonde und Lupe nicht untersuchen ließ, wies sie weit von sich. Weitere, immer weitere Kreise unseres Volkes ergriff jene Propaganda der kleineren Geister, die die großen Entdeckungen wie die unbewiesenen Hypothesen der Naturkunde in immer bequemere und gangbarere Scheidemünze auswechselten. Feindlich wandte sich diese Propaganda erst recht gegen alles Transzendente, ohne dessen Antrieb doch im Laufe der Geschichte noch kein wahrhaft großes Menschenwerk geschaffen worden ist! Ihr fiel auch der deutsche Idealismus zum Opfer, der aber nicht einer realpolitischen Auffassung, sondern dem krassesten Materialismus weichen mußte. Die mechanische Auffassung der Welt, der nackte Egoismus, der aufreibende Wirtschaftskampf scheinen das ganze Dasein ausfüllen zu sollen. Selbst die Erfüllung der alten Sehnsucht der Väter, die Erneuerung der Kaiserkrone, hat diesen Geist nicht zu bannen vermocht. Gegen ihn hat sich dann jene französische Renaissance gewandt, die von unserer Presse totgeschwiegen werden sollte, die aber allein das Aushalten Frankreichs in diesem Kriege ermöglicht hat. Auch unser Vaterland kann allein seinen Wiederaufstieg dem Wiedererwachen der großen vaterländischen und religiösen Triebkräfte verdanken, jenem heiligen Feuer der Begeisterung und jenem felsenfesten Glauben an die Zukunft des Vaterlandes, der auch heute noch Berge zu versetzen vermag. *
*
*
Vor allem aber muß endlich unser deutsches Bürgertum, das seine Geschicke nicht mehr einer hohen Obrigkeit überlassen kann, sich selbst zur Tat aufraffen. Da der Gang unserer Geschichte uns die große vaterländische Tradition versagt hat, ermangeln wir sowohl der politischen Schulimg wie der Weite des Blickes. So verfielen wir der Herrschaft der politischen Theorien, in die sich gerade der Deutsche so gern verbeißt, wir waren geneigt, all das kleinliche Gehabe und Gezanke, den Parteifanatismus und die Vereinstätigkeit, für Staatskunst zu nehmen. Der Stammtisch mit seinem Bierdunst, der patriotische Zweckrausch beim Festkommers — eine Begeisterung, auf die der Katzenjammer ja folgen muß — , hat der Satire willkommen Stoff geboten. Schon Heine sieht im Pfeifenkopf mit seinen schwarz-rotgoldenen Quasten das Sinnbild des deutschen politischen Philisters I Minder harmlos ist, daß solchem politischen Treiben der Typ jenes
203
Geschäftspolitikers und Allerweltmannes entspringt, der alle Grundsätze über Bord wirft, um an ihre Stelle den Kuhhandel zu setzen, jene berühmte Politik der »Taktik«, die aus unserem öffentlichen Leben alle wirklich führenden Geister zu scheuchen droht. Die Tatkraft, die Weite des Blicks kann auch der emsigste Fleiß nicht ersetzen, so sehr dieser dem Deutschen schon an sich als die höchste der Tugenden erscheint. Was wir nicht am Studiertisch oder in endlosen Beratungen ersessen haben, glauben wir nicht tatsächlich zu besitzen. Diese Weisheit trichtern wir schon unseren Schülern ein, statt ihre jugendliche Kraft und ihren Willen zu stählen, wie doch die sonst so gepriesenen Alten getan haben und die Engländer noch heute tun. So ziehen wir in der Tat bienenfleißige Männer heran, die alle Stellen gut ausfüllen, — nur nicht die leitenden, — die die Verantwortung für ihr Tun stets dem Chef oder der Konferenz überlassen. Die Revolution traf München deswillen völlig unvorbereitet, weil der maßgebende Minister vor lauter Akten und Amtsgeschäften nie die stille Stunde der Sammlung fand, um die wirkliche Lage der Dinge zu überschauen I Vor allem aber ist unsere ganze Erziehung auf die Überschätzung des Wissens, das so lange unser einziger Besitz war, auf Kosten der Kräfte des Willens eingestellt. Nur so sind jene metaphysischen Staatsmänner zu verstehen, die sich, einem inneren Drange folgend, in ihren Reden mit Gott und der Welt auseinandersetzen, völlig unbekümmert um die Wirkimg ihrer Worte auf In- und Ausland. Nur ein deutscher Kanzler konnte in der Vorstellung befangen sein, daß das realpolitische England tun des Weltfriedens willen bereit wäre, auf politische Freundschaften zu verzichten. Er fand aber den Beifall des sentimentalen deutschen Parterres, als er, wie ein antiker Chorführer, klagend neben den eigentlichen Handelnden auf der Weltbühne einherschritt. Heute wird er freilich sehen, wie schnell die ihm geflochtenen Kränze welkten. Es ist kaum zu fassen, wie das deutsche Volk es so lange dulden konnte, daß er an derselben Stelle stand, von der aus einst Bismarcks Genius die Staatskunst Europas meisterte. Der war freilich ein Junker, der von früh auf gelernt hatte, auch in kleinen Dingen sich mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit einzusetzen. Er hatte schon auf den Deichen der Heimat den tückischen Fluten gewehrt und in den Wäldern und Feldern des väterlichen Edelhofes den frischen und freien Blick gewahrt, der sich in der Studierstube nur zu leicht trübt. So
204 fand er sich dann auch sicher auf dem Parkett der Höfe wie in der politischen Arena zurecht, durch seine Erziehung hatte er eben jenen Verkehr mit Menschen gelernt, der zu ihrer Beherrschung unentbehrlich ist. Ein ganzer Mann, hat er nie aus seiner Überzeugung ein Hehl gemacht und erhobenen Hauptes auch vor seinem Kaiser gestanden. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen. Deutschlands Schuld aber ist es, daß es Bismarcks Wort nicht wahr gemacht hat — es hat, in den Sattel gesetzt, nicht reiten können! Deutschlands Bürger haben ihr Haus nicht bestellt, nicht als aufrechte Männer den Kamarillen und dem Kampf der führungslosen Ressorts gewehrt, sie haben nicht die Kraft gehabt, für die heilige Sache des Vaterlandes den inneren Hader zu überwinden, tatenscheu nicht den Mut gefunden, selbst ihr Geschick in die Hand zu nehmen, und so ist ihnen der Väter kostbares Erbe wiederum zerronnen.
Cannae (nach Livius 22. Buch und Mommsen 3, 5).
Es war im Jahre 217 vor Christus, daß Hannibal den Apennin überschritt und den Günstling des römischen Volkes, Flaminius, am Trasimenischen See vernichtend schlug. Etrurien lag zu seinen Füßen und der Weg nach Rom schien ihm offen zu stehen. In der Not hatte der Senat den Qu. Fabius Maximus zum Diktator bestellt, der der Entscheidungsschlacht, auf die Hannibal drängen mußte, vorsichtig auswich. So war denn Hannibal an dem römischen Heere vorbeimarschiert und hatte sich nach abermaligem Überschreiten des Apennins gegen die Hauptstadt Apuliens, Capua, gewandt. Das römische Volk aber verlangte stürmisch die Abschaffung der Diktatur und die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Garantien. Der Senat mußte nachgeben und für 216 wieder die regelmäßigen Wahlen zum Konsulat und damit zum Oberbefehl über das Heer ausschreiben. Bei diesen Wahlen aber ging es heiß her unter großem Streit zwischen dem Senat und dem Bürgerstand. Der Volkstribun Qu. Herennius suchte durch den Unwillen, den er gegen Senat und Auguren erregte, die Kandidatur seines Verwandten C. Terentius Varro zu empfehlen. »Durch den Adel, der seit vielen Jahren Krieg gewünscht, sei Hannibal nach Italien gelockt worden, der Adel ziehe den Krieg, der längst beendigt werden könnte, hinterlistig in die Länge. Man werde kein Ende sehen, bevor man einen echten Bürgerlichen, einen Mann ohne alle Ahnen, zum Konsul wähle.« Varro aber war bei der Menge durch Verunglimpfung der Angesehensten und durch schmeichelnde Künste beliebt und glänzte, seit er die Macht und Diktaturgewalt des Fabius erschüttert, dadurch, daß er diesen verhaßt gemacht. So wurde er denn mit ungeheurer Mehrheit zum Konsul und Feldherrn allein gewählt, in seiner Hand sollte die Wahl seines Amtsgenossen sein. Nur mit Mühe setzte der Senat die Wahl des Ämilius Paullus durch, der sich im Illyrischen Krieg als verständiger Feldherr bewährt
206 gehabt hatte. Das Heer aber wurde gewaltig verstärkt, an derSpitze von acht Legionen sollten die Feldherrn Hannibal entgegenziehen. Varro redete vor dem Volk, der Krieg sei vom Adel nach Italien gerufen und werde in den Eingeweiden des Freistaates bleiben, wenn dieser noch mehrere Fabier zu Feldherrn erhielte, er aber wolle ihm an ersten Tage, wo er den Feind erblicke, ein Ende machen. Paullus sagte in einer dem Volk weniger genehm klingenden Rede nur, er wundere sich, wie ein Heerführer, ehe er über die Lage seines Heeres, die Stellung des Feindes sich unterrichtet, schon jetzt wisse, wie er den großen Schlag führen wolle. Fabius aber soll den Aemilius so angeredet haben: »Sinkt die eine Hälfte des Staates, so werden schlechte Ratschläge soviel Recht und Wirkung haben als die guten. Denn du irrst, Lucius Paullus, wenn du glaubst, du werdest mit Varro weniger zu kämpfen haben als mit Hannibal. Mit jenem wirst du bloß auf der Wahlstatt, mit diesem überall und allezeit ringen, gegen Hannibal und seine Scharen hast du mit deinen Reitern und Fußgängern zu streiten, Varro wird d e i n e Leute gegen dich zum Kampf führen. Zwei Heerführern mußt du widerstehen, aber widerstehen wirst du, wenn du gegen das Gerede der Leute recht fest stehst, wenn dich weder deines Amtsgenossen eitles Rühmen noch die eigene falsche Scham abbringt.« Wenig tröstlich lautete des Paullus Antwort: »Habe doch Fabius selbst mit den Demagogen nicht fertig werden können, ihn aber drücke das Brandmal des Volkshasses! Er wünsche, daß alles glücklich gehe, treffe ihn aber Mißgeschick, so werde er lieber sein Haupt den Feinden darbieten als den Abstimmungen zürnender Mitbürger.« Dann rückten die Konsuln ins Feld. Hannibal, durch seine Spione aufs genaueste von der Stimmung in Rom unterrichtet, freute sich ihrer Ankunft. War doch das platte Land so verwüstet, daß er kaum wußte, wie er Getreide für sein Heer herbeischaffen sollte. Er ging zum Angriff über, bemächtigte sich des Kastells von Cannae, däs apulische Blachfeld gestattete ihm, seine überlegene Waffe, die Reiterei, hier zur vollen Geltung zu bringen. Umsonst warnten Ämilius Paullus und wenige Einsichtige, hier zu schlagen. Varro mißfiel, wie Mommsen sich ausdrückt, dergleichen militärische Pedanterie, es war soviel davon geredet worden, daß man ausziehe, nicht um Posten zu stehen, sondern um die Schwerter zu gebrauchen und er befahl darum, auf den Feind loszugehen, wo man ihn eben fand. Im Mitteltreffen waren die Legionen zunächst siegreich, aber die karthagische Reiterei ent-
207 schied den Tag. Vergebens versuchte der verwundete Ämilius Paullus die Schlacht wiederherzustellen, aber als der Kriegstribun Lentulus ein Pferd anbot, wies er es, seiner Rede in Rom gedenkend, zurück: »Lieber lasse mich unter diesen Leichenhaufen meiner Krieger den Geist aufgeben, als daß ich noch einmal als Angeklagter vor meinen Mitbürgern stehen oder als Ankläger meiner Amtsgenossen auftreten muß, um durch Darlegung fremder Schuld meine Unschuld zu retten!« Von 76000 Römern, die in der Schlacht gestanden, deckten 70000 das Feld, Flucht war unmöglich, den Varro rettete nur sein schnelles Pferd nach Venusia. Nach Rom drangen Gerüchte, die Konsuln seien mit den beiden Heeren bis auf den letzten Mann erschlagen, Apulien, Samnium, ja bereits ganz Italien gehöre dem Hannibal. Niemand zweifelte, daß der Feind nach der Vernichtung der Heere kommen werde, um die letzte Aufgabe des Krieges zu lösen und Rom zu belagern. Da man aber in dem ungeheuern Jammer ratlos war und das Geschrei der Weiber bei der Unbestimmtheit der Nachrichten fast in allen Häusern Tote und Lebende bejammerte, so schlug Fabius vor, zunächst rüstige Männer auszusenden, die bestimmte Kunde erforschen sollten. Die Väter aber müßten, da der Beamten zu wenig seien, selber einschreiten, um dem Lärm und dem Getümmel in der Stadt Einhalt zu tun, die Frauen von den Straßen in die Häuser wegweisen und dem Zusammenjammern der Bürger Schranken setzen. Alle Boten aber seien vor den Prätor zu führen, Wachen sollten die Tore besetzen, tun niemand aus der Stadt zu lassen und so jedermann zwingen, seine eigene Rettung einzig von der Erhaltung der Stadt und der Mauern zu erwarten. Erst wenn der Lärm gestillt sei, gehe es an, den Senat wieder zusammenzurufen und wegen Verteidigung der Stadt zu beraten. So geschah es denn auch, und endlich traf ein Schreiben des Konsuls Varro ein, daß Ämilius mit dem Heere niedergehauen sei, er selbst sammle in Canasium die zersprengten Reste. Nim erhielten auch die einzelnen Familien Nachricht und bald war die Trauer allgemein. Der Senat aber beschränkte sie auf 30 Tage und schrieb dem Konsul, er möge das Heer dem Prätor übergeben und sobald als möglich nach Rom kommen. Mommsen sieht in der Niederlage die grausame, aber gerechte Strafe der schweren politischen Versündigungen, die nicht etwa einzelne
2O8 törichte oder elende Männer, sondern die römische Bürgerschaft selbst sich hatte zuschulden kommen lassen. Wie konnte man über die Frage, wer die Heere der Stadt in solchem Kriege führen soll, Jahr für Jahr die Pandorabüchse des Stimmkastens entscheiden lassen? Allein die politische Demagogie, die bereits an dem aristokratischen Grundbau der Verfassung nagte, hatte sich der Kriegsführung bemächtigt, ihre sinnlosen Beschuldigungen gegen die Vornehmen hatten Eindruck auf das Volk gemacht. Die Heilande des politischen Köhlerglaubens, die G. Flaminius und M. Varro, beide »neue Männer« und Volksfreunde vom reinsten Wasser, waren demnach zur Ausführung ihrer unter dem Beifall der Menge auf dem Markte entwickelten Operationspläne von eben dieser Menge beauftragt worden, und die Ergebnisse waren die Schlachten am Trasimenischen See und bei Cannae! Aber nicht sie verschuldeten, meint weiter Mommsen, den jähen Sturz der römischen Macht, sondern das Mißtrauen zwischen dem Regiment und den Regierten, die Spaltung zwischen Rat und Bürgerschaft. Wenn noch Rettung und Wiedererhebung des Staates möglich war, mußte sie daheim beginnen mit Wiederherstellung der Einigkeit und des Vertrauens. Dies begriffen — und was schwerer wiegt — dies getan zu haben, getan mit Unterdrückung aller an sich gerechten Rekriminationen, ist die herrliche und unvergängliche Ehre des römischen Senates. Als Varro — allein von allen Generalen, die in der Schlacht kommandiert hatten — nach Rom zurückkehrte, gingen ihm die Senatoren bis an das Tor entgegen und dankten ihm, daß er an der Rettung des Vaterlandes nicht verzweifelt habe! Livius schließt sein 22. Buch mit den Worten: »Wie weit bedeutender diese Niederlage als alle früheren gewesen, geht schon daraus hervor, daß selbst die treuesten Bundesgenossen jetzt zu wanken anfingen, weil sie glaubten, die Herrschaft der Römer habe ein Ende. Und dennoch, trotz aller dieser Niederlagen und trotz des Abfalles so vieler Verbündeter, war bei den Römern niemals die Rede vom Frieden! — (Hannibal hatte den gefangenen Römern voll Milde gesagt, er führe keinen Vernichtungskrieg gegen sie.) Als aber der Konsul nach Rom kam und das Andenken an die erlittene Niederlage erneuerte, waren die Bürger so hochherzig, daß sie ihm, der doch die meiste Schuld hatte, dafür dankten, daß er den Staat nicht für verloren gegeben habe — ihm, der, wäre er F e l d h e r r der K a r t h a g e r gewesen, sich j e d e T o d e s s t r a f e h ä t t e g e f a l l e n lassen müssen!«
209 So schreibt der freilich im engsten Nationalismus befangene römische Geschichtsschreiber und auch unser Mommsen war noch — trotz seines politischen Freisinns — von dem Vorurteil nicht frei, daß es lediglich die großen Männer seien, die ihr Volk auf die lichten Höhen führen! Wir aber haben endlich aus der Naturgeschichte gelernt, daß die Massen es sind, die Geschichte machen und wir verspüren diese Wahrheit in unserem Vaterlande stündlich am eigenen Leibe. Folgerichtig haben wir daher in unserer Revolution auch formell den Volkstribunen die ganze Macht im Staate gegeben — die Souveränität ist in die Pandorabüchse der Wahlurne gesperrt — freilich nur soweit die Gasse nicht einen kürzeren Weg vorzieht, um ihre Herrscherlaunen durchzusetzen. Ein Varro fände keinen aristokratischen Senat mehr, der dem schmählich geschlagenen Liebling des Demos den Dank dafür aussprechen könnte, daß er an seinem Vaterlande nicht verzweifelte. Dafür müssen heute — wie schon in Kleons, des Gerbers und großen Volksmanns, Tagen und zu den Zeiten des Arginusenprozesses, — auch bei uns siegreiche Feldherrn beliebigen Beauftragten des »Volkes« Rechenschaft geben und gar von dem Urteil des souveränen Demos gibt es keine Berufimg, als die an das Tribunal der Weltgeschichte! Diese pflegte bis jetzt parteiisch für die Großen des Geistes zu sein und so kann der unbefangene Sinn unserer Jugend nur verwirrt werden durch die Lektüre seiner Verkünder, des römerstolzen Livius und des ebenso volksfeindlichen Thukydides. Da sollte doch das Kultusministerium des Freistaates einmal wieder »Wandel schaffen« und kühn die Bildung unserer Jugend aufbauen auf das wahre Evangelium unserer Neuzeit, den Gesellschaftskontrakt des weltbürgerlichen Rousseau, anstatt noch immer auf die längst überholten, politisch so verrannten Alten! Ja, wozu überhaupt noch klassische Sprachen und Geschichte, die doch nur einen falschen Idealismus predigen und mit Heldenverehrung so eng verquickt sind? Daß aber die sogenannten Lehren der Geschichte außer acht gelassen werden, beweist jeder neue Tag — vielmehr scheint hier ein Naturgesetz zu fordern, daß jede neue Demokratie die Dummheiten der alten wiederholen muß. Was sollen also da am lichten Tage noch die Gespenster der Vorzeit spuken, die die Zwangsläufigkeit der Bewegung doch nicht hindern können ? — machen wir doch auch da reinen Tisch —. Unsere ohnehin so überbürdete Jugend hat wahrlich Nützlicheres zu tun, als sich den alten Wahnideen gefangen zu geben! Sie muß ja v. Bohl, Reden und Anlsätie. 14
210
schon, solange nicht endlich eine gemeinverständliche Weltsprache den ganzen veralteten Nationalitätenplunder ersetzt, die neueren Sprachen lernen, um vorwärts zu kommen — sollte sie da nicht die noch übrige freie Zeit, statt auf die Vergangenheit und deren entschwundene Ideale weit besser auf Politik und die Darwinsche Entwicklungslehre verwenden, die doch allein die Grundlagen einer glücklicheren, voraussetzungslosen und vorurteilsfreien Zukunft sein können? —
Götzendämmerung. Für die .Deutschen Stimmen* geschrieben, jedoch infolge des Kapppuisches nicht veröffentlicht. März 1920.
Nun hat also doch der deutsche Parlamentarismus schon in seinen Maientagen sein kleines Panama des Erzbergerprozesses erlebt! Klein in seinem Ausmaß vor allem der Held! Alles geht bei und an ihm ins Breite, ins Flache, keine Tiefe, keine Höhe und erst recht keine Spur von Größe! Statt dessen aufgeblasene Wichtigtuerei, Vielgeschäftigkeit, Gerissenheit — vor allem ist er, wie ihn sein eigener Anwalt schildert, Emporkömmling. Daher sein rücksichtsloses, protzig grobes Vorgehen gegen alles, was sich vor ihm beugt, während er voller Seligkeit war, wenn er in den Boudoirs der Parmadamen — ganz wie im Hintertreppenroman in tiefster Heimlichkeit — gegen sein eigenes Vaterland Kabalen anspinnen durfte. Wie mußte sich der kleine Schwabensohn im Glänze eines Königsmachers sonnen, wenn er seinem hochgeborenen Landsmann einen litauischen Fürstenhut in Aussicht zu stellen sich vermaß! Bar jener Wahrhaftigkeit, die glühende Uberzeugungstreue verleiht, bar jenes Glaubens, daß seiner gerechten Sache der Sieg doch bleiben muß, ist er der Mann der kleinen Mittel und Auskünfte, der immer nur lavieren will und so überrascht er selbst den Skeptiker durch seine Wandlungsfähigkeit. Ja, er selbst freut sich ihrer, »ich bin doch kein Petrefakt«, erwidert er lächelnd, wenn man ihn wieder auf einem Gesinnungswechsel ertappt. Nein, ein Petrefakt ist er nicht, viel eher ein Kork, der nur die eine Tendenz hat, immer wieder obenauf zu schwimmen. Keine politische Kombination schien möglich ohne den Allerweltsmann, Herrn Erzberger, ebenso unmöglich, daß er je sein Portefeuille wegen eines Gewissenkonflikts aufgeben könnte, nein, er war ja schon längst vorher mit seinen jeweiligen Genossen handelseinig geworden. Dafür mußte er dann freilich die vornehme Sicherheit des wahren Staatsmannes, die das tief innere Bewußtsein des eigenen Wertes verleiht, 14*
212 durch jene Dickfelligkeit ersetzen, für die er sprichwörtlich geworden ist. Daß nun auch er, der sich trotz allem noch rühmte, ein Führer des christlichen Volkes zu sein, dem Mammon gedient, dem goldenen Kalbe geopfert hat, führte schließlich zu seinem Sturze. Eigentlich waren ihm, glaube ich, besonders jene ebenso nahrhaften wie billigen Eßpakete, die ein dankbarer Freund zukommen ließ, verhängnisvoll für seine Popularität, gerade gegen ihn mußten sie aufreizend wirken! Aber auch ein gewisses Reinlichkeitsgefühl unseres Volkes machte sich immer mehr gegen ihn geltend. Mit feiner Bosheit hat Helfferichs Anwalt, Dr. Alsberg, daran erinnert, wie einst 1905 in der Kölnischen Volkszeitung Herr Erzberger mit hohem Pathos gefordert hatte, daß die Regierung vor dem Forum der Erwählten des Volkes die Namen der »Indus trieritter«, d. h. jener Beamten brandmarken solle, die Aufsichtsratsposten bei Aktiengesellschaften angenommen hätten. Nun macht sich dieser Cato selbst in jenen Sesseln breit und erklärt wieder mit dem ewigen Lächeln seines auch sprichwörtlich gewordenen guten Gewissens, daß das Ausland über die Haarspaltereien deutscher Philister, die an solchen Geschäftchen etwas zu nörgeln hätten, nur verächtlich die Achseln zucken würde. Was das Ausmaß betrifft, so mag er da sogar recht haben, gegen die räuberischen Großfürsten des zaristischen Rußlands oder die smarten Jankees etwa der Günstlingswirtschaft von Tammany-hall blieb er der reinste Waisenknabe, so groß er auch seinen Buttenhäusern erschienen sein mag, wenn er Gevatter und »Spezel« allmächtig begönnerte — haben sie doch seinen Namen in besonders leckeren »Erzbergernudeln« sogar der Ewigkeit überliefert. Möglich also, daß auch das parlamentarisch regierte Ausland ihm eine gewisse Nachsicht gezeigt hätte, nimmt man doch dort, nach so mancher bitteren Erfahrung, mit dumpfer Resignation jene Verbindung von Politik und Geschäft mitsamt den sich daraus ergebenden Auswüchsen und Durchstechereien als unvermeidliche Folgen des herrschenden Systems hin. Seine viel größeren Sünden gegen sein Vaterland, von denen im jüngsten Prozeß ja kaum die Rede war, hätte ihm das staatsbewußte Ausland aber nie vergeben! Seine Wiener Reisen, seine Haltung bei der Friedensresolution, ja, der eine Satz Czernins, daß er sich Erzbergers zur Erreichung österreichischer Zwecke bedient habe, hätten dort genügt, ihn als wirklichen, nicht nur tatsächlichen Angeklagten vor den Staat: Gerichtshof zu stellen, vor dem sich heute ein Caillaux zu verantworten hat. Allerdings
213 hätte sich in diesen Ländern auch wohl nie der Staatsmann gefunden, der so wenig Menschenkenntnis besessen hätte, einem Erzberger lebenswichtige diplomatische Sendungen anzuvertrauen. Dort wäre er der kleine Agitator für kleine Handlangerdienste bei Partei und Presse geblieben, zu dem ihm Fleiß und Redefluß befähigen. Nie hätte ein Mann, dem so sehr Linie und Haltung fehlen, der die Formen des äußeren Verkehrs so wenig beherrscht, dem tiefe Gedanken und hinreißende Beredsamkeit dermaßen versagt sind, in einem wirklich parlamentarisch geschulten Lande je eine führende Rolle als Politiker oder Diplomat spielen können. Man bräuchte wirklich Herrn Erzberger, der übrigens vielleicht einmal wieder aufersteht, keine langen politischen Nekrologe zu schreiben, man könnte die Toten ihren Toten begraben lassen, wenn er nicht eben doch für unser politisches Leben weit mehr bedeutet hätte, als ihm zukommen durfte. Da ist er doch die Verkörperung jener leider recht zahlreichen Wandlungsfähigen, die zunächst fröhlich als gesinnungstüchtige Annexionisten in der nationalen Hochflut herumplätscherten, um dann, als diese in das Rote Meer mündete, sich auf das demokratische Notfloß zu retten. In der bunten Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, war er, der an Überzeugungen das leichteste Gepäck trug, der geborene Steuermann, wohin der Wind das Floß auch treiben mochte! Er hat die Mehrheit zusammengekittet, sich bei der Sozialdemokratie rückversichert, aus seiner demokratischen Seele keine Mördergrube gemacht und gegen die steuerscheue Bourgeoisie mit ihrem mangelnden Patriotismus manch kräftig Wörtlein gefunden, das im Hause wie auf der Galerie und Straße lauten Beifall fand. Dafür war ihm die Mehrheit denn auch dankbar — ja, sie vergaß über dieser Tugend, zu der sich noch der echt deutsch verbissene Eigensinn gesellte, sogar die Vorsicht. Als z. B. Herr Erzberger im vorigen Jahre aus Versailles zurückkehrte, da war es vom Zentrum doch zum mindesten unklug, dem schwer kompromittierten Manne durch den Mund seines Führers aussprechen zu lassen: »wir freuen uns, in unserer Mitte ein Mitglied wie Herrn Erzberger zu haben, der mit so außerordentlicher Begabung und so riesigem Fleiße für das Vaterland leistete, was kein anderer zu leisten imstande wäre.« Seine Versailler Leistungen, wo der maßlose Eitle und Selbstzufriedene auch noch im Grafen Brockdorff den einzigen Diplomaten zur Strecke gebracht hatte, um dann nicht nur mit leeren, sondern auch mit gebundenen Händen zurückzukommen, die hätte
214 ihm in der Tat kaum ein anderer nachgemacht, freilich in etwas anderem Sinne als die Mehrheit meinte. Diese scharte sich nun vollzählig um ihn als Führer im Kampfe gegen die Rechte. Gegen die Rechte und auf Kosten der deutschen Steuerzahler wurde dann nach französischem Rezepte Erzbergers Enthüllungsrede im ganzen Vaterlande angeschlagen, obgleich jene Gedächtnisschwäche, die seitdem den Staatsmann um allen Kredit gebracht hat, schon damals gelegentlich des sogenannten »Stinnestelegrammes« des Stahl Verbandes, das sich dann als Brief eines sozialistischen Staatssekretärs entpuppte, zur Vorsicht hätte mahnen müssen. Das muß nun heute die Mehrheit, die Herrn Erzberger natürlich gerne abschütteln würde, schwer büssen. J a , die parlamentarischen Maximen hat sie sich mit heißem Bemühen eintrichtern können, aber die glänzende Regie läßt sich nicht erlernen, mit der z. B. das französische Parlament im Handumdrehen sich selbst eines Clemenceau entledigte! Dazu gehört Begabung! Hatte aber denn die Mehrheit wirklich ein so blindes Vertrauen zu Herrn Erzberger? Nein, eigentlich nicht — aber zunächst konnte der Mann gefährlich werden, er wußte zu viel und hörte dazu noch das Gras wachsen, dann hatte er Verbindungen, zumal mit der Presse, die ihn ja eigentlich groß gemacht hat und endlich war er bereit, jedes Amt zu übernehmen, für das die anderen die Verantwortung scheuten. Verantwortung trug er kinderleicht, das war seine Stärke in einer Zeit, die keiner Tugend so sehr ermangelt wie der Zivilcourage. Echt deutsch war dagegen an ihm, daß er die ganze Kraft seines Hasses auf den Kampf im Innern übertrug — die Rechte niederzuboxen, war ihm Lust! Und dabei galt im tiefsten Herzen der Kampf gar nicht so sehr nur der Rechten — was die Mehrheit geradezu instinktiv einte, war die Furcht vor der starken Persönlichkeit. Der Gegensatz zwischen unseren unvergleichlichen Taten im Felde und dem jämmerlichen Versagen in Diplomatie und Parlament war doch zu auffallend, da konnten dem Volke doch eines Tages die Augen aufgehen. Herr Erzberger aber mit seiner in Volksversammlungen selten versagenden Suada, der unbequeme Fragen so trefflich zu umgehen verstand, schien geradezu als der einzig geeignete Mann für den Direktorposten jener Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit, zu der die schwarz-rot-goldene Herrlichkeit sich ausgewachsen hatte. Käme jedoch wirklich die starke Persönlichkeit, so würde sie Wandel schaffen, zunächst im Parlament. Das hatten Crom well und Napoleon ja auch getan. Dann war es mit
215 der Gottähnlichkeit zu Ende. Deputierte wirken nur durch ihre Zahl, zumal wenn ein Parlament so wenig seinem Volk bedeutet, wie unsere Nationalversammlung. Ja, wenn auf die Massen Verlaß wäre, aber die sind ja heute zu einem »kreuzige« ebenso bereit, wie sie gestern Hosianna gerufen haben. Wenn man ihnen nur immer Brot und Kino verschaffen könnte, dann wären sie wieder für einige Wochen beruhigt. Dazu aber war wiederum Herr Erzberger mit seiner Wirtschaft aus dem Vollem der rechte Mann. Käme aber die Sintflut, dann müßten alle die Berufspolitiker von der Krippe, dann wären alle die kleinen Ämtchen dahin, dann wäre man nicht mehr allmächtig in den Vorzimmern der Minister, und wie sollte man dann noch die Gegendienste leisten können, die der Wähler nun einmal für seine Stimme verlangt ? Wie unentbehrlich da Herr Erzberger war, das zeigt sich heute nach seinem Sturz, man findet keinen Ersatz und muß am Ende die ganze Versicherungsgesellschaft liquidieren. Das Wort des demokratischen Dichters Heine bezeichnet geradezu beängstigend deutlich, wohin es mit der heutigen demokratischen Mehrheit gekommen ist: »am Berg steht Israel mit seinen Ochsen!« — Wie verzweifelt nahe die Liquidation droht, das beweist am besten der Ruf nach Fachministern. Dieser Ruf ist doch geradezu eine Sünde gegen den Geist der Demokratie. Die lehrt seit Rousseau unentwegt, gerade das unverbildete Volk wird in seinem dunklen Drange unfehlbar die rechten Führer sich wählen. Der Parlamentarismus aber verlangt, daß aus diesen Erwählten des Volkes die Regierung genommen werden muß. Daß heute bei uns Demokratie und parlamentarisches System herrschen, müßte selber ein Wilson zugeben, niemand kann unsere Regierenden der Lüge zeihen, wenn sie liebewerbend in alle Winde schreien, das allein seligmachende System ist nirgends reiner ausgebildet als in dem Deutschland Eberts. Sind doch nach dem selben unendlich einförmigen Schema alle unsere Wahlordnungen, vom Betriebs- oder Gemeinderat bis zur souveränen Nationalversammlung ausgestellt. Alles wählt, alles kann gewählt werden, Waschfrauen waren im Lande der Dichter und Denker Kultusminister und können es wieder werden. Alles berät, bis niemand mehr Rats weiß und niemand mehr zum Handeln kommt! Alle Sicherheitsmaßregeln sind endlich getroffen, daß nicht etwa in ersten Kammern eine objektive, sachkundige Meinung sich Gehör verschafft, daß nicht durch sie die aristokratischen Unterschiede von Besitz und Bildung sich auf das
2l6 öffentliche Leben Einfluß verschaffen können. Vor allem aber soll der Besitz allmählich tot gesteuert werden, durch Einheits- und Volkshochschulen soll die Bildung durch Halbbildung ersetzt werden, von der dann erhofft wird, daß sie alle Volksgenossen zum Regieren so fähig macht wie Herr Erzberger es ist. Einstweilen aber werden die Geistesarbeiter durch schlechte Entlohnung für ihre höhere Bildung gebührend gestraft, der Kreissekretär bezieht ein höheres Gehalt als der Landrat. Kurzum, wir rücken dem politischen Ideale der platten Steppe immer näher, selbst die nationalen Erinnerungen sollen möglichst verblassen, damit wir zum Internationalismus reif werden. Nichts soll bleiben als die große milchende Kuh der Partei. J a — dann muß aber auch die Partei die Regierenden stellen, Ehre, wem Ehre gebührt, Fachkenntnisse wirken einfach antisozial! Glaubt aber denn jemand im Ernste, daß in dieser dürren Steppe, die nur niederes Gras und einige Dornensträucher zu ernähren vermag, sich nationales Leben entwickeln, ja neues hervorsprießen kann ? — Bedeutet dieser allherrschende Dilettantismus, dieses stets anwachsende Räteheer nicht eine furchtbare Verschwendung von Kraft und Geld, selbst wenn man auf Geist verzichten will? Glaubt irgendein geistig Gesunder, daß man unser wirtschaftliches Leben wieder auf bauen, die diplomatische Lage nutzen kann, ohne Fachkenntnisse zu Rate zu ziehen ? Der dogmenfeste Radikale glaubt es schon darum, weil es absurd ist. Viele aber glauben es freilich nicht, doch sie haben es auf allen Gassen gelehrt und werden mm vom König Demos beim Worte gehalten. Ja, dieser König will jetzt seine Herrschaft verewigen und so hat er seine Propheten gezwungen, wieder im Namen der heiligen Gleichheit die Wahlkreise so abzuzirkeln, daß ein Umschwung kaum eintreten kann. So mußte den künstlichen Gebilden der Großstadt und der Industriezentren das auch geistig viel natürlicher gegliederte Land geopfert werden, das heißt, der Bodenständige, seiner Heimat durch Beruf und Sitte Verwachsene, dem Entwurzelten. Einst ist freilich das gesamte antike Leben gleichzeitig mit dem Lande in Hellas und Rom verödet — der großstädtische Radikalismus ist ja nicht nur zur ewigen geistigen Unfruchtbarkeit verdammt, er stirbt auch biologisch ab, weil die Todesfälle die Geburten überwiegen, er ist der Totengräber jeder Kultur. — Aber wie sollte sich eine radikale Theorie den Lehren der Geschichte oder auch nur der von ihr vergötterten Naturgeschichte beugen? Sie ist eben als Theorie souverän.
217 »mögen lieber die Kolonien zugrunde gehen, als ein Prinzip« hat der große Radikale, Robespierre, einst gerufen. Aber soll an den allem denn wirklich Herr Erzberger allein schuld sein ? Nein, gewiß nicht, dabei hat er unzählige Mitschuldige, ist überhaupt nur ein typisches Produkt seiner Umgebung. Mitschuldig sind alle, die gegen besseres Wissen die Lehre von der Einsicht der Massen, von jener öden Gleichheit nachbeteten, die wir gedankenlos dem Westen entnahmen. Es gibt eben auch eine politische Heuchelei, einen demokratischen »cant«, um das so bezeichnende englische Wort hier anzuwenden. Alle aber, die aus Mangel an Mut ihren Überzeugungen nicht Ausdruck geben, weil sie dadurch die Gunst der Massen zu verlieren fürchten, versündigen sich an ihrem Volke und dessen Zukunft. Denn bei der gegenwärtigen Ausschaltung aller geistigen Kräfte, bei der drohenden Ersetzung der sittlichen Motive durch Geschäftssinn, ist der Wiederaufbau Deutschlands unmöglich, es ist dem Tode verfallen. Nicht geringer ist die Schuld derer, die beiseite gestanden haben, die, nach dem Worte des Evangeliums, dem königlichen Mahle ferngeblieben sind, weil sie Ochsen kauften oder ihr Landgut besuchten, die sich von den irdischen Sorgen und Freuden abhalten ließen, ihre Pflichten gegen das gemeine Wesen zu erfüllen. Sie waren es, die seit Bismarcks Entlassung die Dinge treiben ließen, eine schwache Regierung duldeten und so die Herrschaft der Geschäftspolitiker ermöglichten. Denn es ist nicht angängig, irgendeine Weltanschauung für Herrn Erzberger und seinesgleichen verantwortlich zu machen. Ihre Art bleibt dieselbe, ob sie mit oder ohne Weihwasser getauft wurden oder gänzlich ungenetzt geblieben sind. Was hat z. B. Matthias Erzberger mit dem Katholizismus zu tun? Fehlt ihm doch jedes Organ, etwa den Geist des heiligen Franziskus oder die kulturelle Bedeutung der Weltkirche überhaupt nur zu fassen! Nein, auch er hatte sich praktisch jene mechanistische Auffassung zu eigen gemacht, die da verkennt, daß der Staat ein historisches Gebilde ist, dessen einzelne Glieder in gewachsener Schichtung untereinander verbunden sind, jene Lehre, die, wenn nicht Wandel geschaffen wird, das staatliche und kulturelle Leben der europäischen Völker zu vernichten droht. Wie hätte Erzberger sonst, nur um des eitlen demagogischen Ruhmes willen, so unverantwortlich den Klassenkampf schüren können ? Ein Vergleich mit Görres, der doch auch ein katholischer Demokrat und Journalist, aber zugleich ein ganzer Mann und glühender Patriot war, zeigt den
2l8 vollen Abstand. Ein Görres hat den Großen seiner Zeit sich unterzuordnen vermocht, eben weil er sich seiner angeborenen Würde bewußt war. Er hat den hohen sittlichen Wert des Wortes »ich dien'« verstanden und nie daran gedacht, das »Dienen« durch »Verdienen« zu ersetzen. Ein Erzberger konnte im Materialismus der BethmannZeit so gut gedeihen, wie er in all dem Elend der Revolutionszeit seine Geschäfte zu machen verstanden hat. Ja, zu dem metaphysischen, schwachen Kanzler der Erwägungen gehört der skrupellose, brutal zugreifende Erzberger, wie ein spitzer Winkel mit einem stumpfen sich zu zwei rechten ergänzt. Die Krankheit der Zeit des öden Materialismus hat eben die Menschen wie die Parteien erfaßt, unserem angehenden 20. Jahrhundert des alten Regimentes fehlten die Führer ebenso wie der Revolutionszeit. So hat denn nie die Weltgeschichte eine Revolution gesehen, wie die deutsche Ermattungsrevolte, die sich ihre Führer wie ihren einzigen Rätegedanken aus dem barbarischen Osten holen mußte. Keine Spur von jener furchtbaren Spannung, der die furchtbare vulkanische Erschütterung folgt, die eine bestehende Weltordnung zum Einsturz bringt. Nichts von jenem Zwang, Partei zu ergreifen, sich innerlich mit dem Neuen auseinanderzusetzen, der auch den Ablehnenden erfaßt, wie eine erschütternde Tragödie auch den Unwilligen mit sich fortreißt. Will man unserer Revolte gegenüber bei dem Bilde vulkanischer Kräfte bleiben, so könnte man höchstens von einem Schlammvulkane reden, aus dem sich langsam trübe, zähe Fluten ergießen. Oder wenn Taine den Geist der französischen Revolution mit einem schweren berauschenden Wein vergleicht, so waren bei uns der Wudkirausch der Matrosen und die Benebelung vom widerlich parfümierten Sektsurrogat der Nachtcafes bald verflogen, um einem grenzenlosen Katzenjammer Platz zu machen, der sich jetzt allmählich zu jenem scheußlichen Gefühl gesteigert hat, das die Studentensprache graues Elend nennt. Als man den Schaden bei Lichte besah, war zwar vieles Altehrwürdige eingestürzt — die alte Bureaukratie aber arbeitete ruhig weiter und, da die Leiter des Putsches sich zu irgendeinem Regieren bald völlig ungeeignet erwiesen hatten, krochen aus ihren Verstecken auch wieder jene Männer hervor, in denen seine Führer zu sehen, zur Zeit des Kriegsersatzes unser deutsches Volk sich gewöhnt hatte. Da blühte nun natürlich wieder der Weizen des Herrn Erzbergers, dem seine Anpassungsfähigkeit jetzt trefflich zustatten kam. Das revolutionäre Fieber aber tobte sich gemäß dem
219 materialistischen Geiste der Zeit in wilden Streiks und wüsten Klassenkämpfen aus, denen die Machthaber völlig machtlos zusehen mußten, obgleich diese Erschütterungen unser armes Vaterland, weit mehr als der Krieg selbst, an den Rand des Abgrundes brachten. In Weimar und Berlin tagt jene Nationalversammlung, von deren Debatten unsere Gebildeten viel weniger wissen als von den Kämpfen und Führern der französischen Revolution oder unseres Frankfurter Parlaments, und herrschte eine Regierung, deren Männer für uns so wenig erkennbare Züge tragen, wie jene wesenlosen Schatten, die bei Dante den Eingang zur Hölle umlagern müssen, weil sie hienieden weder gut noch böse waren. Diese herrschen auch noch heute, niemand kennt sie, niemand fragt nach ihnen, man duldet sie eben, teils, weil man zu müde ist, teils, weil man nicht weiß, wen man an ihre Stelle setzen soll — nur Noskes Bild schwankt, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, der andere, deß Namen freilich in jedes Mannes Munde, Herr Matthias Erzberger, ist jetzt doch zu Fall gekommen. Wohl oder übel wird die Mehrheit ihn ersetzen müssen, der Nachfolger wird kaum seines Vorgängers lärmendes Wesen fortsetzen — ein Namenloser mehr — und dann wird fortgewurstelt 1 Kann sich nun unser deutsches Volk je wieder aus diesem Gefühl des Ekels und der Ermattung aufraffen? Ist einmal wieder etwas wie ein freudiges Schaffen bei unserer kläglichen äußeren und inneren Lage möglich, können wir je wieder unseren Enkeln ein Erbe hinterlassen, das das Leben lebenswert macht? Wenn mir nicht doch ein schwacher Hoffnungsschimmer bliebe, hätte ich diese Zeilen nie geschrieben. Ich hoffe einmal auf die Wirkimg des ausländischen Druckes auf unser Volk, nach dem alten, bitteren und doch tröstlichen Worte: »wen Gott lieb hat, den züchtigt er!« Besonders aber hoffe ich auf den neuen Geist unserer gebildeten Jugend, wie er sich auf den Universitäten regt. Von dort ist ja auch vor hundert Jahren in ähnlicher, wenn auch minder schwerer Zeit unserem Volke Hilfe gekommen. Und wie damals Metternich und seine Kollegen, so beginnen jetzt unsere demokratischen Machthaber vor dieser geistigen Erneuerung sich zu fürchten. Diese Furcht scheint mir ein gutes Wahrzeichen zu sein, denn wir alle wissen, daß es der Geist ist, der sich den Körper baut. Man müßte ja an der Menschheit verzweifeln, wenn nicht die Geschichte lehrte, daß alles Große von großen Persönlichkeiten und kleinen Minderheiten ausgegangen ist, die die Machthaber dieser
220 Welt, wie die Massen, stets geglaubt haben, unterdrücken zu können, bis sich die Minderheiten die Kräfte des Sturmes zu eigen gemacht, dem nichts zu widerstehen vermag. Wenn aber dieser neue Geist sich entfalten soll, dann müssen die mit Schuld und Fluch Beladenen weichen, und so könnte auch der an sich durchaus nicht tragische Sturz des Herrn Finanzministers sogar eine erhebende Wirkung haben. Nicht der geringste Vorwurf, der gegen ihn erhoben werden muß, ist der, daß keiner der bürgerlichen Abgeordneten so zur Vergiftung des politischen Lebens beigetragen hat, wie gerade Herr Erzberger. Er hat gerade die Waffen in den Kampf getragen, über deren Anwendung er sich heute so beweglich beklagt, er hat auch das oberste deutsche Parlament auf den Ton gestimmt, den man bisher nur etwa auf sozialistischen Parteitagen zu hören gewohnt war, er hat damit dem Ansehen dieses Parlamentes unersetzlichen Schaden getan, wie er überhaupt jede Sache aufs schwerste bloßgestellt hat, der er zu dienen glaubte oder vorgab. Herr Erzberger würde erstaunen wenn er die Urteile hörte, die über die Persönlichkeit des Abgesandten des Herrn v. Bethmann im Ausland und insbesondere von katholischen Kirchenfürsten gefällt worden sind. Einige seiner Parteifreunde — allerdings am anderen Flügel —• sind gewiß gern bereit, ihm darüber eingehende Mitteilungen zu machen. Aber leider hat er nicht nur seine Partei und die Staatskunst des Herrn v. Bethmann vertreten, sondern sein verhängnisvoller Dilettantismus hat sich auch noch vermessen, als Abgesandter Deutschlands mit und ohne Zustimmung der Wilhelmstraße die halbe Welt zu bereisen. Daß es ihm gelungen ist, das so hoffnungsvoll eingeleitete Einvernehmen beider christlicher Konfessionen auf das äußerste zu gefährden, kann keinem entgehen, der dafür seine Augen nicht absichtlich verschließt. Ja, der Vielgewandte hat es fertig gebracht, im Norden die Abneigung gegen den Süden zu wecken und zu gleicher Zeit durch einen plumpen Unitarismus, der nichts weiter wollte als die Mehrheit — und die war in seinen Augen eben Herr Erzberger — das Reich und dessen Finanzen zu unterwerfen, auch den bayerischen Partikularismus zu hellsten Flammen anzufachen. Seine brutale Manier, jede Opposition niedertrampeln zu wollen, hat eine sachliche Finanzpolitik, wie überhaupt jede objektive Erörterung, deren wir so dringend bedürfen, unmöglich gemacht. Es kann niemand aus seiner Haut heraus und jeder bedient sich der Waffen, deren Natur ihm liegt, ein Erzberger kann vielleicht nicht anders Politik machen — dann aber trifft seine
221
Partei der schwere Vorwurf, daß sie sich von einer innerlich so unvornehmen Persönlichkeit so lange hat nicht führen, nein, vergewaltigen lassen. Was würden wohl die kleine alte Exzellenz Windhorst, der ritterliche Schorlemer-Alst zum Klopffechter Erzberger gesagt haben ? An einem ruhigen Ton, an einer reinlichen Politik haben aber alle anständigen Leute in allen Parteien das größte Interesse, einmal, weil kein führender Geist in die Arena herabsteigt, in der er sich mit einem Herrn Erzberger messen muß, anderseits deshalb, weil der politische Kampf nicht so vergiftet werden darf, daß es unmöglich ist, in den großen Lebensfragen eine Einheitsfront herzustellen. Dieser bedürfen wir gegen das Ausland wie auch zur Sammlung aller Kräfte zum nationalen und wirtschaftlichen Wiederaufbau, zur sittlichen Wiedergeburt aber des Zusammenschlusses aller Menschen, die guten Willens sind. In dieser Einheitsfront kann aber gerade dieser ewig Wandlungsfähige niemals der Führer sein. Die Folge unserer Geschichte ist, daß uns mehr Weltanschauungen trennen als früher geeinte Nationen. Darin liegt die große Gefahr, daß wir uns schwerer zusammenfinden können als jene und so kann uns zu einen nur Führern gelingen, in denen die heilige Flamme nationaler Begeisterung lodert. Diese Vielseitigkeit ist aber ein Zeichen unseres inneren Reichtums, der von seinen Schätzen auch Fremden mitzuteilen stets vermocht hat. Wenn in einem neuen Völkerbunde friedliche Ideale verwirklicht werden sollen, wird man Deutschland weder wirtschaftüch noch geistig entbehren können. Alle bisherige europäische Kultur hat auf dem Gegensatz und dem Zusammenklang lateinischen und germanischen Wesens beruht, alles zivilisierte Leben zwischen den Polen der Nationalität und Universalität pulsiert, diesen Zusammenhängen sind die höchsten Werke der Menschheit entsprungen. So kann es auch für diese nicht gleichgültig sein, wenn das Volk der Mitte Europas unheilbar dahinsiecht. Das wahre Licht des deutschen Idealismus und des deutschen Volkstums, im Sinne Weimars wie Bismarcks, kann aber nur neu erstrahlen, wenn die falschen Götzen des Materialismus und Mammonismus dämmern, denen ein verblendetes Geschlecht Altäre gebaut hat.
Rückblick und Ausblick? Ein offener Brief an Herrn Dr. Stresemann, Pfingsten 1920. Leider konnte ich, verehrtester Herr Doktor, Sie neulich nicht bei Tins in der Pfalz begrüßen, da ich für denselben Abend, an dem Sie in Ludwigshafen sprechen sollten, in Kaiserslautern eine Rede zugesagt hatte. Nun haben Ihnen meine Landsleute — oder vielmehr die bunte Schar der Ludwigshafener Unabhängigen — einen recht unfreundlichen Empfang bereitet und so sind wir um den großen Auftakt zu den Wahlen gekommen, den wir zuversichtlich von Ihrer Rede erhofften. Mir aber blieb die Freude versagt, mich mit Ihnen über die großen politischen Fragen zu unterhalten, die aller Herzen bewegen — oder doch bewegen sollten! Ich hätte mir von dieser Aussprache viel versprochen, weil wir — bei Einigkeit der Ziele—dem wirtschaftlichen und besonders sittlichen Wiederaufbau unseres Volkes — die Lage doch von mindestens örtlich ganz verschiedenem Standpunkt ansehen. Sie stehen mitten in den politischen Kämpfen Berlins, ich bin nur wenig in letzter Zeit aus der westlichen Grenzmark unseres Reiches herausgekommen, wohne aber somit an jener großen Völkerstraße, auf der nicht nur so viele Heere und Händlerzüge, sondern auch so viele Ideen östlich bald, bald westlich gewandert sind. Römische Legionen und germanische Völker, Mönche und Kreuzfahrer, Hugenotten und Republikaner, fahrende Schüler und reisende Kavaliere, alle sind auf ihr einhergezogen, alle haben Spuren ihres Geistes hinterlassen. Einst in der salischen Zeit, als sich die romanischen Dome von Worms und Speier erhoben, waren wir geradezu der Mittelpunkt des Reiches, in beiden Städten tagten noch in der Reformationszeit die entscheidenden Reichstage, endlich sind wir zur Grenzmark geworden und nur zu oft hat unser schönes, rebenumkränztes Land die Schrecken des Krieges erlebt! Ich glaube dem, der von den Bergen unserer Hardt, etwa von dem Hambacher Schlosse, auf dieses europäische Schicksalsland der Rheinebene herabschaut, muß sich die Überzeugung auf-
223 drängen, daß es doch vor allem geistige Kämpfe sind, die die Geschicke der Völker entscheiden. Zog doch von diesem Schlosse, der Kestenburg, einst Heinrich IV. nach Canossa, stürmte es doch in den Reformationstagen die soziale Revolution der aufrührerischen Bauern und tagte doch hier, 1832, die erste große Demokratenversammlung Deutschlands, voller Begeisterung für westliche Ideen und Polenbefreiung. Nicht die Zahl war es, die entschieden hat, es war der Gedanke, die Geisteskraft, ob es sich nun um wahre Ideale oder um Phantome gehandelt hat. Auch der Beste kann in diesem Kampfe hinterrücks erstochen werden, wie jener Siegfried, an dessen hehre Gestalt der nahe Drachenfels mahnt, stets aber wird Ambos jener Schwächling, der es feige ablehnt, im großen Geisteskampf den ihm geziemenden Platz einzunehmen. Und ist nicht wieder ein Siegfried in herrlichem Waffenschmuck von hinten erdolcht worden und dräuen nicht wieder die Hunnen der staatenfeindlichen Steppe des Ostens das Reich der fröhlichen Burgunden jetzt, nachdem der Held gemeuchelt, zu verheeren und sollen wieder die Nibelungen, auf denen der schwere Fluch des Goldes lastet, versinken in bitterer Not ? Gerade wir, die wir an der großen Völkerscheide wohnen, könnten an unserer Nation verzweifeln, wenn wir sehen, wie in der Geschichte der westlichen alles zur nationalen Einheit strebt, wie dort sich alles um die großen nationalen Führer schart, einerlei, ob sie Fürsten oder Republikaner sind, wie dort die gewaltigen Triebkräfte religiöser wie freiheitlicher Gesinnung den vaterländischen Gedanken fördern, während bei uns der blinde Hödur des Parteifanatismus immer aufs neue zu neuer Meintat ersteht. Und dennoch schlummern gewaltige Kräfte in unserem Volke, auch ihm und gerade ihm hat die Vorsehung reiche Schätze verliehen, Großes hat es vollbracht, wenn es sich bezähmen konnte. Wird es nun auch dieses Mal wieder, wie in der Väter Tagen, zusammengeschmiedet werden durch die allbezwingende Not? Auf sich selbst muß es sich besinnen, zunächst sich als Eines fühlen, darf nicht in Klassen auseinanderfallen, wie es sich einst in Stämme und Konfessionen spaltete. Nach verderblichen Kämpfen hatten wir den Stammesgegensatz, den Widerstreit der Bekenntnisse so weit überwunden, daß wir über ihm den nationalen Staat aufbauen konnten. Gepriesen sei selber die Not, wenn sie auch heute die Klassen lehrt, daß sie nichts weiter sind als die Glieder des geschichtlich gewordenen, geschichteten Staates, die eins ohne das andere nicht leben können.
224 Ich sehe den tragischen Zug unserer Geschichte darin, daß seit dem hohen Mittelalter das deutsche Bürgertum seine politischen Geschicke nicht selbst in die Hand nahm, daß es von der Obrigkeit alles geistige und leibliche Wohl erwartete, daß es so auch nicht an der nationalen Einheit mit allen Fasern seines Herzens hing, wie wir nur an dem hängen, was wir uns in heißem Ringen selbst erstritten haben. Denn unsere europäische Gesittung ist wie die des Altertums eine bürgerliche, die Haltung der gebildeten bürgerlichen Schichten beeinflußt alle Schichten des Volkes in entschiedener Weise, sind doch selbst alle die schönen sozialistischen Grundsätze am Schreibtische bürgerlicher Literaten ersonnen, und nirgends eifriger verkündet worden als vom Katheder der Professoren. Einst hat bei dieser heillosen Zersplitterung des Reiches das Bürgertum im 18. Jahrhundert begierig die westlichen Lehren der Aufklärung übernommen, sie aber mehr in das Philosophische umgeprägt, während es die politischen Folgen der französischen Revolution tatenlos über sich ergehen ließ. Seit diesen Tagen übt nun das Wort »Fortschritt« eine geradezu magische Wirkung auf unsere Gebildeten aus, ohne daß sie die Frage genau prüfen, worin denn eigentlich der so gerühmte Fortschritt besteht. Wer von uns würde nun etwa in einem modernen Warenhause oder Bahnhofe einen Fortschritt gegenüber einem griechischen Tempel oder einem gotischen Dome behaupten wollen? Wer aber wäre gar so kühn zu behaupten, daß wir sittlich höher ständen "'als das hohe Mittelalter oder die Zeit vor 100 Jahren — klingt diese Frage bei der Verwilderung unserer Jugend, dem schamlosen Treiben der Schieber und Wucherer, dem Taumel unserer großstädtischen Bevölkerung nicht geradezu wie Hohn, wäre sie aber vor dem Kriege wesentlich günstiger zu beantworten gewesen? Also liegt der Fortschritt eigentlich nur im Materiellen, in der Beherrschung der Welt durch die Technik, der gründlicheren Kenntnis der Naturgesetze. In der Tat hat die junge Naturwissenschaft vom Ende des 17. Jahrhunderts ab in diesem materiellen Fortschritt den absolut entscheidenden sehen wollen, sie glaubte nicht nur allein alle Fragen des Universums restlos lösen zu können, sondern durch deren Lösung auch das Glück der Menschheit zu verbürgen. Die Gesetze der toten Materie sollten schlechthin gelten, die sie erkennende Vernunft die Schöpferin auch jeden staatlichen Lebens sein. Dieser Vernunft gegenüber wollte nun freilich Rousseau die Natur wieder in ihre Rechte
225 einsetzen, ihr wollte er, ins entgegengesetzte Extrem fallend, alles tatenlos überlassen, an die Stelle der ordnenden Vernunft sollte der dunkle Drang des Herzens künftig der Menschheit ihre Wege weisen. Voltaires Vernunft und Rousseaus Sentimentalität beeinflussen auch heute noch entscheidend die weitesten Kreise unseres Volkes, Sozialdemokratie und bürgerliche Demokratie sind beide ihre Sprossen, tragen noch heute die Züge des so verschiedenen Elternpaares, beide müssen aber alle nationalen wie religiösen, alle Standesunterschiede verleugnen. Heutzutage sind freilich gerade die größten Erforscher der Natur bescheidener geworden, sie erklären, die letzten Rätsel nie lösen zu können, die Gesetze der toten Materie seien nicht unbedingt auf lebende Organismen anzuwenden. Aber die materialistischen Theoremen der Naturwissenschaft sind längst in kleine Scheidemünze ausgeprägt, die zu besitzen — mögen sie auch jetzt von der Wissenschaft selbst außer Kurs gesetzt werden — doch noch der Stolz des Philisters ist, für die er die Schätze der Ahnen einzutauschen auch heute noch bereit ist. Fortschritt bleibt für ihn das Losungswort — was aber Fortschritt ist, das liest er täglich in der Frankfurter Zeitung oder im Berliner Tageblatt über und unter dem Strich 1 Ein radikaler Zeitungsartikel, ja eine Karikatur des Schwabinger Simplicissimus verbreitete mehr Schrecken in bayerischen Ministerien als die schärfsten Angriffe beider Kammern, wollte man doch vor allem als moderner Mensch auf der Höhe der Zeiten stehen! Wo aber war man moderner als in Schwabing, wo Licht aus dem Westen mit Licht aus dem Osten sich kreuzte, bis dann Herr Kurt Eisner auf die Straße herabstieg und in der Rätezeit alle die Ostlichter über München und Bayern leuchteten. Auch die andere Geistesmacht moderner Zeiten, die Sentimentalität, herrschte in unseren Ministerien, man kannte zwar genau das Treiben Eisners und seines Kreises während langer Kriegs jähre — Schutzhaft aber schien unerhört, noch mehr als in dem Berlin Bethmanns, es kam auch noch ein pharisäischer Stolz dazu, daß man in München, wie an Bier, Kunst und modernem Geist, so auch an Menschlichkeit dem preußischen Bruder weit überlegen sei. Kann es aber ein menschlich rührenderes Vertrauen geben als das des damaligen bayerischen Ministers des Innern auf die Ordnungsmannschaften der Münchener Sozialdemokraten, hat er mir doch selber am 7. November 1918 erklärt, diese bürgten für die Ordnung, man werde auf der großen Protestversammlung auf der Theresienwiese »nur« seinem Grolle gegen Berlin v. B u b i , Reden und Anisätie.
226 und den Kaiser Luft machen. Diese Kampfansage an Kaiser und Reich, ehe noch der Waffenstillstand geschlossen war, schien dem Ministerium des zweitgrößten Bundesstaates völlig unbedenklich! Als man nun auf der Theresienwiese die soziale Republik ausgerufen hatte und die Massen sich gegen die Residenz wälzten, saß der Herr Minister ruhig in der Kammer und lauschte einer Rede über die Kartoffelversorgung, bis er dann schreckensbleich an mir vorüber in sein Ministerium stürzte, um zu erfahren, daß alles zu Ende sei. So werden Utopien zu geschichtlichen Wirklichkeiten, wenn sich die skrupellosen, gar nicht sentimentalen Leiter finden, denn Herr Barth hat recht, Revolutionen werden »gemacht«. Gezüchtet aber werden sie von schwachen Regierungen, die von humanen Anwandlungen ihrer Zeit weit mehr erfaßt sind als ihre revolutionären Nachfolger. So sind auf Ludwig XV. und Wilhelm II. Jakobiner und Spartakisten gefolgt! Die Vorboten des neuen Völkerfrühlings habe ich als Augenzeuge gesehen. Freilich schien mir der Revolutionszug mit seinem Geleit von Gassenbuben und Kindermädchen einer Schwabinger Gaudi aufs Haar zu gleichen, und als ich am nächsten Morgen, als nun ganz freier Bürger, durch die auf Posten stehenden, rotbebänderten jungen Bürschchen ins Ständehaus kam, ging es dort zu wie in einem Taubenschlag. Auf dem Platze des Kammerpräsidenten saß übernächtig in wallendem Bart und Haarschmuck Kurt Eisner und diskutierte mit seinen Getreuen — das schien mir mehr russisch und westlichen Staatsbegriffen zu widersprechen! Vor der Kammer fand ich den bisherigen Polizeipräsidenten in Person, um etwas Ordnung zu schaffen, in den Ministerien saßen die Beamten ruhig weiter über ihren Akten! Und das Bürgertum? das saß zu Hause und nahm auch diese Schickung hin, wie es andere Schickungen hingenommen hatte! So hatte es ja auch vor 28 Jahren bei Bismarcks Entlassung seine Hände tatenlos in den Schoß gelegt. Nur zu immer rastloserer Jagd nach dem Gold hat es sich aufgerafft, den Regierenden ruhig seine Geschicke überlassend, ja, byzantinisch dem neuen Herren huldigend. Aber auch in jenen Novembertagen war die Wandlungsfähigkeit mancher Stützen des Thrones fabelhaft. Fast scheint es als ob unsere materialistische Zeit der Biologie das Ideal jener Anpassungsfähigkeit entlehnt, wie sie den kleinen Fischen der Korallenmeere verliehen ist, die schwärzlich schillern, wenn sie sich in Felsenklüften bewegen, dann sich lebhaft pj-jjjj zwischen den Tangwiesen tummeln, um endlich inmitten der
227
Korallenriffe im feurigsten Rot zu erstrahlen. Soll da nicht jede Hoffnung schwinden, daß endlich unser Bürgertum sich aufrafft, gegen Bolschewismus und staatliche Vernichtung in zwölfter Stunde die Reihen schließt? Man klagt ja allgemein über Wahlmüdigkeit und es wird wohl niemand behaupten, daß die Verhandlungen der Nationalversammlung geeignet waren, den politischen Sinn unseres Volkes zu heben. Der junge deutsche Parlamentarismus hat wirklich unter unglückseligen Sternen gestanden! Wie hoch erhebt sich doch die Paulskirche über unserem jüngsten Parlamente. Eine Regierung von Namenlosen, nach denen weder Feind noch Freund fragt, eine Mehrheit, die, als sie sich geflissentlich die besten Teile des Volkes entfremden wollte, die schwarz-weiß-roten Farben niederholt, für dieMillionen Deutscher, ohne Unterschied von Glauben oder Partei 1870 und 1914 in freudiger Begeisterung in den Krieg gezogen sind, für die so viele Hunderttausende gelitten haben und in den Tod gegangen sind. Hat denn niemand an uns auf dem linken Rheinufer gedacht, denen doch gerade jetzt die alten Farben als Symbol alter Herrlichkeit doppelt teuer sind, soll uns denn das schwarz-rot-goldene Deutschland künstlich entfremdet werden ? Und nun gar die Paten dieser schwarz-rot-goldenen Mehrheit, die freilich in aller Munde sind, die Herren Scheidemann und besonders Herr Erzberger, der ja, scheint's, in Schwaben einer fröhlichen politischen Auferstehung entgegensieht! Erzberger, jener unselige Mann, der jeder Sache, der er zu dienen vorgibt, unermeßlichen Schaden zufügt, wagte es noch kurz vor seinem Sturz, gegen Hindenburg aufzutreten, den schlichten Mann der großen Tat, der auch die bittersten Empfindungen schweigen heißt, wenn die Pflichterfüllung den Dienst des Vaterlandes erheischt. Bei welchem anderen Volke der Welt hätte das ein Politiker seines Schlages sich erkühnen dürfen ? Aber freilich, wäre in irgendeinem zivilisierten Lande der Erde ein Staatsmann wie Bethmann möglich, der ausgerechnet einen Erzberger zum Chef der deutschen Auslandspropaganda ernannt hätte? Haben denn dem philosophischen Kanzler, der doch selbstbewußt in sich den Beruf des Allerweltschulmeisters fühlte, seine Theoremen nicht nur den Blick für das praktische Leben, sondern auch für Imponderabilien getrübt ? Herr Erzberger weilt freilich gar nicht in den Wolken, er hängt an der Welt und ihren Gütern mit klammernden Organen, nur, daß auch ihn die maßlose Selbstgefälligkeit verblendet.
228 wenn er, ganz wie im Hintertreppenroman, mit hochgeborenen Parmadamen gegen sein eigenes Vaterland konspirieren darf. Wie aber, möchte ich fragen, war es möglich, daß seine Wiener Tätigkeit in Berlin unbekannt blieb, da man sich doch vop autoritativer kirchlicher Stelle in Wien an die Berliner Zentrumsfraktion gewandt hat, um über die verhängnisvolle Geschäftigkeit Erzbergers Aufklärung zu erbitten, und um die Sendung eines anderen einflußreichen Zentrumsabgeordneten ebenso vergeblich ersuchte, wie dies eine kirchlich-diplomatische Stelle getan hatte. Eine Klarstellung dieser Verhältnisse wäre dringend erwünscht, schon um des konfessionellen Friedens willen, denn es geht nicht an, den Typ der Herrn Erzbergers einer Weltanschauung zuzurechnen — was hat denn der betriebsame Buttenhäuser mit einer Kulturmacht wie der katholischen Weltkirche oder mit den Idealen eines heiligen Franziskus zu tun ? Aber den schon fast überwundenen Gegensatz der Konfessionen wieder in hellen Flammen auflodern zu lassen, das vermag er! Seine dilettantische Art der Steuerbehandlung, zustimmen mit der grobschlächtigen Art ihrer parlamentarischen Vertretung, hat den Parteihader mehr wie jeder andere entfacht und schließlich hat der Schwabe durch seine »staatsmännische« Rede in Stuttgart auch noch den alten süddeutschen Partikularismus zu neuem Leben erweckt. Die bayerische Antwort war doch ohne Prophetengabe vorauszusehen, und nach solchen Schwabenstreichen ist es doch eigentlich unbegreiflich, daß eine Partei, wie das Zentrum, erst des Helfferichprozesses bedurfte, um diesen Mann abzuschütteln. Freilich war er ja rückversichert, er war eben der Mann der schwarz-rotgoldenen Mehrheit und die ganze Schwärmerei für die deutsche Einheit läuft ja nur darauf hinaus, eben die Macht dieser Mehrheit bis in den letzten Winkel des Reiches zu sichern. Selbst die sonst so oft betonte Rücksicht auf das Ausland vermag diesen Machthunger nicht zurückzudrängen, ja, sogar die Gefahr einer neuen Mainlinie vermag sie nicht zu schrecken. Die Lage der bürgerlichen Demokratie, wie sie vor allem unsere Großstadtpresse verkörpert, gleicht nun verzweifelt der jenes irdenen Topfes, der mit dem eisernen auf Reisen zog. Da muß sie freilich vor jedem Zusammenprall mit dem robusteren Genossen erzittern! »Qui mange du socialisme en meurt!« Jene demokratische Presse macht uns allerdings auch kein anderes Land nacht Ihre Gedanken bezieht sie aus dem Ausland, wir aber erschienen in den Augen Europas
229
als ein von Junkern und Schlotbaronen geknechtetes Land hauptsächlich um deswillen, weil zu Zeiten des preußischen Wahlrechtskampfes die Frankfurter Zeitung und das Berliner Tageblatt uns so darzustellen beliebten. Wie oft sind mir beide, in Paris fast ausschließlich gelesenen deutschen Blätter als Kronzeugen entgegengehalten worden, wenn ich vor dem Kriege französischen Politikern gegenüber die Vorzüge unserer Selbstverwaltung oder die Freiheit der politischen Meinungsäußerung unserer Beamten hervorhob. Gewiß hat der Zickzackkurs unserer Politik seit Bismarcks Sturz, wie die theatralische Pose ihrer Inszenierung, uns viel geschadet, aber die Presse keines anderen Landes lieferte dem Gegner so viele Waffen gegen das eigene Vaterland wie die unsere. Auch heute hemmt diese einmal eingewurzelte Vorstellung von dem machiavellistischen Preußen-Deutschland mit seinen brutalen Herrscherinstinkten die doch für die kulturelle und wirtschaftliche Zukunft Europas entscheidende gegenseitige Verständigung. Unsere Sozialisten und Demokraten rühmen ja noch immer, trotz aller greifbaren Mißerfolge, daß ihre Ideen zur Völkerversöhnung führen müßten, ich möchte auf Grund persönlicher Erfahrung hervorheben, daß gerade die uns eigene gefährliche Hingabe an über- und außernationale Ideen, die mit dem mittelalterlichen Traum der Fortsetzung des römischen Weltimperiums beginnt und mit der materialistischen Verwischung aller nationalen Verschiedenheiten endet, den Ausgleich gehindert hat. Die große, von unserer demokratischen Presse geflissentlich verschwiegene Renaissance der westlichen Länder, die sich wieder nationalen, geschichtlichen Ideen Zukehrte, mußte so ihre Waffen zunächst gegen die deutsche, materialistische und internationale Wissenschaft wenden, ganz abgesehen von jenen törichten Träumen vom Übermenschen und der »blonden Bestie«, die doch nur ein geistreiches Getändel sich ihrer Schwäche halb bewußter ästhetischer, nicht politischer Kreise waren. Gerade weil wir übernational die Probleme der ganzen Menschheit lösen wollten, haben wir uns den anderen Völkern entfremdet. Eine weniger überschwängliche, durchsichtige und klare Realpolitik hätte viel leichter zu einer Verständigung mit fremden Staatsmännern führen müssen, die weniger Philosophen als nüchterne Rechner zu sein und vor allem ausschließlich nationale Ziele zu verfolgen pflegen. Nur ein Bethmann konnte glauben, daß England dem Weltfrieden seine europäischen Freundschaften opfern und sich um unserer schönen Augen willen isolieren würde, nur ein
23° Müller*), daß er durch völliges Ausschalten deutschen Willens die Sympathien Europas erwerben würde. Müßte doch Deutschland mindestens eine moralische Einheit bilden, um eine Figur auf dem europäischen Schachbrett sein zu können, den Wert Deutschlands aber als Damm gegen bolschewistische Überflutung würde jeder europäische Staatsmann einschätzen und deshalb wird ihm jede deutsche Regierung welcher Art lieber sein als eine schwache und haltlose. Zurückhaltung ist in unserer Lage gewiß geboten, aber daß unsere Staatsmänner andere als deutsche Ziele verfolgen, wird kein europäischer Staatsmann erwarten, viel weniger verlangen können. Daß jedoch gerade die, wenn auch nur aus kleinlichem Parteiinteresse, unitarische, sozialistisch-demokratische Regierung besonders geeignet wäre, das Vertrauen Europas zu gewinnen, möchte ich billig bezweifeln. Völlig zuzugeben ist, daß für Putsche die Zeit so ungeeignet wie möglich ist, nach innen wie nach außen. Ist es schon Torenwerk, die Birnen schütteln zu wollen, ehe sie reif sind, so war erst recht nach außenhin die Kappaffäre, um mit Talleyrand zu sprechen, das größte politische Verbrechen — eine Dummheit. Diese aber wurde womöglich noch übertroffen durch das Übermaß der Abwehr von demokratischer Seite. Statt die ganze Sache als das hinzustellen, was es war, ein totgeborenes Unternehmen, machte es diese Demokratie durch Entfesselung des Generalstreiks wie jener Biedermann, der aus Furcht vor dem Regen ins Wasser springt. Ja, sie sprang nicht nur wieder wie im November 1918, fassungslos in die rote Flut, nein sie half auch selbst die Dämme einreißen, so daß Westfalen und Sachsen verheert wurden und die Besetzung des Maingaus erfolgte. Kann aber die Demokratie durch alle diese Opfer an Prinzipien wie an ideellen und materiellen Gütern mindestens den Fortbestand der Mehrheit sichern ? Seit Erzbergers Sturz steht das Zentrum innerlich dieser Konstellation kühl bis ans Herz hinan gegenüber! Ich meine, wir sollten unsere Hoffnungen jetzt nicht auf Absplitterungsversuche von dieser Partei gründen, bindet sie doch durch ihre christliche Weltanschauung die verschiedensten Elemente, ihre Staatsauffassung ist im Grunde ebenso organisch wie die unserige — wenn wir aber, nach dem Verlauf unserer Geschichte, vielleicht getrennt marschieren müssen, so sollten wir doch in der großen Geisterschlacht vereint schlagen, die Erzbergerzeit würde dann, wie sie es verdient, lediglich Episode bleiben.
231
Die Sozialdemokratie aber erfährt am eigenen Leibe das Gesetz aller Revolutionen, daß sich die Massen nicht durch Vernunft leiten, sondern von den Stimmungen und Erregungen des Augenblicks hinreißen lassen, grausame Instinkte sind ihnen nicht weniger fremd als sentimentale Anwandlungen. Der Sozialismus muß sich wieder in die alte Oppositionsstellung zurücksehnen, wo man dem gepreßten Herzen in bitterster Kritik Luft machen konnte und sich dabei die herrlichsten Luftschlösser von dem Goldenen Reiche baute, das der Sozialismus aus den Wolken auf die Erde zu führen versprach. Denn eines Glaubens bedarf der Mensch — glaubt er nicht mehr an Gott, so glaubt er an das Tausendjährige Reich oder an Darwin. Treffend hat man den Bolschewismus mit dem Islam verglichen! Wenn man den Himmel den Spatzen überläßt, so muß man ihn eben auf die Erde herabzuführen verheißen. Sobald man nun dieses irdische Paradies verwirklichen will, folgt die Reaktion der Enttäuschung. Nie aber hat eine Nation eine so grenzenlose Enttäuschimg erlitten als das Volk der Denker und Dichter nach der Ermattungsrevolte des November 1918, nie ist freilich auch eine Revolution an Ideen so arm gewesen als diese deutsche, die ihren einzigen Gedanken, den des Rätesystems, dem slavischen Bolschewismus entlehnen mußte. Kann ein Demonstrationszug an einem kurzen Maientag für einige Stunden über die rauhe Wirklichkeit hinwegtäuschen, so lehrt uns doch schon das fahle, nüchterne Licht des nächsten Morgen, daß wir der Völkerverbrüderung um keinen Schritt nähergekommen sind. Der alte Staatssozialismus mit seiner zwangsweisen Regelung der wirtschaftlichen Erzeugung und des Verbrauchs hat ebenso versagt wie die tastenden Versuche der gegenwärtig Herrschenden. In immer furchtbarere Nähe rückt die radikale Lösung der sozialen Frage durch Hunger und Auswanderung. Kein halbwegs Einsichtiger wird von weiterer Sozialisierung oder der Gewährung neuer Menschenrechte, wie des 8-Stundentags, Besserung unserer Valuta oder unserer Ernährungsverhältnisse erwarten. Der Sozialismus hat nichts zu bieten als Programme und Prinzipien, wie einst sein geistiger Vater Robespierre ausgerufen hat: mögen lieber die Kolonien untergehen als ein Prinzip! Den Segen des Gleichheitsprinzips bekommen heute vor allem die Geistesarbeiter zu kosten, soferne ihre Tätigkeit nicht noch viel schlechter gelohnt wird als die der Handarbeiter. Nirgends aber ist die wirtschaftliche Not der Zeit mehr zu verspüren als auf unseren Univer-
332
sitäten, wo die Anschaffung eines wissenschaftlichen Werkes oder eines Mikroskops unerschwinglich wird. Und dabei rühmt man in tönenden Worten die Kulturerrungenschaften der Revolution! Das Spielen unseres gebildeten Bürgertums mit sozialistischen Ideen, die russische Mode unserer Schöngeister rächt sich so bitter an ihren Kindern und Kindeskindern, hier gräbt sich der Materialismus sein eigenes Grab. Erst recht bekommen alle Schichten unseres Volkes die leibliche Not zu verspüren, trotz der 38000 Verordnungen, die unser Wirtschaftsleben regeln, die Privatinitiative ersetzen sollen. Der immer zahlreichere, immer kostspieligere Beamtenapparat mit seiner Zentralisierung erweist sich hier als unfähig, unfähiger freilich noch das Parlament, aus dem das unsäglich gleichmäßige Wahlrecht mit seinen Massen jugendlicher Wähler beiderlei Geschlechtes auch noch den Rat der Erfahrung auszuschalten droht. Kein Wunder, wenn sich nun die so bitter enttäuschten Sozialisten erst recht an die Ideale des längst zum Dogma gewordenen Programms anklammern und den bisherigen Führern nicht nur Mangel an Einsicht und Tatkraft, nein, sogar Verrat vorwerfen und nach zielbewußteren, immer radikaleren Führern rufen. Längst genügt ihnen die Demokratie nicht mehr, sie wollen die nun einmal schwache Menschheit auch gegen deren Willen glücklich machen. So reißt, nach den ewigen Gesetzen der Revolution, eine Minderheit die Herrschaft an sich, Independenten in England, Jakobiner in Frankreich, Bolschewisten in Rußland, vielleicht auch Spartakisten in Deutschland! Nur muß diese Minderheit von einem Fanatismus beseelt sein, der selbst die Schranken der Vernunft einzureißen vermag, denn nur die willensstarke Minderheit kann die Mehrheit vergewaltigen, sonst erliegt sie selber der Diktatur. Die Sozialisten leugnen auch diese Gesetzmäßigkeit nicht, nur wollen sie die Cromwell oder Napoleon durch eine ebenfalls naturwissenschaftlichen Vorstellungen entnommene Art von Gesamtpersönlichkeit ersetzen. Die Vorstellung ist etwa die, daß die einzelne Biene eigentlich gar kein selbständiges Individuum, sondern nur ein Teil des Bienenstockes ist, wie sich ja die Staatsquallen des Ozeans sogar aus Freß-Geschlechts- und verteidigenden Nesselpolypen zusammensetzen. Noch fehlt uns leider der Jhering, der den radikalen Begriffshimmel der Unsterblichkeit überliefert hätte! Mir ist ein solches politisch-soziologisches Phantom zum ersten Male in der Frankfurter Zeitung begegnet, deren Gelehrte Hindenburg durch eine Art Verkörperung des Heereswillens ersetzen
233 wollten. In unserem Falle soll nun die Diktatur der Personifikation des Proletariats zufallen, ein Schemen, dem man die mangelnde Seele durch das so viel berufene Klassenbewußtsein einhauchen möchte. Warum gerade das Proletariat bevorzugt wird, bleibt unerfindlich, mehr noch, wie eine solche Klassenherrschaft mit den republikanischen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vereinbar sein soll. Trotzdem hat man durch das allen Verfassungen der Welt hohnsprechende Mitbestimmungsrecht der Berliner Gewerkschaften einen Schritt zur praktischen Verwirklichung dieser Diktatur getan. Durch diesen Schritt hat man den Bestand des Reiches aufs äußerste gefährdet, denn weder der Süden noch der Westen unseres Vaterlandes wird sich irgendwelcher Berliner Gewaltherrschaft beugen und es braucht kaum betont zu werden, daß derartige innere Kämpfe eine Intervention des Auslandes herbeiführen müßten. Der bundesstaatliche Gedanke ist bei uns geschichtlich geworden, er ist in der Anhänglichkeit der Deutschen an ihre nächste Umgebung, in ihrem Individualismus zu tief begründet, als daß nicht eine Überspannung der Einheit zur Sprengung des Reiches führen müßte. Diese Diktaturgelüste der proletarischen Führer sollten aber auch unseren bürgerlichen Schichten endlich zu Gemüte führen, daß aller Verhüllung durch schöne Theorien zu Trotz jeder politische Kampf schließlich eine Machtfrage ist. Allerdings darf man auch hier nicht etwa wieder der Naturgeschichte die brutale Moral der Unterdrückung des Schwächeren, der Ausmerzung der Überflüssiggewordenen, wie sie uns etwa die Drohnenschlacht der Bienen zeigt, entnehmen wollen. Daß nicht der ganze Sinn unseres Daseins der rücksichtslose Kampf um die Futterplätze sein kann, wird vielleicht niemandem klarer sein als dem, der sehenden Auges von unseren Höhen auf die uralte Völkerstraße hinabschaut. Die älteste Universität auf eigentlich deutschem Boden, Heidelberg, die ragenden Dome von Speier und Worms, weisen auf die gewaltige Bedeutung der Geisteskräfte hin. Gerade jetzt, in der Zeit unserer materiellen Ohnmacht mögen sie uns jenen Idealismus lehren, der allein uns erneuern kann, indem er uns über uns selbst erhebt. Die alten Chroniken erzählen ja, wie Geistliche und Laien, Herren und Knechte, Adelige und Bürger einst die Kathedralen gebaut haben, wie sie, alle Standesunterschiede vergessend, sich nur als Volk Gottes gefühlt haben. Sollten wir nun, nur weil wir uns Liberale nennen,
234 an diesen auch heute noch lebendigen Kräften des Christentums beim Wiederaufbau unseres Volkstums geflissentlich vorübergehen? Hat doch das Christentum zuerst in der Welt die sittliche Freiheit, die Gleichheit jedes Menschenkindes vor Gott gelehrt und die ganze menschliche Gesellschaft auf die Menschenliebe gründen wollen. Diese Wahrheit hat der deutsche Liberalismus, im Gegensatz zum englischen, viel zu lange verkannt. Fremder Import, der reaktionäre Druck der heiligen Allianz, haben die eindringlichen Lehren unserer Wiedererhebung vor 100 Jahren vergessen lassen. Diesen sittlichen Mächten gegenüber ist der ältere Liberalismus von einem gewissen doktrinären Hochmut nicht freizusprechen. Welch geistige Überhebung liegt nicht allein in dem von einem freisinnigen Naturwissenschaftler geprägten Worte »Kulturkampf«, einer Kirche gegenüber, die doch unsere abendländische Kultur in allererster Linie mitgeschaffen, fast allein die antike Tradition bewahrt hat. Und hat nicht mitten im Weltbrand das Haupt der katholischen Kirche seine Stimme für den Weltfrieden und die Werke der Barmherzigkeit erhoben, sucht er nicht heute, wie die Vertreter des amerikanischen Protestantismus, die Not unserer Großstadtkinder zu lindern ? Sollte da nicht auch bei der Völkerversöhnung wiederum das Christentum eine seinem innersten Wesen entsprechende, vielleicht ausschlaggebende Rolle zu spielen berufen sein ? Bei aller selbstverständlichen Gewissensfreiheit wird man Ehrfurcht vor den christlichen Idealen auch von denen verlangen können, die christliche Überzeugungen nicht zu teilen vermögen. Wenn die Reihen sich wirklich schließen sollen, muß der Liberalismus die Kinderkrankheit des Kulturkampfes erst völlig überwinden. Ob aber Christ oder Nichtchrist, ob Monarchist oder Republikaner, jeder Deutsche ist zum wirtschaftlichen wie zum sittlichen Wiederaufbau seines Vaterlandes berufen. Dabei muß er sich wieder jenem Idealismus seiner Väter zuwenden, den unsere Dome und die Wartburg, Weimar wie Sanssouci verkünden. Nicht Proletarisierung unserer Kultur — was ihren Tod bedeuten würde — sondern Durchdringen aller Schichten mit idealistischem Bestreben muß die Losung sein. Freilich zuerst müssen wir Brot schaffen, aber auch der schlichte Mann des Volkes lebt nicht vom Brote allein. Der arme Teufel Materialismus könnte ihm da nur glitzernde Steine geben, ihm nur die Ideale rauben, die allein alle Stände über sich selbst erheben können. Allmählich setzt sich auch bei den übrigen Völkern der Welt die Einsicht durch, daß
235 für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des von Ruinen bedeckten Europas unsere Erstarkung die notwendige Voraussetzung ist. Könnte ein Staatsmann, der diesen Namen verdient, auf den Gedanken kommen, aus Deutschland das Mazedonien Europas machen zu wollen? Die ganze zivilisierte Welt hat doch ein Lebensinteresse daran, daß das Volk der Mitte nicht unheilbarem Siechtum verfällt, sich nicht verzweifelnd in die Arme des Bolschewismus wirft! Da muß auch für jene Lehre, die unsere Völkerstraße so eindringlich verkündet, wieder Raum werden: die Kultur Europas und damit die Herrschende der heutigen Welt, ist begründet auf die gegenseitige Befruchtung und Durchdringung germanischen und romanischen Wesens. Wenn dabei Deutschland unendlich viel empfangen hat, so hat es dafür der Welt mit Ewigkeitswerten vergolten. Wenn Deutschland unterginge, würde damit einer der gewaltigsten Pfeiler menschlicher Gesittung zusammenbrechen. Wir Rheinländer, deren Geschicke seit so vielen Jahrhunderten mit dem des großen Vaterlandes so eng verknüpft sind, auf deren Boden mehr als einmal sich das deutsche Schicksal entschieden hat, wir sind uns bewußt, daß unser Deutschtum aufgeben, uns selbst aufgeben hieße, daß damit aber wir, die wir so oft die geistigen Vermittler zwischen West und Ost gewesen, auch für Europa ein wertloses Mischvolk werden würden. Das hat uns, wie einst in Görres' Tagen, die Not der Zeit eindrücklicher gelehrt, als dem übrigen Deutschland, das unser Schicksal und damit seine eigene Zukunft nur zu oft zu vergessen scheint. Aber mit dem greisen Feldmarschall Hindenburg vertrauen wir auf den neuen Geist, der sich in Deutschlands gebildeter Jugend regt, die vor allem bestimmt ist, die geistigen Führer einer besseren Zukunft zu sein. Gerade daß unsere Radikalen unsere Studenten verfolgen, wie einst die Schergen Metternichs die Burschenschaft, beweist doch nur, daß auch sie, wie einst die Reaktionäre fühlen, wie stumpf ihre eigenen geistigen Waffen geworden sind. So werden einst auch die radikalen Götter dämmern, wenn sich auch noch heute viele reaktionäre Fortschrittler um ihre Altäre scharen. Ewig jung bleibt nur jener Idealismus, der aus Antike und Christentum entsprangen, über die Nöte dieser Welt wie über ihre Schätze hinausweist. Unter seinem Banner lassen Sie uns zum Kampf ziehen gegen den Materialismus, wie es unsere großen Denker und Dichter, wie es die Arndt und Fichte, die Görres und Schleiermacher
236
getan! Im Vertrauen auf den endlichen Sieg in diesem schwersten aller Kämpfe, wie es uns gerade diese Pfingstzeit, als das Fest des schöpferischen Geistes verleiht, wollen wir nun auch, trotz alledem und trotz aller fast erdrückenden Not der Zeit, einstimmen in den alten Ruf gläubiger Zuversicht: sursum corda! Empor die Herzen!
Deutsches Allerseelen Ged&ditnisfeier für die im Kriege Gefallenen. Neustadt a. H., 1. Nov. 1930.
Wohl selten hat sich die Natur in diesen Tagen, die alter frommer Brauch dem Gedächtnis der Toten geweiht hat, in ein so prächtiges Gewand gehüllt als in diesem Herbst. Unser schönes Land, das seit dem unglücklichen Ausgang des Weltkrieges mehr denn je wieder zur Grenzmark geworden ist, erstrahlt unter dem blauen Himmel in glänzendem Gold und Rot. Sanfter kann die Majestät des Todes uns nicht vor Augen treten, wir ahnen das ewige Naturgesetz, daß hienieden das Sterben die Voraussetzimg des Lebens ist. Wenn die Blätter fallen In des Jahres Kreise, Wenn zum Grabe wallen Entnervte Greise, Da gehorcht die Natur Ruhig nur Ihrem alten Gesetze, Ihrem ewigen Brauch, Da ist nichts, was den Menschen entsetze, — Aber das Ungeheure auch Lerne erwarten im irdischen Leben, In sein stygisches Boot Raffet der Tod Auch der Jugend blühendes Leben. — Und nie hat der Tod unter der blühenden Jugend, nie unter dem kräftigen Mannesalter eine so furchtbare Ernte gehalten als im Weltkrieg. Und wenn wir im heutigen Jammer der Zeiten die Toten fast glücklich preisen möchten, weil sie in der Hoffnung dahingesunken sind, daß sie für des Vaterlands Größe starben, so leben unter uns noch alle die Verwundeten, die dauerndes Siechtum davongetragen. Laut klagen die Waisen um den Vater, die
238
Frauen um den Gatten, die Mütter um die Söhne. Uns alle aber drückt die schwere Enttäuschung fast zu Boden, die uns das Ende des Krieges und die Revolution gebracht haben. Das Reich, die Sehnsucht und dann das stolze Werk der Väter, liegt am Boden, der Kolonien sind wir beraubt, die Flotte ist versenkt, wehrlos müssen wir uns dem Spruche der Sieger fügen. Wieder steht der Winter mit seiner Not vor der Tür — und wir dürfen nicht voller Vertrauen zu unsem Regierenden und unseren Parlamenten aufblicken, daß sie das Gespenst des Hungers und der Kälte zu bannen vermöchten. Die trostlose Zerfahrenheit unseres wirtschaftlichen Lebens, die Unfähigkeit des Staatssozialismus, die Zuchtlosigkeit immer weiterer Volkskreise, besonders auch der Jugend, tritt uns immer erschreckender vor die Augen. Wir sind nicht nur an Gütern arm geworden, auch so viele Ideale haben Bankerott gemacht, den Himmel wollten unsere falschen Propheten auf die Erde führen und statt dessen erheben bei unserem Elend im Innern unseres Vaterlandes der Zwist und der Hader der Parteien die Häupter, Stadt steht gegen Land, Stand gegen Stand — soll sich auch wieder Stamm gegen Stamm erheben, wie einst im 30jährigen Kriege? Statt der so nötigen Arbeitsfreudigkeit erfüllt dumpfe Gleichgültigkeit, Mutlosigkeit, ja Verzweiflung gerade die Besten unseres Volkes, indes weite Kreise noch immer in schamlosem Faschingstreiben ihre eigene Nichtswürdigkeit zu vergessen suchen. Wo ist der führende Geist, der wie ehedem unser Volk um sich zu scharen vermöchte? Haben die Deutschen je teilnahmsloser dem Treiben der Parteien und ihren Parlamenten gegenüber gestanden? Ob sie in Weimar eine Verfassung gaben, die keiner kennt, oder ob heute in Berlin unsere Geschicke beraten? Nur die Entrüstung flammt manchmal auf, wenn sie an die Taten unseres Heeres zu rühren wagen, sonst scheint der Fluch der Vergessenheit unsere Staatsmänner bei lebendigem Leibe zu treffen. Die kleinen Künste der Parteitaktik, über die unsere Presse orakelt, sind uns so fremd wie die Farben der Fahnen, die von Deutschlands öffentlichen Gebäuden wehen. So wären also die Hunderttausende nutzlos dahin gesunken, so hätten Millionen vergebens Glück und Gesundheit geopfert? Nein und tausend Mal nein! Ein Volk, das wie das unsere die vaterländische Begeisterung der Augusttage 1914 erlebt hat,
239
kann nicht untergehen! Wenn auch Macht und materieller Wohlstand dahin sind, die großen Taten unserer Helden leben ewig. Für sie bleibt das Vaterland seinen Gefallenen zu ewigem Danke verpflichtet. Wenn die Ratlosigkeit der heute Lebenden versagt, so wird das Beispiel unserer toten Helden unser Volk einst zu neuem Leben erwecken. War nicht schon jene begeisterte Vaterlandsliebe der Augusttage, als sie ins Feld zogen, das große Neue? Denn der Glanz der Zeiten vor dem Weltkriege war trügerisch gewesen, für den materiellen Fortschritt hatte unser Volk seine alten Ideale dahingegeben, die Erde mit ihren Schätzen schien allein auf sich gestellt, im Kampf um das Gold, das den Genuß verbürgen sollte, kannte der Bruder den Bruder nicht mehr. In törichter Selbstüberschätzung blähten sich kleine Geister zu Übermenschen auf, spielten, von allen Lüsten gesättigt, müde Menschen mit ihren Empfindungen. Der Väter Glaube, Eigenart und Sitte wurden verlacht, während man gedankenlos jeder neuen Mode, jeder Sensation des In- und Auslandes nachjagte. Dem harten Eigennutz paarte sich wunderbar leicht jene schwächliche Sentimentalität, die freventlich alle die Bande löste, die jedes starke Volk in Familie, Staat und Religion willig auf sich nimmt, weil es weiß, daß nur der wahrhaft frei ist, der sich selber bescheidet und bezwingt. Das beginnende 20. Jahrhundert, jene Zeit höchsten Reichtums, wird als eine der ärmsten an Ewigkeitswerten in der Geschichte fortleben — eine alles betastende Kirnst hat keinen Stil, das schrankenlose Ausleben keine führenden Geister hervorgebracht. Alte Tafeln hat man ehrfurchtslos zerbrochen, neue Richtlinien der Menschheit trotz aller Theorien und Retorten nicht zu weisen vermocht, die Väter der Revolution müssen selber bekennen, daß unser Volk der Dichter und Denker bei der Ermattungsrevolte von 1918 selbst seine dabei führenden Ideale dem Osten entlehnen mußte, eigene neue Ideen brachte es nicht hervor 1 Dem ziel- und fessellosen Individualismus und Materialismus entsprach und entspricht auch heute noch der sozialistische Wahn, der da glaubt, die Tatkraft des einzelnen durch einen kostspieligen und umständlichen Beamtenapparat ersetzen zu können, der statt das Volk zu heben, die Helden des Geistes und der Tat, jene geborenen Führer der Menschheit, zur Masse hinabziehen will und, wie wir es schau-
240
dernd erlebten, nur zu blutigem Schrecken und Aufhebung jedes Rechtes führt, in dem Menschen aber, dem Glauben und Ehrfurcht geraubt, nur die beutegierige Bestie entfesselt. Und doch bleibt das Erlebnis des Jahres 1914. Damals riß vaterländische Begeisterung uns aus dem sinnverwirrenden Taumel, damals zog unsere Jugend, zogen unsere wehrhaften Männer freudig ins Feld für das so schwer bedrohte Vaterland. Vor den Flammen der hell auflodernden heiligen Liebe verbleichten die Phantome, da fühlte jeder einzelne, wie erbärmlich es um unsere Gottähnlichkeit bestellt ist. Er empfand, wie er für sich selbst nichts ist als ein verwehtes Blatt, als eine verflogene Biene, wenn er sich loslöst von dem lebenspendenden Organismus seines Volkes. Alle, die da draußen im Schützengraben vor dem Feinde standen, die im Luftschiff oder im U-Boot dem Tode stündlich ins Auge sahen, waren Brüder. Einer setzte sich für den anderen ein, sie wußten sich geborgen in der glänzenden Organisation unseres Heeres, und dem Genius der Führer sich willig unterordnend, vollbrachten sie Heldentaten, die das Erstaunen und die unfreiwillige Bewunderung selbst der feindlichen Welt hervorriefen. Aber dankte ihnen die eigene Heimat den freudigen Opfermut? Dort versagte die diplomatische wie die politische Leitung, Kanzler, Parlament und Presse, von denen wir einst gewähnt hatten, daß sie die Hüter unseres öffentlichen Wesens seien, waren es, die zuerst den Glauben an die vaterländische Sache verloren. Die Schamröte muß uns ins Gesicht steigen, wenn wir deren Haltung mit der Frankreichs und Englands vergleichen — nur unsere schwächlichen Bundesgenossen waren unserer wert, die für die viel berufene Nibelungentreue auf Verrat sannen! Um so heller wird freilich auf so dunklem Grunde für alle Zeiten der Ruhm unseres Heeres und seiner genialen Feldherrn in dem furchtbarsten Kampfe, den je die Weltgeschichte gesehen, strahlen. Der Dank des Vaterlandes zeigte sich dann endlich, als die Strategen des Reichstages einen Ludendorff vor ihren parlamentarischen Ausschuß forderten. Niemand aber fragte, warum sich in der deutschen Heimat kein Staatsmann oder Volksführer fand, der, wie der Franzose Clemenceau, das heilige Feuer der Begeisterung zu nähren verstand, und niemand fordert die vor Gericht, die das Gegenfeuer des Parteihaders hell auflodern ließen, dem der stolze Bau unseres Reiches zum Opfer fiel. Ja, die ge-
241
-wählten Vertreter unseres Volkes hatten sich aus der nationalen Begeisterung der Augusttage wieder in ihre weltfremden Träume gerettet, mitten im Donner der Schlachten glaubten sie den Schalmeien des Völkerfriedens, wenn sie nicht gar am Feuer des Weltkrieges ihr eigenes mageres Parteisüppchen kochen wollten. Wie so oft deutsches Wirken zerronnen ist, weil die Enkel aus Mangel an Nationalgefühl das nicht zu erhalten vermochten, was sich die Ahnen erstritten, so verblaßte wiederum die Erkenntnis, daß in der Brust jedes Volkes seines Schicksals Sterne sind, daß an dem gewaltigen Bau der Weltgeschichte nur die Nation mitwirken kann, die sich innerlich geschlossen als ein Ganzes fühlt und für die Erhaltung des von den Vätern Geschaffenen ihr Alles einsetzt. Denn das Volk ist ein Ganzes, ein Organismus, seine Geschlechter greifen fest gefügt ineinander, wie die Glieder einer Kette, und wenn sich die Sünden der Väter rächen weit über das vierte Glied hinaus, so bleiben uns auch als unverlierbarer Besitz ihre geistigen Großtaten, selbst wenn alles materielle Erbe vergeudet ist. Darum lassen Sie auf der politischen Bühne die Parteigrößen ihr Stündchen lärmen und toben — die Stimme unserer toten Helden wird sie doch einst übertönen. Die Schatten derer, die bis in den Tod dem Vaterlande die Treue wahrten, werden dann mahnend aufsteigen und an dem Gedächnis ihrer Taten wird dereinst sich der Enkel wieder aufrichten. Keine Theorie der Welt wird auf die Dauer die Stimme des Blutes übertönen können, die Völker entwickeln sich lebend nach den von der Vorsehung in sie gelegten Gesetzen. Toren werk ist es, diese Entwicklung hemmen zu wollen, das Nationale auslöschen aber heißt, dem Volke den Tod geben. Denn alle Größe entspringt dem nationalen Boden. Ewig wird sich die Geschichte abspielen zwischen den Polen nationaler Eigenart und der universalen Ideale. Auf Zeiten des Krieges werden Zeiten des Friedens folgen, unsere europäische Kultur hat sich nur gerade dadurch so reich entwickeln, die Welt durch ihre Mannigfaltigkeit bezwingen können, weil hier auf engem Räume reich begabte Nationen verschiedener Wesensart sich bald auf dem Schlachtfelde, bald im friedlichen Wettbewerb miteinander gemessen haben. Darum hat ja ein Grieche den Krieg den Vater von allem genannt — das Einstellen des Wettbewerbes muß die Erschlaffimg v. B u b i , Reden und Anisätie.
16
242
bringen, das übernationale Römische Reich ist im vierhundertjährigen Frieden verödet, die Blüte der griechischen Bildung verdorrte, als die nationalen Quellen versiegt waren, die sie einst gespeist. Den Helden, die sich für ihr Volk und seine Eigenart eingesetzt haben, bleibt also, von einer höheren Warte als des verblendeten Hasses gesehen, nicht nur das eigene Volk, sondern die ganze Menschheit zu unauslöschlichem Dank verbunden. Daß hier nicht das Kriegsglfick, nicht der Erfolg, sondern die Tat selbst entscheidet, das hat schon das Altertum tief empfunden, wenn es, nicht minder wie den Siegern von Salamis und Marathon, auch jenem Leonidas und seinen dreihundert Spartanern, die bei Thermopylae den Horden ganz Asiens erlagen, Kränze unvergänglichen Lorbeers reichte. Von Deutschlands Söhnen aber sind Hunderttausende in unerhörten Siegen gegen die ganze Welt gefallen — und da sollte es wirklich Deutsche geben, die da glauben, der Genius des deutschen Volkes, seine Eigenart und Sitte, sei dieser höchsten Blutopfer nicht wert? Die europäische Kultur ist geschaffen von Romanen und Germanen, sie ist begründet auf Antike und Christentum, die sich der verschiedenen europäischen Völker angeeignet, die sie je nach ihrer nationalen Begabung ausgestaltet und bereichert haben. Diese Bildung ist unser gemeinsames Erbe. Größere Namen wie Goethe, Kant oder Dürer vermögen die Annalen der Geschichte nicht aufzuweisen, von den Schätzen ihres Genius haben diese Fürsten des Geistes allen Völkern verschwenderisch ausgeteilt. Auch künftig wird keines der großen Glieder der europäischen Familie bei dem großem Werke der Gesittung entbehrt werden können, denn ihre Anlagen ergänzen sich wechselseitig. Wie sollte gar das aus tausend Wunden blutende Europa wieder neu erstehen können, wenn das Volk der Mitte unheilbarem Siechtum verfällt? Kraft zur Gesundung aber wird jede Nation nur in den Tiefen des eigenen Wesens finden können, die Erneuerung wird vor allem eine Rückkehr zum geistigen Selbst sein müssen, denn »es ist der Geist, der sich den Körper baut«. In all unserem materiellen Elend bleibt uns doch der Trost, daß es die geistigen und sittlichen Kräfte der Völker sind, die die Welt gestaltet haben. Mit Geisteskraft und sittlichem Mut haben auch kleine Minderheiten den Sieg errungen, wenn sie erfüllt waren von dem Glauben an sich selbst und ihre gött-
243
liehe Mission, Helden und Märtyrer sind die Werkzeuge der Vorsehung gewesen zum Höchsten, was diese der Welt geschenkt. Unsere Helden aber, die freudig ihr Blut für das Vaterland vergossen haben, sie können allein uns den Glauben an uns selbst wieder verleihen, ihr Beispiel, jene sittliche Kraft, deren wir bedürfen, um der moralischen Verwildernng Herr zu werden, die, der materiellen Entgeistigung der Vorkriegszeit entsprungen, durch die schrecklichen Leiden des Weltkrieges und das Dahinschwinden jeder Autorität und Ordnung zu so bedrohlicher Höhe emporgewachsen ist. Gerade heute, wo uns alle führenden Geister zu mangeln scheinen, wo kein papierner Paragraph und keine Theorie der berühmten »freiesten« Verfassung der Welt« frisches Leben einzuflößen vermag, müssen uns unsere Toten, die der Boden der halben Erde und des Weltmeeres deckt, als Führer bei der geistigen und sittlichen Erneuerung neu erstehen! Auf den Blätterfall, auf die kalte Wintersnacht folgt die Ostersonne, die neues Keimen und Blühen weckt. Dem Kreuzestode des Erlösers folgte die glorreiche Auferstehung; auch unserem Volke war schon einmal nach furchtbarem Fall glorreiche Erneuerung beschieden, dann, als es sich auf sich selbst besann. Aus der ehrwürdigsten, heiligsten Urkunde der Menschheit, der Bibel, bewegen noch heute tief unsere Herzen jene Psalmen, die einst das Volk Israel an den Wassern Babylons sang, als in der Gefangenschaft trauernd seine Harfen an den Weiden hingen. Aber trotz aller Klagen bleibt sein prophetisches Auge auf den Glanz des künftigen Jerusalems gerichtet und das Kommen des Messias, der dereinst dem Volke erstehen müsse. Und er ist ihm und der ganzen Menschheit erstanden und der Glaube an ihn hat die Welt überwunden. So wollen auch wir, trotz aller schweren Not unseres Volkes, denen, die den Tod für das Vaterland gefunden haben, nicht nur Tränen weihen. Wir wollen vielmehr unsere heiße Liebe zu Deutschland durch die Tat seiner Erneuerung bewähren und somit denen, die für die Zukunft unseres Volkes den Preis ihres Lebens zahlten, den einzigen Dank zollen, der ihrer würdig ist. Geloben wir den Schatten unserer Helden nach den Worten der Psalmisten: »Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, dann möge meine Rechte verdorren, meine Zunge klebe am Gaumen, wenn ich deiner nicht i6*
244
gedenke, wenn ich nicht mache Jerusalem zum Gipfel meiner Freude — in der Sprache unseres Volkes: wenn ich nicht Deutschland mache zum Ziele meines Lebens 1 Ersteht erst unser Vaterland neu, nehmen wir erst wieder ehrenvoll unsern Sitz im Rate der Völker, dann sind auch unsere Toten nicht umsonst gefallen, leicht wird ihnen die Erde sein und sie werden ruhen in Frieden!
Wahlmüdigkeit. Eine Fastenbetraditung. Deutsche Stimmen, 6. März 1921. »Schuldlos zahlst da der Viter Schuld, Solange da die Tempel nicht erneust.« Horas III. 6.
Man gestatte dem Süddeutschen, der längst unter seinen politischen Ehrgeiz einen Strich gemacht hat und nur noch vom Parterre der Zuschauer aus sein Kritikerrecht ausübt, ein paar Glossen über die vielberufene Wahlmüdigkeit, diese, die wohl nur ein Symptom der Enttäuschung über unser politisches Leben überhaupt ist. Vor mir liegt eine Wahlbetrachtung der »Frankfurter Zeitung«, dann — ich hole gern ein bißchen weit aus, um die nötige Distanz zu gewinnen —, Simmeis Philosophie des Geldes, ein Buch, das ich jedem, der sich über öffentliche Dinge ein Urteil bilden will, nur dringend empfehlen kann, und endlich die Oden des Horaz. Diesem doch eigentlich heiteren Weltkind hat ja der Ernst seiner Zeit, die in nur zu vielem der unseren unheimlich ähnlich ist, oft einen merkwürdigen Seherblick verliehen. Er erkannte schon im »höchsten palmenreichstcn Stande Roms,« daß seine Zeit an Sünden reich, zuerst den Ehebund, Haus und Geschlecht befleckt hatte, und daß aus diesem Urquell das Unheil sich auf das Land und das Volk der Römer ergoß. Der große Versucher, der die Schande mit Gold deckt, ist der Krämer oder der Schiffsherr, bei einem Volk, das längst kein starker Nachwuchs streitbarer Bauern mehr war, das längst nicht mehr in der strengen Zucht des Elternhauses heranwuchs. Laut fordert der Dichter, daß das Reich sich den Göttern beuge, die das erste, das letzte sein müßten. An einer anderen Stelle, in den Satiren, parodiert er köstlich die materialistische Weltanschauung der damaligen Gebildeten, wenn er die Stadtmaus in hochmütig blasierter Weise der zurückgeliebenen Feldmaus die Sterblichkeit der Seele vordozieren läßt. So ungefähr sagt nun der Philosoph Simmel auch
246
für unsere Zeit aus, wenn freilich auch mit etwas anderen Worten. Er spricht etwa von einem sich gegenseitig bedingenden Dreibund der Atomisierung, die den Menschen entwurzelt und dann gleich macht, •des Intellekt, der die Werte des Gemütes und den Willen zurückdrängt, und endlich des Geldes, das alle Qualität durch Quantität ersetzen möchte. Allen drei sei gemeinsam, daß sie alle Lebensformen auf einen abstrakten, allgemeinen Nenner bringen wollen und daß sie gegen individuelle Eigenheit gerichtet sind. Erschreckender noch wird die Ähnlichkeit, wenn man die römische Kaiserzeit mit der Gegenwart in bezug auf die sittlichen Schäden vergleicht. Aber während Kaiser Augustus den Geburtenrückgang, der doch der Anfang vom Ende ist, durch Gesetze zu steuern versuchte, verlangt der rasende Wahnsinn moderner Freiheitsapostel Aufhebung der Strafbarkeit für die Verbrechen gegen das keimende Leben. Die tiefe Wahrheit der Worte, die ja gerade damals der Herr sprach, daß niemand Gott und dem Mammon dienen könne, hat uns erst die Not und Leere der heutigen materialistischen Zeit recht erfassen lassen. Wie der fluchbeladene Hunger nach Gold, in dem Horaz das Hauptlaster seiner Zeit sieht, nur ein Ausfluß der allbeherrschenden Selbstsucht jener Epoche war, so besitzt nach Simmel der Egoismus gerade in der abstrakten Rechtsform der Gegenwart eine Waffe, die, weil sie jedem dient, auch gegen jeden dient. Die Schranken der formalen Gleichheit hält er ein, der aufgeklärte Rationalismus hat ihn aber von all den äußeren und inneren Hindernissen befreit, die in den Verpflichtungen gegen Tieferstehende, dem Solidaritätsgefühl der Genossen für ihn in patriarchalischen Zeiten bestanden, die der Pharisäismus unserer an äußeren und inneren Werten so bettelarmen Gegenwart rückständige nennt. Diese Befreiung hat unser Zeitalter ja noch weiter geführt wie jenes römische, das die absolute Rechtsgleichheit erst anzubahnen begann, Auch hat sich unser geistiger Besitz in den letzten zwei Jahrtausenden und zumal im letzten Jahrhundert noch ungeheuer vermehrt, freilich um den Preis einer inneren Zerfahrenheit, die sich in der völligen Stillosigkeit in Kunst und Leben ausspricht. Endlich ist die Neuzeit noch mit dem Fluch des heuchlerischen »cant« belastet, der ebenso ein Surrogat der echten Frömmigkeit und Sittenstrenge ist, wie die Sentimentalität wahre, tiefe Gefühle ersetzt und verdrängt, beide
247
stehen in enger Beziehung zu Geldwirtschaft und Demokratie. Es war wiederum ein großer Dichter, Shakespeare, der in »Maß für Maß« zuerst jenen Schurken gezeigt hat, der in der Maske sittenstrenger Heiligkeit einherschreitet, und seither weiß ja auch der smarteste, verwegenste Geldmann die »respectability« zu wahren. Tränenströme sind ebenfalls zuerst im bürgerlichen Roman des sozial und politisch frühst entwickelten Englands geflossen, und als die Sentimentalität durch Rousseau zur europäischen Mode geworden, da huldigten ihr am beflissensten gerade die grausamsten unter den französischen Jakobinern. Cant und Sentimentalität sind aber bis auf den heutigen Tag die wichtigsten Requisite einer Politik geblieben, die Taten rücksichtslosesten Eigennutzes mit humanen Phrasen übertönen will. Immerhin beweist gerade der hohe Kurs dieser Surrogate, wie hoch wir innerlich noch diejenigen christlichen Tugenden werten, für die sie Ersatz bieten sollen. Hier schließt die Bilanz beider Epochen zu unseren Gunsten ab. Roms Tempel mußten einstürzen, weil seine Götter tot waren. Wir dürfen die unschätzbaren Werte national christlicher Kultur, die wir von den Vätern ererbt, noch immer unser Eigen nennen. Mögen sie auch manchmal verschüttet scheinen, es ist nur eine Staubschicht, die darauf lagert, sie können jederzeit in alter weihevoller Schönheit wieder erstehen, wir brauchen sie nur neu erwerben zu wollen, um sie auf immer zu besitzen. Daß das heilige Feuer der Begeisterung für die vaterländischen und christlichen Ideale wieder glüht, wird niemand bestreiten können, der mit unserer akademischen Jugend Fühlung hat und deren heutige Geistesart etwa mit jener der jugendlichen Greise vergleicht, die um die letzte Jahrhundertwende unsere Hochschulen bevölkerten. Er wird sich überzeugen, daß, wenn die oft prophezeite Götterdämmerung heraufzieht, sie den materialistischen Idolen droht. Man wird mir mit dem Allbeweismittel der heutigen demokratischen Zeit, mit Zahlen etwa — wir wollten ja von Wahlen sprechen — den abgegebenen Stimmen beweisen wollen, daß die Massen, die ja doch die Entscheidung bringen, noch immer sehr radikal sind, Das weiß ich und das pflegen die Meissen zu sein, aber ich bestreite entschieden, daß Massen jemals eine endgültige Entscheidung in die Weltgeschichte gebracht haben. Zu jenem Aberglauben konnte uns nur die dem Geldzeitalter eigentümliche Uberschätzung der Quantität führen und es haben sich in der Tat Historiker gefunden, die den Massenbegriff nachträglich
248
in die Weltgeschichte getragen haben, wie ja andere ihrer Kollegen aus dieser eine Provinz der Geographie und Biologie gemacht haben, was ganz logisch mit der Gleichwertung feuerländischer und europäischer Kultur endete. Die sind aber nicht gleichwertig; die Methode bezweckte auch nur, der Helden Verehrung den Garaus zu machen. Cäsar bedeutet für die Welt viel mehr als irgendein Maorihäuptling, Wir empfinden die Qualitätsunterschiede instinktiv viel richtiger, als jener Logiker, der in der ganzen Welt nur ein Rechenexempel sehen will. Deshalb kann — die Bolschewisten haben es ja erst jüngst wieder einsehen müssen — kein Gleichheitsfanatiker den Unterschied der Bildung aufheben und diese geistig differenzierten Schichten sind ja die schöpferisch gewesenen selbst für die Phantome, denen heute die Massen noch folgen. Wissenschaftliche Hypothesen, bürgerliche Theorien werden für die Massen zu Dogmen, die aber sterben müssen, wenn sie erst in den geistig führenden Schichten völlig überwunden sind. Das mag lange dauern, wie ja auch die Wogen der Dünung sich noch schäumend überschlagen, wenn der Sturm, der sie aufgepeitscht hat, sich längst gelegt hat. Der Staatsmann wird daher nach den Anzeichen einer Veränderung in den höher differenzierten Schichten einer Nation sorgfältig Umschau halten müssen, da ja diese die Zukunft bedeuten, während der Taktiker in seinen Zahlen befangen bleibt und befangen bleiben muß, weil er nur von der Hand in den Mund lebt, man vergleiche doch nur etwa die Außenpolitik eines Bismarck oder die der englischen Staatsmänner mit der unseligen seit 1890. Hier ist also zunächst die Frage zu erörtern : sind die Zeichen einer Umkehr in den für die Zukunft unseres Volkes entscheidenden Kreisen zu bemerken, und ist diese neue Generation bereit, sich den heutigen Parteien anzuschließen, sowie die, ob wir Politiker der alten Schule ihnen dabei Führer sein können? Diese Frage scheint mir die Schicksalsfrage unseres Volkes zu sein, und die Wahlmüdigkeit gerade in den Kreisen des gebildeten Bürgertums scheint mir ein beunruhigendes Anzeichen. Was mag der Grund sein, der gerade die Tüchtigsten und Begeisterungsfähigsten von der Wahlurne fernhält, oder warum sie doch, wenn sie auch wählen, nicht bereit sind, ihre volle Kraft dem öffentlichen Leben unseres Vaterlandes, jetzt, wo seine Not am größten ist, zu weihen? Es ist wohl kaum zu bestreiten, daß die Zeichen der Umkehr in den weitesten Kreisen
249
vorhanden sind. Die dumpfe Resignation, die allgemeine, hoffnungslose Müdigkeit, die das deutsche Bürgertum nach dem Verluste des Krieges und nach der Ermattungsrevolte befiel, ist gewichen, die furchtbaren Lehren der Gegenwart haben uns den weltbürgerlichen Optimismus geraubt, die Träumer sind wach gerüttelt, man »sieht so manches Auge flammen, man hört doch schlagen manches Herz«. Von nicht minderer Bedeutung scheint mir die unverkennbare Umwertung des Geistigen bei unserer gebildeten Jugend. Man beginnt wieder der Qualität den Vorzug vor der Quantität zu geben, man will die Werte des Gemütes, den Willen wieder in ihre Rechte einsetzen neben dem Intellekt. In dieser Zeit, wo alles zu Geschäft zu werden droht, lernt man wieder den Charakter schätzen. Allen Massentheorien zum Trotz sieht man wieder in der fest umrissenen, innerlich ausgeglichenen Persönlichkeit die Krone der Schöpfung. Das eine haben wir dem großen Weltkriege doch zu verdanken, daß wir wieder Helden verehren dürfen, deren hehre Gestalt sich um so schärfer abhob, als die übrigen sogenannten Führer der Nation, Staatsmänner, Diplomaten mit samt der stützenden Mehrheit in Parlament und Presse, gerade auch im Vergleich zu dem uns feindlichen Ausland, kläglich versagten. Es ist völlig falsch, diese geistige Haltung Militarismus zu nennen. Die Sehnsucht nach wahrem Frieden wurzelt tief in allen Schichten unseres Volkes, es ist nur die Freude an dem durch die Schwere der Zeit neu geoffenbarten Ideal edelster Männlichkeit. Der sittliche Ernst dieser von christlichen Impulsen tief beeinflußten Gefühle zeigt sich vor allem darin, daß man nicht nach dem Ubermenschen ruft, der berüchtigten blonden Bestie, die ja nur die Ausgeburt eines seiner Schwäche sich innerlich bewußten Dichterhirnes war. Als das eherne Schicksal in diesem furchtbarsten aller Kriege so erschütternd sprach, mußte alles dithyrambische Getön falsch und hohl klingen. All das Gerede von dem sich Ausleben, von dem sich selbst vergötternden Ästhetenturm, all die ausgeklügelten Konflikte, die unsere Dichter vor uns auskramten, erschienen jetzt jämmerlich. In einer Zeit, die sich nach immer neuen Rechten heiser schreit, ordneten sich unsere wehrhaften Männer in schlichtem Pflichtbewußtsein dem geborenen Führer unter. Das ist das große Neue, daß nur der innerlich wahrhaft frei erscheint, der sich selbst
250
bezwingt, sich freiwillig bindet, sich willig dem großen Ganzen als dienendes Glied einfügt. Dieses Dienen, diese Treue bis in den Tod haben uns unsere Helden auf den Schlachtfeldern der halben Welt durch ihr Beispiel gelehrt. Sollten nun die, die heimgekehrt sind, ihrem tief unglücklichen Vaterland ihre Dienste versagen wollen, sollten sie nicht zum inneren Aufbau sich freudig um geborene Führer scharen ? Gewiß, aber wer soll ihnen Führer sein? Sie empfinden aufs schmerzlichste den Abstand zu jener Zeit vor mehr als 100 Jahren, wo auch unser Vaterland in schwerer Not war. Wo sind heute die Dichter, an deren Gesängen sich die Jugend begeistern könnte, wo jene Philosophen, die wie Fichte durch ihren Idealismus alle Herzen entzündeten? Die heutigen Materialisten haben nur Früchte zu reichen, die jenen Sodomsäpfeln gleichen — äußerlich glatt und glänzend sind sie, innerlich von Staub und Moder erfüllt. Wie kommt es, daß sogar die Freiheit, für die unsere Väter gestritten, die schon unsere Ahnen ersehnt haben, gerade unserem deutschen Bürgertum so wenig zu frommen vermag? Auch hier hat Simmel eine sehr feine Unterscheidung gemacht, es handle sich weniger darum, wovon wir frei geworden, als wozu wir frei geworden sind. Also auch dazu braucht unser Volk Führer, die ihm die Wege weisen, wie es unseren Großvätern ein Freiherr v. Stein, ein Arndt, ein Görres gewesen sind. Das große Sehnen ist da, aber wie wird es gestillt? Die Frankfurter Zeitung, an die ich mich nun wende, und die das heutige politische Getriebe gewiß kennt, gibt mir eigentlich wenig Aufschluß, obgleich auch sie in gesperrtem Druck verlangt, daß den Ursachen dieses Beiseitestehens des Bürgertums, der Wahlmüdigkeit, in rücksichtsloser Offenheit nachgegangen wird. Die nächste Ursache findet sie im Wetter, dem blauen Himmel und dem Sonnenschein des Wahltages — ja, sind denn alle himmlischen Kräfte gegen die Demokratie verschworen? Bei den Juniwahlen des vorigen Jahres war der Regen der Grund ihrer Niederlage! Dann reden die Gracchen der Redaktion von der maßlosen demagogischen Agitation der Gegner. Demagogie scheint demnach der Radikalismus als seine ureigenste Domäne zu halten und besonders in jeder versuchten Massenwirkung der Rechten unlauteren Wettbewerb zu sehen. Ich persönlich bin ein Freund des guten Tones auch in der Politik, ich muß aber doch fragen, wer hat die maßlose, das gegenwärtige
251
Ziel weit überschreitende, alle Rücksichten, auch die vaterländischen, außer acht setzende Agitation eigentlich ins Leben gerufen, wenn nicht die radikale Presse? Was macht denn die Lektüre, namentlich auch sozialistischer Zeitungen, so peinlich, als das geflissentliche, hämische Herabziehen alles dessen, was die Masse irgendwie überragt, das Spötteln, das Verhöhnen alles dessen, was anderen heilig ist ? Das steht natürlich in engster Beziehung zu dem ehrfurchtslosen, rein auf den Intellekt gestellten Geist der Großstadt, der längst jedes Reizes des Persönlichen entkleidet, nun alles auf das eigene seichte Niveau herabdrücken will. Es ist kein Wunder, daß sich die Reaktion gleichzeitig gegen die Großstadt und ihre Presse richtet. Wie kommt es nun aber gar, daß keine Hauptstadt der Welt im eigenen Lande so unpopulär ist, als Berlin? Doch wohl von seiner Stillosigkeit. Alles, was der preußische Geist an dauernden Werten geschaffen hat, knüpft sich an den Namen Potsdam. Berlin ist trotz alles Gehabens seiner Literaten in der Tauentzienstraße nur ein großes Sammelbecken der entwurzelten Existenzen, nicht nur aus dem Reich, sondern auch dem anstoßenden Osten. Der Stempel, den die Hauptstadt diesen Massen aufdrückt, ist einmal der Geschäftsgeist und dann eine Art schnodderigen Witzes und Absprechens, der die armen Hauptstädter geradezu verhaßt macht. Gerade daß Paris, London oder auch München und Wien so ganz anders auf den Fremden wirken, zeigt, wie hoch wir trotz allem radikalen Geredes die Schätze der Tradition auch heute noch werten. Ich brauche doch kaum an den unvergänglichen Zauber zu erinnern, der in dem Namen Rom liegt, oder könnte man sich etwa einen deutschen Garibaldi denken, der auf seine Fahnen das Gelöbnis »Berlin oder der Tod« schriebe? Gewiß sind wir ungerecht, es steckt sehr viel Tüchtigkeit in Berlin, jedoch beweist diese Abneigung schlagend, wie tief wir alle instinktiv bewußt sind, daß alles, was unserem Seelenleben Wert und Reiz verleiht, in der Tradition einer größeren uud schöneren Vergangenheit wurzelt. So kann sich der Radikalismus nicht wundern, wenn sein Geist und die ihm angepaßte, alles herabsetzende Agitation sich schließlich gegen ihn selbst kehrt, denn einmal verdirbt böses Beispiel gute Sitten, zweitens — man braucht nur an das Wort »Hetzblatt« zu denken — stößt gerade die Agitation die Besten unseres Volkes vom politichen Leben überhaupt ab, befördert also die Wahl-
252 Verdrossenheit, die sie bekämpfen soll, und endlich macht diese hämische Verbissenheit der Kampfesweise der Sache, der sie zu dienen vorgibt, viele treue Anhänger abspenstig, worüber die Frankfurter Zeitung ja in ihrer Wahlbetrachtung so beweglich klagt. Der für die Demokratie so beschämende Ausgang der Wahlen gerade in den beiden Großstädten Berlin und Frankfurt dürfte in allererster Linie die Quittung für die Haltung ihrer Presse sein. Mindestens hier im Süden haben wir eine durchaus bodenständige Demokratie, die aber freilich dem kosmopolitischen Treiben und der seichten Aufklärung der Großstadtpresse kühl ablehnend gegenüber steht. Der Gaumen wird abgestumpft, wenn alle Gerichte in derselben Sauce süßlich, mit Hautgout serviert werden, die einmal als pikant empfunden sein mag, als Börne und Heine sie zum erstenmale nach fremden Rezepten zusammenbrauten. Nicht minder erhebt sich auch in den eigenen Reihen das erstarkende Nationalgefühl gegen die geschäftsmäßig kühle Geringschätzung heimischer Eigenart und das kosmopolitische Treiben der Großstadtpresse. Es ist ihr unvergessen, wie sie schon vor dem Weltkrieg in maßloser Agitation gegen das preußische Wahlrecht dem Ausland die Waffen schmiedeten, mit denen es uns dann mit leider nur zu großem Erfolge auch heute noch bekämpft. Hier kann ich als Kronzeugen den ja einst in demokratischen Kreisen so hoch gepriesenen Bethmann anführen, der meine Bedenken, die ich gegen die Wirkung dieses Kampfes im Ausland, wo ja Berliner Tageblatt und Frankfurter Zeitung die verbreitetsten Blätter sind, vollauf teilte und den Mangel an Rücksicht auf nationale Interessen laut beklagte. Die Haltung dieser Presse während des Weltkrieges ist noch in aller Erinnerung, neuerdings sucht sie wieder die Kluft zwischen Nord und Süd durch einen maßlosen Kampf gegen das Ministerium Kahr zu vertiefen, so daß ein bekannter bayerischer Politiker das Wort prägen konnte, zwischen Bayern und Norddeutschland stehe allein die Frankfurter Zeitung. Wie wenig aber die bayerische Demokratie — von dem auch im Herzen demokratischen Bauern spreche ich gar nicht — auf ihrer Seite steht, muß sie ja zu ihrem Schmerze alle Tage mehr einsehen. Sie hätte wirklich in dieser Fastenzeit allen Grund, dreimal an die Brust zu schlagen und tmea culpa, mea maxima culpa* auszurufen, wenn ihr Fasten und Kirchenlatein nicht doch gar zu fern liegende Dinge wären.
253 Aber wir wollen nicht fremde Sünden beichten, sondern bei uns selber Einkehr halten. Liegt nicht in dem ganzen, so viel geschäftigen politischen Getriebe selbst etwas, was gerade die Begeisterten zuerst schmerzlich enttäuschen und dann wohl gar abstoßen muß? Es könnte doch wohl nur dies sein, daß unser politisches Leben ein nur zu getreues Abbild der Zeit ist, wie wir sie oben geschildert haben. Dann müßte sich die, wie mir scheint, so berechtigte Reaktion freilich gegen diese Art der Betätigung staatsbürgerlicher Rechte selbst kehren. Da besteht zunächst die sehr bedauerliche Tatsache, daß dem deutschen Volke gerade jetzt, wo es sich zum Parlamentarismus hat bekehren lassen, seine Parlamente, zumal der Reichstag, so wenig bedeuten. Das ist um so schmerzlicher, als er ja, seitdem die deutsche Kaiserkrone so schmählich zerschlagen ist, das einzige Symbol der deutschen Einheit ist. Und wie heiß wurde diese doch ersehnt, mit welcher Begeisterung wurde die Nationalversammlung in der Paulskirche begrüßt, wie herb war die Enttäuschung, als auch ihr die Einigung des Vaterlandes nicht gelang. Mit welcher Anteilnahme folgte dann wieder unser Volk den großen Reichstagsverhandlungen der Bismarckschen Ära, wenn auch die reckenhafte Gestalt des genialen Staatsmanns gerade in der Phantasie des Volkes das Parlament zu überschatten begann. Der Undank, den der Reichstag seinem Schöpfer erwies, dem er selbst die Glückwünsche zum 80. Geburtstage versagte, ist in den vaterländischen Kreisen unseres Volkes seinem Parlamente unvergessen geblieben, das auch bald durch seine endlosen Reden die Nation ermüdete und durch seinen Parteihader sie sich entfremdete. Dieser erhob ja auch — nach kurzem Gottesfrieden — im Kriege wieder sein Haupt, und wie gering unsere Mehrheit Imponderabilien schätzte, hat ja die Nationalversammlung bei der Frage der Reichsfarben gezeigt. Fast völlig teilnahmslos begleitete daher auch unser Bürgertum die Beratung seiner Verfassung durch ein Parlament, in dem seine geistigen Führer zu sehen es längst verlernt hatte. Schaudernd aber wendet es sich ab, wenn im prunkenden Wallotbau eine Zietz ihre schöne Seele enthüllt oder ein Adolf Hoffmann unwürdige Possen treibt. So wenig hatten bisher nur gewisse Parlamente des Ostens ihre Würde zu wahren gewußt — aber wir haben uns ja resigniert darein gefunden, daß unsere Revolution ihr Licht von Osten empfing! Wie tüchtige
254 Männer noch immer unsere Parlamente zieren, dessen werden wir sehr bezeichnenderweise uns hauptsächlich dann bewußt, wenn sie außerhalb seinen Mauern zu uns sprechen. Es ist die Umgebung, das Milieu, das herabzieht, weil ihm vielfach der Geschäftspolitiker seinen Stempel aufdrückt. Offenbar hat der öde formlose Materialismus der Zeit auch das politische Parteigetriebe erfaßt. Der Zeit der Geldherrschaft sind alle diejenigen, die einen Beruf nicht aus innerer Anteilnahme oder nach der Tradition ihrer Familie, sondern nur zum Broterwerb ergreifen, vortrefflich angepaßt. Simmel spricht einmal von jenen Vielgeschäftigen, die über den Mühen des Weges das Ziel aus den Augen verlieren. Nennt man sie bei uns auf gut Bayerisch »Gschaftlhuber«, so hat Horaz für ihre vielseitige Tätigkeit das lateinische Wort wfftciosa sedulitas* erst geprägt, und das römische Recht wendet sich geradezu mit Ingrimm gegen den »negotiorum gestört , der sich unbefugt in fremde Geschäfte einmengt. Wir schätzen ja überhaupt im Unterricht das Vielerlei und die Masse, während England seine Staatsmänner von jeher mit viel weniger Wissenschaft belastet, dafür aber an Körper und Geist, besonders nach der Willensseite hin, viel sorgfältiger und einheitlicher ausgebildet hat. Sollte das parlamentarische System dahin führen, daß auch außerhalb des Parlamentes immer weitere höhere Beamtenposten mit fachunkundigen Politikern besetzt werden, so würde sich das Gerechtigkeitsgefühl der Nation dagegen empören, zumal bei unserem Volke die Erinnerung an unser früheres Beamtentum fortlebt, um dessen Sachkunde und Ehrenhaitigkeit uns einst die Welt beneidete. Am empfindlichsten aber ist die Volksseele gegen jenen Geschäftspolitiker, der über das öffentliche Wohl das eigene nicht vergißt, er ist gerade bei uns in Deutschland geeignet, das parlamentarische Leben in Verruf zn bringen. Wie die Geschichte zeigt, müssen ja Geldwirtschaft und Parlamentarismus geradezu zur Korruption führen. Das großartigste Beispiel gab hier schon die sinkende Römische Republik, die ihren Politikern die halbe Welt als Beute überlassen konnte. Dagegen ist doch jener vielberufene Politiker unserer Tage ein Waisenknabe — nur war bei ihm freilich der Kontrast deshalb so grell, weil dieser so materiell gesinnte Herr sich als Vertreter einer Weltanschauung ausgab, deren unendlichen ethischen Wert und deren unsterbliche Verdienste um die Kultur der Menschheit er nicht
255 einmal zu fassen vermag, so gut er sich auf seine eigenen kleinen Vorteile versteht. Derselbe Parlamentarier ist ja auch zum Typ der Wandlungsfähigkeit geworden, da er sich, ein neuer Proteus, bald als wilder Annexionist, bald als sanfter Friedensbote lange an leitender Stelle behaupten konnte. Aber wir wollen auch an die eigene Brust schlagen — es war ein wenig erhebendes Schauspiel, als zur Zeit des Anschwellens der roten Flut gleich drei nationalliberale Führer Preußens, Bayerns und Württembergs das vermeintlich sinkende Schiff ihrer Partei verließen, um sich auf dem demokratischen Notfloß über den Wogen zu halten. Es wäre dies der Partei erspart geblieben, wenn jene Führer fester an die Ideale geglaubt hätten, die ihnen bisher als Leitsterne gedient hatten. Diesem Getriebe widersetzt sich der Wähler um so heftiger, je heiliger ihm seine Überzeugimg ist. Eben haben noch im Wahlkampf alle Parteien sich feierlichst zu den Grundsätzen ihres Programms bekannt, Versprechurgen gründlichster Reform gegeben, ihre Gegner bis aufs Messer bekämpft, und dann endet das ganze Spiel mit einem prosaischen Kuhhandel. Schon der Name zeigt, wie richtig der Instinkt des Volkes diesen politischen Schacher einschätzt, er gleicht psychologisch völlig den Geschäften jener Leute, die alles gegen alles einzuhandeln bereit sind, weil nichts für sie Qualitätswert besitzt, sondern alles unter den Generalnenner des Geldes gebracht werden kann, sogar die eigene Uberzeugung! Aber gerade an diesem Überwuchern der materiellen Interessen über die Ideale der Partei hat der Wähler sein vollgemessenes Anteil. Zu Beginn jedes Wahlkampfes finden jene endlosen Sitzungen weiterer und engerer Ausschüsse statt, ohne die sich der Deutsche, der sich alles im strengsten Wortsinne ersitzen muß, ein politisches Leben nicht vorstellen kann. Die ganze Stillosigkeit des heutigen Lebens kommt in dem verräucherten Lokale, dem Bierdunst, den endlosen, meist durch keinerlei Beredsamkeit ausgezeichneten Redefluß zum Ausdruckt Es besteht die Gefahr, daß die Parlamente allmählich zu Konventikeln von Berufspolitikern werden. Wer kann bei dieser Sachlage denn wirklich noch zu glauben vorgeben, daß die Mehrzahl der Wähler eine unbestechliche Richterin, oder auch nur, daß sie sich in ihrem dunklen Drange des rechten Weges bewußt sei t Atif dieser Voraussetzung beruht doch alle Demokratie, woher sollte denn sonst die Mehrheit das Recht nehmen, der vielleicht sittlich
256 viel wertvolleren Minderheit ihren Willen aufzudrängen? Gibt es für diese Fiktion ein anderes Wort, als eben das englische cant? Kein im politischen Leben stehender Mann wird nun in absehbarer Zeit — selbst wenn wir zur Monarchie zurückkehren sollten — eine Änderung der Verfassung etwa im Sinne Montesquieus erwarten, der die gesetzgebende Gewalt — also das Parlament — von der regierenden ebenso scharf scheiden wollte als von der richterlichen. Er wird sich mit diesen wie mit anderen Unzulänglichkeiten abzufinden haben, nur soll er nicht sich und anderen vorzutäuschen vorsuchen, daß er in dem Unvollkommenen ein Ideal sieht. Keine Epoche der Weltgeschichte lehrt doch eindringlicher wie die unsere, welche furchtbare Macht Trugbilder gewinnen können — daher der allgemeine Schrei nach Wahrhaftigkeit. Die Geschichte der beiden Weltreiche, Roms und Englands, die nie eine geschriebene Verfassung besessen haben, zeigt, wie wenig es auf den Buchstaben ankommt, wie der Geist, in dem sie gehandhabt wird, allein entscheidet. Für uns handelt es sich darum, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, oder vielmehr, uns wieder darauf zu besinnen, daß gerade in Deutschland Parteifragen immer Weltanschauungsfragen gewesen sind. Wenn wir nun in unserem politischen Leben wieder an die Imponderabilien anknüpfen, so ist das nur eine Rückkehr zu unserem besseren Selbst. Denn das ganze Getriebe der Geschäftspolitik wurzelt in dem rein sachlichen Egoismus einer materialistischen Zeit, nur mit diesen kann jener überwunden werden, und zwar in unserem eigenen Innern. Täuschen wir uns nicht — auch dies bestätigt Simmel — die vielgerühmte Objektivität entspringt der Herrschaft des Intellekts, das heißt doch dem Zurücktreten der Gefühlswerte und des Charakters. Immer können wir uns einfühlen — wir haben uns in jenen schicksalschweren Tagen von 1890, aus denen doch alles Unheil entsprang, in die Seele des jungen Kaisers versetzen könnnen, wie wir uns 1917 wieder in Wilson glaubten einleben zu müssen. Dieses ewige Anempfindenwollen hat unser angeborenes Nationalempfinden geschwächt und damit uns die Achtimg des Auslandes gekostet, sie hat unserem ganzen Leben jene Stillosigkeit gebracht, die wohl einst das Kennzeichen unserer Zeit sein wird. Es raubt uns aber auch die feste Prägung der Persönlichkeit, indem es zu inneren Kompromissen mit dem Unzulänglichen führt. So müßten
257 wir zur färb- und formlosen Masse herabsinken, wir wären zum Untergang schon deshalb reif, weil wir der Eigenart beraubt, keine Ewigkeitswerte mehr erzeugen könnten. Wir wären so weit wie das Altertum, von dem Horaz am Schlüsse seiner sechsten Römerode prophetisch sagt: O Fluch der Zeit, wie sinken wir Tag um Tag, Von Vätern, schon schlechter als einst der Ahn, Sind wir entstammt, um, wieder schlimmer. Ein noch verderbteres Geschlecht zu zeugen.
Der Seherblick des Dichters sieht den Untergang des scheinbar noch in unerhörter Kraft und Blüte dastehenden Weltreiches, weil die Ideale, der Glaube und damit der sittliche Halt geschwunden sind, weil die Jugend bis ins Mark verderbt ist. Wir liegen wehrlos am Boden, unsere Weltgeltung ist zerstört, der Geist des Materialismus, der sittlichen Zerrüttung hat auch uns erfaßt — aber noch leben unsere Ideale, der beste Teil unserer Jugend ist von ihnen erfüllt, sie will wiederum die Werte des Gemütes, die Willenskraft und den Zauber der Persönlichkeit in den Mittelpunkt des Lebens stellen. Das entspricht ja auch dem geheimsten Sehnen von uns allen, lassen wir unsere Herzen vom Feuer der jugendlichen Begeisterung erfaßt werden, orientieren auch wir wieder unser politisches Leben nach den Imponderabilien, wie unsere Väter getan, machen wir uns ihre Rettung bringende Werbekraft zu eigen, dann werden wir die berufenen Führer zu besseren Zeiten sein können, dann wird sich auch bei aller Trennung in Weltanschauungsfragen die Zusammenfassimg des Volkes unter dem nationalen Gedanken ermöglichen lassen, dem allein eine idealistische Geistesverfassung Leben zu geben vermag. Deutschlands bürgerliche Jugend ist schon heute bereit, wie einst im Weltkrieg, sich mit den Söhnen aller Stände zu jener Einheitsfront zusammenzuschließen, die allein Deutschland noch retten kann. Draußen im Felde über ihre Jahre gereift, jagt sie nicht Phantomen nach, sie hat von ihren Heldenführern gelernt, daß wahrhaft freie Männlichkeit zum Heile des großen Ganzen sich selbst bindet. So steht auch auf ihrem Banner das alte stolze Wort »Ich dien'!« Gelingt es freilich dieser unserer gebildeten Jugend, die ja nur eine kleine mutige Minderheit ist, nicht, sich durchzusetzen und unser Volk mitzureißen, werden auch ihre Ideale vom gierigen v. Bohl, Reden und Anlsätie.
17
258
Moloch des Materialismus verschlungen, dann müßte, wie einst der Antike, auch unserem Vaterlande das Ende nahen. Und dann, fürchte ich, würde unser stolzes Schiff nicht auf offenem Meere ruhmvoll untergehen, wie die Flotte des Grafen Spee, auch nicht tragisch auf einem Felsenriff zerscheitem, sondern im Schlick eines seichten Wattenmeeres stecken bleiben, um von einem Sandsturm endlich verschüttet zu werden — dann wäre der formlosen Masse ihr Opfer geworden!
Einheitsfront. Deutsche Stimmen, 20. März 1921. Hör mich — denn alles andere i>t Lage — Kein Mann gedeihet ohne Vaterland. Storm.
In meiner vorigen Betrachtung suchte ich zu zeigen, daß die in den besten Kreisen unseres Volkes sich geltend machende Abwendung vom Materialismus, die höhere Einschätzung der Werte des Gemütes und des Charakters sowie des Reizes der in sich abgeschlossenen, festen Persönlichkeit zu einer Gesundnng des politischen Lebens, eben durch Überwindung einer gewissen, weite Kreise abstoßenden Vielgeschäftigkeit und Kompromißsucht führen könnte. Meine heutigen Ausführungen sollen dartun, daß die schärfere Ausbildung der Persönlichkeit, also die Betonung der Eigenart, ein Zusammenfassen der einzelnen durchaus nicht ausschließt, sondern, wenn nur das Ziel hoch genug gesteckt wird, erleichtern muß. Es ist ja einleuchtend, daß in einer Zeit scheinbar unaufhaltsamen Niedergarges, einer moralischen Zerrüttung, wie sie die christlichgermanische Wtlt kaum nach dem Dreißigjährigen Kriege erlebt hat, die ewigen Ideale um so heller strahlen, je mehr wir ihrer bedürfen, um dem in der menschlichen Seele tief begründeten Streben nach Ausgleich und Harmonie zu genügen. Wie diese Sehnsucht nach den Imponderabilien des Lebens weite Kreise beseelt, beweist mir ein Aufsatz in einem führenden bayerischen Zentrumsblatt, der, von künstlerischen Dingen ausgehend, zu dem Schlüsse kommt, daß die Heilung unserer Zeit nur »auf der Werthaftigkeit einer neuen vita, die alles Organische gleichmäßig erfaßt«, beruhen könne. Wenn der Artikel nun gar mit den Worten schließt: »Allerdings manchmal scheint es, als ob eine Zeit der großen Aufgaben eine Zeit d e r k l e i n e n g e s c h ä f t i g e n , u t i l i t a r i s t i s c h e n C h r i s t e n getroffen habe, statt der heroischen, prinzipienfesten«, so ist das — ins speziell Christliche gewendet — die Quintessenz meiner vorigen Ausführungen. Mit diesem Wunsche nach Zusammenfassung an Stelle der Zer'7*
2ÓO splitterung im öffentlichen Leben scheint nun zunächst die allgemein zugegebene Tatsache in Widerspruch zu stehen, daß die Wähler durch parteitaktische Koalitionen abgestoßen werden. Es ist in der Tat kaum zu bestreiten, daß eine der Ideale bare Geschäftspolitik Parteien, die sich gestern auf Grund ihres Programmes bis auf das Messer bekämpften, heute zu rein materiellen Zwecken, wie etwa die Verteilung einflußreicher und einträglicher Ämter unter den Trustgenossen, zusammenführen kann, wie auch bei Geldgeschäften der totfeindliche Konkurrent von heute der Kartellgenosse von morgen ist. So führt denn auch Simmel in seiner Philosophie des Geldes als eine Eigentümlichkeit unseres materialistischen Zeitalters an, daß bei der Abflachung des Gefühlslebens, eine Leichtigkeit intellektueller Verständigung selbst zwischen Menschen schroff entgegengesetzter Wesensart und Stellung bestehe, weil eben Geld und Intellektualität den Zug der Charakterlosigkeit und Unzuverlässigkeit gemeinsam hätten. So meint denn auch der französische Journalist Jouvenel, eigentlich kennten die Parlamentarier nur e i n e n gemeinsamen Feind, nämlich den durch seine Erinnerung an Versprechungen und Prinzipien das Parteigeschäft unliebsam störenden Wähler. Es ist aber eine ungerechte Verkennung unserer heutigen politischen Lage, wenn die Versuche, eine Mehrheit zu bilden, die eine einigermaßen geordnete Regierung verbürgt, als Geschäftspolitik verdammt wird. Der vielberufene Parteiegoismus der rein taktischen Gründe würde gerade jetzt für ein Beiseitestehen sprechen, das, an Stelle der höchst lästigen Verantwortung, das ungemein dankbare Recht der Kritik verleiht. Daß nun die Notwendigkeit politischer Mitarbeit gerade in geistig führenden Kreisen so vielfach verkannt wird, daran trägt gewiß die aufdringliche Geschäftigkeit jener kleinen utilitaristischen Seelen, die über den Mühen des Weges das Ziel aus den Augen verlieren, ebenso viel bei, als die mangelnde politische Schulung besonders unseres berufstätigen und gebildeten Bürgertums. Dieses läßt sich seinerseits durch sentimentale Anwandlungen leicht bestimmen — man braucht hier nur an die Polenbegeisterung des jungen Liberalismus zu erinnern — wie ja selbst bis zum heutigen Tage unser Verhältnis zu Rußland hauptsächlich nach innerpolitischen Momenten beurteilt wird. Die höhere staatsmännische Schulung unserer westlichen Nachbarn zeigt sich sowohl in der Leichtigkeit, mit der England Bündnisse knüpft und löst, wie in der schon von
2ÖI Richelieu Stammmenden Tradition der Franzosen, sich, wenn es im Interesse Frankreichs liegt, in der Außenpolitik gerade mit den Vertretern jener Geistesmächte zu verbinden, die man im Innern mit der romanischen Völkern eigentümlichen Lei benschaft bekämpft. Uns dagegen hat jene sentimentale Nibelungentreue gegen Osterreich den Blick für die innerpolitischen Zustände dieser Monarchie ebenso getrübt, wie sie uns die wahren Interessen unseres eigenen Vaterlandes verkennen ließ. Daß freilich ein genialer Staatsmann, der unserem Volke hohe Zieie zu zeigen versteht, es hinzureißen vermag, hat Bismarck bewiesen, dem wir willig Gut und Blut anvertrauten, wohin er auch den Kurs des Staatsschiffes steuern mochte. In der inneren Politik glauben wir jedoch alle Meister zu sein. Nur wechseln wir, in Eriunerung an selige Studententage, die rein sachliche Verbindung zu gewissen Zwecken gern mit jener Verbrüderung bei Kommersen, bei Sang und Klang, der dann die Ernüchterung des Alltags nur zu rasch folgt. Wogegen sich aber gerade die für die Sache des Vaterlandes am wärmsten Begeisterten mit vollem Recht auflehnen, das sind jene inneren Kompromisse des Gewissens, zu denen die reine Geschäftigkeit nur zu leicht führt, während es Wahrheit und Bekennermut ist, was unsere Zeit vor allem fordert und fordern muß. Doch dürfen die Idealisten ihrerseits darüber nicht vergessen, daß ein Staatsmann »mit Schwärmers Emst des Weltmanns Blick« verbinden muß. Wenn er sich nur die Ziele hoch genug steckt, kann er auch mit anderen zu ihrer Erreichung ein gutes Stück Weges zusammengehen — und sei es auch nur nach jener Shakespearischen Lebensweisheit, daß Not zu seltsamen Bettgenossen führt. Zumal beim parlamentarischen System wird derartiges Zusammenarbeiten gerade bei unserer so viel beklagten Parteizerklüftung unumgänglich sein — es wäre nur zu fragen, ob man da nicht auch zu Lösungen kommen könnte, wie sie einer, dem tiefen Zuge der Zeit folgend — nach Imponderabilien orientierten Politik entsprechen würden. Jedoch von seinem Parteiprogramm will nun jeder brave Deutsche nicht nur nichts aufgeben, sondern er pflegt auch noch einige — seien es nun materielle oder ideelle — Privatwünsche zu haben, für die er womöglich Allgemeingültigkeit beansprucht. Es locken mich nun die Lorbeeren Herrn Stegerwaids nicht — Parteien haben nicht nur ihre Organisationen, sie haben auch stolze Traditionen, an die sich leichter und erfolgreicher an-
2Ö2
knüpfen läßt, als wenn man sich zunächst über die Liquidation alter Parteien in die Haare gerät. Imponderabilien haben ja den unendlichen Vorzug, eindeutiger zu sein als materielle Interessen, darum üben sie nicht nur eine unvergleichlich größere Anziehung aus, haben also eine größere Werbekraft — sie zwingen auch die Einzelpersönlichkeit mit allen ihren Kräften viel stärker in ihren Bann als jene. Es hat stets Märtyrer der Uberzeugung gegeben, während über Interessen schließlich jeder mit sich reden lassen wird. Nun scheinen mir — von einigen Schwärmern abgesehen — alle Deutschen sich in drei großen Lagern zusammenzufinden: dem demokratischen, dessen Ideale wesentlich in der Aufklärungszeit des 18. Jahrhunderts wurzeln — dem sozialistisch-radikalen, dessen Überzeugungen vielfach zum Dogma geworden und mit denen deshalb hier nicht zu rechten ist, und schließlich demjenigen, das in den Traditionen, den nationalen wie den religiösen, die für die festumrissene Persönlichkeit ausschließlichen Imponderabilien verehrt. Zwischen diesen drei Parteien scheint mir ein innerer Kompromiß unmöglich. Man kann sehr weitreichende soziale Maßregeln für christlich, gerecht oder angezeigt halten, man kann vielen Fordeungen des 18. Jahrhunderts zustimmen — wie wir alle dies in der Tat ja tun — aber unsere Weltanschauung kann nicht zu gleicher Zeit ihre Färbung von der religiösen Traditon und dem Materialismus empfangen, ich kann nicht in der Vergangenheit Bindungen suchen und dabei an einen biologisch-kontinuierlichen Fortschritt glauben, nicht die Ideale der Heldenverehrung und der mechanischen Gleichheit in meinem Busen vereinen. Jeder Kompromiß zwischen Weltanschauungen beweist nicht nur einen Mangel an Logik, sondern er muß auch zu Charakterlosigkeit führen. Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht neben diesen Verschiedenheiten der Weltanschauungen eine Synthese möglich ist — sie muß es sogar sein unter dem Zeichen des Vaterlandes! Wenn nun eine Partei ausschließlich die Ideale der Aufklärungszeit auf ihre Banner schreibt, so müßte mindestens ideell eine Verständigung sehr leicht gelingen. Wesentlich größere Schwierigkeiten müßten der Vereinigung derer entgegenstehen, die sich nach den großen Traditionen unserer Vergangenheit orientieren wollen. Ist doch unsere vaterländische Geschiche erfüllt von all den großen Tendenzen, die die Kultur des Abendlandes in heißem Kampf geschaffen haben.
263
Gerade die reiche vielseitige Begabung und Anreguogsfähigkeit unseres Volkes ist ihm zum Verhängnis geworden, kein Volk der Welt ist von den beiden Polen der Nationalität und der Universalität so sehr angezogen und leider auch zerrissen worden, wie gerade das deutsche. Man könnte also hier einen unlöslichen Widerspruch zwischen unserer Treue zu den Toten, die einst Vorkämpfer widerstreitender Ideale waren, und zu dem lebendigen Vaterlande, das doch nur das Produkt seiner Geschichte ist, vermuten. Dies müßte zum unfruchtbarsten Pessimismus führen, während wir doch zu tatenfrohem Handeln verpflichtet sind, um künftigen Geschlechtern das vaterländische Erbe erhalten zu können. Es wäre auch denkbar, daß wir inmitten dieser Welt des Hasses, wie Hagen von Tronje, uns trotzig von allen universalen Idealen abwenden wollten. Werden doch schon heute Lieder an den deutschen Gott gedichtet und wie die italienischen Humanisten einst den Göttern der Antike wieder Altäre errichteten, so wollen manche Schwärmer wieder den Gott Wotan verehren. Das müßte heute, wie damals, Maskerade bleiben, wäre aber zugleich eine völlige Verkennung des geschichtlichen Verlaufes; Allvater war schon tot, ehe auch nur der Begriff einer deutschen Einheit bestand. Seit wir uns als Deutsche fühlen, sind nationale und christliche Imponderabilien aufs engste verschlungen, die abendländischen Nationen sind ganz wesentlich Töchter der christlichen Kirche, Rußland ist uns nicht zum mindesten darum so fremd, weil es nie zur abendländischen Kirche gehört hat. So hat es auch nie eine Reformation gekannt, ja, deshalb hat selbst die Aufklärung des 18. Jahrhunderts dort so ganz andere Folgen gezeitigt als in unserem Westen. Nun besteht aber die Tatsache der konfessionellen Spaltung in unserem Volke — könnte diese überwunden werden? Nein, der religiöse Frieden ist auf das schärfste gefährdet, solange man sich dieser Täuschung hingibt. Alle Hoffnungen auf eine deutsche Nationalkirche oder eine Annäherung in dogmatischen Dingen, wie sie die ja innerlich allen religiösen Dingen so kühl gegenüberstehende Aufklärung hegte, mußten scheitern, weil der Begriff der Katholizität, d. h. der Universalität für unsere Kirche wesentlich ist, aber in Gewissensfragen der Tradition widersprechende Kompromisse gerade ausgesprochene Überzeugungen tief verletzen müssen. Diese Universalität darf man nicht mit nationaler Schwäche und Weltbürger-
264
tum verwechseln. Nach dem katholischen Ideal bilden die Völker in ungebrochener Eigenart die Weltkirche, wie ja die ungebrochenen Farben dem Regenbogen seine Schönheit verleihen, während der Kosmopolitismus alles Nationale mit jenem einförmigen Grau übertünchen will, das eben aus der Mischimg aller Farben entsteht. Daß aber unsere ganze europäische Kultur diesen universalen, auf Christentum und Antike begründeten Zug hat, konnte vielleicht gerade im deutschen Nordosten vergessen werden, weil dessen weltgeschichtlicher Beruf die Abwehr der Barbarei Halbasiens war, wobei ihm dann freilich die Begriffe »deutsch« und »europäisch« zusammenfielen. Aber all der heutige Hader der Nationen, alle die Gefühle des Hasses und der Rache dürfen uns nicht vergessen lassen, daß die abendländische Kultur auf einer Gemeinsamkeit germanischer und romanischer Wesensart beruht, daß wir Deutsche zwar verschwenderisch von unseren Schätzen mitgeteilt, daß wir aber dafür auch Ewigkeitswerte empfangen haben, die wir uns zu eigen machten. Wir dürfen daraus das unverjährbare Recht herleiten, erhobenen Hauptes unter den Nationen der Welt einherzuschreiten! Es kann hier nicht der Versuch gemacht werden, den Anteil beider Konfessionen oder unserer philosophischen Weltanschauungen an dem deutschen Wesen gegeneinander abzuwägen, aber wer offenen Auges und offenen Herzens die süddeutschen Bischofstädte Salzburg, Bamberg oder Würzburg besucht, wird einsehen lernen, ein wie wesentlicher Faktor deutscher Kultur auch der Katholizismus der Gegenreformation noch war. Liegt doch schon im Worte »Kulturkampf« eine kränkende Überhebung jenes Intellekts, dessen materialistische Kultur in Fragen der Moral und der Deutung des Sinnes des Lebens so sehr versagt hat, daß sogar Männer, die nicht mehr im christlichen Boden wurzeln, nach neuen Bindungen rufen. Jedenfalls gilt es heute, in Schule und Leben, für beide christlichen Konfessionen, zusammenzustehen, um die schweren moralischen Schäden unserer Zeit zu bekämpfen, um im Wettkampf christlicher Liebe eine bessere Zukunft für unser Vaterland, ja, für die ganze einst christliche Welt wieder heraufzuführen. Dazu wird jedes der beiden Bekenntnisse um so leichter in der Lage sein, je freier es seine Eigenart entfalten kann. Wer da glaubt, daß im Verlauf der Geschichte die tiefste Wesensart der Völker sich offenbart, d. h. also jeder, der in einer Nation
265 mehr siebt, als die bloße Summe der einzelnen, der wird sehr behutsam sein müssen, wenn er fremde Einrichtungen, nur weil sie der abstrakten Logik als vernunftgemäßer erscheinen, dem Leben eines Volkes aufpfropfen will. Zur Zeit der Bildung einer Nation kann ja das Fremde, wie alle westeuropäischen Völker beweisen, völlig zu Eigenem werden, später aber wird es leicht als Fremdkörper Anlaß zu Verbildung und Siechtum werden. Das zeigt uns schon die Sprache: das lateinische Wort palatium ist in der Form »Pfalz«, wie es in den ersten tausend Jaliren eingebürgert wurde, vollständig unser Eigentum geworden, während die Form »Palast« oder gar »Palais« sich auf den ersten Blick als Fremdwörter erweisen. Wie gefährlich nun fremde Ideen und Institutionen einem Lande werden können, zeigt am schlagendsten Rußland, dessen heutige Zuckungen in erster Linie Reaktionen gegen die gewaltsame Einimpfung westeuropäischer Kultur durch Peter den Großen und seine Nachfolger sind. In diesem Punkte befinden wir Traditionalisten uns ja auch im Einklang mit der Naturwissenschaft, während der Radikalismus auf längst überholten wissenschaftlichen Anschauungen beruht, die aber, zum Dogma geworden, als solche dem von ihm so laut postulierten Fortschritt nicht unterhegen, somit, nach radikalem Sprachgebrauch, eigentlich reaktionär sind. Im übrigen ist aber allgemein anerkannt, daß Organismen ihren eigenen Entwicklungsgesetzen folgen. Nun hat das deutsche Volk die straffe Einheit und Zentralisierung, wie sie romanischen Völkern gemäß zu sein scheint, stets abgelehnt. Es bäumte sich das Stammesgefühl stark gegen die Forderung des alles mechanisierenden Intellekts auf. Daß es eine politische Torheit ist, diesen Charakterzug der Deutschen ignorieren zu wollen, hat Herr Erzberger seinerzeit nach seiner Stuttgarter Rede erfahren; dieser Politikus scheint ja überhaupt berufen zu sein, gerade als abschreckendes Beispiel einer dilettantisch überall zugreifenden Geschäftspolitik mit zur Gesundung unserer öffentlichen Verhältnisse beizutragen. Es wäre aber vollständig falsch, aus dieser Stammesanhänglichkeit, zumal der Bayern, auf mangelndes Nationalgefühl schließen zu wollen. Wer, wie ich, die Reichsgründungsfeier in diesem Januar in München erleben durfte, wird über all die Befürchtungen wegen des bayerischen Partikularismus lächeln können. Gerade das Beispiel Bayerns beweist nun meine These, daß charaktervolle, sich nach Bekenntnis und Stammes-
266 art scharf abhebende Persönlichkeiten durchaus gewillt sind, sich um das nationale Banner zu scharen, zumal dann, wenn ein bewährter Führer es voranträgt, wie es ja gerade Bayern waren, die trotz 1866 auch dem entlassenen, von seinem Hofe verfehmten Bismarck auf seiner Wiener Reise am begeistertsten zujubelten. Natürlich kann der rückwärts gewandte Blick nicht verkennen, wie oft seit Beginn unserer Geschichte sich Deutsche auf den Schlachtfeldern der halben Welt einander gegenüber gestanden haben, wie um religiöser oder dynastischer Interessen willen Deutsche gegen Deutsche sich selbst mit dem Auslande verbündeten. So überwog, uns zum Fluche, der deutsche Individualismus das Nationalgefühl. Das ist die herbe Tragik unserer Veranlagung und Entwicklung im Gegensatz zu den übrigen Völkern des Abendlandes. Wer müßte nicht jene Gabe der Franzosen beneiden, selbst allgemeine Ideen unter den einen Generalnenner Frankreich zu bringen, sodaJß die Tendenzen der Kreuzzüge und der Gegenreformation, des Absolutismus und der Revolution zu national französischen umgebogen werden konnten, während wir uns an diesen Gegensätzen mehr als einmal zu verbluten drohten. Der germanische Individualismus Englands aber äußert sich in einem völlig naiven Gefühl der Überlegenheit der angelsächsischen Rasse, die zur Beherrschung der Welt bestimmt erscheint und dabei ganz ehrlich glaubt, daß menschenwürdige Zustände eigentlich nur unter dieser Herrschaft gedeihen könnten. Italien, durch inneren Zwist zersplittert und schließlich zur Beute der Fremden geworden, hat sich schon seit Dante eine nationale Kultur geschaffen, der es in der Renaissance die Schätze der Antike zufügen konnte, weil es sich als deren legitimen Erben betrachtete. So fallen hier nationale und kulturelle Ideale völlig zusammen. Daß bei uns diese Synthese nicht gefunden wurde, daß die Großen Weimars, vorzugsweise ästhetisch orientiert, das L a n d der Griechen mit der Seele suchten, während Friedrich der Große der geistigen Erneuerung fremd gegenüberstand und den Idealen der französischen Aufklärung huldigte, wird für mich stets einer der schmerzlichsten Konflikte unserer Geschichte bleiben. So hatten einst die großen Tendenzen der Reformationszeit gerade Deutschland religiös gespalten, so nahmen unsere philosophischen und politischen Konstruktionen bis zum Marxismus eine weltbürgerliche, ja antinationale Färbung an, so konnte selbst ein Bismark nur die klein-
267 deutsche Lösung der Einheitsfrage herbeiführen, weil nur für sie die Zeit und unser Volk reif waren. Wird nun heute, wo so vieles eingerissen, was uns heilig und teuer war, wenigstens der Platz frei sein für einen Neubau, der alle deutschen Stämme umschließen wird ? Ist angesichts der ungeheueren Gefahr, die auch heute wieder unser Deutschtum bedroht, mindestens die geistige Einigung aller Deutschen möglich? Es sind zur Zeit ja viele in unserem Volke bestrebt, noch in letzter Stunde jene deutsche Einheitsfront herzustellen, die, wiederum im grellsten Gegensatz zu unserm westlichen Nachbarn, nicht einmal der Weltkrieg hatte herbeiführen können. Unsere heißesten Wünsche begleiten sie bei ihrem Werke! Möge ihr Optimismus Recht behalten, daß sie selbst den radikalen Materialismus mit seinen egoistischen Rücksichten und Interessen in den Dienst des Vaterlandes zwingen können. Manchen von uns will freilich die Furcht beschleichen, daß dieser Geist der Zerrüttung nach Schillers Worten, »in den Lüften frei«, d. h. in unserer Brust, erst erstickt werden muß, ehe jene geistige Erneuerung möglich ist, die allein die Wiedergeburt unseres Vaterlandes verbürgt.
Wer führt uns? „Gewissen", 2. Mai 1921. Sie hatten die Güte, mich zur Mitarbeit an Ihrer Zeitschrift aufzufordern. Schon, daß der Name Martin Spahn an der Spitze des Politischen Kollegs steht, macht mir das Anerbieten verlockend; es gibt kaum einen deutschen Politiker, an dessen Seite ich lieber fechten möchte. Ferner wenden Sie sich an die Jugend — mir steckt nun als echtem Deutschen der Professor viel zu sehr im Leibe, als ich nicht gerade der Jugend etwas glaube sagen zu können. Ich stand nämlich vor dem Kriege als »internationaler Agrarier« mit vielen Politikern des europäischen Westens in enger Fühlung und glaube, deshalb Vergleiche anstellen zu können. Ich habe nie begriffen, daß unsere Parlamentarier, soweit sie nicht der Linken angehörten, stets diese Berührung mit dem Ausland fast ängstlich gemieden haben, — schon das Gewinnen einer gewissen Distanz zu den heimischen Verhältnissen ist doch ein unschätzbarer Vorteil, nicht minder natürlich der Einbück in die Psyche fremder Völker. Aber gerade der Vergleich mit dem Auslande führt mich zu einem Bedenken gegen eine der Tendenzen Jhrer Zeitschrift: Sie machen die deutschen Parteien als solche für unser politisches Elend verantwortlich. Freilich, ein System, wie es die klassische Zeit des britischen Parlamentarismus kannte, haben wir nicht und können wir schon deswillen nicht haben, weil unsere geschichtliche Entwicklung eine andere war. Ich möchte aber den Politiker kennen, der sich in dem Parteigetriebe eines romanischen Staates zurechtfindet — ich mindestens konnte immer nur stets wechselnde Gruppen unterscheiden, die sich um führende Persönlichkeiten scharten — freilich um Führer! Die unleugbaren politischen Erfolge dieser Länder können also nicht auf dem Parteisystem beruhen; sie können nur trotz demselben errungen sein, was übrigens jeder französische und italienische Parlamentarier bestätigen wird. In unseren Parteiprogrammen ist dagegen viel deutscher Idealismus enthalten und gerade Sie werden diesen bei dem hohen
269
Ziele vaterländischer Erneuerung nicht entbehren wollen. Sozialistische Parteien finden wir nun überall, vom großen Ozean bis zum Balkan, Demokraten ebenso, nur werden sie natürlich von dem Charakter der verschiedenen Nationen mehr oder minder nachhaltig beeinflußt. Was nun die drei speziell auf deutschem Boden erwachsenen Parteien betrifft, so ließe sich darüber ja streiten, ob später einmal eine Einigung gelingen wird. Theoretisch ist sie gewiß möglich, zumal seit auch bei den früheren Nationalliberalen das christliche Ideal stärker betont, die christliche Schule gefördert wird. Die frühere konservative Partei wird sich ja naturgemäß stark wandeln müssen, besonders wenn wir kleindeutsche Ziele durch großdeutsche ersetzen, — aber ihre große Anziehungskraft, zumal auf die deutsche Jugend, entspringt gewiß tieferen Gründen als ihrer augenblicklichen Oppositionsstellung. Im Gegensatz zu einem Aufsatz Ihrer Zeitschrift scheint mir die ehemalige nationalliberale Partei heute viel einheitlicher f^als vor dem Kriege, der Verlust mancher unsicherer Kantonisten hat sich als heilsam erwiesen, an Eifer für die nationale Erneuerung läßt sie sich sicher von keiner anderen Partei übertreffen. Weniger übersichtlich liegen die Verhältnisse beim früheren Zentrum, dort gerade kämpfen heute zwei Seelen in der Brust, und es ist ein Zeichen für die Macht der Imponderabilien, über das wir uns nur freuen können, wenn gewisse Führer es nicht in Grund und Boden ruiniert haben, und es bis jetzt nur die Absplitterrung der bayerischen Volkspartei zu beklagen hat. Es ist aber falsch zu behaupten, daß die katholische Volkspartei bei den Wahlen besonders gut abgeschnitten habe, gerade bei der höheren Bewertung der Imponderabilien und dem durch die katholische Weltanschauung begünstigten Ausgleich des Standes- und der Klassengegensätze hätte diese Partei einen großen Stimmenzuwachs aufweisen müssen, während sie sich doch nur eben gehalten hat. Fast täglich beklagt zudem die Kölnische Volkszeitung die Zurückhaltung der katholischen Akademiker und die Abwanderung der katholischen Jugend zur deutschnationalen Partei. Sie kennt die Gründe viel besser wie ich, aber sie darf sie nicht nennen, weil sie sich nicht hat durchsetzen können, ja, sich jenem Geist unterwerfen hat müssen, den die Germania vertritt und der nichts mit der katholischen Weltanschauung zu tun hat, viel aber mit der Gestaltung des politischen Lebens in Deutschland seit etwa Anfang des jetzigen Jahrhunderts. Die bayerische
270
Volkspartei, die sieb ja gegen den Berliner «Germanismus» aufgelehnt hat, hat seit der Münchener Räteherrschaft gerade in gebildeten Kreisen großen Zuwachs bekommen, die bayerischen parlamentarischen Verhältnisse liegen doch überhaupt unbestritten viel günstiger als die im Reiche oder gar in Preußen. Wer außer den Sozialisten oder der Frankfurter Zeitung würde bei Ihnen nicht ein Regiment Kahr dem preußischen parlamentarischen Chaos vorziehen? Und doch haben wir in Bayern die gleichen Parteien I Man kann, gerade der Jugend gegenüber, nicht genug auf das Beispiel der größten Weltreiche hinweisen, des römischen wie des britischen, die in den politischen Dingen so konservativ waren, daß sie an überlieferten Formen nur mit äußerstem Widerstreben etwas geändert haben. Der Geist ist es, der auch in politischen Dingen lebendig macht — füllen Sie Ihren neuen Wein ruhig einstweilen in die alten Schläuche 1 Veränderungslustig waren stets die romanischen Nationen und im Altertum die Griechen, von den interessanten Balkanstaaten können wir hier wohl ruhig absehen. Bei den Romanen aber darf man nicht verkennen, in wie starkem Widerspruch die zähe Tradition in allen kulturellen Dingen zu der politischen Wandelbarkeit steht. Unter dem Helme des Kreuzfahrers wie unter der phrygischen Mütze schauen uns immer die wohlbekannten gallischen Züge entgegen I Nun aber die Griechen I Wir haben uns ja bei jeder politischen Misere damit getröstet, daß wir die Hellenen des neuzeitlichen Europas seien. Da ist nun zunächst unbestreitbar, daß beiden Völkern die Lösung eines metaphysischen Problems weit leichter gelingt, als die eines politischen. Auch jenen verbissenen Parteihaß, der selbst die Perser und die Römer zur Bekämpfung der eigenen Landsleute herbeiruft, dürfen wir ruhig ebenfalls unser Eigen nennen. Auch wir richten über siegreiche Feldherrn, wenn sie irgendein Gebot der heiligen Demokratie außer acht gelassen haben, und auf dem Richterstuhl thront, hier wie dort, als Beauftragter des Volkes «Kleon der Gerber». Freilich, einen Sokrates zu richten, waren wir noch nicht in der Lage, weil unsere Weltweisen sich unserem politischen Leben in angemessener Entfernung zu halten pflegen, mögen sie auch die Demokratie in ihrem Herzen so verachten, wie einst der göttliche Plato oder unser Schopenhauer. Unser ganzes öffentliches Leben wird aber wie in Athen vergiftet
271
durch jenes Laster, das einst Bismarck als das häßlichste des Deutschen bezeichnete, durch den Neid. Sowie eine große Persönlichkeit, der Gaben des Geistes oder des Willens die Führerrolle zu verbürgen scheinen, in unserem öffentlichen Leben erscheint, sofort erhebt sich in unserer ganzen Großstadtpresse die Meute, die den Helden verbellen will. Bismarck wäre in einem demokratischen Preußen keine Woche Ministerpräsident geblieben; wenn heute ein Ludendorff oder ein ;Tirpitz, ja, nur ein erfolgreicher Geschäftsmann wie Stinnes, seine Stimme erheben will, gleich wird er niedergeschrien, ja, dem Ausland als Feind der Freiheit denuziert. Auch einen Clemenceau würde Deutschland nie ertragen haben, die eigene Partei hätte ihn gestürzt, wenn er auch noch so laut das radikale Programm verkündet hätte. Selbst gegen gesellschaftliche Vorzüge richtet sich der Neid — mag er sich auch als Klassenbewußtsein drapieren, nie würde eine deutsche Demokratie Aristokraten, wie sie das britische Weltreich begründet haben, die Vorzüge ihrer Kinderstube verzeihen. Wie soll nun unser Vaterland gesunden, wenn es keine Führer mehr vertragen kann? Wird es nicht auch dem Untergang und der Verödung entgegegehen wie einst das Athen der Sykophanten ? Unserm Vaterlande ist unter seinen vielen Dichtern nie der befreiende Aristophanes erstanden, der den Kleon in all seiner Gespreiztheit, oder manche unserer politischen Damen den wohlverdienten öffentlichen Gelächter preisgegeben hätte! Aber wir sind ja gar keine Griechen, unsere Professoren und Studenten gleichen den Athenern so wenig, wie das deutsche Gretchen der Aspasia. Wozu also die Maskarade, zu der freilich Weimar selbst uns verleitet hat, wenn es vermeinte, unser formal so wenig begabtes Volk nach den Grundsätzen der Aesthetik zu Hellenen bilden zu können. Viel eher dürfte das englische Beispiel für uns maßgebend sein, das vor allem freie, gefestigte Persönlichkeiten erziehen will, wie sie jedes Volk als politischer Führer bedarf. Nur wollen wir, im Gegensatz zum Briten, das kostbarste Gut deutscher Tradition, unseren Idealismus, bei der Erziehung unserer Jugend nicht uns rauben lassen, es muß möglich sein, daß sich »mit Schwärmers Ernst des Weltmanns Blick« verbindet. Des Idealismus bedürfen wir zur Uberwindung des Materialismus, ehe dieser erstickt ist, gibt es keine Erneuerung des politi-
272
sehen Lebens. Man hat mit Recht beklagt, daß vor dem Kriege jene bürgerlichen Schichten, die im normalen politischen Leben wegen ihrer größeren Bildung und Erfahrung die führenden sein müssen, zu sehr im materalistischen Hasten nach Geld und Genuß sich ihrer Pflichten gegen das Vaterland entzogen haben. Zum Teil erklärt sich diese Zurückhaltung aus dem berechtigten Vertrauen gerade des deutschen Bürgertums zu der Staatskunst eines Bismarcks, zu unserem vorbildlichen Beamtentum und Offizierkorps. Um so tragischer wird seine Schuld, daß es byzantinisch die Entlassung seines gewaltigen Staatsmannes mit einer Ruhe hinnahm, die als beispielloser Undank selbst das Erstaunen unserer Feinde erregte. Damals schon hat der gebildete Teil unserer Nation auf die ihm gebührende Führerrolle — vor allem doch aus Mangel an aufrechtem Mut — verzichtet, und dieser Verzicht wurde die Quelle alles künftigen Unheils. Nach dem bekannten Gesetz der Furcht vor der Leere wurden nun die bürgerlichen Parlamentarier, die zu Bismarcks Zeiten unserem politischen Leben einen großen Zug verliehen, deren rednerische Leistungen auf einer sehr ansehnlichen Höhe gestanden hatten, durch neue Typen ersetzt, die dem materialistischen Zuge der Zeit ganz entsprechend, den parlamentarischen Beruf wie irgendeinen anderen ergriffen, weniger aus innerer Anteilnahme, als um davon zn leben. Das so hoch gepriesene englische Vorbild ward verlassen, man bewilligte sich Diäten. Daß Geldgeschäfte und parlamentarisches System ausgezeichnet harmonieren, ist eine uralte Erfahrung. Darin liegt auch die tiefere Begründung für die Vorliebe, die die hohe Finanz und ihre Presse für das demokratische System hegen. Gern sei zugegeben, daß wir Deutsche in der finanziellen Ausmünzung demokratischer Freiheit ebenso hinter höher entwickelten Staaten zurückstehen, wie in der Heuchelei des scheinheiligen Cant, der auch zu den unentbehrlichsten Requisiten demokratischer Staatskunst gehört, die ja auf der «Tugend» begründet zu sein behauptet, jener Cant dessen man zur Massensuggestion im In- und Auslande so dringend bedarf. Gerade in der Anwendung der suggestiven Mittel sind und bleiben wir Stümper. Dafür aber ist bei uns, im klassischen Lande der Vereine, dessen politisches Leben wie das wirtschaftliche und gesellige in einer Unzahl von Sitzungen und Beratungen sich abspielt, ein anderer Typ zu unheimlicher Entfaltung gelangt, nämlich der Herr Sekretär. Er ist etwa die Mutter des Vereins wie der
273 Herr Feldwebel die der Kompagnie war. Sie kennen sie alle, jene geschäftigen Arbeitsbienen, ohne die ein Vereinsleben, vom Einkassieren und Listenführen bis zur Vorbereitung der Haupt- und Staatsaktionen einfach undenkbar ist. Und diese Persönlichkeiten pflegen um so mehr zu wachsen, je mehr der eigentliche Präsident der Gesellschaft, sei es durch Geschäftüberhäufung oder Uberalterung, an Einfluß abnimmt, sie sind die geborenen Surrogate der eigentlichen Führer. Wir leben ja im Zeitalter der Surrogate, warum sollte dies nicht auch für unser politisches Treiben gelten ? Schon die Vorbildung des Herrn Sekretärs ist eine durchaus neuzeitliche, praktische. In kurzen Kursen, die der Volkswitz treffend mit dem Wort «Schnellbleichen» bezeichnet, wird er gelehrt, über alle Fragen, rein politische, wirtschaftliche und soziale, einige dem Parteiprogramm entnommene Redensarten zu machen und so hauptsächlich ist jene formal wie stofflich gleich fürchterliche Beredsamkeit entstanden, die die Häuser der Parlamente leert, alle Gebildeten abschreckt, bei minder Anspruchsvollen aber eben wegen der Sprachfertigkeit und der eingestreuten Phrasen, die so gebildet klingen, noch immer großen Beifall findet. Auch ihre Humorlosigkeit imponiert. Nichts ist mir im Auslande mehr aufgefallen, als die leichteren Umgangsformen und die größere Beredsamkeit der fremden Politiker. Ich weiß wohl, daß es ein tiefer Zug deutschen Wesens ist, das Formale zu verachten, daß wir uns einen gewissen Idealismus nur unter einem schlicht sitzenden Rock vorstellen können und daß seit Turnvater Jahns Zeiten echtes Deutschtum mit weltmännischen Formen geradezu als unvereinbar erscheint. Zu einer so hohen Auffassung haben wir aber das Ausland noch nicht erziehen können. Ich fürchte, wenn wir nächstens den Herrn Parteisekretär als Diplomaten ins Ausland schickcn, werden wir mit ihm ebenso schlechte Erfahrungen machen, wie vor dem Kriege mit der Propaganda für deutsches Wesen durch die Massen Wanderungen gewisser Gesellchaftsklassen aus Berlin W. nach der Riviera und dem Nordkap. Aber vorläufig hat der Herr Sekretär gar kein Bedürfnis, in das ihm schon wegen der Fremdsprachigkeit unheimliche Ausland zu gehen, er fühlt instinktiv, daß in dem fremden Milieu ihn sein Selbstgefühl im Stich lassen könnte. In unseren Versammlungen aber fühlt er sich heimisch, und sendet ihn gar das Vertrauen seiner Mitbürger in das Parlament, so wachsen Betriebsamkeit und Selbstschätzung ins ungemessene. Der bekannv. Bohl, Reden und Anlsätie.
18
274
ten Suggestion der Wandelgänge aller Parlamente, diese für das Zentrum der Welt zu halten, erliegt man um so leichter, je geringer das geistige Gepäck ist, das man mit sich führt. In der Tat ist ja der Einfluß unserer Parlamente ins unendliche gewachsen, seitdem 1918 der blinde Hödur sich für mündig erklärt und alle Sicherheitsventile beseitigt hat, die früher in ersten Kammern und der Regierungsinitiative, im Veto usw. bestanden. Eine Eigentümlichkeit des Herrn Sekretärs im parlamentarischen Leben ist, daß seine Bedeutung durch seine Massenhaftigkeit quadratisch wächst, er fühlt sich immer dann gehoben, wenn er unter seinesgleichen ist. Es ist die sich gegenseitig stützende Kameradschaft, schon durch das trauliche «Du», das jeden Zwang der Form aufhebt, genügend gekennzeichnet — auch mit den Herren Kollegen der anderen Parteien fühlt er sich wesensverwandt, eine Hand wäscht die andere, und so ist die Voraussetzung für den Kuhhandel dieser schönen Seelsn geschaffen. Aber nicht erst im Parlament wird der Sekretär zur Macht, diese beruht noch mehr auf seiner Stellung in den großen Berufsorganisationen, die in unserem politischen Leben eine immer steigende Bedeutung gewinnen und schon drohen, sich als die eigentlichen Herrscher der Gegenwart zu erweisen. Freilich spricht man vom gleichen Wahlrecht, das freie Bahn für jeden Tüchtigen schafft, in der Wirklichheit aber zwingen schon im Wahlkampf die großen Organisationen den hilflosen Parteien nicht nur ihre Forderungen, sondern auch ihre Kandidaten auf, drohen sonst sich der Stimme zu enthalten oder zum Nachbar zu gehen. Und diese Kandidaten sind eben in erster Linie die Herrn Sekretäre — so wird für Nachwuchs gesorgt. Die Organisationen beaufsichtigen nach der Wahl erst recht die von ihnen abhängigen Parteien, und so ist es ein offenes Geheimnis, daß Herr Erzberger seine so unheilvolle Stellung diesen Kameradschaften verdankt, die vielleicht schon morgen seine politische Rehabilitierung verlangen werden. Was hat nun aber dieses ganze Getriebe mit Programmen oder gar den Fragen der Weltanschauung zu tun ? Es sind lediglich Klasseninteressen, die entscheidend zumal die wirtschaftliche Gesetzgebung beeinflussen sollen. Steht nicht zu befürchten, daß immer mehr gerade die ideal Gesinnten einer solchen Politik den Rücken kehren oder doch in unfruchtbarer Opposition sich der Mitarbeit am Wiederaufbau entziehen werden ? An dieses stillose Milieu dagegen ist umso besser
275 angepaßt jener Berufspolitiker, der kein anderes Interesse kennt, als seine Wiederwahl, weil nur sie ihm Bedeutung verschaffen und erhalten kann. Der angeborenen Farbe ermangelt er, er gleicht vielmehr jenen zarten Fischen im Korallenmeere, von denen wir staunend in biologischen Werken lesen, daß sie ein schlichtes Grau annehmen, wenn sie sich in die Ritzen der schützenden Riffe flüchten, während sie in leuchtendem Grün zwischen Tangwiesen herumschwärmen, um endlich zwischen den Korallen selbst in feurigstem Rot zu erstrahlen. Ist mir doch ein vielgewandter Parlamentarier bekannt, der auf der Schattenseite seines Weinbau treibenden Wahlkreises eifrig für die Zuckerung der Weine eintrat, während er auf dessen Sonnenseite laut den reinen, unverfälschten Rebensaft pries. Diese Charakterlosigkeit des politischen Lebens muß die wahren Führer des Volkes immer mehr zurückschrecken, und so werden die Parlamente an wirklichen Sachverständigen immer ärmer, je größer ihre Bedeutung für das wirtschaftliche, soziale und leider auch für das außenpolitische .Leben unseres Volkes wird. Wie verhängnisvoll das wirken kann, zeigen gerade jetzt vatikanische Dokumente, die der Jesuitenpater Leiber in den »Stimmen der Zeit« über die vor allen von Erzberger veranlaßte Friedensresolution unseres Reichstages veröffentlicht. Die Aktion des Nuntius Pacelli, dessen Freundschaft sich ja einst Erzberger auf der Tribüne im Reichhause glaubte rühmen zu dürfen, scheiterte durch denselben Mann ebenso wie an dem mangelnden Scharfblick des Reichstages für die Psychologie des feindlichen Auslandes. Nie aber hätte sich eine Mehrheit von einem Erzberger leiten lassen, wenn wir in unserem Parlamente führende Männer besäßen, die über die Wandelgänge hinausschauen können, die nicht befangen sind in den armseligen Künsten einer Taktik, deren Ziel die Staatskrippe ist. Die Schuld, daß uns solche Männer im Parlamente fehlen, trifft einzig und allein die deutschen Wähler, die über das Mittelmaß hervorragende Persönlichkeiten nicht ertragen wollen. Wie groß ist hier der Abstand zu den westlichen Ländern, in denen gerade in den Fragen der auswärtigen Politik bewährte Führer einer Wiederwahl auch dann sicher sein können, wenn sie nicht nur auf die Interessen des sie entsendenden Krähwinkels eingeschworen sind oder von irgendeiner Gewerkschaft begönnert werden. Es hätte 1917 auch in Deutschland Männer genug gegeben, die sich auf die Psychologie des Auslandes verstanden, aber 18*
276
freilich nicht bei der Mehrheit des Reichstages. Vielleicht öffnet doch Freund Martin Spahn seine Aktenmappe und erzählt, wie nicht nur der Münchener Nuntius, sondern auch ein sehr maßgebender österreichischer Kirchenfürst dringend um den Besuch eines anderen katholischen Politikers gebeten hat als des ewigen Erzbergers, dessen Tätigkeit in Wien er als für einen glücklichen Ausgang des Krieges verhängnisvoll ansah. Aber man fand keinen anderen, Erzberger blieb Führer, die Mehrheit hielt mit jener Verbissenheit an ihm fest, die unsere Parteikämpfe gerade deshalb auszeichnet, weil sich unsere Herren Politiker kein eigenes sicheres Urteil zutrauen und deshalb eigensinnig den von ihnen nicht zu widerlegenden Gründen ihr Ohr verschließen. Deutschlands innere Zerrissenheit, das Fehlen eines einheitlichen Willens, die Schwäche Österreichs wurden offenbar, und mit einem Schlage gab es in Frankreich einenUmschwung, wie der Jesuitenpater uns erzählt. Wird sich nun Herr Erzberger als Opfer der Jesuiten seinen protestantischen und aufgeklärten Mitbürgern hinzustellen suchen ? Wer aber entlastet die Mehrheit ? Entlastet ? Mehrheiten haben nur ihren Wählern gegenüber eine Verantwortung, denn die werden in ihrem dunklen Drange sich des rechten Weges schon bewußt sein, so lautet das demokratische Dogma. Wer jedoch glaubt denn heute noch an diese Lehre, wie es im achtzehnten Jahrhundert jene mehr oder minder pathologischen Denker in ihren Dachstuben oder jene sentimentalen Damen und Herren in ihren Salons getan haben, bis der revolutionäre Schrecken sie aus ihren Träumen aufweckte ? Den Mehrheiten sind wir aber trotzdem heute mit Gut und Blut ausgeliefert, sie können durch einen Beschluß aus Recht Unrecht machen, und da sie ja den Willen der Nation darstellen, gibt es gegen sie keine Berufung. Gewiß kann man an ihr Gerechtigkeitsgefühl appellieren! Aber mit welchem Erfolg? Es war eine parlamentarische Mehrheit Englands, die einst die grausamen Verfolgungen der Iren billigte, und glaubt jemand, daß etwa für die Aufhebung des Edikts von Nantes sich in Frankreich keine Mehrheit gefunden haben würde ? Ist nicht heute das Selbstbestimmnngsrecht der Völker feierlich proklamiert, wird aber den Tirolern und Salzburgern gestattet, sich für Deutschland zu erklären ? Es wird ihnen dies Recht vorenthalten mit Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Parlamente in den versagenden Ländern! Wie in allen Fragen, so ist auch in diesen die Mehrheit von allen Schranken des
277
Rechts entbunden, wie nur je ein Zar, sie ist eben souverän! Oder ist sie es doch nicht ? Stehen nicht drohend hinter ihr jene großen Organisationen, die durch wirtschaftliche Kämpfe auch politisch die Mehrheit unter ihr Joch zwingen wollen, wie es uns heute der englische Generalstreik so eindringlich lehrt? Auch diese Wirtschaftsverbände sind von den Kathedem der ganzen Welt überschwänglich als die Bewahrer des sozialen Friedens gepriesen worden. Sollten nicht heute diese Gelehrten eines besseren belehrt sein? Nein — in dogmatischen Dingen ist die Demokratie der ganzen Welt unbelehrbar, sie preist nach wie vor die Verdienste der Mehrheit und Gewerkschaften aus Prinzip, ja, sie muß an ihre, sei es absurden» Grundsätze glauben, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will — oder doch zu glauben vorgeben. Das ist ja gerade jener Cant, der heute den Glauben an die alten Imponderabilien, den kategorischen Imperativ der freiwilligen Unterordung unter das höhere Ganze einer christlichen Weltordnung ersetzt, — freilich nur ein Surrogat für ethische Werte, ein Surrogat aber, mit dem man im Namen der Zivilisation die Welt sich zu unterwerfen hoffen darf. Niemand wird doch zu bestreiten wagen, daß wir nach zwei Jahrtausenden gesamteuropäischer Geschichte, nach jahrhundertlangen erfolgreichen Kämpfen für Freiheit und Gleichheit auf der Höhe der Zivilisation stehen! Oder wäre jemand so vermessen, zu behaupten, daß etwa im Germanentum des Tacitus die Menschenrechte des Individiums relativ besser geschützt waren, als heutzutage im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts?
Seltsame Staatskunst. Deutsche Stimmen, 3. Juli 1931. Nach dem Tode erschienen.
Mit vollem Recht hat der Herr Reichskanzler Wirth die notwendige Einigung unseres Volkes im Hinblick auf die auswärtige und die innere, nicht zuletzt die wirtschaftliche Lage im Reichstag und in Essen betont, aber um so seltsamer ist es, daß er alles, was in seinen Kräften stand, getan hat, um Zwiespalt in die Reihen nicht nur der Parteien, sondern auch der Stände und, was noch schlimmer ist, der Stämme unseres Volkes hineinzutragen. Er verlangt Autorität für die Regierung, diese kann, da ihr sozusagen alle Macht fehlt, nur im Vertrauen auf ihren guten Willen und ihre Geschicklichkeit begründet sein, äußere Erfolge oder die Weihe einer historischen Tradition fehlen ihr ja ohnehin, und ob des Ministers Rathenaus wirtschaftliche Theorien begeisterte Hingabe finden werden, darf einstweilen billig bezweifelt werden. Nur schlichte Werktagsarbeit kann die Regierung leisten, nur sie darf von ihr gefordert werden und mehr verlangt von ihr kein Mensch. Es ist ja der Fluch unserer Revolution, daß sie keine Ideen gehabt hat, das bißchen Neue, was sie der staatenfeindlichen russischen Steppe entlehnt hat, das Rätesystem, bewährt sich immer weniger und Herr Erzberger hat mit seinem durchaus nicht neuen Gedanken der Solidarität bis jetzt nur ein Schlagwort geschaffen, das in den Reihen seiner eigenen Partei Verwirrung anrichtet. Der größte Teil unseres Volkes ist aber durch die Enttäuschung des Krieges und der Revolution so müde geworden, daß er nur möglichst unbehelligt von außen und von der Regierung sein Leben fristen möchte. Bei unserem unerhörten geistigen, moralischen, politischen und wirtschaftlichen Bankrott ist die Regierung nur eine Art Massenverwaltung, die die laufenden Geschäfte möglichst geräuschlos abzuwickeln hat. Geistige Erneuerung erhofft von ihr kein Kundiger, der in unserem parlamentarischen Betrieb Bescheid
279
weiß. Denn der ganze Parlamentarismus ist unserem Volke fremd, dieses Treiben stößt die Führernaturen unseres Volkes immer mehr ab, sie glauben ihre Kräfte zur Erneuerung des Vaterlandes, sei es in praktischen Berufen oder in wissenschaftlicher Tätigkeit viel besser verwenden zu können als im Parteikampf oder gar in den öden Zänkereien der Parlamente, die seit der Revolution noch viel abstoßender geworden sind als je zuvor. Es kann gar nicht genug betont werden, daß in dieser in erschreckendem Maße wachsenden Mißachtung des Parlamentes und damit der parlamentarischen Regierung in den geistig führenden Schichten der Nation eine ernste Gefahr besteht, nicht nur für das System — um das es ja kaum schade wäre — sondern für das Vaterland. Die Politik droht zum Metier zu werden, das man Parteisekretären überläßt, man geht vielleicht zur Wahlurne, um für eine möglichst entschiedene Opposition zu stimmen und zahlt höchstens noch einen Parteibeitrag und abonniert auf eine Zeitimg — von innerlicher Anteilnahme, Begeisterungsfähigkeit und also auch Opferwilligkeit ist wenig Rede mehr. Wie man aber ohne Opferwilligkeit der Steuerzahler die gewaltigen Lasten nur durch Furcht nnd Zwang aufbringen will, ist unerfindlich. Gewiß, man kann neue Vorschriften erlassen, neue Beamte aufstellen und so die Lasten vermehren, — also das bisherige System fortsetzen, das zum Bankrott führt. Begeisterte Vaterlandsliebe wäre zum Aufbau unerläßlich, aber der Herr Reichskanzler scheint es doch geradezu darauf anzulegen, die Begeisterungsfähigsten im nationalen Lager vor den Kopf zu stoßen, er drängt ja geflissentlich die nationalen Elemente in die Opposition, vertieft die Kluft, verbreitert den Riß, der durch unser Volk geht, durch einseitigste Parteilichkeit. Oder glaubt er durch seine Reden irgendjemand von der Rechten überzeugen oder gar versöhnen zu können? Ist aber diese Nichtachtung der nicht demokratisch Fühlenden auch nur aus parlamentarischen Gründen gerechtfertigt? Gewiß, die Deutschnationale Partei wird er sich kaum zur Freundin machen können, wird es aber bei Fortsetzung dieser Taktik möglich sein, die Unterstützung oder auch nur die Duldung der Deutschen Volkspartei zu gewinnen? Die Sitzung unseres Zentralvorstandes in Hamburg hat bewiesen, daß eine solche Unterstützung für die Partei Selbstmord bedeuten würde, ihre Wähler würden einfach zu Hunderttausenden zur Opposition abschwenken. Nur ihrer Tra-
280 ilition als Hüterin der katholischen Weltanschauung hat es die Zentrumspartei zu verdanken, daß sie die Belastung durch Erzberger noch so weit ertragen hat, immerhin hat ihre Wählermasse lange nicht in dem Maße zugenommen, wie sie bei der immer höheren Schätzung der religiösen Imponderabilien hätte erwarten dürfen. Daß die Geschäftspolitik des Zentrums gerade die Akademiker abstößt, wird von seiner Parteipresse täglich beklagt, die wohl weiß, daß man Stimmen nicht nur zählen, sondern wägen muß, und daß man auf die Dauer mit den abgedroschenen ReporterPhrasen keine Parteipolitik treiben kann, wenn die geistig Führenden und zumal die Jugend grollend beiseite stehen. Aber auch in den bäuerlichen Kreisen des Zentrums bricht sich immer mehr die Überzeugung Bahn, daß dank Herrn Erzberger die heutige Parteileitung die Gefangene der Gewerkschaften ist. So scheinen gar die Reden des Herrn Reichskanzlers zu erweisen, daß er lediglich auf die Stimmung in Arbeiterkreisen Rücksicht zu nehmen gewillt ist. Der Bauer, praktisch veranlagt, schreibt diese Vorliebe nicht den altruistischen Motiven der Herren Wirth nnd Rathenau zu, sondern der Tatsache, daß die Arbeiter besser organisiert sind. Daher vergißt er die konfessionell trennenden Momente und schließt sich immer mehr in freien Verbänden zusammen. Insofern ist Herr Wirth freilich ein Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Leider ist es aber in Bayern gerade umgekehrt. Die Absplitterung der bayerischen Volkspartei ist ohne Zweifel der härteste Schlag, der bisher das Zentrum getroffen hat. Es ist — bei aller Reichstreue der Bayern — auch vom nationalen Standpunkt bedauerlich, wenn sich bayerische Sonderparteien bilden; käme es zum Bruch, so würde dieser durch solche partikulare Gebilde erleichtert. Es war seinerzeit Herr Erzberger, der durch seine Stuttgarter Rede ö l ins Feuer goß, seitdem hat kaum ein Staatsmann das bayerische Empfinden mehr verletzt als eben der heutige Reichskanzler. Er fühlt sich wohl in seiner demokratischen Erleuchtung über alle Vergangenheit zu erhaben, als daß er von einem Bismarck die geradezu ängstliche Rücksicht auf Bayern lernen würde. Da sagt ihm das Erzbergersche System des Niedertrampeins schon eher zu, zumal es den Beifall der Sozialisten und der Frankfurter Zeitung findet. Sonst hätte er doch wohl die Beantwortung auf die Interpellation wegen der Ermordung des bayerischen
281 Abgeorfneten Gareis so lange vertagt, bis sich Anhaltspunkte ergeben hätten, daß die fluchwürdige Tat politischen Motiven entsprungen wäre. Es war »Wirtschaft, Horatio«, der Herr Reichskanzler legte Wert darauf, sich möglichst bald vor der äußersten Linken zu verbeugen, ihr zu beweisen, daß das demokratische Bündnis der Gewerkschaften mit Herz und mit Hand geschlossen ist und daß er der Linken die Nibelungentreue bis zum letzten Atemzug zu halten gewillt ist, selbst wenn dabei die Einheit der Nation für das Reich gefährdet würde. Denn der Herr Reichskanzler ist nicht nur Taktiker, er kennt Imponderabilien. Der Einfluß der Umgebung, in der ein Staatsmann aufgewachsen ist, wird ja von Naturwissenschaft und schon seit Montesquieu auch von der Geschichte mit Recht außerordentlich hochgeschätzt. Herr Wirth stammt aus Baden. Keiner der deutschen Staaten hat so wenig geschichtliche Erinnerungen als dieses Land. Von Frankreichs Gnaden wurde es auf das Zehnfache vergrößert, weite kurpfälzische und vorderösterreichische Lande wurden im unterworfen, die einst eine stolze Geschichte gekannt hatten und die jetzt, mit kleinen Fürstentümern und Städten vereinigt, neues Leben nur aus einer Verfassung schöpfen konnten. Gerade nationalgesinnte Liberale werden die großen Verdienste willig anerkennen, die sich Baden um die kleindeutsche Sache erworben, daß die Badener selbst darauf stolz waren, ist nur begreiflich. Aber dieser Stolz wurde, als das Reich gegründet war, nunmehr zu einem Gefühl des demokratischen Erwähltseins, man glaubte in Baden das Musterländle freiheitlicher Entwicklung zu sehen, und nun möchten seine Politiker diese freiheitliche Begnadung auch in den größeren Verhältnissen des Reiches bewähren. So tragen sie denn in die so viel größeren Verhältnisse das Enge der Heimat und nach echt deutcher Sitte auch die Abneigung des Nachbarn gegen das größere Bayern hinein, ebenfalls Herr Erzberger, der trotz aller theoretischen Reichsbürgerschaft der große Schwabe blieb, Bayern besonders auf dem Strich hatte. Es ist doch wohl kein Zufall, daß unsere Kanzler der neuen Ära mit Vorliebe aus der südwestdeutschen Ecke genommen werden, wo sich mangels geschichtlicher Tradition die Demokratie in Reinkultur entwickeln kann. Der Doktrinarismus scheint die den neuesten Verhältnissen am besten angepaßte Politik. Der Doktrinarismus ist aber nicht nur die Anschauimg
282 philiströser Enge, er ist auch das Bekenntnis der Entwurzelten. Daher findet sich Großstadtpresse, sozialistisches und anderes Weltbürgertum so vortrefflich mit unitaristischen Neigungen zusammen. Ich glaube daher, daß der Herr Reichskanzler in der Tat eine geistige Verwandtschaft mit der Frankfurter Zeitimg und auch mit der Berliner Art hat und daß es ihn nicht nur als Politiker freut, wenn er vom Vorwärts eine gute Note bekommt. Leider wächst aber bei allen Bodenständigen die Abneigung gegen Berlin und den dortigen Unitarismus, und es ist eine Ironie der Weltgeschichte, daß gerade das einst so partikularistische Zentrum jetzt im Bunde mit der ihr doch der Weltanschauung nach diametral entgegengesetzten Sozialdemokratie sich zum Werkzeug dieser der ganzen geschichtlichen Veranlagung unseres Volkes widersprechenden Zentralisierung macht. Der süddeutschen Enge zwischen Biberach und dem Breisgau konnte wohl die unitarische Idee entspringen und dort theoretisch ausgestaltet werden, die Kunst des Staatsmannes aber kann nur in größeren Verhältnissen erlernt werden, und um Staatskunst handelt es sich heute und nicht um Theorie oder demokratische Rhetorik. Gleich der Anfang der Essener Rede des Herrn Reichskanzlers zeigte, wie gefährlich rhetorische Effekte auch in Fragen auswärtiger Politik sind. Er varierte dort das Thema Ultimatum, und stellte dem Londoner Ultimatum jenes österreichische gegen Serbien vom Jahre 1914 gegenüber, von dem alles Unheil ausgegangen sei. Damit hat er doch die Schuld am Weltkrieg einfach Österreich zugeschoben und dabei ganz vergessen, daß dem Ultimatum doch das Attentat von Sarajewo vorangegangen ist. Ich muß gestehen, daß kaum Bethmann je eine unglücklichere rhetorische Figur gebraucht hat, der einzige Unterschied ist der, daß heutzutage Kanzlerreden noch viel weniger ernst genommen werden als ehedem, besonders wenn sie die auswärtige Politik betreffen. Wie ganz anders ist das Aufsehen, wenn ein Lloyd George sich einmal über Kriegsschuld in einer oder der anderen Weise äußert. Es beschleicht uns doch ein gewisses unheimliches Gefühl, wenn einem solchen Kanzler auch die auswärtige Politik unseres Reiches unterstehen sollte. Bei Beurteilung der inneren Lage hat er aber in einer Weise die Objektivität vermissen lassen, wie wir es seit den schlimmsten Tagen der Revolution nicht mehr gewohnt waren. Während gerade in diesen
283
Tagen ein Hölz verurteilt wird, findet der Kanzler kein Wort der Anklage gegen den Aufruhr in Mitteldeutschland, er, dem der wirtschaftliche Wiederaufban des Reiches anvertraut ist, wendet sich mit keiner Silbe gegen den sinnlosen Generalstreik, der doch durch die Teilnahmslosigkeit der Arbeiter selbst zusammengebrochen war, er stellt rhetorisch das befeindete Deutchland dem reaktionären Bayern gegenüber! Als Parteipolitiker sucht er auf die Linke zu wirken, ein parlamentarischer Führer hätte dagegen die Basis der Mehrheit zu verbreitern, ein Staatsmann die politische Einheit der Nation unter allen Umständen zu wahren gesucht. Er hätte ja nur die Interpellation wegen Gareis hinter die wegen Oberschlesien und der Sanktionen zurückzustellen brauchen und er hätte die ganze Nation um sich geschart, die in diesen Fragen nicht nur einig ist, sondern schmerzlich auf ein erlösendes Wort von oben wartete. Statt dessen wurde der Gegensatz zwischen Nord und Süd vertieft, die Achtung vor dem Parlament aufs schwerste erschüttert, ohne daß er seine eigene Stellung im mindesten gefestigt hätte. Unsere Deutsche Volkspartei hatte doch ihre Mitarbeit so ehrlich angeboten, daß uns Älteren manchmal scheinen möchte, es wäre windestens taktisch richtiger, sich mehr umwerben zu lassen I Jene Demokraten, die die Bedürfnisse des praktischen Lebens kennen — das sind freilich nicht die Redakteure der Frankfurter Zeitung — haben die Bedingung ihrer Mitarbeit an die der Deutschen Volkspartei geknüpft, dasselbe wünscht ein großer Teil des Zentrums, und doch ließ sich der Doktrinarismus des Herrn Reichskanzlers diese Gelegenheit der Sammlung entgehen, nur um dem Radikalismus zu schmeicheln, ohne Rücksicht auf die außerparlamentarische Wirkimg. Oder glaubt er etwa wirklich, durch seine Drohungen den inneren Frieden herbeizuführen? Steht nicht viel mehr zu befürchten, daß diese Staatskunst einmal immer mehr Wähler in das Lager der Ultras von rechts und links treibt und den Parteifanatismus nur noch mehr entflammt? Statt zu beruhigen, hat Herr Wirth öl ins Feuer gegossen und die Gefahr erhöht, daß der Gedanke des Faszismus auch bei uns Boden findet, daß schließlich bewaffnete Haufen im Lande der Denker und Dichter mit Gummiknüppeln die politischen Fragen austragen. Muß man in Berlin den vergiftenden Hader der Parteien gerade in dem Augenblick schüren, wo in Oberschlesien Deutsche aller
284 Parteien für ihre Heimat leiden, haben wir nicht im besetzten Gebiet das Beispiel der Einheitsfront vom Konservativen bis zum Sozialisten zu nationalen Zwecken gegeben? An dem deutschen Parlament aber ist es, die nationale Würde und Einheit zu wahren, wenn es nicht die deutsche Unfähigkeit zur politischen Gestaltung aller Welt ebenso vor Augen führen will, wie einst der polnische Reichstag.
Anmerkungen. Anmerkung i .
(Zn Seite 31, Ziffer 1):
Fürst Bülow hatte bei seinem Sturz im Juli 1909 den Konservativen, die im Verein mit dem Zentrum seine Blockpolitik, namentlich bei der Reichsfinanzreform, heftig bekämpft hatten, das Wort zugerofen: bei Philippi sehen wir uns wieder! Die Ausschaltung des Zentrums im Reiche hatte eine Annäherung an den Linksliberalismus bedingt, was das Mißtrauen der Konservativen erweckte, die im preußischen Landtag nahezu die Mehrheit hatten. Als im Jahre 1908 die Ankündigung einer preußischen Wahlrechtsreform erschien, sahen die Konservativen darin den Auftakt einer Liberalisierung auch der preußischen Politik, so sorgfältig Bülow auch vermied, den Linksblock auf die preußischen Verhältnisse zu übertragen. Das Verhältnis zu Bülow wurde allmählich sehr gespannt. Hier lagen, zugleich mit der offenbaren Ungeschicklichkeit des Auswärtigen Amtes in der Daily Telegraph-Angelegenheit, wobei der Kanzler den Kaiser preisgab, die Ursachen zum Zusammenbruch der Politik des vierten Kanzlers. Ihre Nachwirkungen zeigten sich jedoch noch in dem heftigen Kampfe, den bei den Reichstagwahlen 1912 Liberale und Sozialdemokraten gegen Zentrum nnd Konservative führten. Daher das Urteil über »den unheilvollsten deutschen Kanzler, dem wir die Zerrissenheit der nationalen Parteien verdanken«. Anmerkung 2. (Zu Seite 77, Ziffer 2): Stürmer galt, wenn auch vielleicht nicht vollkommen zu recht, im Herbst 1916 als »Friedensministerpräsident.« Sein Verbleiben im Amte wäre also für Deutschland wichtiger gewesen als die Frage, ob die Duma in ihrem Kampfe mit ihm Sieger bliebe. Anmerkung 3. (Zu Seite 80, Ziffer 3): Robert de Jouvenel, la République des Camarades. Grasset, Editeur. 1914.
Paris,
Bernard
Anmerkung 4. (Zu Seite 124, Ziffer 4): Vergleichszahlen aus dem Sommer 1922, Bestellungskosten von einem Morgen Weinberg: Geld- und NaturalSchödlingsStallrinng ohne etwa nötige lehne beUmpftmg Gaben von kfinitl. Dünger Mk. 6,934.— Mk. 6,060.— Mk. 6,000.— Inzwischen sind auch diese Zahlen weit überholt.
286 Anmerkung 5. (Zu Seite 172, Ziffer 5): Emilia Galotti, 4. Anzug, 7. Auftritt: Glauben Sie mir, wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren. — Anmerkung 6. (Zu Seite 183, Ziffer 6): Der Antrag Preysing wurde durch den Freund des Gefallenen, Freiherrn Moritz zu Franckenstein in folgender Form in der Kammer der Reichsräte am 23. April 1918 eingebracht: Die k. Staatsregierung wolle beim Bundesrat dahin wirken, 1. daß eine etwa zu erreichende Kriegsentschädigung vor allem dazu verwendet wird, am Kriegsteilnehmer, die in Folge der Einwirkung des Krieges in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet sind, durch einmalige oder fortlaufende Zuwendungen nach Möglichkeit zu unterstützen; 2. daß im übrigen das ganze Renten- und Kriegsfarsorgewesen alsbald auf eine neoe, den veränderten Zeit- und Wirtschaftsverhältnissen entsprechende Grundlage gestellt werde. Begründung, Zu 1. Auch unverwundete und unbeschädigte Krieger werden in dem Maße, in dem sie der Heimat und damit der Wahrung ihrer eigenen Interessen entzogen waren, in gewissem Sinne geschädigt aus dem Felde zurückkehren. E s ist Ehrenpflicht des Vaterlandes, die schweren Schäden dieser Art durch Erleichterung neuer wirtschaftlicher Wurzelfassung nach Möglichkeit auszugleichen. Zu 2. Die Vorschriften, auf denen die Kriegsfürsorgemaßnahmen beruhen, gegenüber nicht mehr den gegenwärtigen Zeit- und Wirtschaftsverhältnissen. Insbesondere entspricht die grundsätzliche Regelung der Rentenbemessung und des Rentenverfahrens nicht mehr der derzeitigen Zusammensetzung des Heeres und den Erfordernissen einer zeitgemäßen Rechtsanwendung.
BAYERN M. DOEBERL BAYERN UND DEUTSCHLAND ZUERST ERSCHIEN:
BAyERN UND DIE DEUTSCHE FRAGE IN DER EPOCHE DES FRANKFURTER PARLAMENTS *
A. SAHRMANN PFALZ ODER SALZBURG?
PARTEIGESCHICHTE DEUTSCHER STAAT UND DEUTSCHE PARTEIEN FESTSCHRIFT FÜR FRIEDRICH MEINECKE *
OTTO WESTPHAL WELT- UND STAATSAUFFASSUNG DES DEUTSCHEN LIBERALISMUS 4 LUDWIG MAENNER KARL GUTZKOW UND DER DEMOKRATISCHE GEDANKE
R. OLDENBOURG / MÜNCHEN-BERLIN
HISTORISCHE AUFSATZE UND ESSAyS W, ANDREAS GEIST UND STAAT * "FRIEDRICH V. BEZOLD AUS MITTELALTER UND RENAISSANCE *
GEORG DEHIO KUNSTHISTORISCHE AUFSATZE * MAX LENZ VOM WERDEN DER NATIONEN VON LUTHER ZU BISMARCK WILLE, MACHT UND SCHICKSAL * FRIEDRICH MEINECKE PREUSSEN UND DEUTSCHLAND IM 19. U. 20. JAHRHUNDERT * HERMANN ONCKEN HISTORISCH-POLITISCHE AUFSATZE UND REDEN * HEINRICH V. SYBEL VORTRAGE UND ABHANDLUNGEN
R. OLDENBOURG / MÜNCHEN-BERLIN