Rechtstheoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit: Aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet [1 ed.] 9783428538645, 9783428138647

Der Autor rekonstruiert das rechtsstaatliche Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit aus systemtheoretischer Sicht und

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German Pages 273 Year 2013

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Rechtstheoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit: Aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet [1 ed.]
 9783428538645, 9783428138647

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 262

Rechtstheoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit Aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet

Von Teng-Chieh Yang

Duncker & Humblot · Berlin

TENG-CHIEH YANG

Rechtstheoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit

Schriften zur Rechtstheorie Heft 262

Rechtstheoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit Aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet

Von Teng-Chieh Yang

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Wintersemester 2011/2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13864-7 (Print) ISBN 978-3-428-53864-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83864-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2011 / 2012 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Meinem verehrten Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dieter Grimm gilt mein allererster Dank, der sich nur zum Teil in Worte fassen lässt. Als herausragender Lehrer und beeindruckende Persönlichkeit hat er mich und diese Arbeit in unschätzbarer Weise gefördert und unterstützt. Er hat mir über diese Arbeit hinaus geduldig und unermüdlich mit Anregungen, Kritik und Rat zur Seite gestanden, verständnisvoll viel Vertrauen entgegengebracht und besonders großzügigen Freiraum gewährt. Ich danke ihm ganz herzlich für die gemeinsame Zeit. Ein weiterer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert für die Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderer Dank gilt auch der Friedrich-Naumann-Stiftung, die mit einem Promotionsstipendium meine Arbeit förderte. Darüber hinaus danke ich dem Verein der Richter des Bundesverfassungsgerichts, der mit einem Zuschuss meine Arbeit unterstützte. Nicht zuletzt möchte ich der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft meinen Dank für den Druckkostenzuschuss aussprechen, durch den die Veröffentlichung dieser Arbeit ermöglicht wurde. Zutiefst Dank schulde ich meinen Eltern und meiner Frau. Ohne ihre bedingungslose Unterstützung und ihren unerschütterlichen Rückhalt wäre ein solches Projekt nicht zu verwirklichen gewesen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im August 2012

Teng-Chieh Yang

Inhaltsverzeichnis Einleitung13 A. Gegenstand und Bedeutung der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 B. Gang der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Erster Teil

Rechtstheoretische Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit20

A. Das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . 20 I. Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit im liberalen Zeit alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Absolutismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Rechtsstaat und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Wahrung des Rechts als Aufgabe der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . 22 4. Unabhängigkeit des Richters gegenüber der Exekutive und der Le gislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Entwicklung bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Problematik der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neu tralität der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Problematik des Verhältnisses der Rechtsprechung zur Politik . . . . 33 3. Problematik der begrenzten Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 B. Richterliche Unabhängigkeit im Lichte der Ausdifferenzierung des Rechts. 39 I. Ausdifferenzierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 a) Rechtssystem als Kommunikationssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Offene Geschlossenheit des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Funktion des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Differenzierung zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und juristische Kom munikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Rechtsauslegung und -anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 (1) Unentbehrlichkeit von Wertungen und Gestaltungen in der Rechtsauslegung und -anwendung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

8 Inhaltsverzeichnis (2) Der spezifisch rechtliche Charakter von Wertungen und Ge staltungen in der Rechtsauslegung und -anwendung . . . . . . 55 c) Juristische Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (1) Juristischer Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (2) Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien  . 61 (3) Günstigere Argumentationsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Differenzierung zwischen Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Rechtseigene Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Erzwingbares Recht vs. autonome Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 II. Funktion der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 III. Bedeutungsgehalt und Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit . . 80 1. Richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Rich ters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems. . 80 2. Gerichtsverwaltung und richterliche Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . 86 a) Auswahl und Beförderung der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Dienstaufsicht und Disziplinargewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Neues Steuerungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Richterliche Unabhängigkeit innerhalb der Judikative . . . . . . . . . . . 97 4. Richterliche Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren   . 101 5. Institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6. Innere Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit des Richters . 106 IV. Erneute Betrachtung der Probleme im herrschenden G ­ rundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 1. Erneute Betrachtung der Problematik der Rechtsbindung, Objektivi tät, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . 108 2. Erneute Betrachtung der Problematik des Verhältnisses der Recht sprechung zur Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Erneute Betrachtung der Problematik der begrenzten Unabhängig keit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Zweiter Teil

Gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit122

A. Allgemeine Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 I. Ausdifferenzierung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung des Rechts und der richterlichen Unabhängigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Differenzierung zwischen Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Differenzierung zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als gesellschaft liche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Inhaltsverzeichnis9 III. Große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 IV. Kommen noch andere gesellschaftliche Bedingungen hinzu? . . . . . . . . 138 B. Testfälle – Deutschland und China  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 II. Ausdifferenzierung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richter lichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Verschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik im Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Ausdifferenzierung des Rechts in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . 146 (1) Positivierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (2) Verwissenschaftlichung des Rechts und Professionalisierung der juristischen Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (3) Funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (4) Rechtstheoretische Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 (5)  Grenzwahrung zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts in der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (6) Anerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis seitens der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (7) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. China  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Geschichtlicher Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (1) Verschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik im kaiserlichen China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (2) Schicksal des Rechts im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Beginnende Ausdifferenzierung des Rechts in der Gegenwart . . 180 (1) Beginnende Entwicklung eines gemeinsamen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (2) Beginnende Professionalisierung der Rechtsprechung . . . . . 191 (3)  Formal-institutionelle Nichtanerkennung der richterlichen Befugnis zur Rechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 (4) Verschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik auf dem Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 (5) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 III. Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als gesellschaft liche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a) Unveränderlichkeit des Rechts und Positivierung des Rechts. . . 206 b) Gesetzesbindung des Richters  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Gesetzgebung im alten China. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

10 Inhaltsverzeichnis b) Volle Durchsetzung der gesetzgeberischen Gestaltbarkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 IV. Große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Be dingung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Bedeutung des Rechts in der Antike und im Mittelalter . . . . . . . 215 b) Juridifizierung der Kirche und Aufstieg der gelehrten Juristen . . 217 c) Recht im Zeitalter der Aufklärung und des Liberalismus . . . . . . 218 2. China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 a) Stellenwert des Rechts im alten China. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Stellenwert des Rechts im modernen China . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Zusammenfassung und Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 A. Deutsche und Englische Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 B. Chinesische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Abkürzungsverzeichnis a. A.

anderer Ansicht

Abs. Absatz AcP

Archiv für die civilistische Praxis

ALR

Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art. Artikel Aufl. Auflage BBG Bundesbeamtengesetz Bd. Band Beschl. Beschluss BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BRRG Beamtenrechtsrahmengesetz BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

C. a.

China aktuell

D. Digesten ders. derselbe dies. dieselbe Diss. Dissertation DRiG

Deutsches Richtergesetz

DRiZ

Deutsche Richterzeitung

Fn. Fußnote GG Grundgesetz GVG Gerichtsverfassungsgesetz HdbVerfR

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland

HRG

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

Hrsg. Herausgeber IBA

International Bar Association

i. V. m.

in Verbindung mit

12 Abkürzungsverzeichnis JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristische Zeitung

LexMA

Lexikon des Mittelalters

n. Chr.

nach Christus

NJW

Neue juristische Wochenschrift

ÖzöR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

Pr. Principium RL

Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre

Sp. Spalte StPO Strafprozessordnung u. a.

unter anderem

v. Chr.

vor Christus

vgl. vergleiche VR Volksrepublik VRÜ

Verfassung und Recht in Übersee

ZchinR

Zeitschrift für Chinesisches Recht

zit. zitiert ZPO Zivilprozessordnung ZRG GA

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung

Einleitung A. Gegenstand und Bedeutung der Forschung Es geht in der vorliegenden Arbeit zuerst um eine rechtstheoretische Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts. Auf dieser Grundlage wird dann auf gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit eingegangen. Im Unterschied zu einer rechtsdogmatischen Arbeit, die sich um eine spezielle Ausprägung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit in einem bestimmten Rechtssystem kümmert, handelt es sich bei einer rechtstheo­ retischen Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit letztlich nicht um eine solche spezielle Ausprägung, sondern um das allgemeine Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit, das in Rechtsstaaten institutionalisiert wird und werden soll, also um das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit überhaupt. Es geht darum nur um Grundsatzfragen der richterlichen Unabhängigkeit, also um Fragen über Funktion, Sinn und Zweck der richterlichen Unabhängigkeit, um hinter solchen Fragen stehende Fragen über das Wesen, die Stellung und Eigenschaften der Rechtsprechung sowie das Verhältnis zwischen Recht und Politik, aber auch um Grundsätze für die Bestimmung des Bedeutungsgehalts und der Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit. Das bedeutet nicht, dass Detailfragen, die nur unter Berücksichtigung der jedem Land eigenen Umstände geklärt werden können, wie die Frage nach der Ausgestaltung der Gerichtsverwaltung unter Beachtung der richterlichen Unabhängigkeit, in einer rechtstheoretischen Untersuchung nicht berührt werden sollen. Eine solche Untersuchung zielt freilich nicht darauf, solche Detailfragen zu lösen, kann sie jedoch zur Klärung von Grundsatzfragen behandeln und ihrer Lösung damit Richtung und Maßstab geben. Außerdem schließt die Unterscheidung einer rechtstheoretischen Untersuchung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit von dessen rechtsdogmatischer Darstellung nicht aus, dass rechtsdogmatische Aussagen auch rechtstheoretisch verwertbar sind. Diese werden aber kritisch auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit überprüft, nämlich darauf hin, ob sie nicht nur für eine besondere Ausprägung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit in einem bestimmten Rechtssystem, sondern auch für ein allgemeines, von besonderen Ausprägungen abstrahierendes Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit gelten.

14 Einleitung

Es gibt wenig rechtstheoretische Literatur zur richterlichen Unabhängigkeit.1 Eine grundlegende rechtstheoretische Rekonstruktion des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit ist aber von entscheidender Bedeutung. Sie bietet eine solide Grundlage für die rechtsdogmatische Ausarbeitung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit. Sie bietet eventuell einen Schlüssel zur Lösung rechtsdogmatischer Kontroversen über dieses Prinzip. Es besteht zwar ein grundlegendes Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit, auf das man sich in rechtsdogmatischen Ausführungen üblicherweise stützt.2 Dieses herrschende Grundverständnis steht aber heutzutage einerseits in solchen Ausführungen oft im Hintergrund, wird also nicht kritisch unter die Lupe genommen und systematisch begründet und entfaltet; es enthält andererseits, wenn man genauer hinschaut, ernst zu nehmende Probleme.3 Kornhauser ist der Ansicht, dass Meinungsverschiedenheiten über den Bedeutungsgehalt und die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit in der Tat tief in unterschiedlichen Auffassungen zu grundlegenden Fragen wie solchen über das Wesen der Rechtsprechung wurzeln.4 Diese Ansicht ist nicht unbegründet. Die von ihm daraus gezogene Schlussfolgerung, dass der Begriff der richterlichen Unabhängigkeit nutzlos sei,5 geht aber zu weit. Die richtige Schlussfolgerung sollte vielmehr lauten, dass eine intensivere Auseinandersetzung mit Grundsatzfragen der richterlichen Unabhängigkeit, mit deren rechtstheoretischer Rekonstruktion unerlässlich ist. Diese Rekonstruktion ist für die rechtsvergleichende Forschung zur richterlichen Unabhängigkeit nicht weniger wichtig. Sicher wird das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit in verschiedenen Ländern nicht in gleicher Art und Weise institutionalisiert. Das hindert aber nicht an der Erarbeitung einer allgemeinen Grundtheorie der richterlichen Unabhängigkeit. Man kann ja nur unterschiedliche Ausprägungen der richterlichen Unabhängigkeit als solche identifizieren und miteinander vergleichen, wenn man ein allgemeines, von solchen besonderen Ausprägungen abstrahierendes Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit voraussetzt.6 Die rechtstheoretische Rekonstruktion des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit wird in der vorliegenden Arbeit aus einem neuen Blickwinkel, nämlich von der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts aus, vorgenommen. In dieser Perspektive werden die alte Unterscheidung von Recht 1  Zu nennen sind zum Beispiel verschiedene Beiträge in: Burbank / Friedman (Hrsg.), Judicial Independence; Russell, in: Judicial Independence, S. 1 ff.; Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters. 2  Ausführlich zu diesem Grundverständnis unten Erster Teil, A. I. und II. 3  Ausführlich unten Erster Teil, A. III. 4  Kornhauser, in: Judicial Independence, S. 45 (48 f.). 5  Kornhauser, in: Judicial Independence, S. 45 (53 f.). 6  Russell, in: Judicial Independence, S. 1 (2 f.).



A. Gegenstand und Bedeutung der Forschung15

und Politik und die von Recht und Moral rekonstruiert und gesellschaftstheo­ retisch interpretiert. Das ausdifferenzierte Recht wird als ein Kommunika­ tionssystem, als ein soziales System der modernen Gesellschaft angesehen.7 Diese gesellschaftstheoretische Perspektive wurde vor allem durch Niklas Luhmann und Gunther Teubner in die Sozialwissenschaften und die Rechtswissenschaft eingeführt und dort rege diskutiert,8 bisher aber noch nicht auf die rechtstheoretische Interpretation der richterlichen Unabhängigkeit angewandt. Genauso wie bei der rechtstheoretischen Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit geht es bei der Untersuchung gesellschaftlicher Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit auch um verallgemeinerungsfähige Aussagen. Es handelt sich um die Frage, welche gesellschaftlichen Bedingungen vorhanden sein müssen, damit die richterliche Unabhängigkeit sich in irgendeiner Form irgendwo durchsetzen kann. Gesellschaftliche Bedingungen unterscheiden sich von rechtlichen Bedingungen im Sinne von denjenigen rechtlichen Regelungen, deren Sinn und Zweck unmittelbar in der Garantie und Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit besteht. Rechtliche Bedingungen in diesem Sinne wurden schon viel diskutiert. Sie umfassen zum Beispiel rechtliche Vorkehrungen für die persönliche Unabhängigkeit wie eine rechtliche Sicherung der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit des Richters, rechtliche Regelungen zur Beschränkung der Dienstaufsicht über Richter, die angemessene rechtliche Ausgestaltung eines richterlichen Auswahl- und Beförderungssystems. Das Vorkommen solcher rechtlicher Regelungen bedeutet dennoch schon ein Stück Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit. In der vorliegenden Arbeit geht es aber um diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit, die Anerkennung und das Ernstnehmen des Unabhängigkeitsprinzips in der Gesellschaft eingeschlossen, erst möglich wird und ihren Nährboden finden kann. Nur unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen können rechtliche Vorkehrungen für die richterliche Unabhängigkeit entstehen, sich behaupten und ernst genommen werden. Dass rechtliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit im erwähnten Sinne nicht zu gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit zählen, bedeutet nicht, dass Recht bei der Frage nach gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt nicht in Betracht käme. Denn das hieße, dass Recht außerhalb der Gesellschaft existierte. Ganz im Gegenteil: 7  Ausführlich

unten Erster Teil, B. I. 1. a) und b). u. a. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft; Teubner, Recht als autopoietisches System; Teubner (Hrsg.), Auto­ poietic Law; Krawietz / Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. 8  Vgl.

16 Einleitung

Recht stellt eine wichtige Facette der Gesellschaft dar.9 Was das Recht einer Gesellschaft prägt, wie etwa die Eigenschaft und der Stellenwert des Rechts, kann gesellschaftliche Entwicklungen, darunter auch die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit, durchaus beeinflussen. Es kann also auch eine gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit sein. Erkenntnisse über gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit tragen dazu bei, die richterliche Unabhängigkeit historisch zu verstehen. Erst in der Neuzeit wurde die richterliche Unabhängigkeit in west­ lichen Ländern gefordert und erkämpft. Eine solche Neuerung suggeriert die Frage, warum die richterliche Unabhängigkeit damals institutionell sichergestellt werden und sich durchsetzen konnte. Das historische Novum „verweist ja auf den Eintritt bestimmter Bedingungen, die vorher nicht gegeben waren“10. Die Frage nach gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit ist nicht nur historisch sinnvoll, sondern hat auch gegenwartsund zukunftsbezogene Bedeutung. Es ist eine interessante Frage, ob gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse oder Entwicklungstendenzen in westlichen Rechtsstaaten zuungunsten der richterlichen Unabhängigkeit trotz ihrer anscheinenden Etablierung wirken. Tatsächlich gibt es Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit der richterlichen Unabhängigkeit. Willi Geiger hat beispielsweise den Verlust einiger Bedingungen für die richterliche Unabhängigkeit in Deutschland beklagt.11 Die Beantwortung der Frage, ob gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit schwinden oder nicht, setzt jedoch Erkenntnisse über solche Bedingungen voraus. Die Frage nach gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit wird umso dringender nötig, wenn man den Blick nicht nur auf westliche Rechtsstaaten beschränkt, sondern auf die ganze Welt erweitert. In manchen Ländern ist die richterliche Unabhängigkeit schon als normatives Prinzip umstritten. Diejenigen, die die Unabhängigkeit des Richters in der Volksrepublik China fordern, müssen etwa mit dem sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung verbreiteten und sogar unter Intellektuellen vorhandenen Zweifel konfrontiert werden: Wäre es, da die Bekämpfung des Machtmissbrauchs und der Korruption der Justiz ein Gebot der Stunde ist, nicht angemessener, die Kontrolle über die Richter zu verschärfen statt die Unabhängigkeit der Richter zu fordern?12 Die niedrige Akzeptanz für die 9  Cotterrell,

in: The Sociology of Law, S. 21 (24 f.). in: Die Zukunft der Verfassung, S. 31 (31). 11  Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (59 ff.). 12  Auf diesen Zweifel hingewiesen haben He Weifang, Yunsong zhengyi, S. 182; Gewirtz, Independence and Accountability of Courts, 2003, im Internet unter: http: /  / www.law.yale.edu / documents / pdf / Intellectual_Life / CL-independence__eng. pdf (Stand: 13.8.2012), S. 25 f. 10  Grimm,



A. Gegenstand und Bedeutung der Forschung17

richterliche Unabhängigkeit ist nicht ausschließlich der zügellosen Machtpolitik oder der fehlenden Einsicht zuzuschreiben. Man sollte auch auf den tiefer gehenden Grund, auf mangelnde gesellschaftliche Bedingungen eingehen. Aber auch in denjenigen Ländern, die die richterliche Unabhängigkeit als Rechtsprinzip anerkennen, kann sich dieses Prinzip vielerorts schwer in der Wirklichkeit durchsetzen. Rechtliche Regelungen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit erlangen kaum Effektivität und entpuppen sich als Scheinregelungen. Die fehlende oder schwache Durchsetzungsfähigkeit der richterlichen Unabhängigkeit ist oft auf mangelnde gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen. Gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit werden bisher kaum erforscht. Nicht wenige nützliche Hinweise auf sie stecken zwar in der rechtssoziologischen und rechtshistorischen Forschung, solche Hinweise finden sich aber kaum unter der Überschrift Gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit oder Ähnlichem, kommen also vereinzelt und unsystematisch im Zusammenhang anderer Themen vor. Der Beitrag von Willi Geiger trägt zwar die Überschrift Voraussetzungen der richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland, vermischt aber den Hinweis auf gesellschaftliche Bedingungen mit der Darlegung von recht­ lichen Bedingungen im erwähnten Sinne und persönlichen Bedingungen, die sich auf Persönlichkeit und Personstruktur des Richters beziehen, zusammen.13 Die hier vorgenommene rechtstheoretische Rekonstruktion der richterlichen Unabhängigkeit und Untersuchung von gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern in einem engen Zusammenhang miteinander. Verschiedene Interpretationen der richterlichen Unabhängigkeit können durchaus zu unterschiedlichen Auffassungen über gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit führen. Ohne sich vorher darüber klar zu sein, was unter der richterlichen Unabhängigkeit zu verstehen ist, wird man bei der Suche nach gesellschaftlichen Bedingungen der richter­ lichen Unabhängigkeit orientierungslos. Eine rechtstheoretische Erfassung des Prinzips der richterlichen Unabhängigkeit bildet deshalb den festen Ausgangspunkt und die solide Grundlage für eine Untersuchung gesellschaftlicher Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit. Auch Geigers Ausführungen zu Voraussetzungen der richterlichen Unabhängigkeit, darunter auch zu gesellschaftlichen Voraussetzungen, liegt die Erläuterung der Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde.14 13  Geiger, 14  Geiger,

in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 ff. in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (53 ff.).

18 Einleitung

Darüber hinaus steht man bei der Ermittlung gesellschaftlicher Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit vor der schwierigen Frage nach einer geeigneten Strategie oder Vorgehensweise, nämlich vor der Frage, wie man solche Bedingungen finden kann.15 Ohne eine angemessene Vorgehensweise könnte man einerseits Bedingungen finden, die nur eine mittelbare und ferne Beziehung zur richterlichen Unabhängigkeit haben, andererseits aber Bedingungen übersehen, die unmittelbar und untrennbar mit der richterlichen Unabhängigkeit zusammenhängen. Die rechtstheoretische Rekonstruktion der richterlichen Unabhängigkeit aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts könnte diese Schwierigkeit überwinden und eine angemessene Strategie darstellen. Denn diese Rekonstruktion ist gesellschaftstheoretisch eingebettet. Sie bedeutet die Betrachtung der richterlichen Unabhängigkeit im Kontext des Rechtssystems als eines ausdifferenzierten sozialen Systems der modernen Gesellschaft. Sie kümmert sich um den Stellenwert der richterlichen Unabhängigkeit in der Gesellschaft. Damit bietet sie einen aussichtsreichen Weg zur Ermittlung von notwendigen unmittelbaren gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit. Die Doppelbeschäftigung mit rechtstheoretischen Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit und gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit hat hier noch den zusätzlichen Sinn, die große Bedeutung der rechtstheoretischen Forschung für die rechtssoziologische Forschung herauszustellen. Freilich braucht man bezüglich der Unabhängigkeit des Richters mehr Forschung, die die soziale Wirklichkeit ins Visier nimmt. Zu solcher Forschung gehört auch die Untersuchung der gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit. Solche Forschung steht aber keinesfalls gegen die kritisch vorgenommene rechtstheoretische Arbeit. „Das Verhältnis zwischen der Rechtstheorie und der Rechtssoziologie ist nicht ein antagonistisches, sondern ein kooperatives.“16 Eine von Realitätsverschätzungen freie Rechtstheorie kann die Rechtssoziologie nicht entbehren.17 Aber umgekehrt muss sich die Rechtssoziologie, die Recht als ihren Gegenstand hat, auch auf die Rechtstheorie stützen. In Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit fordert etwa Peretti zwar einerseits mehr Forschung, die sich an Sozialwissenschaften wendet und empirisch fundiert ist,18 betont aber andererseits auch die Bedeutung der theoretischen Grundlage der richterliche Unabhängigkeit: „The weak empirical grounding of much of the 15  Vgl. Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (53); dort wird auch auf eine solche Schwierigkeit hingewiesen. 16  Krawietz, Das positive Recht, S. 23. 17  Krawietz, Das positive Recht, S. 25. 18  Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (121 ff.).



B. Gang der Forschung19

scholarship on judicial independence is, in part, a product of the failure to elaborate its theoretical underpinnings carefully and persuasively.“19

B. Gang der Forschung Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um rechtstheoretische Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit. Er gliedert sich wiederum in zwei Kapitel. Im Kapitel A. wird auf das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit eingegangen. Dieses Grundverständnis wird in seiner Entwicklung vom liberalen Zeitalter bis in die Gegenwart dargestellt. Dann werden einige wichtige Probleme in Bezug auf dieses Grundverständnis aufgezeigt. Im Kapitel B. wird die richterliche Unabhängigkeit aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts rechtstheoretisch rekonstruiert. Zuerst wird die Bedeutung der Ausdifferenzierung des Rechts ausgeführt. Diese Ausführungen stützen sich vor allem, aber nicht vorbehaltlos und ausschließlich auf Luhmanns Systemtheorie des Rechts. Sie beziehen sich auf die beiden wichtigsten Aspekte der Ausdifferenzierung des Rechts, die Differenzierung zwischen Recht und Politik und die zwischen Recht und Moral. Dann folgt die Erläuterung der Funktion der richterlichen Unabhängigkeit, welche in der Sicherung und Förderung der Ausdifferenzierung des Rechtssystems besteht. Anschließend wird die richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems aufgefasst und etwas Grundsätzliches über den Bedeutungsgehalt und die Reichweite der richter­ lichen Unabhängigkeit dargelegt. Zum Abschluss werden die Probleme des herrschenden Grundverständnisses der richterlichen Unabhängigkeit zu ihrer Lösung auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen nochmals erörtert. Im zweiten Teil der Untersuchung wird auf gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit eingegangen. Er gliedert sich wiederum in zwei Kapitel. Im Kapitel A. werden auf der Basis der vorstehenden rechtstheoretischen Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit die Ausdifferenzierung des Rechts, die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit allgemein herausgearbeitet und erläutert. Im Kapitel B. werden die herausgearbeiteten gesellschaftlichen Bedingungen an zwei Testfällen – Deutschland und China – überprüft. Es wird überprüft, ob die Entstehung der richterlichen Unabhängigkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts und die mangelnde richterliche Unabhängigkeit im gegenwärtigen China aus diesen Bedingungen erklärt werden können. 19  Peretti,

in: Judicial Independence, S. 103 (123).

Erster Teil

Rechtstheoretische Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit A. Das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit Das derzeit herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit hat seine Wurzeln im liberalen Zeitalter, in dem sie aufgekommen ist. Deswegen ist es sinnvoll, bei der Darstellung dieses Grundverständnisses zuerst auf seine liberalen Wurzeln zurückzugreifen und erst dann seine Entwicklung bis in die Gegenwart zu verfolgen. Nach dieser Darstellung werden dann einige Probleme in Bezug auf dieses Grundverständnis erläutert. I. Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit im liberalen Zeitalter 1. Absolutismus Im Zeitalter des Absolutismus beanspruchte der Monarch die Stellung als Souverän und als letzte Quelle für die Rechtsordnung und die Gewaltanwendung, um einen „Krieg eines jeden gegen jeden“1 zu vermeiden, um Frieden und Ordnung zu sichern und für Gerechtigkeit und Gemeinwohl zu sorgen, obwohl er in der Tat nicht immer seinen Willen gegen den Widerstand der Stände durchsetzen konnte.2 Er versuchte, Schritt für Schritt eine Vielzahl von räumlich, gegenständlich und funktional zerstreuten Herrschaftsrechten in seiner Hand zur umfassenden öffentlichen Gewalt zu vereinigen. Damit entstand ein neuartiges Herrschaftssystem, das im Gegensatz zur mittelalterlichen Herrschaft als Staat begriffen wurde.3 Der absolutistische Herrscher erhob Anspruch auf eine unbeschränkte Rechtsetzungsbefugnis, die die Mitwirkung der Stände ausschloss und über die bloße Konkretisierung und Fortbildung des geltenden alten Rechts hinausging. 1  Hobbes,

S. 96. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 29 f. 3  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (17); ders., in: Der Staat des Grundgesetzes, S. 145 (148 ff.). 2  Vgl.



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit21

Der Herrscher erklärte sich zum obersten Richter auf seinem Territorium und brachte die Gerichte unter seine Kontrolle. Er gab Richtern Einzelanweisungen und zog gegebenenfalls Prozesse an sich. Die Freiheit des Richters vom Befehl des Monarchen zugunsten der Rechtsunterworfenheit des Richters passte nicht in die Vorstellung des Absolutismus. In dieser war der Herrscher befugt, die Aufgabe der Rechtsprechung wahrzunehmen und dabei das geltende Recht zu korrigieren oder abzuändern. Folglich war ein später von Vertretern der richterlichen Unabhängigkeit scharf kritisierter Machtspruch eben auch ein Rechtspruch.4 2. Rechtsstaat und Gewaltenteilung Mit dem Aufschwung des Liberalismus entstanden die Idee des Rechtsstaates5 oder der rule of law und die Idee der Gewaltenteilung. Der Liberalismus betrachtete die individuelle Freiheit als Bedingung menschlicher Sinnerfüllung und Voraussetzung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls.6 Damit alle Bürger ihren Lebensentwurf nach eigenen Vorstellungen gestalten und ihre Sozialbeziehungen durch freie Vereinbarungen regeln konnten, sollte der Staat auf eine umfassende Regulierung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens verzichten und seine Aufgabe auf die Gewährleistung der gleichen Freiheit aller beschränken.7 Diese Vorstellung oder Erwartung stand hinter der Idee des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung. Diese Ideen stellten den Staat als Inhaber der umfassenden öffentlichen Gewalt nicht in Frage, bekämpften aber die Unbeschränktheit und Ungebundenheit der Staatsgewalt, die Machtkonzentration auf eine einzige Person oder Organisation und den daraus resultierenden Machtmissbrauch. In engem Zusammenhang mit diesen Ideen stand die Forderung nach der richterlichen Unabhängigkeit. Die Idee des Rechtsstaates oder der rule of law forderte, dass der Staat seine Herrschaft in Form des Rechts ausübt, dass er nach Recht und durch Recht herrscht,8 und hatte ihren Kern in der Bindung der Staatsgewalt an das Recht. Statt das Recht zur Disposition des Monarchen zu stellen, vertrat man die Auffassung, dass nur diejenigen Prinzipien und Regeln, die die Vernunft verkörpern und die gleiche Freiheit aller Bürger sichern, den Status des Rechts verdienen. Gedacht wurde dabei insbesondere an das von der gewähl4  Tigges,

S.  26 f.; Ogorek, Rechtshistorisches Journal 3 (1984), 82 (89 ff.). Rechtsstaatsbegriff wurde zwar erst im 19. Jahrhundert verwendet, sein Grundgedanke bildete sich aber schon im 18. Jahrhundert heraus; vgl. dazu Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 143 (144 ff.). 6  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (12 f.). 7  Näher dazu unten Zweiter Teil, B. IV. 1. c). 8  Grimm, in: Der Rechtsstaat, S. 9 (9). 5  Der

22

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

ten Volksvertretung beschlossene allgemeine Gesetz, das nicht auf einen Einzelfall bezogen ist, sondern für eine Vielzahl künftiger Fälle gilt. Mit dem parlamentarischen Ursprung des Gesetzes war die Hoffnung der Rückbindung des Staates an gesellschaftliche Interessen und der Freiheitsverträglichkeit des Gesetzes verbunden9 und mit der Beschränkung des Gesetzgebers auf den Erlass des allgemeinen Gesetzes die Erwartung, dass Selbstbegünstigung, unsachliche Diskriminierung, Willkür und Grundsatzlosigkeit verhindert werden.10 Darum wurde das allgemeine Gesetz als rational charakterisiert.11 Aber auch das common law, das in der Tat Richterrecht war, wurde in England und in den Vereinigten Staaten als Ausdruck der sich im Laufe von Jahrhunderten herausbildenden Vernunft und Freiheit hochgeschätzt.12 Die Idee der Gewaltenteilung war mit der Idee des Rechtsstaates untrennbar verbunden. Weil die konzentrierte Macht des Regenten die Rechtsbindung der Staatsgewalt und die gleiche Freiheit aller Bürger gefährdete, forderte man die Aufteilung der Staatsgewalt in gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt. Durch die Trennung, die wechselseitige Kontrolle und Hemmung von Einzelgewalten sollte die staatliche Machtausübung gemäßigt und der Rechtsstaat gesichert werden. 3. Wahrung des Rechts als Aufgabe der Rechtsprechung Nach der Idee des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung obliegt der gewählten Volksvertretung als Gesetzgeber die Rechtsetzung, während die Exekutive und die Judikative an das Recht gebunden sind. Während die Exekutive sich um die sachgemäße Erfüllung öffentlicher Aufgaben kümmert und dabei über die bloße Rechtsausführung hinausgeht, dient die Judikative ausschließlich der Wahrung des Rechts. Die Gerichte haben nur die Aufgabe, letztverbindlich zu entscheiden, was das Recht im konkreten Einzellfall ist und verlangt. Darum wurde der Judikative eine Schlüsselrolle für die Entfaltung der stabilitätserzeugenden, freiheitssichernden und machtbegrenzenden Wirkung des Rechts und die Verwirklichung des Rechtsstaates zugeschrieben. Vom Richter wurde erwartet, dass er nach Maßgabe des Rechts objektiv, rational, neutral und unparteiisch entscheidet. Dieser Erwartung lag die Vorstellung der Wesensverschiedenheit von Rechtsprechung und Politik zugrunde, nämlich die Vorstellung, dass es sich 9  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (26); Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S.  31 f. 10  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (25); Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 299; Tigges, S. 44. 11  Tigges, S. 44. 12  Seif, S.  174 ff.



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit23

bei der Rechtsprechung nur um das Erkennen des Rechts handle, nicht um oft umstrittene Zweckmäßigkeits-, Gemeinwohl-, und politische Überlegungen, die die Legislative und die Exekutive anstellen.13 Carl Joseph Anton Mittermaier, ein badischer liberaler Jurist und Politiker, sah die Natur der Justiz darin, dass „sie ohne eine Nebenrücksicht, ohne den einzelnen Fall im Zusammenhange mit dem Wohl des Ganzen zu würdigen, nur den einzelnen Fall für sich betrachtet, und, indem sie bloß das, was schon Gesetz ist, berücksichtigt, das Gesetz selbst handhabt“.14 Nach Carl von Rotteck, auch einem badischen liberalen Politiker und Gelehrten, „hat das Gericht durchaus kein anderes Interesse, als daß nach Recht entschieden werde“15. Die Rechtsprechung sei bloß „eine Funktion des Verstandes, kein Wil­ lensakt“16. Alexander Hamilton, einer der Verfassungsväter der Vereinigten Staaten, zog den Unterschied zwischen der Legislative, der Exekutive einerseits und der Judikative andererseits: „The executive not only dispenses the honors, but holds the sword of the community. The legislature not only commands the purse, but prescribes the rules by which the duties and rights of every citizen are to be regulated. The judiciary, on the contrary, has no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strength or of the wealth of the society; and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither force nor will, but merely judgment; and must ultimately depend upon the aid of the executive arm even for the efficacy of its judgments.“17

„Von den drei Staatsgewalten ist die richterliche“, so Montesquieu, „in gewisser Weise gar nicht vorhanden (en quelque facon nulle)“.18 Denn „die Richter sind […] nur der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht, willenslose Wesen, die weder seine Schärfe, noch seine Strenge zu mildern vermögen“.19 Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung, die das Gesetz anwendet, wurden als programmierende und programmierte Entscheidung auseinandergehalten. Der Gesetzgeber programmiert die Rechtsprechung durch den Erlass des allgemeinen Gesetzes. Das Gesetz muss dann in der Rechtsprechung als Entscheidungsprämisse übernommen und darf nicht problematisiert werden.20 Was das common law angeht, unterstrich Hamilton die Präjudizienbindung der Rechtsprechung: 13  Ogorek,

Richterkönig, S. 299 ff. AcP 4 (1821), 305 (314). 15  Rotteck, in: Das Staats-Lexikon, Bd. 8, S. 3 (19). 16  Rotteck, Vernunftrecht, Bd. 2, S. 305. 17  Hamilton, S. 575. 18  Montesquieu, S. 220. 19  Montesquieu, S. 225. 20  Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 133 ff.; Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (23 ff.). 14  Mittermaier,

24

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

„To avoid an arbitrary discretion in the courts, it is indispensable that they should be bound by strict rules and precedents, which serve to define and point out their duty in every particular case before them.“21

Durch die Rechtsbindung des Richters wollte man verhindern, dass der Richter selbst seine Entscheidungsprämissen bestimmte und dabei sein Eigeninteresse verfolgen oder Willkür üben konnte,22 und sicherstellen, dass der Richter ohne Ansehen der Person urteilen23 und sich gegenüber den Prozessparteien als unparteiischer und neutraler Dritter behaupten konnte. Die Gesetzesbindung des Richters stand auch im Zusammenhang der Rückkopplung der Rechtsprechung an den „allgemein vereinigten Willen“24, der institutionell im von der gewählten Volksvertretung beschlossenen allgemeinen Gesetz seinen Ausdruck fand. Die Beschränkung der richterlichen Aufgabe auf die Wahrung des Rechts war mit der Hoffnung verbunden, dass willkürliche Eingriffe in die persönliche Freiheit der Bürger seitens der Richter unterblieben. „The judiciary, from the nature of its functions“, so Hamilton, „will always be the least dangerous to the political rights of the constitution“25. Die Judikative, die ausschließlich der Wahrung des Rechts diente, wurde sogar als Garant für den Rechtsschutz und „Palladium der bürgerlichen Freiheit“26 angesehen. 4. Unabhängigkeit des Richters gegenüber der Exekutive und der Legislative Solche Vorteile, die mit der Beschränkung der richterlichen Aufgabe auf die Wahrung des geltenden Rechts zusammenhingen, drohten aufgehoben zu werden, wenn der Richter in eine politische Weisungskette eingebunden war. Das lag vor allem daran, dass die Politik oft in Versuchung kam, den Staat von der Rechtsbindung zu befreien. Man ging davon aus, dass die Exekutive und die Legislative ein Interesse daran haben können, dass sich die Verwaltung und die Rechtsprechung gegebenenfalls über das Recht hinwegsetzen. Denn die Einhaltung der Rechtsnorm kann eventuell den von der Norm ursprünglich verfolgten Zweck verfehlen oder die Verfolgung anderer politischer und administrativer Ziele verhindern oder erschweren oder andere unerwünschte Folgen haben. In solchen Situationen erscheint der Politik „der Rechtsgehorsam leicht wie leerer Formalismus, der die 21  Hamilton,

S.  581 f. in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (25). 23  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 299. 24  Kant, RL, § 46. 25  Hamilton, S. 575. 26  Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 3. 22  Grimm,



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit25

Verwirklichung materieller Gerechtigkeit hintertreibt“.27 Im Konflikt zwischen Gesichtspunkten der materiellen Gerechtigkeit, des Gemeinwohls und der Zweckmäßigkeit einerseits und rechtlichen Gesichtspunkten andererseits können die Exekutive und die Legislative dazu tendieren, den ersteren den Vorzug zu geben. Das Interesse der Politik daran, dass die Verwaltung und die Rechtsprechung dem Recht ausnahmsweise nicht folgen, kann aber auch aus machtpolitischen Gründen entstehen, zum Beispiel weil man seinen Ansehensverlust oder einen Nachteil für sich verhindern oder seinen politischen Gegnern oder Konkurrenten schaden will.28 Es wurde erkannt, dass die Exekutive und die Legislative, wenn sie dem Richter Weisungen geben und die Rechtsprechung kontrollieren können, diese Macht dann in Anspruch nehmen können, um ihr Interesse an der Außerachtlassung des Rechts zur Geltung zu bringen. Mittels ihrer Weisungs- und Kontrollmacht über die Rechtsprechung können sie bewirken, dass der Richter eine ihnen genehme Entscheidung trifft und dabei eventuell das Recht bei Seite schiebt. Dann ist der Staat kein verlässlicher Garant für die Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche. Willkürliche strafrechtliche Verfolgung oder Nichtverfolgung kann auch geschehen. Außerdem kann eine rechtliche Kontrolle der Verwaltung durch das Gericht nur dem Namen nach existieren, in Wahrheit aber nicht stattfinden und ein rechtswidriges Verwaltungshandeln ohne rechtliche Konsequenzen bleiben. Daher galt die Weisungs- und Kontrollmacht der Exekutive oder der Legislative über die Judikative als schwere Bedrohung für die Rechtsbindung des Staates. Die Untergrabung der staatlichen Rechtsbindung bedeutet, dass sich politische Macht auch entgegen dem geltenden Recht in Anordnungen oder Maßnahmen umsetzen kann. Soweit das Recht nicht auch dort eingehalten wird, wo man das Ergebnis der Rechtswahrung für schlecht oder schädlich oder ärgerlich hält, wird das Recht keine verlässliche Grundlage für die Lebensplanung der Bürger. Der Einzelne kann sein Verhalten nicht nach dem Recht einrichten.29 Er „erlebt eine Staatsgewalt, die das Recht nicht gleichmäßig und unparteiisch anwendet, als willkürlich“.30 Er muss befürchten, dass ihm die rechtlich gewährte Freiheit vorenthalten wird. Solcher Gefahren, die die Weisungs- und Kontrollmacht der Exekutive oder der Legislative über die Judikative heraufbeschwören kann, war man sich voll bewusst. Deswegen forderte man, dass der Richter seine rechtspre27  Grimm,

in: in: 29  Grimm, in: tik, S. 13 (24). 30  Grimm, in: 28  Grimm,

Der Rechtsstaat, S. 9 (10). Der Rechtsstaat, S. 9 (10). Der Rechtsstaat, S. 9 (9 f.); ders., in: Die Verfassung und die PoliDie Verfassung und die Politik, S. 13 (24).

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

chende Tätigkeit unabhängig von der Exekutive und der Legislative wahrnehmen können muss, damit er sich ausschließlich der Wahrung des Rechts widmen und objektiv, rational, neutral und unparteiisch entscheiden kann, damit sich infolgedessen die Herrschaft des Rechts (rule of law) statt der von Menschen (rule of men) und der von Willkür etablieren und die stabilitätserzeugende, freiheitssichernde und machtbegrenzende Wirkung des Rechts entfalten kann. Zur Sicherung der individuellen Freiheit und Begrenzung der staatlichen Macht forderte Montesquieu die Trennung der rechtsprechenden von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt: „Es gibt […] keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben.“31

Was mit der Trennung der richterlichen von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt gemeint war, waren einerseits die Beschränkung der richterlichen Aufgabe auf die Wahrung des Rechts und das Fernhalten der Gerichte von der Rechtsetzungs- und der Verwaltungsaufgabe und andererseits das Verbot der Einmischung der Legislative und der Exekutive in die Rechtsprechung, also die richterliche Unabhängigkeit. Die inhaltliche Steuerung der Rechtsprechung sollte nicht durch Einwirkung auf laufende Verfahren, sondern ausschließlich durch Erlass oder Änderung genereller Normen erfolgen, an die der Richter gebunden war.32 Die Berichtigung von Fehlern der Rechtsprechung war nicht in die Hand der Exekutive oder der Legislative zu legen, sondern dem gerichtlichen Instanzenzug zu überlassen. Nur wenn der Richter seine rechtsprechende Tätigkeit frei von der Weisung und Kontrolle durch die Exekutive und die Legislative wahrnahm, ließ sich, davon waren Verfechter der richterlichen Unabhängigkeit überzeugt, die mit dieser Weisung und Kontrolle verbundene Gefahr der Untergrabung der staatlichen Rechtsbindung bannen, die Rechtssicherheit gewährleisten und die rechtlich gewährte Freiheit verwirklichen. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit beinhaltete vor allem die sachliche Unabhängigkeit als Weisungsfreiheit und wendete sich insbesondere gegen die Exekutive. Machtsprüche des Regenten, Kabinettsjustiz und Ministerialjustiz wurden an den Pranger gestellt.33 Darüber hinaus setzte man 31  Montesquieu,

S. 215. in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (26). 33  § 175 Abs. 1 Satz 2 der Paulskirchenverfassung von 1849; Plathner, S.  7 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 1 f.; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S.  2 f.; Tigges, S.  62 ff. 32  Grimm,



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit27

sich für die Garantie des gesetzlichen Richters und das Verbot von Ausnahmegerichten ein, um die Umgehung der sachlichen Unabhängigkeit zu verhindern.34 Es wurde auch schon eingesehen, dass die richterliche Unabhängigkeit „nicht nur in Gefahr ist, wenn dem Richter Weisungen erteilt werden, sondern auch dann, wenn er wegen seiner Entscheidungen Nachteile für seine persönliche Rechtsstellung befürchten muß.“35 Deswegen forderte man zur Ergänzung der sachlichen Unabhängigkeit die persönliche Unabhängigkeit, die die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit des Richters einschloss.36 II. Entwicklung bis in die Gegenwart Im Laufe der Zeit hat sich die Vorstellung vom einerseits rechtsgebundenen und andererseits unabhängigen Richter gefestigt und verbreitet. Bis heute wird die richterliche Unabhängigkeit als ein tragendes Prinzip des Rechtsstaates,37 ein entscheidendes Element der Gewaltenteilung38 und eine unerlässliche Grundlage für den effektiven Rechtsschutz des Bürgers39 betrachtet. Ihr Sinn und Zweck wird in der Sicherung einer rechtsgebundenen, objektiven, rationalen, neutralen und unparteiischen Rechtsprechung gesehen.40 Sie gilt als Korrelat zur ausschließlichen Rechtsbindung und Gesetzesunterworfenheit des Richters.41 Weil der Richter nur das Recht befolgen soll, muss er „von jeder Bindung oder Abhängigkeit [frei sein], die der Verwirklichung des Rechts im konkreten Streitfall im Wege steht“42. „Man [will] also den unabhängigen Richter, aber man [will] ihn mit gezogenen Zähnen.“43 34  § 175 Abs. 2 der Paulskirchenverfassung von 1849; Plathner, S.  76 ff.; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 4. 35  Hesse, S. 237. 36  § 177 der Paulskirchenverfassung von 1849; Plathner, S.  98 ff.; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 3; Tigges, S.  73 ff. 37  Eichenberger, S.  56 ff.; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 1; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 14. 38  Burbank, Southern California Law Review 72 (1998 / 1999), 315 (318 ff.); Eckhoff, Scandinavian Studies in Law 9 (1965), 9 (22 ff.); Eichenberger, S.  64 ff.; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 1; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 14. 39  Eichenberger, S.  73 f.; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 2; Papier, NJW 2001, 1089 (1089); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 14. 40  Bettermann, in: Die Grundrechte, III / 2, S. 523 (525 f.); Eckhoff, Scandinavian Studies in Law 9 (1965), 9 (12 ff.); Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (54); Kiener, S.  2 ff.; Russell, in: Judicial Independence, S. 1 (9 f.). 41  Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (54); Eichenberger, S.  28 f.; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 25; Mishra, S. 251; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 21; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 68. 42  Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (54). 43  Ogorek, in: Rechtsprechungslehre, S. 333 (342).

28

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Freilich wird der Problematik des richterlichen Entscheidungsspielraums heute mehr Aufmerksamkeit geschenkt als zur Zeit der Entstehung der richterlichen Unabhängigkeit.44 Seit die Freirechtsbewegung subjektive Wertungen und Präferenzen des Richters bei der Rechtsauslegung und -anwendung herausgestellt und einen Willensakt in der Rechtsprechung gesehen hat,45 rücken schöpferische und gestaltende Elemente der richterlichen Tätigkeit immer stärker ins Bewusstsein. Solche Elemente werden umso deutlicher, als mit dem fortschreitenden gesellschaftlichen Wandel neuartige Rechtsprobleme immer häufiger entstehen, und als der Gesetzgeber in wohlfahrts- und vorsorgestaatlichen Tätigkeitsbereichen auf das exakte Festschreiben von Tatbestandsvoraussetzungen verzichtet und stattdessen nur Ziele und Gesichtspunkte vorschreibt, die von rechtsanwendenden Instanzen zu beachten und gegeneinander abzuwägen sind.46 Man achtet mehr darauf, der richterlichen Rechtsgestaltung einen angemessenen Platz bei der Rechtsprechung einzuräumen. Trotzdem will man die der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde liegende Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung sichern und am Verhältnis von Gesetzgebung und gesetzesanwendender Rechtsprechung als Trennung von programmierender und programmierter Entscheidung festhalten. Von der Interessenjurisprudenz bis in die Gegenwart hat man immer versucht, wenn auch von verschiedenen Ansätzen aus, die richterliche Entscheidungsfreiheit zu domestizieren und zum „denkenden Gehorsam“47 überzuleiten.48 Man hat sich einerseits um die Festigung der richterlichen Rechtsbindung bemüht, andererseits den Geltungsumfang der richterlichen Unabhängigkeit immer erweitert. Freilich gilt die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive bis heute als äußerst wichtig. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die Dienstaufsicht über Richter gelegt.49 Zum Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit gehört weiterhin auch die Unabhängigkeit gegenüber der Legislative. Aber anders als in der Entstehungszeit 44  Näher zur Problematik des richterlichen Entscheidungsspielraums und der richterlichen Rechtsbindung unten Erster Teil, A. III. 1. und Erster Teil, B. IV. 1. 45  Vgl. Kaufmann, in: Einführung, S. 26 (121 f.); Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S.  70 f. 46  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (30 f.); ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (172 f.). 47  Heck, S. 106 f., 201. 48  Vgl. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 71 ff. 49  Näher zur Dienstaufsicht unten Erster Teil, B. III. 2. b); vgl. außerdem Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 43 ff.; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 79 ff.; Papier, NJW 2001, 1089 (1091 ff.); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 33 ff.; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 22 ff.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S.  195 ff.



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit29

der richterlichen Unabhängigkeit findet die Unabhängigkeit des Richters innerhalb der Judikative nun besondere Beachtung.50 Der Richter soll nicht an Rechtsauffassungen anderer Richter selbst eines übergeordneten Gerichts gebunden werden, sondern seine eigene Rechtsauffassung der Entscheidung zugrunde legen und dabei auch von anderen Richtern und Gerichten abweichen dürfen. Die inhaltliche Kontrolle ist nur durch Entscheidungen von Rechtsmittelgerichten auszuüben.51 Durch diese Unabhängigkeit des Richters ist die Rechtspflege „konstitutionell uneinheitlich“52. Außerdem geht man bei der Erläuterung der richterlichen Unabhängigkeit oft über die klassische Abwehr gegen staatliche Gewalt hinaus. Es wird darauf hingewiesen, dass die Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität, Neutralität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung als Sinn und Zweck der richterlichen Unabhängigkeit auch durch Prozessparteien und gesellschaft­ liche Kräfte gefährdet werden können. Damit begründet man die Unabhängigkeit des Richters auch gegenüber nichtstaatlichen Akteuren.53 Schließlich spricht man ab und zu von der inneren Unabhängigkeit oder Freiheit des Richters als Teilbegriff der richterlichen Unabhängigkeit, nämlich von der Unabhängigkeit des Richters von sachfremden Motivationen und Einstellungen im forum internum des Richters selbst.54 Es wird unterstrichen, dass Bewusstsein und Persönlichkeit des Richters für eine objektive, rationale, neutrale und unparteiische Rechtsprechung ganz entscheidend sind,55 dass der Richter sich von eigenen Vorurteilen, unreflektierten Emotionen, persönlichen Interessen und sonstigen sachfremden Einengungen des 50  Näher zur Unabhängigkeit des Richters innerhalb der Judikative unten Erster Teil, B. III. 3.; vgl. auch Eichenberger, S.  48 f.; Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S.  53 (57 f.); Hillgruber, in: Maunz  /  Dürig, GG, Art. 97 Rn. 94 ff.; Papier, NJW 2001, 1089 (1090 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 41 ff.; Shetreet, in: Judicial Independence, S. 590 (637 ff.); Wittreck, S.  183 ff. 51  Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 41. 52  BVerfGE 78, 123 (126); 87, 273 (278). 53  Näher zur richterlichen Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren unten Erster Teil, B. III. 4.; vgl. auch Bettermann, in: Die Grundrechte, III / 2, S. 523 (526 ff.); Classen, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art.  97 Rn.  33 ff.; Eichenberger, S.  44 f., 49 f.; Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (58 ff.); Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art.  97 Rn.  93; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 109; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 45 f.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 211 ff.; Wittreck, S 189 ff. 54  Vgl. Eichenberger, S. 44, 50 ff.; Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (54 ff.); Kaufmann, in: Einheit, S. 295  ff.; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 157  ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 40. In der vorliegenden Arbeit wird die innere Unabhängigkeit oder Freiheit des Richters aber aus dem Begriff der richterlichen Unabhängigkeit ausgeklammert; dazu unten Erster Teil, B. III. 6. 55  Kaufmann, in: Einheit, S. 295 (304 ff.); Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 157.

30

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Geistes lösen soll.56 Die der Person des Richters selbst entstammende Unsicherheit hinsichtlich der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität, Neutralität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung versucht man also durch die Forderung nach der inneren Unabhängigkeit des Richters zu kompensieren. Es wird aber erkannt, dass die innere Unabhängigkeit „keine dem Richter gegebene Garantie, sondern eine ihm gestellte Aufgabe“57 ist, dass sie eine geistige, ethische Haltung ist und sich damit einer direkten rechtlichen Regelung entzieht.58 Damit gilt das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit rundum. Es richtet sich gegen alle möglichen sachfremden Einflüsse auf den Richter. Das kommt zum Ausdruck unter anderem in der Definition der richterlichen Unabhängigkeit, die von der in 1983 in Montreal veranstalteten internationalen Konferenz über die richterliche Unabhängigkeit angenommenen wurde: „Judges individually shall be free, and it shall be their duty, to decide matters before them impartially, in accordance with their assessment of the facts and their understanding of the law without any restrictions, influences, inducements, pressures, threats or interferences, direct or indirect, from any quarter or for any reason.“59

III. Probleme Im Folgenden werden einige wichtige Probleme in Bezug auf das oben ausgeführte herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit erläutert. Diese Probleme sind von grundlegender Natur. Manche Kritiken, die in diesen Problemen zusammengefasst werden, wurden ursprünglich nicht als direkte Angriffe auf das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit vorgebracht, sondern sind in einem anderen Zusammenhang entstanden. Sie berühren gleichwohl Fragen, die dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde liegen, wie Fragen über das Wesen, die Stellung und Eigenschaften der Rechtsprechung, und haben theoretisch schwerwiegende Konsequenzen für das Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit. In einer Forschungsarbeit wie der vorliegenden, die sich mit der rechtstheoretischen Grundlage der richterlichen Unabhängigkeit beschäftigt, sind diese Kritiken ernst zu nehmen. 56  Eichenberger, S. 51; Kaufmann, in: Einheit, S. 295 (306); Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (54); Sendler, in: Öffentliches Dienstrecht, S. 307 (311). 57  Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 157. 58  Kissel / Mayer, GVG, §  1 Rn. 157; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 40. 59  World Conference on the Independence of Justice, in: Judicial Independence, S. 447 (450).



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit31

1. Problematik der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung Wie oben dargelegt, wird der Sinn und Zweck der richterlichen Unabhängigkeit üblicherweise in der Sicherung der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung gesehen. Unausweichlich stellt sich aber die Frage, ob und wie der Richter an das Recht gebunden und objektiv, rational, neutral tätig sein kann. Freilich wird seit langem von verschiedenen Ansätzen aus versucht, den Entscheidungsspielraum des Richters zu begrenzen. Man fordert zum Beispiel einen regelgeleiteten Umgang mit der Rechtsnorm und entwickelt Interpretationsmethoden oder Auslegungscanones,60 um die Rechtsbindung, Rationalität und Objektivität richterlicher Entscheidungen zu verstärken. Dennoch ist man sich über die Zahl und die genaue Fassung von Auslegungscanones nicht einig. Zudem sind Auslegungscanones oft selbst interpretationsbedürftig.61 Bei der objektiv-teleologischen Auslegung schleichen sich zum Beispiel subjektive Werte des Richters in die Feststellung des objektiven Regelungszwecks der auszulegenden Norm ein.62 Selbst wenn in einer konkreten Entscheidungssituation Anweisungen nach einzelnen Auslegungscanones eindeutig sind, ist damit noch nicht gesichert, dass der Richter zu einem bestimmten Entscheidungsergebnis kommt. Denn verschiedene Auslegungskriterien kommen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen und es gibt keine allgemein anerkannte Meta-Regel für die Auswahl zwischen verschiedenen Auslegungskriterien.63 Es gibt aber auch ein bescheideneres Vorhaben. Man schraubt die Forderung der Rechtsbindung nach unten und setzt nur auf Grenzen der Auslegung. Es wird darauf hingewiesen, dass es trotz allen Entscheidungsspielraums des Richters Auslegungsgrenzen gibt, die von der Rechtsnorm, wenn auch weit, abgesteckt werden.64 Wie man solche Grenzen markiert, ist aber nicht entschieden. Selbst der mögliche Wortsinn der Norm, auf den man sich häufig beruft, scheint kein sicheres Kriterium zu bieten. Zum einen stellt sich oft die umstrittene Frage der sprachlichen Toleranz, nämlich die Frage, ob ein Interpretationsvorschlag als sprachlich noch möglich akzeptiert werden kann.65 Zum anderen entscheidet der Richter gelegentlich auch Larenz / Canaris, S.  133 ff. in: Einführung, S. 251 (263). 62  Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 73 ff. 63  Hassemer, in: Einführung, S. 251 (263); Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S.  303 f.; Esser, Vorverständnis, S.  124 f. 64  Hassemer, in: Einführung, S. 251 (267). 65  Schroth, in: Einführung, S. 270 (288). 60  Vgl.

61  Hassemer,

32

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

gegen den Wortlaut der Norm66 und das ist rechtlich nicht unbedingt ein Fehlverhalten.67 Angesichts dieser prekären Situation setzt man Hoffnung in die wenigstens faktische Bindungswirkung des ausdifferenzierten Richterrechts.68 Dennoch kann man nicht darüber hinwegsehen, dass das Richterrecht, wie der Name schon sagt, von Richtern selbst stammt. Es wird zwar gesagt, dass die „Ausfüllung oder Ergänzung des gesetzlichen Rechts nicht im Wege freier rechtspolitischer Entscheidung, sondern unter Rückgriff auf die in diesem Recht bereits enthaltenen Maßstäbe und Grundsätze vorzunehmen“69 ist. Die Antwort auf die Fragen, was diese Maßstäbe und Grundsätze sind und welches Verhältnis sie zueinander haben, hängt aber wiederum von subjektiven Wertungen des Richters ab.70 Am Ende scheint es so, dass die Bedeutung der Rechtsnorm zur Disposition der richterlichen Interpretation steht, und „das gilt […] auch für Novellen, mit denen der Gesetzgeber eine ihm nicht genehme Rechtsprechung einzufangen versucht.“71 Die Rechtsbindung wird selbst zum Gegenstand der richterlichen Interpretation. Der Richter entscheidet selbst, wie weit er durch die Auslegung und Fortbildung des Rechts Fälle lösen kann und wie weit er dem Gesetzgeber befriedigende Problemlösungen überlassen muss.72 „Letztlich [gilt] nur das als Recht […], was die Gerichte als solches ansehen.“73 Vieles scheint dagegen zu sprechen, dass das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung als Trennung von programmierender und programmierter Entscheidung verstanden wird.74 Nach Ansichten von radikalen Skeptikern ist es trotz aller Bemühungen nicht gelungen, die richterliche Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität zu sichern. Vom ungebundenen Richter ist die Rede.75 Rich66  Vgl. BVerfGE 34, 269 (286 ff.). Dort wurde die Rechtsprechung der Zivilgerichte, wonach bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entgegen dem Wortlaut der §§ 253, 847 BGB Ersatz in Geld auch für immaterielle Schäden beansprucht werden kann, als verfassungsmäßig bestätigt. 67  Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 305. Er misst dem Wortlaut des Gesetzes gegenüber den entgegenstehenden Argumenten zwar prima facie das größere Gewicht zu, räumt diesen aber den Vorrang ein, wenn dafür vernünftige Gründe vorliegen. 68  Hassemer, in: Einführung, S. 251 (263 f.). 69  Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 89. 70  Vgl. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 79 f., 106 f. 71  Hassemer, in: Einführung, S. 251 (261). 72  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 303; Hassemer, in: Einführung, S. 251 (261). 73  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 305. 74  Teubner, in: Kommunikation, S. 197 (201).



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit33

terliche Entscheidungen könnten nicht in irgendeiner objektiven Art und Weise gerechtfertigt, sondern nur durch persönliche, subjektive und letztlich voreingenommene Überzeugungen des Richters erklärt werden.76 Wenn dies zuträfe, müsste dies ernsthafte Konsequenzen haben für die richterliche Unabhängigkeit oder zumindest für ihr herrschendes Verständnis, nach dem die Unabhängigkeit des Richters mit der Sicherung der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität richterlicher Entscheidungen begründet ist. Nur um ein Beispiel zu nennen: Der Marxismus hat der Richterschaft Klassenjustiz vorgeworfen und deswegen die Abschaffung der richterlichen Unabhängigkeit gefordert.77 75

2. Problematik des Verhältnisses der Rechtsprechung zur Politik Nach dem herrschenden Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit unterscheidet sich die Rechtsprechung von der Politik, die in der Legislative und der Exekutive78 operiert, und ist deswegen gegen Eingriffe seitens der Politik abzuschirmen. Freilich fällt es zumindest in der Gegenwart niemandem ein, einen Subsumtionsautomaten, der nur logisch-mechanisch von der Rechtsnorm auf die Entscheidung schlussfolgert, zum Richterleitbild zu erklären. Zum unpolitischen Richter in einem solchen Sinne bekennt sich niemand. Es wird eingesehen, dass der Einfluss von Vorverständnissen, politischen und weltanschaulichen Präferenzen des Richters auf die Rechtsprechung unausweichlich ist. Es wird erkannt, dass die Rechtsnorm, an die der Richter gebunden ist, ihm Raum zu schöpferischen und gestaltenden Entscheidungen lässt. Die Fortbildung des Rechts durch den Richter wird anerkannt. Trotzdem wird die Distanz des Richters gegenüber der Politik immer gepflegt. Die Rechtsprechung und die Politik werden sowohl in der Idealvorstellung als auch in der Wirklichkeitsdarstellung auseinandergehalten. Es wird darauf hingewiesen, dass der Richter bei der Konkretisierung und Fortbildung des Rechts keine freie politische Entscheidung treffen darf, sondern auf die im Recht bereits enthaltenen Maßstäbe und Grundsätze zurückgreifen muss, dass der Richter damit kein nebengeordneter oder gar konkurrierender politischer Entscheidungsträger gegenüber der Legislative und der Exekutive ist.79 Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 68 ff. A Political Court, S. 227 f. 77  Tigges, S.  116 f. 78  Die Verwaltung lässt sich sowohl in das Rechtssystem als auch in das politische System einordnen; näher dazu unten Erster Teil, B. I. 2. a). 79  Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 88 ff., 92 ff. 75  Vgl.

76  Peretti,

34

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Die im herrschenden Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit implizierte Unterscheidung der Rechtsprechung von der Politik ist aber nicht unumstritten. Es gibt Stimmen, die diese Unterscheidung ablehnen und den politischen Richter für faktisch gegeben oder auch für normativ wünschenswert halten.80 Diese Stimmen betonen sehr stark die Entscheidungsfreiheit des Richters und sehen darin einen wichtigen Charakter des politischen Richters. Nach Simon enthält politisches Handeln Elemente der Freiheit und der subjektiven Beweglichkeit. Über erhebliche oder gar ungebundene Freiheit und Beweglichkeit verfüge der Richter in seiner Urteilstätigkeit. Diese Tätigkeit sei deshalb politisch.81 Insbesondere in Bezug auf die Verfassungsrechtsprechung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten spricht Peretti den richterlichen Entscheidungen die Objektivität und die Neutralität ab, unterstreicht die richterliche Subjektivität, die durch unvermeidliche politische Präferenzen des Richters gekennzeichnet ist, spricht von politisch motivierten Richtern und weist die scharfe Unterscheidung zwischen Gerichten und anderen politischen Institutionen zurück.82 Shapiro ist der Ansicht, dass der Richter das Recht eher erzeugt als findet, und betrachtet den Richter als einen politischen Akteur.83 Auch nach Wassermann handelt der Richter politisch. Denn richterliche Entscheidungen hätten auch anders ergehen können. Sie enthalten das Moment des Wollens und Wählens zwischen Alternativen. Der Richter übe darum Macht aus.84 Er „hilft […] durch seine Rechtsprechung an der Heraus- und Weiterbildung des Rechts mit, […] Wenn man nicht […] unter Rechtsetzung nur die formale Gesetzgebung, also die Tätigkeit der legislativen Körperschaft versteht, dann setzen auch die Gerichte Recht.“85 Manche von denen, die den politischen Richter als eine Tatsache darstellen, rücken ihn auch ins rechte Licht und setzen den unpolitischen Richter herab. Nach Wassermann steht ein selbstbewusster politischer Richter zu der mit seiner Entscheidungstätigkeit verbundenen politischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.86 Ein unpolitischer Richter, der den poli80  Vgl. Peretti, A Political Court; Wassermann, Der politische Richter; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S 104 ff.; Shapiro, in: Law, S. 19 ff.; Dieth, Politisiertes Recht oder verrechtlichte Politik? 81  Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S 88 f., 105 f. 82  Peretti, A Political Court; dies., in: Judicial Independence, S. 103 (109 ff.). 83  Shapiro, in: Law, S. 19 (20 ff.). 84  Wassermann, Der politische Richter, S. 21 ff.; ders., Die richterliche Gewalt, S.  3 ff. 85  Wassermann, Die richterliche Gewalt, S. 5 f.; in diesem Sinne auch ders., Der politische Richter, S. 29 f. 86  Wassermann, Der politische Richter, S. 17.



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit35

tischen Charakter seiner Tätigkeit nicht bemerke, laufe dagegen „Gefahr, nach privaten oder Gruppen- oder Schichtenvorurteilen bzw. -vorverständnissen zu entscheiden, wo er sich an Werten des demokratischen und so­ zialen Rechtsstaats auszurichten hätte“.87 Peretti meint, dass ein politischer Richter nicht notwendig willkürlich sei.88 Politische Präferenzen eines einzelnen Richters, die seinen Entscheidungen zugrunde liegen, könnten konsequent, stabil und damit vorhersehbar sein.89 Ein politisch motivierter Richter handle außerdem nicht in einem politischen Vakuum, sondern in einer dynamischen Umwelt, die sowohl voller Chancen wie voller Hemmungen für seine politische Machthandhabung sei.90 Die Macht des Richters werde politisch durch die Legislative, die Exekutive, Interessengruppen und die öffentliche Meinung gehemmt. Er könne nicht Gruppen oder Werte schützen, die politisch keinen nennenswerten Rückhalt finden. Wenn er seine Macht zur politischen Gestaltung erhalten und ausbauen wolle, müsse er mögliche politische Reaktionen auf seine Entscheidungen abschätzen, politische Unterstützung mobilisieren und gegebenenfalls Forderungen von Gegnern berücksichtigen. Dabei könne er zu verschiedenen Mitteln greifen wie einer auf Überzeugung zielenden Urteilsbegründung, einem Appell an seine Verbündeten in der juristischen Profession oder einem vorläufigen Rückzug angesichts eines starken Widerstands. Der Entscheidungsprozess eines politisch motivierten Richters sei also ein Prozess der Abstimmung und der Konsensbildung. Auch Dieth sieht die Rechtsprechung als konsentiertes Ergebnis eines permanenten Aushandlungsprozesses an.91 Nach Peretti lässt sich der politische Richter mit einem pluralistischen System begründen. Politische Richter seien Bestandteile eines pluralistischen Systems. In einem solchen werde mehr Wert auf den Minderheitsschutz als auf das Mehrheitsprinzip gelegt.92 Die Redundanz und die Vielfalt beim Ausdruck von Individual- und Gruppeninteressen würden hochgeschätzt. Die Redundanz bedeute die Existenz mehrerer staatlicher Institutionen, die über politische Entscheidungsmacht verfügen und zu denen Gerichte zählen. Die Vielfalt finde ihren Ausdruck darin, dass jede staatliche Institution anders organisiert sei und einer verschiedenen, nicht unbedingt durch Wahlen charakterisierten Form politischer Einflussnahme 87  Wassermann,

Der politische Richter, S. 18. A Political Court, S. 77 ff. 89  Peretti, A Political Court, S. 103 f., 111, 132. 90  Dazu und zum Folgenden Peretti, A Political Court, S. 133 ff., 151 ff.; dies., in: Judicial Independence, S. 103 (111 ff.). 91  Dieth, S.  207 ff. 92  Peretti, A Political Court, S. 210 ff. 88  Peretti,

36

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

unterliege.93 Darüber hinaus fehle es an einer Hierarchie zwischen verschiedenen staatlichen Entscheidungsträgern. Zwischen ihnen beständen checks and balances. Keine bestimmte Form politischer Einflussnahme sei an sich besser oder demokratischer. Kein bestimmter Entscheidungsträger besitze eine größere Legitimation oder Entscheidungsmacht.94 Die Redundanz, die Vielfalt und eine fehlende Hierarchie würden ein pluralistisches System konstituieren. Die Redundanz vermehre die Zahl von Arenen, in denen einzelne Gruppen ihre Interessen artikulieren und gegen eine ihnen nicht genehme Politik kämpfen können. Die Vielfalt erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gruppe in einer dieser Arenen Erfolg habe. Durch eine fehlende Hierarchie zwischen diesen Arenen werde sichergestellt, dass ein Erfolg in einer Arena eine reale Auswirkung auf die politische Entscheidung habe. Ein solches pluralistisches System verhindere, dass eine Minderheit in ihren Interessen permanent vernachlässigt und zum dauernden Verlierer werde, und trage zur Bildung eines breiten und stabilen politischen Konsenses bei.95 Nach Peretti ist das amerikanische politische System ein pluralistisches System. In diesem System diene das Oberste Gerichtshof als eine alternative Arena, in der diejenigen, die ihre politischen Kämpfe in der Legislative oder der Exekutive verloren haben, ihre Unzufriedenheit mit gesetzgeberischen oder administrativen Entscheidungen zum Ausdruck bringen und eine Partie zu gewinnen versuchen.96 Darüber hinaus unterliege das Oberste Gerichtshof einer ganz anderen Form politischer Einflussnahme als die Legislative und die Exekutive. Es habe ein offenes Ohr für diejenigen Interessen, die in anderen Staatsgewalten schlecht repräsentiert werden.97 Durch den Schutz bestimmter Gruppen oder Interessen arbeite das Oberste Gerichtshof in gleicher Augenhöhe mit der Legislative und der Exekutive auf einen breiten und stabilen politischen Konsens hin.98 Wenn die Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik unberechtigt wäre, wenn der Richter nichts anderes als ein politischer Entscheidungsträger wäre, müsste die richterliche Unabhängigkeit oder zumindest ihr herrschendes Verständnis, nach dem der Richter Schutz gegen Eingriffe aus der Politik braucht, neu überdacht werden. Man müsste fragen, warum, in welcher Weise und Reichweite der Richter als ein politischer Akteur von anderen politischen Akteuren unabhängig sein sollte, und ob die richterliche Unabhängigkeit heutzutage überbetont würde. 93  Peretti, 94  Peretti, 95  Peretti, 96  Peretti, 97  Peretti, 98  Peretti,

A A A A A A

Political Political Political Political Political Political

Court, Court, Court, Court, Court, Court,

S. 212 f. S. 213 f., 219. S. 215. S. 219. S. 221 f. S. 222 ff.



A. Das herrschende Grundverständnis richterlicher Unabhängigkeit37

3. Problematik der begrenzten Unabhängigkeit Es gibt in der Literatur Stimmen, die kritisieren, dass gelegentlich beim Verstehen der richterlichen Unabhängigkeit deren Begrenztheit vernachlässigt wird. Wie unten noch zur Sprache kommen wird, geht es manchen Kritikern nicht darum, das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit von Grund auf abzulehnen, sondern nur darum, dieses Grundverständnis angemessener und besser zu interpretieren.99 Radikale Kritiker wie Shapiro und Peretti gehen aber weiter, ziehen dieses Grundverständnis grundlegend in Zweifel und werfen ihm vor, die richterliche Unabhängigkeit zu übersteigern und die richterliche Abhängigkeit herunterzuspielen. Nach Shapiro ist der Richter insofern unabhängig, als er bei der Konfliktlösung an keine von beiden Streitparteien gebunden und in dieser Hinsicht als ein unparteiischer, neutraler Dritter tätig sei.100 Der Richter sei aber insofern nicht unabhängig, als er nach Rechtsnormen entscheide, statt eine Vermittlungsrolle zu spielen und die Mediation durchzuführen. Denn eine Rechtsnorm verkörpere fast immer irgendein allgemeines öffentliches Interesse, das über besondere Interessen von Prozessparteien hinausgehe und eventuell im Widerspruch zu solchen Interessen stehe. Soweit der Richter eine bestehende, nicht durch beide Prozessparteien selbst gebildete Norm anwende, führe er ein drittes Set von Interessen ein. Er sei dann nicht ein unparteiischer, neutraler Dritter, sondern nehme die Funktion der sozialen Kontrolle wahr und sei wie die Verwaltung als Diener der politischen Herrschaft tätig. Er sei eher an die politische Macht gebunden als von dieser unabhängig.101 Das gilt insbesondere für die Anwendung von straf- und öffentlich-rechtlichen Gesetzen.102 Die richterliche Entscheidung nach dem geltenden Recht stehe also im Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit, selbst wenn der Richter von der Einmischung anderer Staatsgewalten in Einzelfälle frei und in diesem Sinne wiederum unabhängig sein könne.103 Außerdem kann der Richter nach Shapiro nicht umhin, selbst Recht zu setzen.104 Die richterliche Rechtsetzung und die richterliche Unabhängigkeit seien aber im Grunde miteinander unvereinbar. Denn der Richter, der an solch einer politischen Macht wie der Rechtsetzung teilhabe, könne sich politischer Verantwortung und Kontrolle nicht entziehen. Er werde in die 99  Unten

Erster Teil, B. III. 1. Courts, S. 1 ff., 16. 101  Shapiro, Courts, S. 17 ff., 26, 66 f. 102  Shapiro, Courts, S. 24 f., 27 f., 112 ff. 103  Shapiro, Courts, S. 124. 104  Shapiro, Courts, S. 28 ff. 100  Shapiro,

38

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

regierende Elite und das politische Regime eingegliedert. Dies sei der Fall, wo die richterliche Tätigkeit eine von vielen Aufgaben der regierenden Elite sei. Wo man eine unabhängige Judikative zu schaffen versuche, finde die Wiederintegration des Richters in das politische Regime aber auch statt, selbst wenn die Wiederintegration erheblich auf Kosten der richterlichen Unabhängigkeit gehe.105 Um seine Aussagen zu veranschaulichen, betrachtet Shapiro englische Gerichte in ihrer historischen Entwicklung und stellt ein Gemenge der richterlichen Abhängigkeit und Unabhängigkeit fest, und zwar ein Gemenge, in dem die richterliche Abhängigkeit das Leitmotiv sei.106 Nach Shapiro soll die Unabhängigkeit des Richters folglich nicht großgeschrieben werden. Das Gericht sei im Grunde in das Gefüge des politischen Systems integriert. Der Richter sei als Teilnehmer an den politischen Prozess tätig.107 Auch Peretti kritisiert, dass die richterliche Unabhängigkeit von der herrschenden Meinung viel zu weit getrieben werde.108 Nach Peretti verfügt der Richter in einem System der Gewaltenteilung tatsächlich nur in einem begrenzten Umfang über Unabhängigkeit. Der Judikative würden eine genauso gemäßigte Rolle und eine Autonomie von ähnlichem Typ und Maß zugestanden wie der Legislative und der Exekutive. Der Richter sei in gewissem Maße unabhängig, so dass er den von ihm bevorzugten Werten und Prinzipien Geltung verschaffen könne. Die Macht des Richters werde aber politisch durch die Legislative, die Exekutive, gesellschaftliche Kräfte und die öffentliche Meinung gehemmt. Zum pluralistischen System der amerikanischen Demokratie109 führt Peretti aus: „All three branches are granted a voice […] and each brings to the table a different perspective, a different set of interests, a different set of strengths. The genius of our system is that, through limits on the power of each branch, those strengths are pooled. Thus, a modest degree of independence for all three branches – legislative, executive, and judicial – is intended and should be valued.“110

Nach Peretti verkennen die meisten Verfechter der richterlichen Unabhängigkeit dieses ausgewogene pluralistische System und die begrenzte richterliche Unabhängigkeit und vertreten damit eine gefährliche Expansion der richterlichen Gewalt.111 Wie oben erläutert, lehnt Peretti die Unterscheidung 105  Shapiro,

Courts, S. 34. Courts, S. 65 ff. 107  Shapiro, Courts, S. 63; ders., in: Law, S. 19 (21). 108  Dazu und zum Folgenden Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (109 ff., 125); dies., A Political Court, S. 222 ff. 109  Oben Erster Teil, A. III. 2. 110  Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (125). 111  Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (125). 106  Shapiro,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts39

der Rechtsprechung von der Politik ab. Die Rechtsprechung wird als ein integraler Bestandteil des politischen Systems angesehen.112 Von diesem Standpunkt aus muss man konsequenterweise die Begrenztheit der richter­ lichen Unabhängigkeit viel mehr betonen, als dies im herrschenden Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit, in dem die Distanz des Richters gegenüber der Politik gepflegt wird, der Fall ist. Die Unabhängigkeit des Richters wird nicht als Schutz gegen Eingriffe aus der Politik, sondern als ein Mechanismus der Machthemmung und -balancierung innerhalb des ­politischen Systems angesehen. Die hier dargestellten Probleme im herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit werden unten bei der Betrachtung der richterlichen Unabhängigkeit aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts noch zu erörtern sein. Dort wird zu diesen Problemen Stellung zu nehmen sein.113

B. Richterliche Unabhängigkeit im Lichte der Ausdifferenzierung des Rechts Im Folgenden wird die Unabhängigkeit des Richters vom Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts aus betrachtet. Durch diese rechtstheoretische Rekonstruktion wird das herrschende Grundverständnis der richter­ lichen Unabhängigkeit nicht von Grund auf revolutioniert. Eckpfeiler dieses Grundverständnisses wie das komplementäre Verhältnis der richterlichen Unabhängigkeit zur richterlichen Rechtsbindung, die Unterscheidung der Rechtsprechung von der Politik und die überragende Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit im Rechtsstaat werden nur aus einem neuen Blickwinkel, nämlich aus der gesellschaftstheoretischen Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts, interpretiert. Das trägt dazu bei, das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit zu vertiefen und die vorstehenden Probleme in diesem Grundverständnis zu klären. Darüber hinaus ist die Rekonstruktion der richterlichen Unabhängigkeit im Lichte der Ausdifferenzierung des Rechts darauf angelegt, die Untersuchung von gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit vorzubereiten. Diese Rekonstruktion ist, wie im Eingang dieser Arbeit bereits erläutert, gesellschaftstheoretisch eingebettet und bereitet damit den Weg zur Ermittlung gesellschaftlicher Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit.114

112  Oben

Erster Teil, A. III. 2. Erster Teil, B. IV. 114  Oben Einleitung, A. 113  Unten

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

I. Ausdifferenzierung des Rechts Bevor untersucht wird, ob und wie der Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts zum Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit und zur Lösung der vorstehenden Probleme beitragen kann, ist zunächst zu klären, in welchem Sinne und mit welcher Berechtigung hier von der Ausdifferenzierung des Rechts die Rede ist. Dabei wird zuerst auf Grundlegendes eingegangen. Anschließend werden die beiden wichtigsten, aber auch umstrittensten Aspekte der Ausdifferenzierung des Rechts, nämlich die Differenzierung zwischen Recht und Politik sowie die zwischen Recht und Moral, näher erörtert. 1. Grundlage Die Ausdifferenzierung des Rechts meint die Entstehung eines besonderen Rechtssystems, das sich von seiner gesellschaftlichen Umwelt unterscheidet. Dieses Rechtssystem stellt ein Netz von aufeinander bezogenen rechtlichen Kommunikationen dar, die eine Zuordnung von Recht und Unrecht behaupten oder feststellen. Wie gleich unter den Abschnitten a) und b) auszuführen sein wird, wird hier bei der Betrachtung des Rechts zuerst auf Kommunikation abgestellt und auf dieser Grundlage die Unterscheidung des Rechtssystems von seiner gesellschaftlichen Umwelt herausgearbeitet. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich einerseits von den Theorien, die das Recht von Normen oder Organisationen her erfassen, und andererseits von den – insbesondere soziologischen – Theorien, die die wechselseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von Recht und seiner gesellschaftlichen Umwelt hervorheben und ihre Unterscheidung nicht oder wenig thematisieren, für nicht beachtlich halten oder sogar leugnen. Die folgenden Ausführungen zur Ausdifferenzierung des Rechts basieren vor allem auf Luhmanns Systemtheorie des Rechts. Sie weichen aber in einigen Punkten von dieser ab und suchen außerdem eine Brücke zu anderen Theorien, inklusive der Theorie von Luhmanns Kontrahenten Habermas, zu schlagen. a) Rechtssystem als Kommunikationssystem Oft bezieht man das Rechtssystem auf Strukturen wie etwa Rechtsnormen und betrachtet es als Normensystem. „Die Frage, was Recht ist und was nicht, stellt sich damit nur im Hinblick auf die Spezifik bestimmter Regeln.“115 115  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 41.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts41

Damit wird dynamisches gesellschaftliches Geschehen wie etwa juristisches Argumentieren, das man bei einer gesellschaftstheoretischen Betrachtung des Rechts unbedingt im Blick haben sollte, aus dem Begriff des Rechtssystems ausgeklammert. Häufig wird auch bei der Verwendung des Begriffs des Rechtssystems an den organisierten Rechtsbetrieb, vor allem an Gerichte, gedacht und das Rechtssystem als organisiertes Entscheidungssystem konstruiert.116 Damit wird Kommunikation über die richtige Zuordnung von Recht und Unrecht seitens der Prozessparteien oder der Rechtswissenschaftler117 oder im Alltag aus dem Begriff des Rechtssystems ausgeschlossen. Von der Ausdifferenzierung dieses Rechtssystems gegenüber solcher Kommunikation kann nicht die Rede sein. Das Rechtssystem, das sich gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt ausdifferenziert, wird hier von seinen Operationen, nämlich der Kommunikation, her statt von seinen Strukturen oder Organisationen her definiert. Das Rechtssystem ist also ein Kommunikationssystem.118 Nach Luhmann erzeugen Operationen eine Differenz. „Etwas ist nach der Operation anders als vorher und durch die Operation anders als ohne sie. […] Es ist dieser diskriminierende Effekt der Operation, der bei hinreichender Dauer und rekursiver Vernetzung der Operationsfolgen eine Differenz von System und Umwelt erzeugt […], ein System ausdifferenziert.“119 Durch die Definition des Rechtssystems als Kommunikationssystem werden Systemstrukturen keinesfalls aus dem Blick verloren. Dazu zählen nicht nur Rechtsnormen, sondern vor allem auch die rechtsspezifische Unterscheidung von Recht und Unrecht als Code des Systems.120 Auch Organisationen wird eine prominente Stellung im Rechtssystem eingeräumt. Die Legislative und die Judikative lassen sich als Entscheidungsorganisationen des Rechtssystems bezeichnen.121 Durch die Betrachtung des Rechtssystems als Kommunikationsnetz wird allerdings die Dynamik des Rechtssystems hervorgehoben. Denn rechtliche Kommunikationen, die eine Zuordnung von Recht 116  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 66. Rechtswissenschaft ist einerseits ein Teil des Wissenschaftssystems, gehört aber auch zum Kommunikationssystem Recht; dazu unten Erster Teil, B. I. 2. a). 118  Zu diesem operativen Ansatz Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 40 f., 54 f., 66 ff.; Teubner, How the Law Thinks, S. 28 ff. Auch Krawietz, der Luhmanns Systemtheorie des Rechts kritisiert, begreift das Rechtssystem als Informations- und Kommunikationssystem; vgl. dazu Krawietz, in: Kritik, S. 247 (259, 290). 119  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 50. 120  Zum Code Recht / Unrecht unten Erster Teil, B. I. 1. b). 121  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 145 ff. Die Gesetzgebung hat aber sowohl einen rechtlichen als auch einen politischen Charakter; dazu unten Erster Teil, B. I. 2. a). 117  Die

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

und Unrecht behaupten, wie etwa mannigfaltige Rechtsansprüche und juristische Argumentationen, lassen sich nicht von einem Normensystem ableiten. Sie geschehen auch außerhalb des organisierten Rechtsbetriebs.122 Sie werden alle hier in das Rechtssystem einbezogen. „Realitätswert haben Strukturen nur dadurch, daß sie zur Verknüpfung kommunikativer Ereignisse verwendet werden; Normen nur dadurch, daß sie, explizit oder implizit, zitiert werden“123. Rechtsnormen sind keine transzendenten Entitäten und keine psychischen Phänomene.124 Sie entstehen durch Kommunikation, werden in ihr für verschiedenartige Sachlagen immer wieder verwendet, bestätigt und mit Sinn angereichert oder außer Kraft gesetzt beziehungsweise einfach vergessen.125 Die Betrachtung des Rechtssystems als Kommunikationssystem bedeutet nicht, dass man mit Luhmann die Unterscheidung von Normen und Fakten nur als eine rechtssysteminterne, von der Wissenschaft nicht in gleicher Weise nachvollziehbare Unterscheidung ansehen müsste,126 dass man bei der wissenschaftlichen Beschreibung des Rechts als eines sozialen Faktums die deontologische Dimension und die Sollgeltung der Norm tilgen127 und von der Legitimität und Begründbarkeit der Norm absehen müsste. Vielmehr braucht man sich bei der rechtstheoretischen wie soziologischen Beobachtung des Rechts als eines sozialen Phänomens zwar nicht mit irgendwelchen bestimmten Rechtsinhalten zu identifizieren, wie ein mit bestimmten Prinzipien oder Regeln befasster Jurist dies tun muss; man kann aber nicht über den von der Rechtsnorm notwendigerweise erhobenen Anspruch auf die normative Richtigkeit hinwegsehen, wenn man seinem Objekt gerecht werden will.128 Dieser Richtigkeitsanspruch ist in der rechtlichen Kommunikation präsent, ist ein in ihr explizit oder implizit mitgeführter Sinn. Das ist besonders deutlich bei der juristischen Argumentation zu erkennen.129 Wenn man den Gegensatz zwischen Normen und Fakten ganz einebnet, erkennt man die Unterscheidung von Normen und Fakten nicht als solche, sieht stattdessen nur unterschiedliche Arten von Sachverhal122  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 67 f. Das Recht der Gesellschaft, S. 46. Normative Konsequenzen aus dem Realitätswert der Rechtsnorm werden in der Literatur unter dem Stichwort obsoletes Recht diskutiert. 124  Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 60. 125  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 9, 63; Dreier, ARSP 88 (2002), 305 (315). 126  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 33. 127  Habermas, S. 70. 128  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 62; Krawietz, in: Kritik, S. 247 (261 f.). 129  Unten Erster Teil, B. I. 2. c) (1). 123  Luhmann,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts43

ten.130 Das ist zwar logisch einwandfrei, aber inhaltlich sowohl kärglich wie verzerrend. b) Offene Geschlossenheit des Rechtssystems Im Zentrum der Forschungen, die sich mit dem Verhältnis von Recht und Gesellschaft befassen, wie etwa der Law and Society-Forschungen steht oft die Frage, welche Einflüsse die Gesellschaft auf das Recht ausübt.131 Eine solche Fragestellung steht hier nicht im Vordergrund. Es geht hier primär um die Frage, ob und wie das Recht sich überhaupt als ein System konstituiert und sich bei aller Wechselwirkung mit seiner Umwelt von dieser unterscheidet. Was den rechtsspezifischen Sinn produziert und reproduziert, ist nichts anderes als rechtliche Kommunikation. Durch die rekursive Bezugnahme rechtlicher Kommunikationen auf rechtliche Kommunikationen konstituiert und reproduziert sich das Rechtssystem. In ihm konstruiert eine rechtliche Kommunikation ihren eigenen rechtsspezifischen Sinn, ihre eigene Anschlussfähigkeit durch den Rückgriff auf vergangene und den Vorgriff auf zukünftige rechtliche Kommunikationen. Das Rechtssystem ist also „zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen“.132 Dies nennt die neuere Systemtheorie Selbstproduktion und -reproduktion, Autopoiesis oder operative Geschlossenheit des Systems.133 Beispielsweise nimmt der Richter in seiner Entscheidung Bezug auf andere rechtliche Operationen wie Gesetzgebung, andere richterliche Entscheidungen, juristische Lehrmeinungen und Stellungnahmen der Prozessparteien. Auch Strukturen des Rechtssystems können, wie bereits erwähnt, nur durch rechtliche Kommunikation gebildet, bestätigt oder variiert werden. Diese Autonomie des Rechtssystems formuliert Luhmann prägnant: „Es gibt […] keine externe Strukturdetermination. Nur das Recht selbst kann sagen, was Recht ist.“134 Zwischen Struktur und Kommunikation besteht aber ein zirkuläres Verhältnis. Denn rechtliche Kommunikationen müssen auf Systemstrukturen zurückgreifen, um sich an andere rechtliche Kommunikationen anschließen und ihren eigenen Sinn bestimmen zu können.135 130  Krawietz,

in: Kritik, S. 247 (292 f.). Das Recht der Gesellschaft, S. 34. 132  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 44. 133  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 41, 44 f., 57, 67; Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 21 ff., 88 ff. 134  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 50. 135  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 37, 50. 131  Luhmann,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Dabei meinen Strukturen des Rechtssystems nicht nur Rechtsnormen, sondern insbesondere auch die rechtsspezifische Unterscheidung von Recht und Unrecht als Code des Systems. Der Code ist zur Verknüpfung von rechtlichen Kommunikationen erforderlich. Immer wenn eine Kommunikation eine Zuordnung von Recht und Unrecht vornimmt, sucht sie eine Vernetzung im Rechtssystem, fügt sich in das Rechtssystem ein und lässt ihre Zugehörigkeit zum Rechtssystem erkennen.136 Der Code Recht / Unrecht ist also „die Struktur eines Zuordnungs- und Erkennungsverfahrens“137 des Kommunikationssystems Recht. Er sichert die operative Geschlossenheit des Rechtssystems138 und unterscheidet das System von seiner Umwelt. Er ist die Invariante im Rechtssystem, während die Änderbarkeit von Rechtsnormen das System anpassungsfähig macht.139 Das System bewährt sich damit nicht in einer statischen, sondern in einer „dynamischen Stabilität“140. Die operative Geschlossenheit bedeutet nicht die völlige Abschottung des Rechtssystems von seiner Umwelt. Das System pflegt Beziehungen zu seiner Umwelt. Solche Beziehungen kann das System aber nur selbst herstellen, nur durch rechtliche Kommunikationen, die eine rekursive Vernetzung im System suchen.141 Das System kann „verstehen, aufgreifen und intern weiterverarbeiten, was in der Gesellschaft ohne Rücksicht auf Recht gesagt worden war.“142 Es tut dies aber in seinem eigenen Wahrnehmungshorizont. Beispielsweise beobachtet das Rechtssystem bei der Bearbeitung von Rechtsfällen Sachverhalte außerhalb des Systems. Welche Sachverhalte relevant sind, wird allerdings anhand von Rechtsnormen im System selbst entschieden.143 Noch ein Beispiel: Das Rechtssystem kann das geltende Recht ändern, um auf externe Einflüsse zu reagieren und sich an die Umwelt anzupassen, etwa um einer gesellschaftlichen Veränderung oder einem politischen Meinungswandel Rechnung zu tragen. Die Anpassung geschieht jedoch in rechtsspezifischer Form der Änderung des geltenden Rechts, die ihrerseits durch das Recht reguliert wird. Das geänderte Recht muss außerdem in das jeweilige juristische Koordinatensystem eingepasst, in das rekursive Netzwerk der Rechtsauslegung und -anwendung und in die Entscheidungspraxis von Gerichten eingearbeitet und vor einer wiederkehrenden Änderung gegen Enttäuschungen festgehalten werden.144 136  Luhmann, 137  Luhmann, 138  Luhmann, 139  Luhmann, 140  Luhmann, 141  Luhmann, 142  Luhmann, 143  Luhmann,

Das Das Das Das Das Das Das Das

Recht Recht Recht Recht Recht Recht Recht Recht

der der der der der der der der

Gesellschaft, Gesellschaft, Gesellschaft, Gesellschaft, Gesellschaft, Gesellschaft, Gesellschaft, Gesellschaft,

S. 60, 67, 70. S. 70. S. 93. S. 193. S. 46. S. 76. S. 56. S. 79 f., 84.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts45

Es handelt sich also beim ausdifferenzierten Rechtssystem um eine „offene Geschlossenheit“145. Geschlossenheit und Offenheit sind nicht antithetisch, sondern komplementär. Die Offenheit bezieht sich auf wechselseitige Beziehungen zwischen System und Umwelt. Die Theorie des offenen Systems wird nicht widerrufen, sondern durch einen Paradigmenwechsel zur Theorie der operativen Geschlossenheit überarbeitet,146 nämlich durch die Hinwendung zu der Vorfrage, wie das Rechtssystem sich überhaupt als ein System, als eine Einheit aufbaut und bei allen Beziehungen zu seiner Umwelt von dieser unterscheidet. 144

Die Theorie der offenen Geschlossenheit lässt sich durch einen Vergleich mit der von Lempert vertretenen und als Anglo-American approach bezeichneten Theorie der relativen Autonomie des Rechtssystems147 beleuchten. Die Letztere definiert die Autonomie als Unabhängigkeit gegenüber externen Einflüssen,148 charakterisiert die Autonomie mit dem juristischen Formalismus und sieht die Autonomie in der Anwendung von Rechtsbegriffen und -regeln sowie in der Durchführung von Rechtsverfahren.149 Die Verweisung auf rechtsexterne Kriterien oder Faktoren wie moralische Maßstäbe, gesellschaftliche Interessen, den Stand der sozial- oder naturwissenschaft­ lichen Forschung kennzeichne dagegen die Abhängigkeit des Rechtssystems von seiner Umwelt und beschränke seine Autonomie. Das Rechtssystem könne nur teilweise, eben relativ autonom sein.150 Für die Theorie der offenen Geschlossenheit ist das autonome Rechtssystem freilich durch die wiederkehrende Verwendung von Rechtsbegriffen und -regeln und durch die Ausdifferenzierung von Rechtsverfahren gekennzeichnet. Die Abhängigkeit des Rechts von anderen sozialen Phänomenen stellt jedoch nicht ohne weiteres eine Einschränkung der Autonomie des Rechts dar. Vielmehr ist die Autonomie und die Ausdifferenzierung des Rechtssystems mit der Offenheit und der Abhängigkeit des Rechtssystems gegenüber dessen Umwelt vereinbar. Das Rechtssystem ist gleichzeitig autonom und abhängig, wenn seine Reaktion auf seine Umwelt durch rechtsspezifische 144  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 81, 83, 94. ARSP 88 (2002), 305 (308). 146  Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 46. Zum Paradigmenwechsel in der Rechtssoziologie vgl. auch Nelken, in: Autopoietic Law, S. 191 ff. 147  Vgl. Lempert, in: Autopoietic Law, S. 152 ff. Auch Rückert, Autonomie des Rechts, geht stillschweigend von der Theorie der relativen Autonomie des Rechtssystems aus. Zum Vergleich dieser Theorie mit der Theorie der operativen Geschlossenheit vgl. Nelken, in: Autopoietic Law, S. 191 ff. 148  Lempert, in: Autopoietic Law, S. 152 (157). 149  Lempert, in: Autopoietic Law, S. 152 (161 ff.). 150  Lempert, in: Autopoietic Law, S. 152 (158 ff.). 145  Dreier,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Kommunikationen, Beobachtungen und Strukturen bestimmt wird. Sofern es rechtsspezifische Kommunikationen sind, die den Rückgriff auf rechtsexterne Kriterien nötig machen und ihm einen Anschluss im rechtlichen Kommunikationsnetz verschaffen, sofern der Rückgriff aus rechtsinternen Gründen erfolgt und sich in den rechtseigenen Sinnhorizont integriert, bleibt das Rechtssystem autonom.151 Diese Auffassung der Autonomie des Rechts entspricht besser der Art und Weise, in der der Autonomiebegriff zur Charakterisierung der Persönlichkeit eines Menschen verwendet wird. Die Autonomie der Persönlichkeit wird nicht einfach durch die Anerkennung gesellschaftlicher Normen, sondern erst durch deren gedankenlose und unkritische Anerkennung gefährdet. Die Theorie der offenen Geschlossenheit kann den gravierenden Unterschied, ob das Recht trotz seiner Abhängigkeit von anderen sozialen Phänomenen als eine gegen die Umwelt ausdifferenzierte Einheit existiert oder nicht, angemessener berücksichtigen als die Theorie der relativen Autonomie im beschriebenen Sinne. Das bedeutet aber nicht, dass ein gradualisiertes Konzept der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts überhaupt nicht vorstellbar wäre, dass die Autonomie des Rechts, wie Luhmann annimmt, entweder gegeben wäre oder nicht und es keine Zwischentöne geben könnte.152 Vielmehr kann die Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts abgestuft vorhanden sein und zu- oder abnehmen.153 Das bezieht sich aber nicht, wie dies in der Theorie der relativen Autonomie der Fall ist, auf die Unabhängigkeit des Rechts gegenüber Umwelteinflüssen, sondern auf das Recht als ein System, das sich von der Umwelt unterscheidet und durch einen eigenen Sinnhorizont charakterisiert ist. Dieses System muss zuerst seine Chancen testen, kann anfangs nur teilweise, lokal und okkasionell und nicht von heute auf morgen vollständig und überall in Erscheinung treten. Wenn Luhmann von einer vollen Ausdifferenzierung des Rechtssystems spricht,154 setzt er in der Tat entgegen seiner Bekundung eine Abstufung der Ausdifferenzierung des Rechts voraus. Im Zusammenhang mit einem solchen gradualisierten Konzept der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts steht der in der vorliegenden Arbeit verwendete Kontrast zwischen der traditionellen oder vormodernen und der modernen Gesellschaft. Er kann nicht dahin verstanden werden, ein bestimmter historischer Zeitpunkt oder -raum markiere eine unüberbrückbare Trennlinie zwischen zwei Entwicklungsstadien, so dass weder ein MerkLuhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 88 ff. Das Recht der Gesellschaft, S. 65. 153  Zu einem gradualisierten Konzept der Autonomie des Rechts vgl. Teubner, Recht als autopoietisches System, S. 43 ff. 154  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 296. 151  Vgl.

152  Luhmann,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts47

mal, das das spätere Stadium kennzeichne, vor diesem Zeitpunkt oder -raum noch eine Erscheinung, die das vorangegangene Stadium charakterisiere, nach diesem Zeitpunkt oder -raum vorkommen könne. Die verschiedenen Entwicklungsstadien sind Idealtypen.155 Sie zeigen nur die Tendenz und die Richtung der gesellschaftlichen Evolution. Große Umwälzungen sind gewiss möglich. Es kann aber nicht sein, dass alles sich auf einmal verändert und es vorher keine Ansätze zur Veränderung zu erkennen gibt. Folglich ist Rückerts Kritik, dass die Verwendung der Kategorien modern / vormodern wegen der Vernachlässigung der geschichtlichen Kontinuität ihre historische Plausibilität verliert,156 zumindest für die vorliegende Arbeit unbegründet. c) Funktion des Rechtssystems Bei der Frage nach der Funktion des Rechtssystems geht es um die Frage, welches gesellschaftliches Problem durch die Ausdifferenzierung eines besonderen Kommunikationssystems Recht gelöst wird, nämlich um die Frage, welcher Vorteil für die Gesellschaft mit der Autonomie des Rechtssystems verbunden ist. Die Antwort darauf heißt: die Stabilisierung normativer Erwartungen.157 Menschen wollen sich nicht einfach und nicht immer an das faktisch Geschehene anpassen. Sie erkennen die Sollgeltung von Normen an, wollen Fakten an Normen messen und an normativen Erwartungen auch im Enttäuschungsfall festhalten. Hinter dem normativen Erwarten steht die Vorstellung, dass zwischenmenschliche Beziehungen gerecht geregelt werden sollen. In einer Gesellschaft, in der die gleiche Freiheit aller Individuen als Grundlage der Gerechtigkeit gilt,158 lassen sich nur solche Normen, die die gleiche Freiheit aller garantieren oder respektieren, als legitimes Recht, als legitime Maßstäbe anerkennen, die mit Zwang durchgesetzt werden dürfen und an denen auch im Enttäuschungsfall festzuhalten ist. Darüber hinaus begründet die Orientierung an gesellschaftlich allgemein anerkannten Normen soziales Vertrauen und gibt Sicherheit im zwischenmenschlichen Umgang. Die Stabilität des normativen Erwartens ist aber prekär. Zum einen lassen sich normative Erwartungen ohne sozialen Rückhalt schwer kontrafaktisch durchhalten. Zum anderen weiß man vor allem in der modernen Gesellschaft, in der die individuelle rational-kritische Reflexion hochgeschätzt Idealtypus vgl. Weber, in: Wissenschaftslehre, S. 146 (190 ff.). S.  19 ff. 157  Darauf weisen sowohl Luhmann als auch Habermas hin; vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 131 ff.; ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 73 ff.; ders., Rechtssoziologie, S. 40 ff.; Habermas, S. 167, 179. 158  Näher dazu unten Zweiter Teil, B. IV. 1. c). 155  Zum

156  Rückert,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

wird und normative Erwartungen verschiedener Personen häufig divergieren, oft nicht, welche normativen Erwartungen allgemein anerkennungsfähig sind. Auf diese prekäre Situation bezieht sich die Funktion des Rechtssystems. Sie besteht in der Selektion und Stabilisierung von schützenswerten normativen Erwartungen. Was eine Norm zu einer Norm macht, nämlich die kontrafaktische Enttäuschungsfestigkeit, wird in einem ausdifferenzierten, autonomen Rechtssystem gesichert, in dem sich Kommunikation letztlich ausschließlich an der Unterscheidung Recht / Unrecht als Code des Rechtssystems orientiert,159 nicht an anderen Unterscheidungen wie etwa der Unterscheidung Machtüberlegenheit / Machtunterlegenheit als Code des politischen Systems.160 Ein ausdifferenziertes Rechtssystem bringt die Unverbrüchlichkeit des Rechts zur Geltung und kümmert sich nicht darum, etwa die Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden bereitzuhalten. Dafür sorgt ein besonderes politisches System.161 Das Recht ist zwar schon vor seiner Ausdifferenzierung auf die Stabilisierung normativer Erwartungen abgestellt, kann diese Funktion aber nicht voll entfalten. Weil Fragen des Rechts etwa nicht von Fragen der Konfliktlösung162 oder von Fragen der Macht getrennt ist, müssen legitime normative Erwartungen eventuell zur Optimierung der Konfliktlösung oder bei ungünstigen Machtverhältnissen aufgegeben werden. Durch die Ausdifferenzierung des Rechts wird die Rechtsnorm, sofern sie nicht durch ein dafür vorgesehenes Verfahren geändert wird, mit mehr Durchhaltefähigkeit und mehr Stabilitätschancen ausgestattet. Damit wird den Gerechtigkeitsforderungen, die vom Recht anerkannt werden, in gesellschaftlicher Kommunikation stärker Geltung verschafft und das Vertrauen in die Rechtsnorm und die Erwartungssicherheit im Umgang mit anderen erhöht. Das ausdifferenzierte Rechtssystem ist in erster Linie auf die Stabilisierung normativer Erwartungen, nicht auf die Konfliktlösung ausgerichtet. Es löst „nicht unbedingt Konflikte […], um die es ursprünglich gegangen war, sondern nur solche, die es selbst konstruieren kann. Die Tiefenstrukturen und Konfliktmotive der Alltagskonflikte sowie die Frage, wer angefangen hat, bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt.“163 Das Recht ist nur eine der Möglichkeiten der Konfliktlösung und in manchen Fällen nicht die beste. Die Zuordnung von Recht und Unrecht und das Festhalten an der Rechtsnorm trotz Enttäuschungen können eventuell sogar als kontraproduktiv für die Konfliktlösung empfunden werden. Ihnen wird etwa in vielen traditionellen 159  Oben

Erster Teil, B. I. 1. b). Die Politik der Gesellschaft, S. 88 ff. 161  Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 84 ff. 162  Zum Verhältnis des Rechts zur Konfliktlösung gleich unten. 163  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 159 (Hervorhebung des Verfassers). 160  Luhmann,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts49

Gesellschaften nicht viel Wert für die Konfliktlösung beigemessen. Dort wird zur Eindämmung von Konflikten die Zurückhaltung bei der Wahrnehmung eigener berechtigter Interessen hochgeschätzt. Dort werden zugunsten der Konfliktlösung durch Schlichtung oder durch eine alle Beteiligten mehr oder weniger befriedigende Entscheidung oft auch in einem förmlichen Gerichtsverfahren die Gerechtigkeit und die Erwartungssicherheit geopfert.164 In der Tat kann „das Recht nicht nur Konflikte bereinig[en], sondern auch Konflikte erzeug[en]; denn mit Berufung auf das Recht kann man dann auch Zumutungen ablehnen und sozialen Pressionen widerste­hen.“165 Freilich kann das Recht auch zur Konfliktlösung beitragen. Die rechtliche Konfliktlösung beruht aber auf der Orientierung an der Rechtsnorm, also auf der Stabilisierung normativer Erwartungen, und hat auch darin ihren Vorteil. Durch ständige rechtliche Entscheidungen über Konflikte werden Gerechtigkeitsforderungen, die sich im Recht niederschlagen, hervorgehoben und die Erwartungssicherheit wird verstärkt. Es wird nicht ad hoc für jeden individuellen Konfliktfall nach einem ihm angemessenen, besonderen und optimalen Lösungsweg gesucht, sondern die Entscheidung über den Konflikt richtet sich nach abstrakt-generellen Normen. Die rechtliche Konfliktlösung wird darum nur in einer Gesellschaft hochgeschätzt, in der man an legitimen normativen Erwartungen auch im Enttäuschungsfall unbedingt festhalten und solche Erwartungen schützen will, so dass die Konfliktlösung auf der Anerkennung solcher Erwartungen bauen muss. Folglich besteht der Vorteil des ausdifferenzierten Rechtssystems unmittelbar und in erster Linie nicht in der Konfliktregulierung, sondern in der Stabilisierung normativer Erwartungen und, damit verbunden, darin, dass die Gerechtigkeit, die sich im Recht artikuliert, in der Gesellschaft besser zur Geltung kommt und dass die Erwartungssicherheit im Umgang mit anderen gewährleistet wird. 2. Differenzierung zwischen Recht und Politik In der modernen Gesellschaft bilden Recht und Politik zwei unterschiedliche Systeme. Beim Rechtssystem geht es um die Funktion der enttäuschungsfesten Stabilisierung normativer Erwartungen,166 um die Unterscheidung von Recht und Unrecht als Code des Systems167 und um die konsistente Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien.168 Beim 164  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 160 f., 167; vgl. zur Situation in der traditionellen chinesischen Gesellschaft unten Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 165  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 139. 166  Oben Erster Teil, B. I. 1. c). 167  Oben Erster Teil, B. I. 1. b). 168  Unten Erster Teil, B. I. 2. c) (2).

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

politischen System geht es dagegen um die Funktion des Bereithaltens der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden,169 um die Unterscheidung von Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit als Code des Systems170 und um Gemeinwohlüberlegungen.171 a) Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und juristische Kommunikation Die Gesetzgebung hat einen Doppelcharakter. Sie hat insofern einen rechtlichen Sinn, als sie die bestehende Rechtslage ändert und Gerichte diese Änderung in ihre Entscheidungspraxis einarbeiten. Sie hat insofern auch einen politischen Sinn, als sie ein wichtiges Instrument der Ermög­ lichung und Verwirklichung politischer Ziele ist, einen Prozess politischer Willensbildung zum Abschluss bringt und von einer Regierung oder einer politischen Partei als ihr politischer Erfolg gebucht oder als Beweis für die Handlungsfähigkeit der Politik dargestellt wird. Es sind also Recht und Politik als zwei verschiedene Kommunikationsnetze beziehungsweise -zusammenhänge, in die die Gesetzgebung sich einfügt. Dass Recht und Politik sich in einem einzelnen Akt der Gesetzgebung treffen, bedeutet nicht die Einheit von Recht und Politik. Als Systeme von aufeinander bezogenen Kommunikationen unterscheiden sie sich voneinander.172 Allerdings steht in der Gesetzgebung nicht die Differenzierung, sondern eher der Zusammenhang zwischen Recht und Politik im Vordergrund. Durch die Gesetzgebung gestaltet die Politik das Recht. Die Gesetzgebung dient als Ort der Transformation von Politik in Recht, als Kontaktzone zwischen Recht und Politik.173 Durch die Gesetzgebung wird der Umwelteinfluss auf das Rechtssystem intensiviert, die Dynamik des Systems gefördert. Das hat aber eine Kehrseite: Die Gesetzgebung kann die Unverbrüchlichkeit des Rechts und die normstabilisierende Funktion des Rechts nicht voll zur Geltung bringen. Sie ist als Peripherie des Rechtssystems einzustufen.174 Die Verwaltung hat auch einen Doppelcharakter. Sie ordnet sich insofern in das Rechtssystem ein, als sie wegen ihrer Bindung an das Recht über die Zuordnung von Recht und Unrecht kommuniziert. Einerseits wird verwaltungsintern darüber kommuniziert, ob ein beabsichtigtes oder schon vorgenommenes Verwaltungshandeln rechtmäßig oder nicht. Andererseits kom169  Luhmann, 170  Luhmann, 171  Luhmann, 172  Luhmann, 173  Luhmann, 174  Luhmann,

Die Politik der Gesellschaft, S. 84 ff. Die Politik der Gesellschaft, S. 88 ff. Die Politik der Gesellschaft, S. 120 ff. Das Recht der Gesellschaft, S. 424 f., 434 f.  Das Recht der Gesellschaft, S. 321 f., 424 f., 429. Das Recht der Gesellschaft, S. 321 f. 



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts51

muniziert die Verwaltung bei der Ausführung des Gesetzes nach außen mit den Betroffenen darüber, was das Gesetz im konkreten Einzelfall erlaubt oder verlangt. Die Verwaltung realisiert aber auch die Politik. In der Verwaltung geht es keinesfalls nur um Rechtsfragen, sondern auch um – und das steht nicht selten im Vordergrund ihrer Tätigkeiten – ziel- und problemorientierte Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, um Zweckmäßigkeit und Effektivität.175 Die Klärung von Rechtsfragen ist oft nicht von der Berücksichtigung von Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit getrennt und dient nicht primär der Wahrung des Rechts, sondern der Erfüllung von Sachaufgaben.176 Vor allem in gesetzesfreien Bereichen und in wohlfahrts- und vorsorgestaatlichen Tätigkeitsbereichen, in denen der Gesetzgeber zunehmend auf den klassischen Normtyp des Konditionalprogramms, auf die Anknüpfung von präzise definierten Rechtsfolgen an exakt festgeschriebene Tatbestandsvoraussetzungen verzichtet und stattdessen nach Art eines Finalprogramms nur die von der Verwaltung zu beachtenden und gegeneinander abzuwägenden Ziele und Gesichtspunkte vorschreibt, muss die Verwaltung selbständig Abwägungen vornehmen und Prioritäten setzen und Maßstäbe ihres Handelns selbst unter ständiger Anpassung an wechselnde Situationen herstellen.177 Die Verwaltung führt außerdem mit den Betroffenen Verhandlungen durch und sucht Kooperationen mit ihnen, um ihre Steuerungsziele zu erreichen.178 Darüber hinaus ist die Verwaltung weisungsgebunden. Sie und die Regierung als Leitung des Ganzen der inneren und äußeren Politik179 sind funktionell aufeinander angewiesen und organisatorisch miteinander verknüpft.180 In dieser Hinsicht gehört die Verwaltung in das politische System, das auf den Machtcode abstellt und sich im Sinnhorizont des Gemeinwohls bewegt. Weil die Verwaltung auch ein Teil des politischen Systems ist, muss man befürchten, dass sie politischen Gesichtspunkten wie etwa Gesichtspunkten des Gemeinwohls, der materiellen Gerechtigkeit,181 der Zweckmäßigkeit 175  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S.429; Hesse, S. 230. S. 236. 177  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (30 f.); ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (172 f.). 178  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S.429 f.; Grimm, in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (169 f.). 179  Hesse, S. 227. 180  Hesse, S.  229 f.  181  In der Rechtsauslegung und -anwendung kann man sich Gerechtigkeitsfragen nicht vollkommen entziehen. Es geht aber dabei um rechtseigene oder rechtsimmanente Gerechtigkeit, die sich stets auf ein ganzes Gewebe von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien, Präjudizien und Rechtsdogmatiken bezieht; dazu unten Erster Teil, B. I. 3. a). 176  Hesse,

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oder der Macht in deren Konflikt mit rechtlichen Gesichtspunkten den Vorzug gibt. In der Verwaltung können die Unverbrüchlichkeit des Rechts und die normstabilisierende Funktion des Rechts trotz der vorgeschriebenen Rechtsbindung keine feste Sicherung finden. Die Verwaltung ist, wie die Gesetzgebung, als Peripherie des Rechtssystems einzustufen. Die Rechtsprechung beschäftigt sich dagegen letztlich ausschließlich mit Rechtsfragen und dient ausschließlich der Wahrung des Rechts. Den Gerichten wird nur die Aufgabe zugewiesen, letztverbindlich zu entscheiden, was das Recht im konkreten Einzellfall ist und verlangt.182 Nur die Rechtsprechung ist in der Lage, die Unverbrüchlichkeit des Rechts zu sichern und die normstabilisierende Funktion des Rechts voll zur Geltung zu bringen. Sie steht im Zentrum des Rechtssystems.183 Auf sie ist die Differenzierung zwischen Recht und Politik entscheidend angewiesen. Obwohl Gerichte das letzte Wort über die Auslegung und Anwendung des Rechts haben, beschäftigen sich unter anderem auch Rechtsanwälte und Rechtswissenschaftler mit der richtigen Auslegung und Anwendung des Rechts und argumentieren juristisch. Sie nehmen also auch am Kommunikationssystem Recht teil. Die Rechtswissenschaft stellt die Kontaktzone zwischen Recht und Wissenschaft dar. Sie ist einerseits ein Teil des Wissenschaftssystems,184 gehört aber insofern auch zum Rechtssystem, als sie Rechtsdogmatik betreibt, richterliche Entscheidungen vorbereitet und kritisch überprüft.185 Im Folgenden wird die Differenzierung zwischen Recht und Politik in Hinsicht auf die Rechtsauslegung und -anwendung und die juristische Argumentation ausgeführt. Dabei rückt die Rechtsprechung freilich in den Fokus. Der Blick wird aber nicht darauf beschränkt, sondern allgemeiner auf juristische Kommunikation gerichtet. Juristische Kommunikation ist eine Kommunikation, in der eine Auslegung oder Anwendung des Rechts vorgenommen (etwa von einem Richter) oder vorgeschlagen (etwa von einem Rechtswissenschaftler oder einem Rechtsanwalt) und eventuell mit juristischer Argumentation begründet wird. Die Erweiterung des Blicks auf die juristische Kommunikation entspricht dem Ansatz der vorliegenden ­Arbeit, das Rechtssystem als ein Netzwerk aller am Code Recht / Unrecht orientierten Kommunikationen und nicht nur als ein organisiertes Entscheidungssystem aufzufassen.186 182  Hesse,

S. 235. Das Recht der Gesellschaft, S. 321 ff. 184  Vgl. Dreier, in: Recht – Moral – Ideologie, S. 48  ff., 70 ff.; Neumann, in: Einführung, S.  385 ff. 185  Zur Rechtsdogmatik und seinem Stellenwert im Rechtssystem unten Erster Teil, B. I. 2. c) (2). 183  Luhmann,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts53

b) Rechtsauslegung und -anwendung Bei der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung handelt es sich um eine Entscheidung oder Beurteilung, was das geltende Recht allgemein oder in einem konkreten Fall fordert. Dabei geht es nicht um die Fragen, was über das geltende Recht hinaus am zweckmäßigsten, vernünftigsten oder gerechtesten ist,187 ob und wie das geltende Recht zu ändern ist. Die Antwort auf diese Fragen bleibt der Politik überlassen, die in der Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung ihr Betätigungsfeld findet. 186

(1) U  nentbehrlichkeit von Wertungen und Gestaltungen in der Rechtsauslegung und -anwendung Mit der vorstehenden Umschreibung werden gestaltende und schöpferische Elemente in der Rechtsauslegung und -anwendung keinesfalls ausgeschlossen. Die Auslegung und Anwendung der Rechtsnorm ist nicht das Erkennen des Norminhalts, der von Wertungen und Gestaltungen des Rechtsinterpreten unabhängig und immer feststehend bleibt. Im Gegenteil „beinhaltet jede Anwendung des Rechts grundsätzlich eine inhaltliche Anreicherung und Fortbildung.“188 Diejenigen, die das Recht auslegen und anwenden, lassen ihre eigenen Wertungen in jede Auslegung und Anwendung des Rechts einfließen und das mit dem Richtigkeitsanspruch auftretende geltende Recht, von ihrem jeweiligen Blickwinkel aus betrachtet, im besten Licht erscheinen.189 Hierzulande unterscheidet man gewöhnlich zwischen der Rechtsauslegung und der Rechtsfortbildung, deren Produkt auch als Richterrecht bezeichnet wird.190 Subjektive Wertungen existieren aber nicht nur in der Rechtsfortbildung, sondern auch in der Rechtsauslegung. Der Analogie als Mittel der Rechtsfortbildung und der systematischen Auslegung liegt beispielsweise die gleiche normative Auffassung zugrunde, dass das Recht insgesamt ein kohärentes Normensystem aufweisen soll.191 Selbst die grammatische oder philologische Auslegung, die wertfrei scheint, ist im Grunde genommen wertgeladen.192 Denn hinter ihr steckt der Gedanke, dass die Auslegung nach dem Wortsinn den Willen des Gesetzgebers gut zur Geltung bringen, 186  Oben

Erster Teil, B. I. 1. a). 3, 162 (182); 10, 354 (371); 36, 174 (189); 54, 11 (26). 188  Christensen, ARSP 73 (1987), S. 75 (82). 189  Dworkin, Law’s Empire, S. 87 ff., S. 228 ff., 255 ff. 190  Vgl. Larenz / Canaris, S. 143, 187; Fikentscher, S. 294 f., 302. 191  MacCormick / Summers, in: Interpreting Statutes, S. 511 (533 ff.). 192  MacCormick / Summers, in: Interpreting Statutes, S. 511 (513 f., 535 f.). 187  BVerfGE

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

die Rechtssicherheit fördern und damit das Recht ins bessere Licht setzen kann. Gerade deswegen wird das Recht über den Wortlaut hinaus oder gar gegen den Wortlaut fortgebildet, wenn die Wertungen, die dafür sprechen, die Wertungen, denen die grammatische Auslegung zugrunde liegt, überwiegen.193 Im Grunde genommen besteht also kein wesentlicher Unterschied zwischen der Rechtsauslegung und der Rechtsfortbildung.194 Deswegen wird der Begriff der Auslegung oder Interpretation des Rechts in der vorliegenden Arbeit in einem weiteren Sinne verwendet, der auch die Fortbildung des Rechts einschließt.195 Die Angewiesenheit der Rechtsauslegung und -anwendung auf subjektive Wertungen gilt auch unabhängig davon, ob es sich um hard cases oder easy cases handelt. Ist man der Auffassung, dass eine Norm einfach auszulegen und anzuwenden oder gar in ihrer Bedeutung eindeutig ist, so liegt das nicht daran, dass Wertungen entbehrlich sind, sondern daran, dass eine als eindeutig festgestellte Normbedeutung oder eine bestimmte Art der Auslegung und Anwendung mit darin enthaltenen oder zugrunde liegenden Wertungen unumstritten etabliert ist und keine ernst zu nehmenden Konkurrenten hat. Sobald diese Bedingung verloren geht, wird die Auslegung und Anwendung derselben Norm dann schwierig.196 Wertende Elemente finden sich also in jeder Auslegung und Anwendung des Rechts. Der Unterschied ist nur, dass Wertungen mal offen, mal verdeckt, oder mal umstritten, mal unumstritten sind. Gestaltende und wertende Elemente in der Rechtsauslegung und -anwendung halten das Rechtssystem responsiv gegenüber Umweltveränderungen und offen gegenüber Umweltanforderungen.197 Die Dynamik des Rechts wird nicht nur durch die Gesetzgebung, sondern auch, obwohl in geringerem Maße, durch die Rechtsprechung hervorgerufen. Die Anpassungsfähigkeit der Rechtsprechung zeigt sich deutlich in einer wirklichkeitsbezogenen Rechtsauslegung. In einer solchen wird „der Normtext als Ausdruck eines Zwecks verstanden […], der sich in der sozialen Wirklichkeit Geltung verschaffen soll. […] Die Norm ist so auszulegen, dass der Zweck unter den 193  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 305; MacCormick / Summers, in: Interpreting Statutes, S. 511 (528, 538). 194  Larenz / Canaris, S.  187 f.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 255. 195  Vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 87 ff.; MacCormick / Summers, in: Interpreting Statutes, S.  511 ff.; Summers / Taruffo, in: Interpreting Statutes, S. 461 ff. Dort liegt der weitere Begriff der Interpretation zugrunde. Auch der Europäische Gerichtshof betrachtet die Rechtsfortbildung als Interpretation des Rechts; dazu vgl. Vogenauer, S.  394 ff. 196  Dworkin, Law’s Empire, S. 353 f. 197  Zur Responsivität der Rechtsprechung vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 237; Teubner, in: Integratives Verstehen, S. 199 (201 f., 206).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts55

jeweiligen Wirklichkeitsbedingungen optimal verwirklicht wird.“198 Zur Analyse der sozialen Wirklichkeit wendet man sich gegebenenfalls an andere nichtjuristische Disziplinen, insbesondere an sozialwissenschaftliche Erkenntnisse.199 Die Bedeutung der Norm wird also unter Heranziehung von konkreten Lebensverhältnissen, auf die die Norm bezogen ist, ermittelt200 und ergibt sich erst im „Hin- und Herwandern des Blickes“201 zwischen Norm und Wirklichkeit und durch die Erwägung von Interpretationsfolgen.202 Dies hat zur Folge, dass sozialer Wandel zum Bedeutungswandel der Norm führt.203 Das geltende Recht vermag sich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auch ohne Rechtsänderung durch Gesetzgebung anzupassen. (2) D  er spezifisch rechtliche Charakter von Wertungen und Gestaltungen in der Rechtsauslegung und -anwendung Gestaltende und wertende Elemente in der Rechtsauslegung und -anwendung verwischen keinesfalls die Differenzierung zwischen Recht und Politik. Sie zeigen einerseits, dass Juristen keine bloßen Werkzeuge der Politik sind. Andererseits machen sie Juristen auch nicht zu aktiven Akteuren im politischen System. Denn sie sind spezifisch rechtlich. Sie sind keine Fremdkörper, die in die Rechtsauslegung und -anwendung eindringen, sondern deren konstituierende Elemente. Sie entstehen nur durch und für die Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts. Eine neue Interpretation der Norm kann zum Beispiel durch die gerade erwähnte Erwägung von Interpretationsfolgen herbeigeführt werden. Es geht dabei aber auf keinen Fall um eine Vermeidung unerwünschter Rechtsfolgen, sondern um eine verbesserte Deutung des geltenden Rechts.204 Man stützt sich auf die Norm, die in vergangenen rechtlichen Kommunikationen entstanden war und immer wieder verwendet und bestätigt wurde, und bestätigt seinerseits die Norm in ihrer rechtlichen Geltung durch ihre neue Interpretation. Nur was als mögliche Bedeutung der Norm in Betracht kommt, wird unter dem Gesichtspunkt von Interpretationsfolgen bewertet, deren – positive oder negative – Rückwirkung auf den Normzweck den 198  Grimm,

in: Gemeinwohl und Gemeinsinn, S. 125 (131). Verhältnis der Rechtswissenschaft zu anderen Disziplinen vgl. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 2. 200  Hesse, S. 18; Müller, S.  214 ff. 201  Engisch, S. 15. 202  Zu folgenorientierter juristischer Argumentation vgl. verschiedene Beiträge in Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe. 203  Grimm, in: Recht und Staat, S. 399 (403). 204  Grimm, in: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, S. 139 (145). 199  Zum

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Ausschlag für die Wahl zwischen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten gibt.205 Dabei ist man wiederum in vielfältiger Weise auf vergangene rechtliche Kommunikationen angewiesen. Die Bezugnahme der folgenorientierten Argumentation auf den Normzweck zeigt, dass diese Argumentation eine Fortentwicklung der teleologischen Auslegung, einer im Rechtssystem anerkannten Argumentationsform, ist. Auch zur Feststellung des Normzwecks greift man auf vergangene rechtliche Kommunikationen wie Präjudizien, rechtsdogmatische und rechtsmethodologische Diskussionen zurück. Dort findet man sowohl allgemeine Hinweise darauf, wie man den Zweck einer Norm herausfindet, als auch konkrete Feststellungen über den Zweck der jeweils auszulegenden Norm. Bei der Auslegung und Anwendung des Rechts versetzt man sich nicht in eine Lage, so wie man vor einem leeren Blatt sitzt und machen kann, was immer man vorhat. Was im Rechtssystem schon passiert ist, bildet die Grundlage, die Einschränkung und auch die Quelle für die Innovation in der Rechtsauslegung und -anwendung. Aufgrund von gestaltenden und wertenden Elementen in der Rechtsauslegung und -anwendung kann man freilich nicht sagen, dass diese durch eine nur rückwärtsgewandte Perspektive, die an dem Gegebenen festhält, charakterisiert ist. Trotzdem verhält es sich bei der Rechtsauslegung und -anwendung anders als bei der Politik. Die Politik kann das Gemeinwesen potenziell frei gestalten, ganz mit der Vergangenheit brechen und eine vollkommen andere Zukunft auf den Weg bringen, soweit die Machtverhältnisse dies zulassen. Wenn das geltende Recht dabei im Weg steht, wird es geändert. Die Politik kann also eine vorwärtsgewandte Perspektive einnehmen, ohne sich dabei auf eine rückwärtsgewandte Perspektive zu stützen. Sie braucht diese beiden Perspektiven nicht irgendwie in Einklang zu bringen und konsistent miteinander zu verbinden. Man muss dies aber in der Rechtsauslegung und -anwendung tun. Hier wird die Kontinuität mit der Vergangenheit immer gepflegt. Obwohl die Innovation nicht verwehrt, ja wünschenswert und in vielen Fällen notwendig ist, basiert die Innovation doch auf der Kontinuität. Eine vorwärtsgewandte Perspektive eröffnet sich erst, wenn eine rückwärtsgewandte Perspektive dazu Anlass gibt und dies rechtfertigt.206 Durch die Rechtsauslegung und -anwendung wird das geltende Recht in neuen Fällen bestätigt und gleichzeitig mit Sinn angereichert.207 Im Namen der Rechtsauslegung und -anwendung und auch im Namen der sogenannten Rechtsfortbildung wird keine neue Regel aufgestellt, die sich nicht irgendwie mit dem geltenden Recht begründen lässt und in diesem 205  Grimm,

in: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, S. 139 (156). diesen beiden Perspektiven charakterisiert Dworkin die Auslegung und Anwendung des Rechts; vgl. Dworkin, Law’s Empire, S. 225. 207  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 9. 206  Mit



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts57

einen Rückhalt findet. In dieser Hinsicht findet sich wiederum, wie oben unter einem anderen Aspekt festgestellt,208 kein wesentlicher Unterschied zwischen der Rechtsauslegung und der Rechtsfortbildung, die in der vorliegenden Arbeit in die Rechtsauslegung einbezogen wird. Die gerade besprochene folgenorientierte Argumentation lässt sich hier nochmals als Beispiel anführen. Ihre vorwärtsgewandte Perspektive, die in der Folgenberücksichtigung und im dadurch hervorgerufenen Bedeutungswandel der Norm liegt, basiert immer auf einer rückwärtsgewandten Perspektive, die im Festhalten an der Normgeltung und am Normzweck besteht, der im Auge des jeweiligen Norminterpreten unverändert bleibt. Nicht nur bei der Gesetzesauslegung und -anwendung sondern auch beim angloamerikanischen Fallrecht, das durch richterliche Entscheidungen entsteht, verbindet sich eine vorwärtsgewandte Perspektive mit einer rückwärtsgewandten Perspektive. Der Richter darf nämlich das durch Präzedenzentscheidungen entwickelte geltende Recht nicht missachten, sondern nur auf seiner Grundlage weiterentwickeln und fortbilden. Richter lassen sich, wie Dworkin ausführt, mit Autoren vergleichen, die nacheinander jeweils ein Kapitel eines gemeinsamen Romans schreiben. Dabei kann jeder Autor durch sein eigenes Kapitel seine Ideen in das Roman einbringen, muss aber die Kontinuität mit vorigen Kapiteln beachten und die Einheitlichkeit des gemeinsamen Romans bewahren.209 Gestaltende und wertende Elemente in der Auslegung und Anwendung des Rechts sind spezifisch rechtlich, nicht nur weil sie sich auf vorangegangene rechtliche Kommunikation beziehen, sondern auch weil spätere rechtliche Kommunikation sich auf sie bezieht. Eine von einem praktischen oder akademischen Juristen unternommene innovative Interpretation des Rechts kann im Laufe der Zeit in rechtlicher Kommunikation kursieren, sich als herrschende Lehre im Rechtssystem etablieren, als wesentlicher Inhalt des geltenden Rechts angesehen werden und ihrerseits Juristen zu weiteren Innovationen inspirieren. Zum Beispiel wurden die Grundrechte im Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht allein als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern zugleich als oberste objektive Prinzipien betrachtet, die der gesamten Rechtsordnung Maß und Richtung geben und auch in der Auslegung und Anwendung des Rechts inklusive zivilrechtlicher Vorschriften zur Geltung kommen sollen.210 Dieses Grundrechtsverständnis war damals nicht unumstritten, da „der Einfluß der Grundrechte zuvor an der Gesetzesprüfung geendet hatte“.211 Die Bedeutung der 208  Oben

Erster Teil, B. I. 2. b) (1). Law’s Empire, S. 229 ff. 210  BVerfGE 7, 198 (204 ff.). 211  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 295 (307). 209  Dworkin,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Grundrechte als objektiver Prinzipien ist aber inzwischen hierzulande unter Juristen selbstverständlich geworden und wurde zur Begründung staat­ licher Schutzpflichten für die grundrechtlich garantierte Freiheit weiterentwickelt.212 Eine wie auch immer innovative Interpretation des Rechts fügt sich also stets in das Netz von aufeinander bezogenen rechtlichen Kommunikationen ein und hebt sich damit von einer politischen Operation ab. Sie weist auf, was vorstehend als offene Geschlossenheit beschrieben wurde.213 Der Offenheit und Responsivität einer Rechtsinterpretation liegt die Geschlossenheit des Rechtssystems zugrunde, die in der wechselseitigen Bezugnahme zwischen einer Rechtsinterpretation und anderen rechtlichen Kommunika­ tionen und in einem dadurch entstandenen besonderen rechtlichen Sinn­ horizont zum Ausdruck kommt. Gestaltende und wertende Elemente der Rechtsauslegung und -anwendung liefern keinen Beweis für die Entdifferenzierung von Recht und Politik. Ihre Integration in den besonderen recht­ lichen Sinnhorizont bestätigt vielmehr die These der Differenzierung von Recht und Politik und der Autonomie des Rechtssystems. Weil der Richter für seine Entscheidung einen Platz im besonderen rechtlichen Sinnhorizont sucht, geht die Auslegung und Anwendung des Rechts, wie diese auch immer von der Politik beeinflusst wird, nicht in der Politik auf. Selbst in der empirischen Forschung, wo man häufig eine Korrelation zwischen Entscheidungen von Richtern und ihrer parteipolitischen Nähe zu belegen versucht,214 findet sich die Feststellung, dass solch eine Korrelation in manchen Sachbereichen nicht vorhanden ist.215 Aber auch dort, wo solch eine Korrelation empirisch bestätigt wird, geht die Autonomie des Rechtssystems nicht notwendig verloren. Wie ausgeführt, ist ein gegenüber der Umwelt responsives Rechtssystem auch insofern autonom, als seine Anpassung an die Umwelt aus rechtsinternen Gründen erfolgt und sich in den rechtseigenen Sinnhorizont integriert.216 Meinungsauseinandersetzung und -bildung im politischen System beeinflusst freilich die richterliche Entscheidung etwa durch politische Überzeugungen des Richters 212  Grimm,

in: Die Verfassung und die Politik, S. 295 (308 f.). Erster Teil, B. I. 1. b). 214  Zur Zusammenfassung des Forschungsstandes vgl. Peretti, A Political Court, S.  100 ff. 215  Sunstein, S. 48 ff. Dort stellt er in Bezug auf die Bundesgerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten fest, dass eine Korrelation zwischen Entscheidungen von Richtern und ihrer parteipolitischen Affiliation in Bereichen wie Strafberufung, Eigentumsschutz, Strafschadensersatz und Streit über Bundesgesetzgebungskompetenzen nicht existiert. 216  Oben Erster Teil, B. I. 1. b). 213  Oben



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts59

und nicht zuletzt durch eine Richterauswahl. Unter Richtern bildet sich aber auf keinen Fall ein fester Dualismus von überlegener und unterlegener Macht, wie dies in der Politik der Fall ist und durch die Form von Regierung und Opposition zum Ausdruck kommt.217 Bei seiner wie auch immer politisch beeinflussten Entscheidung berücksichtigt der Richter in der Regel auch, wie das Recht bisher in der Praxis und in der Wissenschaft ausgelegt und angewandt wurde, und fügt seine Entscheidung in das jeweilige juristische Koordinatensystem ein.218 Damit schwächt er nicht, sondern bestätigt die Autonomie des Rechtssystems. Diese auf der offenen Geschlossenheit basierende Autonomie erkennt man nicht, wenn man nur auf die Korrelation zwischen richterlichen Entscheidungsergebnissen und außerrechtlichen Faktoren abstellt, wie dies in der empirischen Forschung oft der Fall ist. Diese Autonomie erkennt man erst, wenn man die Art und Weise in den Blick nimmt, wie man im Rechtssystem argumentiert. Damit befasst sich die vorliegende Arbeit im Folgenden. c) Juristische Argumentation (1) Juristischer Diskurs Im Rechtssystem wird mittels Argumentation über die Auslegung und Anwendung des Rechts diskutiert und entschieden oder zumindest vorausgesetzt, dass juristische Aussagen als Aussagen über die Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts rational begründbar und intersubjektiv überprüfbar sind. In der Tat sind alle praktischen Aussagen, also Aussagen darüber, was getan oder unterlassen werden soll oder darf, entgegen den Auffassungen des Nonkognitivismus, mit einem Anspruch auf Richtigkeit und rationale Begründbarkeit verbunden.219 Sie sind nicht „Ausdrücke oder Beschreibungen von Gefühlen oder Einstellungen […], die zwar psychologisch und soziologisch erklärt, nicht aber als richtig oder wahr erwiesen werden können“.220 Sie sind nicht, wie der Dezisionismus oder der Voluntarismus vertritt, bloße Entscheidungen oder Meinungen, die nicht rational begründbar, nicht intersubjektiv überprüfbar, letztlich willkürlich und keiner Kritik 217  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 421. Autonomie des Rechts trotz seines engen Zusammenhangs mit der Politik vgl. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 418 f.; Grimm, in: Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, S. 47 (54 f.). 219  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 141 ff., 165 ff., 221 f.; Habermas, S.  33 ff.; Neumann, in: Einführung, S. 385 (392 f., 399 f.). 220  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 221 f. 218  Zur

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

zugänglich sind. Die von praktischen Aussagen beanspruchte Richtigkeit, Gültigkeit oder Wahrheit ist nicht eng als logische Ableitbarkeit oder empirische Nachweisbarkeit, sondern als überzeugende Begründbarkeit zu verstehen. Freilich ist es oft umstritten, was richtig ist, und es kann sein, dass widersprüchliche Aussagen gleichzeitig, aber in unterschiedlicher Weise, ra­ tional begründbar sind. Das bedeutet aber keinesfalls, dass Begriffe wie Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität221 sinnlos sind. Denn erstens fungiert der absolute Begriff der Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität als regulative Idee, als ein anzustrebendes Ziel.222 „Die Teilnehmer eines praktischen Diskurses müssen unabhängig davon, ob eine einzig richtige Antwort existiert, den Anspruch erheben, daß ihre Antwort die einzig richtige ist. Andernfalls wären ihre Behauptungen und Begründungen sinnlos.“223 Zweitens werden praktische Aussagen in einem argumentativen Diskurs einer intersubjektiven Überprüfung und rationalen Kontrolle zugänglich gemacht. Auseinandersetzungen mit Argumenten führen zwar nicht zur endgültigen Gewissheit in jeder praktischen Frage, aber doch aus dem Bereich bloßen Meinens und Entscheidens und zur Berichtigung von Irrtümern und Reduktion der Irrationalität. Was man durch intersubjektive, argumentative Auseinandersetzungen herausbekommt, lässt sich als richtig, objektiv, rational oder neutral im relativen Sinne betrachten.224 In juristischen Aussagen geht es letztlich darum, was unter dem geltenden Recht getan oder unterlassen werden soll oder darf, also um praktische Fragen.225 Was über praktische Aussagen gesagt wurde, gilt folglich auch für juristische Aussagen. Diese können freilich subjektiv in dem Sinne sein, dass gleiche juristische Fragen von verschiedenen Personen womöglich unterschiedlich beantwortet werden. Es gibt immer wieder juristische Entdeckungen oder Erfindungen.226 Jedoch sind juristische Aussagen, die von Wertungen eines Rechtsinterpreten geprägt sind, keineswegs subjektiv in dem Sinne, dass sie Ausdrücke von Gefühlen oder Entscheidungen oder Meinungen sind, die zwar psychologisch oder soziologisch zu erklären, nicht aber rational zu begründen oder zu widerlegen und keiner intersubjek221  Neutralität bedeutet hier keine Wertfreiheit, sondern die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Auffassungen und die Überwindung von Vorurteilen. 222  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 414; Neumann, in: Einführung, S. 333 (342). 223  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 414. 224  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 415 f. 225  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 263 f. 226  Neumann, in: Einführung, S. 385 (393).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts61

tiven Überprüfung zugänglich sind. Es geht nicht nur um, wie Oliver Wendell Holmes bemerkte, „the prophecies of what the courts will do in fact“227. Juristische Aussagen sind keine Selbstgespräche. Ihr Sinn lässt sich nur in einem Zusammenhang von Kommunikationen verstehen. In einem solchen erheben juristische Aussagen einen Anspruch auf Richtigkeit und Begründbarkeit und führen weitere Aussagen, Argumentationen und Begründungen pro und contra herbei. Dabei fungiert der absolute Begriff der Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität als eine unverzichtbare regulative Idee. Aus der Innen- oder Teilnehmerperspektive des jeweiligen Rechtsinterpreten228 kann es für jede Frage nur eine einzig richtige Antwort geben.229 Mit einem Richtigkeitsanspruch tritt man in einen argumentativen juristischen Diskurs ein und versucht andere Menschen zu überzeugen. Ein solcher Diskurs führt subjektive Wertungen des Rechtsinterpreten aus bloßem Meinen und Entscheiden und beseitigt ihre Beliebigkeit und Willkürlichkeit. Er treibt den juristischen Fortschritt voran. Er ermöglicht die relative Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsauslegung und -anwendung.230 Da praktische Aussagen auch im politischen System gemacht werden, wird auch dort argumentiert. Argumentation in der juristischen Kommunikation und Argumentation in der politischen Kommunikation unterscheiden sich aber in vielfacher Weise voneinander. Die juristische Argumentation ist charakterisiert durch ihr Ziel, durch die auf Rechtsdogmatiken und Präjudizien basierende Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien und durch günstigere Argumentationsbedingungen. Das Ziel der juristischen Argumentation besteht letztlich in der Klärung des allgemeinen oder auf eine konkrete Fallkonstellation bezogenen Bedeutungsgehalts des geltenden Rechts. Das ist im Vorhergehenden ausführlich behandelt worden.231 Im Folgenden seien andere Charakteristika erläutert. (2) Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien232 werden in der rechtlichen Kommunikation entwickelt und für verschiedenartige Konstellationen immer 227  Holmes,

Harvard Law Review 10 (1897), 457 (461). dazu Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 47 f. 229  Dworkin, Law’s Empire, S. 80 ff.; Neumann, in: Einführung, S. 333 (342). 230  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 264 ff., 415 f. 231  Oben Erster Teil, B. I. 2. b). 232  Vgl. zur Unterscheidung von Regeln und Prinzipien Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 119 f. Danach sind Regeln „definitive Gebote“, nämlich „Normen, die bei Erfüllung des Tatbestandes eine definitive Rechtsfolge anordnen“. 228  Vgl.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

wieder verwendet. Sie werden einerseits im Hinblick auf ihre Wiederverwendung oder als Folge davon auf einen Identitätskern kondensiert. Andererseits werden sie durch Wiederverwendung in anderen Situationen immer wieder konfirmiert und bekommen damit einen generalisierten und angereicherten Sinn.233 Die Bildung und Wiederverwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien findet zwar auch in der Gesetzgebung, aber vor allem in der juristischen Argumentation und Entscheidung statt. Hier geschehen Kondensierung, Konfirmierung, Systematisierung, Verfeinerung und Ausdifferenzierung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien am intensivsten. Das erklärt auch, warum Gerichte, die juristisch argumentieren und entscheiden, im Vorstehenden als Zentrum des Rechtssystems, die Gesetzgebung hingegen als Peripherie des Rechtssystems eingestuft wird.234 Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien raffen Informationen und erzeugen Redundanzen.235 „Redundanz ist die Information, die man bereits hat, um Informationen bearbeiten zu können“236. Sie ist durch Formelhaftigkeit und Wiederholbarkeit gekennzeichnet.237 Redundanzen organisieren Informa­ tionsverarbeitung, wehren eine Überlastung des Rechtssystems mit Informationen ab und bewirken eine hohe Indifferenz des Rechtssystems gegenüber seiner Umwelt.238 „Nur sehr wenige Kommunikationen, die in der Umwelt kursieren, haben im Rechtssystem Informationswert.“239 „Redundanzen schließen […] nicht nur Informationen aus, sie produzieren auch Informa­ tionen, indem sie die Sensibilität des Systems spezifizieren.“240 Ein Repertoire an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien hilft zu erkennen, welche Ereignisse als relevante Informationen im Rechtssystem zu berücksichtigen sind. Ein solches Repertoire bildet insofern eine Entlastung für juristisches Argumentieren, als es eine Kristallisation von vergangenen rechtlichen Kommunikationen, darunter auch vergangenen juristischen Argumentationen, darstellt, und zu vermeiden hilft, dass alles jedes Mal erneut argumentiert wird. Auf ein solches Repertoire greift auch der Gesetzgeber zurück, damit neue Gesetze sich besser in die juristische Argumentations- und Demgegenüber sind Prinzipien „Optimierungsgebote“, nämlich „Normen, die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die tatsächlichen und die rechtlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“. Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  71 ff.; Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 54 ff. 233  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 353, 369. 234  Oben Erster Teil, B. I. 2. a). 235  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 385. 236  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 358. 237  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 353. 238  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 354. 239  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 354. 240  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 354.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts63

Entscheidungspraxis einfügen lassen. Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien koordinieren also verschiedenartige juristische Argumentationen und rechtliche Entscheidungen und ermöglichen deren rekursive Bezugnahme aufeinander. „Auf diese Weise gibt es im System dann Informationen, die es in der […] Umwelt nicht geben kann.“241 Die Bildung und Wiederverwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien unterscheidet die juristische Argumentation unverwechselbar von anderen Arten der Argumentation und ermöglicht die Ausdifferenzierung eines besonderen Rechtssystems. Für die Entwicklung und Wiederverwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien in der juristischen Argumentation sind Rechtsdogmatik und Präjudizien unverzichtbar. Sie sind ihrerseits durch juristische Argumentationen entstanden und bergen bisherige Errungenschaften bei der Entwicklung und Wiederverwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien in sich. Auf sie beziehen sich wiederum spätere juristische Argumentationen. Durch den immer wiederkehrenden Rückgriff auf Rechtsdogmatik und Präjudizien werden Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien immer weiter entwickelt, konkretisiert, modifiziert, verfeinert, ausdifferenziert und systematisiert. An diesem Rückgriff zeigt sich deutlich die für die Ausdifferenzierung des Rechts entscheidende Bezugnahme von rechtlichen Kommunika­ tionen aufeinander. Die Rechtsdogmatik wird im Rahmen der als eigenständige Disziplin etablierten Rechtswissenschaft betrieben.242 Sie unternimmt die begrifflichsystematische Durchdringung des geltenden Rechts.243 Sie erarbeitet Vorschläge zur Lösung von Rechtsfällen und hilft damit, richterliche Entscheidungen vorzubereiten.244 Sie unternimmt die theoretische Rekonstruktion und die kritische Überprüfung von richterlichen Entscheidungen.245 Rechtsdogmatische Sätze können durch die wiederholte Verwendung in juristischen Argumentationen als herrschende Meinungen etabliert sein oder nur als Minderheitsmeinungen gelten. Mit Präjudizien werden vorangegangene Gerichtsentscheidungen bezeichnet, in denen über Rechtsfragen argumentiert und entschieden wurde, die 241  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 354. Theorie der juristischen Argumentation, S. 314; allgemein zum Thema Rechtsdogmatik vgl. auch Krawietz, ÖZöR 23 (1972), 47 (54 ff.); Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 15 ff.; Wieacker, in: Hermeneutik und Dialektik, S.  311 (316 ff.); Esser, in: Privatrechtsinstitutionen, S. 517 (522 ff.). 243  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 308. 244  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 308; Neumann, in: Einführung, S. 385 (396 f.). 245  Neumann, in: Einführung, S. 385 (397). 242  Alexy,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

für die aktuell zu entscheidende oder zu diskutierende Sache relevant sind. Im angloamerikanischen Rechtskreis besteht eine formale rechtliche Bindung der Gerichte an Präjudizien. Aber auch im kontinentaleuropäischen Rechtskreis spielen Präjudizien eine große Rolle für die Entwicklung des Rechts. Dort setzt man sich auch, obwohl in unterschiedlichem Maße, mit Präjudizien auseinander und beruft sich beim juristischen Argumentieren und Entscheiden auf Präjudizien.246 Das weist darauf hin, dass Präjudizien dort nicht nur eine rein faktische, sondern eine wie auch immer beschränkte normative Bindungswirkung zusteht.247 An der Entwicklung und Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien auf der Basis der rechtsdogmatischen Argumentation und der Präjudizienverwertung lassen sich Bemühungen erkennen, schon getroffene und eventuell noch zu treffende rechtliche Entscheidungen in ein kohärentes System einzuarbeiten. Fälle werden nicht ad hoc und isoliert, sondern im Hinblick auf vergangene und mögliche zukünftige Fälle behandelt.248 Vorangegangene Argumentationen und Entscheidungen, die für die aktuell zu entscheidende oder zu diskutierende Sache relevant sind, werden nicht einfach vergessen und in der Vergangenheit gelassen, sondern in die Gegenwart gezogen, unter die Lupe genommen und mit der aktuellen Entscheidung in Zusammenhang gebracht oder für die aktuelle Diskussion fruchtbar gemacht. Es besteht also eine Tendenz zur Konsistenzwahrung und Systematisierung in der juristischen Argumentation249 oder, im Anschluss an MacCormick und Summers, zur systematischen Argumentation im weiten Sinne.250 Durch die Systematisierung des Rechtsstoffs hebt sich die juristi246  Vgl. verschiedene Länderberichte in MacCormick / Summers (Hrsg.), Interpret­ ing Precedents. 247  Peczenik, in: Interpreting Precedents, S. 461 (463 ff.); MacCormick / Summers, in: Interpreting Precedents, S. 531 (532 ff.); Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S.  335 ff.; Kriele, S.  243 ff.; Bydlinski, JZ 1985, 149 (151 ff.); a. A. etwa Larenz, S.  429 ff. 248  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 332; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 263 f. 249  Vgl. Larenz, S.  166 ff., 437 ff., 474 ff.; Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S.  21 f.; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 275 f.; Krawietz, ÖZöR 23 (1972), 47 (66 ff.); Reinhardt, S.  211 ff. 250  Vgl. MacCormick / Summers, in: Interpreting Statutes, S. 511 (513 f.); MacCormick, in: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, S 39 (44). Dort werden Argumente aus der Stellung einer Norm im Gesetzestext, Argumente aus Präjudizien, Argumente aus der Analogie, begrifflich-logische Argumente, Argumente aus Rechtsprinzipien und historisch-kontextuale Argumente unter der Dachkategorie Systematische Argumente zusammengefasst. Solche systematische Argumentationen im weiten Sinne sind darauf angelegt, „vor dem Hintergrund der Charakteristika des jeweiligen Rechtssystems zu einer stimmigen Interpretation beizutragen“; siehe dazu MacCormick, in: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, S. 39 (44). Bei systematischen Ar-



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts65

sche Argumentation unverwechselbar von anderen Arten der Argumentation ab, und es entsteht mit der Zeit eine spezifisch juristische Argumentationsund Entscheidungsgeschichte. Die systematische Argumentation im weiten Sinne verhindert „eine Desintegration des Systems in eine bloße Menge von Einzelentscheidungen“251 und garantiert, dass „das Rechtssystem sich in seiner eigenen Veränderung als System bewährt“.252 Argumentationen mit Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien auf der Basis der Verwendung von rechtsdogmatischen Sätzen und Präjudizien lassen sich als formale Argumentationen bezeichnen. Ihnen stehen substantielle Argumentationen gegenüber, die auf rechtsexterne Kriterien oder Faktoren wie moralische Maßstäbe, gesellschaftliche Interessen oder Bedingungen, sozial- oder naturwissenschaftliche Erkenntnisse verweisen.253 Solche Verweisungen vermindern, wie oben in Bezug auf die offene Geschlossenheit des Rechtssystems erläutert, nicht die Autonomie des Rechtssystems, sofern sie sich in den rechtseigenen Sinnhorizont integrieren.254 Der rechtseigene Sinnhorizont wird durch Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien mitkonstituiert. Eine substantielle Argumentation wird folglich im ausdifferenzierten Rechtssystem mit einer formalen Argumentation verknüpft oder in eine solche inkorporiert. In der juristischen Argumentation bezieht sich der Rekurs auf gesellschaftliche Bedingungen oder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zum Beispiel auf die Frage, welche normative Forderung dem von einer bestehenden Rechtsregel gebotenen Zustand oder Ereignis, also dem Zweck einer Rechtsregel, besser dient. Zur Feststellung dieses Zwecks greift man in der Regel auf Rechtsprinzipien zurück,255 die von Rechtsdogmatik und Präjudizien entwickelt worden sind. Solch eine Verbindung von formaler und substantieller Argumentation führt eventuell dazu, dass ein neuer Bedeutungsgehalt einer bestehenden Rechtsregel zukommt oder dass als deren Fortentwicklung eine neue Rechtsregel entsteht. Auf solch einen neuen Bedeutungsgehalt einer alten Regel oder eine neue Regel stützen sich dann in Zukunft formale Argumentationen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die auf Rechtsdogmatik und Präjudizien angewiesene formale Argugumentationen im engen Sinne geht es dagegen nur um die Stellung einer Norm im Gesetzestext; dazu vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 295. 251  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 356. 252  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 275 (Hervorhebung im Original). 253  Zur Unterscheidung von formaler und substantieller Argumentation vgl. ­Atiyah / Summers, S.  5 ff.; Lempert / Sanders, Invitation, S. 444  ff.; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 393 f. 254  Oben Erster Teil, B. I. 1. b). 255  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 299.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

mentation mit Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien zwar nicht mit der juristischen Argumentation gleichzusetzen, für diese aber unentbehrlich ist. Ohne sie gäbe es kein ausdifferenziertes Rechtssystem. (3) Günstigere Argumentationsbedingungen Im Vergleich zu Politikern operieren Juristen, sofern und soweit sie eine Auslegung oder Anwendung des Rechts vornehmen oder vorschlagen, unter günstigeren Bedingungen, unter denen Argumentation leichter in Angriff genommen werden und im zugehörigen Kommunikationsnetz besser zur Geltung kommen kann. Zu solchen Bedingungen zählen ein begrenztes Themenspektrum und Kontingenzpotenzial, die Entlastung von Konsensherstellung und die Machtdistanz. Diese Aussagen beziehen sich auf juristische und politische Kommunikation der modernen Gesellschaft in ihren professionellen Bereichen, nicht auf Laien und normale Bürger. Für diese ist juristische Argumentation wohl schwieriger als politische Argumentation. ­ Ihnen ist die Notwendigkeit der Trennung der beiden Arten von Argumentation oft sogar nicht bewusst. Die Politik der modernen Gesellschaft ist mit einem breiten und vielfältigen Themenspektrum konfrontiert, auch mit Angelegenheiten, die einer rechtlichen Regelung schwer zugänglich sind und deren Bewältigung von außerrechtlichen Faktoren und Ressourcen abhängt, wie etwa mit den Angelegenheiten der Entwicklungsplanung, Wirtschaftslenkung und Risikovorsorge.256 Die Politik kümmert sich um alle Anliegen, Wünsche und Forderungen, die an den Staat herangetragen werden, es sei denn, es geht um die der Rechtsprechung zugewiesene verbindliche Entscheidung in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts. Das breite Themenspektrum überfordert die kognitive Verarbeitungskapazität eines Politikers und zwingt ihn dazu, sich in einem Themenbereich, in dem er nicht kundig ist, auf seine Vertrauenspersonen oder -organisationen, die über mehr Erkenntnisse verfügen, zu verlassen, statt selbst sachlich zu argumentieren. In der juristischen Kommunikation muss man sich zwar auch mit vielen Lebensbereichen befassen, wertend und gestaltend mit solchen umgehen und sich dabei auf nichtjuristische Kenntnisse stützen, aber nur in dem Maße, wie die Auslegung und Anwendung des Rechts es erfordert.257 Außerdem braucht man in der juristischen Kommunikation, anders als in der Politik, nicht oft unter Zeitdruck eine Entscheidung herbeizuführen, die 256  Vgl. Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (30 f.); ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (168 ff.). 257  Vgl. zur wirklichkeitsbezogenen Rechtsauslegung und Erwägung von Interpretationsfolgen oben Erster Teil, B. I. 2. b).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts67

abstrakt und generell einen komplexen Sachbereich regelt. In der juristischen Kommunikation geht es vor allem um die Konkretisierung des geltenden Rechts im Hinblick auf konkrete Fälle oder Fallgruppen. Dabei kann eine allgemeine Regel oder ein Prinzip als Fortentwicklung von bestehenden Regeln oder Prinzipien anhand der Reflexion von Fallerfahrungen mit der Zeit schrittweise gebildet, modifiziert, verfeinert und differenziert werden. Damit wird einem Juristen, im Vergleich mit einem Politiker, das Argumentieren erleichtert. Die Politik der modernen Gesellschaft verfügt insofern über ein großes Kontingenzpotenzial, als sie das Gemeinwesen potenziell frei gestalten und dabei auch durch Gesetzgebung mit der Vergangenheit brechen kann.258 Das führt zur Mannigfaltigkeit politischer Ansichten. Die Meinungsverschiedenheit kann mitunter so ausgedehnt und so tief gehen, dass es politischen Akteuren schwerfällt, sie in einem argumentativen Diskurs durch gegenseitige Überzeugung beizulegen.259 Hinzu kommt die Notwendigkeit der Konsensherstellung in der Politik. Im politischen Prozess der Entscheidungsherstellung und -darstellung kann man nicht umhin, einen breiten, zumindest von der Mehrheit der politischen Elite oder der Bevölkerung getragenen politischen Konsens als Legitimation für die politische Herrschaft zu gewinnen und zu erhalten, sei es, weil die Politik unter der Bedingung der Demokratie operiert oder einfach weil die Politik ihre Machtbasis sichern und erweitern will. Ein breiter Konsens kann realistisch nicht allein durch einen argumentativen Diskurs und eine ungezwungene Verständigung auf der Basis von Gründen, die „alle Parteien in derselben Weise überzeugen“260, herbeigeführt werden. Das Aushandeln von Kompromissen, die „von verschiedenen Parteien aus jeweils verschiedenen Gründen akzeptiert werden“261 und entgegengesetzte Interessen zum Ausgleich bringen, und die Anwendung diverser strategischer und taktischer Mittel wie Drohungen oder Versprechungen sind unumgänglich für die Bewältigung von hoher Kontingenz und die Herstellung von Konsens in der Politik.262 Die juristische Kommunikation weist nicht eine so hohe Kontingenz auf wie die politische Kommunikation. Die Innovation ist in der Auslegung und 258  Vgl. zur Kontingenz politischen Entscheidens Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S.  84 ff., 140 ff. 259  Vgl. zu Schwierigkeiten einer diskursiven Verständigung in der Politik Habermas, S.  395 f. 260  Habermas, S. 205 (Hervorhebung im Original). 261  Habermas, S. 205 (Hervorhebung im Original). 262  Vgl. zur Notwendigkeit der Kompromissbildung in der Politik und der Unterscheidung von Kompromissbildung und diskursiver Verständigung Habermas, S.  204 f.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Anwendung des Rechts nur unter der Bedingung der Kontinuität mit der Vergangenheit möglich.263 Die juristische Kommunikation kreist um die Frage, was das geltende Recht allgemein oder in einem konkreten Fall fordert. Das geltende Recht bildet eine gemeinsame Plattform für juristische Auseinandersetzungen. Meinungsverschiedenheiten werden zwar nicht ausgeschlossen, ihre Zuspitzung wird aber entschärft. Dadurch wird das Risiko verringert, dass Menschen sich für die gegenseitige Überzeugung nicht interessieren und aus einem argumentativen Diskurs austreten. Im Gegensatz zur Politik sind juristische Entscheidungen nicht vom Konsens abhängig,264 obwohl sie idealerweise auf Überzeugung und Akzeptabilität angelegt sind. Der Richter kann und muss sich auf das geltende Recht als Legitimationsgrundlage berufen. Er kann die Verantwortung für konsensfähiges Recht weitgehend auf die Politik schieben. Damit ist er von Konsensanforderungen entlastet und kann sich bei seiner Entscheidung ­allein auf die Argumentation aus dem geltenden Recht stützen. Eine günstige Bedingung für das juristische Argumentieren ist auch, dass Macht in der juristischen Kommunikation, anders als in der politischen Kommunikation, eine untergeordnete Rolle spielt. Die Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden265 und die Regierungsfähigkeit sind unentbehrlich für die Gesellschaft. Um diese Kapazität bereitzuhalten und regierungsfähig zu werden, muss die Politik sich am Machtcode266 orientieren und Blöcke bilden. Macht an sich ist nicht zu diskreditieren. Sie ist ein neutraler Begriff. Sie kann einem guten Zweck wie etwa der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung dienen. Argumentation, die auf ihre überzeugende Kraft angelegt ist, kann in der Politik auch die Kraft der Macht haben.267 Diese Kraft kann aber eventuell anderen Formen der Macht wie etwa machtpolitischen Operationen unterlegen sein. Nicht selten zählt in der Politik das, was den Machtgewinn und den Machterhalt fördert, mehr als das, was sachlich überzeugend ist. Die Machtorientierung und die Blockbildung in der Politik können also gegebenenfalls die Entfaltung der Kraft der Argumentation hemmen. Auch in der Demokratie kann der Code machtüberlegen / machtunterlegen nicht ausgelöscht werden. Er wird durch den Code Regierung / Opposition überformt.268 In der Demokratie ist die Blockbildung in Form der Bildung 263  Oben

Erster Teil, B. I. 2. b) (2). Die Politik der Gesellschaft, S. 322 f. 265  Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 84 ff. 266  Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 88 ff. 267  Vgl. zur diskursiv herbeigeführten Überzeugung als kommunikativer Macht Habermas, S.  182 ff. 268  Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 96 ff. 264  Luhmann,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts69

der politischen Parteien unausweichlich, die die unentbehrliche Vermittlung zwischen Volk und Staat übernehmen.269 In einer Demokratie wird zwar dem diskursiven Austausch von Argumenten gerade durch die Anerkennung einer legitimen Opposition und der freien Bildung politischer Parteien zu mehr Gewicht verholfen als in einer Diktatur; es besteht aber dennoch der nicht unbegründete Verdacht, dass selbst in einem demokratischen politischen System manchmal aus machtpolitischen Überlegungen, nicht aufgrund von sachlichen Gründen und besseren Argumenten, eine Entscheidung getroffen oder Stellung genommen wird. Macht kann sehr wohl auch in der juristischen Kommunikation gebildet und genutzt werden.270 Unter den Juristen bildet sich aber kein fester Dualismus von überlegener und unterlegener Macht. Während Entscheidungsalternativen in der Politik gebündelt werden und sich zur Opposition verdichten, werden im Rechtssystem „Alternativen völlig anders behandelt, sie bleiben zerstreut, einzelfallabhängig, regelabhängig, und es gibt nicht die geringsten Ansätze zu einer ‚konsolidierten‘ Opposition.“271 Weil das Rechtssystem der Macht fernbleibt, wird von ihm erwartet, dass es die Machtlogik der Politik bricht und „die systembedingten Defizite des zunehmend professionalisierten Politikbetriebes ausgleich[t]“272. Aber eben weil die Rechtsprechung sich von der Macht distanziert, ist sie zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf politische Macht angewiesen. In der Regel bleibt der Rechtsprechung nur die juristische Argumentation als Waffe übrig. Mithilfe der juristischen Argumentation richtet das Rechtssystem ein vom politischen System distanziertes Forum ein, in dem andere Entscheidungskriterien als die in der Politik maßgeblichen gelten.273 Das eigene Interesse des Rechtssystems an der Herstellung und Erhaltung eines solchen Forums stellt eine günstige Bedingung dafür dar, dass das Argumentieren im Rechtssystem eine ausgeprägte Rolle spielt. In der juristischen Kommunikation herrschen also günstigere Argumentationsbedingungen. Hindernisse für die Entfaltung der Kraft der juristischen Argumentation kommen eher von außen, aus dem Eindringen der Macht­ logik in das Rechtssystem, als aus dem Inneren des Rechtssystems selbst.274 269  Grimm,

in: Die Zukunft der Verfassung, S. 265 (265 ff.). zur Bildung und Nutzung der Macht außerhalb des politischen Systems Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 69. 271  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 421 (Hervorhebung im Original). 272  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 183 (191). 273  Vgl. speziell in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 192 (210). 274  Auch die Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit von innerhalb der Judikative lässt sich als Eindringen des Machtcodes in das Rechtssystem einstufen; vgl. unten Erster Teil, B. III. 3. 270  Vgl.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Deswegen ist die wichtigste Vorkehrung zur Entfaltung der Kraft der juristischen Argumentation die richterliche Unabhängigkeit, durch die die Autonomie des Rechtssystems zu sichern ist.275 Um einen freien, offenen und sachlichen Diskurs im politischen System zu fördern und der Argumentation mehr Geltungskraft in der Politik zu verschaffen, muss man dagegen institutionelle Vorkehrungen treffen, die sich gegen die Politik selbst richten, die Machtlogik der Politik brechen oder Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Politik sich aus Machtüberlegungen heraus auf einen argumentativen Diskurs einlässt. Solche Vorkehrungen sind etwa die Institutionalisierung von Kommunikationsfreiheiten und die regelmäßige Veranstaltung fairer politischer Wahlen. Viele derartiger Vorkehrungen können außerdem nur zusammen mit einer Kontrolle durch das autonome, von der Politik distanzierte Rechtssystem funktionieren. Aus den vorstehenden Darlegungen ist nicht der Schluss zu ziehen, dass die juristische Kommunikation rationaler, objektiver, sogar wertvoller wäre als die politische Kommunikation. Gerade die unterschiedlichen Systembedingungen lassen eine solche Bewertung nicht zu. Die juristische Kommunikation ist der richtige Ort für die Wahrung des Rechts. Eben weil sie ihre Funktion darauf beschränkt, hat sie es leicht mit der Argumentation. Wenn man aber einen Konsens für die politische Herrschaft oder das Recht zu ändern sucht oder wenn Probleme vom Staat bewältigt werden müssen, deren Lösungen aber außerhalb des Rechts liegen, muss im politischen System darüber kommuniziert werden. Es sind zwei verschiedene Foren, die verschiedene Funktionen erfüllen, unterschiedlich codiert sind, jeweils ihre eigentümliche Stärke und Schwäche haben, der Gesellschaft jeweils besondere Vorteile bringen und beide unentbehrlich für die Gesellschaft sind. 3. Differenzierung zwischen Recht und Moral In der modernen Gesellschaft ist das Recht auch gegen die Moral ausdifferenziert. Zwischen dem Aspekt der Differenzierung von Recht und Moral und dem Aspekt der Differenzierung von Recht und Politik bestehen freilich Schnittmengen. In der politischen Kommunikation stellen sich zum Beispiel moralische Fragen.276 Moral geht aber keinesfalls in der Politik auf. Die politische Unterscheidung von Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit hat keinen Platz in der Moral. Es erübrigt sich deswegen nicht, sich extra mit der Differenzierung zwischen Recht und Moral zu befassen. Sie kann unter den folgenden zwei Aspekten näher betrachtet werden: 275  Näher

unten Erster Teil, B. II. S. 200, 206 f.

276  Habermas,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts71

a) Rechtseigene Gerechtigkeit In der modernen Gesellschaft wird autonome Moral, die sich auf die eigenständige Vernunft der Individuen stützt, hoch geschätzt.277 Mit der Zunahme gesellschaftlicher Komplexität treten die Pluralisierung von Lebensformen und die Individualisierung von Lebensgeschichten immer stärker hervor,278 die die rational-kritische moralische Reflexion einzelner Individuen hervorrufen. Überlieferte Moral wird der Prüfung der Vernunft ausgesetzt und gerät in den Sog der Problematisierung.279 Damit ist Moral unvermeidlich pluralistisch.280 Das gilt sowohl für die Tugend- oder verdienstliche Moral von Mitleid, Wohlwollen und Nächstenliebe wie für die Gerechtigkeit, nämlich jene Moral, die sich auf das geordnete Zusammenleben der Menschen bezieht.281 Um das geordnete Zusammenleben der Menschen zu garantieren, ist man auf ein Rechtssystem angewiesen, in dem für alle Betroffenen verbindliche rechtliche Entscheidungen selbst bei Fehlen eines einstimmigen Konsenses von bestimmten Instanzen getroffen werden und eine verbindliche rechtliche Gerechtigkeit hergestellt wird.282 Ob das Recht sich damit in der modernen Gesellschaft von der Moral trennt oder nicht, ist aber eine nicht unumstrittene Frage. Nach Alexy erhebt das Recht notwendig einen Anspruch auf die inhaltliche Richtigkeit.283 Das führe zu einer notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral, „zwischen dem, was das Recht gebietet, und dem, was die Gerechtigkeit fordert, oder zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll“284. Die vom Rechtspositivismus befürwortete Trennung von Recht und Moral sei abzulehnen. Damit würden die Elemente der ordnungsgemäßen Gesetztheit und der sozialen Wirksamkeit nicht aus dem Rechtsbegriff ausgeschlossen.285 Eine Rechtsnorm, die extrem ungerecht sei, verliere aber ihren Rechtscharakter.286 Darüber hinaus müsse man sich bei der Auslegung und zu autonomer Moral Ellscheid, in: Einführung, S. 214 (218 ff.). S. 42. 279  Habermas, S. 145. 280  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 78. 281  Vgl. Höffe, Ein interkulturelles Strafrecht, S. 34 ff. Dort unterscheidet er zwischen der Rechtsmoral, deren Anerkennung Menschen einander schulden, und der Tugend- oder verdienstlichen Moral, deren Anerkennung bloß zu erhoffen oder zu erwarten, aber nicht einzufordern ist. 282  Zum Ergänzungsverhältnis zwischen autonomer Moral und Recht in der modernen Gesellschaft vgl. Habermas, S.  135 ff. 283  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 64 ff. 284  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 15. 285  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 17, 201 ff. 286  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 71 ff. 277  Vgl.

278  Habermas,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Anwendung des geltenden Rechts auf moralische Prinzipien und Argumente stützen, um den Anspruch auf Richtigkeit zu erfüllen.287 All dies wird hier nicht geleugnet. Die Auslegung und Anwendung des geltenden Rechts ist, wie im Vorstehenden erläutert, auf richterliche Wertungen angewiesen.288 Die Frage, was Recht ist, lässt sich folglich nicht völlig von der Frage, was Recht sein soll, trennen. Aber so wie oben allgemein auf das komplementäre Verhältnis von Geschlossenheit und Offenheit oder Autonomie und Abhängigkeit des Rechtssystems hingewiesen wurde,289 ist hier konkret im Hinblick auf das Verhältnis des Rechts zur Moral festzuhalten, dass die Verbindung und die Differenzierung sich nicht gegenseitig ausschließen und sich in Kohärenz bringen lassen. Die hier zu erläuternde Differenzierung zwischen Recht und Moral hat keine positivistische Konnotation. Sie heißt: Moral kann im Rechtssystem der modernen Gesellschaft nicht ohne weiteres unmittelbar gelten. Stattdessen müssen moralische Kriterien im Rechtssystem in juristische Kategorien transformiert werden.290 Moralische Überlegungen als wertende und gestaltende Elemente der Rechtsauslegung und -anwendung müssen sich in das jeweilige juristische Koordinatensystem einfügen.291 Moralische Überlegungen werden im juristischen Argumentieren als substantielle Argumente mit formalen Argumenten aus Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien verknüpft oder in formale Argumente inkorporiert.292 Fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien werden als unerlässliche Rechtsprinzipien in das geltende Rechtsnormensystem inkorporiert, unter anderem indem sie in die Verfassung hineingeschrieben oder -interpretiert werden. Im Laufe der Zeit werden sie als Rechtsprinzipien durch aufeinander bezogene rechtliche Kommunikationen immer wieder verwendet, konkretisiert, mit anderen Rechtsprinzipien sowie -regeln in Beziehung gebracht und bekommen damit einen spezifisch rechtlichen Sinn. Ein Gesetz, dem wegen Verstoß gegen ein solches fundamentales Gerechtigkeitsprinzip die Rechtsgeltung abgesprochen wird, wird in diesem Fall nicht direkt an Moral gemessen, sondern scheitert an einem Rechtsprinzip, das im Rechtssystem Anschluss findet. Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien, die nicht nur durch die Gesetzgebung, sondern insbesondere durch Präjudizien und Rechtsdogmatik entwi287  Alexy,

Begriff und Geltung des Rechts, S. 117 ff. Erster Teil, B. I. 2. b) (1). 289  Oben Erster Teil, B. I. 1. b). 290  Neumann, in: Einführung, S. 333 (339 f.). 291  Ausführlich zum spezifisch rechtlichen Charakter wertender und gestaltender Elemente in der Rechtsauslegung und -anwendung oben Erster Teil, B. I. 2. b) (2). 292  Zu formalen und substantiellen Argumentationen oben Erster Teil, B. I. 2. c) (2). 288  Oben



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts73

ckelt werden, konstituieren einen rechtseigenen Sinnhorizont, der sich gegen „die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen“293 etabliert. Bei der Rechtsauslegung und -anwendung müssen moralische Gesichtspunkte in einen solchen rechtseigenen Sinnhorizont integriert werden. Obwohl der dem Recht immanente Anspruch auf Richtigkeit den Rechtsinterpreten zur Responsivität und Sensitivität gegenüber moralischen Anforderungen veranlasst, kümmert man sich in juristischen Argumentationen und Entscheidungen aber auch stets um die kohärente Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien und die Systematisierung des Rechtsstoffs und bezieht sich dabei immer wieder sowohl auf Gesetze als auch auf Präjudizien und Rechtsdogmatik. In der Rechtsauslegung und -anwendung liegt der Offenheit gegenüber moralischen Anforderungen eine solche wiederkehrende Bezugnahme rechtlicher Kommunikationen aufeinander zugrunde, die oben als Geschlossenheit des Rechtssystems bezeichnet wurde. Im Rechtssystem kann man sich Gerechtigkeitsfragen freilich nicht vollkommen entziehen, und bei der Beantwortung solcher Fragen bekommt man sicher aus populären und professionellen moralischen Diskursen aufschlussreiche Anregungen. Solche Anregungen werden aber im Rechtssystem nicht vorbehaltlos oder unverändert übernommen. Denn die innere Konsistenz des Rechts, die in der kohärenten Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien und in der Systematisierung des Rechtsstoffs zum Ausdruck kommt und das Rechtssystem vor einer Desintegration in eine bloße Menge von Einzelentscheidungen bewahrt, ist ein unverzichtbares, eigentümliches Element der Gerechtigkeit im Rechtssystem.294 Gerechtigkeitsfragen werden im Rechtssystem im Hinblick auf das ganze Gewebe von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien, Präjudizien und Rechtsdogmatik beantwortet. In diesem Sinne kann man von rechtseigener oder rechtsimmanenter Ge­rech­ tig­keit,295 die sich von rein moralischer Güte oder Gerechtigkeit unterscheidet, sprechen. Auch Alexy räumt ein, dass die von ihm vertretene Verbindung zwischen Recht und Moral nicht die Identifikation des Rechts mit der Moral bedeutet.296

293  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 79. zur Entscheidungskonsistenz als Erfordernis der Gerechtigkeit im Rechtssystem Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 223 ff. 295  Luhmanns systemtheoretischer Gerechtigkeitsbegriff wird von Dreier als immanente Gerechtigkeit des Rechts und von Teubner als rechtseigene Gerechtigkeit bezeichnet; siehe dazu Dreier, ARSP 88 (2002), 305 (317); Teubner, in: Integratives Verstehen, S. 199 (200). 296  Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 83. 294  Vgl.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

b) Erzwingbares Recht vs. autonome Moral In der modernen Gesellschaft verliert Moral wegen ihrer Autonomisierung die ihr in der traditionellen Gesellschaft zustehende Berechtigung, moralkonformes Verhalten zu erzwingen.297 Dadurch unterscheidet sich Moral von erzwingbarem Recht. Im Geist der modernen autonomen Moral kann Moral weder autoritär bestimmt und erzwungen werden noch bedeuten, dass man einem gesellschaftlich herrschenden Handlungsmuster trotz der persönlichen Missbilligung unbedingt zu folgen hat. Die Hervorbringung und die Akzeptanz von Moralnormen sollen nicht durch den äußeren Zwang, sondern durch die autonome Reflexion eines jeden Einzelnen, die gegenseitige Überzeugung und den ungezwungenen Konsens geschehen. Nach Habermas sind in der modernen Gesellschaft, anders als in der traditionellen Gesellschaft, „Geltung und Faktizität, also die bindende Kraft von rational motivierten Überzeugungen und der auferlegte Zwang äußerer Sanktionen […] in­ kompa­ tibel“298. Echte Moral soll auf der Geltung und Autonomie, nicht auf der Faktizität und Heteronomie beruhen. Auch in der modernen Gesellschaft kann derjenige, der eine bestimmte Moral vertritt, seiner Ablehnungshaltung gegenüber bestimmtem Verhalten anderer Personen gegebenenfalls durch eigenes Verhalten wie Kritik, Boykott oder Verweigerung der Kooperation Nachdruck verleihen. Wenn das die Form einer kollektiven Demonstration annimmt, können Zielpersonen freilich gesellschaftlichen Druck erfahren. Aber anders als in der vormodernen Gesellschaft, in der der gesellschaftliche Druck und der organisierte Zwang für die Durchsetzung von Moral unbeschränkt in Anspruch genommen werden, wird der gesellschaftliche Druck in der modernen Gesellschaft in die Schranken gewiesen, damit autonome Moral sich in der Gesellschaft etablieren kann. Es wird gefordert, die Würde und die freie Persönlichkeitsentfaltung der Zielpersonen zu respektieren. Auch diese Personen sollen die gleiche Chance wie ihre Gegner haben, das eigene Leben autonom zu gestalten. Außerdem darf eine kollektive Demonstration nur aufgrund der freien Willensentschließung einzelner Teilnehmer, nicht durch den Zwang zustande kommen. Das Organisieren einer kollektiven Demonstration soll also der wechselseitigen Argumentation und Überzeugung Raum geben, und nicht den Teilnehmern die Möglichkeit nehmen, ihre Entscheidung über die Teilnahme an einer kollektiven Demonstration in Freiheit zu treffen.299 297  Vgl.

zur Moral in der traditionellen Gesellschaft unten Zweiter Teil, A. I. 2. S. 43. 299  Vgl. BVerfGE 25, 256 (264 f.). 298  Habermas,



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Das Rechtssystem stützt sich für die Durchsetzung seiner Normen hingegen auf die vom politischen System garantierte Zwangsgewalt. Anders als in der modernen autonomen Moral verschränkt sich im Recht der Anspruch auf die normative Richtigkeit mit dem Inaussichtstellen der durch politische Macht gedeckten Durchsetzung, in Worten von Habermas also die Geltung mit der Faktizität.300 Freilich wird das Recht nicht immer eingehalten. Von ihm weicht die Realität ab und zu ab. Das Recht, so Luhmann, „verspricht nicht ein normgemäßes Verhalten“301. Dennoch gibt das Recht dem, der ein normgemäßes Verhalten erwartet und in dieser Erwartung eventuell enttäuscht wird, den sozialen Rückhalt.302 Das Recht bietet also mehr Erwartungssicherheit als Verhaltenssicherheit. Allerdings wird die Erwartungssicherheit, worauf Luhmann auch hinweist, dann gefährdet, wenn Erwartungen, die durch Recht gedeckt sind, kaum Aussicht auf Erfüllung haben.303 „Ohne Aussicht auf Durchsetzung gibt es keine allseits überzeugende […] Normstabilität.“304 Das Recht ist zu seiner Durchsetzung auf die Politik angewiesen, die den Rekurs auf Zwangsgewalt garantiert. II. Funktion der richterlichen Unabhängigkeit Nachdem die Bedeutung der Ausdifferenzierung des Rechts erörtert wurde, wird hier die Funktion der richterlichen Unabhängigkeit unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet. Durch die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit wird unterbunden, dass die nicht am Code Recht / Unrecht305 orientierte gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems richterliche Entscheidungen, die sich sonst an diesem Code orientieren und im Rechtssystem stehen, determiniert und sie sich einverleibt. Es wird verhindert, dass die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems richterliche Entscheidungen in ihrer Vernetzung im Rechtssystem dirigiert oder gar eine solche Vernetzung verhindert. Eine Vernetzung einer richterlichen Entscheidung im Rechtssystem kommt nicht nur vor, wenn der Richter sich für seine Entscheidung auf eine Rechtsnorm beruft, sondern auch, wenn er sich mit seiner Entscheidung in einen argumentativen juristischen Diskurs einlässt und Bezug auf vorangegangene juristische Argumentationen und Entscheidungen nimmt. Diese werden zur Rechtfertigung einer aktuellen richterlichen Entscheidung heran300  Habermas,

S.  44 ff. Das Recht der Gesellschaft, S. 135. 302  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 131 f., 135. 303  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 153. 304  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 150. 305  Zum Code Recht / Unrecht oben Erster Teil, B. I. 1. b). 301  Luhmann,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

gezogen oder kritisiert. Eine solche Entscheidung leistet wiederum einen neuen Beitrag zum juristischen Diskurs. Dieser Diskurs, der im Rechtssystem anzusiedeln ist, führt zwar nicht zur endgültigen Gewissheit in juristischen Fragen, ermöglicht aber die relative Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsauslegung und -anwendung.306 Durch die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit wird die Vernetzung richterlicher Entscheidungen im juristischen Diskurs dessen Kommunikationsprozess überlassen und vor dem Eingriff durch die Umwelt des Rechtssystems bewahrt und damit die optimale Realisierung der Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität richterlicher Entscheidungen ermöglicht. Zu Recht gilt diese Realisierung im herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit als deren Sinn und Zweck.307 Durch die Wahrung der richterlichen Entscheidungsautonomie trägt das Institut der richterlichen Unabhängigkeit zur Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems und damit zur Entfaltung der Funktion des Rechtssystems, also zur Stabilisierung normativer Erwartungen,308 entscheidend bei. Wenn die Vernetzung richterlicher Entscheidungen mit anderen rechtlichen Kommunikationen von der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems dirigiert oder verhindert wird, wenn die Umwelt des Rechtssystems den Richter nicht frei entscheiden lässt, wie er seine Entscheidung in das jeweilige juristische Koordinatensystem einfügt und wie er seine Entscheidung mit vorangegangenen rechtlichen Entscheidungen und juristischen Argumentationen in Zusammenhang bringt, handelt es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in den eigengesetzlichen Kommunikationsprozess des Rechtssystems, der sich am Code Recht / Unrecht und an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien orientiert. Wenn ein solcher Eingriff ständig wiederzukehren droht, hat es eine verheerende Wirkung auf die Autonomie des Rechtssystems und damit auf die durch das Rechtssystem zu erfüllende Stabilisierung normativer Erwartungen und führt infolgedessen zur starken Beeinträchtigung der Durchsetzungsfähigkeit der vom Recht anerkannten und konkretisierten Gerechtigkeit und der Erwartungssicherheit des Einzelnen im Umgang mit anderen. Denn der Richter nimmt eine Schlüsselstellung im Rechtssystem ein. Er trifft letztverbindliche Entscheidungen über die Auslegung und Anwendung des Rechts. Wie oben dargelegt, steht die Rechtsprechung, nicht die Gesetzgebung und auch nicht die Verwaltung, im Zentrum des Rechtssystems. Sie ist die wichtigste Bastion für die Unverbrüchlichkeit des Rechts und die enttäuschungsfeste Stabilisierung normativer Erwartungen.309 Bei ständig 306  Oben

Erster Teil, B. I. 2. c) (1). Erster Teil, A. I. 3, 4 sowie II. 308  Zur Funktion des Rechtssystems oben Erster Teil, B. I. 1. c). 307  Oben



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts77

drohenden Eingriffen in das Zentrum des Rechtssystems durch dessen gesellschaftliche Umwelt kann die Ausdifferenzierung und die Autonomie des Rechts eventuell noch in einer abgeschwächten Form existieren.310 Der Richter kann ab und zu frei entscheiden. Es kann außerdem einen von akademischen Juristen geführten spezifisch juristisch-wissenschaftlichen Diskurs geben, in dem an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien argumentativ gearbeitet wird.311 Allerdings kann nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass bei ständig drohenden Eingriffen in die Rechtsprechung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems seine Ausdifferenzierung schwer geschlagen und seine Autonomie stark abgeschwächt wird. Das Institut der richterlichen Unabhängigkeit schützt das Zentrum des Rechtssystems vor Eingriffen durch die Systemumwelt und dient dadurch in entscheidendem Maße der Sicherung und Förderung der Ausdifferenzierung und damit der Funktionsfähigkeit des Rechtssystems. Zur gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems, gegen die sich das Institut der richterlichen Unabhängigkeit richtet, gehört insbesondere das politische System. Das Institut der richterlichen Unabhängigkeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Differenzierung zwischen Recht und Politik. Diese Differenzierung hat ihre Grundlage darin, dass es in der rechtlichen Kommunikation um die Stabilisierung normativer Erwartungen und die konsistente Zuordnung von Recht und Unrecht, in der politischen Kommunikation dagegen um Macht zu kollektiv bindendem Entscheiden und Gemeinwohlüberlegungen geht.312 Es gibt Verbindungen zwischen Recht und Politik, die das Rechtssystem offen und dynamisch gegenüber Umwelteinflüssen halten, trotzdem die Differenzierung zwischen Recht und Politik unberührt lassen und im Rechtssystem selbst, etwa durch die Verfassung, anerkannt werden. Durch den Mechanismus der Gesetzgebung als Kontaktzone zwischen Recht und Politik gestaltet zum Beispiel die Politik das Recht und wandelt sich in das Recht um. Es gibt aber politische Einwirkungen auf das Recht, die den eigengesetzlichen Kommunikationsprozess des Rechtssystems beeinträchtigen, zur Entdifferenzierung zwischen Recht und Politik führen und von dem nach Autonomie strebenden Rechtssystem nicht akzeptiert werden. Das ist der Fall, wenn die Politik ihre Einwirkungen nicht auf die Gesetzgebung und die Verwaltung beschränkt, die in die Peripherie des Rechtssystems gehören, sondern in das Zentrum des Rechtssys309

309  Oben

Erster Teil, B. I. 2. a). zur Möglichkeit der Zu- und Abnahme der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts oben Erster Teil, B. I. 1. b). 311  Die Rechtswissenschaft ist einerseits ein Teil des Wissenschaftssystems, ­gehört aber auch zum Kommunikationssystem Recht; dazu oben Erster Teil, B. I. 2. a). 312  Zur Differenzierung zwischen Recht und Politik oben Erster Teil, B. I. 2. 310  Vgl.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

tems durchgreift, ihre Muskeln auch in der Rechtsprechung spielen lässt, wo zur Stabilisierung normativer Erwartungen an der Unverbrüchlichkeit des Rechts unbedingt festgehalten werden muss. Wie im Vorstehenden ausgeführt, hat die Politik nicht selten Interesse daran, den Staat von der Rechtsbindung zu befreien.313 Durch die politische Steuerung und Kontrolle der Rechtsprechung als Zentrum des Rechtssystems kann die Politik dieses Interesse durchsetzen.314 Darum ist die politische Steuerung und Kontrolle der Rechtsprechung eine ernste Bedrohung für die Unverbrüchlichkeit des Rechts, für die Entfaltung der Funktion des Rechtssystems, also für die Stabilisierung normativer Erwartungen und damit für die Wahrung der rechtsimmanenten Gerechtigkeit315 und der Erwartungssicherheit im zwischenmenschlichen Umgang. Mit dem Institut der richterlichen Unabhängigkeit will man diese Bedrohung bekämpfen und unterbinden, dass politische Gesichtspunkte die Rechtsprechung als Zentrum des Rechtssystems dominieren und dass juristische Argumentationen von der Politik erstickt werden. Die inhaltliche Steuerung der Rechtsprechung soll ausschließlich durch Erlass oder Änderung genereller Normen erfolgen, an die der Richter gebunden ist.316 Das Institut der richterlichen Unabhängigkeit richtet sich also vor allem gegen die Entdifferenzierung zwischen Recht und Politik, gegen die vom politischen System ausgehende Gefährdung der Ausdifferenzierung und der Autonomie des Rechtssystems. An dieser Stelle sei betont, dass das Institut der richterlichen Unabhängigkeit nicht dafür geschaffen ist, das Rechtssystem von seiner Umwelt abzukapseln. Dies widerspricht nicht der vorstehenden Aussage, dass die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit der Förderung und der Erhaltung der Ausdifferenzierung des Rechts dient. Denn der in der vorliegenden Arbeit besprochenen Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems liegt die Theorie der offenen Geschlossenheit zugrunde. Einflüsse der Umwelt auf das Rechtssystem führen nicht ohne weiteres zur Entdifferenzierung zwischen dem Rechtssystem und seiner Umwelt. Vielmehr bleibt ein in gewisser Hinsicht gegenüber der Umwelt responsives, abhängiges Rechtssystem autonom, soweit seine Anpassung an die Umwelt aus rechtsinternen Gründen erfolgt und sich in den rechtseigenen Sinnhorizont integriert.317 313  Oben

Erster Teil, A. I. 4.; B. I. 2. a). Erster Teil, A. I. 4. 315  Zur rechtsimmanenten oder rechtseigenen Gerechtigkeit oben Erster Teil, B. I. 3. a). 316  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (26). 317  Zur offenen Geschlossenheit des Rechtssystems oben Erster Teil, B. I. 1. b); speziell in Bezug auf das Verhältnis des Rechts zur Politik oben Erster Teil, B. I. 2. b) (2); speziell in Bezug auf das Verhältnis des Rechts zur Moral oben Erster Teil, B. I. 3. a). 314  Oben



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts79

Das Institut der richterlichen Unabhängigkeit, das der Entdifferenzierung zwischen dem Rechtssystem und dessen Umwelt entgegentritt, richtet sich folglich nicht gegen jegliche Offenheit und Verbindung des Rechtssystems gegenüber dessen Umwelt, nicht gegen jegliche Einflussnahme der Umwelt auf richterliche Entscheidungen. Mit dem Institut der richterlichen Unabhängigkeit will man nur verhindern, dass die Umwelt des Rechtssystems, insbesondere das politische System, durch Steuerung und Kontrolle richterlicher Entscheidungen die Ausdifferenzierung und die Autonomie des Rechtssystems untergräbt. Darauf wird unten gleich bei der Erläuterung des Bedeutungsgehalts und der Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit noch zurückzukommen sein. Nach dem herrschenden Verständnis dient die richterliche Unabhängigkeit der Sicherung des Rechtsstaates. Diese Auffassung lässt sich aus der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts interpretieren. Eine volle Ausdifferenzierung des Rechtssystems, die sich weder in einer segmentär noch in einer stratifikatorisch, sondern nur in einer funktional differenzierten Gesellschaft durchsetzen kann,318 kennt keine Sachverhalte, die der Zuordnung von Recht und Unrecht nicht zugänglich sind,319 „keine rechtsfreien Räume […], keine Enklaven der unregulierbaren Willkür und Gewalttätigkeit.“320 Diese Universalisierung des Codes Recht / Unrecht321 erstreckt sich auch auf politische Herrschaft. Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt werden nicht nur im politischen System, sondern ebenfalls im diesem gegenüber autonomen Rechtssystem kommuniziert. Es gibt keine politische Herrschaftsausübung, die a priori der im Rechtssystem vorgenommenen Zuordnung von Recht und Unrecht entzogen ist. Diese durch die Ausdifferenzierung des Rechtssystems herbeigeführte Überwölbung der politischen Herrschaft durch den Code Recht / Unrecht entspricht der Idee des Rechtsstaates, nämlich der Bindung der Staatsgewalt an das Recht. Der Rechtsstaat ist also ein Aspekt oder eine Konsequenz der Ausdifferenzierung des Rechts.322 Von der Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts aus betrachtet, dient das Institut der richterlichen Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Etablierung eines unter anderem gegenüber dem politischen System autonomen Rechtssystems, in dem die Zuordnung von Recht und Unrecht auch hinsichtlich der Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt vorgenommen und diskutiert wird. Diese Betrachtung der richterlichen Unabhängigkeit aus der 318  Vgl. zur Unterscheidung von einer segmentär, einer stratifikatorisch und einer funktional differenzierten Gesellschaft Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 595 ff. 319  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 296. 320  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 422. 321  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 296. 322  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 423.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechtssystems entspricht dem herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit, dass diese für die Bindung der politischen Herrschaft an das Recht, also für die Verwirklichung des Rechtsstaates ausschlaggebend ist. Zusammenfassend besteht die Funktion der richterlichen Unabhängigkeit darin, zu verhindern, dass die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems, vor allem das politische System, richterliche Entscheidungen determiniert, deren Vernetzung im Rechtssystem dirigiert oder gar verhindert, und damit die Ausdifferenzierung des Rechtssystems gegenüber dessen gesellschaft­ licher Umwelt, insbesondere gegenüber dem politischen System, und in­ folge­ dessen die Funktionsfähigkeit des auf die Stabilisierung normativer Erwartungen ausgerichteten Rechtssystems zu sichern und zu fördern. III. Bedeutungsgehalt und Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit 1. Richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems Ausgehend vom gerade vorgebrachten Funktionsverständnis der richter­ lichen Unabhängigkeit ist diese als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems aufzufassen. Wie oben dargelegt, richtet sich das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit nicht gegen jegliche Beeinflussung, sondern nur gegen die Bestimmung richterlicher Entscheidungen durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems, nämlich gegen die Entdifferenzierung zwischen dem Rechtssystem und seiner gesellschaftlichen Umwelt. Die Unabhängigkeit des Richters bedeutet folglich die Freiheit des Richters von Außeneinwirkungen, die dazu führen oder dazu zu führen drohen, dass die richterliche Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben von der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems bestimmt wird. Derartige Außeneinwirkungen geschehen insbesondere in der Art und Weise, dass der Richter gezwungen, unzumutbar bedrängt, unwiderstehlich motiviert oder manipuliert wird, eine bestimmte Entscheidung zu treffen oder bei der Entscheidung eine bestimmte Rechtsauffassung zugrunde zu legen. Die Bestimmung der Unabhängigkeit des Richters als seiner Entscheidungsautonomie gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems wird im Folgenden vor dem Hintergrund des heutigen Verständnisses der richterlichen Unabhängigkeit näher erläutert und im Hinblick auf die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit entfaltet. Es sei noch mal betont, dass es in einer grundlegenden rechtstheoretischen Arbeit wie der vorliegenden nicht darum geht, den Bedeutungsgehalt



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts81

und die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit umfassend und detailliert auszuarbeiten, sondern nur darum, Richtung und Maßstäbe für die Ausarbeitung des Details herauszufinden. Hierzulande wird gewöhnlich zwischen der sachlichen und der persön­ lichen Unabhängigkeit als zwei nebeneinander stehenden Unterkategorien der richterlichen Unabhängigkeit unterschieden.323 Diese Unterscheidung, die sich in Deutschland auf positivrechtliche Bestimmungen der Verfassung stützen kann,324 ist vor allem auf historische Gründe zurückzuführen. In der Entstehungszeit der richterlichen Unabhängigkeit bedeutete die sachliche Unabhängigkeit die Weisungsfreiheit. Wegen der Unzulänglichkeit der Weisungsfreiheit forderte man zu deren Ergänzung die persönliche Unabhängigkeit.325 Die hier vorgenommene Bestimmung der richterlichen Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems lässt sich nur insofern als Bestimmung der sachlichen Unabhängigkeit betrachten, als die sachliche Unabhängigkeit ihrerseits als umfassender Allgemeinbegriff der richterlichen Unabhängigkeit verstanden wird. Die Freiheit der Rechtsprechung von der Bestimmung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems fordert sowohl die Weisungsfreiheit wie auch die persönliche Unabhängigkeit des Richters. Diese ist als Konkretisierung und Garantie der allgemeinen sachlichen Unabhängigkeit, nicht als zusätzliche Ergänzung zur für die Verwirklichung der richterlichen Unabhängigkeit ungenügenden sachlichen Unabhängigkeit aufzufassen. Anhand des umfassenden Allgemeinbegriffs der richterlichen Unabhängigkeit, der hier als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems definiert wird, lässt sich die konkrete Ausgestaltung der persönlichen Unabhängigkeit in ihrer Angemessenheit und Erforderlichkeit überprüfen.326 Die sachliche Unabhängigkeit wird heutzutage in Rechtsprechung und Literatur 323  In der englischsprachlichen Literatur unterscheidet man entsprechend zwischen substantive, functional, decisional independence einerseits und personal independence andererseits; dazu vgl. Shetreet, in: Judicial Independence, S. 590 (623 ff., 630 ff.). 324  Nach dem allgemeinen Verständnis garantiert Art. 97 Abs. 1 GG die sachliche, Art. 97 Abs. 2 GG hingegen die persönliche Unabhängigkeit. 325  Oben Erster Teil, A. I. 4. 326  Man kann zum Beispiel diskutieren, welche Anforderungen ein Beförderungssystem für Richter erfüllen muss, damit der Richter bei seiner Rechtsprechung nicht wegen der übermäßigen Förderung des Karrieredenkens von der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems bestimmt wird. Man kann auch fragen, ob der Richter auf Lebenszeit berufen werden muss oder eine angemessene Ausgestaltung eines Wiederwahlsystems schon genügt oder nur die Unabsetzbarkeit und die Unversetzbarkeit des Richters erforderlich sind, um die Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems zu bewahren.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

zwar immer noch in ihrem Kern als Weisungsfreiheit charakterisiert,327 aber nicht auf die Weisungsfreiheit in ihrem ursprünglichen engen Sinne beschränkt, sondern darüber hinaus als Freiheit von bestimmten Einwirkungen oder Einflussnahmen aufgefasst.328 Die so verstandene sachliche Unabhängigkeit ist in der Tat eben ein umfassender Allgemeinbegriff der richterlichen Unabhängigkeit.329 Freilich behauptet niemand ernsthaft, dass die richterliche Unabhängigkeit die Freiheit des Richters von allen möglichen Einwirkungen oder Einflüssen sei. Diese absolute Freiheit würde eine totale Isolierung des Richters von anderen Menschen und von der Gesellschaft bedeuten.330 Das nicht unberechtigte Abstellen auf Einwirkungen auf den Richter statt nur auf Weisungen an den Richter bei der Betrachtung von Gefahrenquellen für die richterliche Unabhängigkeit birgt aber das Risiko, deren Reichweite zu überdehnen. Tatsächlich wird der Geltungsbereich der richterlichen Unabhängigkeit in Rechtsprechung und Literatur manchmal zu weit ausgedehnt. Unzulässig sei jede vermeidbare Einflussnahme auf die Rechtsprechungstätigkeit des Richters.331 Der Richter sei nicht an allgemein festgesetzte Dienststunden gebunden,332 weil er „von äußeren Zwängen, seien sie auch nur atmosphärischer Art, soweit als eben möglich frei sein soll[e].“333 Nach Wittrecks Beobachtung „firmiert in der jüngeren Rechtsprechung die ‚vermeidbare Einflussnahme‘ als weitgehend verselbständiges Tatbestandsmerkmal der richterlichen Unabhängigkeit, das von der Rechtsprechungstätigkeit faktisch entkoppelt worden ist und auf jede Tätigkeit des Richters bezogen wird“334. Es besteht ein fort­ dauernder „Wucherungsprozeß“335, durch den die richterliche Unabhängigkeit unberechtigterweise zum „funktionalen Äquivalent der allgemeinen Handlungsfreiheit“336 des Richters geworden ist. Gegen einen solchen Wucherungsprozess erheben sich Stimmen, die für eine Re-, Neujustierung oder Neupositionierung der richterlichen Unabhän327  BVerfGE 3, 213 (224); 14, 56 (69); 26, 186 (198); Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn.  39 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 19. 328  Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 40; Wittreck, S.  176 f.; Zätzsch, S. 62  f.; siehe auch gleich unten Fn. 331. 329  Eichenberger, S. 54.; Zätzsch, S. 63. 330  Eichenberger, S. 27. 331  BVerfGE 12, 81 (88); 38, 1 (21); 55, 372 (389); Classen, in: Mangoldt  /  Klein / Starck, GG, Art.  97 Rn.  18; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 19. 332  BGHZ 113, 36. 333  BGHZ 113, 36 (40). 334  Wittreck, S. 178 (Hervorhebung im Original). 335  Wittreck, S. 178. 336  Wittreck, S. 194; in diesem Sinne auch Sendler, in: Öffentliches Dienstrecht, S. 307 (309).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts83

gigkeit eintreten.337 Ihnen geht es aber nicht darum, das herrschende Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit ganz über Bord zu werfen und ein völlig neues Konstrukt zu entwerfen, sondern um eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Sinn und Zweck der richterlichen Unabhängigkeit und die Vergewisserung über deren funktionalen Bezug. Neben diesen markanten Positionen sind in der Literatur auch andere Ansätze zur restriktiveren Interpretation der richterlichen Unabhängigkeit zu finden, auch wenn sie nicht so scharf ausgeprägt sind, von ihren Autoren selbst oft nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet oder nicht konsequent fortgeführt werden. Man spricht etwa von der Freiheit des Richters von „Einwirkungen, die einen sachfremden, mit der Gesetzesbindung nicht zu vereinbarenden Entscheidungsdruck auf den Richter ausüben können“338, von „jeder Bindung oder Abhängigkeit, die der Verwirklichung des Rechts im konkreten Streitfalle im Wege steht“339, von „jeder Form von Einflußnahme, die […] geeignet ist, den Richter bei seiner Sachentscheidung ebenso stark oder stärker zu binden, als das Gesetz es vermag“, nämlich von „der Ausübung gesezesfremder Einflüsse, die geeignet sind, Bindung herbeizuführen“340, oder von „Maßnahmen, die […] zumindest weisungsähnlichen Charakter haben oder eine weisungsgleiche Wirkung auf die Rechtsprechung des Richters zu entfalten geeignet sind“.341 Einerseits wird also die richterliche Rechtsbindung als Korrelat zur richterlichen Unabhängigkeit betrachtet. Ob eine Einwirkung auf den Richter die richterliche Unabhängigkeit verletzt, wird danach entschieden, ob die Rechtsbindung des Richters dadurch unterlaufen wird. Andererseits werden Ausdrücke wie eine stärkere Bindung als Rechtsbindung, weisungsähnlicher Charakter oder weisungsgleiche Wirkung verwendet, um eine bestimmte Intensität oder Qualität der Einwirkungen zu kennzeichnen, die als unzulässig zu qualifizieren sind. Auch hier wird die Forderung nach der Freiheit des Richters von jeder vermeidbaren Einflussnahme verworfen und eine stärkere Begrenzung der mit der richterlichen Unabhängigkeit nicht zu vereinbarenden Einwirkungen aus dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts vorgenommen. Nach hier vertretener Auffassung wird die Unabhängigkeit des Richters erst durch Außeneinwirkungen beeinträchtigt, die dazu führen oder dazu zu führen drohen, dass die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems die 337  Vgl. Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (144 ff.); Wittreck, S. 147, 174 ff., 197 ff.; Schütz, S.  214 ff. 338  Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 186. 339  Geiger, in: Ehrengabe für Heusinger, S. 53 (54). 340  Mishra, S. 268. 341  Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 23.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

richterliche Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben bestimmt. Wie sich unten noch näher zeigen wird, unterstreichen die Verwendung des Wortes bestimmen statt des Wortes beeinflussen und die Unterscheidung von Rechtssystem und seiner Umwelt eine bestimmte Qualität und Intensität der unzulässigen Einwirkungen und bringen deutlich zum Ausdruck, dass die Unabhängigkeit des Richters mit der Beeinflussungsfreiheit des Richters keinesfalls gleichzusetzen ist.342 Diese Betrachtung der richterlichen Unabhängigkeit lässt sich insofern auch als Neupositionierung der richterlichen Unabhängigkeit bezeichnen, als sie vom Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts ausgeht und die richterliche Unabhängigkeit damit in ein neues Licht rückt. Es geht aber nicht darum, das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit von Grund auf zu revolutionieren, sondern darum, dieses Grundverständnis aus einem neuen Blickwinkel angemessen zu rekonstruieren und in ihm eventuell enthaltene Unstimmigkeiten und Mängel zu korrigieren. Die gerade erwähnte Berufung auf die richterliche Rechtsbindung zur restriktiven Interpretation der richterlichen Unabhängigkeit wird dadurch nicht abgelehnt oder ersetzt, sondern aus gesellschaftstheoretischer Perspektive interpretiert. Durch diese Interpretation kann das Verhältnis der richterlichen Unabhängigkeit zur richterlichen Rechtsbindung besser verstanden werden und die in der Literatur und Praxis vorzufindende unangemessene Erweiterung oder Einengung der Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit vermieden werden. Die Bestimmung der Rechtsprechung durch Strukturen oder Operationen des ausdifferenzierten Rechtssystems, wie etwa durch das Gesetz oder durch die rechtliche Beurteilung eines Rechtsmittelgerichts, das die vorinstanz­ liche Entscheidung aufhebt und zurückweist,343 verhindert die Desintegra­ tion des Rechtssystems, ist unentbehrlich für die Einheitsbildung des Rechtssystems344 und stellt folglich kein Problem für die der Ausdifferenzierung des Rechtssystems dienende richterliche Unabhängigkeit dar. In der Literatur spricht man entsprechend von der richterlichen Rechtsbindung, die als Grundlage der richterlichen Unabhängigkeit diese nicht mindert.345 Auch die Beeinflussung der Rechtsprechung durch einen spezifisch juristischen 342  Berlit,

in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (163). Bindungswirkung der rechtlichen Beurteilung eines die vorinstanzliche Entscheidung aufhebenden und zurückweisenden Rechtsmittelgerichts vgl. § 563 Abs. 2 ZPO, § 358 Abs. 1 StPO; zum Verhältnis dieser Bindungswirkung zur richterlichen Unabhängigkeit vgl. Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 107; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art.  97 Rn.  96; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 42. 344  Vgl. zum Verhältnis zwischen der Unabhängigkeit des Richters und der Einheit der Rechtsprechung Classen, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art.  97 Rn.  19 ff. 345  Wittreck, S. 187; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 21. 343  Zur



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts85

Diskurs, der für die Ausdifferenzierung des Rechtssystems entscheidend ist, tastet die Unabhängigkeit des Richters nicht an. Nur durch argumentative Auseinandersetzungen in einem solchen Diskurs können Fragen der Rechtsbindung, -auslegung und -anwendung eine relativ richtige, objektive oder vernünftige Antwort finden.346 Durch die Befreiung der Rechtsprechung von der Bestimmung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems zielt die richterliche Unabhängigkeit gerade darauf, die Beeinflussung der Rechtsprechung durch einen im Rechtssystem anzusiedelnden juristischen Diskurs zu fördern. Ausgehend von der Theorie der offenen Geschlossenheit des Rechtssystems347 bedeuten die Beeinflussung der Rechtsprechung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems und die Anpassung der Rechtsprechung an diese Umwelt nicht ohne weiteres die die Ausdifferenzierung des Rechts bedrohende Bestimmung der Rechtsprechung durch diese Umwelt.348 Nur Außeneinwirkungen auf den Richter, die dazu zu führen vermögen, beeinträchtigen die von der richterlichen Unabhängigkeit geschützte Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems. Dies ist der Fall, wenn Außeneinwirkungen den Richter dazu bringen, dass er sich bei der Rechtsprechung nicht aus rechtsinternen Gründen, nicht aufgrund von juristischen Argumentationen mit Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien an der Umwelt des Rechtssystems, an Anforderungen und Wünschen aus dieser Umwelt orientiert, dass er etwa eine von der Politik erwünschte Entscheidung nicht wegen deren juristischer Überzeugungskraft, sondern aus Rücksicht auf politische Macht trifft, beziehungsweise wenn der Richter gezwungen, unzumutbar bedrängt, unwiderstehlich motiviert oder manipuliert wird, eine bestimmte Entscheidung zu treffen oder bei der Entscheidung eine bestimmte Rechtsauffassung zugrunde zu legen. Ob Außeneinwirkungen auf den Richter dazu in der Lage sind, bemisst sich nicht nach einem Ausnahmefall, etwa dem Richter, der leicht einzuschüchtern oder unerschütterlich standhaft ist.349 Der Maßstab ist der normale Richter, dessen Rechtstreue, Neutralität, Unparteilichkeit, Unvoreingenommenheit und Selbstbewusstsein einerseits stets gefordert und erwartet werden, der andererseits aber wie alle Menschen seine Schwächen hat. „Nicht die Mimose ist das richterliche Leitbild“, so Hoffmann-Riems bildhafte Beschreibung, „andererseits wohl auch nicht die knorrige Eiche, aber vielleicht doch ein Kirschbaum.“350 346  Oben

Erster Teil, B. I. 2. c) (1). Erster Teil, B. I. 1. b). 348  Oben Erster Teil, B. II. 349  Hoffmann-Riem, DRiZ 2000, 18 (27). 350  Hoffmann-Riem, DRiZ 2000, 18 (27). 347  Oben

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Soweit die Beeinflussung der Rechtsprechung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems nicht zur Bestimmung wird, bringt die Offenheit und Responsivität der Rechtsprechung gegenüber Anforderungen und Erwartungen aus der Umwelt des Rechtssystems diesem gegebenenfalls auch großen Nutzen. Sie ist erforderlich für das Weiterbestehen eines ausdifferenzierten und autonomen Rechtssystems in einer sich rasch verändernden gesellschaftlichen Umwelt. Anforderungen und Erwartungen aus dieser Umwelt geben außerdem Anlass und Anregungen für argumentative juristische Auseinandersetzungen im Rechtssystem und treiben den juristischen Fortschritt voran. 2. Gerichtsverwaltung und richterliche Unabhängigkeit Der Gerichtsverwaltung, die personelle und sachliche Mittel für die Rechtsprechungstätigkeit der Gerichte bereitstellt,351 sind in vieler Hinsicht durch die richterliche Unabhängigkeit Grenzen gesetzt. Nachfolgend werden nur drei Aspekte erläutert: a) Auswahl und Beförderung der Richter, b) Dientaufsicht und Disziplinargewalt, c) Neues Steuerungsmodell. a) Auswahl und Beförderung der Richter Die Ausgestaltung eines richterlichen Auswahl- und Beförderungssystems kann die richterliche Unabhängigkeit berühren.352 Bei der Frage nach der Kompatibilität eines solchen Systems mit der richterlichen Unabhängigkeit ist aber zu beachten, dass nicht jede Kontrolle oder Beeinflussung der Auswahl und der Beförderung der Richter durch die Politik ohne weiteres eine Bedrohung oder eine Beschränkung der richterlichen Unabhängigkeit darstellt, die sich eventuell nur mit der durch eine solche politische Kontrolle oder Beeinflussung vermittelten demokratischen Legitimation der Rechtsprechung353 rechtfertigen lässt. Freilich kann eine solche Kontrolle oder 351  Kissel / Mayer,

(840).

GVG, § 12 Rn. 85 ff.; Wittreck, S.  16 f.; Röhl, JZ 2002, 838

352  Zur Auswahl und Beförderung der Richter (auch) unter der Perspektive der richterlichen Unabhängigkeit vgl. unter anderem van Husen, AöR 78 (1952 / 53), 49 (55 f.); Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 87  ff.; Eichenberger, S.  219 ff.; Kiener, S.  255 ff.; Zätzsch, S.  113 ff.; Groß, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 217 (220 f., 228 ff.); Khorrami, Das Einstellungs- und Beförderungsverfahren. 353  Zur demokratischen Legitimation der Rechtsprechung, die die von der Politik vermittelte personell-organisatorische Legitimation einschließt, vgl. Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 71 ff.; Dreier, in: ders., GG, Art. 20 (Demokratie) Rn.  143 ff.; Wittreck, S.  114 ff. Tschentscher, S. 113  ff., 189  ff., misst der



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts87

Beeinflussung Auswirkungen auf die Richtung und den Inhalt der Rechtsprechung haben. Sie steht aber nicht notwendig im Widerspruch zum Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Eine politische Kontrolle oder Beeinflussung von Richterpersonalentscheidungen beeinträchtigt die richterliche Unabhängigkeit nur, wenn sie dazu führt oder dazu zu führen droht, dass für die richterliche Entscheidung maßgebend wird, ob diese der Politik genehm ist oder nicht, dass bei der richterlichen Entscheidung wegen Rücksicht auf die Politik rechtliche Überlegungen zurücktreten müssen, dass Strukturen des politischen Systems wie der Machtcode Regierung / Opposition Einzug in die im Zentrum des Rechtssystems stehende Rechtsprechung halten. Eine politische Kontrolle oder Beeinflussung der Auswahl und der Beförderung der Richter lässt die richterliche Unabhängigkeit unberührt, sofern nicht wegen einer solchen Kontrolle oder Beeinflussung die richterliche Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben durch die Politik bestimmt zu werden droht, sofern trotz einer solchen Kontrolle oder Beeinflussung die Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der Politik gewahrt bleibt. Dabei spielen nicht nur rechtliche Vorkehrungen und Absicherungen wie die Garantie der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit des Richters eine Rolle. Mitentscheidend sind auch immer gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen wie eine kompetente, selbstbewusste und starke juristische Profession. Die richterliche Unabhängigkeit, die als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der Politik aufzufassen ist, und eine politische Kontrolle oder Beeinflussung von Richterpersonalentscheidungen als Beitrag zur demokratischen Legitimation der Rechtsprechung können also miteinander vereinbar sein. Zum Beispiel ist das Ernennungsverfahren für die Bundesrichter der Vereinigten Staaten, insbesondere für die Richter des Obersten Gerichtshofs, ausgesprochen parteipolitisch geprägt. Der Präsident der Vereinigten Staaten nominiert oft Kandidaten, die der gleichen Partei wie der Präsident angehören oder zumindest fundamentale politische Ansichten teilen. Mitglieder des Senats, dessen Zustimmung die Ernennung bedarf, lassen ihre Stimmabgabe auch stark von politischen und weltanschaulichen Einstellungen der Kandidaten abhängen.354 Dieser parteipolitisch geprägte Ernennungsmodus wirkt sich zwar auf die Richtung und den Inhalt der Rechtsprechung aus, die richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der Politik bleibt aber wohl unter anderem aufgrund einer lebenspersonell-organisatorischen Legitimation dagegen weit weniger Bedeutung für die demokratische Legitimation der Rechtsprechung bei; zur Kritik dazu vgl. Wittreck, S.  120 f. 354  Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (105 ff.) mit weiteren Literaturhinweisen.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

langen Amtszeit der Richter und einer selbstbewussten und starken juristischen Profession gewahrt. Freilich lässt sich das Oberste Gerichtshof in einer Phase als eher liberal und in einer anderen Phase als eher konservativ charakterisieren und auch unter seiner Richterschaft grob nach dem Schema liberal / konservativ unterscheiden.355 In der Judikative bildet sich aber auf keinen Fall ein fester Dualismus von Regierung und Opposition, wie dies in der Politik der Fall ist. Der Präsident wird ab und zu von der seinen politischen Ansichten widersprechenden Amtsausführung seiner Nominierten enttäuscht.356 Selbst im Obersten Gerichtshof, der oft für ideologisch polarisiert gehalten wird, sind in nicht seltenen Fällen ein als liberal geltender Richter und ein anderer als konservativ geltender Richter gleicher Meinung, und es wird ein beträchtlicher Anteil von Entscheidungen, auch solchen, die als liberal oder konservativ einzuordnen sind, einstimmig gefällt.357 Im Falle der Meinungsverschiedenheit geht es auch nicht nur um den Unterschied politischer Einstellungen. Vielmehr wird er durch eine Auseinandersetzung über eine spezifisch juristische Frage überformt wie die Frage, ob die Verfassung entsprechend der ursprünglichen Intention der Verfassungsväter oder mit Rücksicht auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert werden soll. All dies weist darauf hin, dass die Politik durch die Entscheidung über das Richterpersonal die Rechtsprechung zwar beeinflussen, aber nicht bestimmen kann, dass politische Machtstrukturen rechtliche Gesichtspunkte nicht zu verdrängen vermögen. Es ist andererseits ein Irrtum, wenn man annimmt, dass die Auswahl und die Beförderung der Richter durch eine Selbstverwaltung der Gerichte oder eine richterliche Mitwirkung daran auf keinen Fall ein Problem der Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit mit sich bringen und dieser nur gut tun könnte. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Personalentscheidungen durch Richter unpolitisch wären.358 „Richterbestellung [ist], wie immer man 355  Diese Betrachtungsweise prägt insbesondere die Attitüdenforschung, die auf ein Attitüdenmodell baut und richterliche Entscheidungen auf politische Einstellungen der Richter zurückführt; vgl. zu dieser Forschung Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (109 ff.); Fischman / Law, Washington University Journal of Law and Policy, 29 (2008), 133 ff.; zur Kritik an der Attitüdenforschung vgl. Tamanaha, Boston College Law Review, 50 (2009), 685 ff. 356  Beispielsweise bezeichnete Präsident Truman die Ernennung von Richter Tom Clark als seinen größten Fehler während der Amtszeit. Ähnlich äußerte sich Präsident Eisenhower über seine Ernennung von Richter Earl Warren und Richter William Brennan. Vgl. dazu Peretti, A Political Court, S. 111 ff. 357  Vgl. Baum, S. 134, 151; Peretti, in: Judicial Independence, S. 103 (110 f.); Sunstein, S.  48 ff. 358  Papier, NJW 2002, 2585 (2591).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts89

sie organisieren mag, der Sache nach Personalpolitik“359 und trotz recht­ licher Regelungen mit einem weiten Beurteilungsspielraum verbunden. Die Betrauung von Richtern mit dieser Aufgabe gibt ihnen Macht über andere Richter oder Bewerber um eine Richterstelle. Sie führt zu einer für die Politik typischen Blockbildung innerhalb der Judikative oder zumindest unter den mit dieser Aufgabe betrauten Richtern.360 Sie löst eventuell die Mitwirkung seitens verschiedener Interessenvereinigungen der Richterschaft aus. Neben verbandspolitischen Einflüssen können noch parteipolitische Einflüsse zur Geltung kommen, wenn Richtervereinigungen politischen Parteien nahestehen. Wenn die Aufgabe der Richterauswahl und -beförderung hochrangigen Richtern von Amts wegen übertragen wird, wird außerdem eine hierarchische Struktur innerhalb der Judikative verstärkt. In diesem Zusammenhang geht es nicht darum, gegen eine Blockbildung und eine hierarchische Struktur zu opponieren. Sie können im Rahmen der Gerichtsverwaltung durchaus funktional sein. Hier geht es vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass eine richterliche Selbst- oder Mitverantwortung für Personalentscheidungen, die oft als Beitrag zur richterlichen Unabhängigkeit betrachtet wird, mit dem Eindringen des für das politische System konstitutiven Mediums der Macht in die Judikative und damit mit dem Risiko der Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit verbunden ist.361 Sie kann gegebenenfalls – genauso wie eine externe, etwa ministerielle oder parlamentarische, Verantwortung für Richterpersonalentscheidungen – dazu führen, dass der Richter bei der Rechtsprechung insbesondere wegen des Laufbahndenkens auf die aus einem richterlichen Auswahl- und Beförderungssystem entstandene politische Macht Rücksicht nimmt und dabei rechtliche Gesichtspunkte zurückstellt oder nur als Deckmantel verwendet. Freilich gilt hier wie oben, dass man die politische Macht nicht von vornherein als eine Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit diskreditieren soll. Es sei hinzugefügt, dass bei der Richterauswahl und -beförderung nicht nur die richterliche Unabhängigkeit, sondern insbesondere auch die richterliche Unparteilichkeit und Neutralität sowie das Vertrauen der Allgemeinheit in eine unabhängige, unparteiische Rechtsprechung auf dem Spiel stehen. Diese drei wichtigen Aspekte werden bei der Auseinandersetzung mit der Richterauswahl und -beförderung oft nicht klar auseinandergehalten, wie es nach der hier vertretenen Auffassung eigentlich geschehen soll. Die richterliche Unabhängigkeit ist als Entscheidungsautonomie des Richters gegen359  Böckenförde,

Verfassungsfragen der Richterwahl, S. 100. und zum Folgenden Wittreck, S.  129 f., 676 ff. 361  Zur Eigenverantwortung der Gerichte für die Gerichtsverwaltung unten Erster Teil, B. III. 3 und III. 5. 360  Dazu

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

über der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems aufzufassen. Sie bedeutet die Freiheit des Richters von bestimmten Außeneinwirkungen. Es handelt es sich, wie die Wörter Autonomie und Außeneinwirkungen zum Ausdruck bringen, um ein Verhältnis des jeweils entscheidenden Richters zu anderen Personen und Organisationen.362 Die richterliche Unparteilichkeit und Neutralität bezieht sich dagegen auf die Eigenschaft des Richters und der Rechtsprechung an sich und stellt Anforderungen an das Verhalten, das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Richters selbst.363 Während die richterliche Unabhängigkeit sowie die richterliche Unparteilichkeit und Neutralität nach objektiven Kriterien zu beurteilen sind, ist bei der Einschätzung des Vertrauens der Allgemeinheit in eine unabhängige, unparteiische Rechtsprechung auf die subjektive Wahrnehmung der Bevölkerung abzustellen. Selbst wenn eine politische Kontrolle oder Beeinflussung der Richterauswahl und -beförderung die richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters nicht beeinträchtigt, ist es damit nicht automatisch ausgeschlossen, dass sie die richterliche Unparteilichkeit und Neutralität gefährden kann. Man kann immer noch fragen, ob durch ein Auswahl- und Beförderungssystem kompetentes Richterpersonal rekrutiert werden kann, das eine unparteiische und neutrale Rechtsprechung zu gewährleisten vermag. Auch die Frage des Vertrauens der Bevölkerung in eine unabhängige, unparteiische Rechtsprechung erübrigt sich nicht.364 b) Dienstaufsicht und Disziplinargewalt Die Dientaufsicht und die Disziplinargewalt über Richter finden ihre Schranke in der richterlichen Unabhängigkeit, die dadurch nicht beeinträchtigt werden soll. Sie stehen zwar einerseits im Spannungsverhälnis zur richterlichen Unabhängigkeit; sie und diese finden aber andererseits gemeinsame Grundlage in der staatlichen Justizgewährpflicht, die insbesondere das Gebot einer rechtsgebundenen, unparteiischen richterlichen Entscheidung überhaupt und in angemessener Zeit enthält.365 Die Dienstaufsicht über Richter steht hierzulande ständig im Mittelpunkt der Rechtsprechung und Literatur über die richterliche Unabhängigkeit. 362  Russell,

in: Judicial Independence, S. 1 (6). zur Unterscheidung von richterlicher Unabhängigkeit und richterlicher Unparteilichkeit und Neutralität unten Erster Teil, B. III. 6. 364  Vgl. Zätzsch, S. 128. Danach geht es bei der Diskussion über das Auswahl­ organ nicht so sehr um die Frage der tatsächlichen Beeinträchtigung der richter­ lichen Unabhängigkeit, sondern vielmehr um das Vertrauen der Bevölkerung in eine unabhängige Rechtsprechung. 365  Papier, NJW 2001, 1089 (1091). 363  Ausführlich



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts91

Dabei wird manchmal, wie im Vorstehenden beschrieben und kritisiert, die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit überdehnt,366 so dass „mittlerweile die Richterdienstaufsicht übervorsichtig zu Leisetreterei zu neigen scheint“.367 Bei aller Kritik daran sollte man aber auch in eine andere Richtung fragen, nämlich fragen, ob der Geltungsbereich der richterlichen Unabhängigkeit unangemessen eingeengt wird, wenn vertreten wird, dass die Dienstaufsicht über Richter, die sich auf den Inhalt der richterlichen Entscheidung erstreckt, gegebenenfalls mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar sei. Beispielsweise ist der Bundesgerichtshof der Auffassung, dass die Dienstaufsicht im Falle eines offensichtlichen, dem Zweifel entrückten Fehlgriffs bei der Amtsausübung des Richters auch hinsichtlich des Inhalts einer Entscheidung, Anordnung oder Regelung einschreiten dürfe, dass in diesem Fall dem Richter vorgehalten werden dürfe, nicht gesetzestreu zu handeln.368 Dagegen wird in der Literatur teilweise vertreten, dass der sachliche Gehalt der richterlichen Entscheidung kein Gegenstand von Dienstaufsichtsmaßnahmen sein solle.369 Nach hier vertretener Auffassung bleibt die richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems beim vom Bundesgerichtshof gebilligten dienstaufsichtlichen Einschreiten im Falle einer offensichtlich fehlerhaften Entscheidung noch gewahrt. Denn die Hürde für ein Eingreifen der Gerichtsverwaltung ist sehr hoch gesetzt. Es handelt sich nicht bloß um eine aus Sicht der herrschenden Meinung unvertretbare, sondern um eine in keiner Weise zu rechtfertigende, schlechterdings abwegige, evident unrichtige Rechtsanwendung. Im Zweifel, ob eine solche vorliegt, darf die Dienstaufsicht nicht eingreifen.370 Eine offensichtlich fehlerhafte Rechtsprechung leistet keinen Beitrag zum ausdifferenzierten Rechtssystem, das das Institut der richterlichen Unabhängigkeit schützt. Sie widerspricht eindeutig der richterlichen Rechtsbindung, die Grund und Grenze der richterlichen Unabhängigkeit bildet, und lässt sich nicht als ordnungsgemäße Dienstausübung qualifizieren.371 Darüber hinaus kann der betroffene Richter gegen Maßnahmen der Dienstaufsicht eine unabhängige Instanz anrufen. Ihm wird nämlich 366  Oben

Erster Teil, B. III. 1. in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 35; in diesem Sinne auch Sendler, NJW 1983, 1449 (1450). 368  BGHZ 46, 147 (150); 67, 184 (187 f.); 70, 1 (4); 76, 288 (291); zustimmend Hillgruber, in: Maunz  /  Dürig, GG, Art. 97 Rn. 81  ff.; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn.  60 f.; Papier, NJW 2001, 1089 (1091 f.). 369  Schmidt-Räntsch / Schmidt-Räntsch, DRiG, § 26 Rn. 25; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 193; Rudolph, DRiZ 1979, 97 (100). 370  BGHZ 67, 184 (188). 371  Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 83. 367  Schulze-Fielitz,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

nach § 26 Abs. 3 DRiG der Rechtsweg zum Dienstgericht eröffnet. Daher ist das Risiko relativ gering, dass ein Dienstvorgesetzter sich seiner Macht zur Durchsetzung seiner Rechtsauffassungen, zur Ausschaltung bestimmter Rechtsauffassungen oder gar zu einem politischen Zweck bedient, dass der Richter sich bei der Auslegung und Anwendung des Rechts vor der Macht seines Dienstvorgesetzten fürchten muss und dass er aus dem Gehorsam gegenüber dieser Macht, nicht aus rechtsinternen Gründen seine Entscheidung trifft. Es besteht keine drohende Gefahr, dass durch die Dienstaufsicht das für das politische System charakteristische Verhältnis von Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit die Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben bestimmt und diese aus dem von Argumentationen und Begründungen geprägten Kommunikationsnetz des Rechtssystems vertreibt. Es droht keine Entdifferenzierung zwischen Recht und Politik, gegen die das Institut der richterlichen Unabhängigkeit ankämpft. Es verhält sich aber anders, wenn man wie Wittreck als Reaktion auf die Überdehnung des Gewährleistungsumfangs der richterlichen Unabhängigkeit ein Eingreifen der Dienstaufsicht auch bei handwerklichen Fehlern, die nicht die Schwere des offensichtlichen Fehlgriffs erreichen, und bei der Rechtsfortbildung contra legem zulässt.372 Zuerst sei bemerkt, dass ein offensichtlicher Fehler, entgegen dem, was in der Literatur ab und zu vorausgesetzt wird,373 nicht ein großer sein muss, dass es folglich nicht ausgeschlossen ist, einen juristischen handwerklichen Fehler auch als offensichtlichen Fehler einzustufen. Dann gilt das, was gerade ausgeführt wurde. Bei nicht evidenten Fehlern ist aber zur Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit einem dienstaufsichtlichen Einschreiten Einhalt zu gebieten. Denn Recht ist auslegungsfähig und -bedürftig. Die Auslegung des Rechts ist auf Wertungen angewiesen.374 Eine juristische Frage kann deswegen von verschiedenen Personen unterschiedlich beantwortet werden. Auch eine unumstrittene Meinung in einer Zeit kann in einer anderen Zeit umstritten oder nach der in dieser Zeit herrschenden Meinung gar als Fehler eingestuft werden. Umgekehrt kann ein in einer Zeit allgemein anerkannter Fehler in einer anderen Zeit als eine vertretbare Alternative oder gar überwiegend als Standard akzeptiert werden. Fehler können Schule machen.375 Meinungsverschiedenheiten und -wandel sind in einem ausdifferenzierten Rechtssystem 372  Wittreck,

S.  198 f. in der Literatur geforderten Lockerung der Beschränkung der dienstaufsichtlichen Kontrolle auf einen offensichtlichen Fehlgriff liegt wohl oft stillschweigend die Annahme zugrunde, dass ein solcher Fehlgriff ein großer sei; vgl. Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (170); Wittreck, S.  198 f. 374  Oben Erster Teil, B. I. 2. b) (1). 375  Röhl, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 67 (87). 373  Der



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts93

unvermeidlich und auch erwünscht. Sie kommen notwendig im juristischen Diskurs vor, fördern juristische Entdeckungen oder Erfindungen und sorgen für ständigen juristischen Fortschritt. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass es sich bei einem nicht offensichtlichen Fehlgriff um eine Auslegung und Anwendung des Rechts handelt, die irgendwann und irgendwo ihre Begründung findet und juristische Diskussionen auslöst. Eine Intervention der Gerichtsverwaltung anlässlich eines solchen Fehlgriffs läuft Gefahr, dass eine Frage der Rechtsauslegung und deren Grenze durch die Sanktionsmacht der Dienstaufsicht entschieden statt argumentativen Auseinandersetzungen im ausdifferenzierten Rechtssystem überlassen wird. Sie hat, wie das bei einer übermäßigen Sanktionierung einer Meinungsäußerung der Fall ist, eine einschüchternde Wirkung.376 Sie löst beim Richter Unsicherheit darüber aus, ob ihm ein Fehlgriff vorgehalten wird. Aus Rücksicht auf die Sanktionsmacht der Dienstaufsicht hält der Richter sich dann möglicherweise mit seiner ungewöhnlichen Auffassung oder Minderheitsmeinung zurück. Eine haargenaue Fehlerprüfung der Rechtsprechung durch die Dienstaufsicht gefährdet also die richterliche Unabhängigkeit und bewirkt gerade das Gegenteil, nämlich die Hemmung des juristischen Fortschritts. Die Aufdeckung und die Berichtigung von Irrtümern der Rechtsprechung sind grundsätzlich dem durch die richterliche Unabhängigkeit zu fördernden und zu erhaltenden ausdifferenzierten, autonomen Rechtssystem zu überlassen. Der dort stattfindende juristische Argumentationsaustausch, an dem unabhängige Gerichte in verschiedenen Instanzen mit ihren Entscheidungen auch beteiligt sind, bietet beste Chancen für die relative Richtigkeit der Rechtsauslegung und -anwendung.377 Die richterliche Unabhängigkeit bleibt ebenfalls nicht intakt, wenn die Rechtsfortbildung contra legem, die die Grenze der zulässigen Rechtsfortbildung überschreitet,378 neben einem offensichtlichen Fehlgriff einen selb376  Vgl.

BVerfGE 43, 130 (136). Erster Teil, B. I. 2. c) (1) und B. II. 378  Wittreck spricht nur von der Rechtsfortbildung contra legem überhaupt als Anlass zu einem dienstaufsichtlichen Eingreifen; siehe dazu Wittreck, S. 147, 199. Der Begriff der Rechtsfortbildung contra legem ist aber von einer Ambiguität geprägt. Er wird in manchen Fällen enger gefasst, so dass die Rechtsfortbildung contra legem ausnahmslos unzulässig ist. Davon geht Wittreck wohl aus. In anderen Fällen wird der Begriff der Rechtsfortbildung contra legem aber weiter gefasst, so dass diese nicht als generell unzulässig betrachtet wird. Vgl. zur Problematik des contra legem-Begriffs Gropp, S.  11 ff.; Neuner, S. 1 f. Hier kommt auf jeden Fall nur eine Rechtsfortbildung contra legem, die die Grenze der zulässigen Rechtsfortbildung überschreitet, in Betracht. Denn niemand wird eine Intervention der Gerichtsverwaltung an eine zulässige Rechtsfortbildung contra legem knüpfen. Eine solche als Anlass zu einem dienstaufsichtlichen Eingreifen ist von vornherein ausgeschlossen. 377  Oben

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

ständigen Grund für ein dienstaufsichtliches Eingreifen bildet. Es ist immer umstritten, wann eine unzulässige Rechtsfortbildung contra legem vorliegt. Die Antwort auf diese Frage variiert mit unterschiedlichen Wertungen verschiedener Rechtsinterpreten. Wer bei der Auslegung des Rechts dem Normwortlaut oder Normvorstellungen des Gesetzgebers mehr Gewicht gibt, zieht die Grenze der Rechtsfortbildung enger. Wer dagegen objektiv-teleologischen Kriterien379 oder dem rechtsimmanenten Anspruch auf Richtigkeit380 mehr Bedeutung beimisst, ist großzügiger bei der Beurteilung der zulässigen Rechtsfortbildung. Ein dienstaufsichtliches Einschreiten aufgrund einer unzulässigen Rechtsfortbildung contra legem unter der Schwelle eines offensichtlichen Fehlgriffs droht folglich dazu zu führen, dass mit der Macht der Gerichtsverwaltung eine bestimmte Rechtsauffassung durchgesetzt wird und andere konkurrierende Rechtsauffassungen ausgeschalten werden. Das widerspricht dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Nach diesem Prinzip ist die Frage, welcher von miteinander konkurrierenden Rechtsauffassungen der Vorzug gegeben werden soll, dem argumentativen juristischen Diskurs und dem gerichtlichen Instanzenzug zu überlassen. Bei der Ausweitung der dienstaufsichtlichen Kontrolle bezüglich Fehler der Rechtsprechung greift Wittreck auf die richterliche Rechtsbindung als Grund und Grenze der richterlichen Unabhängigkeit zurück.381 Ob gegen diese verstoßen wird, ist aber, wie oben herausgestellt, bei einem nicht offensichtlichen Fehler nicht immer klar und sicher festzustellen. Ein anderes Argument, das Wittreck vorbringt, läuft auch dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit zuwider. Nach Wittreck soll die Definitionshoheit über die Grenzen der Rechtsbindung nicht ausschließlich beim einzelnen Richter liegen.382 Dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit liegt aber der Gedanke zugrunde, dass die Entscheidung über die Rechtsauslegung und -anwendung sowie deren Grenzen letztlich dem im Zentrum des Rechtssystem stehenden einzelnen Richter vorbehalten sein soll, und dass die Legislative und die Exekutive, zu der die Gerichtsverwaltung in funktionaler Perspektive gehört,383 nicht in die richterliche Entscheidung darüber einmischen soll. Die Qualität der Rechtsprechung mag zwar in einzelnen Fällen durch die eingehende dienstaufsichtliche Fehlerkontrolle verbessert, kann aber, so die dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde liegende Auffassung, in gesamter Betrachtung und in langfristiger Perspektive am besten dazu Larenz, S.  333 ff. oben Erster Teil, B. I. 2. c) (1). 381  Wittreck, S. 146, 197 f. 382  Wittreck, S. 198. 383  Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (164); Papier, NJW 2002, 2585 (2588); Wittreck, S. 184. 379  Vgl.

380  Dazu



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts95

durch die Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems, die von der Entscheidungsautonomie des Richters und dem spezifisch juristischen Argumentieren geprägt ist, gefördert werden. Da disziplinarische Angelegenheiten nach dem treffenden Wort von Adolf Arndt „potenzierte Dienstaufsichtssachen“384 sind, gilt für sie weitgehend das gerade zur Dienstaufsicht Ausgeführte.385 Die disziplinarische Ahndung des Richters für den Inhalt seiner Entscheidung ist zwar nicht auf den Fall der Rechtsbeugung zu beschränken,386 soll aber auch nicht über einen offensichtlichen Fehlgriff hinausgehen.387 Darüber hinaus ist einem Gericht, wie hierzulande einem Dienstgericht, oder einer anderen unabhängigen Instanz, wie einem circuit judicial council auf der Bundesebene der Vereinigten Staaten,388 die letzte Entscheidung über eine Disziplinarmaßnahme vorzubehalten. c) Neues Steuerungsmodell Seit Mitte der 1990er Jahre steht das Neue Steuerungsmodell im Mittelpunkt der hierzulande vorgenommenen Anstrengungen zur Justizreform und -modernisierung und findet große Aufmerksamkeit in Diskussionen über das Verhältnis der Gerichtsverwaltung zum unabhängigen Richter. Das Neue Steuerungsmodell stellt ein ganzes Bündel von Strategien und Maßnahmen dar, die helfen sollen, die Effizienz und die Effektivität der öffentlichen Verwaltung im Wege der Orientierung an der Privatwirtschaft zu steigern.389 Es ist zwar verfehlt, das ursprünglich für die weisungsgebundene Verwaltung entwickelte Modell in voller Konsequenz auf die in der Erfüllung von Rechtsprechungsaufgaben unabhängige Justiz zu übertragen. Die Übernahme einzelner Bausteine kann aber sinnvoll sein.390 Denn immerhin ist die Rechtsprechung nicht von der Forderung der Effizienz- und Qualitätssteigerung 384  Adolf Arndt vor dem Rechtsausschuss des Bundestags, zitiert nach Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 203. 385  Bei Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 203 und Schmidt-Räntsch / Schmidt-Räntsch, DRiG, Vorbemerkung vor §§ 63, 64 Rn. 10 werden auch die Begrenzungen der Dienstaufsicht weitgehend auf die Disziplinierung des Richters übertragen. 386  So aber Schmidt-Räntsch / Schmidt-Räntsch, DRiG, Vorbemerkung vor §§ 63, 64 Rn. 10. 387  So aber Wittreck, S.  149 f. 388  Vgl. Wittreck, S. 629; Zätzsch, S. 199. 389  Zum Neuen Steuerungsmodell hinsichtlich seiner Anwendung auf die Justiz vgl. Kramer, NJW 2001, 3449 ff.; Hoffmann-Riem, in: Modernisierung, S. 228 ff.; Röhl, DRiZ 2000, 220 ff.; Voßkuhle, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 35 ff.; Schütz, S.  329 ff. 390  Röhl, DRiZ 2000, 220 (230).

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

befreit. Eine dieser Forderung entsprechende Maßnahme steht auch nicht notwendig im Widerspruch zum Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Das Neue Steuerungsmodell als ein komplexer Reformansatz ist folglich nicht pauschal als Umfassungsangriff auf die richterliche Unabhängigkeit anzusehen.391 „Man muss sich vielmehr inhaltlich auf die Details der Reform­ anstrengungen einlassen.“392 „Es geht dabei nicht um Alles oder Nichts.“393 Mit Instrumenten des Neuen Steuerungsmodells wie der Budgetierung oder der dezentralen Budgetverantwortung will man unter anderem Kostentransparenz und Kostenbewusstsein fördern, die Effizienz der gesamten gerichtlichen Einheit verbessern und allen Betroffenen, darunter auch Richtern zumuten, an der Effizienzsteigerung mitzuwirken.394 Die Förderung der Effizienz der Justiz hängt nicht immer mit der inhaltlichen Steuerung spruchrichterlicher Tätigkeit zusammen, beeinträchtigt folglich nicht notwendig die richterliche Unabhängigkeit. Zudem trägt auch der Richter die Effizienzverantwortung. Effizienz ist eine legitime Forderung an die Er­ füllung öffentlicher, darunter auch justizieller Aufgaben.395 Insbesondere schließt das für den Rechtsstaat konstitutive Gebot effektiver Justiz- beziehungsweise Rechtsschutzgewähr, der auch die richterliche Unabhängigkeit dient, die Optimierung der Rechtsprechungseffizienz ein.396 Dennoch ist nicht außer Acht zu lassen, dass nicht alle Strategien und Maßnahmen zur Effizienzsteigerung mit der richterlichen Unabhängigkeit kompatibel sind. Eine solche Strategie oder Maßnahme beeinträchtigt die richterliche Unabhängigkeit, wenn sie dazu zu führen droht, dass die von der Politik beziehungsweise der Gerichtsverwaltung definierte Effizienz auch den sachlichen Gehalt spruchrichterlicher Tätigkeit dirigiert, wenn sie nämlich den Richter faktisch zwingt oder bedrängt, auch den Inhalt seiner spruchrichterlichen Tätigkeit der von der Politik beziehungsweise der Gerichtsverwaltung definierten Effizienz anzupassen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine im Zusammenhang einer Budgetierung zu treffende Leistungsvereinbarung sich nicht nur auf die ordnungsgemäße Erledigung von Verfahren bezieht, sondern auch eine weitergehende Qualitätsfestlegung spruchrichterlicher Tätigkeit einschließt,397 wenn Geldstrafen und Geldbußen bei einer Einnahmebudgetierung einbezogen werden398 oder wenn eine Leistungsvereinbarung 391  Röhl, DRiZ 2000, 220 (221); Röhl, JZ 2002, 838 (842); Hoffmann-Riem, DRiZ 2000, 18 (28). 392  Röhl, DRiZ 2000, 220 (221). 393  Röhl, DRiZ 2000, 220 (230). 394  Hoffmann-Riem, DRiZ 2000, 18 (26). 395  Hoffmann-Riem, in: Modernisierung, S. 228 (228). 396  Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (159). 397  Vgl. dazu ablehnend Röhl, DRiZ 2000, 220 (224 f.); Hoffmann-Riem, in: Modernisierung, S. 228 (240 ff.).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts97

nicht nur pauschal auf der Ebene ganzer Gerichte getroffen wird, sondern auch jeder Spruchkörper unmittelbar für die Einhaltung eines nach Fallpauschalen bemessenen Budgets verantwortlich gemacht wird.399 Das Neue Steuerungsmodell begnügt sich nicht mit dem Effizienzmanagement, sondern will auch die Qualität der Arbeit der Gerichte heben und sichern. Sicher wird die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigt, wenn eine Qualitätsfestlegung spruchrichterlicher Tätigkeit durch die Gerichtsverwaltung über die ordnungsgemäße Erledigung von Verfahren hinausgeht. Das bedeutet aber nicht, dass es keinen Raum für ein Qualitätsmanagement in der Justiz gibt. Argumentative Auseinandersetzungen im juristischen Diskurs setzen voraus, dass die Richtigkeit oder die Rationalität, also die Qualität der Rechtsprechung, durchaus messbar und intersubjektiv überprüfbar ist. Es bestehen in der Tat auch längst Instrumente zur Förderung und Sicherung der Rechtsprechungsqualität wie Rechtsmittel und Kollegialspruchkörper. Neue, im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells eingeführte Instrumente zur Qualitätssicherung lassen sich folglich nicht pauschal als unzulässig abwehren. So sind etwa Qualitätszirkel400 und Benchmarking401 mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar, sofern sie die Form eines offenen und enthierarchisierten Dialogs und Diskurses annimmt,402 sofern es dabei nicht um eine retrospektive individuelle Zuschreibung von Fehlern an einzelne Richter, sondern um eine von den beteiligten Richtern gemeinsam vorangetriebene prospektive, kontinuierliche Qualitätsverbesserung der Rechtsprechung geht.403 398

3. Richterliche Unabhängigkeit innerhalb der Judikative Während die richterliche Unabhängigkeit sich schon seit ihrer Entstehungszeit gegen die Exekutive und die Legislative richtet, findet die richterliche Unabhängigkeit innerhalb der Judikative erst in der Gegenwart allgemeine Anerkennung und besondere Beachtung.404 Ab und zu wird der richterlichen Unabhängigkeit innerhalb der Judikative sogar die größte Bedeutung für die gegenwärtige hiesige Praxis zugemessen.405 Es gibt in der 398  Vgl. dazu ablehnend Röhl, DRiZ 2000, 220 (226); Hoffmann-Riem, in: Modernisierung, S. 228 (238). 399  Vgl. dazu ablehnend Röhl, DRiZ 2000, 220 (224 ff.). 400  Vgl. Klein, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 55 (61 f., 65 f.); Schütz, S. 385. 401  Vgl. Brand, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 99 ff.; Schütz, S.  393 ff. 402  Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (172). 403  Röhl, DRiZ 2000, 220 (229). 404  Oben Erster Teil, A. II. 405  Vgl. Wittreck, S. 183; Hoffmann-Riem, DRiZ 2000, 18 (26); Classen, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art.  97 Rn.  18 mit Fn.  81.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Literatur aber auch Stimmen, die der Ansicht sind, dass die Schutzintensität der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber Einwirkungen innerhalb der Judikative nicht so stark wie gegenüber externen Einwirkungen aus der Exekutive oder der Legislative sei406 und dass „richterliche Unabhängigkeit nicht rein ‚individualistisch‘ definiert werden [könne und] der einzelne Richter […] sich in das System des Gesamtgerichts einfügen [müsse]“407. Nach hier vertretener Ansicht kann die Unabhängigkeit des Richters auch durch andere Richter beeinträchtigt werden. Freilich verletzt nicht jede Bestimmung oder Beeinflussung der rechtsprechenden Tätigkeit eines Richters durch andere Richter die richterliche Unabhängigkeit. Diese bleibt unberührt, wenn eine Einwirkung auf den Richter seitens seiner Kollegen die Ausdifferenzierung und die Autonomie des Rechtssystems, das sich am Code Recht / Unrecht und an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien orientiert, intakt lässt. Denn die richterliche Unabhängigkeit dient, wie oben bereits ausgeführt, der Erhaltung und der Förderung der Ausdifferenzierung und der Autonomie des Rechtssystems. Insbesondere wenn eine Einwirkung auf den Richter seitens seiner Kollegen durch eine Tätigkeit geschieht, die als Wahrnehmung einer rechtsprechenden Aufgabe in einem ausdifferenzierten Rechtssystem anzusehen ist, kann von der Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit nicht die Rede sein. So sind die Korrektur einer richterlichen Entscheidung durch ein Rechtsmittelgericht, das damit auch künftige richterliche Entscheidungen in gleichartigen und ähnlichen Fällen beeinflussen will, und die Bindung der Vorinstanz an die rechtliche Beurteilung des Rechtsmittelgerichts bei Rückweisung unentbehrlich für die Einheitsbildung des Rechtssystems und kein Problem für die richterliche Unabhängigkeit. Es stellt auch keine Bedrohung für die richterliche Unabhängigkeit dar, wenn Richter durch wechselseitige argumentative Auseinandersetzung und Überzeugungsarbeit in gleichberechtigter Weise einander Rat zu geben und aufeinander Einfluss zu nehmen suchen.408 Solch ein offener juristischer Diskurs ist ein konstitutives Element des ausdifferenzierten Rechtssystems und eben durch die richterliche Unabhängigkeit zu schützen und zu fördern. Eine Einwirkung auf den Richter seitens seiner Kollegen greift aber die richterliche Unabhängigkeit an, wenn sie die Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems, das sich am Code Recht / Unrecht und an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien orientiert, beeinträchtigt, wenn sie das für 406  Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (165); Röhl, JZ 2002, 838 (844); Röhl, DRiZ 2003, 292 (295 f.). 407  Röhl, DRiZ 2000, 220 (227), Hervorhebung im Original; ähnlich auch Berlit, in: Justiz und Justizverwaltung, S. 135 (150, 152). 408  Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 44; Röhl, JZ 2002, 838 (844); Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 95; Classen, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 97 Rn. 18.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts99

das politische System charakteristische Verhältnis von Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit die Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben bestimmen lässt, wenn sie also statt Argumentationsaustausch unter Richtern das Machtverhältnis unter Richtern für die richterliche Entscheidung maßgebend sein lässt, wenn sie weder durch argumentative Überzeugung noch durch eine als Wahrnehmung einer rechtsprechenden Aufgabe in einem ausdifferenzierten Rechtssystem anzusehende Tätigkeit, wie durch eine Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, geschieht und den Richter zwingt oder unzumutbar bedrängt, eine bestimmte Entscheidung zu treffen oder bei der Entscheidung eine bestimmte Rechtsauffassung zugrunde zu legen. So ist die richterliche Unabhängigkeit dadurch verletzt, dass der Vorsitzende eines Spruchkörpers eine Einzelrichterentscheidung eigenmächtig verändert409 oder dass das Präsidium eines Gerichts bei der Geschäftsverteilung bloß in Reaktion auf eine im Kollegenkreis als zu liberal oder zu konservativ empfundene Rechtsprechungslinie einem einzelnen Richter seinen bisherigen Aufgabenbereich entzieht.410 Das Bundesverfassungsgericht ging zwar davon aus, dass das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit nur das Verhältnis der Richter zu Trägern nichtrichterlicher Gewalt betreffe,411 interpretierte aber später eine nichtrichterliche Gewalt in einem materiellen Sinn: „Sicher ist, daß die sachliche Unabhängigkeit jedenfalls vor solchen internen richterlichen Eingriffen schützt, für die es an einer Ermächtigung zur Wahrnehmung richterlicher Funktionen nach jedem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt fehlt. […] Kann sich der Eingriff von vornherein auf eine solche richterliche Gewalt nicht stützen, die durch Gesetz oder den Geschäftsverteilungsplan vermittelt wird, kann es keinen Unterschied machen, wo die Beeinträchtigung der Unabhängigkeit ihren Ausgang nimmt.“412

Es ist zwar richtig, dass die richterliche Unabhängigkeit nicht rein individualistisch verstanden werden darf und der einzelne Richter sich auch in seiner Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben in das gesamte Rechtssystem einfügen soll. Folglich wird, wie gerade ausgeführt, nicht jede Einwirkung auf den Richter seitens seiner Kollegen als Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit betrachtet. Das Rechtssystem, in das der einzelne Richter sich integriert, soll aber ein ausdifferenziertes, autonomes System sein, das durch den Code Recht  /  Unrecht sowie durch Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien, aber nicht durch den Code Machtüberlegenheit / Machtunterle409  BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 29.2.1996 – 2 BvR 136 / 96, NJW 1996, 2149 (2150 f.). 410  Wittreck, S. 185, 358. 411  BVerfGE 12, 67 (71); 31, 137 (140). 412  BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 29.2.1996 – 2 BvR 136 / 96, NJW 1996, 2149 (2150).

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

genheit strukturiert ist. Der Richter soll in seiner spruchrichterlichen Tätigkeit nicht wie ein Verwaltungsbeamter einem durch den Machtcode strukturierten System unterworfen sein. Das will man mit dem Institut der richterlichen Unabhängigkeit garantieren. Auch innerhalb der Judikative kann Macht wie die Macht eines vorsitzenden Richters über seine Kammer und damit eine Gefahrenquelle für das autonome Rechtssystem und die richterliche Unabhängigkeit entstehen.413 Das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit bietet keinesfalls weniger Schutz gegen justizinterne Einwirkungen als gegen externe Einwirkungen aus der Exekutive. Es ist das gleiche Prinzip, das innerhalb der Judikative wie gegenüber der Exekutive die Ausdifferenzierung des Rechtssystems sichern will. In der Anwendung auf justizinterne Verhältnisse relativiert sich dieses Prinzip an sich nicht. Freilich ist Macht in der Judikative nicht so ausgeprägt wie in der im Zentrum des politischen Systems stehenden Exekutive. Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit aus der Judikative selbst sind deshalb in der Regel nicht so groß wie Gefahren aus der Exekutive, können jedoch gerade deswegen im Vergleich mit diesen vernachlässigt werden. Angesichts der Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit durch die Exekutive wird etwa die von der Exekutive losgelöste Selbstverwaltung der Dritten Gewalt gelegentlich gefordert.414 Es wird aber leicht aus den Augen verloren, dass die Selbstverwaltung der Gerichte das auch unter der ministeriellen Gerichtsverwaltung vorhandene Problem der eventuellen Beeinträchtigung der Unabhängigkeit des Richters seitens seiner Kollegen gegebenenfalls verschärfen kann.415 Denn mit der Einführung einer Selbstverwaltung der Dritten Gewalt kommt denjenigen Richtern, die Gerichtsverwaltungsaufgaben übernehmen, mehr Macht zu, als dies bei einer extern gesteuerten und verantworteten Verwaltung der Fall ist. Die Bedeutung von Fragen der Machtverteilung innerhalb der Judikative wächst. Damit steigert auch das Potential der Gefährdung der Unabhängigkeit des Richters seitens seiner Kollegen. Viele Probleme und Konflikte, die bei der Fremdverwaltung zwischen der Judikative und anderen Staatsgewalten entstehen, verlagern sich im Falle der Selbstverwaltung in interne Verhältnisse der Dritten Gewalt selbst.416 Es sei angemerkt, dass es hier nicht um die Ablehnung der Selbstverwaltung der Gerichte geht, sondern um den Hinweis auf eventuell mit der Selbstverwaltung eintretende Gefahren für die Unabhängigkeit des Richters innerhalb der Judikative. Wittreck, S. 184. van Husen, AöR 78 (1952 / 53), 49 ff.; Groß, in: Justiz und Justizverwaltung, S.  217 ff.; Röhl, JZ 2002, 838 (843); die Position des Deutschen Richterbundes unter http: /  / www.drb.de / cms / index.php?id=552 (Stand: 20.8.2012). 415  Wittreck, S.  185 f., 667 f.; Papier, NJW 2002, 2585 (2587 f.). 416  Papier, NJW 2002, 2585 (2588). 413  Vgl. 414  Vgl.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts101

4. Richterliche Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren Nicht nur staatliche Akteure, sondern auch private Prozessparteien und sonstige gesellschaftliche Kräfte können den Richter so zwingen, unzumutbar bedrängen oder manipulieren, dass er bei der Rechtsprechung die juristische Überzeugungskraft von Ansprüchen und Argumentationen außer Acht lässt und sich auch ohne rechtsinterne Gründe an Anforderungen und Wünschen aus der Umwelt des Rechtssystems orientiert. Auch von nichtstaat­ lichen Akteuren können Einwirkungen stammen, die dazu führen oder dazu zu führen drohen, dass die richterliche Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben von der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems bestimmt wird. Um das ausdifferenzierte, autonome Rechtssystem gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt aufrechtzuerhalten, ist die Unabhängigkeit des Richters als Entscheidungsautonomie gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems auch gegenüber privaten Prozessparteien und sonstigen gesellschaftlichen Kräften zu verteidigen, wie dies in der Literatur überwiegend anerkannt wird.417 Die richterliche Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren ist verfassungsrechtlich zwar nicht als unmittelbare Verpflichtung, aber doch als objektives Prinzip der gesamten Rechtsordnung und als Schutzpflicht des Staates anzuerkennen.418 Konkret betrachtet ist die Schutzpflicht unter anderem durch strafrechtliche Regelungen gegen Nötigung, Vorteilsgewährung und Bestechung zu erfüllen.419 Gegen Zwangslagen und Aufdringlichkeiten im Sitzungssaal und übrigen Gerichtsgebäude ist der Richter durch die ihm verliehene sitzungspolizeiliche Befugnis und durch das von der Gerichtsverwaltung ausgeübte Hausrecht zu schützen.420 Massivem Druck, der aus unsachlicher öffentlicher Urteilsschelte stammt, soll der Dienstherr in Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht421 entgegentreten, indem er sich in der Öffentlichkeit schützend vor ihn stellt. Die Öffentlichkeitsarbeit kann also dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit dienen.422 Es sei besonders hervorgehoben, dass selbst scharfe oder polemische, oft durch medienvermittelte Meinungsäußerungen oder Demonstrationen vorge417  Oben

Erster Teil, A. II. in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 45 f.; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S.  214 f.; Wittreck, S. 189. 419  Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 93; Wittreck, S. 190. 420  Hillgruber, in: Maunz  /  Dürig, GG, Art. 97 Rn. 93; Mishra, S. 198, 201 f.; Wittreck, S. 190; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 216. 421  Vgl. § 46 DRiG i. V. m. § 79 BBG, § 48 BRRG. 422  Hillgruber, in: Maunz  / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 93; Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 192; Wittreck, S.  191 f. 418  Schulze-Fielitz,

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

brachte Kritik oder Forderung aus der Öffentlichkeit an die Rechtsprechung423 nicht voreilig als Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit angesehen werden darf. Eine juristisch konstruktive und sachliche Justizkritik leistet einen Beitrag zum juristischen Diskurs und autonomen Rechtssystem, tastet damit die der Ausdifferenzierung des Rechts dienende richterliche Unabhängigkeit keinesfalls an. Entgegen dem gelegentlich durch die Literatur nahegelegten Eindruck, beeinträchtigt eine unsachliche Justizkritik, die ihren Anschluss nicht unmittelbar im Kommunikationsnetz des Rechtssystems, sondern in einem anderen Kommunikationszusammenhang findet, etwa politisch orientiert ist, die richterliche Unabhängigkeit ebenfalls nicht notwendig. Selbst eine unsachliche, etwa politisch orientierte Justizkritik kann dem Rechtssystem ab und zu Anlass und Anregung geben, über bisherige juristische Konstruktionen und Vorgehensweisen zu reflektieren, Anforderungen und Erwartungen aus der Umwelt des Rechtssystems gegebenenfalls in das juristische Koordinatensystem einzuarbeiten. Das widerspricht keinesfalls der Autonomie des Rechtssystems und der Unabhängigkeit des Richters, sofern das aus rechtsinternen Gründen geschieht. Wie schon erläutert, zielt die richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems nicht darauf, das Rechtssystem von dessen Umwelt abzukapseln.424 Die Beeinflussung der Rechtsprechung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems und die Anpassung der Rechtsprechung an diese Umwelt bedeuten nicht ohne weiteres die die Ausdifferenzierung des Rechts bedrohende Bestimmung der Rechtsprechung durch diese Umwelt.425 Nur Außeneinwirkungen auf den Richter, die dazu zu führen vermögen, beeinträchtigen die richterliche Unabhängigkeit. Zu solcher Bestimmung der Rechtsprechung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems ist eine durch Meinungsäußerungen oder Demonstrationen zum Ausdruck kommende unsachliche Justizkritik aus der Öffentlichkeit in der Regel nicht in der Lage. Ob sie dazu in der Lage ist oder nicht, bemisst sich schließlich nach dem normalen Richter, dessen Rechtstreue, Neutralität, Unparteilichkeit, Selbstbewusstsein und Offenheit gegenüber verschiedenen Meinungsströmungen stets gefordert und erwartet werden, nicht nach einem Ausnahmefall, etwa dem leicht einzuschüchternden Richter. Selbst wenn der Druck, der aus der Öffentlichkeit stammt und durch Meinungsäußerung, -verbreitung oder Demonstration entsteht, die richter­ liche Unabhängigkeit doch gefährdet, unterliegt die Wahrnehmung der allgemein zur Urteilsschelte Mishra, Urteilsschelte. Erster Teil, B. II. 425  Näher zu solcher Bestimmung der Rechtsprechung durch die Umwelt des Rechtssystems oben Erster Teil, B. III. 1. 423  Vgl.

424  Oben



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts103

staatlichen Schutzpflicht für die richterliche Unabhängigkeit in einer freien Demokratie beträchtlichen Einschränkungen. Wegen Schutz der Meinungs-, Medien- und Versammlungsfreiheit kann nämlich eventuell nur die schon erwähnte Öffentlichkeitsarbeit bleiben, um der Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit seitens nichtstaatlicher Akteure entgegenzutreten.426 Der staatliche und rechtliche Schutz trägt zwar zur richterlichen Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren bei, die Wahrung dieser Unabhängigkeit hängt aber in vielen Fällen noch von anderen gesellschaftlichen Bedingungen ab.427 Wie unten noch näher erläutert wird, gibt es etwa in China auf dem Land erhebliche Schwierigkeiten, die richterliche Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren zu wahren. Das lässt sich auf die mangelnde Ausdifferenzierung des Rechts zurückzuführen.428 5. Institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte In der Literatur begegnet man ab und zu dem Begriff der institutionellen oder organisatorischen oder kollektiven Unabhängigkeit der Gerichte oder der rechtsprechenden Gewalt.429 Mit diesem Begriff sind die organisatorische und / oder die administrative Selbständigkeit und manchmal auch die funktionale Unabhängigkeit der Judikative gegenüber der Legislative und der Exekutive gemeint. Es geht beim Begriff der institutionellen Unabhängigkeit der Gerichte, grob betrachtet, um das Verhältnis der Judikative zur Legislative und Exekutive, während es beim hier verwendeten Begriff der richterlichen Unabhängigkeit um mehr geht, nämlich um das Verhältnis des Richters zu anderen Personen und Organisationen überhaupt, also auch um das Verhältnis des Richters zu anderen Richtern innerhalb der Judikative und zu nichtstaatlichen Akteuren. Die institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte lässt sich insgesamt als eine Ausprägung der Gewaltenteilung betrachten,430 die richterliche Unabhängigkeit im Ganzen genommen dage426  Wittreck spricht von den Grenzen rechtlicher Steuerungsfähigkeit hinsichtlich der Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit durch nichtstaatliche Stellen; vgl. Wittreck, S.  191 f. 427  Vgl. Wassermann, Die richterliche Gewalt, S. 93, 95. Dort spricht er vom Schutz der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber Pressionen und Einschüchterungsversuchen gesellschaftlicher Organisationen und Verbände als Sozialnorm oder gesellschaftlichem Konsens. 428  Unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (4). 429  Vgl. zur institutionellen Unabhängigkeit Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 32 ff.; Wittreck, S. 182 f.; zur organisatorischen Unabhängigkeit Zätzsch, S.  57 ff.; Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 111 f.; Tschentscher, S. 162; zur kollektiven Unabhängigkeit Shetreet, in: Judicial Independence, S. 590 (643 ff.). 430  Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 32; Zätzsch, S.  57 ff.; Hillgruber, in: Maunz  /  Dürig, GG, Art. 97 Rn. 111.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

gen nicht.431 Als Konkretisierung der Gewaltenteilung ist zwar die richterliche Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive und der Legislative anzusehen, nicht aber die innerhalb der Judikative und gegenüber nichtstaatlichen Akteuren. Es ist im Folgenden näher im Hinblick auf den unterschiedlichen Sinn des Begriffs der institutionellen Unabhängigkeit der Gerichte zu klären, ob und wie dieser Begriff vom Begriff der richterlichen Unabhängigkeit unterschieden beziehungsweise mit diesem in Zusammenhang gebracht werden kann. Die institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte bedeutet in ihrem Sinn als organisatorische Selbständigkeit die Selbständigkeit der Gerichte als Behörden. Außerdem hat die organisatorische Selbständigkeit eine personale Komponente. Sie beinhaltet nämlich den Grundsatz der Inkompatibilität.432 Ein Richter darf Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt grundsätzlich nicht zugleich wahrnehmen.433 Die Selbständigkeit der Gerichte als Behörden fällt nicht unter den hier als Entscheidungsautonomie des Richters verstandenen Begriff der richterlichen Unabhängigkeit an sich, trägt aber zur richterlichen Unabhängigkeit bei und ist so unverzichtbar für die Ausdifferenzierung des Rechts wie die richterliche Unabhängigkeit. Der Grundsatz der Inkompatibilität ist eine Ausprägung der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit, die sich auf die Eigenschaft des Richters und der Rechtsprechung an sich bezieht und von der richterlichen Unabhängigkeit, die sich auf das Verhältnis des Richters zu anderen Personen und Organisationen bezieht, unterscheidet.434 Bei der institutionellen Unabhängigkeit der Gerichte im Sinne der administrativen Selbständigkeit geht es um die Forderung nach mehr Eigenverantwortung der Gerichte für die Gerichtsverwaltung, nämlich die Forderung nach der Einengung des Einflusses der Exekutive auf die Gerichtsverwaltung oder gar das Streben nach der von der Exekutive losgelösten Selbstverwaltung der Dritten Gewalt.435 Die institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte in diesem Sinne ist in den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit 431  So Wittreck, S. 176 f., der die umstandslose Amalgamierung von richterlicher Unabhängigkeit und Gewaltenteilung ablehnt. 432  Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 32; Tschentscher, S. 162; Wittreck, S. 182. 433  § 4 Abs. 1 DRiG. 434  Ausführlich zur richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit unten Erster Teil, B. III. 6. 435  Shetreet, in: Judicial Independence, S. 590 (643 ff.); IBA Minimum Standards of Judicial Independence, §§ 2, 3, 8, 9; zum Text siehe Shetreet (Hrsg.), Judicial Independence, S. 388 ff.; Montreal Universal Declaration on the Independence of Justice, §§ 2.04, 2.40–2.43; zum Text siehe Shetreet (Hrsg.), Judicial Independence, S.  447 ff.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts105

an sich nicht einzubeziehen. Denn die richterliche Unabhängigkeit bezieht sich auf die rechtsprechende Tätigkeit, nicht auf die Gerichtsverwaltungstätigkeit. Es ist aber nicht ausgeschlossen, die institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte im Sinne der administrativen Selbständigkeit als Vorkehrung zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit zu qualifizieren.436 Vor der Manipulation durch die Politik wird die Rechtsprechung etwa dadurch geschützt, dass die Geschäftsverteilung inklusive der Besetzung der Spruchkörper in die alleinige Zuständigkeit der Gerichte fällt.437 Dennoch ist einerseits zu betonen, dass mehr Eigenverantwortung der Dritten Gewalt für die Gerichtsverwaltung nicht ohne weiteres besseren Schutz für die richterliche Unabhängigkeit bietet. Wie oben bezüglich der richterlichen Unabhängigkeit innerhalb der Judikative bereits bemerkt, wächst mit mehr Spielraum für Gerichte bei der Gerichtsverwaltung auch die Bedeutung von Fragen der Machtverteilung innerhalb der Judikative und damit das Potential der Gefährdung der Unabhängigkeit des Richters seitens seiner Kollegen. Nicht jede Art der Eigenverantwortung der Dritten Gewalt für die Gerichtsverwaltung fördert also die richterliche Unabhängigkeit. Andererseits ist zu beachten, dass das Institut der richterlichen Unabhängigkeit sich auch bei einer extern gesteuerten und verantworteten Gerichtsverwaltung etablieren kann. Der in seiner Rechtsprechung unabhängige Richter steht nicht notwendig im Widerspruch zu der in der Gerichtsverwaltung von anderen Gewalten mehr oder weniger abhängigen Judikative.438 Die Frage, ob die institutionelle Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt im Sinne der administrativen Selbständigkeit sich als Vorkehrung zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit charakterisieren lässt, kann also nicht pauschal beantwortet werden. Es ist unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Landes zu überprüfen, inwiefern und in welcher Form die Einengung des Einflusses der Exekutive auf die Gerichtsverwaltung oder die Selbstverwaltung der Gerichte zur richterlichen Unabhängigkeit beitragen kann. Darauf ist in der vorliegenden Arbeit nicht einzugehen. Bei der Verwendung des Begriffs der institutionellen Unabhängigkeit der Gerichte hat man hauptsächlich die organisatorische und / oder die administrative Selbständigkeit der Judikative gegenüber der Legislative und der Exekutive im Blick. Mit diesem Begriff ist aber gelegentlich auch die funktionale Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt gegenüber den anderen 436  So

(842).

Ipsen, in: Verhandlungen, Bd. II, S. C 5 (S. C 14); Röhl, JZ 2002, 838

437  Vgl.

§§ 21a ff. GVG. Ferejohn, Southern California Law Review 72 (1998 / 1999), 353 ff. Dort werden Bundesrichter in den Vereinigten Staaten als unabhängige Richter in der abhängigen Judikative gekennzeichnet. 438  Vgl.

106

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Staatsgewalten, nämlich die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber anderen Staatsorganen bei der Wahrnehmung ihrer rechtsprechenden Funktion, gemeint. Diese funktionale Unabhängigkeit entspricht der hier als Entscheidungsautonomie des Richters aufgefassten richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der Legislative und der Exekutive, schließt die hier auch durch den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit erfasste Unabhängigkeit des Richters innerhalb der Judikative und gegenüber nichtstaatlichen Akteuren jedoch nicht ein. Es geht dabei nur um das Verhältnis der Judikative insgesamt zu anderen Staatsgewalten im gewaltenteilenden Staat. 6. Innere Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit des Richters Die innere Unabhängigkeit oder Freiheit des Richters, die auf das forum internum, auf Bewusstsein und Persönlichkeit des Richters bezogen ist, wird gelegentlich in der Literatur unter den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit gebracht.439 In der vorliegenden Arbeit wird sie hingegen dem Begriff der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit zugeordnet und vom Begriff der richterlichen Unabhängigkeit unterschieden.440 Die richterliche Unabhängigkeit wird hier als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems aufgefasst. Sie bedeutet die Freiheit des Richters von bestimmten Außeneinwirkungen. Es handelt sich, wie die Wörter Autonomie und Außeneinwirkungen zum Ausdruck bringen, um ein Verhältnis des jeweils entscheidenden Richters zu anderen Personen und Organisationen.441 Nicht der Erstere, sondern die Letzteren werden verpflichtet, die Entscheidungsautonomie des Richters zu achten und zu schützen. Die richterliche Neutralität und Unparteilichkeit, die auch als richterliche Unbefangenheit oder Unvoreingenommenheit bezeichnet werden kann,442 bezieht sich dagegen auf die Eigenschaft des Richters und der Rechtsprechung an sich und stellt Anforderungen an Verhalten, Entscheidung, Bewusstsein und Persönlichkeit des Richters selbst. Diese Anforderungen sind vor allem vom Richter, aber auch von dem Gesetzgeber und der Gerichtsverwaltung zu beachten. Rechtliche Re439  Oben

Erster Teil, A. II. begrifflichen Unterscheidung von richterlicher Unabhängigkeit und Neutralität Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 220; a. A. Kiener, S.  55 ff.; Classen, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art.  97 Rn.  33 f.; Kissel / Mayer, GVG, § 1, Rn. 163. 441  Russell, in: Judicial Independence, S. 1 (6). 442  Vgl. Kiener, S. 56 f. Danach wird mit unterschiedlichen Bezeichnungen wie Neutralität, Unparteilichkeit, Unvoreingenommenheit, Unbefangenheit, innerer Unabhängigkeit und Freiheit das Gleiche ausgedrückt. 440  Zur



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts107

gelungen zur Wahrung der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit sind etwa Regelungen über den Ausschluss und die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis seiner Befangenheit,443 die Dienstpflicht zur zurückhaltenden politischen Betätigung444 und Regelungen über die Inkompatibilität von Richteramt und anderen Staatsämtern.445 Die richterliche Neutralität und Unparteilichkeit, die sich auf Bewusstsein und Persönlichkeit des Richters bezieht, ist eben das, was man als innere Unabhängigkeit oder Freiheit des Richters bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit wird die richterliche Unabhängigkeit auf die Entscheidungsautonomie des Richters beschränkt und nicht auf die innere Freiheit des Richters erstreckt.446 Das ist nicht nur durch den eben erläuterten Unterschied zwischen der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit als Oberbegriff der inneren Freiheit des Richters einerseits und der richterlichen Entscheidungsautonomie andererseits, sondern auch durch den folgenden Gegensatz zu begründen: Die Entscheidungsautonomie des Richters ist ein gesellschaftlich beobachtbares, durch das Recht institutionell sicherzustellendes Phänomen; die innere Freiheit oder Unabhängigkeit des Richters ist dagegen, wie in der Literatur schon erwähnt,447 eine geistige, ethische Haltung und entzieht sich damit einer direkten rechtlichen Regelung. Bewusstsein und innere Gedanken eines Richters sind schwer zu erforschen. Die Frage, ob ein Richter in seinem forum internum neutral, unparteiisch, unvoreingenommen ist oder nicht, ist nicht leicht zu beantworten. Außerdem kann man niemals sagen, dass die innere Freiheit oder Unabhängigkeit als anzustrebendes moralisches Ziel von einem Richter auch als Mensch vollkommen verwirklicht werde, dass ein Richter sich von allen möglichen Einengungen des Geistes befreien könne. Im Gegensatz dazu lässt sich die Verletzung der richterlichen Entscheidungsautonomie, soweit die unzulässigen Außeneinwirkungen feststehen, anhand nachweisbarer Fakten ermitteln und folglich rechtlich effektiv bekämpfen. Selbst wenn bei der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit auf gesellschaftlichen Beobachtungen zugängliches Verhalten oder Entscheidungen des Richters abgestellt wird, bleibt der Kontrast zur richterlichen Entscheidungsautonomie bestehen. In diesem Fall kann nämlich die richterliche Neutralität und Unparteilichkeit auch nicht rechtlich unmittelbar reguliert, sondern nur rechtlich gefördert werden. Wie der Richter neutral und unpar443  Vgl. 444  Vgl.

Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, S. 222 ff. Kissel / Mayer, GVG, §  1, Rn.  161; Wolf, Gerichtsverfassungsrecht,

S.  223 f. 445  Oben Erster Teil, B. III. 5. 446  So auch Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97 Rn. 23. 447  Oben Erster Teil, A. II.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

teiisch das Recht auslegt und anwendet, lässt sich nicht rechtlich vorschreiben, sondern nur im juristischen Diskurs klären. Die Wahrung der richter­ lichen Neutralität und Unparteilichkeit hängt also entscheidend von argumentativen Auseinandersetzungen im juristischen Diskurs ab. Diese bringen richterliche Entscheidungen unter intersubjektive Kontrolle, tragen damit zur richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit bei.448 Eine Kontroverse darüber, ob und wie ein Richter neutral, unparteiisch, unvoreingenommen entscheidet, kann aber jederzeit wieder eintreten. Neue Argumentationen und Begründungen pro und contra in solch einer Kontroverse treiben dann wiederum den Fortschritt auf dem Wege zur idealen Neutralität und Unparteilichkeit des Richters voran. Wenn die innere Freiheit oder überhaupt die Neutralität und Unparteilichkeit des Richters also auch in den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit einbezogen wird, verschleiert sich der Unterschied zwischen Anforderungen an den Richter und der richterlichen Entscheidungsautonomie gegenüber bestimmten Außeneinwirkungen, die nach hier vertretener Auffassung den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit erschöpft. Das führt zur Ambiguität des Begriffs der richterlichen Unabhängigkeit und damit unter Umständen zur Verwirrung und zum Missverständnis im Denken und in der Diskussion. IV. Erneute Betrachtung der Probleme im herrschenden ­Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit Nachdem die Funktion, der Bedeutungsgehalt und die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit vom Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts aus erläutert wurden, ist es nun angebracht, auf der Grundlage des bisher Ausgeführten wieder auf die oben dargelegten Probleme im herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit zurückzukommen. 1. Erneute Betrachtung der Problematik der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung Es ist nicht zu leugnen, dass bei der Auslegung und Anwendung des Rechts ein Entscheidungsspielraum entsteht, dass subjektive Wertungen eines Interpreten in seine Auslegung und Anwendung des Rechts einfließen, dass es keine feststehenden, verbindlichen Entscheidungs- oder Interpreta­ tionsregeln gibt, die richterliche Entscheidungen bis ins Detail determinieren, und dass verschiedene Interpreten im gleichen Fall nicht immer zum 448  Oben

Erster Teil, B. I. 2. c) (1).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts109

gleichen Schluss kommen. In diesem Sinne kann man zwar sagen, dass der Bedeutungsgehalt der Rechtsnorm von der womöglich unterschiedlichen richterlichen Interpretation abhängt und dass letztlich nur das als Recht gilt, was der Richter als solches ansieht, nicht aber in dem Sinne, dass der Richter sich nicht sinnvoll an Maßstäben der Rechtsbindung, Objektivität, Ra­ tionaliät und Neutralität orientieren und seine Entscheidung nicht sinnvoll an diesen Maßstäben gemessen werden kann und dass diese Maßstäbe reine Leerformeln sind. Die Rechtsprechung wird durch das geltende Recht zwar nicht in dem Sinne programmiert, dass die richterliche Entscheidung sich logisch aus dem geltenden Recht ergibt, aber doch immerhin in dem Sinne, dass der Richter das Recht in der von ihm bevorzugten Auslegung als Entscheidungsprämisse nimmt, den durch seine Auslegung konkretisierten, wie auch immer von seinen Wertungen geprägten Inhalt des Rechts nicht einfach unbeachtet lässt und direkt eine für ihn gerechteste und vernünftigste Entscheidung trifft. Wie Luhmann bemerkt, können Rechtsnormen auf jeden Fall „in der jeweils favorisierten Auslegung ihre Programmierfunktion erfüllen“.449 Die wie auch immer umstrittene Auffassung eines einzelnen Interpreten darüber, wann eine Rechtsinterpretation die Interpretationsgrenzen überschreitet und nicht als eine qualifizierte Interpretation in Frage kommt, so meint Dworkin, stellt eine echte, wirksame Beschränkung für seine Interpretation des Rechts dar.450 Dass die Forderung nach der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung keinesfalls illusorisch und sinnlos ist, wird um so deutlicher, wenn man den Blick, wie es oben unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts geschieht, nicht isoliert auf den einzelnen Richter, sondern auf das ausdifferenzierte Rechtssystem als ein autonomes Kommunikationsnetz richtet, an dem unter anderem alle Richter sich beteiligen, wenn man nicht auf feststehende, allgemein anerkannte Regeln oder auf das gleiche Entscheidungsergebnis im gleichen Fall, sondern auf den juristischen Diskurs als einen von Argumentationen und Begründungen pro und contra durchdrungenen dynamischen Prozess abstellt. Wie schon erwähnt, fungiert der absolute Begriff der Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität als eine unverzichtbare regulative Idee für Teilnehmer des juristischen Diskurses. Der permanente argumentative Diskurs, in den auch der Richter sich mit seiner Entscheidung einlässt, erzeugt zwar keine endgültige Gewissheit in jeder juristischen Frage, treibt den juristischen Fortschritt aber immer wieder voran, führt zur Berichtigung von Irrtümern und Reduktion der 449  Luhmann, 450  Dworkin,

Das Recht der Gesellschaft, S. 193, Fn. 52. Law’s Empire, S. 235 ff.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Irrationalität und zur relativen Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsauslegung und -anwendung.451 Fundamental für den dynamischen juristischen Diskurs sind die Initiative und die Innovation von Diskursteilnehmern, die Offenheit für neue Ideen und die Meinungsvielfalt. Die richterliche Entscheidungsfreiheit steht also dem im dynamischen Kommunikationsnetz zum Ausdruck kommenden Streben nach der rechtsgebundenen, objektiven, rationalen und neutralen Rechtsprechung nicht im Weg. Subjektive Wertungen des Richters bei der Auslegung und Anwendung des Rechts werden gelegentlich als volitive Elemente, die kognitiven Elementen gegenüberstehen, und als Problem für die Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung angesehen. Sie sind aber nach hier vertretener Auffassung nicht negativ zu betrachten. Wertende und gestaltende Elemente in der Rechtsauslegung und -anwendung sind für diese konstituierend und spezifisch rechtlich.452 Sie stellen freilich keine kognitiven Elemente im Sinne der logischen Ableitbarkeit oder empirischen Nachweisbarkeit dar. Sie sind aber keine volitiven Elemente in dem Sinne, dass sie bloße subjektive Meinungen oder Entscheidungen sind, die sich nicht intersubjektiv begründen oder widerlegen lassen, sondern eher kognitive Elemente in dem Sinne, dass sie mit einem Richtigkeitsanspruch versehen und einer Begründung, Überprüfung und Kritik zugänglich sind.453 Wertende und gestaltende Elemente der Rechtsauslegung und -anwendung sperren sich also nicht gegen Maßstäbe der Richtigkeit, Objektivität, Rationalität und Neutralität. Die Anerkennung richterlicher Subjektivität darf nicht mit dem richterlichen Subjektivismus, der die intersubjektive Rationalität nicht kennt, gleichgesetzt werden.454 Gerade der Vorwurf, dass eine Auslegung und Anwendung des Rechts unter anderem wegen unangemessener Vorverständnisse oder Vorurteile nicht objektiv oder nicht neutral ist, gibt Anlass zu intersubjektiven, argumentativen Auseinandersetzungen und trägt zur möglichst optimalen Realisierung der Objektivität und Neutralität der Rechtsauslegung und -anwendung bei. Subjektive Wertungen des Rechtsinterpreten und Entscheidungsspielräume des Richters gehören in die dynamische Dimension des juristischen Diskursprozesses. Dieser Diskursprozess ist aber nicht nur von der dynamischen Beweglichkeit geprägt, sondern auch konstant und kontinuierlich. Denn im Rechtssystem wird die Argumentationsgeschichte nicht unbeachtet gelassen, nicht alles jedes Mal erneut interpretiert und argumentiert, sondern auf Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien zurückgegriffen, die durch 451  Oben

Erster Teil, B. I. Erster Teil, B. I. 453  Oben Erster Teil, B. I. 454  Kaufmann, in: Einheit, 452  Oben

2. c) (1). 2. b) (1) und (2). 2. c) (1). S. 295 (305 f.).



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts111

Rechtsdogmatik und Präjudizien entwickelt werden. Diese Bezogenheit von verschiedenen juristischen Kommunikationen aufeinander erzeugt ein beträchtliches Maß an Konsistenz, Einheitlichkeit und Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen.455 Davon hängen die Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung auch entscheidend ab, und nicht wie im liberalen Zeitalter erwartet456 allein oder hauptsächlich nur vom Vorhandensein des allgemeinen Gesetzes.457 Wer das nicht kennt, ist nicht in der Lage, die Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung in einem Fallrechtssystem oder bei fehlender oder nur rudimentärer Gesetzesregelung zu erklären.458 Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien, die durch Rechtsdogmatik und Präjudizien entwickelt werden, sind aber keine ein für allemal festgelegten Entscheidungsgrundlagen. Sie können fehlerhaft oder nicht mehr zeitgemäß sein. Dass sie nicht immer starr, sondern offen für Kritik und Veränderung bleiben, ist deswegen notwendig für die Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung. Sie werden stets im juristischen Diskurs auf ihre Unzulänglichkeit oder ihren Anachronismus überprüft. Sie werden im dynamischen Kommunikationsprozess des Rechtssystems immer wieder bestätigt, verfeinert, modifiziert oder aufgehoben. Zusammenfassend lässt sich vom Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des Rechts aus feststellen, dass die dem herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde liegenden Ideale der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung trotz richter­ licher Entscheidungsspielräume im einerseits dynamischen, andererseits konstanten juristischen Diskurs, der das ausdifferenzierte Rechtssystem prägt, sinnvoll angestrebt werden können. Die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit unterbindet, dass die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems die Vernetzung richterlicher Entscheidungen im juristischen Diskurs dirigiert oder verhindert, und trägt infolgedessen zur möglichst optimalen Realisierung der Rechtsbindung, Objektivität, Rationalität und Neutralität der Rechtsprechung bei.459 455  Oben 456  Vgl.

Erster Teil, B. I. 2. c) (2). zur Stellung des Gesetzes im liberalen Zeitalter oben Erster Teil, A. I. 2.

und 3. 457  Vgl. Hassemer, in: Einführung, S. 251 (263 ff.). Dort wird für ein Verständnis der richterlichen Rechtsbindung plädiert, das insbesondere von Richterrecht und Rechtsdogmatik her konzipiert ist. 458  Vgl. Niebler, in: Unabhängigkeit und Bindungen, S. 13 (23). Dort wird eine fehlende Gesetzesregelung voreilig als Bedrohung für die innere Unabhängigkeit des Richters, nämlich die richterliche Neutralität und Unparteilichkeit nach der Terminologie dieser Arbeit, betrachtet. 459  Oben Erster Teil, B. II.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

2. Erneute Betrachtung der Problematik des Verhältnisses der Rechtsprechung zur Politik Die Unterscheidung der Rechtsprechung von der Politik ist umstritten, liegt aber dem herrschenden Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde, nach dem die richterliche Unabhängigkeit die Rechtsprechung vor Eingriffen aus der Politik schützt.460 Bei der Auseinandersetzung mit den rechtstheoretischen Grundlagen der richterlichen Unabhängigkeit ist es deswegen zu klären, ob diese Unterscheidung berechtigt ist, ob der Richter, wie gelegentlich vertreten,461 nichts anderes als ein politischer Entscheidungsträger ist. Das Verhältnis der Rechtsprechung zur Politik wurde in dieser Arbeit in einem größeren Kontext der Ausdifferenzierung des Rechtssystems untersucht. Aus diesem Kontext betrachtet ist die Rechtsprechung das Zentrum des Rechtssystems, das sich als ein Kommunikationsnetz mit der Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen und mit dem Code Recht / Unrecht vom politischen System unterscheidet. Freilich kann man von der Politik im weiteren Sinne ausgehen. Man kann nämlich alle Ereignisse, die auf die Erhaltung und Gestaltung einer menschlichen Gemeinschaft zielen, zur Politik rechnen.462 Dass die Rechtsprechung ein politisches Phänomen in diesem Sinne ist, ist nicht ernsthaft zu bestreiten. Das hindert aber nicht daran, Recht und Politik der modernen Gesellschaft als zwei unterschied­ liche Kommunikationssysteme anzusehen. Entgegen dem, was diejenigen, die den politischen Richter für unvermeidlich oder auch für wünschenswert halten,463 annehmen und was der Gesetzespositivismus als Gegner des politischen Richters ebenfalls voraussetzt, verwischen richterliche Wertungen und Gestaltungen die Unterscheidung der Rechtsprechung von der Politik nicht. Sie sind, wie oben ausgeführt, spezifisch rechtlich und ordnen sich stets in den rechtseigenen Sinnhorizont ein.464 Die vorstehenden Ausführungen haben auch gezeigt, dass die Responsivität der Rechtsprechung gegenüber der Politik, von der Theorie der offenen Geschlossenheit ausgehend, nicht mit der Integration der Rechtsprechung in die Politik gleichzusetzen ist und das Rechtssystem der modernen Gesellschaft gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt sowohl autonom als auch responsiv ist,465 dass die unter anderem durch die Richterauswahl und die Ur460  Oben

Erster Teil, A. I. 3 und 4 sowie III. 2. vgl. oben Erster Teil, A. III. 2. 462  Vgl. Dieth, S. 54; Gerhardt, in: Der Begriff der Politik, S. 291 (294); Wassermann, Der politische Richter, S. 18 f. 463  Vgl. oben Erster Teil, A. III. 2. 464  Oben Erster Teil, B. I. 2. b) (2). 461  Näher



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts113

teilsschelte geförderte Offenheit und Responsivität der Rechtsprechung gegenüber Anforderungen und Erwartungen aus der Politik, insbesondere auch der politischen Öffentlichkeit, nicht zur Grenzverwischung zwischen Rechtsprechung und Politik führt.466 Normativ nicht haltbar und faktisch nicht existent ist also zwar, wie Gegner der Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik erkennen, eine Rechtsprechung, die sich im Elfenbeinturm des Rechts von der sich laufend verändernden Außenwelt abkapselt, nicht aber, dies sehen jene Gegner jedoch nicht ein, eine Rechtsprechung, die die Geschlossenheit des Rechtssystems bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber dessen Umwelt bewahrt. Nicht die Erstere sondern die Letztere ist das, was das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit schützen will. Auch die im liberalen Zeitalter verbreitete, heute aber nicht mehr so selbstverständliche Ansicht, dass die Judikative „the least dangerous“467 und „the weakest“468 von den drei Staatsgewalten ist, lässt sich dahin interpretieren, dass die Rechtsprechung nach dem Code Recht / Unrecht, nicht wie die Politik nach dem Code Machtüberlegenheit / Machtunterlegenheit operiert. 465

Nach Peretti, die für den politischen Richter plädiert, lässt sich dieser in ein normativ überlegenes wie auch faktisch in den Vereinigten Staaten etabliertes pluralistisches System der Staatsgewalt gut einordnen, das durch die Redundanz, die Vielfalt und eine fehlende Hierarchie konstituiert ist.469 Was Peretti mit dem Begriff des pluralistischen Systems bezeichnet, ist eben das, was man klassisch als Gewaltenteilung bezeichnet. Nach hier vertretener Ansicht steht die Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik nicht mit einem anders verstandenen pluralistischen System im Widerspruch. Ganz im Gegenteil: Sie ist einer gewaltenteilenden, pluralistischen Staatsstruktur inhärent. Die Existenz von mehreren Staatsorganen, an die man sich mit seinen Anliegen und Problemen wenden kann, bezeichnet Peretti als Redundanz. Diese Bezeichnung verschleiert aber, dass in einem gewaltenteilenden Staat zwei wesensverschiedene Systeme sich treffen, nämlich ein Netz von rechtlichen Kommunikationen, dessen Zentrum die Rechtsprechung ist, und ein Netz von politischen Kommunikationen, die im Parlament, in der Regierung und der Verwaltung kursieren. Bei einer Niederlage im bis in die Legislative und die Exekutive ablaufenden politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess kann man sich zwar gegebenenfalls wiederum an die Judikative wenden und dadurch eine nicht genehme Politik bekämpfen, man muss dann aber die 465  Oben

Erster Teil, B. I. 1. b); 2. b) (2); 2. c) (2); 3. a); III. 1. Erster Teil, B. III. 2. und 4. 467  Hamilton, S. 575. 468  Hamilton, S. 576. 469  Oben Erster Teil, A. III. 2. 466  Oben

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Systemreferenz wechseln. Gerichte nehmen nur rechtliche Fragen an. „Probleme müssen, um Zugang zu gewinnen, eine justitiable Form erhalten, und das heißt konkret: rekursiv in Bezug auf den historischen Zustand des Rechtssystems, die Geltungslage des Rechts, definiert sein.“470 Dieser Wechsel der Systemreferenz spricht gegen die Kennzeichnung einer gewaltenteilenden, pluralistischen Staatsstruktur im Ganzen als redundant.471 Nach Peretti kommt die Vielfalt in einem pluralistisch organisierten Staat darin zum Ausdruck, dass nicht alle Staatsorgane einer gleichen Form politischer Einflussnahme unterliegen und sich in einer gleichen Art politischer Responsivität befinden, dass etwa der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ein offenes Ohr für in der Legislative oder Exekutive schlecht repräsentierte Interessen hat. Das ist nicht falsch. Zu beanstanden ist aber, dass Peretti die Vielfalt hauptsächlich nur in der Verschiedenheit politischer Beeinflussung und Responsivität sieht. Peretti verkennt den Sinn der Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik. Darunter versteht sie die Abkapselung der Rechtsprechung von der Umwelt des Rechts. Sie erkennt nicht, dass zwei umweltoffene aber operativ geschlossene und wesensverschiedene Systeme, ein Rechtssystem und ein politisches System, sich an der Gestaltung eines Gemeinwesens beteiligen. Das soll ein ganz wichtiger Aspekt der Vielfalt eines gewaltenteilenden Staates sein. Die auf der offenen Geschlossenheit des Rechtssystems basierende Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik kann nicht nur mit politischer Beeinflussung und Responsivität der Rechtsprechung vereinbar sein, sondern auch erklären, warum die politische Responsivität der Judikative anders als die der Legislative und der Exekutive ist. Weil das Rechtssystem sich am Code Recht / Unrecht, nicht wie das politische System am Code Machtüberlegenheit / Machtunterlegenheit orientiert, gibt ein Gericht nicht selten der politischen Minderheit Recht. Damit hat die Rechtsprechung politische Auswirkungen. Sie durchkreuzt das Vorhaben der politischen Mehrheit und führt gegebenenfalls zur Verschiebung der politischen Machtverhältnisse. Wie politische Einflüsse auf die Rechtsprechung ändern auch politische Auswirkungen der Rechtsprechung nichts an der Unterscheidung von Recht und Politik. Vom Rechtssystem gesehen geschehen der Schutz der Minderheit und die Berücksichtigung ihrer Interessen aus rechtsinternen Gründen. Auch die Erwägung von Entscheidungsfolgen geschieht durch deren spezifisch rechtliche Bewertung.472 Wechselbeziehungen zwischen Recht und 470  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 419. schließt aber die Möglichkeit nicht aus, in Bezug auf Foren und Mechanismen innerhalb der Politik, etwa ein parlamentarisches Zweikammersystem, von Redundanz zu sprechen. 472  Oben Erster Teil, B. I. 2. b) (2). 471  Das



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts115

Politik lassen sich ja nur feststellen, wenn man Recht und Politik voneinander unterscheiden kann.473 Darüber hinaus liefert die Sicherung der Unterscheidung von Recht und Politik den Grund dafür, warum die Unabhängigkeit des Richters von bestimmten politischen Einwirkungen in einem gewaltenteilenden Staat institutionell sichergestellt wird.474 Peretti charakterisiert eine pluralistische Staatsstruktur noch durch eine fehlende Hierarchie. Dieser Ansicht ist zuzustimmen. Sie entspricht in der Tat der Idee der Gewaltentrennung, -hemmung und -balancierung in der Gewaltenteilungslehre. Nach dem hier vertretenen, Perettis Meinung entgegengesetzten Standpunkt liegt einer fehlenden Hierarchie zwischen der Judikative und anderen Staatsgewalten eigentlich auch die Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik zugrunde. Denn solch eine fehlende Hierarchie ist durch die institutionelle Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit gekennzeichnet. Diese Sicherung dient ihrerseits der Erhaltung und Förderung der Differenzierung zwischen Recht und Politik. Checks and balances in einem gewaltenteilenden Staat erschöpfen sich nicht in der Machthemmung und -balancierung innerhalb des politischen Systems, sondern bestehen auch in der Trennung und Wechselbeziehung von Recht und Politik. Eine fehlende Hierarchie zwischen der Judikative und anderen Staatsgewalten ist unverzichtbar für die Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die dem herrschenden Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde liegende Unterscheidung der Rechtsprechung von der Politik ihre volle Berechtigung hat. Aus dem Kontext der Ausdifferenzierung des Rechts betrachtet ist die Rechtsprechung das Zentrum des Rechtssystems, das sich vom politischen System unterscheidet, und der Richter fällt rechtliche, keine politische Entscheidungen. Durch den Schutz der Rechtsprechung vor Eingriffen aus der Politik trägt das Institut der richterlichen Unabhängigkeit zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems bei. 3. Erneute Betrachtung der Problematik der begrenzten Unabhängigkeit Es wurde oben schon darauf hingewiesen, dass in Rechtsprechung und Literatur gelegentlich die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit überdehnt und die Begrenztheit der richterlichen Unabhängigkeit vernachlässigt wird.475 Wie im Vorstehenden vom Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung des 473  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 421. Erster Teil, B. II. 475  Oben Erster Teil, B. III. 1. 474  Oben

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Rechts erläutert, ist die richterliche Unabhängigkeit nicht in der Richtung der Beeinflussungsfreiheit des Richters zu verstehen, wie dies in der von der in 1983 in Montreal veranstalteten internationalen Konferenz über die Unabhängigkeit des Richters angenommenen Definition der richterlichen Unabhängigkeit476 der Fall ist. Das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit richtet sich nicht gegen jegliche Beeinflussung der Rechtsprechung, sondern nur gegen die die Ausdifferenzierung des Rechts bedrohende Bestimmung der Rechtsprechung durch die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems.477 Bei aller Kritik an der Vernachlässigung der Begrenztheit der richterlichen Unabhängigkeit wird aber hier wie von anderen gemäßigten Kritikern das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit nicht von Grund auf abgelehnt. Eckpfeiler dieses Grundverständnisses wie die richterliche Rechtsbindung, die Unterscheidung der Rechtsprechung von der Politik und die überragende Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit im Rechtsstaat werden nur aus einem neuen Blickwinkel, nämlich der gesellschaftstheo­ retischen Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts, interpretiert. Das unterscheidet sich von radikalen Kritikern wie Shapiro und Peretti, die das herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit grundlegend in Zweifel ziehen.478 Nach hier vertretener Auffassung verkennen die radikalen Kritiker den Stellenwert und die Funktion der Rechtsprechung und der richterlichen Unabhängigkeit in der modernen Gesellschaft, so dass sie keine adäquate Vorstellung der Begrenztheit der richterlichen Unabhängigkeit haben und Aspekte der richterlichen Abhängigkeit überbetonen. Shapiro sieht die Unabhängigkeit des Richters in seiner unparteiischen und neutralen Rolle als Vermittler oder Mediator zwischen den Konfliktparteien, eine Bindung des Richters an politische Macht und einen Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit dagegen in der richterlichen Bindung an das Recht, insbesondere an straf- und öffentlich-rechtliche Gesetze.479 Diese scheinbar plausible Ansicht über das antagonistische Verhältnis von richterlicher Rechtsbindung und richterlicher Unabhängigkeit ist im Grunde falsch. Es ist an der im herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit verankerten Ansicht festzuhalten, dass die richterliche Rechtsbindung nicht nur mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar, sondern auch deren Korrelat ist. Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz, das durch den Prozess der politischen Willensbildung zustande kommt, bedeutet nicht, wie Shapiro 476  Oben

Erster Teil, A. II. Erster Teil, B. II. und III. 1. 478  Zu Shapiros und Perettis Ansichten über die begrenzte richterliche Unabhängigkeit oben Erster Teil, A. III. 3. 479  Oben Erster Teil, A. III. 3. 477  Oben



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts117

meint, die zur richterlichen Unabhängigkeit antithetische Bindung der Rechtsprechung an politische Macht. Die richterliche Rechtsbindung in der modernen Gesellschaft ist im Kontext des auch gegen die Politik ausdifferenzierten Rechtssystems zu verstehen. Das Gesetz ist zwar vom politischen System aus gesehen ein Instrument der Ermöglichung und Verwirklichung politischer Ziele,480 lässt sich aber im Rechtssystem nicht als bloß „geronnene Politik“481, als bloß „politikeigenes Trägheitsmoment“482 betrachten. Die Politik kann sich zwar zur Transformation von Politik in Recht die Gesetzgebung zunutze machen und damit die Struktur und den Zustand des Rechtssystems beeinflussen; das Rechtssystem kann aber wegen der Besonderheit seiner Funktion und seines Codes nicht zulassen, dass das Recht bloß als Mittel, als Werkzeug der Politik dieser voll zur Disposition steht. Das Gesetz muss, um rechtliche Geltung zu erlangen, rechtliche Voraussetzungen wie etwa verfassungsrechtliche Vorgaben erfüllen. Darüber hinaus sind „nicht alle ,Motive‘ des Gesetzgebers […] rechtlich verwertbar“.483 Das Rechtssystem „entwickelt […] rechtseigene Interpretationstheorien, in denen die legislative Absicht nur eine begrenzte […] Rolle spielt“.484 Die Intention des Gesetzgebers dient als ein mehr oder weniger wichtiger Anhaltspunkt für die Ermittlung des Gesetzessinns, wird in vielen Fällen von Gesetzesinterpreten nicht vorgefunden, sondern selbst konstruiert485 und ist auf keinen Fall mit dem Gesetz als Recht gleichzusetzen. Das Gesetz, an das die Rechtsprechung gebunden ist, gehört also zu Strukturen eines ausdifferenzierten Rechtssystems. Die richterliche Gesetzesbindung bedeutet die Bindung der Rechtsprechung an Strukturen des Rechtssystems. Ausgehend von der offenen Geschlossenheit des Rechtssystems lässt sich sie als Abhängigkeit des Richters von der Politik zwar im Sinne einer mit der Differenzierung zwischen Recht und Politik und folglich mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbaren politischen Beeinflussung der Rechtsprechung, aber keinesfalls im Sinne einer diese Differenzierung verwischenden und damit der richterlichen Unabhängigkeit widersprechenden Bindung oder Bestimmung der Rechtsprechung durch die Politik selbst deuten.486 480  Luhmann,

Das Recht der Gesellschaft, S. 424 f. JuS 1969, 501 (502). 482  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 417. 483  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 89 (Hervorhebung im Orriginal). 484  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 420. 485  Dworkin, Law’s Empire, S. 314 ff. 486  Vgl. zur Sicherung der Differenzierung zwischen Recht und Politik durch die richterliche Unabhängigkeit oben Erster Teil, B. II.; zur richterlichen Unabhängigkeit aus dem Gesichtspunkt der offenen Geschlossenheit des Rechtssystems oben Erster Teil, B. II. sowie III. 1. 481  Grimm,

118

1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

Selbst wenn die richterliche Rechtsbindung nicht als Bindung an die Politik, sondern als Bindung an Strukturen des Rechtssystems angesehen wird, könnte es noch Zweifel geben, ob sie doch im Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit stände. Denn schließlich wird die Entscheidungsautonomie des Richters durch Rechtsnormen als Strukturen des Rechtssystems eingeengt. Was das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit eigentlich schützt, ist aber von vornherein nicht die Entscheidungsautonomie des Richters überhaupt, nicht seine allgemeine Handlungsfreiheit bei der Rechtsprechung, sondern nur seine Entscheidungsautonomie gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems. Es richtet sich gegen die die Ausdifferenzierung des Rechtssystems beeinträchtigende Bestimmung der Rechtsprechung durch dessen Umwelt, nicht gegen die Bestimmung der Rechtsprechung durch Strukturen des ausdifferenzierten Rechtssystems.487 Diese Bestimmung steht im Grunde nicht im Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit und lässt sich von Anfang an nicht als Minderung der richterlichen Unabhängigkeit betrachten.488 Die richterliche Unabhängigkeit dient der Erhaltung und Förderung der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems und damit der möglichst optimalen Realisierung der richterlichen Rechtsbindung.489 Darin findet sie ihre Begründung. Die Entscheidungsautonomie des Richters wird geschützt, damit er nach seiner Rechtsauffassung entscheidet, nicht damit er auch ohne rechtsinterne Gründe außerrechtliche Kriterien verwenden dürfte. Zu Recht gilt die Sicherung der richterlichen Rechtsbindung im herrschenden Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit als deren Sinn und Zweck.490 Die richterliche Rechtsbindung stellt eine der richterlichen Unabhängigkeit immanente, keine dieser transzendente oder entgegengesetzte Schranke für die Entscheidungsautonomie des Richters dar. Nur wenn man sich über das komplementäre Verhältnis der richterlichen Unabhängigkeit zur richterlichen Rechtsbindung, die im Kontext der Ausdifferenzierung des Rechts zu verstehen ist, klar ist, erkennt man den Stellenwert der richterlichen Unabhängigkeit in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Shapiro, der die richterliche Unabhängigkeit im antagonistischen Verhältnis zur richter­ lichen Rechtsbindung sieht, letztlich ein Gemenge der richterlichen Abhängigkeit und Unabhängigkeit feststellen muss, und zwar ein Gemenge, in dem die richterliche Abhängigkeit das Leitmotiv ist.491 Shapiro, der die 487  Oben

Erster Teil, B. III. 1. in: Dreier, GG, Art. 97 Rn. 21; Wittreck, S. 187. 489  Oben Erster Teil, B. II. 490  Oben Erster Teil, A. I. 3. und 4. sowie II. 491  Shapiro, Courts, S. 65 ff.. 488  Schulze-Fielitz,



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts119

richterliche Unabhängigkeit von der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit her konzipiert, in der richterlichen Rechtsbindung keinen Beitrag zur richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit und diese ausschließlich in der Rolle des Richters als Vermittler oder Mediator zwischen den Konfliktparteien verwirklicht sieht, verkennt auch den Ort der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit in der modernen Gesellschaft. Seine Vorstellung über die richterliche Neutralität und Unparteilichkeit trifft allenfalls für traditionelle Gesellschaften zu. Denn das Erfordernis der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit war schon lange vor der Ausdifferenzierung des Rechts und dem Aufkommen der Forderung nach der richterlichen Unabhängigkeit anerkannt. In einer Gesellschaft, wo es kein ausdifferenziertes Recht gibt, kann es vorkommen, dass der einzelfallgerechten Konfliktlösung selbst im Gerichtsverfahren mehr Wert beigemessen wird als der Rechtsbindung.492 Unter diesen Umständen zählt die Rechtsbindung des Richters nicht viel für seine Neutralität und Unparteilichkeit. Die richterliche Neutralität und Unparteilichkeit ist aber in der modernen Gesellschaft im Kontext der Ausdifferenzierung des Rechts zu verstehen und unbedingt mit der richterlichen Rechtsbindung in Zusammenhang zu bringen. Sie bedeutet die neutrale und unparteiische Auslegung und Anwendung des gegen die Moral und die Politik ausdifferenzierten Rechts. In der modernen Gesellschaft ist die richterliche Rechtsbindung nicht aus der richterlichen Neutralität und Unparteilichkeit wegzudenken. Problematisch ist auch Shapiros und Perettis Auffassung, dass die richterliche Unabhängigkeit in beträchtlichem Maße durch verschiedene politische Einwirkungen auf Gerichte faktisch begrenzt werde und normativ begrenzt werden solle.493 Es ist aus Shapiros und Perettis Ausführungen zu schließen, dass manche solcher Einwirkungen eine politische Steuerung oder Beeinflussung der Gerichtsverwaltung inklusive der personellen und finanziellen Ausstattung der Gerichte darstellen. Shapiro und Peretti, die enge Grenzen für die richterliche Unabhängigkeit feststellen beziehungsweise verteidigen, teilen zwar nicht die Ansicht, dass im Interesse der richterlichen Unabhängigkeit die politische Steuerung und Beeinflussung der Gerichtsverwaltung möglichst weitgehend ausgeschlossen und den Gerichten eine möglichst weitgehende Selbstverwaltung eingeräumt werden solle; sie gehen aber mit dieser die Reichweite der richterlichen Unabhängigkeit überdehnenden Ansicht494 von der gleichen falschen Annahme aus, dass eine politische Steu492  Oben Erster Teil, B. I. 1. c); vgl. auch zur Situation in der traditionellen chinesischen Gesellschaft unten Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 493  Oben Erster Teil, A. III. 3. 494  Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht um die Ablehnung der Forderung nach mehr administrativer Selbständigkeit der Gerichte an sich, sondern um die

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen richterlicher Unabhängigkeit

erung oder Beeinflussung der Gerichtsverwaltung zwangsläufig die richterliche Unabhängigkeit mindert. Solch eine Steuerung oder Beeinflussung bedeutet aber nicht ohne weiteres eine politische Beeinflussung spruchrichterlicher Tätigkeit. Wird diese Grenze nicht überschritten, bleibt die richterliche Unabhängigkeit auf jeden Fall unberührt. Denn die richterliche Unabhängigkeit bezieht sich auf die rechtsprechende Tätigkeit, nicht auf die Gerichtsverwaltungstätigkeit an sich. Aber auch wenn eine politische Beeinflussung des Gerichts sich auf die rechtsprechende Tätigkeit auswirkt, ist es immer noch falsch, von richter­ licher Unabhängigkeit und politischer Beeinflussung der Rechtsprechung als notwendig oder grundsätzlich unvereinbaren Alternativen auszugehen. Diese Ausgangsposition beziehen sowohl Shapiro und Peretti als auch diejenigen, welche die Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit in Richtung der Beeinflussungsfreiheit des Richters weit hinausschieben. Nach der hier vertretenen, eigentlich auch im Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit verankerten, aber erst durch dessen angemessene Rekonstruktion gewonnenen Ansicht steht politische Beeinflussung der Rechtsprechung, wie etwa durch eine politische Kontrolle oder Beeinflussung von Richterpersonalentscheidungen495 oder eine Justizkritik seitens der Politik einschließlich der politischen Öffentlichkeit496, nicht notwendig im Widerspruch zur richter­ lichen Unabhängigkeit. Ausgehend von der offenen Geschlossenheit des Rechtssystems bleibt die richterliche Unabhängigkeit durch eine Beeinflussung der Rechtsprechung aus der Umwelt des Rechtssystems, also auch aus der Politik, unberührt, soweit eine solche Beeinflussung nicht zur der Ausdifferenzierung des Rechts entgegenwirkenden Bestimmung der Rechtsprechung durch die Umwelt des Rechtssystems, darunter auch durch die Politik, zu führen droht.497 Shapiro und Peretti nehmen eine solche oder ähnliche Differenzierung politischer Beeinflussung nicht vor, weil sie die Unterscheidung von Recht und Politik zu Unrecht grob ablehnen. Sie weisen die Abkapselung des Rechts von dessen Umwelt zwar zutreffend zurück, verlieren aber die Kompatibilität von Unterscheidung und Verbindung zwischen Recht und Politik als eine ernstzunehmende feinere Alternative aus dem Blick.498 Ablehnung der Einbeziehung dieser Selbständigkeit in den Begriff der richterlichen Unabhängigkeit und um die Ablehnung der Auffassung, dass mehr administrative Selbständigkeit der Gerichte notwendig und immer besseren Schutz für die richterliche Unabhängigkeit bietet; dazu oben Erster Teil, B. III. 2. a); III. 3.; III. 5. 495  Oben Erster Teil, B. III. 2. a). 496  Oben Erster Teil, B. III. 4. 497  Oben Erster Teil, B. II. sowie III. 1. 498  Vgl. zur Kritik an der groben Ablehnung der Unterscheidung von Recht und Politik oben Erster Teil, B. IV. 2.



B. Richterliche Unabhängigkeit und Ausdifferenzierung des Rechts121

Weil Shapiro und Peretti die Differenzierung zwischen Recht und Politik grob ablehnen, können sie nicht – wie hier – die richterliche Unabhängigkeit als Beitrag zur Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts betrachten und die Grenzen der richterlichen Unabhängigkeit darin finden, wo die Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts nicht bedroht wird, wo die Umwelt des Rechtssystems die Rechtsprechung zwar beeinflusst, aber nicht zu bestimmen droht. Sie können die richterliche Unabhängigkeit nur als ein Instrument der Machthemmung und -balancierung innerhalb des politischen Systems ansehen.499 Folglich kann Peretti der Judikative nur eine Auto­ nomie von ähnlichem Typ und Maß einräumen wie sie der Legislative und der Exekutive zugestanden wird, und spricht von einem moderaten Maß an Unabhängigkeit aller drei Staatsgewalten.500 Shapiro spricht von einem Gemenge der Abhängigkeit und Unabhängigkeit des Richters, der in das politische Gefüge und Verfahren integriert ist.501 Damit geht die seit der Neuzeit allgemein anerkannte überragende Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit im gewaltenteilenden Rechtsstaat verloren. Zur Bezeichnung einer solchen begrenzten richterlichen Unabhängigkeit braucht man eigentlich keinen besonderen Begriff der richterlichen Unabhängigkeit. Es reicht die Terminologie der Gewaltenteilung. Die richterliche Unabhängigkeit als ein gehaltvolles, selbständiges Prinzip wird zunichte gemacht. Zusammenfassend ist es nicht das – wie etwa in der vorliegenden Arbeit – angemessen rekonstruierte herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit, das die richterliche Unabhängigkeit überbetont, sondern es sind radikale, gegenüber diesem Grundverständnis grundlegend skeptische Kritiker wie Shapiro und Peretti, die die richterliche Unabhängigkeit herunterspielen.

499  Oben

Erster Teil, A. III. 3. Erster Teil, A. III. 3. 501  Oben Erster Teil, A. III. 3. 500  Oben

Zweiter Teil

Gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit In diesem Teil der Arbeit werden zuerst auf der Grundlage der vorstehenden rechtstheoretischen Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit die gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit allgemein herausgearbeitet und erläutert (Kapitel A.). Dann werden die herausgearbeiteten gesellschaftlichen Bedingungen an zwei Testfällen – Deutschland und China – überprüft (Kapitel B.).

A. Allgemeine Erläuterung I. Ausdifferenzierung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit 1. Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung des Rechts und der richterlichen Unabhängigkeit Wie im ersten Teil dieser Arbeit ausgeführt, ist die richterliche Unabhängigkeit in den gesellschaftlichen Kontext der Ausdifferenzierung des Rechts eingebettet. Die Ausdifferenzierung des Rechts meint die Entstehung eines besonderen Rechtssystems, das ein Netz von aufeinander bezogenen rechtlichen Kommunikationen darstellt und sich von seiner gesellschaftlichen Umwelt unterscheidet.1 Die richterliche Unabhängigkeit bedeutet die Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems.2 Ihre Funktion besteht darin, die gesellschaftliche Ausdifferenzierung des Rechtssystems zu sichern und zu fördern.3 Die richterliche Unabhängigkeit kann aber die Ausdifferenzierung des Rechts nur sichern und fördern, nicht von Null aus schaffen. Sie allein kann nicht bewirken, dass ein spezifisch juristischer Diskurs4 und eine rechtseigene Gerechtigkeit5 als we1  Oben

Erster Erster 3  Oben Erster 4  Oben Erster 5  Oben Erster 2  Oben

Teil, Teil, Teil, Teil, Teil,

B. B. B. B. B.

I. 1. III. 1. II. I. 2. c). I. 3. a).



A. Allgemeine Erläuterung123

sentliche Momente der Ausdifferenzierung des Rechts entstehen. Im Gegenteil: Ohne gesellschaftliche Ausdifferenzierung des Rechts verliert die richterliche Unabhängigkeit ihren zugehörigen gesellschaftlichen Kontext und ihren eigentlichen Funktionsbezug zur Gesellschaft. Sie passt sich darum nicht in die gesellschaftliche Umwelt, wird dysfunktional und kann sich deswegen schwer in der Gesellschaft durchsetzen und etablieren. Aus der Ausdifferenzierung des Rechts als unverzichtbarer gesellschaftlicher Einbettung der richterlichen Unabhängigkeit lässt sich also folgern, dass die Ausdifferenzierung des Rechts eine gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit bildet. Die Ausdifferenzierung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit bedeutet nicht, dass die Realisierung der richterlichen Unabhängigkeit eine volle Ausdifferenzierung des Rechts voraussetzt. Das Institut der richterlichen Unabhängigkeit schützt und stabilisiert die Ausdifferenzierung des Rechts und stellt damit eine günstige Rahmenbedingung für die Weiterentwicklung zur vollen Ausdifferenzierung des Rechts dar. Die richterliche Unabhängigkeit kann sich aber nicht oder schwer in der Gesellschaft etablieren, wenn die Ausdifferenzierung des Rechts fehlt oder nur im Keim oder kümmerlich vorhanden ist oder man noch am Anfang des Weges der Ausdifferenzierung des Rechts steht. Mit Fortschreiten der Ausdifferenzierung des Rechts erhöht sich die Durchsetzungsfähigkeit der richterlichen Unabhängigkeit. Die Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit fördert wiederum die Entwicklung der Ausdifferenzierung des Rechts. Die Ausdifferenzierung des Rechts und die richter­ liche Unabhängigkeit bedingen sich also wechselseitig. Diese wechselseitige Beziehung zwischen der Ausdifferenzierung des Rechts und der richterlichen Unabhängigkeit setzt ein gradualisiertes Konzept der Ausdifferenzierung des Rechts voraus, nämlich dass die Ausdifferenzierung des Rechts abgestuft vorhanden sein und zu- oder abnehmen kann. Denn sonst kann hier nicht von einer vollen beziehungsweise kümmerlich vorhandenen Ausdifferenzierung, dem Anfang des Weges der Ausdifferenzierung und dem Fortschreiten der Ausdifferenzierung gesprochen werden. Wie oben schon erläutert, hat eine Abstufung der Ausdifferenzierung des Rechts ihre Berechtigung.6 Die These, dass die Ausdifferenzierung des Rechts eine gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit ist, wird im Folgenden in Bezug auf die beiden wichtigsten Aspekte der Ausdifferenzierung des Rechts, nämlich die Differenzierung zwischen Recht und Moral sowie die zwischen Recht und Politik, näher erläutert. 6  Oben

Erster Teil, B. I. 1. b).

124

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

2. Differenzierung zwischen Recht und Moral Anders als in der modernen Gesellschaft fehlt es in der traditionellen oder vormodernen Gesellschaft an einem gegen die Moral ausdifferenzierten Rechtssystem, nämlich an einer von moralischer Güte oder Gerechtigkeit unterschiedenen rechtseigenen Gerechtigkeit7 und an der Unterscheidung von erzwingbarem Recht und autonomer Moral8. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Unterschied zwischen der traditionellen oder vormodernen und der modernen Gesellschaft ein Kontrast zwischen zwei Idealtypen ist. Dieser Kontrast widerspricht einer allmählichen gesellschaftlichen Evolution nicht und markiert keine abrupte, unüberbrückbare Trennlinie zwischen zwei Entwicklungsstadien.9 In einer traditionellen Gemeinschaft besteht eine herrschende Moral, die in der Gewohnheit und Tradition verwurzelt oder religiös fundiert ist, allgemein als unfehlbar und absolut richtig anerkannt wird und keine ernsten Konkurrenten hat. Sie erhebt den Anspruch, normkonformes Verhalten zu erzwingen und abweichende Moralvorstellungen zu unterdrücken. Dazu werden verschiedene Formen von Autorität und Sanktion, darunter auch Recht und Herrschaftsmacht, mobilisiert. Nach Worten von Habermas ist Moral in der vormodernen Gesellschaft von der „Verschmelzung von Faktizität und Geltung“10 geprägt. Sie ist ein die Menschen „zugleich abschreckende[s] und anziehende[s] Faszinosum“11. Es gibt keinen für die moderne Differenzierung von Recht und Moral charakteristischen Kontrast von erzwingbarem Recht und autonomer Moral. Die traditionelle Gesellschaft kennt auch keine Unterscheidung von moralischer Gerechtigkeit, die an sich keine rechtliche Geltung hat und dem geltenden Recht gegenüber kritisch sein kann, und rechtseigener oder rechts­ immanenter Gerechtigkeit, die durch ein spezifisch juristisches Koordinatensystem von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien konstituiert wird. Dort verschmilzt das Recht mit der Moral und der Gewohnheit zu einer einheitlichen moralisch-rechtlichen Normenordnung. Die jeweils allgemein als unfehlbar und absolut richtig empfundene Moral gilt auf jeden Fall unmittelbar als Recht. Die Rechtsprechung muss diese Moral zur Geltung bringen. In der Praxis und Theorie finden sich keine beachtlichen und kon7  Dazu

oben Erster Teil, B. I. 3. a). oben Erster Teil, B. I. 3. b). 9  Oben Erster Teil, B. I. 1. b). Hier geht es um eine allgemeine Erläuterung; vgl. zu den Verhältnissen im mittelalterlichen Deutschland unten Zweiter Teil, B. II. 1. a); zu den Verhältnissen im kaiserlichen China unten Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 10  Habermas, S. 40. 11  Habermas, S. 41. 8  Dazu



A. Allgemeine Erläuterung125

tinuierlichen Bemühungen, argumentativ an der kohärenten Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien und an der Systematisierung des Rechtsstoffs zu arbeiten. Bei der Entscheidung über einen Rechtsstreit kommt vielmehr auf das von der Gewohnheit und Tradition geprägte allgemeine gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden oder auf Gerechtigkeitsvorstellungen autoritärer Moralinstanzen an. Während die Gesetzgebung in der komplexen modernen Gesellschaft, die sich immer rascher verändert und durch den moralischen Pluralismus charakterisiert ist, durch die Setzung neuen Rechts und die Änderung geltenden Rechts immer wieder eine Selektion konkurrierender Gerechtigkeitsvorstellungen vornimmt und an der Bildung und Entwicklung einer verbindlichen rechtseigenen Gerechtigkeit kontinuierlich und maßgeblich beteiligt ist, hat die Gesetzgebung in der einfacheren traditionellen Gesellschaft, die eher statisch und in der Absolutheit einer herrschenden Moral gefangen ist, die jeweils geltende moralisch-rechtliche Normenordnung zu bewahren, zu konkretisieren und zu ergänzen. Sie wird nicht so häufig und so weitgehend in Anspruch genommen wie in der modernen Gesellschaft. Sie wird zur übersichtlichen Zusammenfassung und einheitlichen Administration des Rechts in Anspruch genommen.12 Sie darf kein neues Recht schaffen, das sich nicht auf die jeweils geltende moralisch-rechtliche Ordnung stützen kann. Sie ist an diese Ordnung gebunden, muss sich in deren Dienst stellen und darf nicht darüber disponieren.13 Darin gleicht sie der Rechtsprechung. In der von Verschmelzung von Recht und Moral geprägten traditionellen Gesellschaft gibt es kein Institut der richterlichen Unabhängigkeit im modernen Sinne und keine gesellschaftliche Grundlage für die Entstehung und Etablierung dieses Instituts. Es wird zwar als unzulässig erachtet, aus eigenen Interessen in die richterliche Entscheidung einzugreifen; es gibt aber keine umfassende richterliche Unabhängigkeit im Sinne der Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems. Ein gegen die gesellschaftliche Umwelt, darunter auch gegen die Moral, ausdifferenziertes Rechtssystem existiert nicht. Dem Richter steht keine Entscheidungsautonomie gegenüber anderen Moralinstanzen zu, die ihm an moralischer Autorität nicht unterlegen sind. Denn es obliegt gesellschaftlichen Moralinstanzen, die jeweils allgemein als unfehlbar und absolut richtig anerkannte Moral autoritativ zu interpretieren und überall, auch in der Rechtsprechung, gegen Abweichung und Verletzung durchzusetzen. Der Richter, der die jeweils geltende moralischrechtliche Ordnung zu bewahren hat, ist selbst eine moralische Instanz. 12  Luhmann, 13  Grimm,

Rechtssoziologie, S. 193. in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (14 f.).

126

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Aber auch ein Priester, ein Herrscher, seine hochrangigen Beamten, die Führung einer Provinz- und Lokalverwaltung, lokale Respektspersonen und die Öffentlichkeit können für die Moral zuständig sein. Ob sie mehr moralische Autorität für sich reklamieren können als der Richter, lässt sich nicht abstrakt festlegen oder ermitteln, sondern hängt von konkreten Umständen ab. Es kann sein, dass ein Herrscher an einem Ort weniger moralische Autorität besitzt als ein lokaler Richter, der vor Ort großes Ansehen genießt, oder dass ein solcher Richter durch seine autoritäre Verwaltung der jeweils herrschenden Moral die Öffentlichkeit beherrscht. Sofern der jeweils entscheidende Richter aber nicht über mehr moralische Autorität verfügt als andere gesellschaftliche Moralinstanzen, ist es ihnen nicht verwehrt, durch den Eingriff in seine Entscheidungsfindung ihre eigene Interpretation der jeweils herrschenden Moral in der Rechtsprechung zur Geltung zu bringen und andere Interpretationen auszuschalten. Er kann also nicht unabhängig von ihnen entscheiden. Darüber hinaus können sie aufgrund ihrer moralischen Autorität selbst als Richter die Aufgaben der Rechtsprechung wahrnehmen. Zum Beispiel kann ein Herrscher als oberster Richter, eine lokale Respektsperson als Schöffe und die Öffentlichkeit in Gerichtsversammlungen tätig sein.14 Auch ein Priester, ein hochrangiger Beamter, ein Vorsteher einer Provinz- und Lokalverwaltung kann gegebenenfalls Recht sprechen.15 In der traditionellen Gesellschaft ist es angesichts der Verschmelzung von Recht und Moral inakzeptabel und unvorstellbar, dem Richter durch die Gewährung seiner Unabhängigkeit die Entscheidung über die Auslegung und Anwendung des Rechts, das sich von der Moral nicht trennt, vorzubehalten und anderen mächtigeren Moralinstanzen zu verbieten, an dieser Entscheidung mitzuwirken, diese Entscheidung zu kontrollieren oder selbst zu treffen. Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit bedeutet die Offenheit für die durch Wertungen des einzelnen Richters herbeigeführte Innovation und Meinungsvielfalt in der Rechtsprechung. Die traditionelle Gesellschaft ist jedoch in der Unfehlbarkeit und der autoritären Verwaltung einer herrschenden Moral gefangen und lässt deswegen diese Offenheit nicht zu. Sie räumt dem Richter keine umfassende Entscheidungsautonomie ein, genauso wie sie keine Rechtsordnung kennt, die von einer autoritären Moral befreit und von der Freiheit des Einzelnen her konzipiert ist. Nur wenn traditionelle Moral sich abschwächt, in den Sog der Problematisierung gerät, die Berechtigung zu normkonformem Verhaltenszwang verliert und Recht begrifflich-systematisch erfasst, die rechtseigene Gerech14  Vgl. zu Schöffen und Rechtsgenossen in Gerichtsversammlungen im mittelalterlichen Deutschland unten Zweiter Teil, B. II. 1. a). 15  Vgl. zu rechtsprechenden Verwaltungsvorstehern, -beamten und lokalen Respektspersonen im kaiserlichen China unten Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1).



A. Allgemeine Erläuterung127

tigkeit entwickelt wird, verlieren gesellschaftliche Moralinstanzen ihre Berechtigung, Recht und Moral autoritär zu verwalten. Erst dann wird die richterliche Unabhängigkeit anerkennungswürdig und kann in der Gesellschaft Fuß fassen. Die Differenzierung zwischen Recht und Moral ist also eine unerlässliche gesellschaftliche Bedingung für die Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit. Es ist außerdem nicht aus den Augen zu verlieren, dass mit der Abschwächung von traditioneller Moral nicht nur die Differenzierung zwischen Recht und Moral zusammenhängt, sondern auch die Entfaltung des politischen Machtpotenzials und die Ausdifferenzierung des politischen Systems einhergehen. Damit entsteht erst etwas, gegen das die richterliche Unabhängigkeit sich hauptsächlich richtet, nämlich die Politik als ein ausdifferenziertes Sozialsystem. 3. Differenzierung zwischen Recht und Politik Das, was gerade gesagt wurde, deutet schon darauf hin, dass Recht und Politik sich in der traditionellen Gesellschaft nicht voneinander als zwei autonome Kommunikationssysteme unterscheiden. Weder Recht noch Politik sind in der traditionellen Gesellschaft gegen die gesellschaftliche Umwelt ausdifferenziert. Das politische System der modernen Gesellschaft ist mit einem breiten Themenspektrum konfrontiert, besitzt ein hohes Kontingenzpotenzial, beschäftigt sich also dauernd mit der Frage, ob und wie man das Gemeinwesen neu gestalten, mit der Vergangenheit brechen und eine andere, bessere Zukunft auf den Weg bringen soll. Im Rechtssystem der modernen Gesellschaft findet man juristische Kommunikationen, in denen eine Auslegung oder Anwendung des geltenden Rechts mit juristischer Argumentation vorgenommen oder vorgeschlagen und die Kontinuität mit der Vergangenheit bewahrt wird.16 Als Ort der Transformation von Politik in Recht und als Kontaktzone zwischen Recht und Politik kann die Gesetzgebung von der Politik zur neuen Gestaltung des Gemeinwesens in Anspruch genommen werden.17 In der traditionellen Gesellschaft gibt es weder diesen Unterschied von Recht und Politik noch diese Funktion der Gesetzgebung. Einerseits entfaltet die Politik der traditionellen Gesellschaft ihr Machtpotenzial zur neuen Gestaltung des Gemeinwesens noch nicht. Sie hat nur, wie die Rechtsprechung, die jeweils geltende moralisch-rechtliche Normenordnung zu bewahren, zu konkretisieren, zu ergänzen und im Fall der Verletzung wiederherzustellen. Auch für sie ist die Kontinuität mit der Vergangenheit ein Gebot. 16  Vgl. 17  Vgl.

oben Erster Teil, B. I. 2. b) (2).  oben Erster Teil, B. I. 2. a).

128

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Ebenso wie die Rechtsprechung ist die Gesetzgebung an die jeweils geltende moralisch-rechtliche Normenordnung gebunden und darf kein neues Recht schaffen, das sich nicht auf diese Normenordnung stützen kann. Andersherum formuliert: Die Rechtsprechung wird nicht als eine in ihrem Wesen von der Gesetzgebung unterschiedliche Funktion wahrgenommen. Andererseits fehlt es in der traditionellen Gesellschaft an beachtlichen und kontinuierlichen Bemühungen um eine spezifisch juristische Argumentation mit systematisch herausgearbeiteten, aufbereiteten und kohärent verwendeten Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien.18 Solche Bemühungen sind für die Differenzierung zwischen Recht und Politik unentbehrlich. Die Rechtsprechung wird vielmehr von Gerechtigkeitsvorstellungen moralischer Instanzen bestimmt, die aufgrund ihrer moralischen Autorität über politische Macht verfügen, Moral und Recht autoritär verwalten. Mit einem Wort, das Recht ist in der traditionellen Gesellschaft sowohl mit der Moral als auch mit der Politik verschmolzen. Die fehlende Differenzierung zwischen Recht und Politik geht mit der fehlenden Differenzierung zwischen Recht und Moral einher. Unter diesen Umständen lässt sich die Einmischung eines Herrschers, seiner hochrangigen Beamten oder der Führung einer Provinz- oder Lokalverwaltung in die Rechtsprechung nicht als Eingriff in das ausdifferenzierte Rechtssystem seitens der Politik als Umwelt des Rechtssystems ansehen. Sie passt vielmehr zum gesellschaftlichen Kontext der Verschmelzung von Recht und Politik. Es ist die eigentliche Aufgabe der Politik, Recht zu sprechen und normative Erwartungen zu stabilisieren. Die richterliche Unabhängigkeit, die darauf angelegt ist, das ausdifferenzierte Rechtssystem vor dessen Umwelt, insbesondere vor der Politik, zu schützen,19 wird konsequenterweise nicht gefordert. Aufgaben der Rechtsprechung und Aufgaben der Gesetzgebung oder der Vollziehung können sogar von derselben Stelle beziehungsweise derselben Person gleichzeitig wahrgenommen werden. Es fehlt also der Grundsatz der Inkompatibilität.20 Beim Nichtvorhandensein dieses Grundsatzes ist die Gewährleistung der Unabhängigkeit des Richters von der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt widersinnig. Die richterliche Unabhängigkeit als Beitrag zur Differenzierung zwischen Recht und Politik ist also bei der fehlenden Differenzierung zwischen Recht und Politik in der traditionellen Gesellschaft unvorstellbar. Die Differenzierung zwischen Recht und Politik kann sich nur schritt­ weise entwickeln und nicht von heute auf morgen vollständig und überall 18  Zur juristischen Argumentation mit Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien oben Erster Teil, B. I. 2. c) (2). 19  Oben Erster Teil, B. II. 20  Zu diesem Grundsatz oben Erster Teil, B. III. 5.



A. Allgemeine Erläuterung129

in Erscheinung treten. Es ist deswegen durchaus möglich, dass die Differenzierung zwischen Recht und Politik auch in einer Zeit während des Übergangs von der traditionellen zur modernen Gesellschaft fehlt oder nur im Keim oder kümmerlich vorhanden ist. Dies kann auch vorkommen, selbst wenn die Differenzierung zwischen Recht und Moral schon fortgeschrittener entwickelt ist. Die fehlende Differenzierung zwischen Recht und Politik geht zwar mit der fehlenden Differenzierung zwischen Recht und Moral einher, die Differenzierung zwischen Recht und Politik läuft aber nicht unbedingt im gleichen Schritt ab wie die Differenzierung zwischen Recht und Moral. Wenn auch der Glaube an der Unfehlbarkeit der jeweils herrschenden traditionellen Moral schwindet, diese nicht mehr ohne weiteres unmittelbar als Recht gelten kann und die Berechtigung zum moralkonformen Verhaltenszwang verliert, wenn auch das Recht also von der Moral befreit ist, kann das Recht sich unter Umständen noch nicht als ein ausdifferenziertes System etablieren, sondern wird mit der Politik verschmelzen, die nun auch von der Moral befreit ist, ihr Machtpotenzial zur neuen Gestaltung des Gemeinwesens entfaltet und dazu tendiert, die Gesellschaft zu dominieren. Es kann sein, dass man in der Theorie oder Praxis die Rechtsauslegung und -anwendung als Beurteilung darüber, was das geltende Recht fordert oder zulässt, nicht oder nicht nachvollziehbar von der Beurteilung darüber, was am zweckmäßigsten, vernünftigsten oder gerechtesten ist, abgrenzt. Es kann auch sein, dass man mit einer spezifisch juristischen Argumentation mit systematisch herausgearbeiteten und kohärent verwendeten Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien erst anfängt und, etwa wegen Mangel an einer entsprechenden Ausbildung oder an einem ausreichenden gemeinsamen Repertoire an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien, noch Schwierigkeiten hat, und dass solch eine spezifisch juristische Argumentation in der Theorie oder Praxis des Rechts noch nicht allgemein verbreitet ist. Die Differenzierung zwischen Recht und Politik wird auch unterdrückt, wenn die Politik der Rechtsprechung die Auslegung des Rechts in Zweifelsfällen verbietet und die Befugnis dazu an sich reißt.21 Wenn der Richter das Recht in Zweifelsfällen nicht auslegen, sondern nur mechanisch, ohne eigene Wertung und Gestaltung das anwenden darf, was die Politik ihm klar vorgibt, kann das Recht nur als Instrument der Politik, nicht als ein gegenüber der Politik ausdifferenziertes System existieren. Während es bei der Problematik der richterlichen Unabhängigkeit um die Frage geht, ob der Richter seine Kompetenz frei wahrnehmen können soll, geht es bei der Problematik der Auslegungsverbote um die Vorfrage, ob die Auslegung des 21  Als Beispiele dafür siehe die nachstehenden Ausführungen über Deutschland und China im Zweiten Teil, B. II. 1. b) (6) und 2. b) (3).

130

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Rechts in Zweifelsfällen zur richterlichen Kompetenz gehören soll. In der Praxis sind Auslegungsverbote zwar schwer durchzusetzen22 und gestaltende Elemente der Rechtsprechung kaum aus der Welt zu schaffen; die Zuständigkeit der Politik für die Auslegung des Rechts kann aber die richterliche Auslegung und Argumentation und juristische Kommunikationen darüber in ihrer Entfaltung und damit das Recht in seiner Ausdifferenzierung gegenüber der Politik hemmen. Man kann allerdings nicht davon ausgehen, dass die erst im Laufe der Geschichte stattfindende Differenzierung zwischen Recht und Politik, wenn einmal erreicht, damit für immer sichergestellt ist. Nur wenn das ausdifferenzierte Rechtssystem sich durch seine eigenen spezifisch rechtlichen Kommunikationen immer wieder reproduziert beziehungsweise neu erfindet, kann es als ein spezifisches Kommunikationsnetz weiter bestehen bleiben. Es existiert nicht mehr, sobald diese Kommunikationen aufhören.23 Wenn die Differenzierung zwischen Recht und Politik also nicht durch laufende rechtliche Kommunikationen, die sich von politischen Kommunikationen unterscheiden, immer wieder bestätigt und verteidigt wird, geht sie verloren. Es ist deswegen überhaupt nicht überflüssig, in Bezug auf eine Gesellschaft, in der das Recht sich schon von der Politik unterschieden hat, die Frage immer wieder zu stellen, ob die Differenzierung noch vorhanden ist oder abgeschwächt wird. Die richterliche Unabhängigkeit soll die Rechtsprechung als Zentrum des ausdifferenzierten Rechtssystems vor Eingriffen aus der Umwelt des Rechtssystems, insbesondere aus dem politischen System, schützen.24 Wenn die Differenzierung zwischen Recht und Politik aber fehlt oder nur im Keim oder kümmerlich vorhanden ist, kann die richterliche Unabhängigkeit ihren zugehörigen gesellschaftlichen Kontext, in dem sie ihre eigentliche Funk­ tion entfaltet, nicht finden. Sie wird gegenstandslos und kann sich infolgedessen nicht in der Gesellschaft etablieren. In eine Gesellschaft, in der sich ein eigenes Kommunikationsnetz über Recht und eine dem Recht eigene Geschichte nicht deutlich erkennen lassen, passt sich die richterliche Unabhängigkeit, die dem im Zentrum dieses Netzes stehenden Richter die Entscheidung über die Auslegung und Anwendung des Rechts überlässt, schwer ein. Die schwer durchzusetzende richterliche Unabhängigkeit steht dem gesellschaftlichen Kontext der Verschmelzung von Recht und Politik entgegen. Zu diesem Kontext passen die politische Mitwirkung an der Rechtsprechung und die politische Kontrolle darüber vielmehr besser. 22  Röhl,

in: Rechtsforschung, S. 445 (447, 450). oben Erster Teil, B. I. 1. a). 24  Oben Erster Teil, B. II. 23  Vgl.



A. Allgemeine Erläuterung131

II. Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit Die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit hängt entscheidend davon ab, ob die Politik die richterliche Unabhängigkeit anerkennt, beachtet und schützt. Denn erstens kommen Bedrohungen für die richterliche Unabhängigkeit vor allem aus der Politik, deren Machtpotenzial zur Gestaltung des Gemeinwesens nach dem Verfall der traditionellen moralischrechtlichen Ordnung entfaltet ist. Weil diese Politik immer danach trachtet, ihren Aktionsradius zu erweitern und ihre Macht zu erhalten und auszubauen, und weil sie ihre politischen – darunter auch wertvolle – Ziele gerne effektiv, auch gegen das Recht, das im Weg steht, durchsetzen will, kommt sie ständig in Versuchung, in richterliche Entscheidungen einzugreifen und diese zu kontrollieren.25 Sie hat auch ein wirksames Mittel dazu, nämlich Macht. Zweitens muss das Institut der richterlichen Unabhängigkeit durch die Politik, die die leitende Kraft in der Gesetzgebung und verantwortlich für die Rechtsdurchsetzung ist, eingeführt und sichergestellt werden, obwohl dieses Institut seinerseits vor allem gegen die Politik gerichtet ist. Die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit ist also darauf angewiesen, dass die Politik zur Einschränkung ihres Aktionsradius bereit ist. Drittens ist es entscheidend für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der übrigen gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems wie etwa der Moral, der Religion und der Wirtschaft, dass die Politik etwa durch öffentliche Stellungnahme oder Bereitstellung der Zwangsgewalt diese Unabhängigkeit schützt und verteidigt.26 Die Anerkennung, die Beachtung und die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit durch die Politik setzen aber die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung voraus. Mit der Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung ist gemeint, dass der Gesetzgeber prinzipiell in der Lage ist, Rechtsnormen in Kraft zu setzen, außer Kraft zu setzen und zu ändern, dass die rechtliche Geltung des Gesetzes grundsätzlich anerkannt wird, und dass der Richter an das Gesetz gebunden ist und bei der Entscheidung das dafür relevante Gesetz grundsätzlich anwenden muss. Die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung ist ein wesentliches Element der Offenheit des Rechts, die bedeutet, dass das Rechtssystem sich nicht von seiner gesellschaftlichen Umwelt abschottet, dass das Rechtssystem Beziehungen zu 25  Vgl.

oben Erster Teil, A. I. 4. zur richterlichen Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren, die in vielen Fällen nicht im politischen System stehen, oben Erster Teil, B. III. 4. 26  Vgl.

132

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

seiner gesellschaftlichen Umwelt pflegt und dass das Rechtssystem gegebenenfalls auf Anforderungen, Erwartungen und Einflüsse aus der Umwelt und Veränderungen in der Umwelt reagiert und sich daran anpasst. Denn das Gesetz kommt durch einen politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zustande. Die Politik nimmt die Gesetzgebung in Anspruch, um politische Ziele zu verfolgen und zu verwirklichen. Politische Ziele bilden sich ihrerseits oft in Reaktion auf Veränderungen, Erwartungen und Anforderungen in anderen Bereichen der Gesellschaft. Ist das Recht durch die Gesetzgebung gestaltbar, bildet sie dann als Peripherie des Rechtssystems den Mechanismus der Transformation von Politik in Recht und eine Kontaktzone des Rechts unmittelbar zur Politik27 und, falls die Politik responsiv gegenüber übrigen gesellschaftlichen Bereichen bleibt, auch mittelbar zu solchen Bereichen. Die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung bedeutet also eine strukturelle Realisierung der Offenheit des Rechts unmittelbar gegenüber der Politik und gegebenenfalls auch mittelbar gegenüber übrigen Bereichen der Gesellschaft. Ob das Recht durch die Gesetzgebung gestaltbar ist, hängt keinesfalls allein vom Verhalten des Gesetzgebers, sondern auch von der Anerkennung in der Rechtsprechung, Rechtswissenschaft und allgemeiner in der Gesellschaft ab. Die gesetzgeberische Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts ist nicht so selbstverständlich, wie man heute immerhin in demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaften wohl annimmt. Sie hat sich zum Beispiel in Deutschland, wie unten noch gezeigt wird, erst in der Neuzeit etabliert.28 Die Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung bedeutet nicht, dass das Recht damit der Politik voll zur Verfügung steht und seine Ausdifferenzierung und Autonomie gegenüber der Politik geschwächt ist. Wie oben erläutert, schließt die Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechts die Offenheit des Rechts nicht aus. Sie bleibt unberührt, soweit die Anpassung des Rechts an seine Umwelt aus rechtsinternen Gründen erfolgt und sich in den rechtseigenen Sinnhorizont integriert. Das Rechtssystem kann gleichzeitig autonom und offen sein.29 Die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als Element der Offenheit des Rechts gegenüber der Politik kann also mit der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems vereinbar sein. Im Rechtssystem kann das Gesetz als Ergebnis eines politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses wegen Verstoßes gegen die Verfassung, die prozessuale und inhalt­ liche Anforderungen an das Gesetz stellt, oder wegen extremer oder uner27  Oben

Erster Teil, B. I. 2. a). Zweiter Teil, B. III. 1. 29  Oben Erster Teil, B. I. 1. b). 28  Unten



A. Allgemeine Erläuterung133

träglicher Ungerechtigkeit30 als nichtig erklärt werden. Ein gültiges Gesetz kann richterliche Entscheidungen nicht bis ins Detail determinieren. In profes­ sionellen juristischen Kommunikationen werden „rechtseigene Interpretations­theorien“31 entwickelt, so dass „nicht alle ‚Motive‘ des Gesetzgebers […] rechtlich verwertbar [sind].“32 Das Gesetz, das zur Anwendung kommt, ist deswegen keine bloß „geronnene Politik“33. All das zeugt von der Eigengesetzlichkeit der Gesetzesinterpretation und der Autonomie des Rechtssystems, stellt die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und die darin zum Ausdruck kommende Offenheit des Rechts gegenüber der Politik dennoch auch nicht grundsätzlich in Frage. „Die Verfassung schaltet Politik […] nicht aus, sondern zieht ihr nur einen Rahmen.“34 Dem Gesetzgeber steht gerade von Verfassung wegen ein großer Gestaltungsspielraum zu. Darum ist die Zahl der als verfassungswidrig eingestuften gesetzlichen Regelungen im Vergleich zu den gesamten gesetzlichen Regelungen auch sehr gering. Die Frage über die extreme oder unerträgliche Ungerechtigkeit des Gesetzes ist zwar rechtstheoretisch interessant, kommt aber in der Praxis selten vor. Wer das Gesetz interpretiert, muss vernünftigerweise davon ausgehen, dass er, wie stark auch immer er sich von Präjudizien, Rechtsdogmatik, Methodologie und seinen eigenen Wertungen leiten lässt, an das Gesetz gebunden ist. Die Gestaltung des Rechts durch die Gesetzesinterpretation schließt die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts nicht aus. Sie setzt diese vielmehr voraus und ist durchaus mit der programmierenden Funktion des Gesetzes vereinbar.35 Die Politik kann die Auslegung und Anwendung des Rechts zwar nicht unmittelbar bestimmen, aber doch mittelbar durch die Gesetzgebung in entscheidendem Maße beeinflussen. Die Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung führt also nicht dazu, dass die Politik voll über das Recht disponiert, sondern bedeutet nur, dass die rechtliche Geltung des Gesetzes grundsätzlich anerkannt wird, und damit, dass dem politischen System institutionell die Möglichkeit eröffnet wird, die Struktur und den Zustand des Rechtssystems wirksam zu beeinflussen. Nur in diesem Sinne steht die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als Element der Offenheit des Rechts gegenüber der Politik mit der Ausdifferenzierung des Rechts gegenüber der Politik in Einklang. 30  Vgl. Radbruch, in: Rechtsphilosophie, S. 339 (345); Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 70 ff.; BVerfGE 23, 98 (106). 31  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 420. 32  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 89 (Hervorhebung im Orriginal). 33  Grimm, JuS 1969, 501 (502). 34  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (21). 35  Oben Erster Teil, B. IV. 1.

134

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Die Bindung des Richters an das Gesetz setzt die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung voraus. Denn die Rechtsprechung dient der Wahrung des Rechts. Nur wenn das politisch entschiedene Gesetz als Recht anerkannt wird, wird die richterliche Gesetzesbindung gefordert. Andersherum erfordert die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung auch die Gesetzesbindung des Richters. Wenn der Richter von der Unveränderlichkeit des Rechts oder der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Rechts für den Gesetzgeber ausgeht oder nach eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen oder eigenem Gutdünken entscheiden kann, ob er das Gesetz anwenden will oder nicht, läuft der Rechtsetzungsakt des Gesetzgebers ins Leere. Die Gestaltung des Rechts durch die Gesetzgebung lässt sich nur verwirklichen, wenn der Richter grundsätzlich die rechtliche Geltung des Gesetzes anerkennt und bei der Entscheidung das dafür relevante Gesetz anwendet. Die richterliche Gesetzesbindung ist also von entscheidender Bedeutung für die Offenheit des Rechts gegenüber der Politik. Wenn man aber von einem anderen Gesichtspunkt, nämlich vom Gesetz als geltendem Recht und Struktur des Rechtssystems, ausgeht, ist die Bindung des Richters an das Gesetzesrecht auch unerlässlich für die Differenzierung zwischen Recht und Politik. Der Richter, der das geltende Recht zu wahren hat und im Zentrum des Rechtssystems steht, legt das Gesetz aus und wendet es an. Er darf sich nicht über das Gesetz als geltendes Recht hinwegsetzen und einfach die für ihn zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Entscheidung treffen. Die Politik ist dagegen ständig mit der Frage konfrontiert, ob zur besseren Gestaltung des Gemeinwesens das Gesetzgebungsverfahren in Anspruch genommen und ein neues Gesetz verabschiedet oder ein bestehendes Gesetz geändert werden soll. Die Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung ist auch mit der Differenzierung zwischen Recht und Moral verbunden. Denn sie hängt eng mit der Auflösung einer breit angelegten moralischrechtlichen Normenordnung und der Autonomisierung der Moral zusammen. Weil Moral die ihr traditionell zustehende Berechtigung zum normkonformen Verhaltenszwang verliert, in den Sog der Problematisierung gerät und pluralistisch wird, sind die Menschen zur Gewährleistung eines geordneten Zusammenlebens auf den Gesetzgeber angewiesen, der für alle Betroffenen verbindliche rechtliche Entscheidungen trifft, die sich in ihrer Durchsetzung im Gegensatz zu Moral auf die politische Zwangsgewalt stützen.36 Aus diesen Ausführungen über den Zusammenhang der richterlichen Gesetzesbindung mit der Offenheit des Rechts gegenüber der Politik einerseits und mit der Differenzierung von Recht und Politik andererseits und 36  Oben

Erster Teil, B. I. 3. a) und b).



A. Allgemeine Erläuterung135

über den Zusammenhang der gesetzgeberischen Gestaltbarkeit des Rechts mit der Differenzierung von Recht und Moral ergibt sich, dass die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung nicht nur die Offenheit des Rechts realisiert, sondern auch mit der Ausdifferenzierung des Rechts zusammenhängt. Dabei sieht man, dass die Offenheit des Rechts und die Ausdifferenzierung des Rechts sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern Charakterisierungen des Rechtssystems sind, die von unterschiedlichen Perspektiven ausgehen. Für die Politik, die ihr Machtpotenzial entfalten und das Gemeinwesen gestalten will, ist die Gesetzgebung ein unentbehrliches und wichtiges Instrument. Durch die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts dehnt die Politik ihr Betätigungsfeld gewaltig aus. Durch die Transformation von Politik in Recht lassen sich politische Ziele verwirklichen. Die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts ist also eine wichtige „Bedingung der Möglichkeit, Politik zu machen“37. Wenn sie nicht grundsätzlich anerkannt wird, wird die Politik in ihren Möglichkeiten zur Entfaltung des Machtpotenzials und zur Gestaltung des Gemeinwesens erheblich eingeschränkt. Sie kann sich nicht in die Richtung eines ausdifferenzierten politischen Systems, das durch eine hohe Kontingenz und ein breites Themenspektrum kollektiv bindender Entscheidungen charakterisiert ist,38 entwickeln. Unter diesen Umständen gönnt die Politik der Rechtsprechung bestimmt keine Unabhängigkeit. Denn die richterliche Unabhängigkeit würde die Politik vom Regen in die Traufe führen. Die Politik könnte auf das Recht kaum einwirken, würde in ihrem Spielraum noch eingeengt und könnte ihre Funktion der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen und der Bereitstellung von Kapazitäten dafür noch schwieriger entfalten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Politik das akzeptiert. Es steht nicht zu erwarten, dass die Politik zur Anerkennung, Beachtung und Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit bereit ist, wenn die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts und die rechtliche Geltung des Gesetzes nicht grundsätzlich anerkannt wird, so dass die Politik außer einem Eingriff in die Rechtsprechung kein Betätigungsfeld finden kann, Strukturen und Operationen des Rechtssystems effektiv zu beeinflussen. Die Politik nimmt die Unbequemlichkeiten, die sich aus der Beachtung der richterlichen Unabhängigkeit für sie ergeben, nur in Kauf, wenn trotz der richterlichen Unabhängigkeit, die der Sicherung und Förderung der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems dient, die Offenheit dieses Systems gegenüber dem politischen System durch die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des Rechts sichergestellt wird. Die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung ist also eine gesellschaftliche 37  Luhmann, 38  Oben

Das Recht der Gesellschaft, S. 425. Erster Teil, B. I. 2. c) (3).

136

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Bedingung für die Anerkennung, Beachtung und Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit durch die Politik und damit für die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit überhaupt. III. Große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit In einer Gesellschaft, die dem Recht eine große Bedeutung beimisst, fasst ein ausdifferenziertes, auf das Recht spezialisiertes gesellschaftliches Teilsystem leichter in der Gesellschaft Fuß. Auch der Richter genießt dort ein größeres Ansehen und eine höhere gesellschaftliche Stellung. Eine der Ausdifferenzierung des Rechts dienende weitgehende Entscheidungsfreiheit für den Richter findet dann leichter Akzeptanz und Unterstützung bei der Bevölkerung und weniger Widerstand aus der Politik. Eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts begünstigt also die gesellschaftliche Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit. Auf diese hat es dagegen negative Auswirkungen, dass das Recht in einer Gesellschaft eine geringere Bedeutung hat. Unter diesen Umständen wird die richterliche Unabhängigkeit zumindest als nicht so dringend nötig wie andere Dinge wie zum Beispiel eine blühende Wirtschaft oder eine effektive Politik empfunden. Da sie weniger gesellschaftliche Rückendeckung erhält, hat die Politik auch weniger Skrupel, in die Rechtsprechung einzugreifen. Ob das Recht eine große oder geringe Bedeutung in einer Gesellschaft hat, kann viel von einer langen geschichtlichen Entwicklung und einem daraus herauskristallisierten kulturellen Gedächtnis39 abhängen. Bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts ist der Geschichte folglich Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings könnten Zweifel entstehen, ob eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts eine unabhängige Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit darstellt, ob sie in die Ausdifferenzierung des Rechts, die als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit gilt, schon mit eingeschlossen ist oder sich daraus folgern lässt. Freilich muss man einräumen, dass die Ausdifferenzierung des Rechts und eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts eng miteinander zusammenhängen. Eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts fördert die Ausdifferenzierung des Rechts. Diese trägt wiederum zur gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts bei. Die beiden Phänomene sind aber nicht gleich, und das eine schließt das andere nicht ein. Der Unterschied in der gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts besteht nicht nur zwischen einer modernen Gesell39  Vgl.

zum kulturellen Gedächtnis Assmann, Das kulturelle Gedächtnis.



A. Allgemeine Erläuterung137

schaft, in der es ein ausdifferenziertes Rechtssystem gibt, und einer tradi­ tionellen Gesellschaft, in der das Recht noch nicht ausdifferenziert ist. Auch zwischen verschiedenen traditionellen Gesellschaften oder zwischen verschiedenen modernen Gesellschaften kann die gesellschaftliche Bedeutung des Rechts variieren. Zum Beispiel spielte das Recht, wie unten deutlich wird, eine größere Rolle in der traditionellen deutschen Gesellschaft als in der traditionellen chinesischen Gesellschaft.40 Trotzdem könnte man einwenden, dass eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts, selbst wenn sie sich nicht einfach in der Ausdifferenzierung des Rechts unterbringen oder aufheben lässt, im Unterschied zu dieser doch keine unmittelbare gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit wäre, dass sie nur als Katalysator für die Ausdifferenzierung des Rechts die richterliche Unabhängigkeit indirekt fördert. Diese Auffassung scheint sich durch Erfahrungen in Deutschland nahe zu legen. Dort hatte das Recht schon vor seiner Ausdifferenzierung im Mittelalter eine bedeutende Rolle gespielt.41 Die Ausdifferenzierung des Rechts kam dann im späten Mittelalter in Gang und entfaltete sich in der Neuzeit.42 Dann folgten der Ruf nach der richterlichen Unabhängigkeit und deren Durchsetzung. Dieser Einwand wird aber entkräftet, wenn man den Blick auf die ganze Welt erweitert. In Ländern, wo eine Transformation von der traditionellen zur modernen Gesellschaft angestrebt und der Weg zur Ausdifferenzierung des Rechts gerade erst betreten wird, setzt sich die richterliche Unabhängigkeit mal mehr, mal weniger, mal kaum durch. Das lässt sich ohne Hinweis auf die unterschiedliche gesellschaftliche Bedeutung des Rechts in solchen Ländern wohl nicht befriedigend erklären. Die richterliche Unabhängigkeit ist zum Beispiel in China schon als ein normatives Prinzip umstritten. Ihre Etablierung stößt in China auf mehr Schwierigkeiten als in vielen anderen Entwicklungsländern. Dafür verantwortlich sind nicht nur oft auch in diesen Ländern vorkommende Probleme hinsichtlich der Ausdifferenzierung des Rechts.43 Es ist, wie unten gezeigt wird, auch auf eine geringere gesellschaftliche Bedeutung des Rechts zurückzuführen.44 Darüber hinaus ist es nicht ausgeschlossen, dass das Recht selbst in einer Gesellschaft mit einem ausdifferenzierten Rechtssystem irgendwann nicht 40  Zur Bedeutung des Rechts im mittelalterlichen Deutschland unten Zweiter Teil, B. IV. 1. a) und b); zur Bedeutung des Rechts im alten China unten Zweiter Teil, B. IV. 2. a). 41  Unten Zweiter Teil, B. IV. 1. a) und b). 42  Unten Zweiter Teil, B. II. 1. b). 43  Unten Zweiter Teil, B. II. 2. 44  Unten Zweiter Teil, B. IV. 2.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

mehr so wichtig wie zuvor ist. Dies wirkt dann negativ auf die Durchsetzungsfähigkeit der richterlichen Unabhängigkeit aus. Denn mit der Abschwächung der gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts wird zumindest die Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit nicht mehr so energisch verteidigt wie zuvor. IV. Kommen noch andere gesellschaftliche Bedingungen hinzu? Oben wurden auf der Basis der rechtstheoretischen Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit die Ausdifferenzierung des Rechts, die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Bedingungen der richter­ lichen Unabhängigkeit herausgearbeitet und erläutert. Es stellen sich jedoch Zweifel ein, ob die vorstehenden Ausführungen sich zu sehr auf das Recht fokussieren, ob weitere wie etwa politische oder wirtschaftliche Bedingungen hinzukommen müssen. In der Tat gehen die vorstehenden Ausführungen über gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit zwar vom Recht aus, beschränken sich aber nicht auf das Recht. Es geht immer, sowohl bei der Ausdifferenzierung des Rechts als auch bei der Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als Element der Offenheit des Rechts, nicht zuletzt bei einer großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts, um das Verhältnis des Rechts zur Gesellschaft. Damit fällt der Blick auch auf andere Bereiche der Gesellschaft. An dieser Stelle ist nochmals hervorzuheben, dass es in der vorliegenden Arbeit um unmittelbare gesellschaftliche Bedingungen geht, nicht um Bedingungen, die nur eine mittelbare und ferne Beziehung zur richterlichen Unabhängigkeit haben. Ansonsten könnte man immer für eine Bedingung selbst wiederum eine Bedingung finden. Ein infiniter Regress würde heraufbeschworen. Da der Richter, dem die Unabhängigkeit zustehen soll, sich ausschließlich um die Wahrung des Rechts kümmert, ist es nicht verwunderlich, dass die hier herausgearbeiteten unmittelbaren gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit im Zusammenhang mit den Fragen stehen, was das Recht einer Gesellschaft prägt und wie es sich zu anderen Bereichen der Gesellschaft verhält. Dass das Geschehen in anderen Bereichen der Gesellschaft auf die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit Auswirkungen haben oder damit im Zusammenhang stehen kann, wird damit nicht geleugnet. Es kann gegebenenfalls in die hier aufgestellten gesellschaftlichen Bedingungen eingeordnet oder darauf zurückgeführt werden oder als Einflussfaktor für die Entstehung dieser Bedingungen indirekt auf die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit auswirken. Es kann aber auch sein, dass ein Geschehen oder Phänomen dem ersten Anschein



B. Testfälle – Deutschland und China139

nach mit der Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit verbunden ist, sich aber nach näherer Betrachtung als nicht unmittelbar entscheidend herausstellt. Es mag etwa für viele nahe liegend sein, die Durchsetzung der richter­ lichen Unabhängigkeit mit der Demokratisierung in Zusammenhang zu bringen. Die Institutionalisierung und Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit geht zwar in zahlreichen Ländern mit der Einführung und der Etablierung der Demokratie oder der parlamentarischen Mitwirkung bei der Gesetzgebung einher, ist aber nicht auf die Einrichtung der Demokratie als der vom Volk ausgehenden Herrschaft an sich zurückzuführen, sondern darauf, dass man nicht nur eine Demokratie, sondern eine freiheitliche Demokratie schaffen und neben der Demokratie auch die Freiheit und den Rechtsstaat sichern will, dass man darum dem Recht große Bedeutung beimisst und ein ausdifferenziertes Rechtssystem schätzt. Unmittelbar entscheidend für die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit ist hier also nicht die Demokratisierung, sondern sind die große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts und die Ausdifferenzierung des Rechts, zwei hier aufgestellte gesellschaftliche Bedingungen. Es ist auch eine interessante Frage, ob die wirtschaftliche Entwicklung oder Transformation Auswirkungen auf die Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit hat.45 Die wirtschaftliche Entwicklung oder Transforma­tion kommt aber nicht als unmittelbare gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit, sondern unter Umständen als Einflussfaktor für die Ausdifferenzierung des Rechts, die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und die gesellschaftliche Bedeutung des Rechts und damit nur als indirekte gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit in Frage.

B. Testfälle – Deutschland und China I. Vorbemerkung In diesem Kapitel B. werden die oben herausgearbeiteten gesellschaft­ lichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit an zwei Testfällen – Deutschland und China – überprüft. Es wird überprüft, ob aus diesen Bedingungen die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit in Deutsch45  Zum Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung einerseits und der rule of law, der Demokratie oder der richterlichen Unabhängigkeit andererseits vgl. u. a. Barro, in: Governing for Prosperity, S. 209 ff.; Przeworski u. a., Democracy and Development; Feld / Voigt, European Journal of Political Economy 19 (2003), 497 ff.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

land in der Mitte des 19. Jahrhunderts und die fehlende richterliche Un­ abhängigkeit in der Gegenwart der Volksrepublik China erklärt werden können. Zunächst ist aber zu klären, ob die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland zeitlich richtig angesetzt ist. Schließlich war die richterliche Unabhängigkeit schon in den 1810er Jahren in süddeutsche Verfassungen eingegangen.46 Dennoch konnte sich die richterliche Unabhängigkeit zumindest in Preußen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht etablieren. Der von Friedrich II. von Preußen in seinen politischen Testamenten von 1752 und 1768 erklärte Verzicht auf Machtsprüche stellte sich nicht als ausnahmslose Unterlassung und rechtliche Unzulässigkeit von Eingriffen des Herrschers in die Rechtsprechung heraus, sondern nur als freiwillige Zurückhaltung des Landesherrn bei solchen Eingriffen. Diese Zurückhaltung zielte darauf, dass eine grundsätzliche Arbeitsteilung (nicht die Gewaltenteilung) von Verwaltung und Justiz innerhalb der einheitlichen, in der Hand des Landesherrn vereinigten Staatsgewalt hergestellt und erhalten, die Flut von Suppliken eingedämmt und der mit diesen verbundene Missbrauch bekämpft werden konnte. Die Könige behielten sich weiter vor, im Interesse der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls in die Rechtsprechung einzugreifen und den Richter für sein Fehlverhalten persönlich zur Verantwortung zu ziehen.47 Durch das im Jahre 1794 in Kraft getretene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten wurden Eingriffe des Herrschers in die Rechtsprechung nicht ausgeschlossen, sondern nur darauf beschränkt, dass sie Einzelfallanweisungen blieben und keine gesetzliche Allgemeinverbindlichkeit erlangten.48 Sie bestanden auch in der Praxis fort. Das allgemeine Landrecht scheint allerdings in Teil II Titel 17 § 99 in Verbindung mit Titel 10 § 103 die persönliche Unabhängigkeit des Richters garantiert zu haben. Diese Regelung wurde aber damals nicht selten zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit interpretiert, nämlich etwa dahin, dass sie sich „nur auf die Richter der Patrimonialgerichte bezieh[e], um diese vor der willkürlichen Entlassung durch den Gerichtsherren zu bewahren“.49 Auf jeden Fall war die Rechtslage hinsichtlich der persönlichen Stellung des Richters unklar.50 In der Praxis erfolgte die Versetzung oder Entlassung des Richters auch 46  8. Titel § 3 Verfassung Bayern 1818; § 14 Verfassung Baden 1818; § 93 Verfassung Württemberg 1819. 47  Schwennicke, S.  156 ff.; Tigges, S.  34 ff. 48  ALR, Einleitung, § 5; Schwennicke, S.  136 ff. 49  Tigges, S. 75. 50  Tigges, S.  75 ff.



B. Testfälle – Deutschland und China141

ohne gerichtliches Verfahren im Verwaltungswege.51 Darüber hinaus wurden Ausnahmegerichte eingerichtet, um der Politik genehme Urteile herbeizuführen. Erst mit der Revolution von 1848 änderte sich die Lage grundlegend. Die richterliche Unabhängigkeit gewann deutschlandweit die Oberhand gegen obrigkeitliche Eingriffe in die Rechtsprechung und setzte sich im Großen und Ganzen durch.52 Die Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 und die preußischen Verfassungen von 1848 und 1850 gewährten dem Richter unmissverständlich die sachliche und persönliche Unabhängigkeit und verboten Ausnahmegerichte.53 Außerdem wurde das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit in Preußen durch Regelungen im Gesetz, betreffend die Dienstvergehen der Richter und die unfreiwillige Versetzung ­derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand vom Jahre 1851 konkretisiert.54 Allerdings kann man nicht sagen, dass es seitdem keine bemerkenswerten Probleme hinsichtlich der rechtlichen wie tatsächlichen Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit mehr gab. Die ernst gemeinte rechtliche Anerkennung und Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete aber schon ein gutes Stück Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit und ebnete den Weg für ihre weitere Verwirklichung. Eben diese Errungenschaft soll hier erklärt werden. Außerdem bedeutet, wie schon erläutert, die These der Ausdifferenzierung des Rechts als einer gesellschaftlichen Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit nicht, dass die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit eine volle Ausdifferenzierung des Rechts voraussetzt.55 Deswegen reicht es hier zur Verifizierung der These, zu zeigen, dass wichtige Schritte oder bedeutende Entwicklungen in Bezug auf die Ausdifferenzierung des Rechts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erfolgt waren. Dass die richterliche Unabhängigkeit sich gegenwärtig in der Volksrepublik China nicht, auch rechtlich nicht, etabliert,56 bildet den zweiten Testfall. Es gibt rechtliche Arrangements, die zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der Legislative und innerhalb der Judikative gehen oder umgesetzt werden. Gemäß den verfassungsrechtlichen und einfachge51  Tigges,

S.  76 ff. S. 92. 53  §§ 175, 177, 181 Paulskirchenverfassung 1849; Art. 7, 85 f. Preußische Verfassung 1848; Art. 7, 86 f. Preußische Verfassung 1850. 54  Wagner, Der Richter, S. 68 f.; Tigges, S. 93. 55  Oben Zweiter Teil, A. I. 1. 56  Vgl. zur fehlenden richterlichen Unabhängigkeit in China Peerenboom, China’s Long March, S. 298 ff.; Ahl, Völkerrechtliche Verträge, S. 304 ff. 52  Tigges,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

setzlichen Regelungen sind die Volksgerichte nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus den Volkskongressen der entsprechenden Gebietskörperschaften verantwortlich, unterliegen deren Aufsicht und haben ihnen gegenüber Bericht über ihre Arbeit zu erstatten.57 Die Gerichtspräsidenten werden auch von den Volkskongressen der entsprechenden Gebietskörperschaften gewählt und abgewählt. Von deren Ständigen Ausschüssen werden die Richter auf Vorschlag der jeweiligen Gerichtspräsidenten ernannt und entlassen.58 Beanstandungen der Volkskongresse haben die Gerichte fristgemäß abzustellen. Die Volkskongresse können bei den Gerichten Untersuchungen durchführen und die Gerichte auffordern, die Wiederaufnahme eines Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.59 Darüber hinaus steht ein Gericht unter der Aufsicht der Gerichte der jeweils höheren Ebenen,60 ein Volksgericht der Grundstufe zum Beispiel unter der Aufsicht des entsprechenden Volksgerichts der Mittelstufe, des entsprechenden Volksgerichts der Oberstufe und des Obersten Volksgerichts.61 Diese Aufsicht erfolgt häufig zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit.62 Wie oben ausgeführt, gilt das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit auch innerhalb der Judikative.63 Eine nicht geringere Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit in China stellt die gesetzlich vorgeschriebene Einrichtung eines vom Gerichtspräsidenten geleiteten Rechtsprechungsausschusses in jedem Gericht dar.64 Die Aufgaben des Rechtsprechungsausschusses bestehen darin, Erfahrungen mit der Rechtsprechung zusammenzutragen, über (auch politisch) bedeutende oder schwierige Fälle und andere auf die Rechtsprechung bezogene Probleme zu beraten und (vor-)zuentscheiden.65 57  Art. 3 Abs. 1 und 3, 67 Nr. 6, 128 Zhonghua renmin gongheguo xianfa (Verfassung der VR China); § 17 Abs. 1 Zhonghua renmin gongheguo fayuan zuzhi fa (Gerichtsorganisationsgesetz der VR China). 58  Art. 62 Nr. 7, 63 Nr. 4, 67 Nr. 11 Verfassung (Fn. 57); § 35 Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 57); § 11 Zhonghua renmin gongheguo faguan fa (Richtergesetz der VR China). 59  Zuigao renmin fayuan guanyu renmin fayuan jieshou renmin daibiao dahui jiqi changwu weiyuanhui jiandu de ruogan yijian (Einige Ansichten des Obersten Volksgerichts über die Aufsicht der Volkskongresse und ihrer Ständigen Ausschüsse über die Volksgerichte) vom 24.12.1998. 60  Art. 127 Abs. 2 Verfassung (Fn. 57); §§ 17 Abs. 2, 30 Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 57). 61  Vgl. zum Justizaufbau in China §§  2, 18  ff. Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 57); unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2); Heuser, Chinesische Rechtskultur, S.  241 f. 62  He Weifang, in: Sifa, S. 103 (122 ff.). 63  Oben Erster Teil, B. III. 3. 64  Näher zum Rechtsprechungsausschuss unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2). 65  § 11 Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 57); § 149 Zhonghua renmin gongheguo xingshi susong fa (Strafprozessgesetz der VR China).



B. Testfälle – Deutschland und China143

Art. 126 der chinesischen Verfassung schreibt zwar vor, dass die Gerichte ihre Gerichtsbarkeit unabhängig von Einmischung durch Verwaltungsorgane, gesellschaftliche Organisationen oder Individuen ausüben. Eine gleiche Regelung findet sich auch im Gerichtsorganisationsgesetz und Richtergesetz.66 Die prägnant formulierte Garantie der Unabhängigkeit des Richters gegenüber der Exekutive steht aber nur auf dem Papier, ist gesetzlich nicht weiter konkretisiert und in der Praxis wirkungslos. Eingriffe der Exekutive in die richterliche Unabhängigkeit geschehen oft über die Kommunistische Partei. Denn das Führungspersonal der Regierungen spielt eine dominierende Rolle in der Kommunistischen Partei, und diese als verfassungsrechtlich anerkannte Führung des chinesischen Volkes67 kann in verschiedenen Weisen großen Einfluss auf die Gerichte nehmen und die richterliche Unabhängigkeit bedrohen.68 Führungspositionen der Gerichte werden in der Regel von Mitgliedern der Kommunistischen Partei besetzt. Bei jedem Gericht wird eine Parteiführungsgruppe (党组, dangzu) eingerichtet, die sich normalerweise aus Personen aus der Führungsschicht des jeweiligen Gerichts wie etwa dem Gerichtspräsidenten, allen oder den meisten Gerichtsvizepräsidenten zusammensetzt. Die Parteiführungsgruppe eines Gerichts steht ihrerseits unmittelbar unter der Führung des Parteikomitees der entsprechenden Gebietskörperschaft und der diesem Komitee zugehörigen Kommission für Politik und Recht (政法委员会, zhengfa weiyuanhui). Diese Kommission ist speziell mit der Aufsicht der Arbeit des Gerichts als eines Teils vom so genannten System für Politik und Recht (政法系统, zhengfa xitong) beauftragt. Sie besteht unter anderem aus dem für politische und rechtliche Angelegenheiten zuständigen Vizesekretär des Parteikomitees, dem Präsidenten des Gerichts, dem Präsidenten der Staatsanwaltschaft, Leitern relevanter Ministerien oder Verwaltungsbehörden wie etwa der Polizei, der Staatssicherheit und der Justiz.69 Darüber hinaus kann die Kommunistische Partei, angeregt unter anderem durch das Führungspersonal der Regierungen, die Volkskongresse veranlassen, Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen, die Gerichtspräsidenten abzuwählen oder die Richter zu entlassen. Zur fehlenden Unabhängigkeit des Richters gegenüber anderen staatlichen und parteilichen Stellen kommen noch enorme Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren in vielen Teilen des Landes, vor allem auf dem Land, hinzu. Das wird weiter unten zu erläutern sein.70 66  § 4

Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 57); §§ 1, 8, 45 Richtergesetz (Fn. 58). der Verfassung (Fn. 57). 68  He Weifang, in: Sifa, S. 1 (43 ff.). 69  Peerenboom, China’s Long March, S. 302 f. 70  Unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (4). 67  Präambel

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II. Ausdifferenzierung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit 1. Deutschland a) Verschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik im Mittelalter Im mittelalterlichen Deutschland verschmolz das Recht zuerst mit der ihrerseits wieder religiös bestimmten Moral und der Gewohnheit zu einer breit angelegten moralisch-rechtlichen Ordnung. Recht war aus der religiös fundierten Moral der jeweiligen Gemeinschaft erwachsen und in deren Gewohnheit verwurzelt, sah an verschiedenen Orten nicht immer gleich aus,71 wurde aber jeweils als unveränderbar erlebt und als ewig gültig und richtig emp­ funden. „Recht galt […] kraft unvordenklicher Tradition oder göttlicher Stiftung“72, konnte nicht gemacht und geschaffen, sondern nur vorgefunden und festgestellt werden.73 „Die Frage nach der Gerechtigkeit des geltenden Rechts stellte sich […] nicht. Recht und Gerechtigkeit fielen zusammen.“74 Dieses ungesetzte gute alte Recht75 wurde im Gericht durch Urteil gewiesen, durch Weistum76 festgestellt, und zwar in der Regel nicht vom Gerichtsherrn oder seinem Vertreter als Richter, der die Verhandlung leitete, sondern von Rechtsgenossen, ihren Repräsentanten oder abgeordneten Schöffen als Urteiler.77 Das Recht war nicht begrifflich-systematisch durchdrungen. Die Rechtsfindung basierte vielmehr auf Erfahrung und Sachkunde gesellschaftlicher Autoritäten und dem in der jeweiligen Gemeinschaft vorherrschenden Rechtsgefühl, moralischen und religiösen Empfinden.78 Obwohl Moral- und Rechtsanschauungen im Laufe der Zeit nicht immer gleich blieben, geschah der Wandel doch so langsam und begrenzt, dass er nicht wahrgenommen und das durch Urteil fortentwickeltes Recht als das ungesetzte gute alte, seit jeher gültige und richtige Recht angesehen wurde.79 An das gute alte Recht war auch die Gesetzgebung gebunden, die nicht häufig in Anspruch genommen wurde. Der Gesetzgeber durfte dieses Recht we71  Ebel,

S. 20. in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (14). 73  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (13 f.); Ebel, S.  13 ff. 74  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (14); in diesem Sinne auch Brunner, S.  133 ff. 75  Kern, S.  11 ff.; Brunner, S.  133 ff. 76  Ebel, S.  12 ff. 77  Wagner, Der Richter, S. 45 ff.; Ebel, S.  15 ff.; Ogorek, Richterkönig, S. 15. 78  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 112. 79  Ebel, S.  18 f. 72  Grimm,



B. Testfälle – Deutschland und China145

der aufheben noch abändern, sondern nur aufzeichnen, konkretisieren und fortbilden.80 Eine Rechtsreform oder -besserung durch die Gesetzgebung fand nur selten und in einem sehr begrenzten Umfang statt und musste sich auf die unveränderliche, unanfechtbare moralisch-rechtliche Normenordnung stützen.81 Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung glichen einander darin, dass sie beide an diese Normenordnung gebunden und an deren Fortbildung beteiligt waren. Es gab keine richterliche Unabhängigkeit im modernen Sinne. Die richterliche Unabhängigkeit ist darauf angelegt, das ausdifferenzierte Rechtssystem vor seiner gesellschaftlichen Umwelt zu schützen. Das Recht war aber im mittelalterlichen Deutschland mit der Moral und der Politik verschmolzen. Es gab weder ein ausdifferenziertes Rechtssystem noch ein ausdifferenziertes politisches System. Die Wahrung der moralisch-rechtlichen Normenordnung, der die Rechtsprechung und auch die Gesetzgebung dienten, war eine Hauptfunktion der politischen Herrschaft. „Bei ›politischen Prozessen‹ wegen Treubruchs oder Verrats […] erfahren wir […] häufig, daß der König eine Verurteilung befohlen habe. […] Ohnehin sah sich der König nicht bei allen Gegenständen, die vor ihm durch Urteil entschieden wurden, auf bloße Zustimmung und Vollstreckung beschränkt.“82 Außerdem konnte er in einer außergerichtlichen Streitentscheidung durch die Anordnung der Rückgabe unrechtmäßig entzogenen Gutes in fremde Rechtsverhältnisse eingreifen.83 Urteilsfinder, die sich im Gericht versammelten, das Urteil fanden und das Recht wiesen, bekräftigten dadurch auch ihre traditionelle Moral und ihre religiösen Gebote und demonstrierten ihren politischen Willen. Die Aufgabe der Rechtsprechung wurde von denjenigen, die über moralische oder religiöse Autorität, politische oder sonstige gesellschaftliche Macht verfügten, wahrgenommen. Durch die Rechtsprechung suchten sie auch Gottes Gebote zu befolgen und überlieferte Sitten, Gebräuche oder sonstige traditionelle soziale Strukturen zu bewahren. Zum Beispiel konnte sich der gleiche adlige Herr sowohl an Entscheidungen über politische Angelegenheiten als auch an solche über juristische Streitigkeiten beteiligen. Zwischen ersteren und letzteren Entscheidungen wurde nicht deutlich und nicht immer unterschieden. Weil es an einem zentralisierten, hierarchiebildenden politischen System fehlte, geschahen Eingriffe in die Rechtsprechung in Form von Weisungen, wie etwa die gerade erwähnten Eingriffe des Königs in die Rechtsprechung, 80  Grimm,

in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (15). in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (15); Ebel, S.  19 f.; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 193 ff. 82  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 156 f.; vgl. auch Keller, in: La giustizia nell‘alto medioevo, S. 91 (115 ff.). 83  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 157; vgl. auch Krause, ZRG GA 82 (1965), 1 (83 ff.). 81  Grimm,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

nicht so oft wie in der Frühen Neuzeit. Dennoch waren andersartige Einwirkungen – nicht zuletzt auch seitens eines Gerichtsvorsitzenden auf Urteilsfinder und wechselseitig zwischen Urteilsfindern – wohl oft präsent. Solche Einwirkungen konnten gegebenenfalls einen Richter oder Urteilsfinder zu einer bestimmten Entscheidung zwingen, bedrängen oder manipulieren, insbesondere wenn sie aus einer Person oder Gruppe stammten, die eine starke moralische oder religiöse Autorität, politische oder sonstige gesellschaftliche Macht besaßen, oder wenn sie massiven moralischen Druck erzeugten. Wenn einem Richter oder Urteilsfinder wie etwa einem adeligen Beisitzer doch eine gewisse Entscheidungsautonomie zukam, ist das gerade als Ausfluss und Ausdruck seiner moralischen Autorität, politischen oder sonstigen gesellschaftlichen Macht, nicht wie die richterliche Unabhängigkeit im modernen Sinne als Wahrung der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems gegenüber dessen gesellschaftlicher Umwelt wie etwa der Politik zu betrachten. b) Ausdifferenzierung des Rechts in der Neuzeit Die Ausdifferenzierung des Rechts in Deutschland kam im späten Mittelalter in Gang und entfaltete sich in der Neuzeit, noch bevor die richterliche Unabhängigkeit sich dort in der Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert hat. Im Folgenden wird auf die Entwicklungen oder Erscheinungen eingegangen, die die Ausdifferenzierung des Rechts in Deutschland seit dem späten Mittelalter charakterisierten. In der Positivierung des Rechts (1) kam die Differenzierung zwischen Recht und Moral zum Ausdruck. Die Verwissenschaftlichung des Rechts und die Professionalisierung der juristischen Kompetenz (2) waren ausschlaggebend sowohl für die Differenzierung zwischen Recht und Moral wie auch für die Differenzierung zwischen Recht und Politik. Diese war darüber hinaus noch durch die funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik (3), die rechtstheoretische Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik (4), die Grenzwahrung zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts in der juristischen Hermeneutik (5) und die Anerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis seitens der Politik (6) gekennzeichnet. (1) Positivierung des Rechts Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit veränderte sich das Recht schrittweise aber grundlegend. Der Zusammenschluss von unveränderlichem Recht, unanfechtbarer Moral und unbestrittener Gewohnheit ging zugrunde. Recht wurde einerseits (um-)gestaltbar und änderbar, andererseits gegen Moral und Gewohnheit ausdifferenziert. Der historische Prozess, der dazu



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führte, lässt sich unter das Stichwort Positivierung des Rechts fassen.84 Das Ergebnis dieses Prozesses, die Positivität des Rechts, ist durch zwei miteinander einhergehende und zusammenhängende Aspekte gekennzeichnet. Der erste Aspekt besteht in der Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts und der Kontingenz des Rechts, nämlich darin, dass Recht sich selektieren und umbilden lässt, und dass das geltende Recht, wie Gustav Hugo am Anfang des 19. Jahrhunderts dargelegte,85 nicht das einzig mögliche Recht ist. Der zweite Aspekt besteht in der Unterscheidung von Recht und Moral, nämlich im Kontrast von erzwingbarem Recht und autonomer Moral86 und in der Unterscheidung von moralischer Gerechtigkeit, die an sich keine rechtliche Geltung hat und dem geltenden Recht gegenüber kritisch sein kann, und rechtseigener oder rechtsimmanenter Gerechtigkeit, die durch ein Gewebe von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien konstituiert wird.87 Gustav Hugo brachte auch schon die Positivierung des Rechts mit der Unterscheidung von Recht und Moral in Zusammenhang.88 Luhmann tut dies ebenfalls, indem er die Positivierung des Rechts zur rekursiven Schließung rechtlicher Kommunikationen umformuliert und diese ihrerseits als Schlüssel zur „Ausdifferenzierung eines besonderen Systems rechtlich geschützter Erwartungen aus dem Gesamtfeld gesellschaftlich geläufiger Normenbildun­ gen“89 betrachtet.90 Die Positivierung des Rechts wurde insbesondere an der Entwicklung der Gesetzgebung sichtbar. Ab dem 15. und 16. Jahrhundert erließen die Landesfürsten in ihnen zustehenden und obliegenden Angelegenheiten der guten Policey, nämlich der Fürsorge für Ordnung und Wohlfahrt des Gemein­ wesens,91 immer öfter und umfangreicher Ordnungen wie Policey-, Landesordnungen und Gebote wie Dekrete, Edikte, Reskripte, Mandate.92 Ur84  Vgl. zur Positivierung des Rechts Luhmann, Rechtssoziologie, S.  190  ff., 207 ff.; ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 113 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S.  38 ff.; Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (13 ff.). 85  Hugo, in: Civilistisches Magazin, Bd. 3, S. 92 (97). 86  Oben Erster Teil, B. I. 3. b). 87  Oben Erster Teil, B. I. 3. a). 88  Hugo, in: Civilistisches Magazin, Bd. 3, S. 92 (93): „Die Möglichkeit einer äußern (positiven) Gesetzgebung […] ist für mich der Charakter alles Juristischen, im Gegensatze des Moralischen.“ 89  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S.517. 90  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 38  ff., 517; vgl. auch Stichweh, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 254 (268). 91  Vgl. zum frühneuzeitlichen Begriff Policey Maier, S.  92 ff.; Simon, „Gute Policey“, S.  111 f.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 306 ff.; Bd. 3, S. 81 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 92  Ebel, S.  59 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 306 ff.; S ­ imon, „Gute Policey“, S. 111 ff.

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sprünglich ging es hauptsächlich um die Wahrung der Sitten und die Verwaltung des Rechts. Außerdem sollten policeyliche Ordnungsnormen neben dem eigentlichen Recht stehen und es unberührt lassen. Es gab also einerseits das Recht, das mit der Gerechtigkeit zusammenfiel, nicht zur Disposition des Gesetzgebers stand und im Gericht durch Urteil festgestellt wurde, andererseits policeyliche Ordnungsnormen, die als Gebote der Obrigkeit ergangen waren und deren Befolgung von ihr erzwungen wurde.93 Die Grenze zwischen dem Gebiet der guten Policey und dem des Rechts verwischte sich aber mit der Zeit immer mehr. Denn policeyliche Ordnungsnormen drangen immer intensiver in das Wirtschaftsleben, das soziale Bereich und die Privatsphäre des Untertanen ein. Damit griffen sie immer mehr in das Gebiet des ursprünglichen Rechts ein und gewannen in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens immer mehr Gewicht. Es bestand eine Tendenz dazu, dass das obrigkeitliche Gebot vom neben dem Recht stehenden Gebot zum Rechtsgebot, also zum Recht, wurde94 und dass das Recht vom Gesetzgeber ohne Bindung an eine überlieferte moralischrechtliche Normenordnung gestaltet werden und kraft Entscheidung des Gesetzgebers gelten konnte. Es fand also ein Prozess der Ablösung des Rechts aus einer breiter angelegten moralisch-rechtlichen Ordnung statt. Als Friedrich Wilhelm I. von Preußen im Jahr 1721 das verbesserte Landrecht des Königreichs Preußen erließ, befahl er nicht nur seinen Untertanen im Publikationspatent, dass „sie dieser Unserer Ordnung und Satzung des verbesserten Landrechts in allen Punkten und Artikeln durchaus nachleben“, sondern verbot auch den Richtern, einzelne Vorschriften des Landrechts unter dem „Vorwand“ nicht anzuwenden, dass solche Vorschriften nicht „zur Observanz“ gekommen seien – „weil sie schuldig seyn, Unsere Gesetze zur Observanz zu bringen“. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte der Richter an das Gesetz gebunden sein und die Möglichkeit, ein entgegenstehendes moralisch-rechtliches, insbesondere lokales Herkommen dem Gesetzesrecht vorzuziehen, ausscheiden.95 Einen wichtigen Meilenstein für die Gestaltbarkeit und Entscheidbarkeit des Rechts und die damit zusammenhängende Differenzierung zwischen Recht und Moral stellten die Kodifikationen im 18. Jahrhundert wie etwa das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 dar.96 Die 93  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 79; Willoweit, in: Gesetzesbegriff, S.  123 ff. 94  Ebel, S.  25 ff., 63 ff.; Maier, S.  87 ff. 95  Ebel, S. 71. 96  Vgl. zu den deutschen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 322  ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 66 ff.; Ebel, S.  73 ff.; Dölemeyer, in: Gesetz und Gesetzgebung, S. 201 ff.; zum Preußischen Allgemeinen Landrechts Birtsch / Willoweit (Hrsg.), Reformabsolu-



B. Testfälle – Deutschland und China149

Kodifikationen waren vom Naturrecht, insbesondere vom Naturrecht von Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff, geprägt.97 Zwar handelte sich zu einem großen Teil, doch nicht ausschließlich um eine Bereinigung und „Neufassung des überlieferten Rechts in naturrechtlicher Systematik“98 und eine Vereinheitlichung des Rechts, darüber hinaus aber auch um eine „vernunftgemäße Umgestaltung der Rechtsinhalte“, um eine „Schaffung neuen Rechts aus dem Geiste der Vernunft“.99 Vor allem war der Ansatz der Kodifikationsbemühungen radikal. Das Recht sollte vom Grundsätzlichen her, nämlich aus den Grundprinzipien und -begriffen des Rechts, und diese wiederum aus der Vernunft, der Ratio entwickelt werden.100 Bei aller Beteiligung der Öffentlichkeit an der Suche nach dem vernünftigen Recht101 musste der Gesetzgeber schließlich ein eigenes Urteil bilden, eine Entscheidung treffen und das Gesetz erlassen. Das Gesetz sollte dann kraft Entscheidung des Gesetzgebers gelten. Es sollte gegen das mit traditioneller Moral und Gewohnheit verschmolzene alte Recht, gegen die entgegenstehenden Gewohnheitsrechte und Observanzen gelten, es sei denn, dass ihnen, etwa nach den Regelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts wegen Aufnahme in eine vom Landesherrn bestätigte Provinzialverordnung, eine gesetzliche Kraft zukam.102 Das Gesetz sollte auch unabhängig von unterschiedlichen Auffassungen darüber, was richtiges Recht ist, unabhängig von unterschiedlichen Gerechtigkeitsauffassungen gelten. In dieser Geltung des Rechts kraft gesetzgeberischer Entscheidung kam die Bedeutung der Kodifikationen für die Differenzierung zwischen Recht und Moral zum Ausdruck, erschöpfte sich darin aber nicht. Es ist nicht aus den Augen zu verlieren, dass die Kodifikationen nach naturrechtlicher Systematik Bemühungen im Prozess der Verwissenschaftlichung des Rechts darstellten. Dieser Prozess trug, wie unten noch auszuführen sein wird, entscheidend dazu bei, dass ein von gelehrten Juristen begleitetes und bearbeitetes Recht sich aus einer breiter angelegten moralisch-rechtlichen Normenordnung ausdifferenzierte und von der Moral unterschied.103 tismus; Gose / Würtenberger (Hrsg.), Geschichte des ALR; Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des ALR. 97  Vgl. zum Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts Wolf, Große Rechtsdenker, S.  311 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 306 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 54 ff. 98  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 66. 99  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 66; vgl. außerdem Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 323 f. 100  Ebel, S.  75 f. 101  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 325 f. 102  ALR, Einleitung, §§ 1, 2, 3. 103  Unten Zweiter Teil, B. II. 1. b) (2).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts hing mit dem beschleunigten sozialen Wandel zusammen, und damit verbunden mit der Begrenztheit der überlieferten moralisch-rechtlichen Ordnung. Diese konnte den seit dem Spätmittelalter entstandenen neuen gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden. Das ließ einen Regelungsbedarf entstehen, der die gesetzgeberische Normsetzung forderte und zuließ.104 Auch die Moral veränderte ihre Gestalt durch einen Prozess der Autonomisierung der Moral. Dieser Prozess lief darauf hinaus, dass die eigenständige, kritische moralische Reflexion des Individuums hoch geschätzt wurde, dass überlieferte Moral in den Sog der Problematisierung geriet, dass Moral die ihr traditionell zustehende Berechtigung zum normkonformen Verhaltenszwang verlor, dass die miteinander verschmolzene „Geltung und Faktizität, also die bindende Kraft von rational motivierten Überzeugungen und der auferlegte Zwang äußerer Sanktionen […] inkompatibel auseinander[traten]“105. Die Differenzierung zwischen Recht und Moral lässt sich also nicht nur am Wandel des Rechts, sondern auch am Wandel der Moral beobachten. Der Prozess der Autonomisierung der Moral begann schon mit der Renaissance, dem Humanismus und der Reformation und fand ihren Höhepunkt in aufklärerischen und liberalen Strömungen. Die Aufklärung ermutigte die Individuen, sich – in den Worten von Kant als Großdenker der Aufklärung – aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien und des „eigenen Verstandes zu bedienen“,106 und zwar unter anderem in Bezug auf alle Fragen der Moral, sowohl auf Fragen der Tugendmoral wie auch auf Fragen der Rechtsmoral, der Gerechtigkeit. Es formte sich die Überzeugung, dass die wirkliche Sittlichkeit nicht rechtlich erzwungen, sondern nur durch autonom gewähltes Verhalten erreicht werden könne. Diese Auffassung der individuellen Freiheit als „Bedingung menschlicher Sinnerfüllung“107 wurde durch die neue liberale Wirtschaftstheorie unterstützt. Diese nahm an, dass die gleiche Freiheit aller zuverlässiger zu Wohlstand und Gerechtigkeit führe als zentrale Steuerung oder durchgängige Bindung. Mit der Autonomisierung der Moral entstand der Kontrast von erzwingbarem Recht und autonomer Moral. Die traditionelle Verschmelzung von Recht und Moral löste sich auf. Dringender denn je waren die Menschen zur Gewährleistung eines geordneten Zusammenlebens auf den staatlichen Gesetzgeber angewiesen, der für alle Betroffenen verbindliche rechtliche Entscheidungen traf, 104  Ogorek, Richterkönig, S. 18; Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (15 f.). 105  Habermas, S. 43; vgl. allgemein zur Autonomisierung der Moral oben Erster Teil, B. I. 3. a) und b); zu Verhältnissen vor der Autonomisierung der Moral oben Zweiter Teil, A. I. 2. 106  Kant, in: Kants gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 33 (35). 107  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (12).



B. Testfälle – Deutschland und China151

die in ihrer Durchsetzung im Gegensatz zu Moral durch politische Macht gedeckt wurden. Bis zur Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts haben aufklärerische und liberale Strömungen in doppelter Weise zur Differenzierung zwischen Recht und Moral entscheidend beigetragen. Sie haben einerseits die Autonomisierung der Moral forciert, andererseits die Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung anerkannt und weiter vorangetrieben. Durch sie wurde die Gesetzgebung bedeutender als jemals zuvor. Die Verwirklichung der bürgerlichen politischen und sozialen Ordnung war auf eine Rechtsreform größten Ausmaßes durch die Gesetzgebung angewiesen.108 Die Rechtsordnung muss von durchgängiger Bindung auf Freiheit als grundlegendes Ordnungsprinzip, von Ungleichheit der Stände auf Rechtsgleichheit aller Gesellschaftsglieder, von Pflichten als Mittel zur Verwirklichung eines material determinierten Gerechtigkeits- und Gemeinwohlideals auf Rechte als Ausdruck und Form der Freiheit, von Monarchensouveränität auf Volkssouveränität umgestellt werden.109 Obwohl die absoluten Landesfürsten schon die Befugnis zur Rechtsetzung beansprucht hatten, war diese Befugnis „nicht als höchste und selbständige landesherrliche Gewalt ausgegeben worden“, sondern, an die mittelalterliche Tradition anknüpfend, „als Annex oder Bestandteil der dem Landesherrn unbestritten zustehenden höchsten Gerichtsbarkeit“.110 Erst die bürgerliche Gewaltenteilungslehre erhob „die gesetzgebende Gewalt zum Range einer selbständigen höchsten Staatsfunktion“111. Nach der Gewaltenteilungslehre sollte der Gesetzgeber, und zwar nur der Gesetzgeber, kraft seiner Entscheidung Recht setzen und ändern können. Der Liberalismus ging von der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft aus.112 In der Gesellschaft sollte es möglichst große, für alle gleiche Freiheit herrschen, einschließlich der Freiheit, eigene Moralvorstellungen zu entwickeln, zu verbreiten und danach zu handeln. Die Entscheidung über das für alle verbindliche Recht, das die individuelle Freiheit um der gleichen Freiheit aller willen zu begrenzen hatte, sollte aber nicht bei den Privatpersonen liegen, sondern nur von der öffentlichen Gewalt, genauer gesagt von der gesetzgebenden Gewalt, die von den gewählten Repräsentanten des Volkes auszuüben war, durch das 108  Grimm, 109  Näher

1. c).

110  Ebel,

in: Die Verfassung und die Politik, 8, S. 13 (19 f.). zur bürgerlichen Sozial- und Rechtsordnung unten Zweiter Teil, B. IV.

S. 69. S. 69. 112  Vgl. Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (13 ff.), S. 53 (59 f.); ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 31 (45  f.); Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S.  209 ff. 111  Ebel,

152

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

allgemeine Gesetz getroffen werden. An das Gesetz sollten die Verwaltung und die Rechtsprechung gebunden sein. Eine Gesellschaft tritt nach Kant zum Beispiel aus dem rechtlosen Naturzustand aus und befindet sich im Rechtszustand erst, wenn in ihr Rechte und Pflichten des Einzelnen von der positiven Gesetzgebung bestimmt werden.113 Die Verfassungsbewegung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts brachte die Positivierung des Rechts und die Differenzierung zwischen Recht und Moral vollends zur Geltung. Mit der Einführung der Verfassung wollte man die Entstehungs- und Geltungsbedingungen des Gesetzes regeln, die Gesetzgebung wiederum normieren und begrenzen. Die Verfassung schaltet die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts aber nicht aus, sondern „zieht ihr nur einen Rahmen“.114 Dem Gesetzgeber steht gerade von Verfassung wegen ein großer Gestaltungsspielraum zu. Außerdem ist die Verfassung ihrerseits positives Recht, gilt kraft Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers und lässt sich wieder ändern.115 Die Verfassung als Geltungsbedingung des Gesetzes bedeutet deswegen nicht die Bestimmung des Rechts durch moralische Gerechtigkeit, sondern die Bestimmung des Rechts durch rechtseigene Gerechtigkeit, die Selbstreferenz und Selbstbestimmung des Rechtssystems, also die Geschlossenheit und Autonomie des Rechtssystems. Die Verfassung „bringt […] zum Ausdruck, daß alles Recht im Rechtssystem selbst zu verantworten sei“.116 (2) V  erwissenschaftlichung des Rechts und Professionalisierung der juristischen Kompetenz Die Verwissenschaftlichung des Rechts117 wurde in Deutschland ab dem Spätmittelalter mit der Entwicklung des kanonischen Rechts und vor allem mit der Rezeption des römischen Rechts in Gang gebracht. Die Rezeption ist im Kontext der Verwissenschaftlichung des Rechts zu verstehen. Was die durch die Rezeption des römischen Rechts herbeigeführten Veränderungen angeht, ist die Ausbildung eines spezifisch fachjuristischen Diskurses viel wichtiger als die Übernahme der Normen und Institutionen des römischen Rechts.118 In der Tat erhielten sich einerseits „die Institutionen und Grundsätze des heimischen Rechts überall dort, wo sie rechtzeitig von der roma113  Kant,

RL, § 42 ff. in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (21). 115  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (20 f.). 116  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 474. 117  Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 131) spricht von „Verwis­ senschaftlichung des deutschen Rechtswesens“ oder „Verwissenschaftlichung des Rechtslebens“. 118  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 131 f. 114  Grimm,



B. Testfälle – Deutschland und China153

nistischen Wissenschaft erläutert, wissenschaftlich umgedeutet oder neu kodifiziert wurden“.119 Ein Beispiel dafür war das sächsische Recht. Dieses wurde durch die gelehrten Glossierungen zum Sachsenspiegel auch für den gelehrten Richter anwendbar, konnte sich trotz der Rezeption des römischen Rechts erhalten und weiterentwickeln.120 Andererseits konnte man angesichts neuer gesellschaftlicher Verhältnisse neue Rechtsgebilde entwickeln, die dem römischen Recht unbekannt waren.121 Die Verwissenschaftlichung des Rechts war von der Ausbildung des Juristenstandes begleitet, durch die Professionalisierung der juristischen Kompetenz122 gekennzeichnet. Ihre Träger waren zuerst gelehrte Klerikerjuristen und dann auch gelehrte profane Juristen. Schon im Spätmittelalter war der Jurist in Deutschland „ein vom öffentlichen Bewusstsein registriertes Berufsbild“.123 Dort gab es ein Rechtsstudium aber bis zum 14. Jahrhundert nur an den Ordenschulen der Dominikaner und Franziskaner. Deshalb studierten deutsche Juristen, darunter überwiegend Kleriker, zuerst vor allem an Universitäten in Italien als Geburtsort der romanistischen und der kanonischen Rechtswissenschaft und in Frankreich.124 Sie waren im kanonischen und / oder römischen Recht ausgebildet. Sie waren dann in der kirchlichen Rechtspflege als Offiziale, nämlich beamtete Richter, als Prokuratoren oder Advokaten, als Schreiber oder Notare tätig.125 „In […] dem Offizial […] tritt uns zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ein rechtsgelehrter Richter gegenüber.“126 Gelehrte Juristen waren auch im Dienst der Fürsten und Städte, wie etwa in fürstlichen Kanzleien, als fürstliche Räte oder Stadtschreiber, tätig.127 Mit den Universitätsgründungen in Deutschland seit dem Ende des 14. Jahrhunderts entstanden auch die von juristischen Professoren erstatteten Rechtsgutachten.128 Darüber hinaus nahmen Bemühungen von gelehrten Ju119  Wieacker,

Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 151. Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 54 f.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 123; Coing, Römisches Recht, S. 177 ff. 121  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 3; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 240 ff. 122  Vgl. zur Ausbildung des Juristenstandes beziehungsweise Professionalisierung der juristischen Kompetenz seit dem Spätmittelalter Dilcher, in: Wirkungen europäi­ scher Rechtskultur, S. 163 ff.; Ranieri, Ius Commune 13 (1985), 83 ff. 123  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 118. 124  Coing, Römisches Recht, S. 45  ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 43. 125  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 15 ff., 29 ff.; Coing, Römisches Recht, S. 79 ff.; Trusen, in: Gelehrtes Recht, S. 343 ff. 126  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 15. 127  Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts, S. 209 ff., 222 ff.; Coing, Römisches Recht, S.  86 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 42. 128  Coing, Römisches Recht, S. 208 ff. 120  Kroeschell,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

risten um die wissenschaftliche Bearbeitung einheimischer Rechtsquellen wie etwa die gerade erwähnten Glossierungen zum Sachsenspiegel nachhaltigen Einfluss. Der Jurist, insbesondere der Klerikerjurist, hat also in Deutschland schon im späten Mittelalter eine beachtliche Rolle gespielt. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden rechtsgelehrte Nichtkleriker immer mehr und immer bedeutender. Die Entstehung und Wirksamkeit des profanen Juristenstandes ging mit dem Vordringen der gelehrten Rechtsprechung in weltliche Gerichtsbarkeiten einher. Dies war wiederum der Schlüssel zu der praktischen Rezeption, der durch den Gerichtsgebrauch entstandenen Rezeption des römischen Rechts. Bei dieser Strukturveränderung bildete die Errichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495 zugleich „einen ersten Kulminationspunkt und einen zentralen Be­ schleu­ ni­ gungs­faktor“.129 Das Reichskammergericht verhandelte und urteilte nach dem römischen Recht. Es war zur Hälfte mit Juristen, zur anderen Hälfte mit Adligen besetzt. Diese sollten aber möglichst auch rechtsgelehrt sein.130 Nach dem Vorbild des Reichskammergerichts errichteten oder reorganisierten die Landesfürsten ihre Hofgerichte und Kammergerichte, in denen gelehrte Juristen immer größeres Gewicht gewannen,131 während ihre Kanzler und Räte oft als Appellationsinstanz fungierten und diese Ämter auch immer mehr mit studierten Juristen besetzt wurden.132 In die städtischen Schöffenstühle zogen Juristen ebenfalls ein.133 Bei der Betrachtung der gelehrten Rechtsprechung ist außerdem die Spruchpraxis der Juristenfakultäten nicht zu übersehen. Seit dem 16. Jahrhundert wurde es üblich, dass das Spruchkollegium einer Juristenfakultät, auf seiner wissenschaftlichen Autorität beruhend, einem anfragenden Gericht auf Aktenversendung hin ein verkündungsreifes Urteil lieferte.134 Der darin zum Ausdruck kommende Dialog zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung geschah auch durch die Entscheidungsliteratur, in der gerichtliche Entscheidungen dokumentiert und kommentiert wurden.135 Es ist bemerkenswert, dass die Professionalisierung der juristischen Kompetenz und die Verwissenschaftlichung des Rechts in Deutschland mit der 129  Ranieri, in: LexMA, Bd. 7, Sp. 1014 (1015); vgl. allgemein zum Reichskammergericht Diestelkamp, Recht und Gericht, S. 185 ff.; ders. (Hrsg.), Das Reichskammergericht. 130  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 176. 131  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 178 f.; Döhring, S. 4. 132  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 209. 133  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 180. 134  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 181 f.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 50 ff. 135  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 290 ff.; vgl. außerdem Gehrke, Entscheidungsliteratur.



B. Testfälle – Deutschland und China155

Entstehung des Staates, nämlich mit den landesfürstlichen Bemühungen um die Vereinigung der Hoheitsrechte, darunter auch der zahlreichen, sich im adeligen Besitz befindenden Gerichtsbarkeiten, voranschritten. Das lag daran, dass die Landesfürsten – aufgrund welcher Motive auch immer – viel aktiver als die anderen adligen Gerichtsherren an dem Ziel arbeiteten, das Richteramt mit einem gelehrten und geprüften Juristen zu besetzen und die Qualität der Rechtsprechung zu verbessern. Dieses Ziel durchzog zum Beispiel die preußischen Justizreformen im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieses Ziel hatte der preußische Staat im Auge, wenn er die Immediat-Justiz-Examinations-Kommission als zentrales Prüfungsgremium für alle Anwärter auf Richterstellen in den Obergerichten im Jahre 1755 einrichtete,136 wenn er in der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verwaltung der Domänen- und Patrimonialgerichte den Domänenpächtern und Gutsherren allmählich wegnahm und an sich zog,137 wenn die Domänenjustiz vom Jahre 1764 bis 1770 verstaatlicht,138 eine obergerichtliche Approbation für die Patrimonialrichter seit dem Jahre 1815 eingeführt139 und die Patrimonialgerichtsbarkeit schließlich im Jahre 1849 endgültig abgeschafft wurde.140 Charakteristisch für die von der Professionalisierung der juristischen Kompetenz begleitete Verwissenschaftlichung des Rechts war die Bildung eines Reservoirs von Rechtsbegriffen, -regeln, -prinzipien und Auslegungsmaximen, die dauerhaft immer wieder erlernt, verwendet, miteinander in Beziehung gesetzt, modifiziert, weiter- oder neu entwickelt wurden.141 Die Erörterung und Entscheidung von Rechtsfällen auf der Grundlage eines solchen Reservoirs wurden dauerhaft, nicht nur temporär und breit, nicht nur vereinzelt praktiziert. Man verließ sich nicht mehr einfach auf die unreflektierte Erfahrung oder Gewohnheit oder auf das emotionale Gerechtigkeitsempfinden. Es wurde nicht ad hoc und ad hominem, sondern auf begriffliche Konsistenz und Systematisierung des Rechtsstoffs hin argumentiert. Es entstanden mit der Zeit dann eine spezifisch juristische Geschichte und Evolution sowie eine rechtseigene oder rechtsimmanente Gerechtigkeit, die sich von rein moralischer Gerechtigkeit unterschied.142 Das Recht verselbständigte sich aus der breiter angelegten moralisch-rechtlichen Ordnung. 136  Sieg,

S. 141. S.  30 ff., 79 ff. 138  Wienfort, S. 31. 139  Wienfort, S.  121 ff. 140  Wienfort, S.  322 ff. 141  Vgl. allgemein zu juristischer Argumentation mit Begriffen, Regeln und Prinzipien oben Erster Teil, B. I. 2. c) (2). 142  Vgl. zu rechtseigener oder rechtsimmanenter Gerechtigkeit oben Erster Teil, B. I. 3. a). 137  Wienfort,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Bemühungen um Systematisierung kamen in der Zeit der Rezeption des römischen Rechts unter anderem darin zum Ausdruck, dass die interpretatio extensiva als Interpretationstopos anerkannt wurde, nämlich dass die Normen des gemeinen Rechts nach dem Prinzip des procedere de similibus ad similia ausdehnend auf ähnliche Sachverhalte angewandt wurden.143 Zur begrifflichen Konsistenz und Systematisierung des Rechtsstoffs trug es auch bei, dass Partikularrechte im Sinne des gemeinen Rechts und in Konkordanz mit dem gemeinen Recht interpretiert wurden.144 Die Natur- oder Vernunftrechtslehre der Neuzeit trieb die Verwissenschaftlichung des Rechts weiter voran. Denn sie widmete sich der vernunftgemäßen begrifflich-systematischen Begründung des Rechts. Sie brachte die großen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts hervor. Ihre vernunftgemäße Reflexion über das Recht hat den juristischen Diskurs in doppelter Weise bereichert und vertieft, einmal durch die Bereinigung und Neufassung des römischen Rechts, zum anderen durch die Ermutigung zum Rückgriff auf nichtrömische Rechtssätze und Institutionen.145 Von ihrer begrifflich-systematischen Begründung des Rechts beeinflusst, wurden in der Fachjurisprudenz die Begriffsbildung und die Systematisierung des Rechtsstoffs stärker denn je forciert.146 Um die Wende zum 19. Jahrhundert sahen sich Universitätsfächer durch die Kantsche Neubestimmung von Wissenschaft mit der Frage nach ihrer Legitimation als Wissenschaften konfrontiert. Es stellte sich die Aufgabe der Erneuerung der Rechtswissenschaft.147 Dieser Aufgabe wollte die zu Anfang des 19. Jahrhunderts von Gustav Hugo und Friedrich Carl von Savigny ins Leben gerufene historische Rechtsschule gerecht werden, und zwar durch die Überwindung der Spannung zwischen Geschichte und Philosophie und des „Dualismus zwischen antiquarisch-praktischer Jurisprudenz und vernunftrechtlicher Spekulation“148. Sie wollte eine Wissenschaft des positiven Rechts entwickeln, die einerseits zur Ermittlung des gegebenen Rechtsstoffs historisch, andererseits zur Systematisierung des Rechtsstoffs philosophisch vorgehen sollte.149 Sie wendete sich nicht gegen die Begriffs- und Systembildung an sich, sondern nur gegen die von der geschichtlichen Entwicklung und Kulturtradition absehende geistlose Abstraktion. Sie widmete sich in der Tat zu einem großen Teil der begrifflich143  Raisch,

S. 24 f.; vgl. auch Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 65 ff. S.  178 f.; Wiegand, in: Akten, S. 237 (241); Trusen, in: Rechtsbewahrung und Rechtsentwicklung, S. 97 (107 ff.). 145  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 275. 146  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 275 f. 147  Schröder, Wissenschaftstheorie, S.  82 ff. 148  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 379. 149  Dazu und zum Folgenden Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S.  348 ff.; 377 ff. 144  Melin,



B. Testfälle – Deutschland und China157

systematischen Durchdringung des positiven Rechts. Am Vorabend der Etablierung der richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts konnte man also schon auf reiche rechtsdogmatische Errungenschaften und eine vielfältige Geschichte der Rechtswissenschaft zurückblicken. Mit der Bildung und Verwendung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien etablierte sich das Konditionalprogramm, das durch die WennDann-Struktur gekennzeichnet ist und Bedingungen vorschreibt, von denen abhängt, ob etwas Recht oder Unrecht ist.150 Die Auslegung und Anwendung des Konditionalprogramms und die Subsumtion des Sachverhalts unter das Konditionalprogramm151 wurden zur Grundstruktur der Rechtsprechung. Rechtserhebliche Tatbestände hoben sich aus komplexen aber anschaulichen natürlichen Sachverhalten152 und Rechtskonflikte aus Alltagskonflikten ab.153 Aus den vorstehenden Ausführungen geht hervor, dass die Verwissenschaftlichung des Rechts und die mit dieser zusammenhängende Professionalisierung der juristischen Kompetenz in Deutschland schon vor der Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Ausdifferenzierung des Rechtssystems stark vorangetrieben hat. Durch die Verwissenschaftlichung des Rechts hat die juristische Argumentation mit systematisch herausgearbeiteten und kohärent verwendeten Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien ihre Form und Gestalt gefunden und eine zentrale Bedeutung in der Rechtsfindung erlangt, und rechtserhebliche Tatbestände haben sich aus natürlichen Sachverhalten ausgesondert. Durch die Professionalisierung der juristischen Kompetenz war ein Stand von Juristen entstanden, die juristisches Können erlernt, entwickelt und weitergegeben, dem Code Recht / Unrecht und der juristischen Argumenta­ tion gesellschaftliche Geltung verschafft haben. Damit hat sich ein Netz von aufeinander bezogenen rechtlichen Kommunikationen aus allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikationen, sowohl gegenüber moralischen als auch gegenüber politischen Kommunikationen, ausdifferenziert.

150  Vgl. zum Konditionalprogramm Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 84, 195 ff.; ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 140 ff. 151  Die juristische Subsumtion lässt sich in Form eines logischen Schlusses darstellen, erschöpft sich darin aber nicht; vgl. Neumann, in: Einführung, S. 298 (299, 303, 312), S. 333 (344). 152  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 188. 153  Vgl. zum Verhältnis des Rechts zur Konfliktlösung oben Erster Teil, B. I. 1. c).

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(3) F  unktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik Im Mittelalter war das Recht mit der Politik verschmolzen. Es gab weder ein ausdifferenziertes Rechtssystem noch ein ausdifferenziertes politisches System. Das einem solchen System eigentümliche große Kontingenzpotenzial154 besaß die politische Herrschaft nicht. Als ihre Hauptaufgabe galt die Wahrung des Rechts, der sowohl die Rechtsprechung wie auch die Gesetzgebung dienten.155 In der Frühen Neuzeit stand die Sorge für die gute Policey aber dann im Fokus der Obrigkeiten. Die gute Policey stand für die gute Ordnung eines Gemeinwesens insgesamt.156 Sie wurde als Leitmotiv obrigkeitlichen Handelns in Gesetzgebung und Verwaltung vom Bereich der Justiz abgegrenzt.157 Während die Justiz den Individuen Rechtsschutz gewährte, stand die gute Policey für das Gemeinwohl. Es ging bei der Justiz in erster Linie um die Wahrung des geltenden Rechts, bei der policeylichen Tätigkeit dagegen vor allem um eine sachbezogene, zielgerichtete Bewältigung gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen wie etwa die Sicherung des territorialen Friedens und die Regulierung der Wirtschaft.158 In Abgrenzung zu der justiziellen Tätigkeit nahmen die Landesfürsten für sich das ius politiae in Anspruch: das Recht, durch Gesetzgebung und Verwaltung aktiv auf die gute Policey hinzuwirken.159 Dadurch wurde ihr Spielraum bei der Gestaltung des Gemeinwesens erweitert und ihre Macht gestärkt. Es entstand also eine funktionale Trennung von Justiz einerseits und Policey, Verwaltung oder Politik andererseits. Diese Trennung spiegelte sich auch darin wider, dass das Fach der Politik sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin profilierte und unter anderem gegenüber der Jurisprudenz inhaltlich und methodisch abgrenzte,160 und dass die Kameralwissenschaft, die die politischen Handlungslinien nach ökonomischen Grundsätzen entwickelte, im 18. Jahrhundert aufkam und sich etablierte.161 Die 154  Vgl.

oben Erster Teil, B. I. 2. c) (3). Zweiter Teil, B. II. 1. a). 156  Vgl. zum frühneuzeitlichen Begriff Policey Maier, S.  92 ff.; Simon, „Gute Policey“, S.  111 f.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 306 ff.; Bd. 3, S. 81 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 157  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 306. 158  Vgl. zu politischen Ordnungsleitbildern und Zielvorstellungen in der Frühen Neuzeit Simon, „Gute Policey“, S. 91 ff. 159  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 81; Ogorek, Richterkönig, S. 18. 160  Simon, „Gute Policey“, S. 345 ff. 161  Simon, „Gute Policey“, S. 440 ff. 155  Oben



B. Testfälle – Deutschland und China159

disziplinäre Verselbständigung der theoretischen Politik und die Entstehung und Etablierung der Kameralistik wiesen auf die Trennung „spezifisch politischer Argumentationsformen, Denkweisen und Handlungsstrategien von denjenigen des Rechts und der Jurisprudenz [hin]: Das Führen und Lenken eines Gemeinwesens wurde nun als ein gegenüber der Rechtsprechung andersartiger und von ihr abgehobener Funktionsbereich empfunden, der andere Kenntnisse und persönliche Anforderungen verlangte als diejenigen, die beim Umgang mit dem Recht mitgebracht werden mußten.“162 Entsprechend der funktionalen Trennung von Justiz und Politik vollzog sich in der Frühen Neuzeit in Deutschland auch die organisatorische Ausdifferenzierung der Justiz aus dem territorialstaatlichen Behördengefüge und damit die Aufgabentrennung zwischen den Justiz- und Verwaltungskolle­ gien. Hofräte und Regierungen, die ursprünglich sowohl als Rechtsprechungs- wie auch als Exekutivorgane tätig waren, wurden von ihren justi­ ziellen Aufgaben absorbiert und von Regierungs- und Verwaltungstätigkeiten entbunden. Diese übernahmen Geheime Räte, Kammer- und Polizeibehörden.163 Außerdem wurden Hofgerichte, Kammergerichte und Oberappella­ tionsgerichte als Obergerichte errichtet oder reorganisiert.164 Schließlich trat durch die Strukturierung der Justizbehörden und die Neuordnung des Instanzenzuges ein eigenständiges Gerichtsgefüge hervor, das sich vom Verwaltungsgefüge abhob.165 Mit dieser organisatorischen Trennung von Justiz und Politik schritt die oben beschriebene Professionalisierung der juris­ tischen Kompetenz voran. Weil die funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik in der Frühen Neuzeit entstand, gab es in dieser Zeit und bis in das 19. Jahrhundert hinein lebhafte Debatten darüber, wie man zwischen Justizsachen einerseits und Policey- oder Administrativsachen andererseits unterscheiden sollte. Egal, welchen Standpunkt man in solchen Debatten einnahm, die funktionale und organisatorische Trennung wurden dabei in der Regel vorausgesetzt. Auch die Befürwortung für den Ausschluss öffentlich-rechtlicher Angelegenheiten von der Kompetenz der Gerichtsbarkeit setzte diese Trennung voraus. Rotteck etwa, der für eine Beschränkung der Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit auf bürgerliche Streitigkeiten und Strafsachen plädierte, arbeitete die Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik scharf heraus.166 162  Simon,

„Gute Policey“, S. 351 f. Richterkönig S. 29 f.; Willoweit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, S. 289 (310, 314); Döhring, S. 4. 164  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 178 f.; Döhring, S. 4, 27 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 41. 165  Vgl. zur Entstehung einer eigenständigen Gerichtsstruktur in Preußen Sieg, S.  111 f. 166  Näher gleich unten Zweiter Teil, B. II. 1. b) (4). 163  Ogorek,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Es ist hervorzuheben, dass in Deutschland nicht nur die sachgerechte Wahrnehmung der Rechtsprechungsaufgabe, sondern auch die Erweiterung des politischen Spielraums und die Entfaltung der politischen Macht die funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik erforderten. Denn dem Recht kam im Mittelalter und in der Neuzeit, wie unten noch näher ausgeführt wird, eine große gesellschaftliche Bedeutung zu.167 Die Rechtsprechung, die der Wahrung des Rechts diente, wurde hochgeschätzt. Auch die politische Herrschaft fungierte im Mittelalter weitgehend als Garant der Rechtspflege. Wollte die Politik unter diesen Umständen ihr Machtpotenzial entfalten und eine eigenständige Bedeutung haben, musste sie sich einen anderen Aufgabenbereich als Justiz, nämlich den Bereich der guten Policey und des Gemeinwohls, erschließen und funktional wie organisatorisch von der Justiz abgrenzen. Die funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik, die der richterlichen Unabhängigkeit den Weg bereitete, war also in Deutschland notwendig für die Machtentfaltung und den Bedeutungszuwachs der Politik, die im Mittelalter nicht nur mit dem Recht verschmolzen war, sondern auch als Diener des Rechts unter dem Recht stand.168 Zur Stärkung ihrer Macht mussten die Landesfürsten sich einerseits auf die funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik einlassen, die der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit voraussetzt, haben sich aber andererseits den Eingriff in die Rechtsprechung vorbehalten, gegen den der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sich richtet. (4) R  echtstheoretische Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik Juristen bemühten sich seit der Wende zum 19. Jahrhunderts verstärkt um eine rechtstheoretische Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik insbesondere im Zusammenhang des Streites um die Abgrenzung der Kompetenz von Justiz und Verwaltung,169 obwohl die Antwort auf die Frage der Kompetenzabgrenzung unterschiedlich gegeben wurde und manche Aussagen über die Art und Weise, wie die Trennungslinie von Rechtsprechung und Politik zu ziehen war, problematisch sein könnten. Trotz aller Differenzen waren sich führende Juristen weitgehend einig, dass es bei der rechtsprechenden Tätigkeit ausschließlich um das Erkennen, die Handhabung und die Wahrung des Rechts sowie die Gewährung des Rechtsschutzes im 167  Unten

Zweiter Teil, B. IV. 1. Zweiter Teil, B. IV. 1. a). Anders im alten China, vgl. unten Zweiter Teil, B. IV. 2. a). 169  Ogorek, Richterkönig, S. 280 ff. 168  Unten



B. Testfälle – Deutschland und China161

Einzelfall gehe, nicht um Zweckmäßigkeits-, Gemeinwohl- und sonstige politische Erwägungen, die bei der Gesetzgebungs-, Regierungs- und Verwaltungstätigkeit vorkommen.170 Mittermaier, der zuerst als Justizstaatsanhänger eine umfassende Justizzuständigkeit und die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns plädierte, später aber von dieser Position abrückte und die Forderung nach Justizkompetenz in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten aufgab,171 führte aus: „Es ist dies gerade die Natur der Justiz, daß sie ohne eine Nebenrücksicht, ohne den einzelnen Fall im Zusammenhange mit dem Wohl des Ganzen zu würdigen, nur den einzelnen Fall für sich betrachtet, und, indem sie bloß das, was schon Gesetz ist, berücksichtigt, das Gesetz selbst handhabt.“172 „Mag der dem Gerichte vorgelegte Fall mit noch so vielen Verwaltungsrücksichten zusammenhängen, noch so großen Einfluß auf das Wohl des Staats haben, […] so findet doch der Richter […] leicht die juristische Entscheidung, da sie sich nicht auf das Wohl des Staats oder auf Prüfung der Zweckmäßigkeit einläßt, sondern blos darin besteht, daß nach den bestehenden Gesetzen der Kläger in seinen erworbenen Rechten verletzt sey.“173 Nach Pfeiffer, einem energischen Justizstaatsverfechter, befindet das Gericht über die Rechtmäßigkeit von Geschehenem nur zum Zweck der Rechtswahrung, während die Verwaltung nach Zweckmäßigkeit von Zukünftigem handelt und auf das Gemeinwohl hinwirkt.174 Rotteck, der eine Beschränkung der Zuständigkeit der Gerichtsbarkeit auf bürgerliche Streitigkeiten und Strafsachen und eine verwaltungsinterne Streitbereinigung in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten verteidigte, arbeitete die Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik scharf, aber nicht unproblematisch heraus. Nach ihm hat „das Gericht durchaus kein anderes Interesse, als daß nach Recht entschieden werde“.175 „Das Erkennen des Rechtes ist blos eine Funktion des Verstandes, kein Willensakt“176, „blos eine logische Funktion, durchaus kein Akt einer Gewalt, also auch nicht der Staatsgewalt. Der Richter befiehlt nicht, sondern er erkennt; er ist ein Kunstverständiger, auf dessen Ausspruch die Staatsgewalt compromittirt, der aber selbst keinen Willen, sondern bloses Urtheil hat.“177 Obwohl diese Äußerungen heutzutage wohl auf Skepsis oder Ablehnung stoßen, ist der 170  Ogorek,

Richterkönig, S. 299 ff. Richterkönig, S. 285 f., 316 ff. 172  Mittermaier, AcP 4 (1821), 305 (314). 173  Mittermaier, AcP 4 (1821), 305 (313). 174  Pfeiffer, Practische Ausführungen, Bd. 3, S. 186 ff.; Bd. 4, S. 114. 175  Rotteck, in: Staats-Lexikon, Bd. 8, S. 3 (19). 176  Rotteck, Vernunftrecht, Bd. 2, S. 305. 177  Rotteck, Vernunftrecht, Bd. 2, S. 215. 171  Ogorek,

162

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

zugrunde liegende Kerngedanke, die Judikative durch die rationale, objektive und neutrale Beurteilung nach dem geltenden Recht, die Legislative und die Exekutive dagegen durch Macht und freies Ermessen zu charakterisieren, bei einer angemessenen Interpretation – wie der im Vorstehenden angestellten Interpretation178 – durchaus haltbar. (5) G  renzwahrung zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts in der juristischen Hermeneutik In der Neuzeit zielte die Gesetzgebung nicht mehr nur auf die Aufzeichnung, Konkretisierung und Fortbildung des überlieferten Rechts, sondern auch auf die Umgestaltung des Rechts und die Schaffung neuen Rechts,179 und nicht nur auf die Wahrung der Gerechtigkeit, sondern auch auf die Förderung des Gemeinwohls.180 Die Gesetzgebung diente nun als Ort der Transformation von Politik in Recht. In ihr stand der Zusammenhang, nicht die Differenzierung zwischen Recht und Politik im Vordergrund.181 Diese Differenzierung musste auf eine Rechtsprechung angewiesen sein, die sich ausschließlich der Wahrung des geltenden Rechts widmete und die Grenze zwischen Auslegung des geltenden Rechts und Schaffung neuen Rechts wahrte. Die Wahrung dieser Grenze bedeutet nicht, gestaltende und schöpferische Elemente aus der Rechtsprechung auszuschließen, sondern keine neue Regel aufzustellen, die sich nicht mit dem geltenden Recht begründen lässt und in diesem einen Rückhalt findet.182 Ohne die Abgrenzung der Rechtsauslegung von der Rechtsetzung gibt es keine Differenzierung zwischen Recht und Politik. Seit der späten Frühneuzeit fand die Grenzwahrung zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts in der juristischen Auslegungstheorie immer mehr Beachtung. Dort wurde die rechtsprechende Tätigkeit meistens nicht als automatische Vollzugsmechanik konzipiert. Man unterstrich zwar nicht so sehr wie heute, ignorierte aber auch zumeist nicht, dass die Normanwendung unvermeidlich Zweifelsfragen aufwirft, die vom Richter durch Interpretation beantwortet werden müssen, dass der Richter ohne eigene Konkretisierung des Rechts nicht auskommt. In der juristischen Hermeneutik im 18. Jahrhundert und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine unrealis178  Oben

Erster Teil, B. IV. 1. und 2. die obigen Ausführungen zur Positivierung des Rechts im Zweiten Teil, B. II. 1. b) (1). 180  Vgl. zur Sorge für die gute Policey als Leitmotiv der Gesetzgebung oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (3). 181  Oben Erster Teil, B. I. 2. a). 182  Oben Erster Teil, B. I. 2. b) (2). 179  Vgl.



B. Testfälle – Deutschland und China163

tische Rechtsbindung, die den Richter in die Rolle eines Subsumtionsautomaten versetzte, zumeist nicht gefordert. Um den Richter davor zu bewahren, in die Rolle eines Richterkönigs zu geraten,183 erkannte man die Rechtsbindung an und grenzte die Rechtsauslegung von der Rechtsetzung ab. Man verband das aber meistens mit der Einräumung eines gewissen Gestaltungsspielraums des Richters. Diese Verbindung wurde durch das Interpretationsschema Grammatik / Logik ermöglicht.184 Das Interpretationsschema Grammatik / Logik wurde um die Wende zum 18. Jahrhundert von Christian Thomasius und Justus Henning Boehmer in die juristische Hermeneutik eingeführt und beherrschte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bis ins 19. Jahrhundert hinein das Terrain. Es fasste alle Rechtsauslegung in zwei Kategorien, nämlich in der grammatischen und logischen Auslegung, zusammen.185 Damit wurde der juristischen Auslegung im Gegensatz zur vorherigen Unüberschaubarkeit mannigfaltiger Interpretationstopoi ein klares Strukturprinzip eingezogen.186 Bei der grammatischen Auslegung beschäftigte sich der Interpret mit dem Wortlaut oder Wortsinn der Norm. Die logische Auslegung bezog sich nicht auf den modernen Logikbegriff, nicht auf die rein formale Denkoperation des Ableitens aus vorgegebenen Prämissen, sondern orientierte sich am herkömmlichen, bis ins 18. Jahrhundert vorherrschenden Logikbegriff.187 Dieser bezeichnete ein „philosophisch-inhaltliches Argumentationsverfahren mit dem Ziel der Darlegung von ‚wahrscheinlichen Wahrheiten‘“188. Die logische Auslegung zielte auf die Erforschung der ratio legis (Zweck des Gesetzes) und der voluntas legislatoris (Wille des Gesetzgebers). Die antagonistische Unterscheidung zwischen dem historisch-konkreten Willen des Gesetzgebers und dem objektiv-abstrakten Willen des Gesetzes, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Auseinandersetzung um die subjektive oder die objektive Auslegungsmethode entwickelt wurde, spielte zuvor keine entscheidende Rolle.189 Ratio legis und voluntas legislatoris waren „gleichartige und gleichberechtigte Interpretationsziele“190. „Auch die Frage nach der voluntas legislatoris [schloss] Gesichtspunkte ein […], die von der konkreten 183  Der Titel des Buchs von Regina Ogorek über die Justiztheorie im 19. Jahrhundert lautet „Richterkönig oder Subsumtionsautomat?“ 184  Ogorek, Richterkönig, S. 107 f., 124 f., 145 ff. 185  Ogorek, Richterkönig, S. 107  ff.; Vogenauer, S.  439 f.; Schröder, Recht als Wissenschaft, S.  134 ff. 186  Ogorek, Richterkönig, S. 116 f.; 125. 187  Vogenauer, S. 440. 188  Ogorek, Richterkönig, S. 129 f. (einfache Anführungszeichen im Original). 189  Ogorek, Richterkönig, S. 120 ff., 126; Melin, S. 181. 190  Ogorek, Richterkönig, S. 126.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

historischen Gesetzgebungssituation weg, in die ‚objektive‘ Sphäre der ratio juris hin führten.“191 Die logische Auslegung stand für „jede Auslegung mit Hilfsmitteln, die über die bloße Deutung der Worte hinaus[gingen]“.192 Sie war ein Sammelbegriff für verschiedenartige Argumente, mit denen der Sinn der Norm ­rekonstruiert und zur Geltung gebracht werden sollte. Unter diesem Sammelbegriff fanden sich unter anderem die systematische, historische, teleologische und folgenorientierte Auslegung.193 Das Interpretationsschema Grammatik / Logik bildete ein Dachkonzept, unter dem die diversen Deutungsmuster zwar verschiedene Akzente setzten, sich jedoch in der Bemühung trafen, sowohl der richterlichen Funktion der Wahrung des Rechts gerecht zu werden und die Grenze zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts zu wahren, als auch dem Richter Gestaltungsspielraum und Auslegungsfreiheit vorsichtig einzuräumen.194 Diese Bemühung fand sich um die Wende zum 19. Jahrhundert unter anderem in Thibauts Theorie der logischen Auslegung.195 Einerseits betrachtete er es als falschen Weg, zur Erforschung der Absicht des Gesetzgebers und des Grundes des Gesetzes „das Einsammeln historischer, politischer, mathematischer, philosophischer und ökonomischer Kenntnisse zu empfeh­len“196. Der Jurist solle die Daten zur Ermittlung des Gesetzessinns „aus dem Rechte selbst“ entnehmen.197 Andererseits hielt Thibaut es für falsch, dass Juristen „gedankenlos an dem Buchstaben des Gesetzes kleben“198, und ließ unter bestimmten Voraussetzungen die richterliche Rechtsfortbildung zu.199 Seine Auslegungstheorie barg zwar mancherlei Widersprüchliches in sich, das lässt sich aber gerade damit erklären, dass er einerseits der „naturrechtlichen Infiltration“200 in juristischen Kommunikationen entgegentreten, die Bindung der Rechtsprechung an das positive Recht und die Abgrenzung der Rechtsauslegung von der Rechtsetzung nachdrücklich hervorheben wollte, andererseits aber die Richtertätigkeit nicht mechanisieren und die Gestaltungsfunk­ tion der Rechtsprechung nicht aus der Welt schaffen wollte.201 191  Ogorek, Richterkönig, S. 169 (Kursivierung und einfache Anführungszeichen im Original). 192  Crome, S. 99. 193  Ogorek, Richterkönig, S. 115 f.; Honsell, S.  32 f.; Melin, S.  180 f. 194  Ogorek, Richterkönig, S. 146 ff. 195  Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts. 196  Thibaut, S. 29. 197  Thibaut, S. 29. 198  Thibaut, S. 33. 199  Ogorek, Richterkönig, S. 140 f. 200  Ogorek, Richterkönig, S. 136. 201  Ogorek, Richterkönig, S. 139, 141 ff.



B. Testfälle – Deutschland und China165

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierte in der juristischen Hermeneutik in Bezug auf die Frage der richterlichen Bindung und Freiheit ein breites Spektrum von Interpretationskonzepten.202 Doch schon bald nahm das Interesse an Extrempositionen ab, die entweder die Unterscheidung von Rechtsprechung und Rechtsetzung und damit die Differenzierung zwischen Recht und Politik verwischten, oder in entgegengesetzter Richtung zur unrealistischen mechanischen Rechtsanwendung tendierten. Es herrschten dann Mittelmeinungen, die dem Interpretationsschema Grammatik  /  Logik folgten, dieses Schema in unterschiedlichen Akzentuierungen deuteten, „blinder Vollzugsmechanik einerseits und ungezügelter Richtermacht andererseits entgegenzuwirken“203 versuchten und die richterliche Funktion der Wahrung des geltenden Rechts mit der richterlichen Gestaltung und Innovation verbanden, also eine realistische Abgrenzung der Auslegung von der Schaffung des Rechts vornahmen. Freilich wurden bei der rechtstheoretischen Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik manchmal Formulierungen gefunden, die danach klangen, als ob man zum Richterbild eines Subsumtionsautomaten tendiert hätte.204 Nach Rotteck etwa ist die Rechtsprechung „eine Funktion des Verstandes, kein Willensakt“205, „eine logische Funktion, […] kein Akt einer Gewalt“206. Bei solch einer Formulierung ging es aber eigentlich mehr um die Betonung der richterlichen Funktion der Wahrung des Rechts sowie des Rationalitäts- und Objektivitätspotenzials der Rechtsfindung als wirklich um die Mechanisierung der richterlichen Tätigkeit.207 Sobald man mit Problemen der Rechtsauslegung und -anwendung konfrontiert war, musste man eingestehen, dass die Rechtsnorm keine fertige Lösung für jeden Fall bereitstellt. Deshalb wurden in der juristischen Hermeneutik überwiegend Mittelmeinungen vertreten, die sowohl den von der Bindung an das positive Recht befreiten Richterkönig als auch den Subsumtionsautomaten ohne Gestaltungsspielraum ablehnten. Auch Savignys Vier-Elemente-Lehre, die sich im 19. Jahrhundert noch nicht durchsetzen konnte,208 gehörte zu solchen Mittelmeinungen und b ­ rachte „gegenüber dem Grammatik / Logik-Schema nichts grundsätzlich anderes“.209 208

und zum Folgenden Ogorek, Richterkönig, S. 144 ff., 168. Richterkönig, S. 168. 204  Ogorek (Richterkönig, S. 368 ff.) spricht deshalb von verschiedenen Richterbildern in verschiedenen Zusammenhängen. 205  Rotteck, Vernunftrecht, Bd. 2, S. 305. 206  Rotteck, Vernunftrecht, Bd. 2, S. 215. 207  Vgl. oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (4). 208  Honsell, S. 34; Ogorek, Richterkönig, S. 155; Vogenauer, S. 441. 209  Ogorek, Richterkönig, S. 168. 202  Dazu

203  Ogorek,

166

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Neben Grammatik und Logik wurden System und Geschichte als eigene Interpretationselemente aus der herkömmlichen logischen Interpretation ausdifferenziert, während die Logik vom herkömmlichen Begriffsverständnis gelöst und nur auf die formale Struktur der Argumentation bezogen wurde.210 Doch wurden durch diese Aufspaltung „keine Gesichtspunkte eingebracht, die in der alten logischen Auslegung nicht bereits etabliert gewesen wären.“211 Dadurch wurden auch keine Fragestellungen ausgeschlossen, mit denen sich die herkömmliche logische Interpretation beschäftigte.212 (6) A  nerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis seitens der Politik In der Neuzeit mussten die Landesfürsten sich zur Entfaltung ihrer Macht, wie erläutert, zwar auf die funktionale und organisatorische Trennung von Justiz und Politik einlassen,213 wollten aber die Differenzierung zwischen Recht und Politik nicht zu weit gehen lassen und die volle Entfaltung dieser Differenzierung hemmen. Deswegen versuchten sie vor allem im 18. Jahrhundert, die Justiz in ihren Kompetenzen, darunter die Befugnis zur Auslegung des Rechts, zu beschneiden. Die Politik gab sich nicht damit zufrieden, sich den Eingriff in die Rechtsprechung vorzubehalten und dem Richter keine Unabhängigkeit zu gönnen. Sie ging weiter, riss die Befugnis zur Auslegung des Rechts in Zweifelsfällen an sich und betrachtete diese Befugnis von vornherein als politisch. Es dauerte aber nicht lange, bis die Politik ihre Zuständigkeit für die Auslegung des Rechts aufgab, die Gestaltungsfunktion der Rechtsprechung anerkannte, und sich nur noch die Kontrolle über und den Eingriff in die Rechtsprechung vorbehielt. Damit wurde ein großes Hindernis für die Differenzierung zwischen Recht und Politik aus dem Weg geräumt. Das war ein entscheidender Schritt hin zur Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn bei der Anerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis geht es um die Vorfrage der richterlichen Unabhängigkeit, nämlich um die Frage, ob die Auslegung des Rechts zur richterlichen Kompetenz gehören soll. Nur wenn die Auslegung des Rechts auch in Zweifelsfällen als integraler Bestandteil der Rechtsprechung anerkannt und der richterlichen Kompetenz zugerechnet wird, kann man im nächsten Schritt die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit erwarten, nämlich, dass die Wahrnehmung der 210  Ogorek,

Richterkönig, Richterkönig, 212  Ogorek, Richterkönig, 213  Oben Zweiter Teil, B. 211  Ogorek,

168 f.; Melin, S.  186 f. S. 149. S. 150. II. 1. b) (3).



B. Testfälle – Deutschland und China167

richterlichen Auslegungskompetenz unabhängig und ohne Kontrolle durch die Politik erfolgt. Die Entwicklung von der Aberkennung zur Anerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis in Deutschland lässt sich mit der Entwicklung des référé législatif in Preußen illustrieren. Mit dem Begriff des référé législatif ist die Verpflichtung des Richters gemeint, im Falle einer Gesetzeslücke oder eines Zweifels über die Auslegung und Anwendung des Gesetzes die Entscheidung auszusetzen und beim Gesetzgeber Rückfrage zu halten.214 Der référé législatif bedeutet die Verbindung eines Verbots der richterlichen Rechtsauslegung mit einer Vorlagepflicht des Gerichts und einer authentischen Interpretation des Gesetzgebers215 und kann in unterschiedlichen Intensitäten vorkommen.216 Der référé législatif fand in Preußen seine ersten Ansätze in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts,217 erlebte seine volle Ausprägung dann durch das Corpus Juris Fridericianum und dessen Publikationspatent von 1781, das Patent zur Errichtung der Gesetzeskommission vom 29. Mai 1781 und das Circular-Rescript vom 19. März 1782.218 Danach hatte das Gericht im Falle der Unklarheit oder Lückenhaftigkeit des Gesetzes bei der Gesetzeskommission für die Einholung einer allgemein verbindlichen Rechtsentscheidung anzufragen. Damit wurde dem Richter die Kompetenz zur Auslegung des Gesetzes in erheblichem Maße entzogen. Ähnliche einschneidende Anordnungen traf der erste gedruckte Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten von 1784. Danach durfte der Richter dem Gesetz keinen Sinn beilegen, der nicht durch die Worte, den Zusammenhang und den Gegenstand des Gesetzes deutlich bestimmt war. Fand der Richter den Sinn des Gesetzes zweifelhaft, sollte er die Entscheidung der Gesetzeskommission einholen.219 Dieses strenge Auslegungsverbot wurde im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 gelockert.220 Dem Richter wurde gestattet, den Sinn des Gesetzes auch „aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes“ zu ermitteln.221 Bei Fehlen eines Gesetzes war dem Richter auch eine Entscheidung „nach den in dem Gesetzbuche angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnun214  Miersch,

S. 19. in: Rechtsforschung, S. 445 (447). 216  Vgl. zu verschiedenen Intensitätsstufen des référé législatif Miersch, S.  115 ff. 217  Miersch, S.  50 ff. 218  Miersch, S.  52 ff. 219  Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten, Einleitung, §§ 34, 35. 220  Miersch, S.  56 f. 221  ALR, Einleitung, § 46. 215  Röhl,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

gen“ erlaubt und lediglich eine Anzeigepflicht an den Chef der Justiz vorgeschrieben.222 Die Vorlagepflicht des Richters blieb jedoch erhalten, wenn er über den Sinn des Gesetzes Zweifel hatte.223 Durch die Kabinettsorder vom 8. März 1798, das Rescript vom 21. März 1798 und das Patent von 1803 wurde aber die Anfragepflicht gänzlich abgeschafft und nur noch eine nachträgliche Anzeigepflicht an den Chef der Justiz angeordnet.224 König Friedrich Wilhelm III. sah ein, dass die Gesetzeskommission bei der Auslegung des Gesetzes nicht weniger dem Irrtum unterliege als die Gerichte, und dass sich ein Widerspruch ergebe, wenn man den Richtern bei fehlenden gesetzlichen Bestimmungen die Entscheidung nach den allgemeinen Grundsätzen und die Analogie, nicht aber die Auslegung zweifelhafter Gesetzesstellen überlasse.225 Der König kehrte sich von dem Auslegungsverbot und der gesetzgeberischen authentischen Interpretation ab und gestattete dem Richter die Auslegung des Rechts auch in Zweifelsfällen. In der Tat kam es zwischen 1781 und 1798 trotz gesetzlicher Vorlagepflicht bezüglich der Gesetzesauslegung selten zu Anfragen der Richter an die Gesetzkommission.226 Das lag wohl nicht daran, dass das Gesetz so klar und lückenlos war, dass seine Anwendung kaum Zweifelsfragen aufgeworfen hätte, sondern eher daran, dass die Richter meistens ihre Aufgabe nicht als mechanische Anwendung des Gesetzes verstanden, sondern die Auslegung des Rechts zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen als unentbehrlichen Kern der Rechtsprechung und ihrer Kompetenz ansahen und sich der Lösung von Auslegungsproblemen gewachsen sahen. (7) Ergebnis Die Ausdifferenzierung des Rechts in Deutschland kam im späten Mittelalter in Gang und entfaltete sich in der Neuzeit, noch bevor die richterliche Unabhängigkeit sich dort in der Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert hat. Recht wurde aus der breiter angelegten überlieferten moralisch-rechtlichen Ordnung gelöst und gegen Moral ausdifferenziert. Auch die Differenzierung zwischen Recht und Politik vollzog sich, obwohl der fürstliche Machtzu222  ALR,

Einleitung, §§ 49, 50. Einleitung, § 47. 224  Miersch, S.  58 f. 225  Kabinettsordre vom 8. März 1798, in: Novum corpus constitutionum, Bd. 10, 1798, Nr. 23, Sp. 1611 f. 226  Schade, S. 136, 197. Danach wurden zwischen 1781 und 1798 insgesamt 251 Anfragen an die Gesetzkommission gerichtet. In den letzten zwei Jahren sank die Zahl bis auf vier. 223  ALR,



B. Testfälle – Deutschland und China169

wachs, der in den fürstlichen Bestrebungen nach einer absolutistischen Herrschaft gipfelte, eine Bedrohung für diese Differenzierung darstellte. Um diese Bedrohung abzuwenden, verlangte man die richterliche Unabhängigkeit. Deren Durchsetzung in der Mitte des 19. Jahrhunderts markierte aber nicht den Anfang der Ausdifferenzierung des Rechts, sondern einen Meilenstein in der Mitte dieses Prozesses. Die rechtliche Anerkennung und Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland erfolgte auf der Grundlage der bereits erreichten Ausdifferenzierung des Rechts, stellte eine institutionelle Sicherung und eine logische Entwicklung der bereits erreichten Ausdifferenzierung des Rechts dar. 2. China a) Geschichtlicher Rückblick Die Gegenwart ist oft aus der Geschichte zu erklären. Dies gilt insbesondere für China. Denn aufgrund der mehrere tausend Jahre langen eigenständigen Entwicklung, der daraus herauskristallisierten reichen kulturellen Sedimente und des dadurch entstandenen Selbstbewusstseins wird die gesellschaftliche Entwicklung in China in Vergleich mit der Entwicklung in vielen Ländern mehr von innergesellschaftlichen Faktoren, zu denen die Geschichte gehört, weniger von sicher zunehmender Einflussnahme aus der Außenwelt bestimmt. (1) V  erschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik im kaiserlichen China Es scheint im kaiserlichen China einige Anzeichen für die aufkeimende Differenzierung zwischen Recht und Moral gegeben zu haben. Die Gesetzgebung in den Bereichen des Strafrechts und des Verwaltungsrechts war, anders als im mittelalterlichen Deutschland, keine Ausnahmeerscheinung, sondern als Routine etabliert. Das Gesetz in verschiedenen Formen spielte eine wichtige Rolle in der Verwaltung und Rechtsprechung. Ihm folgte die Rechtsprechung grundsätzlich, wenn es sich, wie unten zu zeigen sein wird, um Fälle schwerer Straftaten handelte. In Gesetzen, vor allem in Form von lü (律) und li (例, auch tiaoli, 条例) fand sich eine begrifflich-systematische Ordnung des Rechts. Lü war der grundlegende Kodex der jeweiligen Dynastie, hatte einen allgemeinen Teil und den Schwerpunkt im Strafrecht, blieb spätestens seit dem Erlass des Tang-Kodex (tanglü) im 7. Jahrhundert inhaltlich relativ konstant von Dynastie zu Dynastie.227 Li war eine in der 227  Vgl.

unten Zweiter Teil, B. III. 2. a).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Ming- und Qing-Dynastie (1368–1911) gängige Form von gesetzlichen Regelungen, die nach den Erfordernissen von Zeit und Umständen lü konkretisierten, ergänzten, aber auch abänderten, oft durch die Umformulierung und Zusammenstellung der Leitsätze der wichtigen Urteile sowie der Anordnungen des Kaisers und der höheren Behörden entstanden, und im grundlegenden Kodex hinter den entsprechenden Paragraphen von lü untergebracht wurden. Außerdem gab es die gelehrte Auseinandersetzung mit lü und li, die traditionell als lüxue (律学, Lehre von lü) bezeichnet wurde.228 Es gab aber keinen Umschwung, der die breiter angelegte moralischrechtliche Ordnung, die vom Gesamtbild her die traditionelle Gesellschaft prägte, endgültig auflöste und das Recht gegenüber der Moral ausdifferenzierte.229 Das bedeutet nicht, dass das traditionelle chinesische Recht sich auf einem primitiven Niveau befand. Im Gegenteil, die traditionelle moralisch-rechtliche Ordnung hat sich im Laufe der Geschichte sehr fein entwickelt. Die wichtigsten Säulen dieser Ordnung waren fa (法, Gesetz) oder guofa (国法, staatliches Gesetz), li (理, Logos, Vernunft) oder tianli (天理, himmlisches Prinzip) und qing (情, Gefühl) beziehungsweise renqing (人情, Menschengefühl). Sie alle waren gleichwertige Maßstäbe für die Rechtsprechung.230 Während fa heutzutage das Recht überhaupt bezeichnet, bezog sich fa im alten China oft nur auf das von der politischen Herrschaft erlassene Gesetz beziehungsweise das schriftliche kaiserliche Recht, hatte den Schwerpunkt vor allem im Strafrecht und dann auch im Verwaltungsrecht. Zwischen einer Straftat und einer Ordnungswidrigkeit wurde kein Unterschied gemacht. Sie beide wurden im gleichen Verfahren bestraft. Auf sie waren die gleichen Strafmaßnahmen anwendbar. Es ging, genauer gesagt, um „Verwaltung durch Strafrecht“231. Auch gesetzliche Regelungen im Bereich des Privatrechts nahmen häufig die Gestalt einer Strafsanktion an. Li (理, Logos) oder tianli (himmlisches Prinzip) wies auf Normen hin, die damals als allgemein gültig anerkannt wurden, bezog sich vor allem auf die konfuzianischen ethischen Normen von li (礼, Ritus, Sittlichkeit)232 und hatte den eher universalistischen Charakter. Qing (Gefühl) oder renqing (Menschengefühl) trug dagegen den eher partikularistischen Charakter. Es 228  Vgl. zur Lehre von lü He Qinhua (Hrsg.), Lüxue kao; Zhang Zhongqiu, in: Falüwenhua, S.  120 ff. 229  Liang Zhiping, Hexie, S. 230 ff., 265 ff., 294 ff.; dort wird von der Verrechtlichung der Moral und der Moralisierung des Rechts gesprochen. Vgl. auch Weggel, C. a. 1993, 358 (371 f.). 230  Liang Zhiping, Hexie, S. 308 ff.; Zihe, in: Ming Qing, S. 19 (22 ff.). 231  So der Terminus von Wegmann, in: Rechtsdenken, S. 182 (182). 232  Näher zu li (礼, Ritus, Sittlichkeit) unten Zweiter Teil, B. IV. 2. a).



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ging dabei um das ethische Prinzip, dass das gesunde Menschengefühl, das die normalen Menschen hatten, und die jeweiligen konkreten Umstände, unter denen das Menschengefühl einen konkreten Ausdruck fand und zu denen lokale Gewohnheiten gehörten, in zwischenmenschlichen Beziehungen beachtet werden und die Menschen gegenseitig Verständnis und Entgegenkommen aufbringen sollten. Li (Logos) und qing (Gefühl) standen sich nicht antagonistisch gegenüber, wenngleich sie in konkreten Fällen miteinander in Konflikt geraten konnten. Vernunft und Gefühl wurden in ein mehr harmonisches und er­ gänzendes als spannungsreiches Verhältnis gesetzt. Die Konfuzianer sahen li (理, Logos) und li (礼, Ritus, Sittlichkeit) als im gesunden Menschengefühl verankert. Sie betonten einerseits die Bedeutung von jing (经), nämlich allgemeinen Prinzipien, legten andererseits auch großen Wert auf quan (权), nämlich die Flexibilität und die Anpassung an die jeweils besonderen Verhältnisse.233 Außerdem waren Gefühle der normalen Menschen ihrerseits von der konfuzianischen Lehre von li (理, Logos) und li (礼, Ritus, Sittlichkeit) mitgeprägt. Darum wurden li (Logos) und qing (Gefühl) oft zum einheitlichen Begriff qingli (情理, Gefühl und Logos) kombiniert.234 Ethische Prinzipien und Normen in Form von li (Logos) und qing (Gefühl) gab fa (Gesetz) Maß und Richtung. Die Gesetzgebung sollte sich an li und qing orientieren. Bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes war li und qing Rechnung zu tragen. Wenn es zu bifu (比附, Vergleich und Analogie) als eine Form der Berufung auf das Gesetz kam, musste das im Licht von li und qing geschehen. Bifu (Vergleich und Analogie) war als Methode der Rechtsfindung im grundlegenden Kodex lü vorgesehen und wurde regelmäßig in Anspruch genommen, vor allem wenn die Bestrafung einer nach li und qing zu bestrafenden Tat gesetzlich nicht geregelt war. Das kam oft vor, weil der Tatbestand im Gesetz extrem konkret und spezifisch bestimmt wurde.235 So wie bei der heutzutage üblicherweise verstandenen Analogie wurde bei der Verwendung von bifu (Vergleich und Analogie) auch zuerst nach einer gesetzlichen Regelung gesucht, die einen Sachverhalt erfasste, der dem jeweils vorliegenden Sachverhalt ähnlich oder verwandt war. Die Ähnlichkeit oder Verwandtschaft der Sachverhalte wurde aber ganz locker festgestellt. Darum, und auch weil die Rechtsfolge entsprechend der Konkretheit des Normtatbestands im Gesetz sehr präzise, nämlich nicht in Form eines Strafrah233  Liang

Zhiping, Hexie, S. 298 f. in: Ming Qing, S. 19 (29 ff.). 235  Im Kodex der Qing-Dynastie waren zum Beispiel das Brechen eines Zahnes, Fingers oder einer Zehe sowie das Brechen von zwei oder mehr Zähnen, Fingern oder Zehen als Straftatbestände vorgeschrieben. 234  Zihe,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

mens, sondern in Form einer die individuelle richterliche Strafzumessung ausschließenden absoluten Strafe festgelegt wurde,236 erschien es oft unangemessen, die Rechtsfolge einer gesetzlichen Regelung auf einen ähnlichen oder verwandten Sachverhalt zu übertragen, wie dies bei der heutzutage üblicherweise verstandenen Analogie der Fall ist. Bei bifu (Vergleich und Analogie) war dagegen, je nachdem, ob und inwieweit die ethische Verwerflichkeit oder Schuld einer gesetzlich nicht unter Strafe gestellten Tat im Lichte von qingli (Gefühl und Logos) schwerer oder leichter ausfiel als die einer ähnlichen, gesetzlich unter Strafe gestellten Tat, zu entscheiden, ob und inwieweit eine höhere oder geringere Strafe für die erstere Tat verhängt werden sollte als die gesetzlich für die letztere Tat festgesetzte absolute Strafe. Bei der Verwendung von bifu (Vergleich und Analogie) ging es also nicht immer um die Übertragung der Rechtsfolge einer Norm auf einen anderen Fall, sondern darum, eine nach qingli (Gefühl und Logos) zu bestrafende Tat mit einer gesetzlichen Regelung in einen Zusammenhang zu bringen und aus diesem Zusammenhang die Strafe für eine solche Tat zu bestimmen. Es ging darum, eine Entscheidung sowohl in Übereinstimmung mit li (Logos) und qing (Gefühl) als auch in Kohärenz mit fa (Gesetz) und den darin enthaltenen Wertungen, die ihrerseits eine Konkretisierung von li (Logos) und qing (Gefühl) darstellten, zu treffen. Wenn es sich bei der Rechtsprechung um eine schwere Straftat handelte,237 musste ein Beamter als Richter entweder durch Gesetzesanwendung oder durch bifu (Vergleich und Analogie) das Gesetz heranziehen. Nur der Kaiser konnte entscheiden, ohne sich auf das Gesetz zu stützen, oder sich darüber hinwegsetzen.238 Dieses Erfordernis der Berufung auf das Gesetz ist aber nicht mit der modernen Gesetzesbindung gleichzusetzen,239 die die Bindung an Moral und gesellschaftliches Gerechtigkeitsempfinden ausschließt. Denn neben fa (Gesetz) waren li (Logos) und qing (Gefühl) als Erscheinungsformen der Moral und des Menschengefühls gleichwertige Maßstäbe für die Rechtsprechung. Im Bereich schwerer Straftaten hatte der Richter diese drei Maßstäbe miteinander in Ein236  Im Kodex der Qing-Dynastie wurde zum Beispiel das Brechen eines Zahnes, Fingers oder einer Zehe mit 100 Hieben, das Brechen von zwei oder mehr Zähnen, Fingern oder Zehen mit 60 Hieben plus ein Jahr Zwangsarbeit bestraft. 237  Die schweren Straftaten waren zum Beispiel in der Qing-Dynastie (1644– 1911) diejenigen, die mit Zwangsarbeit, lebenslanger Verbannung oder Todesstrafe bestraft werden sollten und deren Bestrafung nach dem Gesetz letztlich auf der Provinz- oder Zentralebene entschieden werden musste; vgl. Zihe, in: Ming Qing, S.  1 (8 f.); Sitian, in: Ming Qing, S. 112 (115 f.). 238  Sitian, in: Ming Qing, S. 112 (117 ff.). 239  Xu, Fashang yanjiu 2005, Nr. 4, 153 ff.



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klang zu bringen und ihnen gleichzeitig nachzukommen. Er musste sich, konnte sich aber nicht allein auf das Gesetz stützen. Auch das Gesetz selbst eröffnete der Rechtsprechung den Weg zum Rückgriff auf li (Logos) und qing (Gefühl). Bifu (Vergleich und Analogie) war im grundlegenden Kodex lü vorgesehen und für die Bestimmung der Strafe einer nach qingli (Gefühl und Logos) zu bestrafenden Tat gedacht. Die grundlegenden Kodizes enthielten außerdem eine Auffangregelung, nach der alles, was nicht getan werden sollte, zu bestrafen war. Die Frage, was nicht zu tun war, entschied sich in der Tat an li (Logos) und qing (Gefühl). Weil der Richter qing (Gefühl), li (Logos) und fa (Gesetz) gleichzeitig beachten sollte, wurde bifu (Vergleich und Analogie) als eine Form der Berufung auf das Gesetz sehr freizügig gehandhabt. Wie erwähnt, wurde die Ähnlichkeit oder Verwandtschaft der Sachverhalte ganz locker festgestellt und die Übertragung der Rechtsfolge war auch nicht erforderlich. Aus heutiger Sicht erscheint der Rekurs auf das Gesetz manchmal weit hergeholt und der Versuch, qing (Gefühl), li (Logos) und fa (Gesetz) gleichzeitig nachzukommen, zwar kunstvoll, aber nicht immer stichhaltig. Fa (Gesetz) spielte eine weniger wichtige Rolle und der Kreismagistrat hatte als lokale Richter mehr Entscheidungsspielraum, wenn es nur um kleine Delikte und privatrechtliche Streitigkeiten ging.240 Oft wurde ohne Zitierung einer gesetzlichen Bestimmung, nicht ungewöhnlich ausschließlich auf der Grundlage von qingli (Gefühl und Logos), gelegentlich sogar gegen das Gesetz entschieden.241 Schließlich blieben privatrechtliche, namentlich vermögensrechtliche, gesetzliche Regelungen, die häufig die Gestalt einer Strafsanktion annahmen, punktuell und lückenhaft, so dass die Rechtsprechung ohne Rückgriff auf ethische Normen, menschliche Empfindungen und gesellschaftliche Gewohnheiten in Form von li (Logos) und qing (Gefühl) nicht auskam.242 In der Rechtsprechung und in der Rechts­ literatur, die sich traditionell mit dem Gesetz in Form von lü und li (例) auseinandersetzte, war kein Interesse deutlich erkennbar, li (理, Logos) und qing (Gefühl) als Rechtsquellen im Bereich des Privatrechts in der Weise zu handhaben, dass Begriffe, Regeln und Prinzipien gebildet, wiederver240  In der Qing-Dynastie (1644–1911) zum Beispiel konnte über diejenigen Fälle, in denen eine Prügelstrafe oder gar keine Strafe verhängt werden sollte, also über die kleinen Delikte und die zivilrechtlichen Streitigkeiten, schon auf der Kreisebene entschieden werden. Gelegentlich wurde eine gesetzlich mit Zwangsarbeit bedrohte Tat nur mit einer Prügelstrafe, damit schon auf der Kreisebene bestraft. Man unterschied außerdem zwischen den kleinen Delikten und den zivilrechtlichen Streitigkeiten nicht. Auch über diese wurde gelegentlich auf eine Prügelstrafe entschieden; vgl. dazu Zihe, in: Ming Qing, S. 1 (12 f.); Sitian, in: Ming Qing, S. 112 (115). 241  Vgl. a. A. Huang, Civil Justice in China, S. 76 ff. 242  Zihe, in: Ming Qing, S. 1 (12 ff.); S. 19 ff.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

wendet, systematisiert und ausdifferenziert worden wären,243 wie das im englischen common law durch Präjudizienbindung und distinguishing und im kontinentaleuropäischen Recht durch die Rezeption des römischen Rechts244 geschah. Die mindere Bedeutung von fa (Gesetz) und die fehlende begrifflichsystematische Aufarbeitung von li (Logos) und qing (Gefühl) im Bereich des Privatrechts war unter anderem auf die Wertschätzung einer flexiblen, einzelfallgerechten Konfliktlösung zurückzuführen. Die Beachtung von qing (Gefühl) und li (Logos) erforderte Rücksichtnahme und Verständnis für Mitmenschen, Zurückhaltung bei der Wahrnehmung eigener, auch berechtigter Interessen und bei Konflikten mit anderen Menschen, damit die gesellschaftliche Harmonie bewahrt oder bei Störung wiederhergestellt werden konnte.245 Als harmonisch galt eine Gesellschaft, in der Konflikte gar nicht entstanden oder, wenn doch, durch gegenseitiges Entgegenkommen und Nachgeben gütlich und freundlich beigelegt wurden, soweit es nicht um eine Tat mit hoher moralischer Verwerflichkeit, sondern um Kleinigkeiten wie Streitigkeiten über Geld und Vermögen ging. Gefragt bei der richterlichen Entscheidung war, wenn es trotz aller Bemühungen um Harmonie doch zu einem Gerichtsprozess kam, nicht die beharrliche Durchsetzung von Gerechtigkeit und berechtigten Ansprüchen nach abstrakten Regeln, nicht die Beurteilung ausschließlich nach den Kriterien von Recht und Unrecht, richtig und falsch. Es kam vielmehr auf die flexible Suche nach einer Konfliktlösung an, die einerseits die Gefühle aller Beteiligten berücksichtigen, der jeweils besonderen Konfliktsituation angemessen sein und harmonische menschliche Beziehungen wiederherstellen, andererseits aber auch ethische Maßstäbe und Gerechtigkeitsanforderungen aus li (Logos) und fa (Gesetz) berücksichtigen und nicht zu sehr aufgeben sollte. Die Rücksicht auf andere Menschen und die Bewahrung gesellschaftlicher Harmonie mussten mit anderen Gerechtigkeits- und ethischen Forderungen in ein ausbalanciertes Verhältnis gebracht werden.246 Nationale, regionale oder lokale Gewohnheiten, die qingli (Gefühl und Logos) konkretisierten, waren zwar nicht außer Acht zu lassen, an ihnen war aber nicht unbedingt festzuhalten. Sonst wäre man Gefahr gelaufen, die konkreten Konfliktlagen und die 243  Vgl. allgemein zu juristischer Argumentation mit Begriffen, Regeln und Prinzipien oben Erster Teil, B. I. 2. c) (2). 244  Oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (2). 245  Liang Zhiping, Hexie, S. 199 ff. 246  Sitian, in: Ming Qing, S. 191 ff. Für eine andere Ansicht vgl. Huang, Civil Justice in China, S. 76 ff.; dort wird die Auffassung vertreten, dass es in der QingDynastie bei der richterlichen Entscheidung über privatrechtliche Streitigkeiten im Prinzip um die Beurteilung nach Recht / Unrecht und den Schutz berechtigter Ansprüche ging.



B. Testfälle – Deutschland und China175

Gefühle der Beteiligten aus den Augen zu verlieren.247 Soweit es nicht um eine Tat mit hoher moralischer Verwerflichkeit ging, wurde viel Wert darauf gelegt, Streitigkeiten durch Schlichtung oder durch eine alle Beteiligten mehr oder weniger befriedigende Entscheidung beizulegen, ohne dass Rechte und Pflichten klar bestimmt wurden. Es gab kein ausdifferenziertes Rechts­system, in dem der Richter gehalten gewesen wäre, ausschließlich nach Recht / Unrecht konsistent zu urteilen und trotz aller Enttäuschungen an den Rechtsnormen festzuhalten. Stattdessen kam es in der Rechtsprechung gelegentlich vor, im Interesse einer optimalen, flexiblen, einzelfallgerechten Konfliktlösung die Unterscheidung Recht / Unrecht herunterzuspielen und berechtigte normative Erwartungen in Schranken zu halten.248 In der Rechtsprechung, die auf qingli (Gefühl und Logos) basierte und nach einer optimalen, flexiblen, einzelfallgerechten Konfliktlösung suchte, kam nicht nur die Verschmelzung von Recht und Moral, sondern auch die von Recht und Politik zum Ausdruck. Denn die Richter zogen alle Umstände, die ein friedliches, harmonisches Zusammenleben gefährden konnte, in Erwägung. Sie dachten, um nur ein Beispiel zu nennen, darüber nach, ob das Interesse eines Prozessbeteiligten oder dessen Familie an einer materiellen Existenzgrundlage durch das Urteil bedroht würde und – wenn diese Frage bejaht wurde, ob und inwieweit er diesem Interesse nachkommen sollte. Es ging also nicht nur um die Frage von Recht und Unrecht, sondern auch um die Frage der Interessenverteilung und des Gemeinwohls, eine Aufgabe der Politik. Konsequenterweise wurden rechtsprechende Aufgaben oft von denjenigen Beamten oder Behörden wahrgenommen, die auch oder gar hauptsächlich für Regierungs- oder Verwaltungsaufgaben verantwortlich waren. Provinzgouverneure und Kreismagistrate etwa waren zuständig für die Rechtsprechung. Der Kaiser war der oberste Richter des Reiches. Es war die eigentliche Aufgabe der Politik, Recht zu sprechen. Es war widersinnig, von einer unberechtigten Einmischung der Politik in die Rechtsprechung zu sprechen. Es fehlte der Grundsatz der Inkompatibilität, geschweige denn der der richterlichen Unabhängigkeit.249 Bei der Wahrung der traditionellen moralisch-rechtlichen Ordnung spielten nicht nur die politischen Instanzen vom Kaiser bis zu den Kreismagis­ traten, sondern auch lokale Respektspersonen in einem Dorf oder einer 247  Sitian,

in: Ming Qing, S. 191 (239 ff.). oben Erster Teil, B. I. 1. c) zu der hier vertretenen Auffassung, dass die Funktion des ausdifferenzierten Rechtssystems in erster Linie die Stabilisierung normativer Erwartungen, nicht die Konfliktlösung ist. Vgl. auch Luhmanns Ausführungen zu den Gesellschaften, in denen die binäre Codierung nach Recht und Unrecht vermieden wird, in: Das Recht der Gesellschaft, S. 167. 249  Vgl. oben Zweiter Teil, A. I. 3. 248  Vgl.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Sippe eine große Rolle. Die Ausübung der Zwangsgewalt war nicht bei der kaiserlichen Herrschaft monopolisiert. Unter deren Duldung, Billigung oder gar Gutheißung nahmen lokale Respektspersonen kraft ihrer moralischen Autorität gerichtsähnliche Funktionen wahr. Sie beschränkten sich nicht auf die reine Streitschlichtung, sondern fällten auch autoritative Streitentscheidungen und verhängten Strafmaßnahmen.250 Die Maßstäbe für ihre Entscheidung waren li (Logos) und qing (Gefühl). Herangezogen wurden einerseits die landesweit herrschenden konfuzianischen Normen, andererseits die von diesen maßgeblich mitgeprägten lokalen Gewohnheiten und Gefühlslagen. Da die behördliche Wahrnehmung der rechtsprechenden Aufgabe sich auch an li (Logos) und qing (Gefühl) orientieren musste, standen sie und die Rechtsprechung durch lokale Respektspersonen nicht antagonistisch, sondern ergänzend gegenüber. Fa (Gesetz) spielte zwar bei behördlichen Entscheidungen eine bedeutende Rolle, die Gesetzgebung orientierte sich aber ihrerseits an li (Logos) und qing (Gefühl). Obwohl die Rechtsprechung eine wichtige Aufgabe der Verwaltung war, obwohl das Gesetz eine wichtige Rechtsquelle war, obwohl es die gelehrte Auseinandersetzung mit dem Gesetz, also die Lehre von lü, gab, fehlte es an einer ausgeprägten Professionalisierung der juristischen Kompetenz. Wie bemerkt, waren Beamten, die rechtsprechende Aufgaben wahrnahmen, oft auch oder gar hauptsächlich für Regierungs- oder Verwaltungsaufgaben verantwortlich. Im Mittelpunkt der Beamtenprüfungen standen Kenntnisse über konfuzianische Klassiker, ihre Anwendung in der Politik und literarische Fähigkeiten. Rechtskenntnisse spielten in den Prüfungen keine oder nur eine geringe Rolle. Die gelehrte Auseinandersetzung mit dem Gesetz war kein Mainstream unter den gebildeten Ständen, sondern nur eine Nebentätigkeit für die Gebildeten, die hauptsächlich mit behördlichen Aufgaben oder dem Studium der konfuzianischen Klassiker beschäftigt waren. Während es in der Zentralverwaltung Abteilungen gab, die auf die justiziellen Aufgaben spezialisiert waren und in denen es an Beamten mit fundierten Rechtskenntnissen nicht fehlte, waren Kreismagistrate sowohl für Verwaltungsaufgaben als auch für rechtsprechende Aufgaben zuständig und diesen oft wegen unzureichender Rechtskenntnisse allein nicht gewachsen. Sie waren dann auf ihre rechtskundigen privaten Berater angewiesen. Solche Berater und auch Advokaten, die den Prozessbeteiligten zur Seite standen, wollten meistens ursprünglich auch Beamten werden, scheiterten aber an den Prüfungen, wendeten sich dann der Beschäftigung mit dem Recht zu. Für diese Juristen war also ihr Beruf nicht ihre erste Wahl. Sie wurden in der Gesellschaft auch wenig geschätzt. Advokaten wurden sogar moralisch abgewertet und hatten einen schlechten Ruf als eigennützige Streitent250  Shapiro,

Courts, S. 184 ff.; Lin, Rujia lunli, S. 84 f.



B. Testfälle – Deutschland und China177

facher, die die gesellschaftliche Harmonie zerstörten oder ihre Wiederherstellung verhinderten.251 Dies alles hatte unter anderem damit zu tun, dass Recht und Gesetz in der traditionellen chinesischen Vorstellung und Praxis entscheidend von Strafe und Zwang geprägt waren und unter dem Einfluss des Konfuzianismus die Herrschaft durch fa (法, Gesetz) und Strafe als eine schlechtere Herrschaftsform als die Herrschaft durch li (礼, Ritus, Sittlichkeit) und die Herrschaft durch de (德, Tugend) bewertet wurde.252 Selbst wenn das Gesetz und die Zwangsgewalt für die Garantie des friedlichen und harmonischen Zusammenlebens unentbehrlich waren, sollten sie kein Leitmotiv der Herrschaft bilden, sondern nur ergänzend die moralische Erziehung und Kultivierung als Grundaufgabe der Herrschaft unterstützen.253 Das Gesetz sollte mit dem ethischen Geist von li (理, Logos), li (礼, Ritus, Sittlichkeit) und qing (情, Gefühl) gefüllt sein. An qing (Gefühl) und li (Logos) sollten sich die Gesetzgebung und die Rechtsprechung orientieren. Deshalb ging die moralische Belehrung in richterliche Entscheidungen ein254 und bei der gelehrten Auseinandersetzung mit dem Gesetz, also bei der Lehre von lü, ging es unter anderem darum, das Gesetz mit konfuzianischen Lehrsätzen zu interpretieren.255 Die Lehre von lü stand also nicht für die Ausdifferenzierung des Rechts, sondern für die Vereinheitlichung von Recht und Moral. (2) Schicksal des Rechts im 20. Jahrhundert Um das Land vor dem Untergang aufgrund der Expansion der imperialistischen Mächte zu bewahren und in alter Stärke wiederherzustellen, schlug China am Anfang des 20. Jahrhunderts den Weg zur Modernisierung und Ausdifferenzierung des Rechts ein. Noch vor ihrem Sturz im Jahr 1912 leitete die Qing-Dynastie die Rechtsreform ein, die sich an das westliche Recht und das von diesem beeinflusste japanische Recht anlehnte.256 Eine Menge ausländischer Gesetze wurden im Auftrag der Regierung übersetzt.257 Das Rechtsstudium im Ausland wurde staatlich gefördert. Staatliche und 251  Qu,

Zhongguo falü, S. 305 f., Fn. 3; Liang Zhiping, Hexie, S. 317 ff. unten Zweiter Teil, B. IV. 2. a). 253  Qu, Zhongguo falü, S. 308 ff. 254  Liang Zhiping, Hexie, S. 305 ff. 255  Liang Zhiping, Hexie, S. 328 f. 256  Dazu und zum Folgenden Heuser, Chinesische Rechtskultur, S.  127  ff.; Fan / Ye, in: Henansheng zhengfa 2003, Nr. 1, S. 39 ff.; Liang Huixing, in: Minshangfa luncong, Bd. 41, S. 557 (560 ff.). 257  Gugong bowuyuan mingqing dang’an bu (Hrsg.), Lixian dang’an, S. 838. 252  Näher

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

private juristische Bildungsstätten, in denen auch Erkenntnisse über ausländisches Recht vermittelt wurden, wurden eingerichtet. Ausländische, insbesondere japanische Juristen waren als Regierungsberater und Rechtslehrer tätig.258 Die traditionelle Lehre von lü, die das kaiserliche Gesetz mit konfuzianischen Lehrsätzen interpretierte, starb aus. Es entstand die moderne Rechtswissenschaft, die auf Begriffen, Normen und Theorien des west­lichen, insbesondere kontinentaleuropäischen, Rechts basierte.259 Im Jahr 1911 wurde nach den Vorbildern des japanischen Zivilgesetzbuchs und des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs ein erster Entwurf eines chinesischen Zivilgesetzbuchs Daqing minlü cao’an (大清民律草案) ausgearbeitet. Man wollte die Handhabung von li (Logos) und qing (Gefühl) als Formen der Moral und des Menschengefühls in der traditionellen privatrechtlichen Rechtsprechung aufgeben. Diese Handhabung war nicht begrifflich-systematisch nach dem Code Recht / Unrecht erfolgt. Statt Rechte und Pflichte klar zu bestimmen, hatte man Wert auf eine flexible, einzellfall­gerechte Konfliktlösung gelegt.260 Nun wollte man mit Hilfe des kontinentaleuropäischen Rechts die Rechtsprechung dahin steuern, sich am Code Recht / Unrecht zu orientieren, begrifflich-systematisch vorzugehen und Rechte und Pflichten klar zu bestimmen. Auch im Strafrecht wollte man li (Logos) und qing (Gefühl) nicht mehr als Maßstäbe für die Rechtsprechung gelten lassen. In dem im Jahre 1911 verkündeten neuen Strafgesetzbuch Daqing xin xinglü (大清新刑律) wurden die alte strafrechtliche Auffangregelung und bifu (Vergleich und Analogie) als Grundlage beziehungsweise Methode für den Rückgriff auf li (Logos) und qing (Gefühl)261 abgeschafft und das Prinzip der Strafgesetzlichkeit wurde festgeschrieben. In den letzten Jahren des Kaiserreichs wurde auch damit begonnen, Gerichte als gegenüber der Verwaltung selbständige Behörden einzurichten.262 Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit wurde zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte gesetzlich verankert,263 war aber in der Praxis bei weitem noch nicht etabliert.264 Während der Zeit der Republik China (1912–1949) wurden die Bemühungen, das westliche, insbesondere kontinentaleuropäische, Recht zu rezipieren und das Recht begrifflich-systematisch zu erfassen, fortgesetzt. Die Rechtswissenschaft, die Begriffe und Theorien des westlichen, insbesondere 258  He / Li,

Waiguofa yu zhongguofa, S. 208 f. S.  11 ff. 260  Oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 261  Näher zur alten strafrechtlichen Auffangregelung und zu bifu oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 262  Han, S. 112. 263  Han, S. 114, 116; Huang Yuansheng, in: Qinghua faxue, Bd. 8, S. 83 (92). 264  Han, S.  123 ff. 259  Yu,



B. Testfälle – Deutschland und China179

kontinentaleuropäischen, Rechts übernahm, entwickelte sich weiter.265 Die juristische Ausbildung breitete sich aus.266 Die Staatsexamen für den Justizdienst und zum Rechtsanwalt wurden eingeführt.267 Anders als im Kaiserreich, in dem der Advokat moralisch abgewertet worden war, wurde die Tätigkeit des Rechtsanwalts nun anerkannt.268 Es entstand eine Profession der Juristen. Außerdem wurde eine Reihe wichtiger Gesetzeswerke, wie das Zivil- und Strafgesetzbuch, das Zivil- und Strafprozessgesetz, das Polizeistrafgesetz und das Verwaltungsvollstreckungsgesetz, in Anlehnung an westliche und japanische Vorbilder ausgearbeitet und erlassen. Trotz all dieser positiven Entwicklungen hatte die Ausdifferenzierung eines Kommunikationssystems Recht nur gerade begonnen und war noch nicht fest etabliert. Die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit stieß auf enorme Schwierigkeiten. Die Unabhängigkeit des Richters war schwer bedroht von der Verwaltung, nicht zuletzt von der Verwaltung auf lokaler Kreisebene, wo Kreismagistrate zum Teil eine Zeit lang noch im Anschluss an die Tradition der kaiserlichen Zeit die rechtsprechende Tätigkeit wahrnahmen,269 und von den Kriegsherren oder Militärführern in der Zeit der Fragmentierung Chinas in regionale, von diesen kontrollierte Herrschaftsbereiche (1916–1928). Die Unabhängigkeit des Richters konnte sich unter der Regierung der Kuomintang, der Chinesischen Nationalpartei, auch nicht durchsetzen, nachdem die Kuomintang sich im Jahre 1924 nach sowjetischem Vorbild als Kaderpartei reorganisierte und damit begann, die Politik der Herrschaft der Partei über den Staat und damit der Kontrolle der Partei über die Gerichte umzusetzen.270 Während die richterliche Unabhängigkeit in der Vorläufigen Vorverfassung (临时约法, linshi yuefa), die im Gründungsjahr der Republik 1912 verkündet worden war, noch formal garantiert war, enthielt die im Jahre 1931 nach der Einigung Chinas durch die Kuomintang erlassene Vorverfassung für die Periode der Politischen Vormundschaft (训政时期约法, xunzheng shiqi yuefa), in der alle Staatsgewalt der Kuomintang als Vertretung des gesamten Volkes verantwortlich sein und die politische Verantwortung der Bevölkerung entwickelt werden sollte, keine Regelung der richterlichen Unabhängigkeit. Während die Ausdifferenzierung eines Kommunikationssystems Recht unter der Regierung der Kuomintang nur noch gebremst wurde, erlitt sie 265  Liang Huixing, in: Minshangfa luncong, Bd. 41, S. 557 (563 f.); Yu, S.  20 ff.; Han, Sifa duli, S. 317 ff. 266  Han, S.  314 ff. 267  Han, S.  308 ff., 323 f. 268  Han, S.  319 ff. 269  Han, S.  232 ff. 270  Han, S.  333 ff.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 schwere Rückschläge und wurde schließlich abgewürgt.271 Zuerst wurden alle Gesetze der Kuomintang-Regierung aufgehoben. Das damit entstandene Rechtsvakuum wurde durch Bemühungen um die Rezeption des sowjetischen Rechts und punktuelle Gesetzgebungen nur in sehr begrenztem Umfang gefüllt, weitgehend aber von der Politik eingenommen. Die Kommunistische Partei Chinas betrachtete das Recht als Mittel des Klassenkampfes, als etwas, das der Politik voll zur Disposition stehe, als etwas, das die Politik zur Verwirk­ lichung ihrer Ziele nicht unbedingt brauche und beliebig einsetzen sowie ignorieren könne. Der letzte Maßstab für die Rechtsprechung war nicht das Recht, sondern die Politik der Kommunistischen Partei. Mit der Justizreform von 1952 / 53 wurde eine Vielzahl von ausgebildeten Juristen, die in der Zeit der Kuomintang-Regierung schon im Gericht tätig gewesen waren, aus dem Richteramt entfernt und durch Personen ersetzt, die nach politischen Kriterien ausgewählt wurden und meistens nicht juristisch ausgebildet waren. In der Anti-Rechtsabweichler-Kampagne von 1957 / 58 wurden viele Rechtslehrer und Richter wegen ihres Eintretens für eine größere Rolle des Rechts im sozialistischen Staat, für mehr Gesetzgebung zur Füllung des Rechtsvakuums oder für weniger Abhängigkeit der Rechtsprechung von der Kommunistischen Partei aus ihrem Amt entfernt, ins Gefängnis geworfen oder in Arbeitslager gesteckt. Im Zuge dieser Bewegung wurde das Justizministerium im Jahre 1959 aufgelöst. Studienplätze für Jura wurden massiv reduziert. Im Rechtsstudium wurden juristische Fächer weitgehend durch politische Fächer ersetzt. Von der eigentlichen Rechtswissenschaft blieb nicht viel übrig. Die Zerstörung des Rechts erreichte während der Kulturrevolution von 1966 bis 1976 ihren Höhepunkt. Die Juristenausbildung an den Hochschulen wurde eingestellt. Rechtswissenschaftliche Forschung wurde nicht betrieben. Gerichte hörten mit ihrer Tätigkeit auf. Diese wurde von Sondertribunalen, die von Revolutionären und dem Militär kontrolliert wurden, in Orientierung an der revolutionären Politik wahrgenommen. Das Land geriet in einen Zustand der Rechtlosigkeit. Das Recht stürzte in eine Existenzkrise. Von der Ausdifferenzierung des Rechts braucht man gar nicht zu reden. b) Beginnende Ausdifferenzierung des Rechts in der Gegenwart Mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahre 1978 wurde damit begonnen, behutsam und schrittweise in Anlehnung an das Recht 271  Dazu und zum Folgenden Liang Huixing, in: Minshangfa luncong, Bd. 41, S.  557 (564 f.); Guo, Bainianchao 1999, Nr. 7, S. 17 ff.; Heuser, Chinesische Rechtskultur, S.  150 ff.



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von entwickelten Ländern, darunter westeuropäischen Ländern, den Vereinigten Staaten, Japan und Taiwan, eine Rechtsordnung aufzubauen. Damit wurde der Weg zur Modernisierung und Ausdifferenzierung des Rechts wieder eingeschlagen. Man fand sich dort wieder, wo man am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Einführung der Rechtsreform gewesen war. Trotz des Fortschritts im Aufbau einer modernen Rechtsordnung seit drei Jahrzehnte befindet sich die Ausdifferenzierung des Rechts noch im Anfangsstadium und ist alles anderes als robust. (1) B  eginnende Entwicklung eines gemeinsamen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien Wie im Vorstehenden ausgeführt, erzeugt ein gemeinsames Repertoire an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien Redundanzen, bewirkt die rekursive Bezugnahme rechtlicher Kommunikationen aufeinander und ermöglicht die Konsistenzwahrung und Systematisierung in juristischen Argumentationen, ist also unverzichtbar für die Ausdifferenzierung eines besonderen Kommunikationssystems Recht gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt, insbesondere gegenüber politischen und moralischen Kommunikationen. Ein solches gemeinsames Repertoire wird seinerseits durch rechtliche Kommunikationen selbst, insbesondere durch die Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft entwickelt und weiterentwickelt.272 Freilich bleiben Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien nicht immer starr, sondern sind Kritik und Veränderung ausgesetzt. Das Rechtssystem kann sich aber bei aller Dynamik und Varietät nur als System bewähren und nicht in unzusammenhängende Entscheidungen und Kommunikationen auflösen, wenn es genug Konstanz und Redundanz und relativ gefestigte Strukturen in rechtlichen Kommunikationen gibt. China befindet sich erst am Anfang der Entwicklung eines gemeinsamen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien. Ein solches fehlte nach der Kulturrevolution zuerst so gut wie ganz. Es musste von Null an entwickelt werden. Während der am Anfang des 20. Jahrhunderts von der Qing-Dynastie beschrittene und von der Republik China fortgesetzte Weg zur Modernisierung des Rechts in Taiwan, wo seit 1949 die Republik China fortbesteht, trotz Hindernissen aufgrund der bis zur Mitte der 1980er Jahre bestehenden autoritären Herrschaft weiter gegangen wird, fing man in Festlandchina nach der Kulturrevolution mit der Modernisierung des Rechts erneut von vorne an. Während die Bemühungen um die Moder­ nisierung des Rechts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sich gerade zeigte, fast ausschließlich der Rezeption des kontinentaleuropäi272  Vgl.

oben Erster Teil, B. I. 2. c) (2) und 3. a).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

schen, insbesondere deutschen, und japanischen Rechts galten, erweitert man nun beim Aufbau der Rechtsordnung den Blick. Man zieht nicht nur das kontinentaleuropäische Recht, sondern auch das angloamerikanische Recht zu Rate. Während der Einfluss des kontinentaleuropäischen Rechts im Bereich des Zivilrechts noch überwiegt, hält er sich im Bereich des Verwaltungsrechts die Waage mit dem Einfluss des angloamerikanischen Rechts.273 Außerdem betrachtet man im Vergleich mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rezeption des ausländischen Rechts kritischer, legt mehr Wert darauf, die besonderen Verhältnisse in China zu berücksichtigen. Es gibt eine wichtige Strömung, die für diese Haltung eintritt und mehr Nutzung einheimischer Ressourcen bei der Modernisierung des Rechts fordert.274 Diese erweiterte und kritische Perspektive ist zwar begrüßenswert, die Entwicklung eines allseits anerkannten Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien unter dieser Perspektive ist aber anspruchsvoll und schwierig und nimmt eine längere Zeit in Anspruch. Denn es ist nicht einfach, sich für eine von unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Positionen zu entscheiden, die in unterschiedlichem Umfang und Grad Begriffe, Regeln, Prinzipien und Literaturmeinungen aus verschiedenen Rechtskreisen oder -ordnungen heranziehen oder kritisieren, oder solche Positionen zu einem Ausgleich zu bringen und Elemente aus verschiedenen Rechtskreisen oder -ordnungen selektiv zu rezipieren und zu einer folgerichtigen und widerspruchsfreien Rechtsordnung zu verbinden. Hinzu kommt die hohe Komplexität der gegenwärtigen Verhältnisse in China, die man beim Aufbau der Rechtsordnung berücksichtigen will. Die Gesellschaft erlebt große und rasante Veränderungen. In der Gesellschaft finden sich sowohl Merkmale der modernen Gesellschaft als auch solche der traditionellen Gesellschaft, sowohl neu eingeführte Elemente der Marktwirtschaft wie auch alte sozialistische Elemente. Bezüglich des Entwicklungstempos bestehen enorme Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen und gesellschaftlichen Bereichen. Es ist also schwierig und man arbeitet noch darauf hin, einerseits in Anlehnung an verschiedene Rechtskreise oder -ordnungen und im Rekurs auf verschiedene Literaturmeinungen aus solchen, andererseits unter Berücksichtigung der Komplexität der chinesischen Gesellschaft, ein allgemein anerkanntes und gleichzeitig reichhaltiges und komplexes Repertoire an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien zu entwickeln. Dass die Entwicklung eines gemeinsamen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien sich in China noch am Anfang befindet, lässt sich zuerst an der unbefriedigenden Qualität der Rechtsetzung erkennen. Die 273  He

274  Ein

Haibo, Bijiaofa yanjiu 2007, Nr. 6, 42(46 ff.). repräsentatives Werk dieser Strömung ist Suli, Fazhi jiqi bentu ziyuan.



B. Testfälle – Deutschland und China183

Rechtsetzungskompetenzen in der Volksrepublik China sind breit verteilt.275 Die Gesetzgebungskompetenz liegt bei dem Nationalen Volkskongress und seinem Ständigen Ausschuss.276 Der Staatsrat als Zentralregierung kann auch ohne gesetzliche Ermächtigung Verwaltungsrechtsbestimmungen (行政法规, xingzheng fagui) erlassen.277 Die Volkskongresse der Provinzen haben ebenfalls eine originäre Kompetenz, örtliche Rechtsbestimmungen ­ (地方性法规, difangxing fagui) zu beschließen.278 Außerdem sind die Ministerien und Kommissionen des Staatsrats sowie die Provinzregierungen befugt, Verwaltungsvorschriften (规章, guizhang) zu erlassen.279 Verwaltungsvorschriften stellen auch Außenrecht dar, das die Rechtsbeziehungen der Menschen untereinander und zum Staat ordnet. Denn ihr Erlass und ihre Veröffentlichung und die Lösung ihrer eventuellen Konflikte mit Rechtsnormen anderer Ebenen sind gesetzlich geregelt.280 Der Richter ist gesetzlich gehalten, auf sie Bezug zu nehmen, und das heißt nach herrschender Lehre, sie – soweit sie mit höherrangigem Recht vereinbar sind – anzuwenden.281 Außerdem können sie in Gerichtsurteilen zitiert werden.282 Gesetzliche und untergesetzliche Regelungen sind oft zu allgemein oder vage gefasst und von offensichtlicher Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit geprägt.283 Es kommt vielfach vor, dass Rechtsnormen, die von verschiedenen Rechtsetzungsorganen erlassen werden, einander widersprechen. Das Gesetzgebungsgesetz aus dem Jahre 2000 regelt zwar das Rangverhältnis der Normen, sieht aber keine Normenprüfungs- und -verwerfungskompetenz der Gerichte vor. Stattdessen werden Mechanismen vorge275  Vgl. zur Verteilung der Rechtsetzungskompetenzen in der Volksrepublik China Corne, American Journal of Comparative Law 50 (2002), 369 (369 ff.). 276  Art. 62 Nr. 3, 67 Nr. 2, 3 Zhonghua renmin gongheguo xianfa (Verfassung der VR China); § 7 Zhonghua renmin gongheguo lifa fa (Gesetzgebungsgesetz der VR China). 277  Art. 89 Nr. 1 Verfassung (Fn. 276); § 56 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 276). 278  Art. 100 Verfassung (Fn. 276); §§ 63 Abs. 1, 64 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 276). 279  Art. 90 Abs. 2 Verfassung (Fn. 276); §§ 71, 73 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 276). 280  §§ 71 ff. Gesetzgebungsgesetz (Fn. 276). 281  § 53 Abs. 1 Zhonghua renmin gongheguo xingzheng susong fa (Verwaltungsprozessgesetz der VR China); vgl. auch unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (3). 282  So nach einer vom Obersten Volksgericht erlassenen justiziellen Auslegung, nämlich § 5 der Bestimmungen des Obersten Volksgerichts über das Zitieren von Gesetzen, Rechtsbestimmungen und anderen normativen Dokumenten in Gerichtsurteilen (Zuigao renmin fayuan guanyu caipan wenshu yinyong falü, fagui deng guifanxing falü wenjian de gui ding) vom 26.10.2009; zur justiziellen Auslegung des Obersten Volksgerichts überhaupt siehe untenstehende Ausführungen. 283  Peerenboom, China’s Long March, S. 247  ff.; Corne, American Journal of Comparative Law 50 (2002), 369 (374 ff.).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

schrieben, in denen Konflikte zwischen Normen gleichen und solchen verschiedenen Ranges durch die Legislative oder innerhalb der Exekutive gelöst werden.284 Diese Mechanismen sind umständlich, schwer handhabbar und nicht in der Lage, das Problem der Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Rechtsordnung effektiv zu beheben.285 Darüber hinaus findet man, anders als in einem ausdifferenzierten Rechtssystem, nicht selten Normen, die statt bestimmter Tatbestände und Rechtsfolgen nicht justiziable politische Zielvorgaben oder moralische Anforderungen vorschreiben.286 Das liegt daran, dass die Gesellschaft und die Verwaltung in der Volksrepublik lange Zeit nicht durch das Recht, sondern durch die Politik, durch politische Programme, Weisungen und Kampagnen gesteuert wurden, und dass das Recht und die Rechtsprechung in der Kaiserzeit von der Moral durchdrungen waren. Weil Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien auch durch die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft entwickelt werden, können Bemühungen seitens der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft die unbefriedigende Qualität der Rechtsetzung eventuell in gewissem Maße kompensieren. Was China betrifft, ist dieser Kompensationseffekt nur begrenzt vorhanden. Denn so wie die Gesetzgebung nach der Kulturrevolution die Rechtsordnung völlig von Grund auf aufbauen musste, so mussten auch die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung sich von Null an entwickeln. In der Entwicklung eines reichhaltigen und anspruchsvollen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien, die komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen und neuen gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden können, in der Konkretisierung und Verfeinerung solcher Begriffe, Regeln und Prinzipien, und in der Etablierung solcher Begriffe, Regeln und Prinzipien als relativ gefestigter Strukturen des Rechtssystems und einheitsstiftender Redundanzen in juristischen Argumentationen bleibt noch sehr viel seitens der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung zu leisten. Zum Beispiel ist das konkrete Verwaltungshandeln (具体行政行为, juti xingzheng xingwei) ein Kernbegriff des Verwaltungsprozessgesetzes. Danach ist das Vorliegen eines konkreten Verwaltungshandelns eine Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Verwaltungsklage.287 Dieser Kernbegriff des Verwaltungsrechts weist aber in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung noch keine gefestigten Konturen auf. Unter anderem ist es umstritten und bedarf zur Entwicklung des Verwaltungsrechts und Anwendung des Geset284  Näher

unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (3). China’s Long March, S. 259 ff.; Ahl, Völkerrechtliche Verträge,

285  Peerenboom,

S.  283 ff. 286  Ahl, Völkerrechtliche Verträge, S. 284. 287  § 2 Verwaltungsprozessgesetz (Fn. 281).



B. Testfälle – Deutschland und China185

zes dringend einer Klärung und Festlegung, ob der Begriff des konkreten Verwaltungshandelns im Sinne des deutschen Begriffs des Verwaltungsaktes interpretiert werden288 kann oder darüber hinaus andere Formen des Verwaltungshandelns wie den Verwaltungsvertrag (行政合同, xingzheng hetong) und den Realakt (事实行为, shishi xingwei) umfassen soll.289 Freilich entwickelt sich die Rechtswissenschaft zurzeit in China rege und schnell. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wiederbelebte Rechtswissenschaft bisher nur eine kurze Geschichte von drei Jahrzehnten hat. In der Rechtswissenschaft ist vieles noch im Fluss und nicht gefestigt, noch in der Entwicklung und offen. Im Fokus der rechtswissenschaftlichen Forschung steht, sich über verschiedene ausländische Rechte und Rechtstheorien zu informieren, sie selektiv, teils mit Abänderungen zu übernehmen oder angesichts besonderer Verhältnisse in China eigene besondere Begriffe, Regeln und Prinzipien zu schaffen. Auf dieser Weise entstehen verschiedene, gelegentlich miteinander konkurrierende Neubildungen von Begriffen, Regeln und Prinzipien. Solche Neubildungen sind oft noch nicht als relativ gefestigte Strukturen des Rechtssystems etabliert, manchmal sogar nicht allgemein bekannt, sondern man führt sie erst in den rechtswissenschaftlichen Diskurs ein, wo sie einer kritischen Diskussion unterzogen werden, und arbeitet darauf hin, dass sie sich unter Juristen verbreiten, in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung als Elemente des geltenden Rechts allgemein anerkannt oder in gesetzliche Regelungen übernommen werden. Nicht selten sind solche Neubildungen in ihrem in der Praxis handhabbaren Inhalt und in ihrem Verhältnis zueinander und zu anderen schon etablierten relevanten Begriffen, Regeln und Prinzipien wenig geklärt. Sie benötigen noch Konkretisierung, Anreicherung und Abgrenzung, damit Argumentationen und Entscheidungen, die sich auf sie stützen, sich als juristisch ausweisen können. 288  Die Auslegung, die das Oberste Volksgericht in § 1 der Ansichten über einige Fragen des Vollzugs des Verwaltungsprozessgesetzes der VR China (Guanyu guanche zhixing „Zhonghua renmin gongheguo xingzheng susong fa“ ruogan wenti de yijian) vom 11.06.1991 dem Begriff des konkreten Verwaltungshandelns gab, ging in diese Richtung. Diese Ansichten wurden aber durch die Auslegung des Obersten Volksgerichts über einige Fragen des Vollzugs des Verwaltungsprozessgesetzes der VR China (Zuigao renmin fayuan guanyu zhixing „Zhonghua renmin gongheguo xingzheng susong fa“ ruogan wenti de jieshi) vom 08.03.2000 ersetzt. In § 1 dieser Auslegung wird auf eine klare Definition des konkreten Verwaltungshandelns verzichtet und nur einige unumstrittene Handlungsformen der Verwaltung, wie etwa die von der Verwaltung erlassenen Rechtsnormen, werden von der Kontrolle im Verwaltungsrechtsweg ausgeschlossen. Nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind zum Beispiel der Verwaltungsvertrag und der Realakt. Zur vom Obersten Volksgericht im Name der Auslegung des Rechts vorgenommenen Normsetzung siehe untenstehende Ausführungen. 289  So Jiang / Li, Falü shiyong 2006, Nr. 1, 40 (41 ff.).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Um ein Beispiel zu nennen: Unter dem Einfluss des angloamerikanischen Rechts wird in der chinesischen Verwaltungsrechtswissenschaft immer wieder vom Grundsatz der reasonableness der Verwaltung (行政合理性原则, xingzheng helixing yuanze) als einem tragenden Grundsatz des Verwaltungsrechts gesprochen, der das Ermessen der Verwaltung begrenzen soll. Dieser Grundsatz ist aber wenig konkretisiert. Was er in China bedeutet, wird unterschiedlich, oft sehr allgemein und abstrakt erläutert. Wie er konkret im Einzelfall gehandhabt werden soll, ist wenig klar.290 Dieser Grundsatz ist in der Rechtsprechung nicht als geltendes Rechtsprinzip etabliert.291 In der Rechtswissenschaft besteht außerdem ein anderer Ansatz in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungsermessens. In Anlehnung an das deutsche Recht wird nämlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip herangezogen.292 Manchmal wird die Verhältnismäßigkeit als Unterkategorie der reasonableness aufgefasst oder mit ihr gleichgesetzt. Hinsichtlich der richterlichen Überprüfung des Verwaltungsermessens bilden sich also noch keine gefestigten, konkret handhabbaren Kriterien. Auf die Frage, wie trotz der Überprüfung des Verwaltungsermessens die Unterscheidung von Recht und Politik beziehungsweise von Rechtsprechung und Verwaltung gewahrt bleiben kann, wird wenig eingegangen. Irreführend und kontraproduktiv für die Entwicklung der juristischen Argumentation und die Ausdifferenzierung des Rechts ist, dass der Grundsatz der reason­ ableness der Verwaltung oft auf gleicher Ebene neben den Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Verwaltung (行政合法性原则, xing­ zheng hefaxing y ­ uanze) gestellt. Es wird oft gesagt, das konkrete Verwaltungshandeln solle nicht nur rechtmäßig, sondern auch reasonable sein; das Gericht habe das konkrete Verwaltungshandeln nicht nur auf seine Recht290  Vgl. zur Kritik an der Rezeption des Grundsatzes der reasonableness Wang Shucheng, Xingzheng faxue yanjiu 2006, Nr. 2, 106 ff. 291  Nach § 54 Abs. 2 Ziff. 5 Verwaltungsprozessgesetz der VR China (Fn. 281) ist der Klage unter anderem stattzugeben, wenn Amtsbefugnisse bei einem konkreten Verwaltungshandeln missbraucht werden oder eine Verwaltungssanktion deutlich unfair ist. Diese beiden Fälle lassen sich als Unterkategorien des Verstoßes gegen das Prinzip der reasonableness der Verwaltung qualifizieren. Dieses Prinzip wird aber vom Obersten Volksgericht nicht allgemein als Prüfungsmaßstab anerkannt. Nach einer vom Obersten Volksgericht erlassenen justiziellen Auslegung, nämlich § 56 der Auslegung des Obersten Volksgerichts über einige Fragen des Vollzugs des Verwaltungsprozessgesetzes der VR China (Fn. 288) ist die Klage zurückzuweisen, wenn ein konkretes Verwaltungshandeln rechtmäßig ist, aber ein Problem der rea­ son­ableness birgt. Zur justiziellen Auslegung des Obersten Volksgerichts überhaupt siehe untenstehende Ausführungen. 292  Vgl. Jiang Xi, Falü kexue 2008, Nr. 5, 45 ff.; Zheng, Xingzheng faxue yanjiu 2004, Nr. 4, 55 ff.; He Jingchun, Xingzheng faxue yanjiu 2004, Nr. 2, 33 ff.; Zhang Kunshi, Xingzheng faxue yanjiu 2002, Nr. 2, 15 ff.



B. Testfälle – Deutschland und China187

mäßigkeit, sondern auch auf seine reasonableness zu prüfen. Die Frage der reasonableness wird gleichsam von der Frage, was das geltende Recht fordert oder zulässt, losgelöst und nicht klar von der Frage, was am zweckmäßigsten, vernünftigsten oder gerechtesten ist, abgegrenzt.293 In dieser Hinsicht wird also zwischen Recht und Politik nicht klar unterschieden. Das Nebeneinanderstellen von Rechtmäßigkeit und reasonableness ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass neben fa (法), das heute das Recht überhaupt bezeichnet, in der Kaiserzeit aber nur das Gesetz bedeutete, li (理, Logos, Vernunft) damals ein unabhängiger und gleichwertiger Maßstab für die Rechtsprechung war.294 Wie wichtig auch die Rechtswissenschaft für die Entwicklung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien sein mag, werden dort keine verbindlichen Entscheidungen über die Auslegung und Anwendung des Rechts getroffen, sondern nur Vorschläge zur Auslegung und Anwendung des Rechts erarbeitet und begründet und damit verbindliche gerichtliche Entscheidungen vorbereitet. Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien können sich nur als relativ gefestigte Strukturen des Rechtssystems und gemeinsame Basis bei der juristischen Kommunikation etablieren, wenn sie in der Rechtsprechung als Zentrum des Rechtssystems295 anerkannt und immer wieder verwendet werden. Auch gesetzliche Regelungen haben nur Realitätswert, wenn sie in der Rechtsprechung für verschiedenartige Sachlagen immer wieder verwendet, bestätigt und mit Sinn angereichert werden. Die Rechtsprechung spielt also eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien. Unter den dargelegten Umständen, dass es an der Qualität der legislativen und administrativen Rechtsetzung viel zu bemängeln gibt und dass in der Rechtswissenschaft vieles noch im Fluss und offen ist, ist es eine sehr große Herausforderung für die chinesischen Richter, Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien zu konkretisieren, zu systematisieren und fortzubilden und auf dieser Basis zu argumentieren und zu entscheiden. Mit der Bewältigung dieser Herausforderung hat die chinesische Justiz große Schwierigkeiten. Es mangelt an juristisch qualifizierten Richtern. Folglich trauen sich viele Richter ein eigenständiges Urteil über die Auslegung, Anwendung und Fort293  Das ist vielleicht der Grund, warum das Oberste Volksgericht in der in der Fußnote 291 erwähnten justiziellen Auslegung erklärt, dass die Klage zurückzuweisen ist, wenn ein konkretes Verwaltungshandeln rechtmäßig ist, aber ein Problem der reasonableness birgt. 294  Zu fa (Gesetz) und li (Logos) im alten China oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 295  Zur Rechtsprechung als Zentrum des Rechtssystems oben Erster Teil, B. I. 2. a).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

bildung des Rechts nicht zu. Das wird gleich unten unter dem Stichwort Professionalisierung der Rechtsprechung noch näher erläutert.296 Angesichts dieser schwierigen Lage erlässt das Oberste Volksgericht seit den achtziger Jahren justizielle Auslegungen (司法解释, sifa jieshi), um Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien in die Rechtsprechung effektiv einzuführen, dort zu etablieren und zu konkretisieren.297 Nur wenige justizielle Auslegungen sind Antworten des Obersten Volksgerichts auf Anfragen von unteren Gerichten zur konkreten Auslegung und Anwendung des Rechts in bei diesen anhängigen Einzelfällen. Diese konkreten justiziellen Auslegungen ergehen unter der Bezeichnung Schriftliche Antwort (批复, pifu).298 Fast alle justiziellen Auslegungen sind aber abstrakte justizielle Auslegungen, durch die das Oberste Volksgericht aus eigener Initiative oder auf Ersuchen von unteren Gerichten abstrakt-generelle Normen vorschreibt, die im deutschsprachigen sinojuristischen Schrifttum als „Justiznormen“ bezeichnet wurden.299 Alle justiziellen Auslegungen, die die Bezeichnungen Auslegung (解释, jieshi), Bestimmung (规定, guiding) oder Beschluss (决定, jueding) tragen, sind abstrakte justizielle Auslegungen, die aus eigener Initiative des Obersten Volksgerichts erlassen werden. Nach den ihrerseits als justizielle Auslegung geltenden Bestimmungen des Obersten Volksgerichts über die Justizauslegung300 ist eine justizielle Auslegung dann als Auslegung zu bezeichnen, wenn es in ihr um die Anwendung eines bestimmten Gesetzes oder die Anwendung des Rechts auf eine bestimmte Fallgruppe oder Problematik geht.301 Die Bezeichnung Bestimmung ist vorgesehen, wenn es sich um die Normierung der rechtsprechenden Tätigkeiten gemäß dem Geist der Gesetzgebung handelt.302 Eine justizielle Auslegung, die eine andere justizielle Auslegung abändert oder abschafft, ist als Beschluss zu bezeichnen.303 Zu abstrakten justiziellen Auslegungen gehören aber auch die ebenfalls unter der Bezeichnung Schriftliche Antwort (批复, 296  Unten

Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2). zur justiziellen Auslegung Ahl, ZchinR 2007, 251 ff.; Cao, Zhongguo faxue 2006, Nr. 3, 175 ff.; Huang Songyou, Zhongguo faxue 2005, Nr. 2, 3 ff.; Zhao Gang, Xiandai faxue 2008, Nr. 4, 180 ff.; Yuan, Fashang yanjiu 2003, Nr. 2, 3 ff.; Liu, Falü shiyong 2000, Nr. 1, 15 ff. 298  § 6 Abs. 4 Zuigao renmin fayuan guanyu sifa jieshi gongzuo de guiding (Bestimmungen des Obersten Volksgerichts über die Justizauslegung) vom 23.3.2007 (im Folgenden: Bestimmungen über die Justizauslegung). 299  Au, S. 199. 300  Siehe oben Fn. 298. 301  § 6 Abs. 2 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). 302  § 6 Abs. 3 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). 303  § 6 Abs. 5 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). 297  Allgemein



B. Testfälle – Deutschland und China189

pifu)304 ergangenen, ohne Bezug auf den Einzelfall abstrakt formulierten, kurzen Stellungnahmen des Obersten Volksgerichts zu Rechtsfragen, die von unteren Gerichten gestellt werden.305 Abstrakte justizielle Auslegungen werden oft paragraphenweise formuliert. Sie sind, wie Gesetzesvorschriften, nicht mit einer Begründung versehen. In ihnen wird nicht immer ausdrücklich gesagt, auf welche geltenden spezifischen Rechtsvorschriften sie sich beziehen oder stützen. Oft wird nur sehr allgemein darauf hingewiesen, dass sie gemäß einem bestimmten Gesetz getroffen sind. Durch abstrakte justizielle Auslegungen geschieht, vom Einzelfall losgelöst, nicht nur die Auslegung einzelner Gesetzesbestimmungen im Rahmen des möglichen Wortsinns, sondern auch die Fortbildung des Rechts nach „dem Geist der Gesetzgebung“, wie es in den Bestimmungen des Obersten Volksgerichts über die justizielle Auslegung formuliert ist.306 Nach diesen Bestimmungen sind justizielle Auslegungen vom Rechtsprechungsausschuss des Obersten Volksgerichts zu diskutieren und zu verabschieden.307 Diese Bestimmungen sehen vor, dass justizielle Auslegungen rechtliche Kraft haben308 und als richterliche Entscheidungsgrundlage in Gerichtsurteilen zu zitieren sind,309 obwohl die Verfassung und das Gesetzgebungsgesetz keine Regelung über justizielle Auslegungen enthalten und das Gerichtsorganisationsgesetz und der Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses über die Stärkung der Rechtsauslegung als Rechtsgrundlage für justizielle Auslegungen nur das Oberste Volksgericht ermächtigen, Auslegung des Rechts im Hinblick auf konkrete Probleme 304  § 6

Abs. 4 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). ZchinR 2007, 251 (255), bezeichnet die schriftlichen Antworten (pifu) als konkrete justizielle Auslegungen. Eine schriftliche Antwort (pifu) kann aber entweder konkret oder abstrakt sein. 306  §§ 3, 6 Abs. 3 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). 307  §§ 4, 23  f. Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). Näher zum Rechtsprechungsausschuss unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2). 308  § 5 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298). 309  § 27 Bestimmungen über die Justizauslegung (Fn. 298); so auch laut einer anderen justiziellen Auslegung, nämlich §§ 2 ff. der Bestimmungen des Obersten Volksgerichts über das Zitieren von Gesetzen, Rechtsbestimmungen und anderen normativen Dokumenten in Gerichtsurteilen (Fn. 282). Die Rechtsnatur der justiziellen Auslegungen ist aber nicht endgültig geklärt. In der Schriftlichen Antwort der Nationalen Administration für Industrie und Handel über die Frage, ob Verwaltungsbehörden justizielle Auslegungen direkt anwenden können (Guojia gongshang xing­ zheng zongju guanyu xingzheng jiguan kefou zhijie shiyong sifa jieshi wenti de pifu) vom 29.1.2004 lautet es, dass die Gerichte an die justiziellen Auslegungen gebunden sind, und dass die Verwaltungsbehörden sie zu Rate ziehen können, aber nicht direkt zitieren sollen. 305  Ahl,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

der Rechtsanwendung bei der Rechtsprechung durchzuführen, keine Aussage über die Bindungskraft der justiziellen Auslegungen und keine ausdrückliche Ermächtigung für den Erlass der abstrakten justiziellen Auslegungen enthalten.310 Bei Abfassung und Erlass von abstrakten justiziellen Auslegungen nimmt das Oberste Volksgericht in der Tat keine rechtsprechende, sondern eine rechtsetzende Funktion wahr. Seine Normsetzungsbefugnis ist der des Gesetzgebers untergeordnet. Wenn der Rechtsausschuss und der jeweils entsprechende andere Fachausschuss des Nationalen Volkskongresses feststellen, dass eine justizielle Auslegung gegen das vom Nationalen Volkskongress oder seinem Ständigen Ausschuss beschlossene Gesetz verstößt, kann der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses das Oberste Volksgericht zur Änderung oder Aufhebung einer solchen justiziellen Auslegung auffordern oder selbst eine legislative Auslegung erlassen, die Vorrang vor einer justiziellen Auslegung hat.311 Dass das Oberste Volksgericht jedes Jahr zahlreiche justizielle Auslegungen erlässt, hängt unter anderem damit zusammen, dass die Entwicklung eines gemeinsamen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien sich in China noch im Anfangsstadium befindet.312 Wie ausgeführt, fehlt es in China einerseits an einem reichhaltigen und anspruchsvollen Repertoire an allgemein anerkannten und relativ gefestigten Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien; andererseits sind etablierte Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien nicht hinreichend konkretisiert. Um diese Situation möglichst effektiv und schnell zu verbessern und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, beschränkt das Oberste Volksgericht sich nicht darauf, durch seine Urteile die Entscheidungspraxis der unteren Gerichte zu beeinflussen, sondern erlässt auch abstrakte justizielle Auslegungen. Denn durch Rechtsprechung kann das Gericht nur im Hinblick auf den ihm vorliegenden konkreten Fall punktuell Stellung nehmen. Es muss – vielleicht lange – auf geeignete Fälle warten. Außerdem ist seine Rechtsprechung für die unteren Gerichte rechtlich nicht bindend. Durch abstrakte justizielle Auslegungen kann das Oberste Volksgericht dagegen das Recht systema310  § 33 Zhonghua renmin gongheguo fayuan zuzhifa (Gerichtsorganisationsgesetz der VR China); Quanguo renmin daibiao dahui changwu weiyuanhui guanyu jiaqiang falü jieshi gongzuo de jueyi (Beschluss des Ständige Ausschusses des Nationalen Volkskongresses über die Stärkung der Rechtsauslegung) vom 10.6.1981. 311  §§ 32  f. Zhonghua renmin gongheguo geji renmin daibiao dahui changwu weiyuanhui jiandu fa (Gesetz der VR China über die Kontrolle durch die Ständigen Ausschüsse der Volkskongresse). 312  Vgl. zum Zusammenhang der justiziellen Auslegung mit dem Mangel an juristisch qualifizierten Richtern unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2); zum Zusammenhang der justiziellen Auslegung mit der formal-institutionellen Nichtanerkennung der richterlichen Befugnis zur Rechtsauslegung unten Zweiter Teil, B. II. 2. b) (3).



B. Testfälle – Deutschland und China191

tisch und jederzeit, losgelöst von, aber doch bindend für Einzelfälle auslegen und fortbilden. Die rationalisierenden und stabilisierenden Wirkungen einer Rechtsprechung reichen an die einer abstrakt-generellen Regelung kaum heran.313 Die abstrakte justizielle Auslegung ist der höchstrichter­ lichen Rechtsprechung in der Geformtheit, Übersichtlichkeit und Klarheit überlegen. (2) Beginnende Professionalisierung der Rechtsprechung Die Besetzung der Richterstellen mit speziell ausgebildeten und qualifizierten Juristen, also die Professionalisierung der Rechtsprechung, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der letztlich ausschließlich nach rechtlichen Kriterien erfolgten Beurteilung von Rechtsfragen und der juristischen Argumentation mit kohärent verwendeten Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien in der Rechtsprechung und in der Gesellschaft Geltung verschafft wird, und damit unverzichtbar für die Ausdifferenzierung eines besonderen Kommunikationssystems Recht gegenüber seiner gesellschaft­ lichen Umwelt, unter anderem gegenüber politischen und moralischen Kommunikationen. In der Volksrepublik China geht die Professionalisierung der Rechtsprechung seit dem Wiederaufbau der Justiz nach der Kulturrevolution nur langsam voran. Die chinesische Justiz ist vierstufig aufgebaut. Auf zentralstaatlicher Ebene existiert das Oberste Volksgericht. Auf der Ebene der Provinzen befinden sich die Volksgerichte der Oberstufe. Die Volksgerichte der Mittelstufe existieren auf der Ebene der Präfekturen. Auf der Ebene der Kreise gibt es die Volksgerichte der Grundstufe.314 Heute, drei Jahrzehnte nach der Kulturrevolution, bleibt das niedrige fachliche Durchschnittsniveau der Richterschaft weiter ein großes Problem der Justiz. Das Problem ist an den Gerichten der Grundstufe besonders ausgeprägt. Zwar wurden juristische Fachkenntnisse als Befähigung zum Richteramt schon im Jahre 1983 ins Gerichtsorganisationsgesetz hineingeschrieben,315 damals verfügte aber nur ein sehr kleiner Anteil der Richter über eine juristische Hochschulausbildung. Selbst vor Kurzem machten diejenigen Richter, die auf ihrem ersten Bildungsweg keine juristische, ja überhaupt keine Hochschulausbildung hatten, wohl noch etwa die Hälfte der gesamten Richterschaft aus.316 Rich313  Hesse,

S. 85, 235. 18  ff. Gerichtsorganisationsgesetz (Fn.  310); Heuser, Chinesische Rechtskultur, S.  241 f. 315  § 34 Abs. 2 Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 310). 316  Gao, Zhongguo faguan xueli kao, 2.7.2009, im Internet unter: http: /  / blog.sina. com.cn / s / blog_5bc43ad30100dumt.html (Stand 1.8.2012). 314  §§  2,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

ter ohne ein reguläres Studium sind zu einem beträchtlichen Teil pensionierte Armeeoffiziere.317 Bevor sie ein Richteramt übernahmen, waren sie meistens nichtrichterliche Gerichtsbedienstete wie etwa Gerichtsschreiber oder Beamte der Gerichtsverwaltung.318 Durch Erwachsenen- und Weiterbildung, die unter anderem von der Gerichtsverwaltung organisiert wird, bekommen sie fast alle eine juristische Ausbildung und einen Hochschulabschluss, der entweder dem Abschluss eines zwei- oder dreijährigen berufsbildenden Hochschulprogramms oder noch besser dem Abschluss eines vierjährigen Bachelorstudiums formal äquivalent ist.319 Eine solche Ausbildung ist aber von der Intensität und Qualität her in der Regel nicht vergleichbar mit einem regulären Studium. Während das Gerichtsorganisationsgesetz in der Fassung vom Jahre 1983 nur sehr vage von vorhandenen juristischen Fachkenntnissen als Befähigung zum Richteramt spricht, wird diese Befähigung seit dem Jahre 1995 im Richtergesetz konkretisiert. Gemäß dem Richtergesetz in seiner ursprüng­ lichen Fassung musste jeder, der Richter werden wollte, entweder ein zweioder dreijähriges berufsbildendes Hochschulprogramm oder ein vierjähriges Bachelorstudium im Fach Jura oder, wenn man über juristische Fachkenntnisse verfügte, in einem anderen Fach absolvieren und eine Richterprüfung bestehen.320 Voll qualifizierte Juristen lassen sich aber nicht durch ein zweioder dreijähriges berufsbildendes Hochschulprogramm ausbilden, da das Ausbildungsniveau eines solchen Hochschulprogramms nicht hoch genug und viel niedriger als das eines Bachelorstudiums ist. Darüber hinaus war die Richterprüfung nicht schwierig und viel einfacher als die Anwaltsprüfung. Viele derer, die die Richterprüfung bestanden, hatten zuvor in einem nichtjuristischen Fach studiert oder ihren Hochschulabschluss nicht durch ein reguläres Studium, sondern durch eine mit einem solchen nicht vergleichbare Erwachsenen- oder Weiterbildung bekommen. Viele von ihnen waren nichtrichterliche Gerichtsbedienstete und wollten zur richterlichen Laufbahn wechseln. Die Situation hat sich verändert, nachdem die Anforderungen an die Qualifikation der Richter bei der Änderung des Richtergesetzes im Jahre 2001 erhöht wurden. Im Gesetz sind als Voraussetzungen zum Richteramt nun der Abschluss eines vierjährigen Bachelorstudiums im Fach Jura oder – unter der Zusatzbedingung der vorhandenen juristischen Fachkenntnisse – in ­einem anderen Fach sowie das Bestehen einer einheitlichen nationalen Jus317  He

Weifang, in: Sifa, S. 1 (22 ff.); Suli, Songfa xiaxiang, S. 329 ff. Songfa xiaxiang, S. 327 ff. 319  Gao (Fn. 316); Zhu, Faxue yanjiu 2008, Nr. 5, 23 (26). 320  §§ 9 Abs. 1 Ziff. 6, 12 Abs. 1, 46 Abs. 3 Zhonghua renmin gongheguo faguanfa (Richtergesetz der VR China) in der Fassung vom 28.2.1995. 318  Suli,



B. Testfälle – Deutschland und China193

tizprüfung vorgesehen.321 Der Abschluss eines zwei- oder dreijährigen berufsbildenden Hochschulprogramms gilt nicht mehr als hinreichende Qualifikation. Die zuvor getrennt abgehaltene Richter-, Staatsanwalts- und Anwaltsprüfung werden zu einer einheitlichen nationalen Justizprüfung zusammengelegt. Diese Justizprüfung ist viel schwieriger als die vorherige Richterprüfung. Darum sind diejenigen, die diese neuen Zugangsvoraussetzungen erfüllen, zwar nicht ausschließlich, aber weit überwiegend Absolventen eines regulären juristischen Bachelorstudiums.322 Trotz dieser neuen Entwicklung ist der Anteil derjenigen Richter, die ein reguläres Bachelorstudium im Fach Rechtswissenschaft abgeschlossen haben, zumindest bis vor Kurzem noch unter der Hälfte der gesamten Richterschaft geblieben.323 Der Grund dafür liegt zum einen darin, dass die meisten Richter vor der neuerlichen Einführung der oben genannten strengeren Zugangsvoraussetzungen ernannt wurden, zum anderen in der oft fehlenden Bereitschaft von qualifizierten Juristen, Richter zu werden.324 Das ist seinerseits darauf zurückzuführen, dass die richterliche Laufbahn an den Gerichten der Grundoder Mittelstufe beginnt und die Richter an diesen Gerichten ein geringes gesellschaftliches Ansehen haben, und dass die Richter an diesen Gerichten oder in wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten schlecht besoldet werden. Das geringe Ansehen und die niedrige Besoldung der Richter hängen unter anderem wiederum damit zusammen, dass das Recht, wie unten noch näher zu zeigen ist, in der Geschichte wie in der Gegenwart Chinas keine große gesellschaftliche Bedeutung hat325 und dass die Richter zum großen Teil unterqualifiziert sind. Die meisten qualifizierten Juristen wollen lieber als Anwalt tätig sein oder in die Wirtschaft gehen. Wenn sie sich doch für die richterliche Laufbahn entscheiden, wollen sie in wirtschaftlich besser entwickelte Regionen gehen und lieber bei Gerichten der Mittelstufe als bei Gerichten der Grundstufe anfangen.326 Folglich beklagt man sich seit der Einführung der strengeren Zugangsvoraussetzungen für das Richteramt über das mangelnde richterliche Personal an Gerichten der Grundstufe, vor allem in wirtschaftlich weniger entwickelten Regionen, obwohl die Anzahl der Absolventen des juristischen Bachelorstudiums seit den 1990er Jahren rasant ansteigt. Der Mangel an juristisch qualifizierten Richtern ist ein entscheidender Grund dafür, dass viele Richter sich ein eigenständiges Urteil über die Aus321  §§ 9 Abs. 1 Ziff. 6, 12 Abs. 1, 51 Richtergesetz (Fn. 320) in der Fassung vom 30.6.2001. 322  Gau (Fn. 316). 323  Gau (Fn. 316). 324  Suli, Songfa xiaxiang, S. 338 ff. 325  Unten Zweiter Teil, B. IV. 2. 326  Suli, Songfa xiaxiang, S. 342 ff.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

legung, Anwendung und Fortbildung des Rechts nicht zutrauen und sich stattdessen an den Rechtsprechungsausschuss (审判委员会, shenpan weiyuanhui) ihres jeweiligen Gerichts wenden. Nach den gesetzlichen Regelungen wird in jedem Gericht, auch im Obersten Volksgericht, ein Rechtsprechungsausschuss eingerichtet. Seine Aufgaben bestehen darin, Erfahrungen mit der Rechtsprechung zusammenzutragen, über bedeutende oder schwierige Fälle und andere auf die Rechtsprechung bezogene Probleme zu beraten und (vor-)zuentscheiden.327 Der Rechtsprechungsausschuss wird vom Gerichtspräsidenten geleitet.328 Seine anderen Mitglieder werden auf Vorschlag des Gerichtspräsidenten vom Ständigen Ausschuss des Volkskongresses der entsprechenden Gebietskörperschaft ernannt329 und sind in der Regel unter anderem Gerichtsvizepräsidenten und Kammervorsitzende.330 In einer vom Obersten Volksgericht neulich erlassenen justizinternen Regelung ist detaillierter vorgeschrieben, welche Fälle dem Rechtsprechungsausschuss eines oder des Volksgerichts der jeweiligen Stufe vorgelegt werden können und welche vorgelegt werden müssen.331 Danach kann der Rechtsprechungsausschuss einberufen werden, wenn eine große Meinungsverschiedenheit innerhalb eines Spruchkörpers besteht und es schwer ist, zu einer Entscheidung zu kommen, oder wenn Rechtsvorschriften unklar sind und es Zweifelsfragen bei der Rechtsanwendung gibt oder wenn die Entscheidung eine große gesellschaftliche Wirkung haben kann oder wenn es um neuartige Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung geht oder um andere schwierige, komplexe oder bedeutende Fälle.332 Der Rechtsprechungsausschuss muss einberufen werden, unter anderem wenn es um den Freispruch des Angeklagten, die Verhängung der Todesstrafe oder die Wiederaufnahme des Verfahrens geht.333 Die Tür zum Rechtsprechungsausschuss ist also weit offen. Das Institut des Rechtsprechungsausschusses ist in der chinesischen Rechtswissenschaft umstritten. Einerseits gibt es Stimmen, die sich für die Abschaffung des Rechtsprechungsausschusses aussprechen;334 andererseits 327  § 11 Abs. 1 Zhonghua renmin gongheguo fayuan zuzhifa (Gerichtsorganisa­ tionsgesetz der VR China); § 149 Zhonghua renmin gongheguo xingshi susong fa (Strafprozessgesetz der VR China). 328  § 11 Abs. 3 Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 327). 329  § 11 Abs. 2 Gerichtsorganisationsgesetz (Fn. 327). 330  Suli, Songfa xiaxiang, S. 103. 331  Guanyu gaige he wanshan renmin fayuan shenpan weiyuanhui zhidu de shishi yijian (Ansichten über die Reform und Verbesserung der Rechtsprechungsausschüsse der Volksgerichte) vom 11.1.2010 (im Folgenden: Ansichten über die Rechtsprechungsausschüsse). 332  § 11 Abs. 1 Ansichten über die Rechtsprechungsausschüsse (Fn. 331). 333  §§ 8, 9, 10 Ansichten über die Rechtsprechungsausschüsse (Fn. 331). 334  Vgl. He Weifang, in: Sifa, S. 139 ff.



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gibt es Stimmen, die ihn unter den gegenwärtigen Verhältnissen in China im Ganzen genommen positiv bewerten.335 Auf jeden Fall birgt das Institut des Rechtsprechungsausschusses viele Probleme in sich. Es verstößt etwa gegen den Prozessgrundsatz der Unmittelbarkeit. Relevant für die vorliegende Arbeit ist seine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit. Die Voraussetzungen für die Einberufung des Rechtsprechungsausschusses zur Diskussion der Fälle sind, wie beschrieben, weit gefasst. Besonders schwerwiegend ist, dass die Initiative für die Einberufung nicht allein beim mit der Sache befassten Spruchkörper, sondern auch beim Gerichtspräsidenten, dem für den jeweiligen Sachbereich zuständigen Vizepräsidenten und dem jeweiligen Kammervorsitzenden liegt.336 Es ist in der Praxis allgemein anerkannt und beim Strafprozess sogar gesetzlich verankert, dass der mit der Sache befasste Spruchkörper der Entscheidung des Rechtsprechungsausschusses zu folgen hat.337 Obwohl diese Entscheidung mit einfacher Stimmenmehrheit gefällt wird,338 kann nicht über die Bedrohung der richter­ lichen Unabhängigkeit durch justizinterne Einwirkungen seitens des Rechtsprechungsausschusses hinweggetäuscht werden. Wie schon ausgeführt, gilt das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit auch innerhalb der Judikative.339 Zumindest wenn die Initiative für die Einberufung des Rechtsprechungsausschusses nicht vom mit der Sache befassten Spruchkörper ausgeht oder wenn der Spruchkörper zu dieser Initiative gezwungen oder gedrängt wird, wird dem Spruchkörper in der Tat die Entscheidung des Rechtsprechungsausschusses aufgezwungen. Denjenigen Richtern, die Mitglieder des Rechtsprechungsausschusses sind und in der Regel führende Positionen im Gericht bekleiden, sind andere normale Richter in ihrer Entscheidung unterworfen. Sie sind gleichsam wie Verwaltungsbeamte nach Weisung tätig. Gegebenenfalls werden Entscheidungen im Rechtsprechungsausschuss in Abstimmung mit Partei-, Regierungs- und Verwaltungsstellen oder unter Berücksichtigung deren Ansichten und Reaktionen getroffen. Das Verhältnis von Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit, das für das politische 335  Vgl. Suli, Songfa xiaxiang, S. 88 ff. Das Oberste Volksgericht strebt auch nur an, den Rechtsprechungsausschuss zu reformieren und zu verbessern statt abzuschaffen; vgl. dazu die von ihm entworfene zweite und dritte fünfjährige (2004–2008 und 2009–2013) Reformskizze für die Volksgerichte (Renmin fayuan di’erge yu disange wunian gaige gangyao) und §§ 1, 2, 6 Ansichten über die Rechtsprechungsausschüsse (Fn. 331). 336  § 11 Abs. 1 Ansichten über die Rechtsprechungsausschüsse (Fn. 331). 337  § 149 Strafprozessgesetz (Fn. 327). 338  § 16 Abs. 3 Ansichten über die Rechtsprechungsausschüsse (Fn. 331); Suli, Songfa xiaxiang, S. 106. 339  Oben Erster Teil, B. III. 3.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

System charakteristisch ist, droht auch die richterliche Wahrnehmung der rechtsprechenden Funktion zu bestimmen. Das Institut des Rechtsprechungsausschusses hat aber seine gesellschaftliche Grundlage unter anderem im niedrigen fachlichen Durchschnittsniveau der Richterschaft. Unqualifizierte Richter haben oft große Schwierigkeiten mit der Auslegung und Anwendung des Rechts und brauchen den Rechtsprechungsausschuss, der ihnen Rat und Anweisung gibt. Darum wird die Vorentscheidung des Rechtsprechungsausschusses über anhängige Verfahren oft von Richtern selbst nicht als auf ihnen ausgeübten Zwang, als Beeinträchtigung ihrer Unabhängigkeit wahrgenommen, sondern als Rat und Hilfe bei ihrer Wahrnehmung der rechtsprechenden Aufgaben ange­ sehen.340 Die auf Chinesisch anjian qingshi zhidu (案件请示制度) genannte Praxis der Gerichte, sich mit Fragen der Rechtsauslegung und -anwendung, die sich im Laufe eines anhängigen Verfahrens stellen, an das jeweils nächst höhere Gericht zu wenden,341 hängt auch mit dem niedrigen fachlichen Durchschnittsniveau der Richterschaft zusammen und ist mit dem Institut des Rechtsprechungsausschusses verbunden. Wenn der Rechtsprechungsausschuss zu keinem sicheren Urteil über einen ihm vorliegenden Fall gelangen kann, fragt man beim jeweils nächst höheren Gericht an. Wenn dieses ein Volksgericht der Ober- oder Mittelstufe ist, kann die Anfrage noch nach oben bis zum Obersten Volksgericht weitergeleitet werden. Eine dem Obersten Volksgericht vorliegende Anfrage wird entweder rechtlich unverbindlich oder in Form einer nach Ansicht des Obersten Volksgerichts rechtlich verbindlichen justiziellen Auslegung beantwortet.342 Auch diese Praxis geht zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit, zumindest wenn die Anfrage ursprünglich nicht oder nicht ohne Zwang, Druck oder Manipulation vom mit der Sache befassten Spruchkörper kommt. Ohne Initiative dieses Spruchkörpers kann, wie ausgeführt, der Rechtsprechungsausschuss des Gerichts, zu dem dieser Spruchkörper gehört, auch einberufen und damit die Möglichkeit der Anfrage beim jeweils nächst höheren Gericht eröffnet werden. Man könnte annehmen, dass das Institut des Rechtsprechungsausschusses und die Praxis der Anfrage bei höheren Gerichten die auch justizintern zu schützende richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des 340  Suli, Songfa xiaxiang, S. 99 ff.; dort wird auf der Grundlage von Gesprächen mit Richtern an Gerichten der Grundstufe die Ansichten der Richter über den Rechtsprechungsausschuss dargestellt und ausgewertet. 341  Dazu Wan, Faxue 2005, Nr. 2, S. 9  ff.; Jiang Huiling, Falü shiyong 2007, Nr. 8, S. 2 ff. 342  Vgl. zur justiziellen Auslegung obige Ausführungen im Zweiten Teil, B. II. 2. b) (1).



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Richters343 nicht beeinträchtigen, sofern die Initiative für die Einberufung des Rechtsprechungsausschusses ohne Zwang, Druck und Manipulation vom mit der Sache befassten Spruchkörper kommt. Selbst wenn man diese Ansicht teilt, kann nicht bestritten werden, dass der Richter, der regelmäßig auf den Rechtsprechungsausschuss und die Anfrage bei höheren Gerichten angewiesen ist, sich nicht in ein ausdifferenziertes Rechtssystem einpasst, das durch das Institut der richterlichen Unabhängigkeit zu sichern und zu fördern ist. Ein ausdifferenziertes Rechtssystem erfordert einen Richtertyp, der mit fundierten juristischen Fachkenntnissen selbständig arbeitet. Er braucht zwar auch Rat und Hilfe, aber – außer wenigen Ausnahmen wie Rechtsmittel – nicht in einer hierarchisierten Struktur, sondern in einem offenen Diskurs zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern. Ein solcher Richtertyp wird in China weitgehend vermisst. Auch der nicht aus Anlass eines anhängigen Verfahrens erfolgte Erlass abstrakter justizieller Auslegungen durch das Oberste Volksgericht ist unter anderem auf den Mangel an juristisch qualifizierten Richtern zurückzuführen und lässt sich als Hilfe für unqualifizierte Richter verstehen. (3) Formal-institutionelle Nichtanerkennung der richterlichen Befugnis zur Rechtsauslegung Wie im Vorstehenden ausgeführt, ist die Nichtanerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis ein großes Hindernis für die Ausdifferenzierung des Rechts gegenüber der Politik.344 Sie verhindert die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit. Denn nur wenn die Auslegung des Rechts als integraler Bestandteil der Rechtsprechung anerkannt und der richterlichen Kompetenz zugerechnet wird, kann man im nächsten Schritt die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit erwarten, nämlich erwarten, dass die Wahrnehmung der richterlichen Auslegungskompetenz unabhängig und ohne Kontrolle durch die Politik erfolgt.345 In der Volksrepublik China steht dem rechtsprechenden einzelnen Richter oder Spruchkörper formal-institutionell keine Kompetenz zur Auslegung des Rechts zu. Die Verfassung sieht keine Gewaltenteilung im Sinne der wechselseitigen Hemmung und Kontrolle der Staatsgewalten Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung vor. Stattdessen geht sie vom Prinzip des demokratischen Zentralismus und vom Volkskongresssystem aus. 343  Zur

III. 3.

richterlichen Unabhängigkeit innerhalb der Judikative oben Erster Teil, B.

344  Oben 345  Vgl.

Zweiter Teil, A. I. 3. oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (6).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Hiernach sind alle Organe der Exekutive und der Rechtsprechung den Volkskongressen verantwortlich und unterworfen.346 Der Nationale Volkskongress ist das höchste Staatsorgan.347 Nach der Verfassung und dem Gesetzgebungsgesetz haben er und sein Ständiger Ausschuss nicht nur die Gesetzgebungskompetenz, sondern auch die Kompetenz für die Auslegung der Verfassung.348 Dem Ständigen Ausschuss des Nationale Volkskongresses steht außerdem die Kompetenz für die Auslegung der Gesetze zu.349 Der Staatsrat, die Zentrale Militärkommission, das Oberste Volksgericht, die Oberste Staatsanwaltschaft und die Fachausschüsse des Nationalen Volkskongresses sowie Ständige Ausschüsse der Volkskongresse der Provinzen können den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses um die Auslegung von Gesetzen ersuchen.350 Dieser legislativen Auslegung kommt dieselbe Wirkung wie einem Gesetz zu.351 Die Gerichte sollen als Organe der Rechtsprechung nur für die Anwendung von Gesetzen zuständig sein. Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses hat dennoch bisher selten von seiner Auslegungskompetenz Gebrauch gemacht.352 In der Praxis spielt die oben erläuterte justizielle Auslegung durch das Oberste Volksgericht eine viel wichtigere Rolle.353 Das ist aber nicht ganz mit der oben beschriebenen Entwicklung des référé législatif in Preußen vergleichbar. Dort geschah die gesetzlich vorgeschriebene authentische Interpretation des Gesetzgebers im ausgehenden 18. Jahrhundert nur selten und wurde schließlich abgeschafft.354 Denn auch das Institut der justiziellen Auslegung geht ursprünglich von der Nichtanerkennung der Rechtsauslegung als eines integralen Bestandteils der Rechtsprechung aus. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass der normale Richter sich bei der Rechtsprechung möglichst wenig um die Auslegung, sondern möglichst nur um die Anwendung des Gesetzes kümmern soll. Im Gerichtsorganisationsgesetz und Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses über die Stärkung der Rechtsauslegung als Rechtsgrundlage für die justizielle Auslegung wird nur das Oberste Volksgericht ermächtigt, die Auslegung des Rechts durch346  Art. 3

na).

Abs. 1, 3 Zhonghua renmin gongheguo xianfa (Verfassung der VR Chi-

347  Art. 57

Verfassung (Fn. 346). Ziff. 2, 67 Ziff. 1 Verfassung (Fn. 346); §§ 88 Ziff. 1 und 2, 90 f. Zhonghua renmin gongheguo lifa fa (Gesetzgebungsgesetz der VR China). 349  Art. 67 Ziff. 4 Verfassung (Fn. 346); §§ 42 ff. Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 350  § 43 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 351  § 47 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 352  Luo, Falü shiyong 2004, Nr. 8, 39 ff. 353  Zur justiziellen Auslegung oben Zweiter Teil, B. II. 2. b) (1). 354  Oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (6). 348  Art. 62



B. Testfälle – Deutschland und China199

zuführen.355 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers steht also nicht allen Richtern, sondern nur dem Obersten Volksgericht die Befugnis zur Rechtsauslegung zu, und zwar nicht originär aufgrund der Verfassung, sondern derivativ aufgrund der Ermächtigung des Gesetzgebers. Darüber hinaus nimmt das Oberste Volksgericht diese derivative Kompetenz durch den Erlass von justiziellen Auslegungen, also getrennt von seiner rechtsprechenden Tätigkeit in einem anhängigen Verfahren, wahr. Während die Rechtsprechung durch einen Spruchkörper erfolgt, werden justizielle Auslegungen vom Rechtsprechungsausschuss verabschiedet. Sie entstehen losgelöst von der spruchrichterlichen Tätigkeit, stellen dann aber Anleitungen für diese dar. Justizielle Auslegungen, vor allem abstrakte justizielle Auslegungen, durch die abstrakt-generelle Normen vorgeschrieben sind, gehören nicht zur normalen richterlichen Rechtsauslegung, die im konkreten Einzelfall erfolgt und mit der Rechtsanwendung auf diesen verbunden ist. Trotz zahlreicher justizieller Auslegungen kann der Richter regelmäßig auch nicht umhin, bei der Anwendung des Rechts auf den Einzelfall das Recht auszulegen. Dennoch haben die im Institut der legislativen Auslegung sowie im Institut der justiziellen Auslegung zum Ausdruck kommende formal-institutionelle Nichtanerkennung der Rechtsauslegung als eines integralen Bestandteils der Rechtsprechung Auswirkungen auf das Rechtsverständnis, die Methodik und das Verhalten der Richter. Viele Richter sind zurückhaltend gegenüber einer freizügigen richterlichen Rechtsauslegung und einer richterlichen Rechtsfortbildung oder betrachten sie nur als notwendiges Übel. Viele Richter trauen sich bei unklaren oder fehlenden Gesetzen nicht, selbständig zu entscheiden, sondern setzen auf die auf die Lösung von Auslegungsfragen angelegten Institute des Rechtsprechungsausschusses, der Anfrage bei höheren Gerichten356 und der justiziellen Auslegung durch das Oberste Volks­ gericht. Das Institut der justiziellen Auslegung ist zweischneidig für die Ausdifferenzierung des Rechts. Einerseits trägt es, wie oben ausgeführt, dazu bei, Rechtsbegriffe, -regeln und -prinzipien in die Rechtsprechung effektiv einzuführen, dort zu etablieren und zu konkretisieren, und leistet unqualifizierten Richtern Hilfe bei ihrer Wahrnehmung der rechtsprechenden Aufgabe. Andererseits liegt den justiziellen Auslegungen die Skepsis gegenüber der Auslegungsfreiheit des einzelnen Richters zugrunde. Sie haben manchmal 355  § 33 Zhonghua renmin gongheguo fayuan zuzhifa (Gerichtsorganisationsgesetz der VR China); Quanguo renmin daibiao dahui changwu weiyuanhui guanyu jiaqiang falü jieshi gongzuo de jueyi (Beschluss des Ständige Ausschusses des Nationalen Volkskongresses über die Stärkung der Rechtsauslegung) vom 10.6.1981. 356  Zum Rechtsprechungsausschuss und der Anfrage bei höheren Gerichten oben Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

eine kasuistische Tendenz. Sie sind fast alle ohne Bezug auf den konkreten Fall abstrakt formuliert und nicht mit einer Begründung versehen und sagen nicht immer ausdrücklich, auf welche geltenden spezifischen Rechtsvorschriften sie sich beziehen oder stützen. Deswegen lassen sich Methodik, Entscheidungsgrundlage und Argumentation, die ihnen zugrunde liegen, oft nicht leicht erkennen. All dies ist ungünstig für die Förderung und Etablierung des vom ausdifferenzierten Rechtssystem erforderten Richtertyps, der fähig ist und sich berechtigt sieht, das Recht im Hinblick auf vielfältige, manchmal neuartige Fälle selbständig mit stringenter juristischer Argumentation zu konkretisieren und fortzubilden. Die formal-institutionelle Nichtanerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Verfassung und das Gesetzgebungsgesetz keine Normprüfungs- und -verwerfungskompetenz der Gerichte, sondern die Lösung von Normenkonflikten durch die Legislative oder innerhalb der Exekutive vorsehen.357 Zuständig für die Aufhebung eines verfassungswidrigen Gesetzes ist der Nationale Volkskongress.358 Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses ist dafür zuständig, eine verfassungswidrige oder gesetzwidrige, vom Staatsrat als Zentralregierung erlassene Verwaltungsrechtsbestimmung und eine verfassungswidrige, gesetzwidrige oder einer Verwaltungsrechtsbestimmung widersprechende, von einem Provinzvolkskongress beschlossene örtliche Rechtsbestimmung aufzuheben.359 Die Befugnis zur Aufhebung einer verfassungswidrigen, gesetzwidrigen oder einer Verwaltungsrechtsbestimmung widersprechenden Verwaltungsvorschrift, die von einem Ministerium des Staatsrats oder von einer Provinzregierung erlassen wird, steht dem Staatsrat zu.360 Der Staatsrat entscheidet auch, wenn Verwaltungsvorschriften der Ministerien untereinander oder Verwaltungsvorschriften der Ministerien und Verwaltungsvorschriften der Provinzregierungen untereinander nicht übereinstimmen.361 Falls eine örtliche Rechtsbestimmung und eine Verwaltungsvorschrift eines Ministeriums nicht übereinstimmen und nicht klar festgestellt werden kann, was gelten soll, soll man sich zuerst an den Staatsrat wenden. Wenn er der Ansicht ist, dass die jeweilige örtliche Rechtsbestimmung gelten soll, kann 357  Vgl. zur Verteilung der Rechtsetzungskompetenzen in China oben Zweiter Teil, B. II. 2. b) (1). 358  Art. 62 Ziff. 11 Verfassung (Fn. 346); §§ 78, 87 Ziff. 2, 88 Ziff. 1 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 359  Art. 67 Ziff. 7 und 8 Verfassung (Fn. 346); § 88 Ziff. 2 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 360  Art. 89 Ziff. 13 und 14 Verfassung (Fn. 346); §§ 78, 79, 87 Ziff. 2, 88 Ziff. 3 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 361  Art. 89 Ziff. 13 und 14 Verfassung (Fn. 346); §§ 86 Abs. 1 Ziff. 3, 87 Ziff. 3, 88 Ziff. 3 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348).



B. Testfälle – Deutschland und China201

er dies direkt beschließen. Wenn er der Ansicht ist, dass die jeweilige Verwaltungsvorschrift gelten soll, muss er dies dem Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses zur Entscheidung vorlegen.362 Die Richter haben also keine Befugnis, irgendeine Norm wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig zu erklären Es stellt sich dennoch die Frage, ob die Richter wenigstens befugt sind, eine dem höherrangigen Recht widersprechende Norm nicht anzuwenden. Relevant für diese Frage sind die Regelungen über die gerichtliche Entscheidungsgrundlage im Verwaltungsprozessgesetz. Nach diesen Regelungen entscheidet der Richter nach Maßgabe von Gesetzen, Verwaltungsrechtsbestimmungen und örtlichen Rechtsbestimmungen363 sowie unter Bezugnahme auf Verwaltungsvorschriften der Ministerien und der Provinzregierungen.364 Für die Normanwendung werden also zwei unterschiedliche Begriffe, nach Maßgabe (依据, yiju) und Bezugnahme auf (参照, canzhao) verwendet, je nachdem ob es sich um die Anwendung von Gesetzen und Rechtsbestimmungen oder um die Anwendung von Verwaltungsvorschriften handelt. Die Bezugnahme auf Verwaltungsvorschriften wird nach herrschender Lehre dahin verstanden, dass der Richter Verwaltungsvorschriften, die mit höherrangigem Recht vereinbar sind, anwenden muss, Verwaltungsvorschriften, die gegen eine höherrangie Norm verstoßen, aber für den konkreten Fall unbeachtet lassen kann.365 Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass der Richter immerhin bei der Entscheidung von Verwaltungssachen auf jeden Fall an Gesetze, Verwaltungsrechtsbestimmungen und örtliche Rechtsbestimmungen, soweit sie nicht durch die gesetzlich vorgesehenen zuständigen legislativen oder exekutiven Instanzen aufgehoben werden, gebunden ist und ihre Anwendung nicht aufgrund eigener Feststellung des Widerspruchs mit dem höherrangigen Recht ablehnen darf.366 Es gibt zwar in der Theorie und in der Praxis, auch seitens des Obersten Volksgerichts, Versuche, für die Richter in allen Gerichtszweigen die Befugnis in Anspruch zu nehmen, nicht nur Verwaltungsvorschriften, sondern auch örtliche Rechtsbestimmungen oder auch Verwaltungsrechtsbestimmungen oder sogar Gesetze wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für den konkreten Fall nicht anzuwenden.367 Solche Versuche sind aber nicht nur 362  § 86

Abs. 1 Ziff. 2 Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). Abs. 1 Zhonghua renmin gongheguo xingzheng susong fa (Verwaltungsprozessgesetz der VR China). 364  § 53 Abs. 1 Verwaltungsprozessgesetz (Fn. 363). 365  Ying, S. 288; Fang / Xu / Ding, S. 207. 366  Fang / Xu / Ding, S. 206. 367  Wang Lei, Faxue 2004, Nr. 4, S. 123 ff.; Gan, Renmin sifa 2002, Nr. 4, S. 52 f.; Zhao Qinglin, Zhengzhi yu falü 2008, Nr. 5, S. 30 ff.; Zuigao renmin fayuan guanyu 363  § 52

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

politisch heikel, sondern auch juristisch umstritten. Sie lassen sich zwar mit der Durchsetzung der Normenhierarchie, die auch im Gesetzgebungsgesetz vorgeschrieben ist,368 und mit der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung begründen. Es besteht jedoch Zweifel, ob sie sich in die geltende Rechtsordnung, in der das verfassungsrechtliche und gesetzliche Misstrauen gegenüber der richterlichen Normauslegungs-, -prüfungs- und -verwerfungskompetenz ausgeprägt ist, einfügen lassen. Sie sind mit der Frage konfrontiert, ob durch sie die vorstehenden, von der Verfassung und dem Gesetzgebungsgesetz vorgeschriebenen Mechanismen der Lösung von Normenkonflikten durch die Legislative und innerhalb der Exekutive unterlaufen oder umgangen werden. Darüber hinaus stimmen sie mit der erwähnten begrifflichen Unterscheidung zwischen der Anwendung von Gesetzen und Rechtsbestimmungen einerseits und der Anwendung von Verwaltungsvorschriften andererseits im Verwaltungsprozessgesetz wohl kaum überein. In der Zusammenfassung der vom Obersten Volksgericht veranstalteten Arbeitstagung über Fragen der Anwendung von Rechtsnormen bei der Behandlung von Verwaltungssachen369 wird zwar allgemein vom Anwendungsvorrang des höherrangigen Rechts gesprochen. Angesichts des verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Misstrauens gegenüber der richterlichen Normprüfungs- und -verwerfungskompetenz ist man aber von dieser Posi­ tion ein Stück abgerückt, indem gesagt wird, dass ein Normenkonflikt der gemäß dem Gesetzgebungsgesetz zuständigen legislativen oder exekutiven Instanz zur Entscheidung vorzulegen ist, unter anderem wenn es sich um eine wichtige Angelegenheit handelt oder wenn es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den betreffenden Behörden oder Staatsorganen besteht. In der Praxis umgehen Richter manchmal das Problem der Normenkonflikte, renmin fayuan shenli xingzheng anjian dui difangxing fagui de guiding yu falü he xingzheng fagui buyizhi de yingdang zhixing falü he xingzheng fagui de guiding de fuhan (Antwort des Obersten Volksgerichts über die Verpflichtung der Volksgerichte bei der Behandlung von Verwaltungssachen zur Durchsetzung von Gesetzen und Verwaltungsrechtsbestimmungen im Fall ihrer Unvereinbarkeit mit örtlichen Rechtsbestimmungen) vom 11.3.1993; Zuigao renmin fayuan guanyu dui renmin fayuan shenli gonglu jiaotong xingzheng anjian ruhe shiyong falü wenti de dafu (Antwort des Obersten Volksgerichts über die Rechtsanwendung der Volksgerichte bei der Behandlung von Verwaltungssachen bezüglich des Straßenverkehrs) vom 1.2.2001. Diese zwei Antworten des Obersten Volksgerichts waren auf die Anfragen der unteren Gerichte ergangen. 368  §§ 78 ff. Gesetzgebungsgesetz (Fn. 348). 369  Zuigao renmin fayuan guanyu yinfa „guanyu shenli xingzheng anjian shiyong falü guifan wenti de zuotanhui jiyao“ de tongzhi (Mitteilung des Obersten Volksgerichts über Abdruck und Verbreitung der „Zusammenfassung der Arbeitstagung über Fragen der Anwendung von Rechtsnormen bei der Behandlung von Verwaltungssachen“) vom 18.5.2004.



B. Testfälle – Deutschland und China203

indem sie Rechtsvorschriften, die gegen höherrangiges Recht verstoßen, in Gerichtsurteilen gar nicht erwähnen und dieses Recht einfach anwenden. (4) V  erschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik auf dem Land Das gesellschaftliche Leben auf dem Land in China ist noch von der breiter angelegten traditionellen moralisch-rechtlichen Ordnung beeinflusst. Während moralische Kriterien in einem modernen ausdifferenzierten Rechtssystem nicht unmittelbar, sondern nur durch Transformation in rechtliche Kategorien indirekt gelten können und die Nichtigkeit oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm einen rechtlichen Grund haben muss,370 ist in China die aus der Kaiserzeit stammende traditionelle Vorstellung von tianli (himmlisches Prinzip) oder li (Logos, Vernunft), guofa (staatliches Gesetz) oder fa (Gesetz) und renqing (Menschengefühl) beziehungsweise qing (Gefühl) als drei gleichwertige Maßstäbe für die Rechtsprechung unter der ländlichen Bevölkerung immer noch verbreitet.371 Nach dieser Vorstellung soll fa (Gesetz) mit li (Logos) und qing (Gefühl) als Formen ethischer Normen, menschlicher Empfindungen und gesellschaftlicher Gewohnheiten in Einklang gebracht werden und eventuell hinter diesen zwei Maßstäben zurücktreten. Die beharrliche Durchsetzung von Gerechtigkeit und berechtigten Ansprüchen nach abstrakten Regeln und die Beurteilung ausschließlich nach den Kriterien von Recht und Unrecht, richtig und falsch werden nicht gutgeheißen. Rücksichtnahme und Verständnis für Mitmenschen, Zurückhaltung bei der Wahrnehmung eigener Interessen und bei Konflikten mit anderen Menschen werden hochgeschätzt. Diese Vorstellung, die auf dem Land weiter wirkt, widerspricht dem modernen Grundsatz der richterlichen Rechtsund Gesetzesbindung. Hinzu kommt, dass die Gesetzgebung im heutigen China mehr auf eine industrialisierte und urbanisierte Gesellschaft zugeschnitten ist und viel weniger als die Gesetzgebung in der Kaiserzeit auf traditionelle Moral, Sitte, Gewohnheit und davon geprägte Mentalitäten der ländlichen Bevölkerung achtet. Die heutigen Richter werden deswegen in ländlichen Gebieten, wo die Tradition fortwirkt, häufiger mit dem Konflikt des Gesetzes mit qing (Gefühl) und li (Logos) konfrontiert als Richter in der Kaiserzeit. Wenn ein auf dem Land arbeitender und lebender Richter unter diesen Umständen darauf besteht, letztlich ausschließlich nach dem geltenden modernen Recht zu entscheiden, statt qing (Gefühl), li (Logos) und fa (Gesetz) 370  Oben

Erster Teil, B. I. 3. a). zu diesen Maßstäben oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1).

371  Ausführlich

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

auszubalancieren und fa eventuell hinter qing und li zurücktreten zu lassen, muss er unter massivem Druck seitens der Prozessbeteiligten und der Öffentlichkeit vor Ort leiden. Er muss befürchten, aufgrund des Unverständnisses und Zorns der Prozessbeteiligten und der Öffentlichkeit vor Ort im Alltagsleben in unzumutbare Schwierigkeiten, Unsicherheit und Isolation zu geraten.372 Er kann von der lokalen Verwaltung, Polizei und Parteiorganisation nicht erwarten, dass sie sich schützend vor ihn stellen. Auch sie stehen unter massivem öffentlichem Druck und drängen als Reaktion darauf oft dem Gericht auf, diesem Druck nachzukommen. Die Unabhängigkeit des Richters wird also in ländlichen Gebieten wegen des Widerspruchs des modernen Rechts mit den traditionellen moralisch-rechtlichen Vorstellungen zuerst durch die Prozessbeteiligten und die Öffentlichkeit und dann auch durch die Verwaltung und die Kommunistische Partei bedroht. Ein auf dem Land arbeitender und lebender Richter, der aufgrund dieses Widerspruchs unter unzumutbarem Druck steht, sieht sich oft gezwungen, die Unverbrüchlichkeit des Rechts, die von grundlegender Bedeutung für die Ausdifferenzierung des Rechts ist, zu Gunsten von qing (Gefühl) und li (Logos) aufzugeben oder den vom Gerichtspräsidenten geleiteten Rechtsprechungsausschuss373 anzurufen, um die Verantwortung für den ihm vorliegenden umstrittenen Fall und den damit verbundenen öffentlichen Druck von sich auf den Rechtsprechungsausschuss zu wälzen.374 Der Rechtsprechungsausschuss wird angerufen, nicht weil der Fall juristisch schwierig ist, sondern weil der einzelne Spruchkörper enormem öffentlichem und politischem Druck nicht standhalten kann.375 Unter solchem Druck kann der Rechtsprechungsausschuss auch nicht, wie dies in einem ausdifferenzierten Rechtssystem der Fall sein soll, außerrechtliche Faktoren, die vom geltenden Recht nicht gedeckt sind, ganz und immer außer Acht lassen. Er verfügt aber wegen seiner Besetzung über eine mächtigere Position als einzelne Spruchkörper, um sich in einer Kraftprobe mit der Öffentlichkeit und der Politik mehr durchzusetzen. Die Tradition der Verschmelzung des Rechts mit der Politik aus der Kaiserzeit376 wirkt auch in ländlichen Gebieten fort. Die Menschen dort machen keinen wesentlichen Unterschied zwischen Recht und Politik, zwischen der Rechtsprechung und Verwaltung, zwischen einem Gericht und einer Verwaltungsbehörde. Egal ob sie sich mit ihren Anliegen an ein Gericht oder an eine Verwaltungsbehörde wenden, erwarten sie eine Lösung, die qing (Ge372  Suli,

Songfa xiaxiang, S. 130, 259. Rechtsprechungsausschuss oben Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2). 374  Vgl. zu wirklichen Fällen dieser Art Suli, Songfa xiaxiang, S. 129 ff., 243 ff. 375  Suli, Songfa xiaxiang, S. 130 f. 376  Dazu oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 373  Zum



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fühl) und li (Logos) beachtet, die Interessen aller Beteiligten umfassend und einzelfallgerecht, also nicht nur aus rechtlichen Gesichtspunkten, berücksichtigt, nicht nur ihnen Rechtsschutz gewährt, sondern auch unter dem Einsatz aller möglichen Ressourcen für ihr Wohlergehen sorgt. Sie verstehen nicht, warum die Verwaltung nicht für eine gerechte Rechtsprechung im Einzelfall sorgen soll, auch nicht, warum der Richter nur ausspricht, was das geltende Recht zulässt, verbietet und fordert, und nicht darüber hinaus mehr für die Bürger tun soll. Im Zeichen dieser Haltung der allgemeinen Bevölkerung begnügen sich Richter an Volksgerichten der Grundstufe in ländlichen Gebieten auch nicht immer damit, einen Konflikt juristisch zu lösen, sondern schaffen ab und zu, gegebenenfalls in Abstimmung mit anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, außerjuristische Bedingungen, die das normale Leben der von einem Konflikt Betroffenen und deren normalen Umgang miteinander in der Zukunft ermöglichen, wie Richter in der Kaiserzeit das auch taten. Um ein Beispiel zu nennen: In einem Fall, der sich in einem ländlichen Ort in der Provinz Hubei ereignete,377 sprach das Gericht aus, dass der Beklagte dem Kläger zur Entschädigung für die durch einen Unfall verursachte Invalidität verpflichtet sei. Es beschränkte sich aber nicht darauf. Es sorgte in Abstimmung mit der Verwaltung noch dafür, dass der invalide Kläger als Pförtner in einer Verwaltungsbehörde arbeiten konnte und bis zur Volljährigkeit seines Kindes teilweise von Steuern befreit wurde, und dafür, dass der mittellose Beklagte von einer staatlichen Bank ein Darlehen erhielt und damit zur Zahlung der Entschädigung finanziell in der Lage war. Ein Richter, der sich nicht mit einer juristischen Entscheidung zufrieden gibt, agiert politisch. Es kann sein, dass er sich dazu gezwungen sieht, etwa weil die Prozessbeteiligten und die Öffentlichkeit vor Ort von ihm erwarten, dass er sich auch um ihre außerrechtlichen Anliegen kümmert, und weil die Verwaltung, wenn er nicht die Initiative ergreift, das wohl auch nicht tun wird. Er ist, wie der vorstehende Fall zeigt, auf die Zusammenarbeit seitens der Exekutive angewiesen. Die Zusammenarbeit kann aber keine Einbahnstraße sein. Es kann nicht sein, dass immer nur die Exekutive seinen politischen Wünschen und Vorstellungen nachkommt und er dagegen jede Bitte und Forderung seitens der Exekutive als illegitime Einmischung strikt zurückweist. Der Richter kann also nicht einerseits politisch tätig sein und andererseits seine Unabhängigkeit von politischen Einmischungen behaupten. Soweit er politisch agiert, findet seine Unabhängigkeit keine Legitimationsgrundlage. Wie oben schon ausgeführt, setzt das Prinzip der richter­ lichen Unabhängigkeit voraus, dass die Rechtsprechung ausschließlich der Wahrung des Rechts dient und sich von der Politik unterscheidet. 377  Näher

zu diesem Fall Suli, Songfa xiaxiang, S. 131 f.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Hier geht es keinesfalls darum, dem Richter die Verwischung von Recht und Politik vorzuhalten. Schließlich ist sein Verhalten unter den Bedingungen der noch nicht fortgeschrittenen Modernisierung verständlich. Hier geht es nur darum, zu zeigen, dass die richterliche Unabhängigkeit sich schwer zum gesellschaftlichen Kontext der Verschmelzung von Recht und Politik passt. (5) Ergebnis Die Ausdifferenzierung des Rechts, die in China erst am Anfang des 20. Jahrhunderts eingeleitet und nach der Machtergreifung der Kommunistischen Partei abgewürgt wurde, setzte vor drei Jahrzehnten mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik wieder von vorne ein. Die Ausdifferenzierung des Rechts als gesellschaftlicher Kontext der richterlichen Unabhängigkeit, in dem sie ihre Funktion entfaltet, befindet sich heute noch im Anfangsstadium. Eine gesellschaftliche Umwelt, in die die richterliche Unabhängigkeit sich einpasst, beginnt gerade sich zu entwickeln. Für die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit findet sich also noch kein günstiger Boden. III. Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit 1. Deutschland a) Unveränderlichkeit des Rechts und Positivierung des Rechts Wie schon ausgeführt, wurde das Recht im mittelalterlichen Deutschland zuerst als unveränderbar erlebt und als ewig gültig und richtig empfunden.378 Es konnte nicht gemacht und geschaffen, sondern nur vorgefunden und festgestellt werden.379 An dieses ungesetzte gute alte Recht380 war die Politik gebunden, und zwar auch bei der Gesetzgebung, die nicht häufig in Anspruch genommen wurde. Der Gesetzgeber durfte das Recht weder aufheben noch abändern, sondern nur aufzeichnen, konkretisieren und fortbilden.381 „Rechtsreformen bildeten […] die Ausnahme […] Jeder Reformakt 378  Oben

Zweiter Teil, B. II. 1. a). in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (13 f.); Ebel, S.  13 ff. 380  Kern, S.  11 ff.; Brunner, S.  133 ff. 381  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (15). 379  Grimm,



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mußte sich […] auf invariant geltendes altes Recht stützen.“382 Darüber hinaus war die „Übernahme [des Gesetzes] in das Recht […] kein verfahrensmäßig sicher auslösbarer Effekt, sondern eine Frage der Zeit, der Gewöhnung, der erreichbaren Publizität, oder eine Frage der Einpaßbarkeit, oder eine Frage der politischen Macht, oder eine Frage des Krisendrucks und der situationsabhängigen Überzeugungskraft“.383 Der Spielraum des Gesetzgebers war also zu gering und der Status der Gesetzgebung zu unsicher, damit man von der Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung sprechen könnte. Der historische Prozess zur Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung wurde im Vorstehenden bereits im Zusammenhang der Differenzierung zwischen Recht und Moral in Deutschland unter dem Stichwort Positivierung des Rechts dargelegt.384 Wie erläutert, ist die Positivierung des Rechts durch zwei eng verbundene Aspekte, einerseits durch den Weg zur Gestaltbarkeit des Rechts, andererseits durch die Differenzierung zwischen Recht und Moral, gekennzeichnet. Auf die obige Darlegung der Positivierung des Rechts ist an dieser Stelle im Hinblick auf die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung zusammenfassend zurückzukommen. Der Weg zur Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung als strukturelle Realisierung der Offenheit des Rechts gegenüber der Politik385 wurde eingeschlagen, als die Landesfürsten ab dem 15. und 16. Jahrhundert immer öfter und umfangreicher policeyliche Ordnungsnormen erließen.386 Es bestand vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit eine Tendenz dazu, dass policeyliche Ordnungsnormen von neben dem Recht stehenden obrigkeit­ lichen Geboten zu Rechtsgeboten, also zum Recht wurden, dass das Recht vom Gesetzgeber ohne Bindung an das überlieferte Recht gesetzt und geändert werden und kraft Entscheidung des Gesetzgebers gelten konnte, und dass die Gesetzgebung von der Politik zur Umgestaltung des Rechts und des Gemeinwesens in Anspruch genommen werden konnte. Diese Tendenz hing ihrerseits mit beschleunigtem sozialem Wandel zusammen, und damit verbunden mit der Begrenztheit des überlieferten Rechts. Die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung wurde nicht nur von den Landesfürsten forciert, die ihre Macht erweitern und die Rechtsetzung als Instrument zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele in Anspruch 382  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (15); in diesem Sinne auch Ebel, S.  19 f.; Luhmann, Rechtssoziologie, S. 194 f. 383  Luhmann, Rechtssoziologie, S. 194. 384  Oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (1). 385  Oben Zweiter Teil, A. II. 386  Ausführlich dazu und zum Folgenden oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (1).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

nehmen wollten, sondern auch von aufklärerischen und liberalen Strömungen, die vom aufsteigenden Bürgertum vertreten wurden, anerkannt und vollends zur Geltung gebracht.387 Nach der liberalen Gewaltenteilungslehre sollte der Gesetzgeber, der die gewählte Volksvertretung sein sollte, und zwar nur der Gesetzgeber, kraft seiner Entscheidung Recht setzen und ändern können. Die Verwirklichung der bürgerlichen politischen und sozialen Ordnung war auf eine Rechtsreform größten Ausmaßes angewiesen.388 Auch die vom Bürgertum angestrebte Verfassung, in der die Entstehungs- und Geltungsbedingungen des positiven Gesetzes festzulegen waren, beruhte ihrerseits auf der Positivierung des Rechts und der Anerkennung der politischen Gestaltung des Rechts. b) Gesetzesbindung des Richters Vor der Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts ebenfalls in der Rechtswissenschaft anerkannt. Das kam in der Betonung der richterlichen Gesetzesbindung in der neuzeitlichen Rechtswissenschaft zum Ausdruck. Denn wie erläutert, setzt die Bindung des Richters an das Gesetz die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung voraus und die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung erfordert auch die Gesetzesbindung des Richters.389 Hinsichtlich der Betonung der richterlichen Gesetzesbindung in der neuzeitlichen Rechtswissenschaft ist auf die obigen Ausführungen in den Abschnitten über die rechtstheoretische Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik und über die Grenzwahrung zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts in der juristischen Hermeneutik zu verweisen.390 Während die obigen Ausführungen sich auf die Differenzierung zwischen Recht und Politik beziehen, geht es hier um die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des Rechts als wesentliches Element der Offenheit des Rechts. Das ist, näher betrachtet, nicht verwunderlich. Denn wie dargelegt, schließen sich die Offenheit des Rechts und die Ausdifferenzierung des Rechts nicht gegenseitig aus, sondern sind Charakterisierungen des Rechtssystems, die von unterschiedlichen Perspektiven ausgehen. Bei der Beschäftigung mit der Etablierung der gesetzgeberischen Gestaltbarkeit des Rechts in Deutschland bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist 387  Ausführlich 388  Vgl.

dazu und zum Folgenden oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (1). zur bürgerlichen Sozial- und Rechtsordnung auch unten Zweiter Teil, B.

IV. 1. c). 389  Oben Zweiter Teil, A. II. 390  Oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (4) und (5).



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auch auf die Frage einzugehen, ob die richterliche Gesetzesbindung und damit die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des Rechts sich bis dahin ebenfalls in der Rechtsprechungspraxis durchsetzte. Dass die Rechtsprechung die rechtliche Geltung des Gesetzes und die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts anerkannte, zeigte sich etwa in der Haltung der preußischen Richter zum im Jahre 1794 eingeführten Preußischen Allgemeinen Landrechts391 um die Wende zum 19. Jahrhundert. Diese große Kodifikation mit ihren detaillierten kasuistischen Regelungen392 zielte auf die „Überführung allen Recht in die Gestalt gesetzförmigen Schriftrechts“393, die Ablösung des bis dahin geltenden gemeinen römischen Rechts394 und die Abkehr von der Berufung auf Lehrmeinungen.395 Anhand der Entscheidungen des Oberappellationssenats des preußischen Kammergerichts in der Zeit vom Einführungsjahr des Allgemeinen Landrechts 1794 bis zum Jahre 1810 lässt sich eine eindeutige Entwicklungstendenz in der Rechtsprechung zugunsten der Anwendung dieses Gesetzbuchs feststellen.396 In den ersten Jahren nach der Einführung des Allgemeinen Landrechts wurde bei der Urteilsfindung des Oberappellationssenats noch häufig auf das römische Recht und Lehrmeinungen aus der Literatur zurückgegriffen. Das ist nicht nur auf das gesetzlich vorgeschriebene Rückwirkungsverbot zurückzuführen, wonach das Allgemeine Landrecht nicht auf vor seinem Inkrafttreten geschehene Fälle anzuwenden war,397 sondern insbesondere auch darauf, dass die Richter „am gemeinen Recht ausgebildet worden waren und schon vor der Einführung des [Gesetzbuchs] die Literatur eine maßgebliche Rolle in der Rechtsfindung spielte“398. Allerdings ist festzuhalten, dass römisch-rechtliche Normen und Literaturmeinungen nur selten allein zur Urteilsfindung, sondern oft zur kumulativen, verstärkten Begründung der Entscheidung zusammen mit Normen des Allgemeinen Landrechts herangezogen wurden.399 Mit den Jahren, insbesondere nach der Jahrhundertwende, wurde das Allgemeine Landrecht „zunehmend zur beherrschenden Rechtsquelle und verdrängt[e] zusammen mit dem Prozessrecht immer mehr die Anwendung des römischen Rechts, der Literatur, 391  Vgl. allgemein zum Preußischen Allgemeinen Landrecht Birtsch / Willoweit (Hrsg.), Reformabsolutismus; Gose / Würtenberger (Hrsg.), Geschichte des ALR; Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des ALR. 392  Schröder, in: Gesetzgebung und Dogmatik, S. 37 (43 f.). 393  Eckert, Der Staat 37 (1998), 571 (577); vgl. auch ALR, Einleitung, §§ 1, 2, 3. 394  Publikationspatent zum ALR, § I. 395  ALR, Einleitung, § 6. 396  Steinbeck, S. 69 ff., 79; Hilgenstock, S.  56 ff.; Wenzel, S.  205 ff. 397  Steinbeck, S.  74 f. 398  Albrecht, S. 89. 399  Steinbeck, S.  71 f.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

sowie sonstige Rechtsquellen“.400 Der Anteil der Urteile, in denen auf das Allgemeine Landrecht Bezug genommen wurde, am Gesamturteilsaufkommen steigt von unter 30 Prozent im Jahr 1794 und 1795 auf über 40 Prozent im Jahr 1809 und 1810 an. Während der Anteil der Urteile, in denen auf das römische Recht zurückgegriffen wurde, am Gesamturteilsaufkommen im Jahr 1794 und 1795 bei über 10 Prozent liegt, fällt dieser Anteil im Jahr 1809 und 1810 auf unter 1 Prozent zurück. Während Lehrmeinungen im Jahr 1794 und 1795 durchschnittlich in gut einem Fünftel der Entscheidungen herangezogen wurden, verringerte sich dieser Anteil im Jahr 1809 und 1810 auf unter 5 Prozent.401 Die Richter verzichteten also nach der Vertrautheit mit dem Gesetzbuch zwar nicht ausnahmslos, aber doch in der Regel auf den Rückgriff auf das gemeine römische Recht und Lehrmeinungen. Der Gesetzgeber strebte ursprünglich an, den „Gesetzesabsolutismus“402 umzusetzen, wonach Rechte und Pflichten der Bürger ausschließlich nach dem Gesetzesrecht zu beurteilen waren.403 Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Aber „der Bruch mit dem […] Gesetzesabsolutismus war nie derart, dass [die Richter] sich bewusst und willkürlich entgegen den landesrechtlichen Regelungen für die gemeinrechtliche Lösung eines Rechtsproblems entschieden hätten“.404 Im Großen und Ganzen befolgten die Richter die Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes.405 Von der Missachtung des Gesetzes kann im Allgemeinen keine Rede sein.406 Nur in Fällen, in denen die Anwendung des Allgemeinen Landrechts ihnen Schwierigkeiten bereitete, wurde auf das römische Recht zurückgegriffen.407 „Das gemeine Recht diente ausschließlich als Hilfsrecht. Auf diese Hilfe konnten die Richter auch nicht verzichten, da sie schließlich nicht im preußischen Recht geschult waren. […] Das römisch-gemeine Recht blieb weiterhin das an den Universitäten gelehrte Recht.“408

400  Hilgenstock,

S. 58; ähnlich auch Wenzel, S. 205. statistischen Auswertung der Entscheidungen des Oberappellationssenats Albrecht, S.  80 ff.; Hilgenstock, S.  56 ff. 402  Eckert, Der Staat 37 (1998), 571 (577). 403  ALR, Einleitung, §§ 1, 2, 3, 6; Publikationspatent zum ALR, § I. 404  Wenzel, S. 207. 405  Wenzel, S. 207; zurückhaltend Albrecht, S. 221, der von einem „von der heutigen Zeit stark abweichende[n] Gesetzesverständnis“ der Richter spricht. 406  Steinbeck, S. 80 f.; ähnlich Hilgenstock, S. 54 f.; 60. 407  Wenzel, S.  204 ff. 408  Wenzel, S. 207 f.; vgl. zum Inhalt der juristischen Ausbildung an den Universitäten nach der Einführung des Allgemeinen Landrechts Wagner, in: Wissenschaft und Kodifikation, S. 119 (149  f.); Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S.  334 f. 401  Zur



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Darüber hinaus ist der Gesetzesabsolutismus unrealistisch und kann nicht verwirklicht werden. Er setzt voraus, dass „alle möglicherweise auftretenden Fälle bei der Gesetzgebung vorbedacht und im Gesetz geregelt“409 worden sind, dass das Gesetz lückenlos und aus sich heraus verständlich ist. Diese Voraussetzung lässt sich in keiner Rechtsordnung, auch nicht beim Allgemeinen Landrecht mit seinen detaillierten kasuistischen Regelungen, erfüllen. Schließlich erfordern die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und die Gesetzesbindung des Richters keinesfalls den Gesetzesabsolutismus. Sie stehen nicht im Widerspruch damit, dass neben dem Gesetz andere Rechtsquellen in der Rechtsprechung eine Rolle spielen, auch nicht damit, dass die richterliche Auslegung und Anwendung des Gesetzes von den Vorstellungen des Gesetzgebers abweicht. Die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung bedeutet nur, dass gesetzliche Regelungen in der vom Richter bevorzugten Auslegung in relevanten Fällen grundsätzlich als Entscheidungsprämisse genommen werden. Zusammenfassend wurde die Rechtsordnung in Deutschland in der Neuzeit von der Unveränderlichkeit des Rechts auf die Entscheidbarkeit des Rechts umgestellt. Die Politik konnte durch die Gesetzgebung Recht setzen und ändern. Die Offenheit des Rechts gegenüber der Politik war damit strukturell gesichert. Die Politik konnte durch die Gesetzgebung die Struktur und den Zustand des Rechtssystems effektiv beeinflussen, selbst wenn sie die Kontrolle über die Rechtsprechung aufgab. Das hatte eine große Bedeutung für die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit. Wie erläutert, nimmt die Politik die Unbequemlichkeiten, die sich aus der Beachtung der richterlichen Unabhängigkeit für sie ergeben, nur in Kauf, wenn trotz der richterlichen Unabhängigkeit, die der Sicherung und Förderung der Ausdifferenzierung und Autonomie des Rechtssystems dient, die Offenheit dieses Systems gegenüber dem politischen System durch die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des Rechts sichergestellt wird.410 2. China a) Gesetzgebung im alten China Im kaiserlichen China nahm die politische Herrschaft viel öfter die Gesetzgebung in Anspruch und hatte dabei einen größeren Gestaltungsspielraum als im mittelalterlichen Deutschland. Das kaiserliche Gesetz in verschiedenen Formen war eine wichtige Rechtsquelle.411 Die Rechtsetzung 409  Grimm,

in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (26). Zweiter Teil, A. II. 411  Näher oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 410  Oben

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

und -änderung durch den Gesetzgeber war nicht ungewöhnlich. Das hatte zuerst mit der stärkeren und konzentrierteren Macht der politischen Herrschaft zu tun. Der erste Kaiser Chinas, Qin Shihuangdi (221–210 v. Chr.), schaffte schon den dezentralisierten Feudalstaat ab und richtete einen Zentralstaat ein. Die Form eines zentralistischen Einheitsstaates etablierte sich endgültig in der nachfolgenden West-Han-Dynastie (202 v.–9 n. Chr.) und hat das Kaiserreich in seiner ganzen, mehr als zweitausend Jahre währenden Geschichte geprägt. Hinzu kam die hohe moralische Autorität des Kaisers. Der Kaiser galt als Sohn und Vertreter des Himmels. Nach traditioneller Vorstellung war er und nur er vom Himmel beauftragt, auf Erden für Ordnung und Wohlergehen zu sorgen. Als Mittel dafür nahm er die Gesetzgebung in Anspruch. Die Etablierung der Gesetzgebung als Routine und der größere Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hingen außerdem damit zusammen, dass der Konfuzianismus als Staatsdoktrin zwar die Bedeutung von jing (经), nämlich allgemeinen unveränderlichen Prinzipien, betonte, aber auch großen Wert auf quan (权), nämlich die Flexibilität und die Anpassung an die jeweils besonderen Verhältnisse, legte.412 Dennoch erreichte die gesetzgeberische Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts noch nicht den Grad, wie er die moderne Gesellschaft prägt. Die Positivität und die Kontingenz des Rechts in dem Sinne, dass Recht sich grundsätzlich selektieren und umbilden lässt und dass Recht auch anders sein kann, war noch nicht voll entfaltet. Es ist freilich beachtenswert, dass der Legalismus oder auch Legismus (法家, fajia), der eine philosophisch-politische Lehre aus der Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) war und sich als Gesetzespositivismus charakterisieren lässt,413 in der ersten kaiserlichen, aber kurzlebigen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) die Grundlage der politischen Herrschaft bildete. Während der Konfuzianismus die Herrschaft durch li (礼, Ritus, Sittlichkeit), die auf der Wertschätzung und der Neuinterpretation überlieferter Sittlichkeit basierte, und die Herrschaft durch de (德, Tugend), die auf einem pflichtbewussten und tugendhaften Herrscher beruhte, guthieß, setzte der Legalismus auf die Herrschaft durch fa (法, Gesetz).414 Während die Konfuzianer die Unterordnung des Gesetzes unter die Moral und die Orientierung des Gesetzes an der Moral forderten, gingen die Legalisten davon aus, dass das Gesetz keines externen Werts oder Maßstabs wie Moral als seiner Legitimationsgrundlage bedurfte, und plädierten für die politische Gestaltbarkeit des Rechts. Nach ihnen 412  Liang,

Hexie, S. 298 f. Der chinesische Legalismus. 414  Näher zum konfuzianischen und legalistischen Rechtsdenken unten Zweiter Teil, B. IV. 2. a); vgl. auch Yang, Zhongguo falü sixiangshi, Bd. 1, S. 47 ff., 81 ff.; Bd. 2, S. 27 ff.; Heuser, Chinesische Rechtskultur, S. 66 ff.; Peerenboom, China’s Long March, S. 28 ff. 413  Tai,



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sollte der Herrscher der Herr des Gesetzes sein und bei der Gesetzgebung keiner Bindung an die vorgegebene Ordnung unterliegen, damit seine politischen Ziele effektiv umgesetzt werden konnten und das Gesetz sich an veränderte Verhältnisse anpassen konnte. Im Zeichen des Legalismus etablierte sich die Gesetzgebung in der QinDynastie als Routine. Daran wurde nichts dadurch geändert, dass der Konfuzianismus schon in der auf die Qin-Dynastie folgenden West-Han-Dynastie (202 v.–9 n. Chr.) den Legalismus als Staatsdoktrin ablöste und bis zum Ende des Kaiserreichs das politisch-gesellschaftliche Leben Chinas dominierte. Konfuzianische weltanschauliche, ethische und politische Vorstellungen und Prinzipien galten aber allgemein als unfehlbar und absolut richtig. Die Gesetzgebung war an sie gebunden, stellte sich in ihren Dienst und orientierte sich an ihnen. Diese Bindung war keine Rechtsbindung. Darauf wird unten noch zurückzukommen sein. Diese Bindung war jedoch eine effektive Bindung in der Art, dass konfuzianische Vorstellungen und Prinzipien als unumstrittene und unbestreitbare Wahrheiten galten, so dass der Kaiser selbst auch nicht außerhalb ihrer dachte und, wenn doch, einen gewaltigen, unwiderstehlichen Sturm der moralischen Entrüstung heraufbeschwören musste. Die Auffüllung des Gesetzes mit konfuzianischen ethischen Vorstellungen und Prinzipien, also die Ethisierung oder die Konfuzianisierung des Gesetzes, vollzog sich seit der West-Han-Dynastie, wurde in der Tang-Dynastie (618–906) mit dem Erlass des Tang-Kodex Tanglü (唐律) als des frühesten erhaltenen chinesischen Gesetzbuchs und seines offiziellen Kommentars Tanglü shuyi (唐律疏议) vollendet.415 Im Vergleich mit dem Tang-Kodex wiesen die Kodizes der nachfolgenden Dynastien in materieller Hinsicht keine wesentlichen Änderungen auf, soweit es lü (律), das eigentliche Grund­element des Kodex, betraf. Auch während einer Dynastie wurde lü an sich sehr selten oder gar nicht geändert. Häufig entstanden aber gesetzliche Regelungen unter anderen verschiedenen Bezeichnungen wie chi (敕) und li (例, auch tiaoli, 条例), die im Nachhinein lü konkretisierten, ergänzten oder auch abänderten und gegebenenfalls im grundlegenden Kodex hinter den entsprechenden Paragraphen von lü untergebracht wurden. Im Falle des Widerspruchs einer solchen gesetzlichen Regelung zu einer Regelung von lü wurde die erstere vorrangig angewandt, die letztere aber nicht als nicht mehr gültig angesehen. Man betrachtete das Verhältnis von lü und anderen Gesetzen, die lü konkretisierten, ergänzten oder abänderten, als Verhältnis von jing (经), nämlich unveränderlichen allgemeinen Normen, und quan 415  Vgl. zur Ethisierung oder Konfuzianisierung des Gesetzes Heuser, Chinesische Rechtskultur, S. 93 ff.; Weggel, C. a. 1993, 358 (367 ff.); Qu, Zhongguo falü, S.  303 ff., 328 ff.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

(权), nämlich der Flexibilität und der Anpassung an die jeweils besonderen Verhältnisse. Lü als jing und als das gute, grundlegende, von den kaiser­ lichen Vorfahren überlieferte Recht sollte beständig bleiben und nicht oder nur sehr selten geändert werden. Die Anpassung an die jeweils besonderen Verhältnisse durch andere Gesetze sollte – zumindest der Idee nach – lü nicht aufheben, sondern nur lü fortentwickeln. Vor ihr rangierte also an erster Stelle die Kontinuität des Rechts und dessen Orientierung an unveränderlichen allgemeinen Prinzipien. b) Volle Durchsetzung der gesetzgeberischen Gestaltbarkeit des Rechts Die volle Durchsetzung der gesetzgeberischen Gestaltbarkeit und der Positivität des Rechts und damit die volle Entfaltung der Offenheit des Rechts gegenüber der Politik begannen mit der Rechtsreform, die am Anfang des 20. Jahrhunderts kurz vor dem Ende des Kaiserreichs eingeleitet wurde.416 Im Zuge dieser Reform, die sich an das westliche Recht und das von diesem beeinflusste japanische Recht anlehnte, verloren konfuzianische weltanschauliche, ethische und politische Vorstellungen und Prinzipien ihren traditionellen Charakter als unantastbare und unveränderliche Richtschnur für die Gesetzgebung. Während die Gesetzgebung vorher darauf ausgerichtet worden war, die überlieferte sittliche Ordnung zu bewahren, wurde die Gesetzgebung nunmehr in Anspruch genommen, unter anderem um die gesellschaftliche, auch politische Ordnung, frei von den Fesseln der Tradition, umzugestalten. Die Gesetzgebung wurde ein Instrument dafür, den gewünschten gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.417 Während fa (Gesetz) vorher in der Rechtsprechung mit li (Logos) und qing (Gefühl) als Formen ethischer Normen, menschlicher Empfindungen und gesellschaft­ licher Gewohnheiten in Einklang gebracht worden und eventuell hinter diesen zwei Maßstäben zurückgetreten war,418 wollte man nun die Rechtsprechung von ihrer Orientierung an Moral und gesellschaftlichem Gerechtigkeitsempfinden abbringen und ihre Bindung an das Gesetz verstärken, um einerseits das Recht von der Moral abzulösen und andererseits die politische Gestaltbarkeit des Rechts durchzusetzen. Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 begnügte sich die Kommunistische Partei Chinas nicht damit, das Recht durch die Gesetzgebung umzugestalten. Sie betrachtete das Recht als Mittel des Klassen416  Zu

dieser Rechtsreform oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (2). zum Recht als Instrument für geplanten gesellschaftlichen Wandel Evan,

417  Vgl.

S.  232 ff. 418  Näher oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1).



B. Testfälle – Deutschland und China215

kampfes, als etwas, das der Politik voll zur Disposition stehe. Darum war das Recht nicht nur gestaltbar durch die Politik, sondern auch etwas, das die Politik zur Verwirklichung ihrer Ziele nicht unbedingt brauchte und beliebig einsetzen sowie ignorieren konnte. Das Recht stürzte in eine Existenzkrise und das Land geriet in einen Zustand der Rechtlosigkeit.419 Seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahre 1978 wird die Notwendigkeit des Rechts für die gesellschaftliche Ordnung und Entwicklung wieder anerkannt. Ausgehend von der gesetzgeberischen Gestaltbarkeit des Rechts wird die Gesetzgebung zur Modernisierung und Stabilisierung der Gesellschaft in Anspruch genommen. Kurzum: In China hat sich die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung seit der Einleitung der Rechtsreform am Anfang des 20. Jahrhunderts schnell entfaltet und etabliert. Die Offenheit des Rechts gegenüber der Politik als eine Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit hat sich durchgesetzt. Die Ausdifferenzierung des Rechts ist dagegen, wie oben ausgeführt wurde, alles anderes als robust. Außerdem kommt dem Recht, wie unten noch zu erläutern sein wird, bis heute keine große gesellschaft­ liche Bedeutung zu. Auf diese zwei Aspekte ist die fehlende richterliche Unabhängigkeit zurückzuführen. IV. Große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit 1. Deutschland a) Bedeutung des Rechts in der Antike und im Mittelalter Die im Folgenden auszuführende große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts in Deutschland in der Neuzeit hatte ihre geschichtlichen und kulturellen Wurzeln in der Antike und im Mittelalter. Die Gerechtigkeit (griechisch: dikaiosýne, lateinisch: iustitia) hatte im antiken und mittelalterlichen Europa einen hohen Stellenwert in der Philosophie, der Religion und der Politik. Sie bezog sich trotz unterschiedlicher Interpretationen stets auf die Frage, was die Menschen einander schulden,420 und bezeichnete den idealen Zustand des menschlichen Zusammenlebens, in dem jedem das seine (suum cuique) zukommt und Rechte und Pflichten der Einzelnen beachtet bezie419  Oben 420  Vgl.

Zweiter Teil, B. II. 2. a) (2). Höffe, Gerechtigkeit, S. 29 f.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

hungsweise erfüllt werden. Mit der Gerechtigkeit war das Recht, das sie konkret zum Ausdruck brachte und ihr zur Durchsetzung verhalf, untrennbar verbunden. Das Recht, so der römische Jurist und Politiker Celsus, ist die Kunst des Guten und Gerechten („ars boni et aequi“).421 Nach Ulpian, einem römischen Jurist, ist die Jurisprudenz die Wissenschaft des Gerechten und Ungerechten („iusti atque iniusti scientia“).422 Die Wertschätzung der Gerechtigkeit und ihr untrennbarer Zusammenhang mit dem Recht seit der europäischen Antike bildeten eine wichtige Grundlage für den Bedeutungszuwachs des Rechts im Laufe der deutschen Geschichte. Es ist nicht genug zu betonen, dass die römisch-rechtlichen Errungenschaften unter den alten Zivilisationen außergewöhnlich und eine wichtige Basis für die neuzeitliche Entwicklung des Rechts und der Rechtswissenschaft in Deutschland waren. Dort spielte das Recht im Mittelalter eine beträchtliche Rolle. Die gleich unten zu erörternde neuzeitliche Forderung nach der Rechtsbindung der Staatsgewalt wurzelte in der mittelalterlichen Rechtsbindung der politischen Herrschaft, obwohl es in der Neuzeit um das positive Recht, das in die Verfassung und das einfache Recht aufgespalten wurde, im Mittelalter dagegen um das ungesetzte, unveränderliche Recht ging.423 Neben der Gewährung von Schutz und Schirm424 bildete die Wahrung der Gerechtigkeit und des Rechts, vor allem durch die Ausübung der Gerichtsbarkeit, den Funktionskern und die Legitimationsgrundlage der politischen Herrschaft des Mittelalters.425 Die Politik stand unter dem Recht.426 Das Verhältnis des Königs zum Recht wird von Simon wie folgt erläutert: „Erst das Recht ‚macht‘ den König, verleiht ihm seine Würde und Funktion und ihm hat er zu dienen, indem er sich seinen Vorschriften unterwirft und ihm zu seiner Geltung verhilft.“427

Die politische Herrschaft realisierte sich im Mittelalter in beträchtlichem Maße über das Gericht. Das Gericht, dessen Kernaufgabe die Rechtsprechung war, wurde ein institutionelles Sammelbecken für eine Vielzahl von Herrschaftsrechten. Im Gericht wurden unter anderem Rechtsgeschäfte bezeugt und beurkundet, Abgaben und Dienste für die Herrschaft organisiert sowie obrigkeitliche Gebote und Verbote verkündet.428 421  D.

1, 1, 1 pr. 1, 1, 10 pr. 423  Zum Recht im Mittelalter oben Zweiter Teil, B. II. 1. a); zur Positivierung des Rechts in der Neuzeit oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (1). 424  Brunner, S. 238, 253, 311 ff.; Simon, Grundherrschaft und Vogtei, S. 29 f. 425  Simon, „Gute Policey“, S. 9 ff. 426  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (14). 427  Simon, „Gute Policey“, S. 17. 428  Lück, in: HRG, Bd. 2, Sp. 131 (137 f.). 422  D.



B. Testfälle – Deutschland und China217

b) Juridifizierung der Kirche und Aufstieg der gelehrten Juristen Besonders auffällig und entscheidend für die wachsende Bedeutung des Rechts seit dem späten Mittelalter ist, dass das Recht in der römisch-katholischen Kirche im 12. bis 14. Jahrhundert eine wichtige Rolle erlangte. In diesem Zeitalter erfolgte die Juridifizierung der Kirche.429 Kennzeichnend dafür war das Aufkommen der Juristenpäpste, angefangen mit Alexander III. (1159–1181) über Innozenz III. (l198–1216) und Gregor IX. (l227–1241) bis zu Bonifaz VIII. (1294–1303). „Für die Führung der Religionsgemeinschaft hat[te] die juristische Ausbildung nun zumindest ebenso viel Bedeutung wie die theologische.“430 Rechtsentscheidungen, die die Päpste als Gesetzgeber und oberste Richter der Kirche trafen, die so genannten Dekretalen, häuften sich enorm. Die Kanonistik als Wissenschaft des Kirchenrechts, die sich mit der Sammlung und Interpretation der Dekretalen befasste, blühte auf. In der römischen Kurie waren studierte Kanonisten gefragt.431 Sie übernahmen die kirchliche Rechtspflege als Offiziale, nämlich beamtete Richter, Prokuratoren, Advokaten oder Schreiber.432 Die kirchlichen Gerichte, an deren Spitze der päpstliche Stuhl stand, erweiterten ihre Zuständigkeit und hatten großen Zulauf.433 Die „geistliche Autorität [der Kirche] nahm immer mehr die Züge einer im Recht gegründeten Hoheit an, und das priesterliche Amt wandelte sich zur Jurisdiktionsgewalt.“434 Die Kirche wurde zur Rechtskirche.435 Die Juridifizierung der Kirche setzte das Gedeihen der Rechtswissenschaft und die Bildung des gelehrten Juristenstandes im späten Mittelalter und in der Neuzeit in Gang.436 Juristen, die an den Universitäten ausgebildet wurden, zuerst Klerikerjuristen und dann profane Juristen, waren für die Erfüllung sowohl von Rechtsprechungs- wie auch von Regierungs- und Verwaltungsaufgaben zuständig und nahmen gehobene und mittlere Ämter in Fürstentümern und Städten ein. Sie waren etwa als Richter, Stadtschreiber, 429  Dazu und zum Folgenden Küng, S.  457 f.; Mitterauer, S.  158 f.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 2 ff. 430  Mitterauer, S. 159. 431  Mitterauer, S. 159. 432  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 15 ff., 29 ff.; Coing, Römisches Recht, S. 79 ff.; Trusen, in: Gelehrtes Recht, S. 343 ff. 433  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 16 f.; Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts, S. 34 ff. 434  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 3. 435  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 3; Küng, S. 457. 436  Zur Verwissenschaftlichung des Rechts und Ausbildung des Juristenstandes oben Zweiter Teil, B. II. 1. b) (2).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

fürstliche Räte oder in fürstlichen Kanzleien tätig.437 Das Rechtsstudium bot einem Nichtadligen, vor allem einem Bürgerlichen, „eine soziale Aufstiegschance, wie sie [zuvor] nur dem Kleriker eröffnete“.438 Das Eindringen von gelehrten Juristen in fürstliche und städtische Ämter führte dazu, dass auch Adlige, die sich um die Ämter bewarben, durch Ausbildung qualifiziert sein mussten.439 „Das Amt [gewann] dadurch, daß der Jurist es innehatte, einen neuen Charakter“440 und war nunmehr mit dem Fachwissen verbunden. Das neu entstehende Beamtentum war stark von Juristen geprägt. Die Herausbildung des Beamtentums und die Etablierung des Juristenstandes gingen Hand in Hand und bedingten sich wechselseitig.441 Es bestand ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der gelehrten Juristen und der immer größeren gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts. Weil das Recht als Ausdruck und Durchsetzungsmittel der Gerechtigkeit geschätzt wurde, waren Juristen gefragt. Mit dem Aufkommen von Juristen breiteten sich rechtliche Kategorien und Argumente in der Gesellschaft aus und wiederum stieg die Bedeutung des Rechts. In der Neuzeit bedienten sich verschiedene Gruppen und Strömungen bei der Erläuterung und Rechtfertigung eigener Positionen und Forderungen gerne der Sprache des Rechts. Aufklärerische und liberale Strömungen sprachen gerne von natürlichen Rechten der Einzelnen und wollten ihre Ziele durch die Umgestaltung des Rechts erreichen. Auch die konservativen Kräfte betonten ihre wohlerworbenen Rechte, um ihre Interessen und die alte ständische Ordnung zu verteidigen. c) Recht im Zeitalter der Aufklärung und des Liberalismus Mit dem Aufkommen und der Verbreitung aufklärerischer und liberaler Ideen und dem Aufstieg des diese Ideen tragenden Bürgertums in der Neuzeit wurde das Recht noch wichtiger und erlangte eine besonders herausragende gesellschaftliche Bedeutung. Denn die vom Liberalismus konzipierte, primär bürgerliche Interessen befriedigende, vom Bürgertum angestrebte Gesellschaft, also die bürgerliche Gesellschaft, wie Grimm formuliert, „konstituiert sich […] wie keine andere im Recht“.442 437  Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts, S. 209 ff., 222 ff.; Coing, Römisches Recht, S.  86 ff.; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 42 f., 209, 218 f. 438  Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 159; vgl. auch Dilcher, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, S. 163 (169 f.). 439  Dilcher, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, S. 163 (174 ff.). 440  Dilcher, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, S. 163 (176). 441  Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, S. 218. 442  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (24).



B. Testfälle – Deutschland und China219

Früher ging es in der gesellschaftspolitischen Theorie und Praxis darum, ein vorgegebenes materielles Gerechtigkeits- und Gemeinwohlideal zu formulieren und individuelles Verhalten und gesellschaftliche Entwicklung darauf hinzusteuern.443 „Die Lösung [dieser Aufgabe] wurde mit Hilfe des Rechts angestrebt, lag selbst aber hinter dem Recht.“444 Die Verwirklichung eines materiellen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlideals und die Umsetzung entsprechender rechtlicher Gebote hängt entscheidend von außerrechtlichen Ressourcen wie etwa Geld, Wissen, Durchsetzungskapazität und Akzeptanz ab.445 „Die eigentliche Aufgabenerfüllung übersteigt daher das Vermögen rechtlicher Normierung.“446 Das bürgerliche Sozialmodell baute nun dagegen nicht auf einem materiellen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlbegriff auf, sondern ging von einem individualistischen Ansatz aus,447 gründete die Gerechtigkeit auf die gleiche Freiheit aller und prozeduralisierte das Gemeinwohl.448 Der Liberalismus betrachtete die individuelle Freiheit als „Bedingung menschlicher Sinnerfüllung“, als etwas, das „im Menschsein selbst wurzelte“,449 als Voraussetzung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls und als Grundprinzip der Sozialordnung. Das Gemeinwohl verlor seinen statischen Charakter und stellte sich als Resultante des Zusammenwirkens freier Individualentscheidungen dar.450 Der Staat, der für sich das Monopol der Zwangsgewalt in Anspruch nahm, „büßte folglich die Definitionskompetenz über das Gemeinwohl und die Leitungsbefugnis über die Gesellschaft ein“.451 Er hatte sich auf die Funktion zu beschränken, die gleiche Freiheit aller als Voraussetzung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls zu garantieren und die gesellschaftliche Selbststeuerung zu ermöglichen.452 Das Recht wurde durch die Freiheit definiert. Kant etwa definierte das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.453 Das Recht sollte „von materialen Anforderungen weitgehend entbunden werden und sich auf die Ermöglichung freier Entscheidun443  Grimm,

in: Recht und Staat, S. 11 (21). in: Recht und Staat, S. 11 (23). 445  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (23); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 30. 446  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 30. 447  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (11). 448  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (14). 449  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (12). 450  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (14). 451  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (15). 452  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (22). 453  Kant, RL, § B. 444  Grimm,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

gen zurückziehen“.454 Ihm oblag nur noch formale Aufgaben, nämlich negatorische und organisatorische.455 Die negatorischen Aufgaben bestanden in der Schrankenziehung, zum einen in der Bestimmung der Freiheitsgrenzen im Interesse gleicher Freiheit aller,456 zum anderen in der „Begrenzung der Staatsgewalt auf den Freiheitsschutz“457. Bei den organisatorischen Aufgaben „ging es zum einen um ein Instrumentarium zur Koordinierung individueller Willensentscheidungen, zum anderen um eine freiheitsverträgliche Einrichtung der Staatsgewalt und deren Rückbindung an die gesellschaftlichen Interessen“.458 Die formalen Aufgaben, die notwendig und hinreichend für die Verwirklichung einer freiheitlichen Gesellschaft waren, fanden „gerade im Recht ihre adäquate Lösung“.459 Denn die formalen Aufgaben kann das Recht „grundsätzlich schon durch den Erlaß eines entsprechenden Verbots oder die Bereitstellung geeigneter Institutionen und Verfahren“460 erfüllen. Anders als beim Streben nach einem materiell verstandenen Gemeinwohl, kommt es bei der Erfüllung der formalen Aufgaben nicht wesentlich auf außerrechtliche Ressourcen an.461 „Unterlassen ist nicht knapp. […] Die Anwendung der Normen [fällt] mit der Zielerreichung zusammen.“462 Auch „die Folgen von gleichwohl vorkommenden Verstößen können in der Regel im Rechtssystem selbst abgearbeitet werden, etwa indem rechtswidrige Akte als nichtig behandelt werden“.463 Das ältere Recht, das sich an einem vorgegebenen materialen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlideal orientierte, stand „unter dem Gebot materialer Zielverwirklichung, und dieses vermochte sich daher stets gegen die formale Fassung einer Regel zu behaupten, wenn zwischen beiden ein Widerspruch auftauchte“.464 Ging es nun dagegen nur um die Herstellung und Bewahrung der gleichen Freiheit aller als Voraussetzung der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls, hatte das Recht nur noch die formalen Aufgaben zu erfüllen und konnte diesen Aufgaben allein gerecht werden. Die Zielerrei454  Grimm, 455  Grimm, 456  Grimm, 457  Grimm, 458  Grimm, 459  Grimm, 460  Grimm,

in: Recht in: Recht in: Recht in: Recht in: Recht Deutsche in: Recht in: Recht

und Staat, S. 11 (23). und Staat, S. 11 (23). und Staat, S. 11 (23). und Staat, S. 11 (23). und Staat, S. 11 (23). Verfassungsgeschichte, S. 30. und Staat, S. 11 (23). und Staat, S. 11 (24); ders., Deutsche Verfassungsgeschich-

461  Grimm, te, S. 30. 462  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 30. 463  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (24). 464  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (32).



B. Testfälle – Deutschland und China221

chung geschah eben durch die Bereitstellung der Rechtsnormen, die strikte Bindung an sie und ihre unverbrüchliche Durchsetzung. Mit der „Entmaterialisierung der Steuerungsprobleme“465 konnte das Gesetz allgemein und abstrakt formuliert werden und „eine erschöpfende Knappheit und eine hochgradige Präzision“466 erreichen. Mit der Beschränkung des Rechts auf die Lösung der formalen Aufgaben „nahm seine juristische Steuerungskraft und technische Handhabbarkeit zu“.467 Das Recht trug also nicht nur zur Lösung der Aufgabe der Verwirklichung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bei. Vielmehr lag die Lösung gerade im Recht selbst.468 Das Recht sollte zum einen in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen dem Freiheitsschutz und der Freiheitsorganisation dienen. Die gleiche Freiheit für alle ist auf das Recht angewiesen, das die individuellen Freiheitssphären bestimmt, gegeneinander abgrenzt, miteinander vermittelt und Freiheitsmissbräuche und -gefahren bekämpft.469 Zum anderen sollte das Recht den Staat mit der freiheitlichen Gesellschaft kompatibel machen.470 Diese Aufgabe konnte nicht allein mittels des von den Staatsorganen selbst erzeugten Gesetzes gelöst werden, weil es um die Regelung der Einrichtung und der Ausübung der Staatsgewalt als Rechtsetzungsund Rechtsdurchsetzungsinstanz ging. Die Aufgabe erforderte vielmehr eine Summe grundlegender Normen, die dem Gesetz im Rang vorgingen, also die Verfassung.471 Die Rechtsordnung war in zwei Bereiche aufzuspalten: „das vom Staat ausgehende und die Bürger bindende Gesetz und die von der Nation ausgehende und den Staat bindende Verfassung“472. Mittels der Verfassung, die als positives Recht der Politik als Erzeuger des Rechts einen Rahmen zu ziehen und sie zu kanalisieren hatte,473 ließ sich die rechtliche Bindung politischer Herrschaft, die im Mittelalter in Form der Bindung an das ungesetzte, unveränderliche Recht existiert hatte und in der Frühen Neuzeit mit der Positivierung des Rechts und mit dem Streben der Fürsten nach einer absolutistischen Herrschaft verfallen war, in Einklang mit der unumkehrbaren Positivierung des Rechts wiederbeleben.474 Die Verfassungsbindung des 465  Grimm,

in: Recht und Staat, S. 11 (22). in: Recht und Staat, S. 11 (31). 467  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (31). 468  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (24). 469  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (24 f.). 470  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 30. 471  Grimm, in: Die Zukunft der Verfassung, S. 399 (407 f.). 472  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 31. 473  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (20 ff.). 474  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 31; ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 11 (14). 466  Grimm,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Staates konnte das Problem entschärfen, dass der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols und als Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsinstanz zwar für die Herstellung und Bewahrung gleicher Freiheit aller unverzichtbar war, seinerseits aber auch eine Bedrohung für die Freiheit darstellte. In der Verfassung wollte man fundamentale Freiheiten in Gestalt von Grundrechten als Handlungsschranken des Staates und Abwehrrechte des Einzelnen garantieren.475 Den Freiheitsschutz durch Grundrechte wollte man durch die Bindung des Staates an das Gesetz flankieren. Denn Staatliche Eingriffe in die grundrechtliche Freiheit waren im Interesse der gleichen Freiheit für alle unverzichtbar. Zur Verhinderung staatlichen Missbrauchs waren sie aber nur aufgrund eines allgemeinen Gesetzes zuzulassen, das sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen richtete und eine unbestimmte Vielzahl von künftigen Fällen regelte und von der aus freien Wahlen hervorgehenden Vertretung des Volkes, dem Parlament, zu beschließen war. An das demokratisch verabschiedete Gesetz sollten die Verwaltung und die Rechtsprechung gebunden sein.476 Die Verwirklichung der bürgerlichen Gesellschaft hing also vom Recht – von der Verfassung und dem einfachen Recht – ab. Die gleiche Freiheit für alle erforderte die Herrschaftsausübung in Form des Rechts, nach Recht und durch Recht, also den Rechtsstaat.477 Das Recht hatte folglich einen besonders herausragenden Stellenwert für den Liberalismus und das ihn tragende Bürgertum. Dieser Bedeutungszuwachs des Rechts ging mit der Aufwertung des subjektiven Rechts einher. Die Freiheit als Grundprinzip der Sozialordnung „fand rechtstechnisch in der Figur des subjektiven Rechts Ausdruck“.478 Das subjektive Recht wurde zur Zentralkategorie des Rechts, die die gesamte Rechtsordnung organisierte. Obwohl die Figur des subjektiven Rechts erst im bürgerlichen Zeitalter die herausragende Bedeutung gewann, konnte sie auf eine lange Entwicklungsgeschichte zurückblicken.479 Schon im Mittel­ alter hoben Glossatoren das ius als subjektives Recht hervor, indem sie, anders als römische Juristen, es als Ursache (causa) der das Klagerecht bezeichnenden actio von dieser unterschieden.480 Im 16. Jahrhundert baute 475  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 31; ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 399 (408). 476  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (26); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, S.  31 f.; ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 399 (408 f.). 477  Vgl. zum Rechtsstaat als Herrschaftsausübung in Form des Rechts Grimm, in: Der Rechtsstaat, S. 9 ff. 478  Grimm, in: Recht und Staat, S. 11 (29 f.). 479  Vgl. Coing, in: Das subjektive Recht, S. 7 (9 ff.). 480  Coing, in: Das subjektive Recht, S. 7 (13 f.).



B. Testfälle – Deutschland und China223

der einflussreiche humanistische Rechtslehrer Hugo Donellus das gesamte Privatrecht als ein System subjektiver Rechte auf.481 In der Zeit des Naturrechts und der Aufklärung wurde die Figur des subjektiven Rechts weiterentwickelt. Sie wurde mit der Freiheitsidee in Verbindung gesetzt.482 Das subjektive Recht fand seinen Grund und seine Legitimation in der individuellen Freiheit. Die Freiheit fand ihren Ausdruck und ihre Form im subjektiven Recht. Einerseits geschahen mit der Verbreitung der Freiheitsidee die Aufwertung des subjektiven Rechts und die Umstellung der Rechtsordnung von Pflichten auf Rechte; andererseits bildete die bis ins Mittelalter zurückreichende, zuerst in Bezug auf das Privatrecht entwickelte Lehre subjektiver Rechte eine wichtige Ressource für die Entwicklung der Freiheitsidee. Der Hauptträger aufklärerischer und liberaler Ideen war in Deutschland zuerst das Bildungsbürgertum. Dort entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Bildungsbürgertum, das seinem Pendant in Frankreich, wo durch die Revolution von 1789 die ständisch-feudale durch die bürgerliche Sozialordnung ersetzt wurde, vergleichbar war.483 Das deutsche Bildungsbürgertum setzte sich unter anderem aus Juristen, höheren Beamten, Professoren, Lehrern und Literaten zusammen und schaffte durch die Gründung von Zeitschriften und vom Hof unabhängigen Kulturinstitutionen und die Ausbildung von Lesegesellschaften und Diskussionszirkeln eine neue Öffentlichkeit.484 Selbst deutsche Fürsten, namentlich in Preußen und Österreich, traten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Aufklärungsbewegung ein, indem sie zusammen mit liberal gesonnenen Beratern und Beamten ihre Länder nach rationalen Prinzipien zu reformieren suchten.485 „Die Reformen sollten zwar die überkommene Gesellschaftsordnung nicht umstülpen, aber doch die nicht mehr vernünftig begründbaren Standesunterschiede und Betätigungsschranken abbauen.“486 Damit wurde die Umwandlung der ständisch-feudalen in eine bürgerliche Sozialordnung eingeleitet. Freiheiten und Rechten der Einzelnen und damit dem Recht, das diese sichern und abgrenzen sollte, kam immer mehr Bedeutung zu. Dieser Bedeutungszuwachs wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Verfassungsbewegungen verstärkt, die durch die Französische Revolu­ tion in Gang kamen und in denen die Reformkräfte versuchten, mittels Recht die Staatsgewalt auf den Freiheitsschutz zu begrenzen und freiheitsverträglich zu organisieren. Der Druck auf Veränderungen stieg im Laufe 481  Coing,

in: Das subjektive Recht, S. 7 (15 ff.). in: Das subjektive Recht, S. 7 (17 ff.). 483  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 46 f. 484  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 46 f. 485  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 49 ff. 486  Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 50. 482  Coing,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch mit dem durch die wirtschaft­ liche Entwicklung und die Anfänge der Industrie herbeigeführten Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums, das bei aller Abneigung gegen radikale Umwälzungen doch nach der Fortsetzung der liberalen Reformen und der Ausweitung der politischen Mitsprache strebte.487 Weil die Verwirklichung einer freiheitlichen Gesellschaft vor allem im Recht, in der Verfassung wie im einfachen Gesetz, gesucht wurde, kam dem Recht durch die Verbreitung aufklärerischer und liberaler Ideen und die in der Revolution von 1848 / 49 gipfelnden Bemühungen um die Annäherung an das bürgerliche Sozialmodell eine besonders große Bedeutung in der Gesellschaft zu. Das kam in der Juristendominanz in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 / 49 zum Ausdruck. Von den insgesamt 812 Abgeordneten waren 491 beziehungsweise mehr als 60 % Juristen.488 Die Vorstellungen, dass der Einzelne in seinem Verhalten nicht durch Tradition, nicht durch Moral, nicht durch die Willkür der sozial oder politisch Mächtigen, sondern nur durch Recht gezwungen werden soll, dass nur aufgrund Gesetz in die Freiheit des Einzelnen eingegriffen werden darf, dass der Monarch die Gesetzgebungsgewalt nicht unter Ausschluss jeder Mitwirkung der Untertanen allein ausüben soll, und dass weder die Bürger noch die Verwaltung oder die Rechtsprechung sich über Recht und Gesetz hinwegsetzen dürfen, konnten um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Gesellschaft Fuß fassen, so dass die Fürstenstaaten trotz der gescheiterten Revolution nicht umhinkonnten, sich auf die Rechtsbindung der Staatsgewalt und die Mitwirkungsrechte der Volksvertretung auf einer erweiterten Repräsentationsbasis einzulassen. Obwohl liberale Ordnungsvorstellungen sich nicht voll durchsetzen ließen, obwohl die Volkssouveränität nicht errichtet werden konnte, konnten die Fürsten sich nicht gegen die Konstitutionalisierung, nicht gegen die Rechtsgebundenheit beziehungsweise Regelhaftigkeit der Herrschaft sperren und nicht auf den Absolutismus bestehen. Bei dieser großen Bedeutung des Rechts für die gesellschaftliche und politische Ordnung konnte sich die richterliche Unabhängigkeit durchsetzen. 2. China a) Stellenwert des Rechts im alten China Der heutige chinesische Begriff für Recht, fa (法), hatte im alten China die Bedeutung vom Verbot des Bösen und Zwang.489 Er reicht nicht so 487  Grimm,

Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 177. Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S. 148. 489  Liang, Hexie, S. 48. 488  Kroeschell,



B. Testfälle – Deutschland und China225

lange zurück wie der Begriff für Strafe, xing (刑), und bezog sich in seinen Anfängen auf Strafe und Strafnorm.490 Er war in der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (722–481 v. Chr.) und Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) entstanden. Diese Epoche war vom Zerfall der alten feudalen politischen Ordnung und vom gesellschaftlichen Wandel geprägt. In dieser Epoche erließen und veröffentlichten die Fürsten zur Verbesserung der sozialen Kontrolle und zur Durchsetzung ihrer Reformpolitik Strafkodizes. Bis zur am Anfang des 20. Jahrhunderts beginnenden Rezeption des westlichen Rechts bezeichnete fa vor allem das von politischer Herrschaft erlassene Gesetz. In den über 2000 Jahren des Kaiserreichs wurde das grundlegende und wichtigste Gesetz der jeweiligen Dynastie lü (律) genannt. Lü war im Grundsatz ein Strafkodex. Auch gesetzliche Regelungen im Bereich des Verwaltungsrechts und des Privatrechts nahmen häufig die Gestalt einer Strafsanktion an. Im Mittelpunkt von fa (Gesetz) standen also Strafsanktionen. Die Vorstellungen der Menschen im alten China über fa (Gesetz) waren vom politischen Ursprung des fa und vom engen Zusammenhang des fa mit der Strafe geprägt. Die Einstellungen der Menschen im alten China zu fa (Gesetz) waren entscheidend vom Konfuzianismus beeinflusst. Der Konfuzianismus hielt nicht viel von der Herrschaft durch fa (Gesetz), plädierte dagegen für die Herrschaft durch li (礼) und durch de (德). Li „bedeutete zunächst Ritus, die Summe sakraler Regeln, dann Sittlichkeit, die Summe im gesellschaftlichen Leben zu beachtender Normen“.491 Konfuzius (551–479 v. Chr.) verstand sich nicht als Schöpfer von li, sondern als Übermittler und Bewahrer von li, als derjenige, der die überlieferte adlige Etikette im neuen Geist und im Hinblick auf die veränderten Verhältnisse interpretierte und fortbildete und daraus allgemeine ethische Maßstäbe für alle zivilisierten Menschen herausarbeitete. Er bemühte sich um eine „konservative […] Erneuerung“, eine „Wiederbelebung idealisierter traditioneller Integrationsmuster“492 und wollte der konventionellen Sittlichkeit in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umwälzung einen neuen Sinn und eine neue Kraft geben. Für ihn genügte es zur Erfüllung der Forderungen von li allein nicht, äußerlich pflichtgemäß zu handeln. Es musste als innere Einstellung jing (敬), Achtung vor sich und anderen Menschen, oder ren (仁), Menschlichkeit, hinzukommen. Wer danach strebte, ein Edler (君子, junzi) als idealer Mensch zu werden, musste nicht nur am äußeren Verhalten, sondern auch an der inneren Haltung arbeiten. Für die Konfuzianer war li eine unabdingbare Voraussetzung für eine menschliche, harmonische und zivilisierte Gesellschaft. 490  Liang,

Hexie, S. 35 ff. Chinesische Rechtskultur, S. 68. 492  Weggel, Chinesische Rechtsgeschichte, S. 11. 491  Heuser,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Nach den Konfuzianern gehörten die Herrschaft durch li und die Herrschaft durch de zusammen. Die eine war auf die andere angewiesen. De bedeutete Tugend. Die Herrschaft durch de bedeutete die Erziehung und Aufklärung des Volkes durch den Herrscher und seine Elite als moralische Vorbilder. Die Konfuzianer glaubten an die Kraft moralischer Vorbilder, ohne Zwang und Gewalt nicht nur auf Verhalten, sondern auch auf Denken und Gefühl einzuwirken. Verhalten sich der Herrscher und seine Elite tugendhaft, so die Konfuzianer, dann richtet sich das Volk nach ihnen. Damit ist die Gesellschaft frei von Tyrannei, Rebellion und Gewalt und durchdrungen von Eintracht und Harmonie.493 Es ist „keine Ordnung, die von oben per Gesetz aufgezwungen wird. Es ist eine Ordnung, die von oben beispielhaft vorgelebt wird und mittels Motivation und Erziehung nachgelebt werden soll“494. Als Beispiele für die Herrschaft durch de galten die alten weisen Herrscher. Die Herrschaft durch de war ihrem Wesen nach eine Herrschaft von Personen, eine rule of men,495 wobei an die Regierenden hohe moralische Erwartungen und Anforderungen gestellt wurden. Die Konfuzianer gaben sich nicht damit zufrieden, dass die Menschen in ihrem äußeren Verhalten durch den Zwang des Gesetzes und die abschreckende Wirkung der Strafe so gesteuert werden, dass eine äußerlich fried­ liche Koexistenz und eine gewisse Kooperation zwischen den Gesellschaftsmitgliedern gewährleistet werden. Sie steckten sich ihr Ziel wesentlich höher.496 Sie gingen entweder von der grundsätzlich guten Natur des Menschen aus oder glaubten zumindest daran, dass die Menschen durch Erziehung auf den rechten Weg geleitet werden können. Hinter der Forderung nach der Herrschaft durch li und de stand das Ideal einer menschlichen und harmonischen Gesellschaft, in der die Menschen aus innerer Überzeugung und tiefstem Herzen ein sittliches Leben führen. Eine Herrschaft, die fa (Gesetz) in ihren Mittelpunkt stellt, so die Konfuzianer, führt dazu, dass die Menschen sich nicht mehr um die Annäherung an dieses Ideal und um die innere Kultivierung bemühen, sondern sich schon mit äußerlich gesetzeskonformem Verhalten zufrieden geben.497 „Konfuzianisch gesehen war China eine moralisch-pädagogisch – und nicht etwa eine rechtlich-administrative Provinz.“498 Ein hohes Maß der Angewiesenheit der Herrschaft auf das Gesetz war ein Zeichen für schlechtes Regieren, für Zeiten des Niedergangs.499 Konfuzius sagte: 493  Qu,

Zhongguo falü, S. 292 ff.; Peerenboom, China’s Long March, S. 32. S. 98. 495  Qu, Zhongguo falü, S. 292; Liang Qichao, S. 95 ff. 496  Peerenboom, China’s Long March, S. 28. 497  Peerenboom, China’s Long March, S. 29 f. 498  Weggel, C. a. 1993, 358 (359); ähnlich auch Behne, S. 97. 494  Behne,



B. Testfälle – Deutschland und China227 „Wenn man die Menschen mittels administrativer Anordnungen leitet und sie mittels Strafe ausrichtet, werden sie sich so verhalten, dass sie nicht bestraft werden, werden aber schamlos. Leitet man die Menschen mit de (Tugend) und richtet sie mittels li (Ritus, Sittlichkeit) aus, werden sie Schamgefühl besitzen und den rechten Weg beschreiten.“500 499

Obwohl Xunzi (313–238 v. Chr.), einer der größten Denker des Konfuzianismus in der formativen Phase, von der schlechten Natur des Menschen ausging und fa (Gesetz) mehr Aufmerksamkeit schenkte als frühere und zeitgenössische Konfuzianer, war auch er davon überzeugt, dass die Menschen sich durch Lernen zum Guten verändern können, und maß den regierenden Personen viel mehr Bedeutung bei als dem Gesetz. Er sagte: „Es gibt Menschen, die eine wohlgeordnete Gesellschaft hervorbringen; es gibt kein Gesetz, das an sich eine wohlgeordnete Gesellschaft hervorbringt (有治人, 无治法; youzhiren, wuzhifa).“501 „Es gibt Staaten, in denen trotz guter Gesetze Unordnung herrscht. Ich habe nie gehört, dass es von alters her bis heute Staaten gibt, die von Edlen (junzi) regiert werden und in denen Unordnung herrscht.“502

Der Konfuzianismus stieß in seiner formativen Phase auf den scharfen Widerspruch einer anderen politischen Denkrichtung, des Legalismus oder Legismus (法家, fajia). Das Anliegen des Legalismus bestand in der Sicherung und Stärkung der Macht eines Fürstenstaates nach innen und nach außen in einer Zeit der miteinander konkurrierenden und kämpfenden Fürstentümer und der gesellschaftlichen Veränderung. Als Mittel dazu sahen die Legalisten harte Gesetze und eine zentralistische Verwaltung. Sie hielten li (Ritus, Sittlichkeit) und de (Tugend) für nicht zeitgemäß, nutzlos, sogar schädlich für das Regieren eines Staates. Ein weiser Herrscher soll sich stattdessen des Gesetzes bedienen, um eine bessere soziale Kontrolle zu erreichen.503 Han Feizi (280–233 v. Chr.), ein Hauptvertreter des Legalismus, sagte: „Der weise Herrscher verlässt sich beim Regieren des Staates nicht darauf, dass die Menschen tun, was er für gut hält, sondern wirkt darauf hin, dass sie nichts Böses tun können. Von den ersteren finden sich im ganzen Reich kaum einige zehn, während durch die Verhinderung des Bösen das Gleichmaß im ganzen Reich herbeigeführt werden kann. Der Herrscher nimmt Rücksicht auf die Menge und nicht auf die kleine Minderheit. Deshalb kümmert er sich nicht um de (Tugend), sondern um fa (Gesetz).“504 499  Heuser,

Chinesische Rechtskultur, S. 71. Kapitel 2, Abschnitt 3. 501  Xunzi, Kapitel 12 Jundao, Abschnitt 1. 502  Xunzi, Kapitel 9 Wangzhi, Abschnitt 3. 503  Yang, Zhongguo falü sixiangshi, Bd. 1, S. 81 ff.; Qu, Zhongguo falü, S. 295 ff.; Heuser, Chinesische Rechtskultur, S. 72 ff. 504  Hanfeizi, Kapitel 50 Xianxue, Abschnitt 8. 500  Lunyü,

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Während die Konfuzianer die überlieferte Sittlichkeit und Kultur hochschätzten, hielten die Legalisten davon nichts.505 Sie wollten die Politik nicht an die Tradition binden, sondern das Gesetz zur Disposition des Herrschers stellen und es an den Wandel der Zeit anpassen.506 Während nach konfuzianischen Ordnungsvorstellungen zwischen den Angehörigen verschiedener Gesellschaftsschichten zu differenzieren war und die politische und moralische Elite gewisse, auch strafrechtliche Privilegien verdiente,507 strebten die Legalisten nach Abschaffung von Privilegien, nach Gleichheit vor dem Gesetz und nach Strafe ohne Ansehen der Person, also gleicher Strafe bei gleichem Vergehen sowohl für hochgestellte wie für einfache Leute,508 mit Ausnahme des Herrschers, der über dem Gesetz stand.509 Während die Konfuzianer Zurückhaltung und Maß beim Einsatz von Strafe als letztem Mittel forderten, betrachteten die Legalisten die Abschreckung durch drakonische Strafen als effektives und allerwichtigstes Herrschaftsmittel.510 Im Gegensatz zur „optimistischen und hoffnungsfrohen konfuzianischen Theorie“511 gingen die Legalisten von der schlechten Natur des Menschen aus. Deswegen hielten sie harte Strafen für unbedingt notwendig, um das menschliche Naturell zu kontrollieren.512 Der Legalismus bildete nur über kurze Zeit, nämlich nur in der kurzlebigen ersten kaiserlichen Dynastie Qin (221–207 v. Chr.), die Grundlage der politischen Herrschaft. Mit dem Sturz der Qin-Dynastie ging auch der Legalismus unter. Schon in der folgenden West-Han-Dynastie (202 v.–9 ­ n. Chr.) wurde der Konfuzianismus Staatsdoktrin und blieb es bis zum Ende des chinesischen Kaiserreiches. In diesen zweitausend Jahren war das konfuzianische Ideal der Herrschaft durch de (Tugend) und li (Ritus, Sittlichkeit) Leitbild der Politik. Der Legalismus wurde als Fürsprecher der willkürlichen Tyrannei gebrandmarkt. Das Gesetzesrecht, das bei den Legalisten einen zentralen Stellenwert einnahm, entwickelte sich jedoch weiter. Denn ohne es konnte die kaiserliche Herrschaft, die mit einer zentral gesteuerten Bürokratie das ganze Reich kontrollieren wollte, nicht aus­ kommen. Konfuzianische weltanschauliche, ethische und politische Vor­ stellungen und Lehrmeinungen prägten aber die Gesetzgebung und die 505  Vgl. zur Antinomie von li (Ritus, Sittlichkeit) des Konfuzianismus und fa (Gesetz) des Legalismus Weggel, C. a. 1993, 358 (358 f.). 506  Yang, Zhongguo falü sixiangshi, Bd. 1, S. 131 f.; Heuser, Chinesische Rechtskultur, S. 75. 507  Qu, Zhongguo falü, S. 197 ff.; Yang, Zhongguo falü sixiangshi, Bd. 2, S. 120 ff. 508  Qu, Zhongguo falü, S. 282 f. 509  Peerenboom, China’s Long March, S. 34. 510  Qu, Zhongguo falü, S. 302 f.; Yang, Zhongguo falü sixiangshi, Bd. 1, S. 137 ff. 511  Weggel, C. a. 1993, 226 (230). 512  Behne, S. 103.



B. Testfälle – Deutschland und China229

Rechtsprechung tief und wirken bis heute auf die Einstellung der Menschen zum Recht. Unter der Dominanz des Konfuzianismus orientierten sich die Gesetzgebung und die Rechtsprechung an konfuzianischen ethischen Vorstellungen, Prinzipien und Normen, wie sie etwa unter li (礼, Ritus, Sittlichkeit), li (理, Logos, Vernunft) oder tianli (天理, himmlisches Prinzip) und qing (情, Gefühl) oder renqing (人情, Menschengefühl) zusammengefasst wurden.513 Mit diesen wurde das Gesetz aufgefüllt. Bei der Lehre von lü, nämlich der gelehrten Auseinandersetzung mit den grundlegenden Kodizes, ging es darum, das Gesetz mit konfuzianischen ethischen Lehrsätzen zu interpretieren.514 Es erfolgte nicht nur eine Ethisierung des Gesetzes, sondern konfuzianische ethische Prinzipien und Normen waren auch unmittelbare Maßstäbe für die Rechtsprechung. Das Recht war von der Moral dominiert, ihr untergeordnet und zu ihr akzessorisch. Das schlug sich darin nieder, dass das Gesetz hauptsächlich darauf gerichtet war, ein moralisch verwerfliches Verhalten zu bestrafen, und sein Schwerpunkt deswegen in Strafsanktionen lag. Die Unterordnung und die Akzessorietät des Rechts kam auch darin zum Ausdruck, dass die grundlegenden Kodizes lü eine Auffangregelung enthielten, nach der alles, was nicht getan werden sollte, zu bestrafen war. Die Frage, was nicht zu tun war, entschied sich vor allem anhand der konfuzianischen Ethik. In der Zeit des chinesischen Kaiserreiches war die Gesetzgebung als Routine etabliert. Das Gesetz spielte eine wichtige Rolle in der Verwaltung und Rechtsprechung. Insofern kann man nicht sagen, dass das Recht damals nur eine geringe gesellschaftliche Bedeutung hatte. Dem Recht kam aber auch keine große Bedeutung zu. Anders als im antiken und mittelalterlichen Europa, wo das Recht als Ausdruck der Gerechtigkeit und wichtigstes Mittel ihrer Durchsetzung mit ihr untrennbar verbunden war,515 wurde die Bedeutung des Rechts im alten China ideologisch herabgesetzt, um den herausragenden Stellenwert der Moral zu betonen. Auf das Verhältnis von Moral und Gesetz wurde das Denkmodell Wurzel  /  Verzweigung (本 / 末, ben / mo) angewandt. Man betrachtete die Sittlichkeit und Tugend als Wurzel, als etwas Fundamentales und Wesentliches, die Strafe und das Gesetz, das in der traditionellen chinesischen Vorstellung mit der Strafe untrennbar verbunden war, dagegen als Verzweigung, als etwas Peripheres und Unwesentliches. Die politische Herrschaft war zur Verwirklichung der Sittlichkeit verpflichtet. Der Weg dazu wurde vornehmlich in der Vorbildfunktion des Herrschers und seiner Elite, in der Motivation durch Erziehung und in der 513  Vgl.

oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1) und III. 2. a). Zhiping, Hexie, S. 328 f. 515  Oben Zweiter Teil, B. IV. 1. a). 514  Liang

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

Wertevermittlung durch Sozialisation gesehen. Mit Gesetz und Strafe wollte man üble Taten bekämpfen und die Menschen vor dem tiefen moralischen Elend bewahren. Gesetz und Strafe wurden aber nicht als äußerst wichtige Mittel zur Verwirklichung der Moral, als Schlüssel zur Verwirklichung einer von der politischen Herrschaft anzustrebenden, sich an hohen ethischen Idealen orientierenden Gesellschaft angesehen. Das Gesetz wurde als etwas betrachtet, das sich neben der Funktion der Organisation und Steuerung der Verwaltung nur auf diejenigen bezog, die durch moralisch-pädagogische Mittel nicht auf den rechten Weg gebracht werden konnten und eine Bestrafung verdienten. Entscheidend für eine gute politische Herrschaft galt primär die sittliche Qualität des Herrschers und seiner Elite, nicht das gute Gesetz. Als Ideal galt nicht die Herrschaft des Gesetzes oder durch Gesetz, sondern die Herrschaft von Personen, die dem Edlen (junzi) als dem konfuzianischen Idealmensch nacheiferten, also eine Art von rule of men. Zum Beispiel gab der berühmte Kaiser Kangxi (1654–1722) aus der Qing-Dynastie in einem Edikt die bereits zitierte Worte von Xunzi, einem großen Denker des frühen Konfuzianismus, wieder: „Es gibt Menschen, die eine wohlgeordnete Gesellschaft hervorbringen; es gibt kein Gesetz, das an sich eine wohlgeordnete Gesellschaft hervorbringt.“ Dann fügte er selbst hinzu: „Beim Regieren kommt es ganz darauf an, Ämter mit richtigen Personen zu besetzen.“516 Folglich wurden von einem guten Beamten an erster Stelle nicht administrative und juristische Kenntnisse, sondern die Vertrautheit mit konfuzianischen philosophischen, ethischen, historischen und literarischen Werken und ihre Umsetzung im Leben erwartet. Entsprechend standen Kenntnisse über konfuzianische Klassiker, ihre Anwendung in der Politik und literarische Fähigkeiten im Mittelpunkt der Beamtenprüfungen. Rechtskenntnisse spielten dabei keine oder nur eine geringe Rolle. Außerdem war die gelehrte Auseinandersetzung mit dem Gesetz kein Mainstream unter den gebildeten Ständen. Private Rechtsberater von Kreismagistraten und Advokaten wurden, wie erwähnt, in der Gesellschaft wenig geschätzt und manchmal sogar als Streitentfacher moralisch abgewertet.517 Man könnte der Ansicht sein, dass konfuzianische ethische Vorstellungen, Prinzipien und Normen, wie sie etwa unter li (礼, Ritus, Sittlichkeit), li (理, Logos) und qing (Gefühl) zusammengefasst wurden, im alten China unmittelbare Maßstäbe für die Rechtsprechung waren und sich darum als Rechtsquellen der damaligen Zeit qualifizieren lassen,518 folglich, dass der nach Liang Zhiping, Hexie, S. 97. dazu die obigen Ausführungen im Zweiten Teil unter B. II. 2. a) (1). 518  Vgl. Heuser, Chinesische Rechtskultur, S. 66 ff. Dort wird li (Ritus, Sittlichkeit) als Gewohnheitsrecht eingestuft. 516  Zitiert 517  Siehe



B. Testfälle – Deutschland und China231

hohe Stellenwert dieser ethischen Maßstäbe im alten China die große Bedeutung des Rechts im alten China anzeigt. Diese Argumentation enthält eine richtige Prämisse, doch die Schlussfolgerung ist falsch. Diese ethischen Maßstäbe lassen sich zwar als Rechtsquellen bezeichnen, soweit auf sie bei der Rechtsprechung zurückgegriffen wurde; man muss aber im Auge behalten, dass sie in erster Linie in den Bereich der Moral gehörten. Bei li (礼, Ritus, Sittlichkeit) als wesentlichem Inhalt von li (理, Logos) ging es nicht nur um das äußere Verhalten, sondern auch um die innere Gesinnung, um die moralische Motivation. Li (Ritus, Sittlichkeit) war mit de (Tugend) als moralischer Güte eng verbunden. Die Herrschaft durch li gehörte mit der Herrschaft durch de zusammen und war auf die moralische Vorbildfunktion des Herrschers und seiner Elite angewiesen. Auch bei qing (Gefühl) ging es in erster Linie um die ethische Forderung, dass das gesunde Menschengefühl, das die normalen Menschen hatten, und die jeweiligen konkreten Umstände, unter denen das Menschengefühl einen konkreten Ausdruck fand und zu denen lokale Gewohnheiten gehörten, in zwischenmenschlichen Beziehungen beachtet werden und die Menschen gegenseitig Verständnis und Entgegenkommen aufbringen sollten. Die traditionelle chinesische Gesellschaft war, wie erläutert, von einer breiter angelegten moralisch-rechtlichen Ordnung geprägt.519 Der Verhaltenszwang wurde im Namen der Moral ausgeübt und ethische Forderungen auch unmittelbar als Recht gelten konnten. Das ändert aber nichts daran, dass Maßstäbe wie li (礼, Ritus, Sittlichkeit), li (理, Logos) und qing (Gefühl) mehr Affinität zur Moral als zum Recht hatten, dass solche Maßstäbe in erster Linie dem Bereich der Sittlichkeit zuzuordnen ist. Die Hochschätzung solcher Maßstäbe im alten China steht darum primär für die große Bedeutung der Moral im alten China. Ethische Prinzipien und Normen, die einen hervorragenden Stellenwert in der Gesellschaft einnahmen, waren zwar wichtige Maßstäbe für die Rechtsprechung; daraus lässt sich aber nicht folgern, dass dem Recht auch eine hervorragende gesellschaftliche Bedeutung zukam. Die staatliche Rechtsprechung, die in Berufung auf ethische wie gesetzliche Maßstäbe normkonformes Verhalten erzwangen und normabweichendes Verhalten bestraften, spielte zwar keine geringe Rolle in der Gesellschaft; ideologisch nahm man sie aber nicht so wichtig wie die Vorbildfunktion des Herrschers und seiner Elite, die Erziehung und die Sozialisation, obwohl die Erziehung und die Sozialisation in der Wirklichkeit oft mit sozialem oder behördlichem Druck geschahen. In Konfliktfällen, die heutzutage unter den privatrechtlichen Bereich fallen, legte die herrschende Ethik noch weniger Wert darauf, dass die staat­ 519  Oben

Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1).

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

liche Rechtsprechung einseitig verbindlich entschied und Rechte und Pflichten der Menschen gegeneinander klar abgrenzte. Nicht die rechtliche Konfliktlösung wurde geschätzt, sondern das Harmonieprinzip. Das Harmonieprinzip war ein wichtiges Element von li (礼, Ritus, Sittlichkeit), li (理, Logos) und qing (Gefühl). Es forderte, wie oben ausgeführt, Rücksichtnahme und Verständnis für Mitmenschen, Zurückhaltung bei der Wahrnehmung eigener, auch berechtigter Interessen und bei Konflikten mit anderen Menschen. Eine gütliche außergerichtliche Beilegung von Konflikten wurde geschätzt. Gefragt bei der richterlichen Entscheidung war, wenn es trotz aller Bemühungen um Harmonie doch zu einem Gerichtsprozess kam, nicht die beharrliche Durchsetzung von Gerechtigkeit und berechtigten Ansprüchen, nicht die Beurteilung ausschließlich nach den Kriterien von Recht und Unrecht, richtig und falsch. Es kam vielmehr auf die Ausbalancierung von qing (Gefühl), li (Logos) und fa (Gesetz) und die Wiederherstellung harmonischer menschlicher Beziehungen an.520 Wer hartnäckig um eigene Rechte kämpfte, wurde als egoistischer Streithahn und Harmoniezerstörer angeprangert und konnte sogar dafür Strafe bekommen. Es gab kein Wort und keinen Begriff für subjektives Recht. Der chinesische Begriff dafür, quanli (权利), bildete sich erst am Anfang des 20. Jahr­ hunderts im Zuge der Rechtsreform, indem man zwei schon vorhandene Schriftzeichen quan (权, Macht) und li (利, Interesse) kombinierte.521 Das Fehlen des Begriffs des subjektiven Rechts lag unter anderem an der großen Bedeutung des Harmonieprinzips und im Zusammenhang damit an der hohen Wertschätzung der Selbstkritik und der Bescheidenheit. Man sollte den Grund oder die Schuld für Konflikte bei sich selbst suchen, statt anderen Unrecht vorzuwerfen. Darum entstand kein Begriff für subjektives Recht, das sich gegen andere richtet. Nicht zuletzt ist das Fehlen des Begriffs des subjektiven Rechts auch auf die Akzessorietät des Rechts zur Moral zurückzuführen. Das Recht war hauptsächlich darauf gerichtet, ein moralisch verwerfliches Verhalten zu bestrafen, und hatte deswegen seinen Schwerpunkt in Strafsanktionen. Das für die Bildung des Begriffs des subjektiven Rechts entscheidende Privatrecht war wenig entwickelt und selbst privatrechtliche Regelungen nahmen häufig die Gestalt einer Strafsanktion durch den Staat an, dienten also nicht zum Schutz berechtigter Interessen, sondern zur Verteidigung der Sittlichkeit. Die Figur des subjektiven Rechts ist von großer Bedeutung für den Stellenwert des Rechts in der Gesellschaft. Wie oben ausgeführt, ging der Bedeutungszuwachs des Rechts im neuzeitlichen Deutschland mit dem Aufstieg der Freiheitsidee und der Aufwertung des subjektiven Rechts als Rechtsform 520  Oben

Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). Chinesische Rechtskultur, S. 133.

521  Heuser,



B. Testfälle – Deutschland und China233

der Freiheit und Zentralkategorie des Rechts einher. Obwohl die Figur des subjektiven Rechts erst im bürgerlichen Zeitalter die herausragende Bedeutung gewann, konnte sie auf eine lange Entwicklungsgeschichte zurückblicken. Eine solche bildete eine wichtige Ressource für die Entwicklung der Freiheitsidee und die Aufwertung des subjektiven Rechts und damit einen wichtigen Faktor für den Bedeutungszuwachs des Rechts.522 Im Gegensatz dazu fehlten in China entsprechende begriffliche und ideengeschichtliche Ressourcen, als man am Anfang des 20. Jahrhunderts damit anfing, das subjektive Recht als Zentralkategorie des Rechts einzuführen. Das subjektive Recht als Zentralkategorie des Rechts stellte in Deutschland zwar auch ein Novum dar, geschah die Neuerung aber durch die Umgestaltung des Alten, durch die Aufwertung des subjektiven Rechts und die Umstellung der Rechtsordnung von Pflichten auf Rechte. In China ging es dagegen um ein totales Novum. Es gab überhaupt kein Wort und keinen Begriff für das subjektive Recht. Man musste alles von Null an aufbauen. Hier findet sich ein Grund für die Schwierigkeiten bei der Etablierung der Freiheitsidee und der Betonung des subjektiven Rechts und damit dafür, dass das Recht im modernen China keinen herausragenden Stellenwert einnehmen kann. Dass das Recht in der Zeit des chinesischen Kaiserreiches keinen besonderen Stellenwert hatte, zeigt sich nicht nur darin, dass die Bedeutung des Rechts zur Hervorhebung der Moral herabgesetzt wurde, sondern auch darin, dass das Recht der Politik untergeordnet war. Obwohl lü, die grundlegenden Kodizes, innerhalb einer Dynastie und von Dynastie zu Dynastie inhaltlich relativ konstant blieben,523 unterlag der Kaiser bei der Gesetzgebung keinen rechtlichen Beschränkungen. Er war zwar an konfuzianische ethische Maßstäbe wie li (礼, Ritus, Sittlichkeit), li (理, Logos) und qing (Gefühl) gebunden; diese Bindung war aber keine Rechtsbindung, sondern eine Bindung in der Art, dass solche ethische Maßstäbe als unfehlbare und unveränderliche, allgemein und ewig gültige Wahrheiten galten, so dass der Kaiser selbst auch nicht außerhalb solcher Maßstäbe dachte und, wenn doch, einen gewaltigen, unwiderstehlichen Sturm der moralischen Entrüstung heraufbeschwören musste. Obwohl Beamte verpflichtet waren, bei der Entscheidung über schwere Straftaten entweder durch Gesetzesanwendung oder durch bifu (Vergleich und Analogie) das Gesetz heranzuziehen,524 waren sie auch bei der Rechtsprechung in die politische Weisungskette bis zum Kaiser eingebunden. Der Kaiser konnte im konkreten Einzelfall entscheiden, ohne sich auf das Gesetz zu stützen oder sich darüber hinwegzusetzen. Anders als im mittelalterlichen Deutschland, wo die Politik unter dem Recht 522  Oben

Zweiter Teil, B. IV. 1. c). oben Zweiter Teil, B. III. 2. a). 524  Näher oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (1). 523  Vgl.

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

als ihrer Legitimationsgrundlage stand,525 stand der chinesische Kaiser, der als Sohn und Vertreter des Himmels galt, über dem Recht als seinem Instrument. Darüber waren sich die Konfuzianer und die Legalisten einig. Ihre Meinungsverschiedenheit bestand nur darin, dass die Konfuzianer dem Herrscher moralische Verpflichtungen auferlegten und die Legalisten ihn hingegen von solchen befreiten. Unter der Dominanz des Konfuzianismus hatte die Moral in der Gesellschaft eine herausragende Bedeutung. Die Politik war der Moral untergeordnet und das Recht seinerseits der Politik untergeordnet. Das Recht diente der Herrschaft von Personen, die dem ­Edlen (junzi) als dem konfuzianischen Idealmensch nacheiferten, also einer Art von rule of men. b) Stellenwert des Rechts im modernen China Seit der am Anfang des 20. Jahrhunderts, kurz vor dem Ende des Kaiserreichs eingeleiteten Rechtsreform526 haben sich Juristen und andere Intellektuelle, die im Rechtsstaat oder in der rule of law ihr Ideal gesehen haben, immer wieder darum bemüht, dem Recht in der Gesellschaft Geltung zu verschaffen. Sie mussten aber immer wieder Enttäuschungen und Niederlagen erleben. Das Recht erlangt bis heute keine große gesellschaftliche Bedeutung. Das ist einerseits auf die gerade beschriebene, über Jahrtausende zurückreichende Tradition, in deren Schatten das Recht heute noch steht, zurückzuführen, andererseits vor dem Hintergrund der modernen chinesischen Geschichte zu erklären. Sie ist von Unruhen und vom Streben nach einem starken Staat und dem Wohlstand geprägt gewesen. Noch bis zu den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren Chinesen ständig mit Angriffen und Bedrohungen von außen, Bürgerkriegen, Revolutionen, Armut und Not konfrontiert. Dadurch wurden der Aufbau und die Etablierung der Rechtsordnung stark behindert. Als Reaktion auf die von außen und von innen verursachten furchtbaren Krisen haben die Menschen sich nach einem vereinten, stabilen, starken und vom allgemeinen Wohlstand geprägten Staat gesehnt. Ein solcher Staat ist das Ideal des Patriotismus oder Nationalismus gewesen, der bis heute eine tonangebende Strömung geblieben ist. Als Hoffnungsträger für die Verwirklichung des patriotischen Ideals hat eine starke Politik gegolten. Die Wertschätzung einer starken Politik ist mit der Hoffnung verbunden gewesen, dass eine gute, starke Politik Frieden, Stabilität und Wohlstand schafft und der Nation international Respekt verschafft. Der Politik kommt also im modernen China eine herausragende Bedeutung zu. Hinzu kommt, dass die Politik mächtiger 525  Oben 526  Zu

Zweiter Teil, B. IV. 1. a). dieser Rechtsreform oben Zweiter Teil, B. II. 2. a) (2).



B. Testfälle – Deutschland und China235

denn je ist. Denn seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Politik von ihrer Verpflichtung auf konfuzianische weltanschauliche, ethische und politische Vorstellungen und Prinzipien, die nicht mehr als unantastbare Wahrheiten gelten, befreit und kann die gesellschaftliche und politische Ordnung frei gestalten.527 Unter der Bedingung der überragenden Bedeutung und der Mächtigkeit der Politik ist es schwierig, dem Recht Geltung zu verschaffen. Die Rechtsbindung des Staates kann sich nicht etablieren. Vor allem nach der Gründung der Volksrepublik China unter Führung der Kommunistischen Partei erreichte das Primat der Politik seinen Höhepunkt und das Recht rutschte in Bedeutungslosigkeit ab. Das Recht wurde nicht nur als reines Instrument der Politik, als etwas, das der Politik voll zur Disposition stand und als etwas, das die Politik beliebig einsetzen sowie ignorieren konnte, sondern auch als nicht notwendig und sogar hinderlich für die Umgestaltung der Gesellschaft betrachtet. Der letzte Maßstab für die Rechtsprechung war nicht das Recht, sondern die Politik der Kommunistischen Partei. In der Kulturrevolution stürzte das Recht sogar in eine Existenzkrise.528 Erst mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik im Jahre 1978 wurde die Notwendigkeit des Rechts für die gesellschaftliche Ordnung und Entwicklung wieder anerkannt und damit begonnen, behutsam und schrittweise eine Rechtsordnung wieder aufzubauen. Im Jahre 1999 wurde die Verfassung um ein Bekenntnis zum sozialistischen Rechtsstaat (社会主义法 治国家, shehui zhuyi fazhi guojia) ergänzt.529 Die Rechtswissenschaft hat sich stark entwickelt. Das Recht hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Bedeutung erlangt.530 Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Ausgangssituation die Bedeutungslosigkeit des Rechts war. Das Recht nimmt heutzutage noch nicht einen so hohen Stellenwert ein, dass sich das in der westlichen Welt anerkannte rechtsstaatliche Gebot, dass im Konflikt zwischen rechtlichen Gesichtspunkten einerseits und politischen Gesichtspunkten wie Gesichtspunkten des Gemeinwohls, der materiellen Gerechtigkeit, der Zweckmäßigkeit oder der Macht andererseits den ersteren stets der Vorzug gegeben werden muss, in der Praxis etablieren könnte. Das Recht kann vor allem dort eine herausragende gesellschaftliche Bedeutung erreichen, wo die individuelle Selbstentfaltung und Freiheit ein 527  Dazu

oben Zweiter Teil, B. III. 2. b). Zweiter Teil, B. II. 2. a) (2). 529  Art. 5 Abs. 1 Zhonghua renmin gongheguo xianfa (Verfassung der VR China). 530  Vgl. zur Rechtsentwicklung nach der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik Peerenboom, China’s Long March, S. 188 ff.; Heuser, VRÜ 38 (2005), 137 ff. 528  Oben

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2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

wichtiger Wert ist. Die gleiche Freiheit für alle ist auf die Unverbrüchlichkeit des Rechts angewiesen, das nicht nur den Einzelnen, sondern auch dem Staat, der Recht setzt und durchsetzt, Grenzen zieht. Wie oben ausgeführt, hing die große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts im neuzeitlichen Deutschland mit dem Aufstieg des Liberalismus eng zusammen. Die vom Liberalismus konzipierte, vom Bürgertum angestrebte, auf der gleichen Freiheit aller basierende Gesellschaft „konstituiert[e] sich […] wie keine andere im Recht“.531 Die Verwirklichung dieser Gesellschaft hing vom Recht ab und erforderte die Herstellung des Rechtsstaates.532 Der Freiheitsgedanke oder der Liberalismus steht seit seiner Einführung in China aber immer nur am Rande des Spektrums der geistigen und politischen Strömungen. Schon vor der Machtergreifung der Kommunistischen Partei Chinas, die den Liberalismus scharf anprangerte, fand die Freiheitsidee weniger Resonanz als der Gedanke der Volkssouveränität oder Demokratie, der Patriotismus oder Nationalismus und der Sozialismus. Für die Menschen schien die individuelle Freiheit keine attraktive, schnelle und treffende Antwort auf die Zerfalls- und Existenzkrisen des Staates und den Wunsch nach einem starken Staat und dem allgemeinen Wohlstand zu sein. Die Volkssouveränität oder Demokratie fand zwar breite Anerkennung, sie führt aber nicht notwendig zu einer großen Bedeutung des Rechts.533 Wo die Freiheit nicht geschätzt wird, wird die Demokratie leicht mit der Mehrheitsregel identifiziert. Dann wird sich der Mehrheitswille auch dort durchsetzen, wo das Recht es nicht gestattet. Demokratie ohne Freiheit mündet also in Mehrheitsdiktatur und fehlende Rechtsstaatlichkeit.534 Der Liberalismus fordert auch Demokratie, für ihn liegt ihre Bedeutung aber letztlich in ihrem Beitrag zur Verwirklichung der gleichen Freiheit für alle. Nach dem Liberalismus sollen Demokratie und Rechtsstaat Hand in Hand gehen, sich wechselseitig bedingen und gemeinsam der Verwirklichung einer freiheit­ lichen Gesellschaft dienen.535 Freilich hat die wirtschaftliche Freiheit der Bürger seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik, vor allem seit der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft, beträchtlich zugenommen, entscheidend zur Befreiung von Armut und Elend beigetragen und den Menschen Nutzen ge531  Grimm,

in: Recht und Staat, S. 11 (24). Zweiter Teil, B. IV. 1. c). 533  Vgl. zur Frage des Zusammenhangs der Demokratisierung mit der Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit oben Zweiter Teil, A. IV. 534  Vgl. Grimms Ausführungen zu Demokratie ohne Rechtsstaat in: der Rechtsstaat, S. 9 (15). 535  Vgl. zur politischen und Rechtsordnung des Liberalismus oben Zweiter Teil, B. IV. 1. c). 532  Oben



B. Testfälle – Deutschland und China237

bracht. Man erfreut sich eines gewissen Maßes an Freiheit im Sinne der „Erlaubnis, in dieser oder jener Hinsicht nach eigenem Belieben zu handeln“536. Freiheit als „Abwesenheit von Fremdbestimmung und Möglichkeit zur Selbstbestimmung in allen Hinsichten“ und als „das auf umfassende Geltung angelegte, keinen Lebensbereich aussparende Grundprinzip der Sozialordnung“537, wie sie den westlichen Rechtsstaaten zugrunde liegt, ist den Menschen aber fremd oder gilt als bedenklich oder nicht wünschenswert. Die freie Selbstentfaltung des Einzelnen wird im Allgemeinen nicht als ein an sich wertvolles Gut, sondern nur als eines der Instrumente für die Verwirklichung des allgemeinen Wohlstands und des Gemeinwohls angesehen. Deswegen muss die freie Selbstentfaltung des Individuums in der Regel hinter dem Gemeinwohl oder staatlichen, gesellschaftlichen oder öffentlichen Interessen zurücktreten, wenn sie mit ihnen in Konflikt gerät. Die Stimmen, die das in Frage stellen, entwickeln sich noch nicht zu einer beachtlichen politischen und gesellschaftlichen Kraft, unter anderem auch deswegen, weil sie von den Machthabern unterdrückt werden. Trotzdem könnte man annehmen, dass der Wunsch der Menschen nach der Sicherung ihrer wirtschaftlichen Freiheit und der Früchte ihrer wirtschaft­ lichen Leistung und das Interesse der Machthaber an einer nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung dem Recht eine immer größere Bedeutung verschaffen und dem Rechtsstaat selbst bei fehlender Demokratie oder bei einer nur beschränkten politischen Mitwirkung des Volkes538 schließlich zur Durchsetzung verhelfen könnten,539 dass China wohl zumindest zu einem formalen Rechtsstaat, zu einer thin rule of law, kommen werde.540 In einem formalen Rechtsstaat oder einer thin rule of law sind die Verwaltung und die Rechtsprechung zwar an das Gesetz gebunden, die Gesetzgebung unterliegt aber ihrerseits keinen inhaltlichen Schranken. Das unterscheidet sich von einem materialen Rechtsstaat oder einer thick rule of law, in der der Gesetzgebung im Interesse individueller Selbstentfaltung und personaler Freiheit auch inhaltliche Grenzen gezogen werden. Das geschieht in der Regel durch die in der Verfassung verankerten Grundrechte, an die 536  Grimm,

in: Recht und Staat, S. 11 (12). in: Recht und Staat, S. 11 (12). Dort werden diese beiden Bedeutungen der Freiheit unterschieden. 538  Von Seiten der Intellektuellen in China wird etwa die Realisierung der Demokratie zuerst in einigen Kreisen und dann in einigen Provinzen vorgeschlagen. 539  Vgl. zur Entwicklungstendenz des chinesischen Rechtssystems Peerenboom, China’s Long March, S. 558 ff.; Heuser, VRÜ 38 (2005), 137 (148 ff.). 540  Vgl. zu thin / thick versions oder formal / substantial theories of rule of law Peerenboom, in: Asian Discourses, S. 1 (2 ff.); ders., China’s Long March, S. 65 ff.; Tamanaha, On the Rule of Law, S. 91 ff.; Summers, Ratio Juris 1993, vol. 6, no. 2, 127 ff.; Raz, in: The Authority of Law, S. 210 ff. 537  Grimm,

238

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

auch der Gesetzgeber gebunden ist, und durch eine integrierte oder spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit, die über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes wacht und der Verfassung zu mehr Effektivität verhilft. Im Hinblick auf die chinesischen Verhältnisse ist die Schwelle zur Etablierung eines materialen Rechtsstaats ziemlich hoch. Die Verwirklichung eines materialen Rechtsstaats findet keinen günstigen Boden, nicht nur weil die Freiheit und ihr Schutz durch die Grundrechte im Demokratieverständnis der Politik und der Allgemeinheit keinen zentralen Platz einnimmt und der Gedanke, dass die Freiheit auch gegen den demokratischen Gesetzgeber gerichtet sein kann, in der Politik und der Allgemeinheit nicht viel Anklang findet. Hindernisse für die Verwirklichung eines materialen Rechtsstaats liegen auch im Recht selbst. In der chinesischen Verfassung sind zwar Grundrechte, darunter auch Freiheitsrechte, verbürgert, ihr liegen aber das Prinzip des demokratischen Zentralismus und das Volkskongresssystem zugrunde.541 Das ist mit der Durchsetzung der Grundrechte gegen das Parlament schwer vereinbar. Nach den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen ist der Nationale Volkskongress selbst für die Aufhebung eines verfassungswidrigen Gesetzes, das von ihm oder seinem Ständigen Ausschuss zu beschließen ist, zuständig.542 Den Gerichten steht keine Befugnis zu, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Der Gesetzgeber unterliegt also faktisch keinen inhaltlichen Bindungen. Selbst in Bezug auf die nicht grundlose Erwartung der Durchsetzung eines formalen Rechtsstaates in China gibt es keine Indizien, die stark dafür sprechen, dass sich diese Erwartung kurzfristig erfüllen lässt. In einem formalen Rechtsstaat ist die Gesetzgebung zwar inhaltlich ungebunden, die Verwaltung und die Rechtsprechung müssen sich aber, solange der Gesetzgeber das Recht bestehen lässt, dem Recht unterwerfen und dürfen sich nicht, auch nicht ausnahmsweise, über das Recht hinwegsetzen. Für die Erfüllung dieser Voraussetzung ist die Unabhängigkeit des Richters unverzichtbar.543 Auch in einem formalen Rechtsstaat muss ein autonomes Rechtssystem existieren, das in Bezug auf die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Politik nicht nachgeordnet ist. Die ausnahmslose Rechtsbindung und das unbedingte Primat des Rechts in der Verwaltung und Rechtsprechung kann sich aber – bei allen Bemühungen vor allem von Juristen und anderen Intellektuellen – zurzeit in der Praxis in China noch nicht etablieren. Freilich will die Führung der Kommunistischen Partei auch nicht, dass das Gesetz schon wegen seiner Kolli541  Art. 3

Abs. 1, 2, 3 Verfassung (Fn. 529). Ziff. 11 Verfassung (Fn. 529); §§ 78, 87 Ziff. 2, 88 Ziff. 1 Zhonghua renmin gongheguo lifa fa (Gesetzgebungsgesetz der VR China). 543  Raz, in: The Authority of Law, S. 210 (216 f.). 542  Art. 62



B. Testfälle – Deutschland und China239

sion mit Partikularinteressen eines Ministeriums, einer Provinzregierung, einer lokalen Verwaltung oder einer einzelnen Behörde außer Acht gelassen wird. Eine solch starke Form der Unterordnung des Rechts unter die Politik wird die Steuerungskraft des Gesetzes als ein wichtiges Instrument der Politik untergraben. Deshalb bekennt sich die Kommunistische Partei offiziell auch zur Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung. Innerhalb der Partei kann sich aber die Idee, dass das Recht auch bei entgegenstehenden, von der Politik definierten Gesamtinteressen des Staates und der Gesellschaft eingehalten werden muss, nicht durchsetzen. Für die meisten Parteifunktionäre ist die Einrichtung eines formalen Rechtsstaats schon eine Zumutung. Sie geben sich nicht damit zufrieden, dass die Politik bei der Rechtsetzung inhaltlich ungebunden ist. Für sie steht das Recht in seiner Handhabung zwar nicht unter Partikularinteressen, aber doch auch unter dem Gemeinwohl und der einheitlichen Leitung der das Gemeinwohl definierenden Kommunistischen Partei. Diese gemäßigte Form der Unterordnung des Rechts unter die Politik als Mittelweg zwischen einer starken Form der Unterordnung des Rechts unter die Politik und einem formalen Rechtsstaat ist nicht nur eigentümlich für einen sozialistischen Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes544, sondern kann auch einen Anschluss an die oben dargelegte, sich durch die ganze Kaiserzeit ziehende Tradition der Unterordnung des Rechts unter die Politik finden. Anders als in Deutschland, wo die Forderung der Rechtsbindung der Staatsgewalt in der Neuzeit an die mittelalterliche Rechtsbindung der politischen Herrschaft anknüpfen konnte,545 kann diese Forderung sich in China wenig auf entsprechende geschichtliche und kulturelle Ressourcen aus der Kaiserzeit stützen, in der das Recht immer von seiner Unterordnung unter die Politik geprägt war. Diese Tradition lebt heute fort, wenn auch die leitende Ideologie und Person oder Organisation sich ändern. Früher waren sie der Konfuzianismus und der Kaiser, heute sind sie der Sozialismus chinesischer Prägung, der Patriotismus und die Kommunistische Partei. Die gemäßigte Unterordnung des Rechts unter die Politik passt zu einer Herrschaft mithilfe des Rechts oder rule by law, in der das Recht unter dem Vorbehalt des von der politischen Herrschaft definierten Gemeinwohls eingehalten wird, nicht aber zu einem formalen Rechtsstaat oder einer thin rule of law, in der die Rechtsbindung der Verwaltung und der Rechtsprechung auch ausnahmslos gilt, auch dort, wo das Ergebnis der Rechtswahrung schlecht, schädlich oder nicht wünschenswert erscheint.546 Mit der gemäßigten Unterordnung des Rechts unter die Politik kann die in der Verfassung 544  Art. 1

Abs. 1 Verfassung (Fn. 529). Zweiter Teil, B. IV. 1. a). 546  Vgl. zur ausnahmslosen Rechtsbindung Grimm, in: Der Rechtsstaat, S. 9 (10). 545  Oben

240

2. Teil: Gesellschaftliche Bedingungen richterlicher Unabhängigkeit

der Volksrepublik vorgeschriebene richterliche Unabhängigkeit gegenüber Verwaltungsorganen, gesellschaftlichen Organisationen und Individuen547 vereinbar sein, nicht aber die richterliche Unabhängigkeit gegenüber der staatstragenden Partei und der Volksvertretung, also nicht die richterliche Unabhängigkeit im eigentlichen vollen Sinne und Umfang. Der sozialistische Rechtsstaat chinesischer Prägung ist trotz aller Bemühungen und Fortschritte de facto ein „politischer Staat mit einer starken Tendenz zur Verrechtlichung“548. Der Weg, der auf einen Rechtsstaat im Sinne einer unbedingten Rechtsbindung führt, ist noch schwierig. Obwohl die Rechtsbindung des Staates in gewissem Maße zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen kann,549 wird die Unverbrüchlichkeit des Rechts nicht nur in der Politik, sondern auch unter der Bevölkerung bei weitem nicht so wichtig genommen wie der individuelle und allgemeine Wohlstand, ein dafür notwendiger stabiler und ruhiger gesellschaftlicher Umfeld und die Rückkehr Chinas zur alten Stärke. Beim Streben nach diesen Zielen wird das bisherige Verdienst der Politik anerkannt und weiter auf die Politik gesetzt. Nur weil sie auf ihrem Primat gegenüber dem Recht besteht, droht ihr noch keine ernsthafte Legitimationskrise, kein schwerer Vertrauensverlust. Freilich haben die Menschen das Bedürfnis, nicht einer willkürlichen Staatsgewalt unterworfen zu sein, damit sie ihr Leben, auch ihr wirtschaftliches Leben, verlässlich planen und organisieren können.550 Allerdings stellt das zurzeit praktizierte System der rule by law und der gemäßigten Unterordnung des Rechts unter die Politik schon einen großen Fortschritt gegenüber der Rechtlosigkeit vor drei Jahrzehnten dar. Auf der Tagesordnung stehen schrittweise Verbesserungen im Rahmen dieses Systems. Gegenüber diesem System besteht keine grundsätzliche Ablehnung unter der Bevölkerung im Allgemeinen, obwohl es Unzufriedenheit mit einzelnen Maßnahmen oder Politikern gibt. Die Politik steht deshalb nicht unter großem Druck, ihr Primat gegenüber dem Recht aufzugeben, obwohl viele Juristen und Intellektuelle einen Systemwechsel zur rule of law und zum unbedingten Primat des Rechts in der Verwaltung und Rechtsprechung für dringend erforderlich halten. In der chinesischen Gesellschaft spielen Juristen keine entscheidende Rolle. Während die Entstehung des Beamtentums in Deutschland in der Neuzeit eng mit der Etablierung des Juristenstandes verbunden und das Beamtentum stark von Juristen geprägt war,551 spielten Rechtskenntnisse im 547  Art. 126

Verfassung (Fn. 529). Die Politische Meinung 423 (2005), 25 (30). 549  Vgl. zur Diskussion darüber Peerenboom, China’s Long March, S. 450 ff. 550  Grimm, in: Der Rechtsstaat, S. 9 (10, 14). 551  Oben Zweiter Teil, B. IV. 1. b). 548  Ahl,



B. Testfälle – Deutschland und China241

chinesischen Kaiserreich keine oder nur eine geringe Rolle für den Zugang zu Beamtenstellen.552 Eine deutliche Professionalisierung der juristischen Kompetenz fing erst am Beginn des 20. Jahrhunderts an, wurde nach der Machtübernahme der Kommunistischen Partei abgewürgt, setzte erst mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik wieder ein. Seitdem geht die Professionalisierung der Rechtsprechung aber nur langsam voran. Heute bleibt das niedrige fachliche Durchschnittsniveau der Richterschaft weiter ein großes Problem der Justiz.553 Deswegen, aber auch wegen der jahrtausendelangen, bis heute fortgeführten Tradition der Unterordnung des Rechts unter die Politik, genießen Richter kein großes Ansehen in der Bevölkerung. In anderen Staatsorganen und Parteigremien sind Juristen nicht stark vertreten. Unter dem Umstand, dass Juristen in der Gesellschaft kein großes Ansehen und keinen großen Einfluss haben, ist es schwierig, eine breite Unterstützung für die richterliche Unabhängigkeit, mit der den Juristen eine große Macht anvertraut wird, zu mobilisieren und damit die richterliche Unabhängigkeit gegen den Widerstand der Politik durchzusetzen. V. Fazit Anhand der im Kapitel A. herausgearbeiteten gesellschaftlichen Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit, nämlich der Ausdifferenzierung des Rechts, der Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und einer großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts lassen sich die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit im neuzeitlichen Deutschland und die fehlende richterliche Unabhängigkeit im gegenwärtigen China erklären. Bevor die richterliche Unabhängigkeit sich in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte, entfaltete sich schon die Ausdifferenzierung des Rechts. Auch die gesetzgeberische Gestaltung des Rechts war etabliert und das Recht erlangte eine herausragende gesellschaftliche Bedeutung, die wiederum den Höhepunkt eines langen historischen Prozesses darstellte. Auf der Basis dieser gesellschaftlichen Bedingungen erfolgte in Deutschland die rechtliche Anerkennung und Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit. Die fehlende richterliche Unabhängigkeit in China ist, obwohl die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des Rechts etabliert ist, darauf zurückzuführen, dass die Ausdifferenzierung des Rechts sich noch im Anfangsstadium befindet, und daraus, dass das Recht bis heute keine große gesellschaftliche Bedeutung hat.

552  Oben

553  Näher

Zweiter Teil, B. IV. 2. a). Oben Zweiter Teil, B. II. 2. b) (2).

Zusammenfassung und Schlussbemerkung Die Unabhängigkeit des Richters ist nach dem herrschenden Grundverständnis ein tragendes Prinzip des Rechtsstaates. Sie ist eine unerlässliche Grundlage dafür, dass der Richter sich ausschließlich der Wahrung des Rechts widmen kann. Sie dient der Sicherung einer rechtsgebundenen, objektiven, rationalen, neutralen und unparteiischen Rechtsprechung. Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht darum, dieses herrschende Grundverständnis der richterlichen Unabhängigkeit von Grund auf zu revolutionieren, sondern darum, dieses Grundverständnis aus einem neuen Blickwinkel, aus der gesellschaftstheoretischen Perspektive der Ausdifferenzierung des Rechts, angemessen zu rekonstruieren, Unstimmigkeiten und Mängel, die in ihm enthalten sind, zu korrigieren und Zweifel an ihm auszuräumen. Die Ausdifferenzierung des Rechts meint die Entstehung eines besonderen Rechtssystems als eines sozialen Systems, das sich von seiner gesellschaftlichen Umwelt unterscheidet, und als eines Kommunikationssystems, in dem eine Zuordnung von Recht und Unrecht behauptet oder festgestellt wird. Das Rechtssystem hat seine Funktion in der Stabilisierung normativer Erwartungen. Seine Geschlossenheit und Autonomie ist mit seiner Offenheit und Abhängigkeit gegenüber der Umwelt vereinbar. Aus dieser Perspektive der offenen Geschlossenheit lassen sich die alte Unterscheidung von Recht und Politik und die von Recht und Moral rekonstruiert. Die Funktion der richterlichen Unabhängigkeit besteht darin, zu verhindern, dass die gesellschaftliche Umwelt des Rechtssystems, vor allem das politische System, richterliche Entscheidungen determiniert, deren Vernetzung im Rechtssystem dirigiert oder gar verhindert, und damit die Ausdifferenzierung des Rechtssystems gegenüber dessen gesellschaftlicher Umwelt, insbesondere gegenüber dem politischen System, und infolgedessen die Funktionsfähigkeit des auf die Stabilisierung normativer Erwartungen ausgerichteten Rechtssystems zu sichern und zu fördern. Ausgehend von diesem Funktionsverständnis ist die richterliche Unabhängigkeit als Entscheidungsautonomie des Richters gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems aufzufassen. Sie bedeutet nicht die Freiheit des Richters von jeglicher Beeinflussung, sondern seine Freiheit von Außeneinwirkungen, die dazu führen oder dazu zu führen drohen, dass seine Wahrnehmung rechtsprechender Aufgaben von der gesellschaftlichen



Zusammenfassung und Schlussbemerkung243

Umwelt des Rechtssystems bestimmt wird und dass die Entdifferenzierung zwischen dem Rechtssystem und dessen gesellschaftlicher Umwelt geschieht. Das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit setzt der Gerichtsverwaltung Grenzen. Es richtet sich nicht nur gegen die Exekutive und die Legislative, sondern gilt auch innerhalb der Judikative und gegenüber nichtstaatlichen Akteuren. Der Begriff der institutionellen oder organisatorischen oder kollektiven Unabhängigkeit der Gerichte oder der rechtsprechenden Gewalt ist nicht deckungsgleich mit dem in der vorliegenden Arbeit verwendeten Begriff der richterlichen Unabhängigkeit. Dieser Begriff wird hier auch vom Begriff der inneren Unabhängigkeit oder Freiheit des Richters unterschieden. Auf der Basis der rechtstheoretischen Grundlegung der richterlichen Unabhängigkeit wurden in der vorliegenden Arbeit die Ausdifferenzierung des Rechts, die Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts als gesellschaftliche Bedingungen der richterlichen Unabhängigkeit herausgearbeitet. Als Testfälle dienten die Durchsetzung der richterlichen Unabhängigkeit im neuzeitlichen Deutschland und die mangelnde richterliche Unabhängigkeit im gegenwärtigen China. Die Ausdifferenzierung des Rechts in Deutschland kam im späten Mittelalter in Gang und entfaltete sich in der Neuzeit, noch bevor die richterliche Unabhängigkeit sich dort in der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte. Die Ausdifferenzierung des Rechts kam in der Positivierung des Rechts, in der Verwissenschaftlichung des Rechts und der Professionalisierung der juristischen Kompetenz, in der funktionalen und organisatorischen Trennung von Justiz und Politik, in der rechtstheoretischen Unterscheidung von Rechtsprechung und Politik, in der Grenzwahrung zwischen Auslegung und Schaffung des Rechts in der juristischen Hermeneutik sowie in der Anerkennung der richterlichen Auslegungsbefugnis seitens der Politik zum Ausdruck. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war die chinesische Gesellschaft von der breiter angelegten moralisch-rechtlichen Ordnung und von der Verschmelzung von Recht und Politik geprägt. Die Ausdifferenzierung des Rechts, die in den letzten Jahren des Kaiserreiches eingeleitet wurde, wurde nach der Machtergreifung der Kommunistischen Partei abgewürgt, setzte erst mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik wieder von vorne ein und befindet sich noch im Anfangsstadium. Das kam in der beginnenden Entwicklung eines gemeinsamen Repertoires an Rechtsbegriffen, -regeln und -prinzipien, in der beginnenden Professionalisierung der Rechtsprechung, in der formal-institutionellen Nichtanerkennung der richterlichen Befugnis zur Rechtsauslegung sowie in der Verschmelzung des Rechts mit der Moral und der Politik auf dem Land zum Vorschein.

244

Zusammenfassung und Schlussbemerkung

In Deutschland setzte sich die Gestaltbarkeit oder Entscheidbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung in der Neuzeit, anders als im Mittelalter, durch und die Offenheit des Rechts gegenüber der Politik war damit strukturell gesichert, bevor die richterliche Unabhängigkeit sich durchsetzte. In China ist die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des Rechts in ihrer vollen Entfaltung auch seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts schnell und fest ­etabliert. Die große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts in Deutschland in der Neuzeit hatte ihre geschichtlichen und kulturellen Wurzeln in der Antike und im Mittelalter. Die Juridifizierung der Kirche und der damit in Gang gesetzte Aufstieg des gelehrten Juristenstandes waren entscheidend für die wachsende Bedeutung des Rechts seit dem späten Mittelalter. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung aufklärerischer und liberaler Ideen und dem Aufstieg des diese Ideen tragenden Bürgertums in der Neuzeit wurde das Recht noch wichtiger und erlangte eine besonders herausragende gesellschaftliche Bedeutung. Im alten China wurde die Bedeutung des Rechts im Zeichen des Konfuzianismus herabgesetzt, um den herausragenden Stellenwert der Moral und der Vorbildfunktion des Herrschers und seiner Elite zu betonen. Außerdem war das Recht der Politik untergeordnet. Im modernen China kann das Recht im Zeichen des Strebens nach einem vereinten, stabilen, starken und vom allgemeinen Wohlstand geprägten Staat keine große gesellschaftliche Bedeutung erlangen. Die Tradition der Unterordnung des Rechts unter die Politik lebt fort. Die rechtliche Anerkennung und Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte also auf der Grundlage der Ausdifferenzierung des Rechts, der Gestaltbarkeit des Rechts durch die Gesetzgebung und der großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts. Die fehlende richterliche Unabhängigkeit in China lässt sich daraus erklären, dass die Ausdifferenzierung des Rechts noch nicht lange begonnen hat und das Recht bis heute keine große gesellschaftliche Bedeutung hat. Zum Schluss sind einige Bemerkungen zu zwei eingangs in der Einleitung erwähnten Fragen zu machen. Die erste Frage lautet: Wäre es in China, da die Bekämpfung des Machtmissbrauchs und der Korruption der Justiz ein Gebot der Stunde wäre, nicht angemessener, die Kontrolle über den Richter zu verschärfen statt die Unabhängigkeit des Richters zu fordern? Dieser Fragestellung liegt die falsche Vorstellung des Antagonismus zwischen der richterlichen Unabhängigkeit und der richterlichen Verantwortlichkeit zugrunde. Was das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit schützt, ist von vornherein nicht die allgemeine Handlungsfreiheit des Rich-



Zusammenfassung und Schlussbemerkung245

ters, auch nicht seine Entscheidungsautonomie bei der Rechtsprechung überhaupt, sondern nur seine Entscheidungsautonomie gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt des Rechtssystems. Die Entscheidungsautonomie des Richters wird geschützt, damit er nach seiner Rechtsauffassung entscheiden kann, nicht damit er auch ohne rechtsinterne Gründe außerrechtliche Kriterien verwenden oder sein Eigeninteresse verfolgen oder Willkür üben ­dürfte.1 Die richterliche Verantwortlichkeit, die sich auf zivilrechtlicher, strafrechtlicher, dienstrechtlicher und disziplinarrechtlicher und auch verfassungsrechtlicher Ebene ergeben kann,2 lässt sich durchaus so ausgestalten, dass sie mit der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist. Die Kontrolle der Rechtsprechung kann auch durch die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, die Veröffentlichung der Gerichtsentscheidungen und die Urteilsschelte erfolgen, ohne die richterliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.3 Die Verbesserung der Kontrolle der Richter muss also nicht unbedingt zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit geschehen. Die zweite Frage ist, ob gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse oder Entwicklungstendenzen in westlichen Rechtsstaaten wie etwa in Deutschland zuungunsten des Weiterbestehens der richterlichen Unabhängigkeit wirken. Hier wird diese Frage nicht abschließend beantwortet. Es werden nur Anzeichen, die dafür sprechen, ebenso wie solche, die dagegen sprechen, skizziert. Bei dieser Fragestellung könnte man daran denken, dass der Gesetzgeber in einem regelungsbedürftigen Bereich zuweilen ganz untätig bleibt oder sich auf eine sehr allgemeine Regelung wie etwa nach Art eines Finalprogramms anstatt eines Konditionalprogramms beschränkt,4 so dass die Gestaltung von Rechtsverhältnissen in solchen Fällen weitgehend der Rechtsprechung überlassen wird. Man könnte meinen, dass darunter die Differenzierung zwischen Recht und Politik leidet5 und damit die richterliche Unabhängigkeit, die – wie dargelegt – diese Differenzierung voraussetzt, ­ wackelt. Sicher stellen die Fortbildung des Rechts für einen ganzen regelungsbedürftigen Bereich und die Entscheidung nach Finalprogrammen große Anfor1  Oben

Erster Teil, B. III. 1 und IV. 3. Kissel / Mayer, GVG, § 1 Rn. 193 ff.; Cappelletti, in: Judicial Independence, S.  550 ff. 3  Vgl. allgemein zur Urteilsschelte Mishra, Urteilsschelte; speziell zu ihrem Verhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit gegenüber nichtstaatlichen Akteuren oben Erster Teil, B. III. 4. 4  Vgl. zum Konditionalprogramm und Finalprogramm die obigen Ausführungen im Erster Teil unter B. I. 2. a). 5  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (31 f.). 2  Vgl.

246

Zusammenfassung und Schlussbemerkung

derungen an den Richter, der traditionell in der Entscheidung nach Konditionalprogrammen, in der Auslegung im engeren Sinne6 und in der Schließung einzelner Lücken geübt ist. Ungeachtet dessen könnte man Gründe finden, die dafür sprechen, dass die Differenzierung zwischen Recht und Politik in Deutschland unter den neuen Herausforderungen im Großen und Ganzen gewahrt bleiben kann. Zuerst muss und kann die richterliche Rechtsfortbildung im Netz rechtlicher Kommunikationen Anschluss finden, sich in den rechtseigenen Sinnhorizont einordnen und ihre Innovation auf dem Rückgriff auf das jeweilige Repertoire von Begriffen, Regeln, Prinzipien und Argumentationen im Rechtssystem aufbauen. Sie wird – unter Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit – auch nicht durch den Machtcode, der das politische System prägt, bestimmt. Was Finalprogramme betrifft, haben sie im Recht einen anderen Sinn als in der Politik.7 Zweckorientierung bedeutet für die Politik, den zu steuernden Vorgang im Hinblick auf die Zielvorgabe stets zu kontrollieren und gegebenenfalls nachzusteuern. Der Richter operiert nicht mit einer solchen „Kybernetik der Nachsteuerung“8. Die Frage, was Recht und was Unrecht ist, kann nicht von der Zukunft abhängen.9 Selbst wenn der Richter nach einem Finalprogramm die Zukunft berücksichtigen muss, geht es dabei nur um eine verbindliche Zuordnung von Recht und Unrecht auf der Basis dessen, „was er in der Gegenwart seiner Entscheidung als Zukunft kommen sieht“10. Darüber hinaus ist der Richter gehalten, sich nicht an die Stelle der Verwaltung zu setzen, sondern nur zu kontrollieren, „ob konfligierende Ziele nachvollziehbar abgewogen und alle normativ vorgegebenen Gesichtspunkte berücksichtigt wurden“.11 Das bedeutet aber einen verdünnten Bindungsgrad von Finalprogrammen, die in den modernen Bereichen der Entwicklungsplanung, Wirtschaftslenkung und Risikovorsorge vorkommen.12 Im Unterschied zu der traditionellen Staatstätigkeit, die retrospektiv und punktuell ausgerichtet und gesetzlich gut steuerbar ist, ist die Staatstätigkeit des modernen Wohlfahrts- und Vorsorgestaats zukunftsgerichtet und flächendeckend und einer bindungsintensiven rechtlichen Regelung nur schwer zugänglich.13 Das Recht hat also 6  Zur Rechtsauslegung im engeren Sinne und im weiteren Sinne, der die Fortbildung des Rechts einschließt oben Erster Teil, B. I. 2. b) (1) und (2). 7  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 198 ff. 8  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 202. 9  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 200. 10  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 200. 11  Grimm, in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (174). 12  Grimm, in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (172 ff.); ders., in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (30 ff.). 13  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 13 (30 f.); ders., in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (172).



Zusammenfassung und Schlussbemerkung247

keine so große Bedeutung in der letzteren Tätigkeit wie in der ersteren. Eine große gesellschaftliche Bedeutung des Rechts ist aber, wie ausgeführt, eine gesellschaftliche Bedingung der richterlichen Unabhängigkeit. Neben der sinkenden Bindungskraft des Gesetzes können sich Verhandlungssysteme zwischen Staat und Gesellschaft auch negativ auf die gesellschaftliche Bedeutung des Rechts auswirken. Bei der Lösung vieler „Aufgaben, die mit dem Wandel des Staates vom Garanten einer als gerecht vorausgesetzten Gesellschaftsordnung zu einer umfassenden Planungs-, Entwicklungs- und Serviceagentur für die Gesellschaft zusammenhängen“14, verzichtet der Staat auf Befehl und Zwang. Rechtliche Regelungen und Entscheidungen, die auf ihnen beruhen, werden durch Verhandlungen und Absprachen zwischen staatlichen und privaten Akteuren ersetzt. In solchen Fällen fallen die Gesetzesbindung der Verwaltung und die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung aus.15 Es gibt aber in Deutschland auch Faktoren, die eine große gesellschaft­ liche Bedeutung des Rechts unterstützen. Die Verrechtlichung hält trotz der ebenfalls stattfindenden Deregulierung an. Immer wenn neue gesellschaft­ liche Verhältnisse und Anforderungen entstehen, sucht man nach rechtlichen Antworten, obwohl der Bindungsgrad des Gesetzes sich, wie bereits erwähnt, in manchen Bereichen mindert. Wenn man den Blick von Programmen auf den Code des Rechtssystems lenkt, ist die Universalisierung des Codes Recht / Unrecht16 erkennbar. Es gibt keine Sachverhalte, die sich der Zuordnung von Recht und Unrecht entziehen. Hinzu kommt die bleibende Wertschätzung der Bindung der Staatsgewalt an das Recht, an die Verfassung und das einfache Recht, in der Gesellschaft. Auch die Freiheit, deren Wertschätzung, wie erläutert, mit einer großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts eng verbunden ist, ist weiterhin als Grundwert der Gesellschaft anerkannt, obwohl die steigenden Sicherheitserwartungen in der Gesellschaft und die erhöhte Bereitschaft, Sicherheitsbedürfnisse durch Freiheitsbeschränkungen zu befriedigen, zu beobachten sind.17 Wo die Freiheit und die Rechtsbindung des Staates als Grundpfeiler der gesellschaftlichen und politischen Ordnung geschätzt werden, kommt dem Recht eine große gesellschaftliche Bedeutung zu. Die richterliche Unabhängigkeit, die dem Recht Geltung verschaffen und die Rechtsbindung und die Freiheit sichern soll, kann sich dann leichter in der Gesellschaft etablieren. Sobald die richter­ liche Unabhängigkeit sich, wie etwa in Deutschland, durchgesetzt hat, ent14  Grimm,

in: Die Verfassung und die Politik, S. 295 (318). in: Die Zukunft der Verfassung, S. 159 (170 f.); ders., in: Die Verfassung und die Politik, S. 295 (322). 16  Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 296. 17  Grimm, in: Die Verfassung und die Politik, S. 295 (302 f., 311 f.). 15  Grimm,

248

Zusammenfassung und Schlussbemerkung

steht eine positive Wechselwirkung zwischen ihr und einer großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts als einer ihrer gesellschaftlichen Bedingungen. Die richterliche Unabhängigkeit, deren Durchsetzung einer großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts zu verdanken ist, verschafft dem Recht ihrerseits eine weiterhin große Bedeutung und trägt damit zur Erhaltung einer eigenen Existenzbedingung bei.

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Sachverzeichnis Ausdifferenzierung des Rechts(-systems)  13–15, 18 f., 39–41, 45–48, 63, 75–80, 83–85, 95, 98, 100, 102 f., 109, 111 f., 115 f., 118 f., 121–123, 130, 132 f., 135–139, 141, 144, 146 f., 157, 168 f., 177, 179–181, 186, 191, 197, 199, 204, 206, 208, 211, 215, 241–244 Auslegung siehe Rechtsauslegung – folgenorientierte  55–57, 164 – grammatische  31, 53 f., 163, 166 – logische  163–166 – nach dem Wortlaut siehe gramma­ tische Auslegung – systematische  53, 64 f., 164, 166 – teleologische  31, 56, 94, 164 – wirklichkeitsbezogene  54 f. Autonomie des Rechts(-systems)  43, 45–47, 58 f., 65, 72, 76–79, 95, 98, 102, 121, 132 f., 135, 146, 152, 211, 242 Code   – des politischen Systems  48, 50 f., 59, 68–70, 87 f., 92, 99 f., 113 f., 195 f., 246 – des Rechtssystems  41, 44, 48 f., 52, 75 f., 79, 98 f., 112–114, 117, 157, 175, 178, 247 – Machtüberlegenheit / Machtunter­ legenheit siehe Code des politischen Systems – Recht / Unrecht siehe Code des Rechts­systems – Regierung / Opposition  59, 68 f., 87 f. Sachverzeichnis Sachverzeichnis

Demokratie  38, 67–69, 103, 139, 236–238

Dienstaufsicht über Richter  15, 28, 90–95 Differenzierung – zwischen Recht und Moral  15, 19, 40, 70–74, 123 f., 127–129, 134 f., 146–152, 168, 207, 242 – zwischen Recht und Politik  14 f., 19, 40, 49 f., 52, 58, 70, 77 f., 112, 114 f., 117, 120 f., 123, 127–130, 134, 146, 162, 165 f., 168, 186, 197, 208, 242, 245 f. Diskurs  60, 67 f., 70, 73, 97, 197 – juristischer  59, 61, 75 f., 84 f., 93 f., 98, 102, 108–111, 122, 152, 156, 185 Entscheidungsautonomie des Richters  19, 76, 80 f., 85, 87, 89–91, 95, 101 f., 104, 106–108, 118, 122, 125 f., 196 f., 242, 245 Fortbildung des Rechts  21, 32 f., 53 f., 56 f., 92–94, 145, 162, 164, 187–189, 194, 199, 206, 245 f. Freiheit  21 f. 24–26, 47, 58, 126, 139, 150 f., 219–224, 232 f., 235–238, 247 Funktion – der richterlichen Unabhängigkeit  19, 75, 80, 116, 122, 130, 242 – des politischen Systems  50, 135 – des Rechtssystems  47–50, 52, 76, 78, 112, 117, 242 Gemeinwohl  20 f., 23, 25, 50 f., 140, 151, 158, 160–162, 175, 219 f., 235, 237, 239 Gerechtigkeit  20 f., 25, 48 f., 51, 71–73, 76, 124 f., 128, 140, 144, 147 f., 150–152, 155, 162, 174, 203, 215 f., 219 f., 229, 232, 235

270 Sachverzeichnis  – rechtseigene (oder rechtsimmanente)  71, 73, 78, 122, 124–127, 147, 152, 155 Gerichtsverwaltung    13, 86, 89, 91, 93– 97, 100 f., 104–106, 119 f., 192, 243 Geschlossenheit des Rechtssystems  43–45, 58, 72 f., 113 f., 242 – offene  43, 45 f., 58 f., 65, 78, 85, 112, 114, 117, 120, 242 Gesellschaft – moderne  15, 18, 46 f., 49, 66 f., 70–72, 74, 112, 116–119, 124 f., 127, 129, 136 f., 182, 212 – traditionelle, vormoderne  46, 48 f., 74, 119, 124–129, 137, 170, 182, 231 Gesetz  22–24, 37, 51, 62, 72 f., 83 f., 99, 111, 116 f., 131–135, 148 f., 152, 161, 163 f., 167–174, 176–178, 187–190, 198–203, 207–214, 221 f., 224–230, 232 f., 238 f., 247 Gesetzesbindung  222, 237, 239, 247 – des Richters (oder der Rechtsprechung)  24, 27, 83, 116 f., 131, 133 f., 148, 172, 203, 208 f., 211, 214, 237, 239 Gesetzgebung  19, 23, 28, 32, 34, 43, 50, 53–55, 62, 67, 72, 76 f., 117, 125, 127 f., 131–135, 138 f., 144 f., 147, 151 f., 158, 161 f., 169, 171, 176 f., 180 f., 183 f., 188 f., 197, 203, 206–208, 211–215, 228 f., 233, 237 f., 241, 243 f. Gewaltenteilung  21 f., 27, 38, 103 f., 113, 115, 121, 151, 197, 208 Gewohnheit  124 f., 144, 146, 149, 155, 171, 173 f., 176, 203, 214, 231 Grundrechte  57 f., 222, 237 f. Herrschaft – des Rechts  26 – durch de (Tugend)  177, 212, 225–228, 231 – durch fa (Gesetz)  177, 212, 225, 227 f. – durch li (Ritus, Sittlichkeit)  177, 212, 225–228, 231

– mithilfe des Rechts  239 – von Personen (oder Menschen)  26, 226, 230, 234 intersubjektiv  59–61, 97, 108, 110 Juristen  55, 57 f., 66 f., 69, 77, 149, 153–155, 157, 160, 164, 176, 178–180, 185, 191–193, 217 f., 222–224, 234, 238, 240 f., 244 juristische Argumentation  41 f., 52, 59–70, 72 f., 75 f., 78, 85, 93, 95, 127–129, 157, 181, 184, 186, 191, 200 juristische Kommunikation  50, 52, 61, 66–70, 111, 127, 130, 133, 164, 187 justizielle Auslegung des Obersten Volksgerichts (VR China)  188–191, 196–199 Kommunikationsnetz  41, 46, 50, 66, 92, 102, 109 f., 112, 130 Kommunikationssystem  15, 40–42, 44, 47, 52, 112, 127, 179, 181, 191, 242 Konfliktlösung  37, 48 f., 119, 174 f., 232 Konfuzianismus, Konfuzianer, konfu­ zianisch  170 f., 176 f., 212–214, 225–230, 233–235, 239, 244 Legalismus, Legismus  212 f., 227 f., 234 Liberalismus  21, 151, 218 f., 222, 236 Macht  22, 25, 34 f., 38, 48, 52, 68 f., 77, 89, 92, 94, 100, 131, 145 f., 158, 160, 162, 166, 207, 212, 232, 235, 241 – politische  25 f., 37, 69, 75, 85, 89, 116 f., 128, 151, 160, 207 Moral  15, 19, 40, 70–75, 119, 123–129, 131, 134 f., 144–152, 168–170, 172, 175, 177 f., 184, 203, 207, 212, 214, 229–234, 242–244

Sachverzeichnis271 Neutralität und Unparteilichkeit des Richters  89 f., 104, 106–108, 119 Objektivität (oder Rationalität) der Rechtsprechung  28–34, 60 f., 76, 97, 108–111, 165 Offenheit des Rechts(-systems)  45, 54, 58, 72 f., 77, 79, 86, 112–114, 131–135, 138, 207 f., 211, 214 f., 242, 244 politisches System  38 f., 48, 50 f., 55, 58, 61, 69 f., 75, 77–80, 87, 89, 92, 99 f., 112, 114 f., 117, 121, 127, 130, 133, 135, 145, 158, 195 f., 211, 242, 246 positives Recht  152, 156 f., 164 f., 208, 216, 221 Positivierung des Rechts, Positivität des Rechts  146 f., 152, 206–208, 212, 214, 221, 243 Präjudizien  19, 56, 61, 63–65, 72 f., 111, 133, 174 Professionalisierung der juristischen Kompetenz (oder der Rechtsprechung)  146, 152–155, 157, 159, 176, 188, 191, 241, 243 programmierende und programmierte Entscheidung  23, 28, 32, 109, 133 Rechtsauslegung (und -anwendung)  28, 44, 53–59, 72 f., 76, 93 f., 110, 129, 162–168, 187 f., 196–199, 238, 243 Rechtsbegriffe  45, 49, 61–66, 72 f., 76 f., 98 f., 110 f., 124 f., 128 f., 147, 155, 157, 181 f., 184, 187 f., 190 f., 199, 243, 246 Rechtsbindung  21, 24–26, 50, 52, 78–80, 213, 216, 221, 224, 233, 235, 238–240, 247 – des Richters (oder der Rechtsprechung)  24, 27–33, 39, 83–85, 91, 94, 108–111, 116–119, 163 f., 203, 238 f.

Rechtsdogmatik  52, 56, 61, 63–65, 72 f., 111, 133, 157 rechtseigener Sinnhorizont  46, 58, 65, 73, 78, 112, 132, 246 rechtsinterne Gründe  46, 58, 78, 85, 92, 101 f., 114, 118, 132, 245 Rechtsprechung  13 f., 21–36, 39, 50, 52, 54, 66, 69, 76–78, 81–91, 93–97, 101 f., 104–106, 108–118, 120 f., 124–130, 132, 134–136, 140 f., 145 f., 152, 154 f., 157–162, 164–166, 168–170, 172 f., 175–178, 180 f., 184–188, 190 f., 194, 197–199, 203–205, 208 f., 211, 214, 216, 222, 224, 229–233, 235, 237–243, 245 Rechtsprechungsausschuss (VR China)  142, 189, 194–197, 199, 204 Rechtsstaat  21 f., 27, 35, 39, 79 f., 96, 116, 121, 139, 222, 234–240, 242 Rechtssystem  13, 18 f., 40–50, 52, 54, 56–59, 62 f., 65 f., 69–73, 75–81, 83–87, 90–95, 98–102, 106, 109–118, 120–125, 127 f., 130–135, 137, 139, 145 f., 152, 157 f., 175, 181, 184 f., 187, 197, 200, 203 f., 208, 211, 220, 238, 242 f., 245–247 – Peripherie von  50, 52, 62, 77, 132 – Zentrum von  52, 62, 76–78, 87, 94, 112 f., 115, 130, 134, 187 Rechtswissenschaft  15, 52, 63, 132, 153, 156 f., 178, 180 f., 184–187, 193 f., 208, 216 f., 235 Responsivität des Rechtssystems (oder der Rechtsprechung) siehe Offenheit des Rechts(-systems) richterliche Unabhängigkeit siehe Unabhängigkeit des Richters rule – by law  239 f. – of law  21, 26, 234, 237, 239 f. – of men  26, 226, 230, 234 Systematisierung  62–65, 73, 125, 155–157, 174, 181, 187 Systemtheorie  19, 40, 43

272 Sachverzeichnis  Trennung – von Justiz und Politik  146, 158–160, 166, 243 – von Recht und Moral siehe Differenzierung zwischen Recht und Moral Unabhängigkeit des Richters  13–21, 24, 26–31, 33 f., 36–40, 70, 75–108, 111–113, 115–123, 125–131, 135–146, 151, 157, 160, 166, 168 f., 175, 178 f., 195–197, 204–206, 208, 211, 215, 224, 238, 240–248 – gegenüber nichtstaatlichen Akteuren  29, 101–104, 106, 143, 204, 243 – gesellschaftliche Bedingung von  13, 15–19, 39, 103, 122 f., 127, 131, 135–139, 141, 144, 206, 215, 241, 243, 247 f. – innere  29 f., 106–108, 243 – innerhalb der Judikative  29, 97–100, 103–106, 141 f., 195–197, 243 – persönliche  15, 27, 81, 140 f. – sachliche  26 f., 81 f., 99, 141 Unterscheidung – Machtüberlegenheit / Machtunter­ legenheit siehe Code des politischen Systems

– Recht / Unrecht siehe Code des Rechtssystems – von Recht und Moral siehe Differenzierung zwischen Recht und Moral – von Recht und Politik siehe Differenzierung zwischen Recht und Politik – von Rechtsprechung und Politik  34, 36, 38 f., 112–116, 146, 159–161, 165, 208, 243 Verbindung – zwischen Recht und Moral  71, 73 – zwischen Recht und Politik  50, 77, 120, 162 Verfassung  72, 77, 81, 88, 132 f., 140 f., 143, 152, 189, 197–200, 202, 208, 216, 221–224, 235, 237–239, 243 Verschmelzung – von Recht und Moral  125 f., 128, 144 f., 150, 169, 175, 203, 243 – von Recht und Politik  128–130, 144 f., 158, 160, 169, 175, 203 f., 206, 243 Wahrung des Rechts  18, 24, 26, 51 f., 70, 134, 138, 158, 160, 162, 164 f., 205, 216, 242