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German Pages 347 [348] Year 2008
Rechtsstaat Rechtsstaat oder oder Ausnahmezustand? Ausnahmezustand? Souvera ¨¨nita ¨¨tt und Souvera nita und Terror Terror
Von Wolfgang Hetzer
asdfghjk Duncker & Humblot ´ Berlin
WOLFGANG HETZER
Rechtsstaat oder Ausnahmezustand?
Rechtsstaat oder Ausnahmezustand? Souveränität und Terror Von
Wolfgang Hetzer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12856-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Terroristische Anschläge fordern nicht nur das Leben zahlreicher unschuldiger Opfer. Sie beschädigen und zerstören auch öffentliches Eigentum und privates Vermögen. Darüber hinaus hat der moderne Terrorismus zu einer weltweit spürbaren Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls geführt. Die konkreten Folgen betreffen fast alle Bereiche des täglichen Lebens, der Wirtschaft und der Politik. Der Gesetzgeber und die Exekutive sind nicht nur in Deutschland bei der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit vor Herausforderungen gestellt, die in ihrer Komplexität kaum zu überbieten sind. Es geht mittlerweile um die Frage, ob die Herrschaft des Rechts ausreicht, um den gegenwärtigen und zukünftigen terroristischen Bedrohungen hinreichend wirksam zu begegnen. Die Besorgnis wächst, dass der Rechtsstaat zur Erfüllung seines Schutzauftrages genötigt sein könnte, jenseits seiner Grenzen zu operieren. Die Debatte über die Nutzung von Informationen, die durch Folter erlangt wurden, oder der verfassungswidrige Versuch, eine gesetzliche Ermächtigung für den Abschuss entführter Flugzeuge und die „Opferung“ der Passagiere zu schaffen, zeigen, dass bereits eine Erosion des Rechts in Gang gekommen ist, die immer stärker zu einer Priorisierung der Sicherheit gegenüber der Freiheit führt. Der strafrechtliche Rechtsgüterschutz wird mitsamt seinen unverzichtbaren Beschränkungen von einer Militarisierung der Sicherheitspolitik abgelöst, obwohl klar erkennbar ist, dass die spezifischen Probleme der Terrorabwehr durch den Einsatz von Soldaten nicht zu lösen sind. Der Rechtsbrecher erscheint als „Feind“, der das Gemeinwesen zu einem existenziellen Endkampf herausfordert. Es geht nicht mehr um die Nutzung der Möglichkeiten eines rechtsstaatlich verfassten
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Gefahrenabwehrrechts oder um die mühsame Klärung von Verdachtsgründen für die justizielle Ahndung schwerer Rechtsbrüche. Der Gesetzgeber scheint vor allem daran interessiert zu sein, sich um nahezu jeden Preis als Hüter der inneren und äußeren Sicherheit zu präsentieren, der auch vor dem Einsatz der Armee im Innern nicht zurückschreckt. Trotz der Vernebelungen einer eschatologisch-apokalyptischen Phantasie entsteht immer wieder der Eindruck, dass manche legislativen und exekutiven Maßnahmen eher der Selbstverteidigung von Parteien und der Selbstdarstellung einzelner ambitionierter Amtsträger dienen als der sachgerechten und rechtsstaatlich orientierten Lösung äußerst schwieriger Sicherheitsprobleme. Handlungsleitend scheint die Einsicht über den „ewigen Zusammenhang zwischen Schutz und Gehorsam“ zu sein, also die Sorge, dass ein Versagen bei der Terrorabwehr einen Vertrauens- und Loyalitätsverlust in der Bevölkerung gegenüber der jeweiligen Regierung bewirkt. Gesetzgebung und exekutives Handeln dürfen gleichwohl nicht zu Demonstrationen martialischer Entschlossenheit verkommen, die im schlimmsten Fall zur Demontage der Institutionen des Rechtsstaates führen. Dann würde sich vorrangig die Frage stellen, wie der Schutz der Bevölkerung vor der staatlichen „Schutzmacht“ zu organisieren ist. Mittlerweile scheinen sich auch einige Rechtswissenschaftler am Zugriff auf das Unverfügbare mit den ihnen eigenen Mitteln zu beteiligen und als „Zeitgeistverstärker“ wirken zu wollen. In diesem Zusammenhang stellt sich nicht nur die Frage nach den Grenzen des vermeintlich wissenschaftlichen Anspruchs. Selbstverständlich dürfen Staatsrechtslehrer politische Rollen übernehmen, als Gutachter tätig werden und auch das Amt eines Richters am Bundesverfassungsgericht ausüben. Es gibt allerdings einen Bereich, der mittlerweile als „staatstheoretisches Feuilleton“ anerkannt ist. Dort soll das „Sendungsbewusstsein“ eher größer sein.1 Die manchmal sehr 1 Voßkuhle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 102 vom 2. Mai 2008, S. 4.
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berechtigte Zuweisung in das Feuilleton schließt die politische Wirksamkeit bestimmter Gedankengänge indes nicht aus, insbesondere wenn sie in monographischer Breite entwickelt und von einem Mitglied der Bundesregierung (Wolfgang Schäuble) zur Lektüre empfohlen werden (Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates). Folgt man solchen Empfehlungen, dann erfährt jeder Leser, dass Verfassungspatrioten in Deutschland die rechtsstaatlichen Hürden der Terrorabwehr so hoch legten, dass an der Selbstbehauptungsbereitschaft des Gemeinwesens insgesamt zu zweifeln sei. Die Erklärung ist einfach: Mangel an Selbstachtung. Die Begriffe „Ausnahmezustand“, „Feind“, „Krieg“ und „Opfer“ gelten aus dieser Perspektive als Beschreibung von Wirklichkeiten. Ein Feind, so wird behauptet, sei eben kein Verbrecher, sondern die „existentielle Negation der eigenen politischen Existenzform“. Hinter der vermeintlichen Kontamination der zitierten Begriffe stehe der eher üble Versuch politischer Diffamierung, das heiße die Verweigerung der Sachdebatte. Statt effektive Schutzmaßnahmen zu ergreifen, diskutiere man darüber, welche Freiheitsrechte auf keinen Fall angetastet werden dürften. Die Menschenwürde erscheint unter diesem Blickwinkel im Kontext der Terrorabwehr gar als Titel, sich gegen einen Angriff in der Art des 11. September 2001 nicht effektiv verteidigen zu dürfen. Die Schlussfolgerung ist dramatisch: Es wird nicht nur eine eklatante Verletzung der staatlichen Schutzpflicht gegenüber den potentiellen Opfern im Zielobjekt erkannt, sondern die Selbstaufgabe des Staates im Namen der Menschenwürde befürchtet. „Heroen des Rechtsstaates“ postulierten, dass das Recht der Macht auch dann nicht weichen dürfe, wenn es die Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bedeute. Stattdessen fordere man die „sinnvolle Selbstaufgabe der Rechtsordnung“. Diese Haltung gilt als „konsequent und ehrlich, politisch aber dekadent und peinlich“. Guantánamo wird dagegen als „Chiffre“ für die Frage angesehen, wie Rechtsstaaten ihre Feinde behandeln dürfen, eine Frage, die in Deutschland absolut tabu sei. Hierzulande behandle man Feinde als gewöhnliche Straftäter. Tat-
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sächlich seien sie aber eine Gefahr, und dazu bedürfe es eines präventiven rechtsstaatlichen Gefahrenabwehrrechts, das gegenwärtig aber nicht sachlich zu diskutieren sei. Einem weithin dekadenten Westen, der zur Selbstbehauptung seiner Werte unwillig sei, stehe eine selbstbewusste islamische Welt gegenüber. Man spricht auch angesichts der demographischen Entwicklung deshalb über den Westen als „Auslaufmodell“.2 Es bleibt abzuwarten, ob sich daran mit Hilfe der sicherheitspolitischen Vorstellungen etwas ändern lässt, welche die Fraktion von CDU und CSU im Deutschen Bundestag im Mai 2008 der Öffentlichkeit vorgestellt hat.3 Bedauerlichweise ist hier keine detaillierte Auseinandersetzung möglich. Sie ist jedoch dringend geboten. Das Papier soll nach dem Wunsch seiner Verfasser immerhin Tabus brechen. In der Tat wäre die bisherige Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, von Kriegszustand und Friedenszeit dann wohl nicht länger aufrechtzuerhalten. Es ist unklar, ob seine Autoren erkannt haben, dass derjenige, der Grenzen durchbricht, wissen muss, was dahinter lauert. Das ist manchmal ein Abgrund.4 Es gibt bereits erste differenzierte und kritische öffentliche Stellungnahmen zu dem Papier, das nach dem Empfinden eines Vertreters der politischen Opposition nach dem gleichzeitig verkündeten „AWACS-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts „reif für den Altpapiercontainer“ ist. Andererseits wird behauptet, dass es weiter das Bedürfnis nach einer ernsthaften Diskussion gebe, auch wenn der Beitrag eher als Thesen- denn als Strategiepapier erscheine. Beklagt wird auch 2 Depenheuer, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagzeitung Nr. 18 vom 4. Mai 2008, S. 6. 3 „Eine Sicherheitsstrategie für Deutschland“, Beschluss der CDU / CSU-Bundestagsfraktion vom 6. Mai 2008, vorgestellt auf der Sicherheitskonferenz der CDU / CSU-Bundestagsfraktion am 7. Mai in Berlin (Fundstelle: http: // www.cducsu.de – 6. Mai 2008). 4 Brössler, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 106 vom 7. Mai 2008, S. 4. Bei der Differenzierung zwischen innerer und äußerer Sicherheit geht es jedenfalls nicht nur um einen Streit um Worte: Hetzer, der kriminalist 2008, 220 ff.
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eine Verzerrung, der nicht nur dieses Papier, sondern viele sicherheitspolitische Einlassungen unterlägen. Terrorismus und asymmetrische Konflikte figurierten als einzige sicherheitspolitische Herausforderung und klassische symmetrische Konflikte blieben ausgeblendet.5 Nach der Einschätzung des früheren Bundesministers der Verteidigung, Peter Struck, geht es in dem Papier aber nicht nur um ein paar einzelne Vorschläge, darum hier und da ein sicherheitspolitisches Schräubchen zu lockern oder fester zu zurren. Thema sei vielmehr „das komplette Konstrukt der innen- und außenpolitischen Sicherheit der Bundesrepublik“. Die historisch begründeten und mit Bedacht errichteten Hürden für Einsätze der Bundeswehr (auch im Innern) sollten wie Dominosteine fallen. An dieser Stelle, so vermutet Struck, habe wohl der Innenminister „Traumtagebuch“ geführt. Das Papier sehe nicht nur eine Beschneidung der Rechte des Bundestages im Zusammenhang mit dem Einsatz der Bundeswehr vor, sondern auch eine Aushöhlung der Freiheitsrechte der Bürger. Es offenbare den absurden Gedanken, dass sich Deutschland in einem permanenten Kriegszustand befindet. Nach seiner Logik sei es dann wohl nur konsequent, die komplette Zuständigkeit für die innere und äußere Sicherheit in die Hände eines „Nationalen Sicherheitsrates“ zu legen und das Außen- und Verteidigungsministerium zu bloßen Vollzugsbehörden abzuwerten. Struck betont dagegen, dass sich Deutschland weder im latenten Kriegszustand noch im permanenten Notstand befindet. Er verteidigt zudem das Ressortprinzip gegen die „sicherheitspolitischen Allmachtsphantasien“, die sich in das Papier eingeschlichen hätten. Für ihn besteht die Herausforderung nicht nur darin, bestimmten Bedrohungen zu begegnen, sondern auch die Bürger und ihre Rechte gleichzeitig zu schützen. Das spiele sich auf einem „schmalen Grat“ ab. Im Ergebnis plädiert er gegen jegliche Anleihen bei dem amerikanischen Präsidialsystem (Bündelung 5 Vgl.: Löwenstein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 108 vom 9. Mai 2008, S. 5.
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verschiedener Verantwortlichkeiten in einer Hand), weil damit unser Gleichgewicht ins Schwanken geriete und ein Mehrwert an Sicherheit nicht ersichtlich sei.6 Ein anderer Abgeordneter in der SPD-Bundestagsfraktion glaubt, dass sich nach der Veröffentlichung des Papiers das „wahre Gesicht der Außenpolitik der CDU“ zeige. Der amtierende Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, soll behauptet haben, dass der Nationale Sicherheitsrat in den USA schuld an Fehlern wie dem Irak-Krieg sei, weil er jeden Widerstand an der politischen Linie erstickt habe. Der Bundeskanzlerin, Angela Merkel, soll die generelle Richtung des Papiers zwar behagen. Sie sei aber „zurückgeeiert“, indem sie dessen Bedeutungslosigkeit für die laufende Legislaturperiode erklärt hatte. In der Presse wird das Ergebnis einer derartigen „Kommunikation“ als eindeutig bewertet: „Eine ernsthafte Beschäftigung mit Fragen der Sicherheitspolitik wird es bis zu Bundestagswahl nicht mehr geben. Das Thema wird ausgeklammert wie so vieles.“
Forscher stellen gar eine parteipolitische Frontstellung in zentralen außenpolitischen Fragen fest: „Im Ergebnis ist die Regierung nicht fähig, sich mit den dringenden Fragen zu beschäftigen.“
Der offenbar anhaltende Sachverstand des Bundesministers des Auswärtigen a. D., Joseph Fischer, führt zu der Besorgnis, dass Deutschland als europäische Führungsmacht ausfällt, weil es bei „Top-Themen wie Afghanistan“ nicht liefern könne. Der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Hoyer, beobachtet gar einen „Mangel an Systematik und damit an Substanz“. Nach seinem Eindruck sind die Apparate von Kanzleramt und Außenamt damit beschäftigt, sich gegenseitig in Schach zu halten. Kommentatoren halten das Engagement in Afghanistan für den krassesten Fall. Steinmeier sei für einen „robusteren Einsatz“, habe aber den linken Teil seiner 6 Struck, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 108 vom 9. Mai 2008, S. 12.
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eigenen Partei gegen sich. Von der Bundeskanzlerin habe er keine Hilfe zu erwarten, weil diese von der „Friedenspartei SPD“ im nächsten Wahlkampf nicht an den Pranger gestellt werden wolle. Die Initiativen des derzeitigen Außenministers verliefen daher im Sande. Das Resultat hält man für gravierend: „Deutschland schickt zu wenig Soldaten und setzt den Einsatz auf unbefriedigendem Niveau fort.“
Bündnispartner fühlten sich verprellt und im Stich gelassen. Gleichzeitig sinke in der Bevölkerung die Zustimmung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Politische Führung sei gefragt, gerade hier, aber es herrsche nur bedrückte Stille.7 Unterdessen treibt seit April 2008 auf Anordnung von Schäuble schon einmal ein Aufbaustab im BKA den Plan voran, Deutschland eine eigene Abhörzentrale zu verschaffen. Würde sie Realität, rüttelte man an mehreren Tabus: an der Trennung zwischen Polizeien und Geheimdiensten ebenso wie an der Unterteilung von innerer und äußerer Sicherheit.8 Das vorliegende Werk intendiert keinen „Tabubruch“. Es ist ein unvollkommener Versuch, die Notwendigkeit, aber auch die rechtsstaatlichen Grenzen einer wirksamen Terrorabwehr jenseits parteipolitischer Profilierung zu erörtern. Damit ist offensichtlich kein Beitrag zur Rettung des christlichen Abendlandes vor dem terroristischen Ansturm aus dem Morgenland zu leisten. Schon gar nicht geht es um die Klärung der aktuellen und grundsätzlich wichtigen Frage, ob in dem geschilderten Ensemble von Parteien, Personen und Perspektiven eine auch nur halbwegs rationale und überzeugende Außen- und Sicherheitspolitik möglich ist. Das Anliegen der folgenden Überlegungen bleibt in jeder Hinsicht bescheiden. 7 Insgesamt zitiert nach: Beste, in: Der Spiegel Nr. 20 vom 10. Mai 2008, S. 30, 31. 8 Ausführlich: Rosenbach / Stark, in: Der Spiegel Nr. 21 vom 19. Mai 2008, S. 30 ff.
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Es wäre teilweise schon dann erfüllt, wenn es gelänge, die Erinnerung an einige Gedanken von Friedrich Nietzsche wachzurufen: • „Gelehrten, welche Politiker werden, wird gewöhnlich die komische Rolle zugeteilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu müssen.“ • „Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander: Übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst – also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten vereitelt.“ • „Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist.“ • „Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur dass der zweite seinen Vorteil anders als der erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben.“ • „Diese Heuchelei fand ich am schlimmsten: dass auch die, welche befehlen, die Tugenden derer heucheln, welche dienen.“9
Sollte darüber hinaus deutlich werden, dass die These einer angeblich mangelnden Unterscheidbarkeit zwischen kriegerischen und terroristischen Angriffen eine überflüssige und gefährliche Militarisierung der Politik der inneren Sicherheit begünstigt, die auf rechtsstaatliche Beschränkungen bei der polizeilichen Gefahrenabwehr und beim strafrechtlichen Rechtsgüterschutz keine Rücksicht nimmt, wäre ein weiteres Ziel erreicht. Im Übrigen möge das Werk ein Beitrag zum Beginn und zur Fortsetzung der Diskussion über einige andere Thesen sein. Dazu gehört auch die Auffassung, dass die Sicherung des Bestandes eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens keinesfalls unter den Bedingungen eines intellektuellen und faktischen Ausnahmezustandes erfolgen darf, in dem früher oder später immer wieder exekutive Exzesse stattfinden und in dem die Menschenwürde auf dem Altar der Staatssicherheit geopfert wird. Auch bei der Verhinderung und Verfolgung terroristischer Anschläge 9 Fundstellennachweise in: Das Lexikon der Nietzsche Zitate, 2001, S. 81, 83.
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sind alle einschlägigen verfassungsrechtlich-kompetenziellen Vorgaben und Grenzen zu beachten. Andernfalls fehlt es an der Schutzwürdigkeit eines Staates, in dem Selbstbehauptungsstrategien von wechselnden Machtcliquen unter missbräuchlicher Berufung auf das Gemeinwohl realisiert werden und in dem man auf kriminell-gewalttätige Weise die Grundfreiheiten unschuldiger Dritter innerhalb und außerhalb der eigenen Landesgrenzen missachtet. Daher ist auch an Inhalt und Bedeutung des Souveränitätsbegriffs zu erinnern, so dass sich die „Schutzbefohlenen“ nicht allzu leicht in einem diffusen und weit verbreiteten Gemisch aus Vertrauen und Hoffnung, Angst und Hysterie verlieren. Mit der Hilfe eines derartigen massenpsychologischen Gebräus bereiten Scharlatane der Macht überall auf der Welt immer wieder die Entmündigung des Souveräns vor. Diese Sorgen sind angesichts der aufgeklärten Bevölkerung und der Kompetenz der politischen Führungseliten in der Bundesrepublik Deutschland ungeachtet der zitierten Bemerkungen gegenwärtig zwar offensichtlich unbegründet. Die Wirkung der in diesem Werk enthaltenen fragmentarischen Hinweise würde aber auch in einem anderen Falle begrenzt bleiben. Das ändert an ihrer Notwendigkeit und Dringlichkeit gleichwohl nichts.
Inhaltsübersicht I. Anfang oder Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Bilder oder Realität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Strategie oder Wunschdenken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Altes Europa oder neue Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Kombattanten oder Kriminelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Kreuzzug oder Bürgerkrieg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Gefahrenabwehr oder Menschenopfer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VIII. Verhör oder Folter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IX. Ambition oder Plan? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 X. Pate oder Verführer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 XI. Souveränität oder Autorität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 XII. Freund oder Feind? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 XIII. Ungeist oder Zeitgeist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 XIV. Demokratie oder Heiligkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 XV. Arkanum oder Anarchie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 XVI. Theorie oder Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 XVII. Verfassung oder Nostalgie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 XVIII. Ermahnung oder Alarmierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 XIX. Ende oder Anfang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
I. Anfang oder Ende? Die größten anzunehmenden Unfälle („GAU“) kommen immer wieder dann vor, wenn staatliches Handeln in missionarische Dimensionen hineinwächst. In der internationalen Sicherheitspolitik hat ein GAU dramatische Folgen. Dazu zählt nicht nur die „Bush-Doktrin“, also das von den Vereinigten Staaten von Nordamerika (USA) gegenüber dem „Rest der Welt“ behauptete Recht auf vorbeugende Kriege („preemptive strikes“). Diese Haltung ist aber möglicherweise noch nicht einmal der entscheidende Faktor bei der Bewältigung der Herausforderungen des modernen Terrorismus. Vielleicht ist die zitierte Doktrin nur Werkzeug in einer historischen Übergangsepoche. Die amerikanische Außenministerin, Condoleezza Rice, hatte in einem Interview einen Vergleich der USA mit dem Römischen Weltreich abgelehnt und behauptet, dass die USA keine imperialen Ambitionen hätten. Die Stärke der USA sei nicht entscheidend. Es gehe vielmehr darum, wer in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg auf der „richtigen Seite der Geschichte“ gestanden habe. Aus der Sicht von Rice waren das die Länder, die angeblich gemeinsam an bestimmte Werte (Demokratie, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit) glauben, die das Streben nach Wohlstand fördern und so die Menschenwürde sichern. Mit der Stärke der USA sollen diese Werte dorthin getragen werden, wo sie noch nicht verbreitet sind. Die von George W. Bush geführte Regierung versuche das im Nahen Osten: im Irak, mit einem Staat für die Palästinenser und mit dem, was man in Afghanistan schon unternommen habe. Am Ende, so glaubt Rice, werde die Verbreitung der Werte unsere eigene Sicherheit garantieren. Für einen deutschen Gesprächspartner von Rice offenbarte sich in diesen Worten der eigentliche Anspruch der Politik des amerikanischen Präsidenten, der Gedanke, der die
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Weltmacht treibe. Die globale Geltung der amerikanischen Werte soll die Welt also gut und sicher machen. In der Tat zeigt der Bezug auf Afghanistan und den Irak, dass Amerikas Vorstellungen auch mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden dürfen und durchgesetzt werden müssen. Bush ist zwar ein „wiedergeborener“ evangelikalischer Christ, also ein Mensch, der vorgibt, für sich persönlich Jesus Christus als „Erlöser“ erfahren und angenommen zu haben. Es gibt aber keine Hinweise, dass der amerikanische Präsident seine globalen Sicherheitspläne als christliche Mission begreift. Dennoch wird ihm ein Sendungsbewusstsein zugeschrieben, das in vielfacher Weise problematische Auswirkungen hat. In diesem Zusammenhang wird die Formel vom „Kreuzzug ohne Kreuz“ benutzt, ein Ausdruck, den man auch deshalb für angemessen halten kann, weil die mittelalterlichen Eroberungszüge ins Morgenland durchaus weltlich motiviert waren. Man mag darüber spekulieren, ob Rice diese Wortwahl noch schärfer zurückweisen würde als den Vergleich mit dem Imperium Romanum. Es scheint indessen klar zu sein, dass die Verbreitung amerikanischer Werte für die auch historisch gebildete amerikanische Außenministerin eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, bei deren Behandlung sie auch die deutsche Geschichte in Anspruch nimmt. Aus ihrer Sicht ist Amerika in zwei europäische Kriege hineingezogen worden und habe dann mit bestimmten Instrumenten (NATO, Marshallplan) geholfen, Europa zu verändern. So sei Deutschland ein Anker des demokratischen Europa geworden. Größere Kriege in der „alten Welt“ seien nun unvorstellbar, weil Deutschland eine wohlhabende und funktionierende Demokratie sei. Die Schlussfolgerung von Rice: „Unsere Werte bringen uns also Sicherheit.“1 1 Zitiert nach: Kleber, S. 13, 14, 15. Das ist offensichtlich ein sehr beschränkter Ansatz, wie sich spätestens mit dem Vorgehen der USA gegen den Irak gezeigt hat. Ein wichtiger Auslöser für den massiven Widerstand gegen die amerikanische Regierung liegt in der Präventivkriegsdoktrin, die wiederum Ausdruck eines amerikanischen „Exzeptionalismus“ ist (vgl. dazu: Fukuyama (Amerika), S. 107 ff. und die Kritik von Lévy, S. 311 –
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Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint das weder im Irak noch in Afghanistan wirklich zuzutreffen. Afghanistan war nach den Erhebungen des Büros für Drogen und Kriminalität der Vereinten Nationen (UNODC) zumindest im Jahre 2007 der größte Heroinlieferant der Welt („Afghanistan Opium Winter Survey“). Für das Jahr 2008 erwartet man, dass der Spitzenwert des Jahrs 2007 wieder erreicht oder nur knapp unterschritten wird. Mit seinen Rohopiumernten bedient das Land mehr als 90 Prozent des Weltmarktes. Der weit überwiegende Anteil des Anbaus findet in Distrikten statt, in denen die internationalen Truppen unter Führung der USA in Auseinandersetzungen mit den früheren Verbündeten mehrerer amerikanischer Regierungen, den Taliban, stehen. Die größten Zunahmen hat man in den Provinzen Nimroz, Kandahar, Urusgan, Farah, Badghis und Ghor festgestellt. Nach Schätzungen wird der Erlös aus dem Opiumverkauf den Taliban im Laufe des Jahres 2008 bis zu 100 Millionen USD in die „Kriegskasse“ spülen. Nach der Trendeinschätzung des UNODC bleibt die Gesamternte „schockierend hoch“. Beunruhigt ist man auch über den zunehmenden Anbau von Cannabis. Mit einer im Wachsen begriffenen Anbaufläche von 70 000 Hektar hat sich Afghanistan nun auch zum weltgrößten Anbieter dieses Produkts entwickelt. Die afghanische Regierung unter Hamid Karzai hatte im Mai 2003 eine 314, an dessen Positionen). Gleichzeitig waren die politischen Vordenker in den USA und im Vereinigten Königreich sich sehr wohl bewusst, dass die Invasion im Irak wahrscheinlich die Gefahr des Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen erhöhen würde, worauf auch Chomsky (Staat), S. 28, hinweist. Beck, S. 10, hält die konventionellen militärischen Antworten für kontraproduktiv: „Es werden neue Bin Ladens gezüchtet.“ Von Barber, S. 25, wird auch die Frage gestellt, ob je ein Terrorist für eine effektivere Verbreitung von Angst gesorgt hat, als es der US-Regierung immer wieder willentlich gelingt, indem sie irgendwelche nicht nachprüfbaren Drohungen gegen unspezifizierte Ziele „pflichtgemäß“ bekannt gibt und den Menschen einschärft, mit weiteren Anschlägen sei auf jeden Fall zu rechnen. Zu den Schwierigkeiten, die Gründe für den Einmarsch in den Irak zu bestimmen: Mearsheimer / Walt, S. 320 ff. Zur „präventiven Kriegsführung “ einleitend: Biermann / Klönne, S. 7 ff. Über den Terrorismus als „neue“ Herausforderung: Kissinger, S. 353 ff.
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„Nationale Drogenkontrollstrategie“ verabschiedet. Sie wollte damit den Opiumanbau innerhalb von vier Jahren um 70 Prozent zurückfahren und bis 2012 vollständig zum Erliegen bringen. In der Realität verdoppelte sich stattdessen der Ertrag in den vergangenen vier Jahren im Landesdurchschnitt. Seit dem Einmarsch der internationalen Truppen ist die Produktion von Rohopium um beinahe das Zwanzigfache gesteigert worden. Im Jahre 2007 exportierte Afghanistan mehr als 8 200 Tonnen. Der Erlös wird auf 3,1 Milliarden USD geschätzt. Das entspricht der Hälfte des afghanischen Bruttosozialprodukts. Kein anderes Land der Erde produziert Drogen in dieser Menge. Verkauft werden sie auch und gerade in Europa. Dabei ist besonders interessant, dass einige der Länder, die „Isaf-Truppen“ stellen, die Länder mit der größten Nachfrage nach Heroin sind.2 Es ist kaum zu bestreiten, dass der Kampf gegen den Drogenanbau in Afghanistan daher eigentlich mit dem Kampf gegen die hohe Nachfrage beginnen müsste. Das UNODC hält den Drogenanbau nicht nur wegen der Gesundheitsgefährdung für Bauern und Konsumenten für eine globale Bedrohung. Ein weiterer Umstand ist bemerkenswert: Afghanistan produziert schon seit Jahren mehr Opium als auf dem Weltmarkt nachgefragt wird. Trotzdem bleiben die Preise stabil und es scheint in Afghanistan selbst keine größeren Lagerbestände zu geben. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Teile der Ernteerlöse von den Taliban für Waffengeschäfte eingesetzt werden. Natürlich ist Sicherheit ein wichtiger Faktor, um die Opiumproduktion zu verringern. Sie ist aber vor allem mit einem funktionierenden Gerichts- und Polizeiwesen, mit verantwortungsbewussten Lokalregierungen und einer wirksamen Anti-Korruptionsbehörde herzustellen. Genauso wichtig ist der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur. Die bisherigen Prioritäten der amerikanischen und internationalen Interventionen sind jedoch völlig anders. Die bisherige Art der Kriegsführung zur Bekämpfung des islamistischen Ter2 Vgl.: Meyer-Tien, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 32 vom 7. Februar 2008, S. 6.
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rorismus hat im Süden Afghanistans zu einer Sicherheitslage geführt, die Anfang des Jahres 2008 von der Politik- und Sicherheitsagentur „Senlis Council“ als immer schlechter werdend eingeschätzt wurde. Auch die britischen und kanadischen Truppen können den Verkehr zwischen ihren Stationierungsorten nicht mehr auf der Straße, sondern bloß noch per Hubschrauber abwickeln, weil die Taliban die Verbindungsrouten kontrollieren. Vor diesem Hintergrund hält Rice es für erforderlich, Entwürfe für die nächsten drei oder vier Jahre zu entwickeln, um die Anstrengungen des Westens, Sicherheit und Fortschritt zu stabilisieren, nicht zu gefährden.3 Unterdessen wurde die Bundesrepublik Deutschland von amerikanischer Seite gebeten, auch Kampftruppen in den umkämpften Süden Afghanistans zu entsenden, ein Ansinnen, das die Bundesregierung bis jetzt (Februar 2008) zurückgewiesen hat4. Darüber hinaus stand die Forderung nach einer Gesamtstrategie für Afghanistan im Mittelpunkt eines Treffens der Verteidigungsminister der NATO, das am 7. und 8. Februar 2008 in Vilnius stattfand. Offensichtlich setzt sich sowohl bei Politikern als auch unter Militärs mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass dieses Land mit militärischen Mittel allein nicht zu einem funktionierenden Staat aufgebaut werden kann. Deutschland setzt sich zwar seit langem für verstärkte Anstrengungen für den zivilen Wiederaufbau ein, tut aber selbst nicht genug dafür. Für den Einsatz der Bundeswehr werden jährlich ca. 500 Millionen Euro ausgegeben; der Ansatz für zivile Entwicklungshilfe wurde dagegen erst kürzlich auf (nur) 120 Millionen Euro angehoben. Unterdessen ist das Wort vom „comprehensive approach“, also einem vernetzten Ansatz oder einer Gesamtstrategie in aller Munde. Hinter die3 Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 32 vom 7. Februar 2008, S. 2. 4 Zur derzeitigen Afghanistan-Mission der Bundeswehr: Maaß, S. 78 ff. Gegenüber dem derzeitigen Engagement der Bundeswehr wird teilweise harsche Kritik laut. Die Deutschen werden gar als „Die Kuchen-Esser von Afghanistan“ bezeichnet, die es sich dort bequem machten: Gardiner, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 77 vom 2. April 2008, S. 2.
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I. Anfang oder Ende?
sem politischen Konzept verbirgt sich eigentlich nur die schlichte (und späte) Erkenntnis, dass mehr für den zivilen Aufbau und vor allem für eine funktionierende Polizeitruppe in dem Land getan werden muss und dass eine stärkere Einbindung der Afghanen selbst erforderlich ist. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Vorstellungen einer „selbsttragenden Sicherheit“ verwirklichen lassen. Ziviles und Militärisches waren in Afghanistan lange genug zweierlei Geschäft. Der Generalsekretär der NATO, Hoop Scheffer, hat zutreffenderweise daran erinnert, dass die NATO nicht der Besitzer Afghanistans ist, sondern nur beim Errichten einer funktionierenden Verwaltung, bei der Ausbildung von Polizei und Justiz, beim Kampf gegen die Drogenkriminalität und bei der Durchsetzung der Menschenrechte helfen kann. In diesem Zusammenhang ist die Herstellung einer nachhaltigen Sicherheit unerlässlich. Die Ausbildung einer kompetenten und nicht korrupten Polizei ist dabei von vitaler Bedeutung. Hier ist insbesondere Deutschland seiner Verantwortung nicht gerecht geworden. Die Bundesregierung hatte sich im Jahre 2005 verpflichtet, sich um Aufbau und Ausbildung von Polizeikräften zu kümmern. Der Erfolg war nur sehr mäßig.5 Auf der von der britischen „Jane’s Information Group“ erstellten neuesten Rangliste für gescheiterte und gefährliche Staaten liegt Afghanistan auf dem dritten Platz deutlich vor dem Irak. In jüngsten Veröffentlichungen internationaler Hilfsorganisationen wird behauptet, dass westliche Länder einen beträchtlichen Teil der versprochenen Hilfsgelder nicht auszahlten und damit die Aufbaupolitik untergraben. Der kriegsgeschüttelte Irak gilt als stabiler, weil dort pro Kopf der Bevölkerung eine höhere Anzahl fremder Soldaten stationiert ist und weil es wegen des teuren Öls eine wirtschaftliche Perspektive gibt. Afghanistans Ökonomie beruhe dagegen zu großen Teilen allein auf dem illegalen Opiumanbau.6 5 Vgl.: Blechschmidt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 34 vom 9. / 10. Februar 2008, S. 9. Zu den „Deutschen Lebenslügen“ im Zusammenhang mit dem militärischen Engagement Deutschlands in Afghanistan: Kornelius, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 34 vom 9. / 10. Februar 2008, S. 4. 6 Münch, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 71 vom 26. März 2008, S. 1.
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Auf der Grundlage dieser fragmentarischen Hinweise zu einer naturgemäß äußerst wechselhaften taktischen Sicherheitslage ist keine abschließende Bilanz zum Erfolg der bisherigen Anstrengungen zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus möglich. Immerhin muss man Eindruck haben, dass die militärische Orientierung und Priorisierung selbst auf relativ überschaubaren „Gefechtsfeldern“ (Drogenanbau) nicht zu den allseits erwünschten Ergebnissen geführt hat. Noch wichtiger ist die Frage, welche tiefgreifenden Folgen solch eine Sicherheitspolitik für die politischen Verfassungen und rechtlichen Grundlagen der involvierten Staaten hat. Hier haben sich in jüngerer Zeit beunruhigende Perspektiven aufgetan. Es ist eine fast schon fundamentalistische geistige Reaktion entstanden, die sich in unterschiedlicher Weise in der Politik, der Gesellschaft, der akademischen Welt und in vielen anderen Lebensbereichen bemerkbar macht. Geprägt von kollektiver Angst und parteilich-politischer Opportunität scheut man vor Grundsatzdebatten nicht mehr zurück, die jeder vor wenigen Jahren zumindest in Deutschland noch für unmöglich gehalten hätte. Das Spektrum reicht von der Zulässigkeit der Folter, der „Opferpflichtigkeit“ eines jeden Staatsbürgers, dem Einsatz der Bundeswehr im Innern, der Auflösung bürgerlicher Rechte bis hin zur Ausrufung des Verteidigungsfalls. Aus der banalen Feststellung, dass der internationale Terrorismus inzwischen eine bedrohliche Dimension und eine akute Gefährlichkeit erreicht hat, folgt ohne weiteres die Behauptung, dass eine Bekämpfung dieses Phänomens ausschließlich mit den Mitteln des Strafrechts, der Polizei und der Justiz nicht mehr angemessen und ausreichend sei.7 Immerhin erinnert man sich noch daran, dass auch grenzüberschreitender internationaler Terrorismus als Schwerkriminalität mit den Mitteln der internationalen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen „herkömmlich“ bekämpft wird.8 Der Terrorist war (und bleibt) ein Straftäter des natio7 8
Wiefelspütz (Abwehr), S. 9. von Bubnoff, NJW 2002, 2672 ff.
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nalen Rechts9. Terroristen sind „nur“ Schwerverbrecher, aber keine Kombattanten im Sinne des Völkerrechts.10 Dementsprechend galten terroristische Anschläge bislang als schwere Straftaten, die als solche im Rahmen internationaler Konventionen nach nationalem Recht zu verfolgen waren.11 Das alles soll zwar nicht in Frage gestellt werden. Gleichzeitig behauptet man aber, dass sich in den letzten Jahren zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt habe, dass alleine eine ausschließlich strafrechtliche Sanktionierung terroristischer Umtriebe keine angemessene und ausreichende Reaktion sei. Die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA hätten gezeigt, dass grenzüberschreitender Terrorismus auch zu einer unmittelbaren Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit führen könne. Es wird zwar noch erkannt, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) bislang davon abgesehen hat, militärische Zwangsmaßnahmen gegen terroristische Organisationen zu autorisieren. Er hat sich vielmehr darauf beschränkt, das „naturgegebene“ Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung anzuerkennen und zu bekräftigen. Die Attentate vom September 2001 hätten jedoch international im Bereich des Völkerrechts aber auch national zu einer rechtlichen Neuberwertung bis hin zu Gesetzesinitiativen wie dem deutschen „Luftsicherheitsgesetz“ geführt. Sie seien wegen ihres Ausmaßes und ihrer Intensität einem militärischen Angriff gleich zu setzen. In fast schon zirkelschussartigen Litaneien wiederholt man immer wieder die These über die mangelnde Eignung von (exklusiv) polizeilichen und justiziellen Mitteln zur erfolgreichen Abwehr terroristischer Bedrohungen. Teilweise verschwömmen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit, wie man aus dem „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ meint ableiten zu können.12 In dieser Nehm, NJW 2002, 2665 ff. Dederer, JZ 2004, 421, 426; Hase, DÖV 2006, 213, 214. 11 Tomuschat, DÖV 2006, 357, 361, 367. Ausführlich: Wandscher, S. 34 ff. 12 Wiefelspütz (Abwehr), S. 10, 11, 12. 9
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analytischen und politischen Diffusion wird es immer schwieriger, die Leistungskraft des Begriffs „Rechtsstaat“ zu bestimmen. Während in Deutschland die Bedrohung durch einige terroristisch motivierte Gewalttäter als besonders hoch eingeschätzt wurde, hatte einer der damaligen Verteidiger der Angeschuldigten (Otto Schily) die staatlichen Gegenmaßnahmen im „Herbst 1977“ so gewürdigt: „Von der rechtsstaatlichen Fassade ist nichts, aber auch gar nichts mehr übrig geblieben.“13
Zwei Jahrzehnte später hat der zitierte Zeitgenosse als Bundesminister des Innern und für Sport durch zahlreiche Gesetzesinitiativen sehr eigene – wenn nicht eigenartige – Beiträge zur Wiederherstellung (der Fassade?) des Rechtsstaates geleistet. Auf den ersten Blick verbindet die Anerkennung des Rechtstaates alle politischen und gesellschaftlichen Lager. Man geht von seiner Existenz, seiner Kostbarkeit und Verteidigungswürdigkeit als purer Selbstverständlichkeit aus. Es stellt sich aber nicht nur wegen des Wirkens von Schily die Frage, ob es sich bei dieser Annahme um eine grandiose Illusion handelt. Für manch einen ist es offenkundig, dass es sich beim materiellen Rechtsstaat, der den gerechten und sozialen Staat verspricht, um eine Illusion handelt, um ein Ideal, ein Korrektiv. Daher gilt die Beschwörung des Rechtsstaats dem formellen Rechtsstaat, also der Gesetzesbindung allen staatlichen Handelns. Vielleicht sollte man aber auch aus dieser Perspektive nicht zu genau hinsehen. Selbst Schüler im Gemeinschaftskundeunterricht könnten ahnen, dass auch die Gewaltenteilung als wesentliches Merkmal des Rechtsstaates eine Illusion ist. Der Dreh- und Angelpunkt des Rechtsstaates ist und bleibt die Bindung der Gewalten an „Recht und Gesetz“. 13 Zitiert nach: Müller, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 34 vom 9. / 10. Februar 2008, S. 16. Schon seinerzeit war nicht mehr auszumachen, ob Terrorismusbekämpfung als Abgesang auf den Rechtsstaat stattfand, bei dem zwischen Gesetzgebung und Großer Oper nicht mehr zu unterscheiden war. Dazu schon: Hetzer, der kriminalist 2005, 362 f. Über das Erfordernis neuer Denkweisen im Kampf gegen den Terrorismus: Dienstbühl, Kriminalistik 2007, 159 ff.
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Dahinter steht die Vorstellung, der Wortlaut des Gesetzes kommandiert und die Gewalten folgen, indem sie den Wortlaut anwenden. Man muss sich nicht in linguistische und philosophisch-analytische Untiefen begeben, um auch diese Vorstellung als Illusion zu entlarven. Für einen nachdenklichen Kritiker (Dieter Simon) steht fest, dass der Wortlaut keinen Sinn ergibt und die Bedeutung erst aus der Lektüre des Satzes entsteht – und die hängt in der Tat vom Leser und seiner Umwelt ab. Der Weg vom Satz zurück zum Einzelfall führt zu einem Abgrund, vor dem es womöglich selbst konservativen Juristen, die noch an den Wortlaut glauben, schaudert. Auch insoweit funktioniere die Illusion, weil die Juristen so tun, als ob es den Rechtsstaat gäbe. Sie stellten einfach selbst die Regeln her, die Verbindlichkeit für alle erlangen. Es werde dabei nicht der Gesetzestext umgesetzt, sondern nur das, was man darin sehe, also das, was man gerade brauche. Die Dinge, um die es vor Gericht gehe, seien selten im Gesetzestext genannt, aber das Gericht finde immer Klarheit. Wenn sich das Verfassungsgericht in das Grundgesetz versenkt und ein Urteil über die Zulässigkeit des Einsatzes deutscher Aufklärungsflugzeuge in Afghanistan spricht, dann habe das nichts mit dem Text der Verfassung, sondern allein mit vorherrschenden Überzeugungen zu tun. Simon hat vor diesem Hintergrund die Befürchtung, dass die Legitimation des Rechtsstaates erlischt, sobald dieser als Illusion durchschaut wird. In seinen Augen ist der Rechtsstaat sogar eine „gigantische Illusionsmaschine“, die nicht ins Stottern kommen dürfe, weil sie sich sonst selbst zerstöre. So ist der gute Jurist dazu aufgerufen, als „absurder Held“ dafür zu sorgen, dass die Paradoxien des Rechtsstaates unsichtbar bleiben. Das System brauche die Illusion, um zu funktionieren, und die Illusion bestehe, um das System zu erhalten. Hinter einer Wolke aus Fiktion und Selbstreferentialität findet sich in der Tat nichts. Existenz und Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats sind eher mit „Legitimation durch Verfahren“ (Niklas Luhmann) begründbar. Dazu gehören auch die Einhaltung von spezifischen Grenzziehungen und die Beachtung von unterschiedlichen
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Zuständigkeitsbereichen innerhalb einer Staatsverwaltung. Manch ein Sucher am Grunde des Gesetzes hat hingegen einen anderen und „handfesten“ Boden gefunden. Carl Schmitt und Walter Benjamin haben die „nackte Gewalt“ entdeckt, andere (Marxismus) die Interessen und die Macht der herrschenden Klassen. Es versteht sich von selbst, dass damit mächtige Gegner der „Rechtsstaatsillusion“ bezeichnet sind.14 Der Terrorismus neuzeitlicher Prägung darf einerseits nicht nur als Einladung zu rechtsphilosophischen Spekulationen missverstanden werden. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die notwendige Verhütung und Verfolgung dieser besonders gefährlichen kriminellen Bedrohung teilweise in einer Art und Weise stattfinden, die ernsthafte Besorgnisse um den Erhalt rechtsstaatlicher Inhalte und Formen begründen. Letztlich stellen sich grundlegende Fragen nach der Legitimation und Kontrolle von staatlicher Gewalt. Rechtsgehorsam und Bündnisloyalitäten sind offensichtlich nicht mehr deckungsgleich. Die Staatspraxis ist in Teilen von einer hilflosen Ängstlichkeit geprägt, kollektive Angst wird instrumentalisiert und Hysterie institutionalisiert. Die Ambitionen von Amtsträgern mutieren in einen machtpolitischen Vorzeigezwang und ermöglichen so den Einsatz erkennbar erfolgloser Mittel zur angeblichen Abwehr terroristischer Bedrohungen. Selbst in der akademischen Diskussion wird das verfassungsrechtlich Unverfügbare zum Gegenstand von Spekulationen. Der Schutz der Bürgerrechte, die Legitimität staatlicher Gewaltausübung und die Begründung von Souveränität geraten in einen Strudel gefährlicher Forderungen, die sich manchmal in menschenverachtender Abstraktion darbieten. 14 Insgesamt: Müller (wie Fn. 13). Die Debatte muss nicht nur auf rechtsphilosophischen Höhen geführt werden. Auch die Bemühungen zu Befugniserweiterungen für das BKA zeigen, dass Zuständigkeitsgrenzen (Polizei und Nachrichtendienste) nur als lästige Formalien angesehen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Terrorbekämpfung mittlerweile jenseits der Verfassung stattfindet. Vgl. dazu bereits: Hetzer, Kriminalistik 2005, 144.
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Die amerikanische Debatte über die Verhörtechnik des „Waterboarding“, bei der Gefangenen das Gefühl des Ertränktwerdens vermittelt wird, ist nur ein kleines Beispiel unter vielen. Dort wird deutlich, wo manche rechtlichen Differenzierungen und politische Entscheidungen hinführen. Trotz eindeutiger und unbestrittener Sachlage gibt es widersprüchliche Äußerungen ranghoher Mitglieder der Regierung der USA. Der Justizminister Mukasey hat Forderungen von Demokraten nach strafrechtlichen Ermittlungen gegen die unmittelbaren Verdächtigen und die hinter ihnen stehenden militärischen und politischen Verantwortlichen zurückgewiesen. Sein Ministerium sei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Einsatz des „Waterboarding“ bei CIA-Verhören von drei führenden Terroristen (Verdächtigen!) rechtmäßig gewesen sei. Vor dem Justizausschuss des Repräsentantenhauses hat dieser Amtsträger erklärt, dass man deshalb nun nicht strafrechtlich ermitteln könne. Zuvor hatte er im Senat immerhin ausgesagt, dass die strafrechtlichen Ermittlungen, die wegen der Zerstörung von Videomitschnitten von den Verhören geführt werden, womöglich auch auf die Frage ausgedehnt werden könnten, ob gegen Strafgesetze verstoßen worden sei. Unterdessen bekundete der Chef der CIA (Hayden) vor dem Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses, dass „Waterboarding“ womöglich gegen geltendes Recht verstoße. Im Folgenden geht es nicht vornehmlich um die logische Kohärenz und moralisch-ethische Glaubwürdigkeit einzelner amerikanischer Amtsträger und Politiker. Es sollen nur einige wenige Grundlinien strategischer Entscheidungen in Sicherheitsfragen skizziert und die Entwicklung analytischer Konzeptionen in Staatstheorie und Verfassungsrecht aus deutscher Perspektive dargestellt werden. Es handelt sich um ein Unternehmen besonderer Dringlichkeit und Komplexität, will man anscheinend doch das Paradoxon der Sicherheitsgewährleistung durch Abschaffung der Schutzgüter in die Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland integrieren. Dieser Prozess darf nicht in der legalistischen Inszenierung
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eines Illusionstheaters enden, in dem nur noch die menschenrechtsverachtende Persiflage eines demokratischen Rechtsstaates aufgeführt wird.
II. Bilder oder Realität? Geschichte hat manchmal auch eine „sinnliche“ Dimension. „Große“ Ereignisse – gute und schlimme – entfalten ihre nachhaltige Wirkung häufig auch deshalb, weil sie die Zeit unseres individuellen Lebens strukturieren. Es gibt ein „vorher“ und ein „nachher“. Um es im katastrophenverliebten Jargon und in Erinnerung an einen Film über den Nuklearkrieg auszudrücken: „The day after“. Es gibt Momente, die Teil des kollektiven Gedächtnisses sind und über die man sich vergewissert, ob man Kind seiner Zeit war, ob man dabei war, ob man begriffen hat, wer man war, wo man war, wie man war, dass man war. Es gibt naturgemäß immer weniger Menschen, die sich daran erinnern können, was sie am 1. September 1939 oder am 8. Mai 1945 taten, wo sie lebten, was sie dachten, wie sie fühlten, was sie erhofften, wovor sie sich fürchteten. Viele werden sich noch daran erinnern, in welchen Lebensumständen sie sich befanden als der Präsident der USA, John F. Kennedy, 1963 in Dallas erschossen wurde, als die Mondlandung erfolgte, der eiserne Vorhang aufging oder Deutschland Weltmeister im Fußball wurde. Derartige geschichtliche Ereignisse sind in der Erinnerung der meisten Zeitgenossen präsent. Es sind Daten, die nicht nur abstrakter Ausdruck einer unwiederbringlichen Vergangenheit sind. Sie vermitteln Orientierung, weil sie personal, regional oder gar global in sehr unterschiedlicher Weise für eine Zeitenwende stehen. Es waren Momente, in denen wir als zuschauende oder teilnehmende Personen den Atem angehalten haben. Momente, in denen wir starr vor Entsetzen waren, in denen man sich seinen Ängsten hilflos ausgeliefert fühlte. Momente, in denen wir unseren Nachbarn, Freunden oder auch Fremden endlich wieder einmal in die Augen gesehen, in denen wir uns an den Händen gefasst, in denen wir gelacht oder geweint haben und manchmal beides gleichzeitig taten. Zeiten,
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in denen wir dachten, dass wir nicht mehr weiterleben können, unsere Trauer nie enden wird oder in denen wir hofften, dass die Gefühle der Freude und des Stolzes nie aufhören mögen. Der 11. September 2001 ist vielleicht solch ein „historisches“ Datum.1 An diesem Tag schienen die Bilder über die Anschläge in New York in einer Endlosschleife gesendet zu werden. Die Kommentare waren zweitrangig. Die Optik des Horrors hatte alle in ihren Bann gezogen. Es waren nicht die üblichen „Bilder des Schreckens“. Hier präsentierte sich eine geradezu cineastische Perfektion. Der Verstand versuchte sich beim Anblick der Bilder dadurch Entlastung zu verschaffen, dass er das Szenario zum Teil eines Hollywood-Films erklärte. Heute wissen wir alle, dass es sich nicht um ein Schauspiel handelte, das einer hyperaktiven Phantasie entstammte. Wir haben „Realität“ beobachtet. Es war keine Naturkatastrophe. Wir waren Zeuge der Vollendung eines Massenmordes, vor den Augen der Welt mit einer geradezu obszönen Perfektion verübt. Kaum hatte man begonnen, die Hintergründe zu ahnen, gab es auch schon die ersten entschiedenen Bewertungen. Die Welt habe sich am 11. September 2001 geändert. Nach einigem Nachdenken waren aber auch Stimmen zu hören, die erklärten, dass sich die Welt selbst durch diese Verbrechen nicht geändert habe. Die Versuche, die Bilder zu begreifen, die immer wieder und wieder vorgeführt wurden, bewegten zwischen einer „Nullhypothese“ und einer „Maximalhypothese“. Im ersten Fall behauptete man, dass am 11. September 2001 eigentlich nichts passiert sei, nur ein Unfall, ein „kleiner“ Zwischenfall auf dem Weg zur unvermeidlichen Globalisierung. Dabei dürfte es sich in der Tat um eine im Grunde verzweifelte Hypothese handeln.2 Denn es kommt einer Verzweif1 Instruktiv über die Anschläge als politisches Trauma, das den Vergleich mit der Ermordung Kennedys provoziert, und das „Licht des Phantasmas“: Horn, S. 457 ff. Zu den nachfolgenden Überlegungen: Hetzer, Kriminalistik 2002, 490 ff. Ausführlich über al-Qaida und den Weg zum 11. September: Wright. Über das Versagen von Politik und Geheimdiensten im Umfeld des 11. September: Schröm / Laabs. 2 Zum folgenden insgesamt: Baudrillard, in: Lettre International, 18 (Frühjahr 2002), 16 ff.
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lungsreaktion nahe, wenn man etwas Unerhörtes, das geschehen ist, nicht zugeben mag. Im zweiten Fall wird die maximale Wucht der Ereignisse vom 11. September 2001 hervorgehoben. In jedem Fall hindert die symbolische Macht der Vorgänge in New York, dass der Diskurs zwischen den Positionen rasch Eindeutigkeit schafft.3 In unserem mediatisierten Universum steht gewöhnlich das Bild an der Stelle des Ereignisses, und der Bildkonsum ersetzt und verzehrt das Ereignis. Ein Bild dient als imaginäre Flucht vor dem Ereignis. Das Bild ist fast schon eine Form der Gewalt, die dem Ereignis angetan wird. Anders der Anblick des angegriffenen und kollabierenden World Trade Centers. Dort fand eine wechselseitige Steigerung des Ereignisses und des Bildes statt. Das Bild selbst wurde zum Ereignis. Wirklichkeit und Fiktion steigerten sich sogar gegenseitig. Man spricht in solchen Zusammenhängen auch von einer „totalen sozialen Tatsache“. In einem derart extremen Stadium wird das Bild ebenso wie das Ereignis unvorstellbar. Dies dürfte beim Betrachten der Fernsehschirme der vorherrschende Gedanke gewesen sein: Das, was ich da vor mir sehe, ist unvorstellbar! Die Ereignisse von New York haben die Weltlage zweifellos radikalisiert. Das trifft aber auch für die Beziehungen zwischen Bild und Wirklichkeit zu. Wir werden wohl vor allem das Erlebnis der Bilder in Erinnerung behalten. Sie bilden eine „Urszene“. Tatsächlich ist es den Terroristen gelungen, die sofortige weltweite Verbreitung der Bilder, die Börsenspekulation, die Informationstechnologie und die Luftfahrt für ihre Zwecke zu nutzen. Wirklichkeit und Fiktion sind nicht mehr auseinander zu halten. Die Faszination des Attentats ist in erster Linie eine Faszination durch das Bild. Nicht die Gewalt des Realen war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Bildes, sondern das Bild war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Realen. Es ist die Rede von der Neuerfindung der Wirklichkeit als letzter und verhängnisvoller Fiktion. Daraus könnte man schließen, dass die terroristi3 Zu den Einzelheiten: Aust / Schnibben. Über Hintergründe und Reaktionen: Broder. Vgl. auch: Chomsky (Attack).
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sche Gewalt weder eine Rückkehr der Wirklichkeit noch eine Wiederkehr der Geschichte bedeutet. Diese Form der Gewalt wäre also gar nicht „real“. Es ist schlimmer: Sie ist symbolisch. Das bedeutet aber nicht, dass den Ereignissen ein „Sinn“ abzugewinnen wäre. Es bleibt nur die Radikalität des Spektakels übrig. Man sieht nur noch dessen Brutalität als ursprüngliche, unversöhnliche Wirklichkeit des Ereignisses. Das Spektakel des Terrorismus zwingt uns letztlich den Terrorismus des Spektakels auf. Die politische Ordnung kann gegen diese unmoralische Faszination nichts ausrichten. Das Theater der Grausamkeit und Brutalität ist geöffnet und alle strömen hinein. Der Genuss an den Darbietungen mag sich sogar steigern in dem Bewusstsein oder Glauben, dass draußen die Mächte der Ordnung warten und die nötigen Maßnahmen ergreifen, um die Realität der Schaubühne von der Weltrealität zu trennen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass der repressive Akt die gleiche unvorhersehbare Spirale durchläuft wie der terroristische. Offen ist, wo er enden wird und welche Umschwünge er mit sich bringt. Auf der Ebene der Bilder und der Informationen ist zwischen dem Spektakulären und dem Symbolischen, dem Verbrechen und der Repression nicht mehr ohne weiteres zu unterscheiden. In dieser unkontrollierbaren Verwirrung der Extreme, in dieser unumschränkten Reversibilität könnte man den wahren Sieg des Terrorismus sehen. In der Spannbreite des angedeuteten hypothetischen Spektrums sind verschiedene Hypothesen über den Terrorismus möglich. Nach der „Nullhypothese“ ist das terroristische Ereignis historisch unbedeutend. Das eröffnet die Übergänge zur Theologie: Das Böse ist bloße Illusion, zufälliges Hindernis auf dem Weg des Guten, hin zu einer glückseligen Globalisierung. Terroristen, so eine weitere Hypothese, sind selbstmörderische Wahnsinnige, Psychopathen, Fanatiker einer pervertierten Idee, von einer unheilvollen Macht manipuliert, welche die Verbitterung und den Hass der unterdrückten Völker ausbeutet, um ihre Zerstörungswut zu befriedigen. Die möglicherweise freundlichste Hypothese, die dem Terroristen so etwas wie historische Vernunft unterstellen will, sieht ihn als
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den wahren Ausdruck der Verzweiflung der unterdrückten Völker. Der Ausgangspunkt dieser These ist die Hoffnungslosigkeit. Sie ist aber auch selbst hoffnungslos. Aus dieser Perspektive wird der Terrorismus dazu verurteilt, eine Geste der Ohnmacht zu bleiben und das Elend der Welt nur zu repräsentieren, um es in einer äußersten Opfertat aufzugeben. Terrorismus lässt sich aber auch als eigenständige Handlungsform definieren, als das politische Projekt eines gewaltsamen, aber berechtigten Aufruhrs gegen die derzeitige Weltordnung. Wird man sein Scheitern eingestehen müssen, muss man auch den paradoxen Effekt anerkennen, dass er unfreiwillig zum Komplizen des Systems und zum Wegbereiter dieser Weltordnung wird. Das könnte sogar den Gedanken nahe legen, das System hätte den Terrorismus, wenn es ihn nicht gäbe, selbst erfunden – und das Attentat vom 11. September 2001 könnte doch auch ein Coup der CIA sein. In diesem hypothetischen Szenario bleibt der Anspruch des Terrorismus, den Staat oder die Weltordnung zu destabilisieren, in jedem Fall unsinnig. Die ohnehin schon bestehende Unordnung und Deregulierung bedarf keiner weiteren Steigerung. Im Gegenteil: es entsteht das „Risiko“, dass die Herrschaft des Staates gefestigt wird. Andererseits beschreibt das vielleicht gerade den Traum der Terroristen vom unsterblichen Feind. Gibt es diesen Feind nicht mehr, wird dessen Vernichtung ein mühseliges Unterfangen. Dahinter steckt möglicherweise die tautologische Essenz des Terrorismus. Das terroristische Kalkül klingt wie ein paradoxer Syllogismus: Eine reale politische Macht würde dem Terrorismus einen politischen Sinn geben. Angesichts seiner lächerlichen politischen Konsequenzen drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass er diesen Sinn offensichtlich nicht hat. Auf diese Weise könnte man den Beweis dafür als erbracht ansehen, dass es diese politische Macht nicht gibt. Dann ginge es darum, die Ohnmacht und Lächerlichkeit der Politik ins volle Licht zu bringen. Ist damit die geheime Botschaft der Terroristen entschlüsselt? Spekulationen über terroristische Motive sind wohlfeil: Religion, Rachewünsche, Strategien, Märtyrertum.4 Vielleicht gibt
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es aber auch eine relativ einfache Erklärung: Es geht um das, was uns als Suizid erscheint, um den unmöglichen Tausch des Todes, die Herausforderung des Systems durch die symbolische Gabe des Todes, der gleichsam zu einer absoluten Waffe wird. Diesen Gedanken könnte man als „souveräne Hypothese“ bezeichnen. Danach wäre der Terrorismus im Grunde sinn- und ziellos. Er ließe sich nicht an seinen realen politischen oder historischen Konsequenzen messen. Der Terrorismus verkörperte eine Paradoxie: Die Sinnlosigkeit des Terrorismus macht ihn zum Ereignis in einer Welt, die mehr und mehr von Sinn und Effizienz übersättigt ist. Er erscheint mithin als Kraft, die sich der vollständigen technischen und mentalen Realisierung der Welt, der unerbittlichen Evolution einer endgültigen, unwiderruflichen Weltordnung von innen heraus widersetzt. Im Terrorismus mag man dann sogar eine lebendige Gegenmacht gegen die Todesmacht des Systems erkennen, die Verweigerung gegen die totale Identifizierung der Welt, die restlos in Zirkulation und Tausch aufgeht. Der Terrorismus gliche der Macht einer unbeugsamen Singularität, die immer heftiger wird, je weiter das System seine Hegemonie ausdehnt. Irgendwann, etwa am 11. September 2001, kommt es dann zum Bruch. Der Antagonismus wächst in eine symbolische Dimension. In diesen Zusammenhängen wird der „Geist des Terrorismus“ spürbar.5 Auch den Attentätern dürfte klar sein, dass das System im traditionellen Kampf nicht zu besiegen ist. Die Auseinandersetzung muss also in die Sphäre des Symbolischen verlagert werden. Dort gelten die Regeln des Herausforderns, des Umkehrens und des Umwälzens. In dieser Sphäre darf man auf den Tod nur mit einem gleichwertigen oder höheren Tod antworten. Dort fordert man das System durch eine Gabe heraus, die es nicht erwidern kann, außer durch seinen eigenen Tod oder Zusammenbruch. Als terroristische Hypothese formuliert hieße dies, dass das 4 Ausführlich zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte: Kakar. Über die Wurzeln von Krieg und Terror: Drewermann, S. 7 ff. 5 Vgl. dazu: Baudrillard (2001), S. 53 ff.
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System diese vielfältigen Herausforderungen durch Tod und Selbstmord nur mit seinem eigenen Selbstmord beantworten könnte. Das System bzw. die Staatsgewalt dürfen sich der symbolischen Verpflichtung der Gegengabe nicht entziehen. Andernfalls droht Gesichtsverlust. Es könnte ein schwindelerregender Kreislauf entstehen, ein unmöglicher Austausch des Todes. Darin erscheint der Tod des Terroristen als ein winziger Punkt, von dem jedoch eine gewaltige Anziehungskraft ausgeht. Zur Taktik des terroristischen Modells gehört die Provokation eines Realitätsexzesses, um das System unter diesem Übermaß zusammenbrechen zu lassen. Es gibt Mutmaßungen, dass sich die gesamte von der Staatsmacht entfesselte Gewalt schließlich gegen sich selbst kehren wird, da sie die Terrorakte gleichzeitig als deren Zerrspiegel und das Modell einer symbolischen Gewalt ansehe, die ihr versagt bleibe, der einzigen Gewalt, die sie nicht ausüben könne, die ihres eigenen Todes. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Die ganze sichtbare Macht vermag nichts gegen den winzigen aber symbolischen Tod einzelner Individuen. Die Ohnmacht der neuen Weltordnung zeigt sich auch darin, dass sie nicht zu definieren vermag, was sie bedroht, was ihr entgeht, was sie von innen her zersetzt. Übrig bleibt dann nur noch die Flucht nach vorn. Es wird ein übersteigerter Beweis der eigenen Macht erbracht: Krieg.6 Zwar erscheint der Krieg als der einzige Ort, an dem der unsichtbare Gegner heraufzubeschwören ist, damit er vernichtet werden kann. Der Kriegführende ist aber dem Menschen vergleichbar, der seinen Schlüssel unter der Laterne sucht, weil das der einzige Ort ist, wo er überhaupt zu finden sein könnte. Mit anderen Worten: Der Krieg in Afghanistan ist aussichtslos. Natürlich sind die Taliban militärisch zu schlagen. Fraglich ist nur, ob sie den eigentlichen Feind ver6 Grundlegend zur Frage, was die „Kriegsführung“ von Terroristen vom Krieg gegen den Terror unterscheidet: Carr. Über die Psychologie des modernen Terrorismus: Hoffmann, S. 348 ff. Vgl. auch: Schöllgen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 85 vom 12. April 2002, S. 8.
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körpern. Der Sieg über al-Qaida dürfte sich noch schwieriger gestalten, da es um ein Netz, nicht um ein Territorium geht.7 Selbst wenn Bin Laden gefasst wäre – tot oder lebendig – hätte man den „totalen“ Sieg nicht errungen, weil dieser als Mythos schon längst nicht mehr zu ergreifen ist.8 Der Krieg wird zwar immer weiter vordringen. Er wird aber keinen Raum mehr zum Siegen finden. Krieg ist durch den „Tausch des Todes“ charakterisiert. Die „Null Tote“-Doktrin macht aber sogar die Idee eines Krieges zunichte. Der technische und taktische Sieg der Amerikaner ändert nichts daran, dass sie in symbolischer Hinsicht schlicht und einfach Verlierer sind. Die neuen Aktionsformen des Terrorismus beruhen auf einer fatalen Strategie. Sie zielt darauf ab, die Regeln des Spiels zu beherrschen, um sie besser brechen zu können (Informationstechnologie, Luftfahrt, Börsenspekulation, mediale Netze, Inszenierung des Spektakulären). Die Mittel der globalisierten Moderne werden zu deren eigener Vernichtung eingesetzt. Die größte List der Terroristen bestand und besteht vielleicht darin, die Banalität des „American way of life“ zur Tarnung ihres doppelten Spiels zu benutzen. Sie haben sich unter dem Deckmantel bürgerlicher Unauffälligkeit in menschliche Zeitbomben verwandelt. Diese meisterhafte Klandestinität erscheint fast so terroristisch wie der eigentliche Angriff. In der Fähigkeit, die feindliche Macht in einer subtileren Strategie abzulenken und gegen sie zu wenden, zeigt sich möglicherweise die absolute Überlegenheit des Terrorismus. Das staatliche System kann die Waffe des Terroristen, d. h. den eigenen Tod, nicht ablenken und gegen ihn wenden. Der Terrorist ist zwar im Rahmen eines einseitigen Kräfteverhältnisses zu vernichten. Damit wird aber die innere Fragilität des Systems nicht beseitigt. Es kann keine Gewalt über den Tod des anderen mehr ausgeübt werden, weil dieser ihn schon gewählt und übernommen hat. Deshalb ist es auch völlig bedeutungslos, ob Ausführlich: Roth. Vgl.: Rashid und Brisard / Dasquié. Zur persönlichen und familiären Entwicklung von Osama Bin Laden ausführlich: Coll, S. 172 ff. 7 8
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Bin Laden schon tot ist oder noch lebt. Der „moderne Terrorismus“ ist im Übrigen alles andere als originell. Er verschlimmert einen schon vorliegenden Tatbestand, führt die etablierte Logik der Gewalt fort und treibt die Dinge auf die Spitze, bis es zum Bruch kommt. Das anzugreifende System hat bereits durch die spekulative Ausweitung des Tausches, durch Ströme fluktuierenden Kapitals, durch zwangsweise Mobilität und Beschleunigung die Ungewissheit zum allgemeinen Prinzip befördert. Der Terrorismus greift dieses auf und übersteigert es. So totalisiert sich Ungewissheit in Unsicherheit. Nicht nur der Terrorismus leugnet jede objektive Realität. Die virtuelle Realität hat das Realitätsprinzip ebenfalls hinter sich gelassen. Unsere soziale und mentale Gewalt ist auch – in homöopathischen Dosen – terroristisch aufgeladen. Der Terrorismus kristallisiert gewissermaßen die schwebenden Elemente heraus. Er ist sogar die Vollendung der Orgie der Macht, der Geld- und Warenströme, der Kalkulation, die sich in den Twin Towers verkörperte. Gleichzeitig ist er die gewaltsame Auflösung dieser Extremform von Wirksamkeit und Vorherrschaft. Manche Schlussfolgerungen weisen vor diesem Hintergrund weit über den 11. September 2001 hinaus. Das Gespenst des Kommunismus geht in Europa wohl nicht mehr um. Möglicherweise geht dafür das Gespenst des Terrorismus in der Welt herum. Mit den Türmen des World Trade Centers könnte ein Schutzschild endgültig gefallen sein. Es gibt Zeitgenossen, die in den Trümmern des zerbrochenen Spiegels verzweifelt nach dem eigenen Bild suchen, denen aber am Ground Zero nur die Erkenntnis zugänglich ist, dass an diesem Ort für die Spanne eines Augenblicks die „Weltmacht“ zerstört wurde. Diese Feststellung könnte einen tieferen Grund haben: „Nicht das Unglück, das Leiden, das Elend sind unerträglich, vielmehr die Macht und ihre Arroganz. Das Auftauchen dieser ganz neuen Weltmacht – das ist unerträglich und unannehmbar.“9 9
Baudrillard (wie Fn. 2), 18.
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Es bestand schon immer Anlass, sich mit einem zuweilen irritierenden Aspekt staatlichen Handelns zu befassen, von dem alle wissen, dass es ihn gibt, jedoch nur wenige ahnen, wie gewichtig sein Anteil an der Politik eigentlich ist: der Aspekt von Gesetzlosigkeit und Rechtsbruch hinter den Kulissen. Staaten benutzen zur Durchsetzung ihrer Politik alle Mittel, auch kriminelle, sofern sie nur Erfolg versprechen. Alles, was mit Hintertreppe und Geheimdienst zu tun hat, gehört hierher: Korruption, Spionage, Rufmordkampagnen, ja selbst Mordkomplotte. Staaten waren und sind nicht selten für Aktionen verantwortlich, für die sie offen und öffentlich die Verantwortung gar nicht übernehmen dürfen. Während der sowjetischen Besetzung Afghanistans haben die Mudschahedin den Export von Opium besorgt und dazu die Karawanen benutzt, mit denen vorher ausländische – zumeist amerikanische – Waffenlieferungen von Pakistan in die Kriegsgebiete befördert worden waren. Die pakistanischen Händler korrumpierten den militärischen Geheimdienst ihres Landes, der daran ebenfalls verdiente und das Ganze zu einem gefahrlosen Unternehmen machte. Agenten der CIA, die den Waffentransport nach Afghanistan überwachten, ließen ihre pakistanische Partnerorganisation gewähren. Während des Krieges gegen die Sowjets in Afghanistan waren geheime Operationen und Rauschgifthandel in einer Weise verknüpft, die es schon damals unmöglich gemacht hatte, das Drogengeschäft von den komplizierten Fragen regionaler Sicherheit und kriegerischer Aufstände zu trennen.10 Nach dem 11. September 2001 hat sich zwar nicht das Grundgefüge internationaler Beziehungen wesentlich verändert. Regierung und die Öffentlichkeit haben aber – wieder einmal – erkennen müssen, dass hochkomplexe Gesellschaften leicht anzugreifen sind. Der dadurch eingetretene Verlust an Selbstgewissheit ist evident. Insbesondere für nichtstaatliche Akteure, deren politische Ziele und Methoden sowie Organi10 Vgl. dazu: von Werner, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 20 vom 19. Mai 2002, S. 8.
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sations- und Kommunikationsstrukturen unabhängig von den Ressourcen, nationalen Interessen und Funktionen eines Staates definiert werden können, ist das Umfeld günstiger geworden. Für solchen Terrorismus gibt es genügend historische Vorbilder. Neu sind Quantität und Qualität des destruktiven Potentials. Wir haben Netzwerke vor uns, an deren Knotenpunkten fanatische und zu äußerster Gewaltanwendung entschlossene Individuen agieren. Darum herum sind Gefolgschaften gruppiert, die nur in ihrem inneren Kern Geheimgesellschaften sind. In ihren Randbereichen sind sie in legale wirtschaftliche und politische Zusammenhänge eingebunden. Die destruktive Energie dieser Organisationen entwickelt sich in einer Grauzone halblegaler und legaler Aktivitäten. Sie wird durch die weltumspannenden Kommunikations- und Transfermöglichkeiten – für Geld, Waffen und Menschen – noch vermehrt. Trotz aller territorialen Ungebundenheit terroristischer Gruppen sind diese doch auf Residenzen, Unterschlupfe, Ausbildungszentren u. v. m. angewiesen. Ohne die schützende Hand staatlicher Autoritäten kommt der Terrorismus nicht über die Runden. Diese Patronage ist kein Privileg von „Schurkenstaaten“.11 Der Anschlag ist die rapideste Form der Gewalt.12 Seine Zielsetzung ist eindeutig: Zerstörung und Vernichtung. Die Klarheit ist nicht zu überbieten. Er will Verheerung. Da, wo Leben ist, soll Tod sein. Die Tötung erfolgt entweder zielgenau oder ohne Ansehen der Person. Sie geschieht schlagartig. Gelegentlich gibt es Warnungen, manchmal Gerüchte. Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gegenden gibt es ein allgemeines Gefühl der Bedrohung. Gleichwohl ist der Angriff immer überraschend. Die Überschreitung der äußersten Grenze, die im Tod des anderen liegt, muss zwangsläufig 11 Vgl. insgesamt: von Bredow, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 82 vom 9. April 2002, S. 8. 12 Die Ausführungen geben die Gedanken von Sofsky (Amok), S. 93 ff., wieder. Grundsätzlich zur Phänomenologie der Gewalt: Reemtsma (Vertrauen), S. 104 ff.
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schnell erfolgen, ohne konkrete Vorzeichen. Der Schlag erfolgt scheinbar aus dem Nichts. Er komprimiert die ganze Lebenszeit auf den Bruchteil einer Sekunde, in dem mit der Blendkraft eines Blitzes die Gewissheit über die Verwandlung des eigenen Selbst in ein Opfer entsteht. Das Bewusstsein der eigenen Gefährdung hindert die Überraschung nicht. Der Attentäter definiert Ort und Zeit der Begegnung mit der tödlichen Gefahr. Er hat die Wahl der Waffen. Der Mörder hat sich vorbereitet. Er hat über lange Zeit Informationen gesammelt, durch eigene Beobachtungen, Ausschöpfung jeder verfügbaren Quelle. Manchmal bewegt sich das Opfer jahrelang im Visier des Jägers, nichts ahnend. Geduld, Entschlossenheit, Präzision und Brutalität vereinigen sich im Bewusstsein des Attentäters zu einer lebensbedrohlichen Mischung. Es entsteht ein Plan zur Auslöschung fremden Lebens. Oft schließt sich eine Wartezeit an. Die Situation ist in vielerlei Hinsicht durch Asymmetrie charakterisiert. Wissen, Pläne, Waffen definieren die Lage einseitig. Passivität und Aktivität bzw. Initiative, Wehrlosigkeit und Aktion, alle diese und andere Elemente bestimmen in ihrer Gegensätzlichkeit und in ihrer Zusammengehörigkeit die Situation des Anschlags. Die Wirkung des Anschlags wird durch die Plötzlichkeit des Beginns ermöglicht und potenziert. Die Anwendung von Gewalt ist ein Akt, der aus der Sicht der Opfer voraussetzungslos ist. Er zerreißt den Zusammenhang des Alltags, ist nicht Ergebnis einer überschaubaren Kausalkette. In einem extrem kurzen Augenblick wird die Routine eines ganzen Lebens aufgehoben. Es ist keine Zeit, Angstgefühle zu entwickeln. Das Opfer hat noch nicht einmal Gelegenheit zu erschrecken. Herausgerissen aus der Stetigkeit der Normalzeit stürzt man in einen Tunnel, hineingeschleudert durch die dröhnende Wucht einer Explosion, aus der Balance geworfen durch scharfes und heißes Metall, das sich in den Körper gebohrt hat, und empfindet nur ein einziges Gefühl: blankes Entsetzen. Zum Schmerz tritt die immer stärker werdende Ahnung, aus der Ordnung der Dinge heraus zu fallen, unvorbereitet, ohne Gefühl für die Richtung, haltsuchend:
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II. Bilder oder Realität? „Das Vertrauen in den Fortbestand der gewohnten Welt ist vernichtet.“13
Orientierungslosigkeit geht in Schock über. Es entsteht eine Lähmung, die nicht immer akute Verletzungen zur Voraussetzung hat. Die Plötzlichkeit des Ereignisses ist nicht gleichbedeutend mit dem „Jetzt“. Dabei handelt es sich zwar um einen Grenzpunkt. In ihm sind Vergangenheit und Zukunft aber miteinander verknüpft. Er schreitet auch stetig voran und sichert dadurch die Kontinuität der Zeit. Die Plötzlichkeit des Anschlags beendet hingegen deren Fortschritt. Damit wird jeglicher Zusammenhang zerstört. Im Augenblick des Anschlags verlässt man den Raum und verabschiedet die Zeit. Das Bewusstsein wird so komprimiert, dass es keine Wahrnehmungen mehr erlaubt. Mit der Zerstörung des Raum-ZeitKontinuums sind Geschehnis und Erlebnis nicht voneinander zu trennen. Der blitzartige Einbruch in das Vertrauen zur Welt entwertet auch jedes Wissen über das eigene Dasein, das ohne Distanz und Differenz folgenlos wird. In dem Augenblick, in dem das Ereignis stattfindet, ist es zwangsläufig sinnlos. Überlebt man, besteht vielleicht in der nachträglichen Reflexion die Chance, der Plötzlichkeit der Erfahrung wieder ein kleines Stück des eigenen und vergangenen Lebens abzuringen. Der Anschlag ist eine transhistorische Form überraschender Gewalt. Sie wird nicht nur von Königsmördern oder Terroristen ausgeübt. Killerkommandos von Kartellen oder Syndikaten, Freischärler und Geheimagenten, Todesschwadrone oder militärische Stoßtrupps im feindlichen Hinterland verüben gleichermaßen Anschläge. Natürlich gibt es Unterschiede in den sozialen, politischen und historischen Bezügen. In jedem Fall soll der Feind aber durch Terror zermürbt und seine logistischen Grundlagen unterminiert werden. Anschläge dienen der demonstrativen Bestrafung oder der Rache. Sie sollen staatliche Repressionen gezielt provozieren. Ein Hinterhalt beabsichtigt die Zerschlagung von Widerstandsnestern, aber auch die Verteidigung der Herrschaft wie 13
Sofsky (Amok), S. 94.
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den Sturz seiner Repräsentanten. Selbst im Namen der Ehre werden Blutbäder veranstaltet. Opfer können Prominente und / oder Namenlose sein, Verschwörer wie Tyrannen. Eine Unterscheidung zwischen kriminellen und politischen Motiven ist nicht immer möglich. Die Waffentechnologie hat die zerstörerische Wirkung des Anschlags ins Unermessliche gesteigert. Die Mutation des Meuchelmords in das Massaker ist ein Motiv der Moderne geworden. Neuzeitliche Terrorakte sind immer auch Medienereignisse. Publizität und die Erregung flächendeckender Angstgefühle gehen Hand in Hand. Der Schrecken wird allgegenwärtig. Bekenntnisse der Täter erhöhen die Konfusion und nähren die Befürchtung, dass es jederzeit und überall wieder passieren kann. Der Terror nähert sich nicht seinem Erfolgsideal, wenn er den Tod eines einzelnen Opfers bewirkt hat, sondern wenn kollektive Angst entstanden ist. Sie beweist den terroristischen Tätern ihre Wirkungsmacht. Das Attentat ist immer auch Selbstbestätigung. Der Schrecken der anderen ist der letzte Triumph. Gleichwohl sind Attentate zumeist Ausdruck und Ergebnis eines rationalen Kalküls. Zur Wirksamkeitsvoraussetzung des Attentats gehört die Vermeidung eines vorherigen Kampfes. Die Plötzlichkeit des Zuschlagens ist gewissermaßen eine Zeitwaffe. Sie gleicht eigene Defizite in der Kampfkraft aus und soll eigene Verluste vermeiden. Es ist belanglos, ob man dafür die Attribute „feige“ oder „heimtückisch“ verteilt. In asymmetrischen Verhältnissen führt die Überraschung den Schwächeren aus der Passivität der Unterwerfung heraus. Das Selbstmordkommando verzichtet auf Selbsterhaltung. Bombenleger und Flugzeugentführer sind häufig Attentäter und Märtyrer in Personalunion. Sie repräsentieren die beiden Formen des radikalsten Widerstandes. Die Tötung fremden Lebens unter gleichzeitiger Selbstaufopferung begründet im Gedächtnis der Gesinnungsgenossen den Heldenstatus. Indem sich der Selbstmordattentäter tötet, definiert er sein Handeln als final, dem Diskurs enthoben. Sein tödliches Schweigen will göttlich sein. Der Mörder wird zum Märtyrer.14
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Attentäter müssen über lange Zeit in größtmöglicher Anonymität handeln. Ihr Lebenselexier ist das Geheimnis. Dadurch bleiben sie in höchster Anspannung, aber auch Gefährdung. Wankelmut und Verrat sind existentielle Größen. Das Geheimnis bindet jeden an die Gruppe. Aber jeder kann die Gruppe auch dem Feind ausliefern. Die Kontingentierung des Wissens (Abschottung, Kontrolle) ist unerlässlich. Attentäter lernen sich häufig erst am Tatort unmittelbar vor der Ausführung des Anschlags kennen. Konspiration wird zur Daseinsform. Das Geheimnis verleitet schließlich selbst zur Gewalt. In der terroristischen Tat offenbart sich die bis dahin untergründige Tötungsmacht. Der Existenzbeweis der Gruppe ist erbracht. Tod, Angst und Entsetzen werden zu Zeichen der kollektiven Selbstbestätigung. Die damit einhergehende Bestärkung der Gruppe wird sich zur Erfahrung ihrer eigenen Existenz in der Weise verdichten, dass sie sich entweder in eine Legende, in einen politischen Mythos verwandelt oder aber bald wieder zuschlagen wird. Kein Gesetzespaket, keine Polizei, keine Justiz, keine Armee, kein Geheimdienst und kein Innenminister in Deutschland und der übrigen Welt werden das verhindern. Schließlich bleibt zu bedenken, dass Terroristen nicht nur als Straftäter zu verstehen sind. Es ist zwar selbstverständlich, dass sie bestraft werden müssen, wenn sie sich nach geltendem Recht strafbar gemacht haben. Terroristen weisen aber eine Besonderheit auf: Sie wähnen sich selbst im Recht! Sie verfügen – aus soziologischer Sicht – nicht über ein „Unrechtsbewusstsein“. Natürlich weiß jeder Attentäter, dass er gegen ein Tötungsverbot verstößt. Aber er hält seinen mörderischen Akt für gerechtfertigt, weil er davon überzeugt ist, dass er auf diese Weise für Gerechtigkeit und Freiheit und gegen Armut, Ausbeutung und Unterdrückung kämpft. In der historischen Perspektive der Französischen Revolution mag man Terror gar als nationales und revolutionäres Abwehrmittel ansehen, 14 So Schuller, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 20 vom 19. Mai 2002, S. 11.
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als „Kernwaffe“ der Unterdrückten und Entrechteten. In jedem Fall provoziert diese Überlegung eine sehr grundlegende Frage: Warum kann man mit Terroristen nicht kommunizieren, wenn (obschon) sie sich für „Recht und Gerechtigkeit“ einsetzen (wollen). Als Erklärung reicht der Hinweis auf individuelle Gefühle wie Wut oder Hass nicht aus. Dafür sind die Einstellungen von Terroristen zu gleichförmig, ihre Ziele zu anspruchsvoll und ihre Pläne zu rational. Mit Hilfe von Hegel könnte man eine überraschende Antwort finden. Bei dem Versuch, den Terror der Französischen Revolution zu erklären, sah dieser den Grund in der Aufklärung, welche die „Nützlichkeit“ entdeckt habe. Diese sei aber nicht die „Wirklichkeit des Subjekts“, sondern (ein) „Sein“ für anderes. Die Wirklichkeit des Subjekts erscheine erst in einer Freiheit, die sich vom Nützlichen gelöst habe und in diesem Sinne absolut sei. Absolute Freiheit vom Nützlichen sei für das Bewusstsein absolute, reine Selbstlosigkeit.15 In der Tat eröffnet das Bewusstsein der Selbstlosigkeit unter Gleichgesinnten zugleich die Möglichkeit von terroristischen Organisationen bis zum Staatsterror. Es bleibt dabei aber zu bedenken, dass die Terroristen der Moderne häufig Islamisten sind und dass diese Religion von den Früchten der Französischen Revolution weitgehend ausgeschlossen war. Dafür verfügt der Islam über eine teilweise sehr strenge Moral. Angesichts dieser Tatsache mag man die Überlegungen von Hegel als Beschreibung des Umschlags von Moral in Hypermoral lesen. Vielleicht gelingt es dann auch zu verstehen, dass man gleichsinnig beobachtet, wie sich totalitäre Propaganda gegen jeden Positivismus, Pragmatismus und Utilitarismus wendet und eine „unheimliche Welt absoluter Selbstlosigkeit“ entwickelt, in die niemand eindringen soll und kann.16 Der auf Distanz und vernünftige rechtliche Kommunikation angelegte Rechtsstaat vermag daher mit Terroristen grundsätzlich nicht zu kommunizieren. Das gilt nicht nur im Hinblick auf Selbstmordattentäter. Dort 15 16
Hegel, S. 431 ff. Vgl. Arendt, S. 546, 555.
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II. Bilder oder Realität?
ist die kommunikative Unmöglichkeit nur besonders offensichtlich. Man könnte deshalb die Schlussfolgerung ziehen, dass die Unmöglichkeit des vernünftigen Gesprächs zum Begriff des Terrorismus gehört und dass dem Rechtsstaat nur die „stumme“ Anwendung physischer Gewalt bleibt. Dabei müssen jedoch mehrere Modifikationen gelten: Es handelt sich um eine Einsicht des Rechtsstaates, nicht eine der Terroristen. Man kann grundsätzlich nicht ausschließen, dass auch Terroristen verhandeln wollen, aber nur zu ihren „Preisen“, zumindest entspricht dies „westlicher“ Erfahrung. Die zitierte Einsicht gilt zudem nur für die konkrete Entscheidungssituation. Damit endet Geschichte freilich nicht. Selbst Terroristen können sich ändern und irgendwann sogar das abendländische Verständnis der Menschenrechte akzeptieren. Das kann jedoch sehr lange dauern. Bis dahin stellt sich eine alte Frage: Was tun? Attentate können jederzeit stattfinden. Die Lage ist und bleibt auch deshalb kompliziert, weil Kommunikation für sich genommen ein paradoxes Kriterium ist. Beim Terrorismus „kommuniziert“ man jedenfalls den Abbruch der Kommunikation. Wegen der „Kommunikation der Nichtkommunikation“ nennt man die Anwendung körperlicher Gewalt auch „Sprache“ oder auch „Sprache der Gewalt“. Immerhin bedeutet das, dass man Gewalt „verstehen“ kann, es gibt also wahrnehmbare Gründe für Gewaltanwendung. In diesem Sinne findet eben auch zwischen Feinden eine Kommunikation statt. Konflikte sind mithin Systeme, in denen nach Maßnahme und Gegenmaßnahme unterschieden wird: „Auch Terroristen leben weiter, machen sich als Störer bemerkbar und bleiben Menschen.“17
17 Insgesamt: Roellecke, JZ 2006, 265, 268. Das scheint man u. a. auch deshalb vergessen zu haben, weil „Terrorismus“ das neue Zauberwort der Moderne ist. In der Sicherheitspolitik ist es zum funktionellen Äquivalent eines „Sesam öffne dich“ geworden, das jederzeit eine Schleusenöffnung zur Unterspülung des Rechtsstaates ermöglicht. Dazu: Hetzer, StraFO 2005, 318.
III. Strategie oder Wunschdenken? Die von den USA dominierte weltweite Bekämpfung des islamistischen Terrorismus ist ohne einen Rekurs auf die innenpolitischen Grundlagen kaum zu verstehen. Aus europäischer Sicht fällt zunächst auf, dass die amerikanische Außenpolitik stärker ideologisch geprägt ist als in den Staaten Europas.1 Die enge Verknüpfung von Interessen und Idealen gilt als Ergebnis eines spezifischen Nationalismus, in dem die Vorstellung von „Einzigartigkeit“ mit Sendungsbewusstsein gekoppelt ist.2 Dies führt im „Rest der Welt“ zu Irritationen, welche sich auch und gerade im Kampf gegen den islamistischen Terror auswirken, in dem die Beeinflussung der Öffentlichkeit in anderen Kulturkreisen von besonderer Bedeutung ist.3 Es ist vermutlich nicht mehr angemessen, die amerikanische Außenpolitik mit der Gegenüberstellung von „Isolationisten“ und „Internationalisten“ oder „Realisten“ und „Idealisten“ zu erklären. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob es die Aufgabe der USA ist, weltweit Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu vertreten oder ob man sich nur an genau definierten nationalen Interessen orientieren sollte.4 Inzwischen sind in der Politikwissenschaft mehrere Modelle entwickelt worden, die u. a. in Gestalt idealtypischer „Grand Strategies“ ein jeweils spezifisches Verständnis des Umfangs der Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus, der nötigen Maßnahmen und Gegenstrategien erwarten lassen.5 1 Dittgen, S. 17. Hier könnte nur darüber spekuliert werden, ob und wie sich ggf. daran in naher Zukunft etwas ändern wird. Vgl. dazu auch: Krugman. 2 Dittgen, S. 74 f. 3 Berger, S. 67. 4 Schild, S. 25 ff. 5 Im Einzelnen: Berger, S. 67, 68.
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III. Strategie oder Wunschdenken?
Aus der Sicht der Realisten dürfte die Verringerung der internationalen Präsenz der USA dem Schutz der nationalen Sicherheit am ehesten entsprechen. Ein sicheres atomares Zweitschlagspotential und ein umfangreiches Geheimdienstwesen in Zusammenarbeit mit mobilen Spezialeinheiten erscheinen dann als die wichtigsten Instrumente zur Sicherung vor äußeren Bedrohungen. Eine Regierung, die sich darauf beschränken würde, sollte auch nicht so schnell eine Gefahr für die Demokratie im eigenen Lande werden. Für Kritiker der Politik der USA im Mittleren Osten würde dann sogar auch ein wesentlicher Grund für den Antiamerikanismus und somit ein zentrales Motiv des islamistischen Terrorismus entfallen. Der Rückzug der USA aus dieser Weltregion würde, unabhängig von seiner praktischen Umsetzbarkeit und seinen moralischen Implikationen (Israel), zu einer verringerten Gefährdung der USA führen.6 Auf den Grundannahmen der realistischen Schule ließe sich auch eine Politik der Interessenbegrenzung („Selective Engagement“) verfolgen, die sich auf die kooperativen Beziehungen mit den wichtigsten Akteuren EU, Russland, China, Indien, Japan) beschränkt. Im Hinblick auf den Mittleren Osten dürfte der Zugang zum Arabisch-Persischen Golf aus energiepolitischen Gründen auf absehbare Zeit zu den zentralen nationalen Interessen der USA gehören. Die Beziehungen zu Ägypten und Saudi-Arabien werden eng und kooperativ bleiben, ohne dass die innere Verfasstheit dieser Staaten (Demokratie, Freiheit und Menschenrechte) thematisiert wird. Solange der Erdölexport gewährleistet ist, dürfte jede amerikanische Regierung selbst gegenüber beliebigen islamistischen Bewegungen eine flexible und „tolerante“ Haltung bewahren. Andernfalls sind militärische Lösungen nicht auszuschließen.7 Eine andere strategische Linie könnte durch die Idee einer „wohlwollenden globalen Hegemonie“ bestimmt werden. Da6 7
Berger, S. 69. Zutreffend: Berger, S. 71.
III. Strategie oder Wunschdenken?
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bei müssten die USA in zentralen Teilen der Welt der dominierende extra-regionale Akteur werden bzw. bleiben, um die regionale Stabilität zu gewährleisten und das Heranwachsen eines regionalen „Hegemons“ zu verhindern. Neue Bedrohungen würde man nur begrenzt durch Mitarbeit in internationalen Organisationen angehen und ihnen notfalls auch in Präventivkriegen entgegenwirken. Diese Strategie wurde durch Wolfowitz und Khalilzad als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates schon im Jahre 1992 konkretisiert. Man forderte die Verhinderung des erneuten Aufkommens einer rivalisierenden Supermacht und die Anwendung militärischer Gewalt zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen im Hinblick auf den Irak und Nord-Korea. Diese Strategie könnte dazu führen, dass die Fähigkeit der USA, effektiv gegen terroristische Bedrohungen vorzugehen, durch eine Art „imperialer Überlastung“ und die Zunahme gewaltbereiter Radikaler mittelfristig und langfristig eher abnimmt.8 Angesichts des hohen Grades der Abhängigkeiten innerhalb des internationalen Staatensystems, durch welche die Sicherheit der USA auch von einer großen Anzahl scheinbar weit entfernter Konflikte beeinflusst wird, macht ein kooperativer Ansatz mehr Sinn als die Aufrechterhaltung von Machtgleichgewichten zwischen Großmächten. Für die Politik der USA gegenüber dem islamistischen Terror würde daraus folgen, dass man den Ursachen des Terrorismus größere Aufmerksamkeit schenkte, internationale Organisationen stärkte und sich mehr auf die Wirkung der als „Soft Power“ bezeichneten Einflussmöglichkeiten verließe. Dieser Ansatz setzt allerdings eine stärkere Bereitschaft der amerikanischen Öffentlichkeit voraus, ein größeres internationales Engagement durch eine entsprechende Ressourcenausstattung zu ermöglichen.9 Immerhin wird behauptet, dass die USA und andere Demokratien ein langfristiges Interesse daran hätten, den Einflussbereich der Demokratie in der Welt zu erhalten und ihn dort, 8 9
Berger, S. 73, 74. Berger, S. 74, 75.
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III. Strategie oder Wunschdenken?
wo es möglich und klug erscheint, auszudehnen. Wenn demokratische Staaten nicht gegeneinander kämpfen, werde die „posthistorische Welt“ stetig expandieren und noch friedlicher und noch reicher werden. Das Ende des Ost-West-Konflikts dürfe jedoch nicht gleichgültig machen für die Zukunft. Denn nur wenn die ehemalige Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes stabile Demokratien werden, sei „der Westen“ langfristig vor einem Wiederaufleben der Bedrohung aus diesem Teil der Welt oder auch vor der Bedrohung durch ein geeintes Deutschland oder ein wirtschaftlich dominierendes Japan geschützt, hat jedenfalls ein amerikanischer Beobachter japanischer Herkunft schon einmal herausgefunden.10 Unterdessen hat ein anderer kosmopolitisch interessierter Zeitgenosse aus Deutschland entdeckt, dass die ideologische Systemfeindschaft zwischen Kapitalismus und Kommunismus seit dem Ende des kalten Krieges marginalisiert oder völlig verschwunden ist. Eine „Systemalternative“ zum westlichen Marktsystem gebe es nicht mehr. Das dadurch entstandene ideologische Vakuum sei entweder positiv durch Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft oder negativ durch Hass und Nationalismus gefüllt worden. Verbunden mit Massenvernichtungswaffen und Terrorismus forme sich im dreidimensionalen Staatensystem das heraus, was man die „neue strategische Gefahr“ nennen könne.11 In jeder Hinsicht anspruchsvoller zeigen andere, dass es nicht nur die „Widersprüche“ im Kern des eigenen Systems sind, die der politischen Kultur des Westens und seinen Filialzivilisationen im Osten und Süden in der post-kommunistischen Situation zu schaffen machen. In der Tat sind es die neuen Sammlungsbewegungen der kampfbereiten Unzufriedenen und der energischen Überflüssigen, es sind die rapiden Vernetzungen des Verliererhasses, die unterschwelligen Proliferationen der Sabotage- und Zerstörungsmittel, die für die Wiederkehr des historischen Schreckens und der entsprechenden Hoffnungen 10 11
Fukuyama (Ende), S. 376. Fischer, S. 58.
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sorgen. Vor diesem Hintergrund seien die zahllosen Traktate über die „Rückkehr“ oder den „Wiederbeginn“ der Geschichte zu begreifen. Ihr gemeinsamer Nenner liege in der mechanischen Unterstellung, mit den Gewaltausbrüchen auf den globalen Bühnen sei ein Neustart der nur vorübergehend lahmenden „Geschichte“ verbunden. Für den analytischen Blick, der nicht von unterschwelligen Rechtfertigungsinteressen und der Perspektive ehemaliger Amtsträger bestimmt ist, handelt es sich dabei unverkennbar um einfältige Versionen von Hegelianismus: Wenn nämlich die bisherige Geschichte durch kämpfende Oppositionen vorangetrieben wurde, wie es die popularisierte Dialektik unterstelle, so dürfe man vom Erscheinen neuer Kämpfer auf den Fortgang der Geschichte schließen. Gegenüber dieser Literatur wird klargestellt, dass das gleichzeitige Auftauchen des Terrorismus im Außenverhältnis der westlichen Zivilisation und einer neuen sozialen Frage in ihren Innenverhältnissen gerade nicht als Indiz für eine „Rückkehr“ der Geschichte verstanden werden darf.12 Hier ist nicht abschließend zu entscheiden, ob der ehemalige deutsche Minister des Auswärtigen, Fischer, der ehemalige amerikanische Diplomat Fukuyama oder der Philosoph Sloterdijk die Bewegungsgesetze der alten oder neuen oder der wiederauferstanden „Geschichte“ jeweils richtig erkannt und interpretiert haben. Es liegt glücklicherweise auf der Hand, dass das sicherheitspolitische Denken in der Bundesrepublik Deutschland sich jedenfalls immer noch nicht ganz in den Dimensionen einer Weltmacht bewegen kann. Das ändert nichts daran, dass die jüngere Entwicklung dazu geführt hat, dass die Bundeswehr im Verein mit den Armeen verbündeter Staaten sich in unterschiedlicher Intensität auch am Kampf gegen den Terrorismus beteiligt. Deshalb ist es von Interesse, vor welchem strategisch- sicherheitspolitischen Hintergrund dies geschieht. Dabei sind mindestens zwei Dokumente besonders wichtig. Am 21. Mai 2003 hatte der damalige Bundesminister der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland, 12
Zutreffend: Sloterdijk, S. 68, 69.
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III. Strategie oder Wunschdenken?
Peter Struck, – erstmalig wieder seit 1992 – neue „Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung“ (VPR) erlassen. Damit sollten die Bundeswehr und alle ihre militärischen und zivilen Angehörigen mehr Klarheit über das erhalten, was die Streitkräfte künftig leisten müssen, um die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten und den Frieden in der Welt zu stärken. Womöglich hat erst Struck damit das Werk von Clausewitz vollendet. Dieser hatte vom Politiker und Strategen den „Gesamtüberblick über alle Verhältnisse“ gefordert. Die Erklärung von Struck, dass die innere Sicherheit Deutschlands nun auch am Hindukusch zu verteidigen sei, wäre ohne einen solchen Überblick kaum möglich. Die Erfahrungen der Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland als Feldherren waren aber bislang glücklicherweise begrenzt. Das muss halbwegs qualifizierte Aussagen über Krieg und Frieden nicht ausschließen. Clausewitz hatte schon vor mehr als 170 Jahren herausgefunden, dass der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs ist, also durchaus nichts Selbständiges. Der Krieg werde zwar nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen; aber gewöhnlich denke man sich die Sache so, dass mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz anderer Zustand eintrete, welcher nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen sei: „Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel.“13
13 Clausewitz, S. 216. Der ehemalige amerikanische Außenminister (und Berufssoldat) Colin Powell soll das Werk von Clausewitz als einen „Lichtstrahl aus der Vergangenheit, der auch militärische Probleme der Gegenwart erhellte“ empfunden haben. Bestürzt über den inneren Zustand seiner geliebten Armee in Vietnam und beunruhigt durch die Kluft, die sich zwischen ihr und der Gesellschaft, der sie diente, seinerzeit aufgetan hatte, will er in „Vom Kriege“ Erklärungen für die offenkundigen Fehler der militärischen und politischen Führung gefunden haben (zitiert nach: Strachan, S. 7). Mittlerweile dürfte Powell auch durch neuere Analysen verstanden haben, dass der Krieg in Vietnam ein sinnloses Blutvergießen war. Zu den politischen Weichenstellungen in der damaligen Zeit und den Propagandadalügen der amerikanischen Führung ausführlich:
III. Strategie oder Wunschdenken?
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Nach der Einschätzung von Clausewitz hat der Krieg freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik. Trennt man den Krieg vom politischen Verkehr, entstehe ein „sinn- und zweckloses Ding“.14 Der wirkliche Krieg sei kein so konsequentes, auf das Äußerste gerichtetes Bestreben, wie er seinem Begriff nach sein sollte, sondern ein „Halbding“, ein Widerspruch in sich. Als solches könne er nicht seinen eigenen Gesetzen folgen, sondern müsse als Teil eines anderen Ganzen betrachtet werden – und dieses Ganze sei die Politik. Gehört der Krieg der Politik an, so wird er nach der Einschätzung von Clausewitz ihren Charakter annehmen, und das kann bis zu der Höhe steigen, wo der Krieg zu seiner absoluten Gestalt gelangt.15 Clausewitz setzt voraus, dass die Politik alle Interessen der inneren Verwaltung, auch die der Menschlichkeit und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache bringen könnte, in sich vereinigt und ausgleicht. Die Politik sei nichts an sich, sondern bloßer Sachwalter all dieser Interessen gegen andere Staaten. Die Beendigung des politischen Gesichtspunktes mit dem Krieg hält Clausewitz nur für denkbar, wenn die Kriege aus bloßer Feindschaft Kämpfe auf Leben und Tod wären. Wie sie sind (zur Lebenszeit von Clausewitz) seien sie nichts als Äußerungen der Politik selbst. Das Unterordnen des politischen Gesichtpunktes unter den militärischen wäre widersinnig:
Greiner, S. 56 ff., und Frey, S. 179 ff. Offen bleibt, ob Powell Clausewitz auch schon gelesen hatte, bevor er im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die angeblichen Gründe für den Einmarsch in den Irak vortrug. Es ist hier auch nicht zu klären, ob er hinsichtlich der irakischen Massenvernichtungswaffen die Welt absichtlich belog oder selbst getäuscht wurde. Wie auch immer: Manch einer glaubt, dass Powell im November 2004 eine „traurige, aber dennoch königliche Gestalt“ war, die eine vergangene Ära republikanischer Staatsführungskunst zu repräsentieren schien. Als er nach Bushs Wiederwahl sein Büro räumte, meinte ein Beobachter, dass er ein großer Mann war, der Besseres verdient hätte (Risen, S. 169). Zum taktischen Verhältnis zur Wahrheit, welches die Regierung pflegte, der Powell angehörte, und zur „Hybris“ des zweiten Golfkrieges: Wilson, S. 284 ff. 14 Clausewitz, S. 217. Zu Clausewitz: Keegan, S. 35 ff. 15 Clausewitz, (wie Fn. 14).
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III. Strategie oder Wunschdenken? „Denn die Politik hat den Krieg erzeugt; sie ist die Intelligenz, der Krieg aber bloß das Instrument, und nicht umgekehrt. Es bleibt also nur das Unterordnen des militärischen Gesichtspunktes unter den politischen möglich.“16
Die VPR verkörpern in diesem Sinn womöglich einen Teil der modernen politischen Intelligenz in Deutschland. Immerhin ist ihnen u. a. die Erkenntnis zu verdanken, dass sich die Welt in den letzten zehn Jahren verändert hat. Der 11. September 2001 und seine Folgen hätten das internationale System erschüttert und eine neue Gefährdungslage geschaffen, die sich auch in „unserer“ Verteidigungspolitik niederschlagen müsse. Nach der Risikoanalyse von Struck ist die komplexer gewordene Gefährdungslage durch mehrere Elemente charakterisiert: • Internationaler Terrorismus. • Proliferation von Massenvernichtungswaffen und weit reichender Trägermittel. • Regionale Konflikte innerhalb und außerhalb Europas. • Informationskriegsführung.
Die VPR enthalten auch eine ermutigende Botschaft. Es soll sogar ihre „Kernaussage“ sein, dass eine Gefährdung deutschen Staatsgebietes durch konventionelle Streitkräfte derzeit und auf absehbare Zeit nicht zu erkennen ist. Die zentralen Folgerungen der VPR sollen zugleich die „Kerninteressen“ deutscher Politik ausmachen: • Die transatlantische Partnerschaft bleibt die Grundlage der Sicherheit Deutschlands. • Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte, kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gestärkt. • Deutschland beteiligt sich aktiv an der Arbeit der UN und OSZE, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. 16
Clausewitz, S. 218.
III. Strategie oder Wunschdenken?
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Die multinationale Einbindung Deutschlands und der Bundeswehr sei zu einem konstitutiven Merkmal für die deutsche Sicherheitspolitik geworden. Die VPR sollen zeigen, dass sich die Einsätze der Bundeswehr weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen lassen.17 Die Verteidigung Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung bleibt indes politische und verfassungsrechtliche Grundlage der Bundeswehr und Teil ihres Auftrags. Die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands sei an leistungsfähige Streitkräfte gebunden, die in der Lage sind, zusammen mit Verbündeten und Partnern eine aktive Rolle in der Friedenssicherung zu spielen. Deshalb rücke dieser Teilauftrag an die erste Stelle. Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus, seien ebenfalls an die erste Stelle des Aufgabenspektrums gerückt. Die VRP haben ein weiteres wichtiges Ergebnis erbracht: Die Aufgabe der herkömmlichen Landesverteidigung wird durch den umfassenderen Begriff „Schutz Deutschlands und seiner Bürger“ ersetzt. Mit der Neugewichtung der Aufgaben der Bundeswehr will man dem weiten Verständnis von Verteidigung entsprechen, das sich in den letzten Jahren herausgebildet habe.18 Die Anschläge vom 11. September 2001 hätten die zivilisierte Welt in ihrer Gesamtheit zutiefst erschüttert, nachfolgende Terroranschläge das Bewusstsein für die asymmetrischen Gefährdungen geschärft, die jederzeit, an jedem Ort der Welt erfolgen und sich gegen jeden richten könnten.19 Ungelöste politische, ethnische, religiöse und wirtschaftliche Konflikte wirkten sich im Verbund mit mehreren Faktoren unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit aus: • Internationaler Terrorismus. • International operierende Kriminalität. • Zunehmende Migrationsbewegungen.20 17 18 19 20
Nr. 5, 57 VPR. Nr. 4 VPR. Nr. 18 VPR. Nr. 25 VPR.
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Die USA sollen für die Sicherheit Europas weiterhin unverzichtbar sein.21 Die Gewährleistung der Sicherheit und des Schutzes der Bürgerinnen und Bürger sei oberstes Ziel deutscher Sicherheitspolitik.22 Diese soll umfassend angelegt sein und politische, ökonomische, ökologische, gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen und Entwicklungen berücksichtigen. Struck hat erkannt, dass Sicherheit weder vorrangig noch alleine durch militärische Maßnahmen herstellbar ist. „Präventive Sicherheitspolitik“ schließe also politische und diplomatische Initiativen sowie den Einsatz wirtschaftlicher, entwicklungspolitischer, rechtsstaatlicher, humanitärer und sozialer Maßnahmen ein.23 Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung – einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus – sind für die deutschen Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.24 Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel dem Risiko entsprechend bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann.25 Das Weißbuch (2006) enthält weitere wichtige und aktuellere Informationen zur strategischen Verortung der Bundeswehr. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass der internationale Terrorismus Freiheit und Sicherheit bedrohe. Er gilt 21 Nr. 32 VPR. Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von Kagan; Mailer; Nye und Todd. 22 Nr. 35 VPR. 23 Nr. 36 VPR. 24 Nr. 78 VPR. 25 Nr. 80 VPR.
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ihr als eine zentrale Herausforderung. Die Anschläge vom 11. September 2001 und weitere Terrorakte hätten dies deutlich gemacht. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel entwickelten sich zunehmend zu einer potenziellen Bedrohung auch für Deutschland. Das Land werde auch zunehmend mit den Folgen innerstaatlicher und regionaler Konflikte, der Destabilisierung und des inneren Zerfalls von Staaten sowie der damit häufig einhergehenden Entstaatlichung von Gewalt konfrontiert. Die in der Vergangenheit bewährten Strategien zur Abwehr äußerer Gefahren reichten gegen die neuen asymmetrischen, häufig auch durch nichtstaatliche Akteure verursachten Bedrohungen nicht aus. Deshalb bedürfe es für eine wirksame Sicherheitsvorsorge eines präventiven, effektiven und kohärenten Zusammenwirkens im nationalen wie internationalen Rahmen, einschließlich einer wirksamen Ursachenbekämpfung. Angesichts von Gefahren wie der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und den internationalen Terrorismus hätten die Überschneidungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zugenommen. Die Bundesregierung räumt ein, dass den von ihr genannten „neuartigen“ Risiken weder allein noch vorrangig mit militärischen Mitteln begegnet werden kann. Dessen ungeachtet geht sie davon aus, dass derzeit die unmittelbarste Gefahr für die Sicherheit Deutschlands vom internationalen, planvoll handelnden, in länderübergreifenden Netzwerken verbundenen Terrorismus ausgeht. Sie glaubt, dass Terroristen mit ihrem Anschlägen auf größtmögliche mediale Wirkung und Einschüchterung der Menschen sowie auf eine Erschütterung von staatlichen Gemeinwesen abzielen, nicht zuletzt durch Angriffe auf zivile Ziele mit Symbolcharakter, die eine hohe Zahl von Toten und Verletzten in Kauf nehmen. Man hat auch herausgefunden, dass sich die Täter zunehmend neuer Technologien und moderner Kommunikationswege bedienen. Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung kann sich Deutschland den geschilderten Gefahren nicht entziehen. Sie teilt mit, dass die Sicherheitspolitik von den Werten des Grundgesetzes
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und dem Ziel geleitet werde, die Interessen des Landes zu wahren. Dazu zählten insbesondere: • Bewahrung von Recht und Freiheit, Demokratie, Sicherheit und Wohlfahrt für die Bürgerinnen und Bürger und Schutz vor Gefährdungen. • Sicherung der Souveränität und der Unversehrtheit des Staatsgebietes. • Vorbeugung gegen regionale Krisen und Konflikte und Beiträge zur Krisenbewältigung. • Begegnung globaler Herausforderungen (vor allem internationaler Terrorismus und Massenvernichtungswaffen). • Achtung der Menschenrechte und Stärkung der internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts. • Förderung des freien und ungehinderten Welthandels als Grundlage unseres Wohlstandes und Hilfe zur Überwindung der Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen.
Die zukunftsgerichtete Gestaltung der transatlantischen Partnerschaft im Bündnis und die Pflege des engen und vertrauensvollen Verhältnisses zu den USA sollen zentrales Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bleiben. Die Grundfragen der europäischen Sicherheit könnten auch künftig nur gemeinsam mit den USA beantwortet werden. Die Bundesregierung behauptet, dass die deutsche Sicherheitspolitik vorausschauend sei. Die neuen Risiken und Bedrohungen für Deutschland hätten ihren Ursprung in regionalen und globalen Entwicklungen, oftmals weit jenseits des europäischen „Stabilitätsraumes“. Sie seien vielgestaltig, dynamisch und breiteten sich aus, wenn man ihnen nicht frühzeitig entgegenwirke. „Sicherheitsvorsorge“ könne daher am wirksamsten durch Frühwarnung und präventives Handeln gewährleistet werden. Dabei sei das gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einzubeziehen. Deutsche Sicherheitspolitik beruhe auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Risiken und Bedrohungen will die Bundesregierung mit einem abgestimmten Instrumentarium begegnen. Dazu sollen diplomatische, wirt-
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schaftliche, entwicklungspolitische, polizeiliche und militärische Mittel, und, wenn geboten, auch bewaffnete Einsätze gehören.26 Diese programmatischen Aussagen müssen mit der Realität, also den Positionen und Interessen anderer Mächte, konfrontiert werden. Die von Bush im September 2002 vorgelegte „Nationale Sicherheitsstrategie“ für einen Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik ist auch ein Beleg für die Entschlossenheit einer weltweit wirksamen Hegemonialpolitik. Der machtpolitische Abstand zu allen anderen Staaten dieser Erde, der gegenwärtig besteht, soll unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Dabei wird ein ganz bestimmter amerikanischer Internationalismus verfolgt, der die amerikanischen Werte und nationalen Interessen reflektiert. Man sei zwar bemüht, internationale Unterstützung zu erhalten, werde aber notfalls auch ohne zu zögern alleine handeln.27 Das bisherige Konzept der Abschreckung und Eindämmung hat offensichtlich ausgedient. Jetzt gilt alleine die Strategie der überwältigenden militärischen Überlegenheit. Die vorbeugende Selbstverteidigung findet mit Hilfe von „Präventivkriegen“ statt, unabhängig von irgendwelchen Bedenken in irgendeinem anderen Teil der Welt. Angesichts des Paradigmenwechsels in der amerikanischen Außenpolitik, der zu nichts anderem als einer neoimperialen Strategie des Ausbaus und der Verfestigung der weltweiten amerikanischen Vorherrschaft geführt hat, stellt sich immer drängender die Frage, zu welchen konkreten militärischen und sicherheitspolitischen Folgen diese Strategie geführt hat. Offensichtlich sind die europäische und die amerikanische Weltsicht aufgrund der ungleichen Machtverteilung und die daraus resultierende Politik fundamental verschieden. Das ändert nichts daran, dass die Bundesregierung unter Führung des 26 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, passim. 27 Die offizielle Version der Nationalen Sicherheitsstrategie ist verfügbar: http: // www.whitehouse.gov / nsc / nss.pdf.
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damaligen Kanzlers Schröder und des damaligen Außenministers Fischer sich nachhaltig von den Anschlägen des Jahres 2001 beeinflussen ließen. Nach der Erklärung ihrer „uneingeschränkten Solidarität“ hat sie die Bundesrepublik Deutschland mit militärischem Einsatz in die internationale Verantwortung geführt, so wie sie diese damals definiert hatte. Bekanntlich stehen mittlerweile viele tausend deutsche Soldaten in zahlreichen Weltgegenden (z. B. Afghanistan, Kosovo, Usbekistan, Bosnien, Mazedonien, Horn von Afrika, Kuwait). Es gibt Zweifel daran, dass die Bundeswehr für solche Operationen auf Dauer und im wechselnden Einsatz ihrer Soldaten hinreichend vorbereitet ist. Unterdessen war sich auch die Regierung Schröder / Fischer sicher, dass nach den Attentaten des Jahres 2001 für die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte der Bündnisfall eingetreten war und dass seitdem Außenpolitik, Europapolitik, Krisenmanagement, Erweiterung der EU, Globalisierung und Sicherheitspolitik im Zeichen globaler Terrorismusbekämpfung stehen. Umso beunruhigender ist es, dass im Hinblick auf die Vorbereitung der Bundeswehr die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, also zwischen verringerten Kapazitäten und erweiterten Aufgabenstellungen hervorgehoben wird. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass eine Vielzahl von Reformanstrengungen unternommen worden ist. Diese Bemühungen haben aber bislang nicht im erforderlichen Umfang zur Beseitigung der Engpässe beim Material beigetragen. Nach wie vor sind die Lufttransportkapazitäten skandalös unterentwickelt. Die Truppe leidet unter strukturellen und personellen Problemen. Es handelt sich um eine besondere Form organisierter Unverantwortlichkeit, wenn man daran denkt, dass in einem größeren Krisenfall eine rasche und vollständige Evakuierung aus Afghanistan von der Bundeswehr mit eigenen Kräften nicht geleistet werden könnte. Aus logistischen Zwängen kooperiert man unterdessen mit dem Regime in Usbekistan, das die Truppen der USA wegen der amerikanischen Kritik an seiner Menschenrechtspolitik des Landes verwiesen hat. Diese Konstellation zeigt, dass manche Aspekte der internationalen Sicher-
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heitspolitik nur noch mit einer gehörigen Portion Ironie zu ertragen sind. An der sicherheitspolitischen Orientierung Deutschlands wird sich womöglich nichts ändern, wenn die Einschätzung richtig ist, dass dem militärischen Engagement des Landes eine übergeordnete politische Interessenorientierung fehlt. In einer Analyse der Rolle Deutschlands im Kampf gegen den Terror kommt man zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung nur auf Anfragen reagiert, statt eine eigene planerische Perspektive zu entwickeln. Deutsche Sicherheitspolitik werde vor allem durch Minimalismus, Desinteresse und Sparzwang auf politischer Ebene geprägt. Dies könne durch Engagement und Improvisation auf militärischer Ebene nicht mehr ausgeglichen werden.28 Der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung, hat zwar im April 2008 dem neuen Afghanistan-Beauftragten der UNO (Kai Eide) eine Aufstockung der Hilfe für den (zivilen!) Wiederaufbau des Landes von 80 auf 140 Millionen Euro im Jahre 2008 zugesagt. Das Engagement bei der Ausbildung afghanischer Polizisten wolle die Bundesregierung auch erhöhen. Das alles (und noch mehr) wird vor dem Hintergrund einer Fülle eklatanter Mängel beim Einsatz der Bundeswehr, für welche der Verteidigungsminister eigentlich zuständig ist, versprochen. Neuere Studien sind zwischenzeitlich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Bundeswehr auf die drohende Lageverschlechterung in Afghanistan im Einsatzgebiet materiell nicht vorbereitet ist.29 Die Defizite sollen haarsträubend sein. Man rechnet mit zukünftigen Opfern, wenn der Schutz der Feldlager weiter so unzureichend bleibt. In die Lager abgeschossene Granaten werden mangels entsprechender Technik nicht vorher abgefangen. Tote habe es bei Beschuss nur deshalb noch nicht gegeben, weil die Zelte bei Einschlägen zufällig leer waren oder veraltete Geschosse nicht explodiert Insgesamt und zutreffend: Hacke, S. 44, 45. Ausführlich: Lange, Die Bundeswehr in Afghanistan – Personal und technische Ausstattung in der Einsatzrealität –, SWP-Studie 2008 / S 09 (März 2008). 28 29
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sind. Patrouillen können wegen veralteter, nicht satellitengestützter Funkgeräte in Funklöchern im Hindukusch-Gebirge keine Verbindung zu den Einsatzzentralen halten. Die deutschen Soldaten sind auf afghanische Mobiltelefone angewiesen. Auf eine parlamentarische Anfrage hin musste die Bundesregierung auch einräumen, dass die Ausstattung mit Hubschraubern unzureichend ist. Tagelang können auch in Notfällen keine Rettungsflüge unternommen werden. Nachtflüge finden wegen mangelnder Ausrüstung nur jede dritte Nacht statt. Eine schnelle Umrüstung von Fluggerät (Sikorsky CH53-Helikopter) ist aus Kapazitätsgründen gegenwärtig nicht möglich. Lediglich das Kommando Spezialkräfte (KSK) gilt als durchweg gut ausgerüstet.30 Hier ist nicht zu entscheiden, ob die in der Öffentlichkeit geübte und zum Teil harsche Kritik an dem Bundesverteidigungsminister, der sich seine Aufgabe in Berlin nicht ausgesucht habe, sondern vom Vorsitzenden der hessischen CDU, Roland Koch, als „Statthalter“ vorgeschickt worden sei, zutrifft. Richtig dürfte aber auf jeden Fall sein, dass man sich damit auf keinen Fall aus der Verantwortung stehlen kann. Der Minister hat dafür zu sorgen, dass die im Einsatz befindlichen Soldaten bestmöglich ausgerüstet sind. Genau davon kann jedoch gegenwärtig keine Rede sein. In der Öffentlichkeit wird deshalb schon die Frage gestellt, ob das noch Chuzpe oder schon Pflichtverletzung ist. Die schweren Mängel sind bekannt, werden aber nicht abgestellt. Über die Verantwortlichkeit des zuständigen Amtsträgers hinaus will man wissen, wie der Deutsche Bundestag immer wieder die Afghanistan-Mandate verlängern kann, ohne das Menschenmögliche zum Schutz der eingesetzten Soldaten getan zu haben. Die Kosten würden sich auf den Bruchteil des Preises eines Eurofighters belaufen. Aber Truppenführung und politische Leitung lasse dies alles kalt. Der Vorrang des Einsatzes vor dem Grundbetrieb interessiert dort offensichtlich nicht.31 30 Zitiert nach: Brüggmann, in: Handelsblatt Nr. 76 vom 18. / 19. / 20. April 2008, S. 5. 31 So Brüggmann (wie Fn. 30), S. 8., li. Sp.
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Im Hinblick auf den Irak wird der Bundesregierung unterdessen vorgeworfen, dass sie ihre Argumente viel zu ungeschickt und undiplomatisch vorgetragen habe. Die Regierung Schröder / Fischer habe Präsident Bush als Kriegstreiber hingestellt und dadurch die völlige machtpolitische Isolierung Deutschlands bewirkt. Sie habe den wichtigsten Freund und Partner beispiellos brüskiert und damit das zentrale außenpolitische Interesse Deutschlands, die transatlantische Bindung zu den USA, auf Spiel gesetzt. Eine kalkulierte Interessensabwägung sei in Berlin offensichtlich nicht möglich gewesen. Die Bundesregierung habe durch ihren „deutschen Weg“ zudem eine europäische Position verhindert. Derartige Einschätzungen schließen nicht aus, dass sich die Bundesrepublik Deutschland durch die Zusammenarbeit zwischen ihren und amerikanischen Sicherheitsbehörden im Hinblick auf die Begründung für einen angeblich erforderlichen Angriff auf den Irak eine besondere Verantwortung aufgeladen hat. In China kam man schon vor etwa 2. 500 Jahren zu dem Ergebnis, dass der „erleuchtete Herrscher“ und der „weise General“ die Intelligentesten seiner Armee als Spione einsetzen und auf diese Weise hervorragende Erfolge erzielen wird. Spione seien ein äußerst wichtiges Element des Krieges, denn von ihnen hänge die Fähigkeit der Armee ab, sich zu bewegen.32 Der amerikanische General und damalige Außenminister Powell hatte einige Zeit danach (5. Februar 2003) versucht, den Vereinten Nationen die Notwendigkeit eines Krieges gegen den Irak zu erklären.33 Dabei gab er an, dass alles, was er sagen werde, aus soliden Quellen stamme und dass er nur Fakten und Schlüsse vortragen werde, die auf belastbaren Informationen beruhen. Im Wesentlichen behauptete dieser erfahrene ehemalige Soldat, dass der Irak trotz UNO-Sanktionen weiter an Massenvernichtungswaffen baue und dabei auch Sunzi, S. 157. Es gibt allerdings Darstellungen, denen zufolge der amerikanische Präsident schon nach nur zwei Monaten den geheimen Auftrag gegeben habe, Pläne für einen Krieg gegen den Irak auszuarbeiten. Ausführlich: Woodward (Angriff). 32 33
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mobile Biowaffenlabore einsetze. Diktatur und Terrorismus seien im Irak eine tödliche Kombination eingegangen. Heute wird öffentlich behauptet, dass nichts von dem, was Powell damals sagte, der Wahrheit entspricht. Zum Zeitpunkt seiner Rede habe es keine irakischen Massenvernichtungswaffen und keine Verbindungen zur al-Qaida gegeben, zumindest sind dafür bis jetzt keine gerichtsverwertbaren Beweise vorgelegt worden. Mittlerweile kann man lesen, dass der deutsche Geheimdienst mit der Rechtfertigung dieses Krieges mehr zu tun hatte als ihm heute lieb ist. Seine Agenten hätten Washington einen „zentralen Beleg zum Anfachen der Kriegshysterie“ geliefert, das heißt Informationen über angebliche Biowaffen. Dach und Fassade der Kriegskonstruktion stammten aus Amerika, aber eine der tragenden Säulen des „Phantasiegebäudes“ komme aus Deutschland. Sie gingen auf einen einzigen Mann zurück, der den Namen „Rafed“ trägt und „Curveball“ genannt wird.34 Seinerzeit sah auch die CIA in ihm eine Quelle von unschätzbarem Wert. Heute gilt der Informant als Hochstapler, der für das „größte Fiasko in der Geheimdiensthistorie“ (Forsyth) verantwortlich gemacht wird. Der Mann wurde (und wird) vom Bundesnachrichtendienst (BND) betreut. Der erste Kontakt entstand im Winter des Jahres 1999 im Aufnahmelager Zirndorf, wo er als Asylbewerber befragt wurde. Im weiteren Verlauf berichtete die Quelle insbesondere über angebliche Details mobiler Produktionsanlagen für biologische Kampfstoffe. Eine Reihe von Überprüfungen der Richtigkeit seiner Angaben blieb jedoch erfolglos. Dessen ungeachtet wird Curveball wenige Wochen nach seiner Ankunft in Zirndorf als Asylbewerber anerkannt. Nach dem 11. September 2001 erhält er eine dramatische Bedeutung. Im Rahmen der Vorbereitung der Rede von Powell greifen die Amerikaner auf seine Angaben zurück, obschon Curveball seit über einem Jahr von den deutschen Diensten nicht mehr genutzt worden sein soll. Die Informationen über die mobilen Labore werden von der CIA angeblich als „absolut zuver34
Über den „Aufstieg“ von Curveball: Drumheller, S. 81 ff.
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lässig“ eingeschätzt. Der damalige Präsident des BND, August Hanning, soll allerdings am 7. November 2002 erklärt haben, dass der BND keine eigenen Erkenntnisse darüber habe, dass Saddam Hussein al-Qaida unterstützte. Der BND teile auch nicht die Einschätzung der Amerikaner, dass Hussein nach Nuklearwaffen trachte. Wenige Tage später (13. November 2002) soll Hanning von Hinweisen gesprochen haben, wonach der Irak biologische und chemische Waffen verberge, die jedoch schwer aufzufinden seien. In den folgenden Wochen hätte der damalige Chef der CIA, George Tenet, die deutsche Seite um Genehmigung für die öffentliche Verwendung der Angaben von Curveball gebeten. Nach Beratungen auf hoher und höchster Ebene im Dezember 2002 soll Hanning den Auftrag erhalten haben, ein Antwortschreiben zu formulieren. Nun (20. Dezember 2002) habe dieser die damaligen „Erkenntnisse“ im Kern als plausibel und glaubhaft beurteilt und gleichzeitig als „nicht bestätigt“ bezeichnet. Man habe eine weitere Klärung durch den BND gegenüber den UNO-Inspektoren zugesagt. Unter der Voraussetzung wirksamen Quellenschutzes soll Hanning gegenüber Tenet die öffentliche Verwendung der Informationen freigestellt haben. Auf das entsprechende Schreiben des BND-Präsidenten werde auch noch heute verwiesen, wenn es um die deutsche Verantwortung in dem „Desaster“ geht. Der damalige deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gunter Pleuger, soll dieses als eindeutige Warnung interpretiert haben und davon ausgegangen sein, dass die Informationen von Curveball danach von dem Amerikanern nicht mehr verwendet werden dürfen. Schon vorher (Herbst 2002) soll ein Vertreter des BND gegenüber einem führenden und für Europa zuständigen Mitarbeiter der CIA (Drumheller) in Washington erklärt haben, dass man Curveball für psychisch instabil halte und dieser womöglich ein Hochstapler sei. Chronisten haben den Eindruck gewonnen, dass der Brief von Hanning von der CIA und dem Weißen Haus als „Freifahrtschein“ gewertet wurde. Fünf Wochen nach dem Eingang
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des Schreibens hat der amerikanische Präsident in seiner Rede zur Lage der Nation mitgeteilt, dass Hussein mehrere mobile Waffenlabore besitze und bislang keinen Beweis erbracht habe, dass sie vernichtet worden seien. Gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages soll Hanning am 12. Februar 2003 nach dem Auftritt von Powell vor der UNO am 5. Februar 2003 erklärt haben, dass Powell das bisherige Lagebild des BND bestätigt habe. Gleichzeitig soll Hanning vor einem Krieg gewarnt und betont haben, dass es Indizien aber keine Beweise gebe. Der Dienst gehe von der Verfügbarkeit von B- und C-Waffen sowie mobiler B-Waffenanlage aus. Weder Hanning noch der zuständige BND-Experte hätten sich von Powell distanziert. Das hat Powell dann allerdings selbst getan, indem er später seinen Auftritt vor dem Sicherheitsrat der UN als „schmerzlichen, sehr schmerzlichen Moment in meiner Laufbahn“ bezeichnete und von einem „Schandfleck“ sprach, sich also gewissermaßen von sich selbst distanzierte. Spätestens seit Juli 2007 hat er nun Gelegenheit, seine Schmerzen zu verarbeiten, da er sich aus der Politik zurückgezogen hat und zum Partner einer Risikokapitalgesellschaft avanciert ist. Nachdem der am 19. März 2003 begonnene Feldzug gegen den Irak zunächst „siegreich“ beendet worden war, wurde die Suche nach den angeblich vorhandenen Massenvernichtungswaffen intensiver aber weiter erfolglos fortgesetzt. Erst jetzt sollen amerikanische Spezialisten angeblich die ganze Lebensgeschichte von Curveball überprüft haben, was der BND nie getan habe. Dabei sei man ständig auf ein Gemisch aus Lügen und Halbwahrheiten gestoßen. Trotz der Arbeit des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages über die Zulässigkeit der Kooperation zwischen deutschen und amerikanischen Diensten gilt der Fall „Curveball“ als unaufgearbeitet und die politische Verantwortung als unaufgeklärt. Die Aussagen dieses Informanten habe man deshalb als plausibel angesehen, weil sie so schwer überprüfbar gewesen seien. Deren Aufarbeitung sei „handwerkliche Kreisklasse“. Im Grunde habe der BND bis zuletzt an seinen Zuträger geglaubt, dessen
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Verhaltensweisen von anderen Diensten als typisch für Hochstapler eingeschätzt worden sein sollen. Erst im März 2004 habe die CIA Curveball direkt befragen dürfen. Sie sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sich der Informant die ganze Geschichte nur ausgedacht habe und ein Betrüger sei. Nach Auffassung des Sonderbeauftragten für die Suche nach den Massenvernichtungswaffen, David Kay, sei der BND selbst nicht willens oder in der Lage gewesen, die Quelle richtig einzuschätzen. Die Verweigerung einer Befragung durch den CIA habe er für „unehrlich, unprofessionell und verantwortungslos“ gehalten. Für den ehemaligen Stabschef von Powell, Wilkerson, ist klar, dass die Deutschen zumindest eine Mitschuld tragen. Der BND sei dagegen immer noch der Auffassung, dass man nur Informationen und keine Einschätzungen weitergegeben habe und dass die USA die Verantwortung für die Vorgänge im Sicherheitsrat zu tragen hätten. Im Rückblick auf die damaligen Akteure bietet sich heute jedenfalls ein eindrucksvolles und vergleichsweise klares Szenario: Saddam Hussein wurde gehängt, Colin Powell ist im Investmentbanking tätig, David Kay wirkt als selbstständiger Berater, Hans Blix arbeitet wieder für die schwedische Regierung, George Tenet befindet sich im Ruhestand, der BND-Experte hat den Dienst verlassen, August Hanning ist beamteter Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und für Sport geworden, Ernst Uhrlau ist ihm auf dem Präsidentensessel des BND gefolgt, Gerhard Schröder ist für die russische Firma Gazprom mit Sitz im Schweizer Kanton Zug, die französische Rothschild-Bank, das schweizerische Verlagshaus Ringier, u. a. tätig, Frank-Walter Steinmeier ist nicht mehr Chef des Bundeskanzleramtes und Beauftragter für die Koordination der Nachrichtendienste des Bundes, sondern zur Zeit Bundesminister des Auswärtigen, „Vizekanzler“ und in einem Wahlkreis des Landes Brandenburg Kandidat für die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag. Dieses Panoptikum erlaubt keine Antwort auf die Frage, ob angesichts der legislativen „Auf- und Nachrüstung“ zur Stärkung der Exekutive und der dadurch ermöglichten (vermeint-
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lich) sachgerechten „Performance“ der bestehende parlamentarische Kontrollauftrag in diesen Bereichen auch nur halbwegs erfüllbar ist. Das Gesetz über das Parlamentarische Kontrollgremium ist zuletzt im Jahre 1999 einer Reform unterzogen worden. Die darin erzielten Verbesserungen reichen aber zumindest nach der Bewertung eines journalistischen Beobachters nicht aus, um eine effektive und parlamentarische Partnerschaft und Kontrolle zu sichern. Bekanntlich führt die Unzufriedenheit hierüber im Jahre 2006 zur Einrichtung des „BND-Untersuchungsausschusses“ im Deutschen Bundestag, der seither die „Behördenpsyche“ der Dienste schwer belaste. Es werden zwar ständig alle Register gezogen, so ein Kommentator, um die Arbeit des Ausschusses zu behindern, ihm möglichst wenig Material zu überlassen, Aussagenehmigungen einzuschränken und die Medien fernzuhalten. Dieser „Abnutzungskampf“ koste aber viel Kraft. Auch deshalb stimmten die großen Parteien angeblich mittlerweile der Forderung nach einer Reform des Kontrollgremiums zu. Sichtbares Zeichen der Ohnmacht dieses geheim tagenden Ausschusses sei die Tatsache gewesen, dass z. B. die Befragung von Kurnaz auf Guantánamo, der Bagdad-Einsatz des BND, die Vorgänge in und um Liechtenstein und „Tripolis“ dem Gremium erst aus der Presse bekannt wurden, was nach dem Bekunden des MdB Stadler übrigens schon immer so war. Auch andere Politiker sollen das Gefühl bekommen haben, dass sie immer wieder bei ihrem Kontrollauftrag in „nebulöse und schattige Zonen“ gerieten und dass ihnen dort zuweilen mehr verschwiegen wurde, als sie für richtig hielten. Bemerkenswerterweise gehen manche derzeitigen Vorschläge zur Reform des Parlamentarischen Kontrollgremiums von konservativer Seite weiter als die der SPD, deren Anregungen Vorbehalte und Skepsis gegenüber parlamentarischen Rechten offenbaren. Die parlamentarische Auseinandersetzung über eine Reform hat aber gerade erst begonnen (2008). Die Vorschläge der politischen „Lager“ sind noch weit voneinander entfernt. Es gibt enormes Verzögerungspotential und die Realisierung zielführender Vorschläge wird noch sehr viel Zeit in Anspruch
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nehmen.35 Das ist auch deshalb bedauerlich, weil offensichtlich bis heute zu wenige Menschen begriffen haben, was etwa in der Zeit vor dem Einmarsch in den Irak in den hier nur anzudeutenden Zusammenhängen wirklich passiert ist. Dazu gehört womöglich der damalige CIA-Chef Tenet, der wenige Tage, nachdem Curveball als Betrüger gebrandmarkt war, sein Amt niederlegte und bemerkte: „Wir waren Gefangene unserer eigenen Geschichte. Wir haben dem Kongress, dem Präsidenten, den Vereinten Nationen und der ganzen Welt falsche Informationen präsentiert. Das hätte nie geschehen dürfen.“
Ein Jahr nach der Hinrichtung von Hussein ist ein amerikanischer Regierungsbericht zu dem Ergebnis gekommen, dass der Irak sämtliche Bioerreger direkt nach dem Golfkrieg 1991 vernichtet und das umstrittene Programm eingestellt habe. Nur aus Angst vor dem Iran habe der Irak das nicht eingestehen wollen. An einer Stelle scheint sich die ganze Sache aber zu einer Erfolgsgeschichte zu entwickeln. Im September 2007 hätten die deutschen Behörden der Einbürgerung von Curveball grundsätzlich zugestimmt und bis heute genieße er den Schutz des BND. Das ist umso bemerkenswerter, als dieser Informant heute angeblich erklärt, dass ihn keine Schuld treffe. Er habe nie gesagt, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügt. Hier ist keine abschließende Aufklärung zu leisten. Immerhin sollte aber ein Satz in Erinnerung bleiben, der sich in dem Bericht der Kommission findet, die in den USA die Geheimdienstarbeit vor dem Irak-Krieg zu bewerten hatte: „Schlimmer als gar keine Quellen zu haben, ist nur, von einer Quelle eingewickelt zu werden, die Lügen erzählt.“36
Wie die Beschreibungen der Entscheidungsprozesse37, die zum Einmarsch in den Irak führten, und die Charakterisie35 Zu weiteren Einzelheiten: Carstens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 92 vom 19. April 2008, S. 8. 36 Insgesamt zitiert nach: Follath / Goetz / Rosenbach / Stark, in: Der Spiegel Nr. 13 vom 22. März 2008, S. 28 ff. 37 Ausführlich: Woodward (Verdrängung).
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rung mancher Verantwortlicher38 zeigen, gab es eine konstitutive Neigung, den Fehlinformationen bzw. Lügen zu glauben, die am besten in die eigene Konzeption passten. Der in der Presse kolportierte und hier zitierte Sachverhalt ändert nichts daran, dass der Einmarsch in den Irak ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg war. Es war schon deshalb richtig, sich am Angriff gegen dieses Land nicht zu beteiligen. Auch aus anderen Gründen erscheint es zweifelhaft, ob sich die Amerikaner im Disput über das Vorgehen gegen Saddam Hussein als „kühle, erfahrene Realpolitiker“ zeigten. Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, dass die Deutschen ihre triftigen Sachargumente gegen einen Krieg emotional, unerfahren und unprofessionell verspielten.39 Es kann aber dahinstehen, ob sich der Handlungsspielraum Deutschlands deshalb nicht verbessert hat, weil man der „Arroganz der Macht“ mit der „Arroganz der Ohnmacht“ entgegengetreten ist.40 In jedem Fall zeichnet sich eine Weltordnung ohne Illusionen ab. Darin werden weder die Werteordnung des Grundgesetzes, universalistische Ideale, eine kraftvolle UN und weitere Gemeinschaftsinstitutionen dominieren. Der Welt steht eine Zeit bevor, die im Wesentlichen von den Vorherrschaftsansprüchen einer Hypermacht geprägt sein wird. Die USA lehnen schon jetzt jegliche Selbstbindung ab und wollen ihr Imperium bis an alle Peripherien der Welt ausdehnen. In einer Weltordnung nach dem Strickmuster einer „pax americana“ gibt es keine Anpassung an eine, wie auch immer geartete Weltpolitik. Die USA fordern vom Rest der Welt Anpassung, letztlich Unterwerfung unter die amerikanischen Interessen und die Übernahme amerikanischer „Werte“ und Prinzipien. Schon jetzt ist offensichtlich, dass Gemeinschaftsinstitutionen gegenüber taktischen Koalitionen bedeutungslos geworden sind. Das oberste Ziel der USA ist die Sicherung von Ressourcen der eigenen Machtentfaltung und die geostrategische Beherr38 39 40
Instruktiv: Woodward (War). Hacke, S. 46, 47. Hacke, S. 49.
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schung der Welt. Die USA sind entschlossen, die von ihnen für wichtig gehaltenen Interessen durch Kriegführung zu realisieren.41 Sie leisten damit die entscheidenden Beiträge zur Ökonomisierung und Militarisierung der internationalen Politik. Die Frage, wo Europa dabei organisatorisch, integrationspolitisch und weltpolitisch hingerät und wo Deutschland bleiben wird, ist unabweisbar. Bei manchen wächst bereits die bohrende Erkenntnis, dass Deutschland ein beträchtliches Maß an Mitschuld, wenn nicht sogar die Hauptschuld für viele Fehlentwicklungen trägt. Die Politik der Spaltung, die man der Regierung Bush unterstellt, betreibe die deutsche Führung selbst. Die Irakkrise habe gezeigt, dass derjenige Europa spaltet, der es gegen die USA einen will.42 Diese Perspektive kann jedoch dann nicht zu überzeugenden Ergebnissen führen, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass es bei der Frage „Krieg oder Frieden?“ durchaus Konstellationen gibt, in denen nur eine kategorische Antwort („Nein“) vertretbar ist. Die bisherigen Ergebnisse der kriegerischen Interventionen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind auch in Verbindung mit der Strategie des Wiederaufbaus und des „Nation Building“ nicht überzeugend. Man mag zwar unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob die Verbreitung der Demokratie in bestimmten Weltgegenden mit „Feuer und Schwert“ grundsätzlich Erfolg versprechend sein kann. Klar ist aber, dass die bisherige Politik weder militärisch-strategisch noch polizeilich-taktisch zu einer Befriedung in Afghanistan und im Irak geführt hat. Große Teile der Bevölkerung beider Länder sind mittlerweile gegen die Präsenz der Amerikaner und anderer ausländischer Truppen sowie gegen die neuen „demokratischen“ Institutionen. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Sicherheit wird auch durch massiven (und zunehmenden) militärischen Einsatz nicht gewährleistet. Der afgha41 Zum „Treibstoff“ des Krieges, Follath, S. 21 ff. Zu Spekulationen über andere mögliche Hintergründe und Motivationen: Unger, Laurent und Hatfield. 42 Insgesamt: Hacke, S. 52 ff.
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nische Präsident Karzai wagt es kaum, Kabul zu verlassen und selbst innerhalb seiner Hauptstadt kann er sich nur im Schutz schwerbewaffneter (ziviler!) amerikanischer Personenschützer bewegen. Die Verfassung steht auf dem Papier. Die Lebenswirklichkeit auf dem Land bleibt davon unberührt. Es gilt die Scharia. Mit einem Satz: Das Demokratisierungsszenario hat sich nicht bewahrheitet.43 Eine Demokratisierung, die als Vehikel westlichen Fortschrittsdenkens dienen soll, ist in bestimmten Ländern grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Im Übrigen gilt, dass bewaffnete Interventionen noch nicht einmal dann gerechtfertigt wären, wenn es darum ginge, demokratisch gewählte Regierungen in inneren Auseinandersetzungen zu schützen. Soldaten sollten nicht für Nationenbildung oder „Wiederaufbau“ eingesetzt werden. Man kann es durchaus für eine verquere Vorstellung halten, dass ein Staat, der in einem anderen Staat einen Völkermord verhindert, zugleich verpflichtet ist, als Retternation politische und wirtschaftliche Hilfe zu leisten. In Anbetracht der Schwierigkeiten, denen sich die USA in Afghanistan und im Irak gegenübersehen, wird sogar von einem Irrweg des Demokratisierungsszenarios gesprochen. Dies gilt in der islamischen Welt vornehmlich dann, wenn es um die Stellung der Religion im öffentlichen Leben geht. Im Westen wird Fortschritt häufig mit Säkularisierung verbunden. Für eine tief in religiösen Vorstellungen verwurzelte Bevölkerung liegt darin jedoch eine Bedrohung.44 Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass auch Supermächte in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sind, die Wirklichkeit in ihrem Sinne zu verändern. Die Bilanz des Präsidenten Bush ist ernüchternd. Sein Amtsnachfolger tritt ein äußerst schwieriges Erbe an. Dazu gehören u. a. zwei Kriege, die weder die latenten noch die offenen Bedrohungen des Terrorismus neutralisieren konnten. Die politische, soziale und ethnisch-religiöse Gemengelage des Mittleren Ostens ist 43 Etzioni, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 124 vom 31. Mai 2007, S. 8. 44 Insgesamt zutreffend: Etzioni (wie Fn. 43).
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eher komplexer und explosiver geworden. Weitere Unsicherheiten zeichnen sich ab, etwa im Hinblick auf die Beziehungen zum Iran. Der Irakkrieg hat die amerikanischen Optionen gegenüber dem Iran erheblich eingeschränkt. Auch hier haben sich die USA in ein strategisches Dilemma manövrieren lassen. Der gegenwärtige Stillstand in der Debatte über einen Rückzug aus dem Irak scheint auch mit der Tatsache zusammenzuhängen, dass die Amerikaner keine Antwort auf die Frage haben, wie sich das irakische Desaster beenden lässt, ohne dass dem Iran daraus in der Folge erhebliche Vorteile zuwachsen. Die Attraktivität des politisch-kulturellen Modells und die moralische Autorität der USA haben sich in strategisch wichtigen Weltgegenden in Luft aufgelöst. Das liegt nicht nur an Abu Ghraib45 und an Guantánamo46, welche die amerikanische Art der Kriegführung nachhaltig diskreditiert haben. Die im Weißbuch (2006) erkennbare Sicherheitsphilosophie der Bundesregierung ist nicht von derartigen Überlegungen geprägt. Teile der bisherigen Sicherheitspolitik konnten sich im Windschatten der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Schirm amerikanischer Schutzversprechen entwickeln. Noch ist das Deutschlandbild in den nahöstlichen Ländern zu positiv besetzt, als dass es sich zur Feindstilisierung für ein terroristisches Projekt eignen würde. Das mag (auch) mit dem Fehlen einer kolonialen Vergangenheit in dieser Region zu tun haben. Die Lage wird sich jedoch ändern, sollte sich die Bundesrepublik Deutschland verstärkt im Nahostkonflikt mit kriegerischen Mitteln engagieren oder versuchen, in Afghanistan als Schutzmacht ein schärferes Profil zu gewinnen.47 Leider musste man schon die ersten entsprechenden Erfahrungen machen. Etliche deutsche Soldaten ha45 Ausführlich: Hersh, S. 19 ff. Über die Exzesse von Abu Ghraib: Koch, S. 51 ff. 46 Vgl. dazu: Sands, S. 143 ff. Über Guantánamo als Basis einer neuen „Rechtsordnung“: Paye, S. 37 ff. 47 Waldmann (Bürgerkrieg), S. 108.
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ben die Entscheidungen ihrer politischen und militärischen Führung mit ihrem Leben bezahlt.48 Daran wird sich nur etwas ändern, wenn es gelingt, zukünftig eine intelligentere und unabhängigere Politik zu machen. Es bedürfte einer längeren Untersuchung, ob die jüngsten Erkenntnisse über die Tätigkeit deutscher ehemaliger und aktiver Polizisten und Soldaten in Libyen erste Anzeichen hierfür sind. Nach jüngeren Informationen haben deutsche Firmen für den lokalen Diktator Gaddafi Sicherheitskräfte ausgebildet und dabei angeblich auch in betrügerischer Weise gegen dienstrechtliche Vorschriften verstoßen. Der BND hat den Einsatz informatorisch begleitet und nach Pressedarstellungen auch beeinflusst. Das Auswärtige Amt soll gewusst haben, was geschah und mehr oder minder regelmäßig Kontakt zu den deutschen Ausbildern gepflegt haben. Gleichzeitig verhandelten Delegationen des Bundesministeriums des Innern mit Libyen über mehrere andere Vorhaben. All das fand unter dem Schirm von Kanzlerbesuchen Gerhard Schröders, Außenministervisiten von Frank-Walter Steinmeier und Aufenthalten des Innenministers Wolfgang Schäuble in Tripolis statt. Man mag mit einem Kommentator das deutsche und europäische Interesse an erträglichen Verhältnissen zu Libyen für begründet halten, ungeachtet der Tatsache, dass dort ein Diktator mit Terrorvergangenheit herrscht. Es gibt dafür vielleicht auch gewichtige Gründe: • Libyen liefert Öl und Gas. Nach Italien ist Deutschland der zweitgrößte Abnehmer. • Seit der (angeblichen) Abkehr Gaddafis vom Terrorismus bemühen sich viele Staaten um weitere Förder- und Lieferabkommen. • Insbesondere der russische Gasprom-Konzern drängt in Libyen sowie in Algerien in den Markt. Wenn es gelänge, die nordafrikanischen Gasvorkommen zu kontrollieren, ge48 Zu den Erfahrungen des „einfachen“ Soldaten: Wohlgetan Über die Gefahren für die Bundeswehr in Afghanistan: Scholl-Latour, S. 79 ff. Zum Kriegsalltag im Irak auch: Herz.
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riete Deutschland noch fester in die „Energieversorgungszange“ von Russland. Gazprom will sich auch am Bau einer zweiten Gasleitung von Libyen nach Italien beteiligen. Verhandlungen mit Algerien über weitere Kooperationen scheinen zudem für das Ziel eines Gaskartells zu sprechen, durch das drei der wichtigsten Lieferanten Westeuropas ihre Preispolitik aggressiver gestalten könnten, indem sie Konkurrenz ausschalten. • In den letzten Wochen und Tagen seiner Amtszeit hat der russische Präsident Putin im April 2008 mit Libyen sogar schon einen Vertrag über die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens geschlossen, das Erdöl und Gas fördern und vermarkten soll. • Bei dieser Gelegenheit (April 2008) wurden auch Rüstungslieferungen von Russland nach Libyen vereinbart. Gaddafi wünscht sich u. a. über ein Dutzend moderne Kampfflugzeuge (Suchoi 35) sowie Flugabwehrraketensysteme. Ein oder mehrere U-Boote sollen möglicherweise hinzukommen. Insgesamt sollen bei dem Besuch Putins Geschäfte von ca. 6 Milliarden Euro abgeschlossen worden sein.49 • Libyen spielt für Europa und Deutschland als Durchgangsland für jährlich ca. 30 000 Migranten aus Afrika eine bedeutende Rolle, ein Umstand, der den ehemaligen Innenminister Schily veranlasste, die Einrichtung von Aufnahmelagern in diesem Land vorzuschlagen. • Deutsche Regierungen pflegen seit Jahrzehnten Verbindungen zu Libyen, um den palästinensischen oder den islamistischen Terror von Deutschland fernzuhalten. Dadurch wollte man übrigens auch der Terrororganisation „Rote Armee Fraktion (RAF)“ Rückzugsräume abschneiden. • In den vergangenen drei Jahren verhandelte Libyen über Hilfeleistungen zur Verbesserung des Schutzes seiner Hafenanlagen und über fachliche Unterweisungen für die Leib49 Zitiert nach: Chimelli, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 91 vom 18. April 2008, S. 10.
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III. Strategie oder Wunschdenken?
wächter Gaddafis sowie für die Geheimpolizei. Das Bundesinnenministerium war zu solchen Verhandlungen bereit. • Von einer gewissen Delikatesse war und ist die Frage, wie es wirken würde, wenn zwar Lehrpersonal für die Personenschützer Gaddafis vorhanden wäre, in Afghanistan aber gleichzeitig der Aufbau der europäischen Polizeimission stockt, eine Tatsache, an der auch der entschlossene – jedoch nur sehr kurze und auch nicht sehr wirkungsvolle – Einsatz des ehemaligen Kommandeurs der GSG 9, Friedrich Eichele, nicht viel (d. h. gar nichts) ändern konnte.
Vor diesem Hintergrund hält zumindest ein Kommentator die Tätigkeit privater Firmen auf diesem Gebiet für eine „sachgemäße“ Wahl. Dies gelte auch unabhängig davon, dass einige Spezialpolizisten zum Einsatz kamen, die ihren Dienststellen Krankheit oder Urlaub vortäuschten. Regierung und Parlament müssten allerdings entscheiden, ob der Staat bindend oder lenkend in diesen Wirtschaftszweig eingreifen soll.50 Schon dieser kleine Exkurs hat Verknüpfungen zum Vorschein gebracht, welche die Komplexität der Aufgabe zeigen. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass die schwierigsten Probleme jenseits der Rechtsebene beginnen. Umso stärker ist das Bedürfnis nach Kontrolle exekutiven Handelns auch und gerade bei der (angeblichen) Terrorismusbekämpfung. Ein Vertrauensvorschuss ist grundsätzlich nicht angezeigt. Wichtiger ist eine klare Analyse der wahren Interessen. Sicherheitsbedürfnisse können nämlich auch vorgetäuscht werden, um in behördlicher Heimlichkeit und politischer Heuchelei die jeweils für opportun erachtete Staatsräson zu realisieren und Interessen der Wirtschaft zu befördern, sogar ungeachtet der „Bumerangeffekte“ für die eigene Sicherheit.
50 Vgl. insgesamt: Carstens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 90 vom 17. April 2008, S. 1.
IV. Altes Europa oder neue Welt? Selbst bislang weitgehend unaufgeregte Beobachter äußern mittlerweile die Befürchtung, dass der Rechtsstaat versagt, wenn er sich nicht endlich auf eine Bedrohung einstellt, die es in diesem Ausmaß noch nicht gegeben habe. Al-Qaida wird als Begriff für „die absolute Bedrohung“ gesehen. In Deutschland schwanke die Diskussion darüber zwischen schriller Aufgeregtheit und fahrlässiger Verharmlosung. Man sieht einen unheimlichen, omnipräsenten Feind im Innern, einen Feind, wie wir ihn angeblich noch nie hatten. In Deutschland wolle eine „Appeasement-Fraktion“, dass diejenigen, die in einem Lager in Afghanistan ausgebildet wurden, nicht ausgewiesen werden, solange sie keine konkreten Anschläge planten oder ihre Papiere nicht plump fälschten. Die Debatte über Unschuldsvermutung und Bürgerrechte werde leider erst dann jäh enden, wenn in diesem Land der erste Anschlag Menschen in Stücke reißen sollte. Die „informationelle Trennung“ (fälschlicherweise als „das alte Trennungsgebot“ bezeichnet), von Nachrichtendienst und Polizei sei angesichts der terroristischen Gefahr zum Anachronismus geworden. Verdächtige Islamisten müssten „systematisch“ abgehört werden. Der Rechtsstaat müsse angesichts der Erkenntnisse, die über den islamistischen Terror vorliegen, bis an seine Grenzen gehen. Bin Laden habe eine Kriegserklärung abgegeben, aus der hervorginge, dass Religion und Glaube im Kampf verteidigt werden müssten.1 Der ansonsten für seine differenzierten Gedanken geschätzte Journalist Hans Leyendecker scheint ein Talent als Grenzgänger zu haben. Es macht hier wenig 1 Leyendecker, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. / 18 April 2004 (Wochenendbeilage).
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IV. Altes Europa oder neue Welt?
Sinn, mit juristischen Feinsinnigkeiten über den rechtlichen und tatsächlichen Charakter des Trennungsgebotes auf manche seiner Thesen zu antworten.2 Das weiß auch Leyendecker trotz seiner Bemerkungen besser. Vielleicht ist auch Einigkeit darüber erzielbar, dass man angesichts der drohenden Gefahren tatsächlich an die Grenzen des Rechtsstaates gehen muss. Allerdings sind dann auch Hinweise über deren Verlauf interessant. Und man wüsste vielleicht auch ganz gerne, wer die notwendigen Grenzziehungen nach welchen Kriterien vornimmt. Ist das etwa schon die „Stunde der Exekutive“? Welche Rolle spielt die Justiz? Hat die Unterscheidung zwischen Gefahr und Verdacht noch eine Bedeutung? Werden Politiker zu Profiteuren einer provozierten Angstneurose oder sollten Abwiegler das Sagen haben, die sich auf die Einsicht „Seien wir ehrlich, das Leben ist lebensgefährlich“ (Erich Kästner) berufen? Welche Maßstäbe gelten für die Gewährleistung von Sicherheit im rechtsstaatlichen Grenzbereich? Ist die „Kultur“ des Ausnahmezustandes vor und hinter den Grenzlinien bereits etabliert? Wissen manche Teilnehmer der öffentlichen Diskussion überhaupt, worüber sie reden? Soll (systematische!) Folter nicht auch zu den Instrumenten gehören, mit denen bewaffnete Abgesandte (militärischer und privater Provenienz) der westlichen Wertegemeinschaft überall auf der Welt, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, Freiheit und Demokratie schützen? Natürlich werden die häufig nur noch von einer Minderheit der Wahlberechtigten legitimierten Machthaber in den jeweiligen freiheitlich-demokratischen Grundordnungen insbesondere die letzte Frage verneinen und betonen, dass es etwa im Irak um die Befreiung der dortigen Bevölkerung von einem grausamen Despoten ging und um die Abwehr eines mehr oder weniger (mal mehr mal weniger) bevorstehenden Angriffs auf verschiedene Zitadellen der freien Welt, auch wenn 2
Ausführlich: Hetzer, der kriminalist 1989, 489 ff.
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die Geeignetheit dieser Strategie mit Blick auf die Terrorabwehr gelegentlich – ausführlich und sachverständig begründet – bestritten wird.3 Sicherheitspolitik darf indes nicht von einer fast schon hysterischen Verdrängung der Tatsache bestimmt werden, dass es absoluten Schutz nicht gibt. Die herkömmliche Politik schafft es in einer ganzen Reihe von Feldern ohnehin nicht, den existentiellen Herausforderungen der Moderne gerecht zu werden. Ausgerechnet beim großflächigen Schutz wichtiger Rechtsgüter scheinen manche dennoch den Eindruck erwecken zu wollen, sie könnten in der Kombination von Allmachtsphantasien und Grundrechtseinschränkungen die Pest der Neuzeit ausrotten. Wir nähern uns am Ende nicht nur den Grenzen des Rechtsstaates, sondern liebäugeln geradezu mit dem Ausnahmezustand. Dann stellt sich das Problem der Souveränität in neuer (oder alter) Weise. Im Zuge der Erörterung der damit verbundenen Fragen dürften die Krokodilstränen über immer geringere Wahlbeteiligungen schnell trocknen. Der bislang relativ gefestigte Grund des deutschen Verfassungsrechts reicht in diesem Zusammenhang aber womöglich nicht mehr aus. Das ist bedauerlich, weil die Europäische Union (EU) bislang auch keine „Patenrezepte“ zur Verhinderung und Verfolgung des neuzeitlichen Terrorismus entwickelt hat. Der Europäische Rat hat auf seiner außerordentlichen Tagung am 21. September 2001 erklärt, dass der Terrorismus eine „wirkliche Herausforderung für die Welt und Europa“ darstellt und dass die Bekämpfung dieses Phänomens eines der vorrangigen Ziele der EU sein werde. Wenige Tage später (28. September 2001) hat der Sicherheitsrat der Vereinten 3 Ausführlich: Clarke. Das ist besonders bemerkenswert, malen einige selbsternannte Sicherheitsexperten doch ein „Eurabien“ als die Zukunft Europas aus und befürchten dessen bevorstehende Eroberung: Ulfkotte (2007), S. 19 ff.; 130. Für andere scheint der „Heilige Krieg in Deutschland“ schon ausgebrochen zu sein, wie z. B. für Ramelsberger. Differenzierter zur Frage, ob es sich bei dem „Krieg gegen den Terrorismus“ um einen neuen Weltkrieg oder um Selbstbetrug im großen Stil handelt: Roy, S. 9 ff.
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Nationen die Resolution 1373 (2001) verabschiedet, in der bekräftigt wurde, dass terroristische Handlungen eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit darstellen. Der Rat hat kurz danach (8. Oktober 2001) versichert, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten mit vollem Engagement koordiniert an der globalen Koalition gegen den Terrorismus unter der Ägide der Vereinten Nationen teilnehmen werden und in enger Abstimmung mit den USA gegen die Finanzquellen des Terrorismus vorgehen wollen. Dies sollte insbesondere durch eine Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen geschehen, die für die Terrorismusbekämpfung zuständig sind: Europol, Eurojust, Nachrichtendienste, Polizeidienste und die Justizbehörden. In dem „Gemeinsamen Standpunkt des Rates“ vom 27. Dezember 2001 über die Bekämpfung des Terrorismus“4 ist erklärt, dass die vorsätzliche Bereitstellung oder Sammlung von Geldern, gleichviel auf welchem Wege und ob mittelbar oder unmittelbar, durch Staatsangehörige oder im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der EU mit der Absicht, diese Gelder zur Ausführung terroristischer Handlungen zu verwenden, oder in Kenntnis dieser Absicht, unter Strafe gestellt wird. Gelder und sonstige Vermögenswerte oder wirtschaftliche Ressourcen von Personen oder Körperschaften mit einem spezifizierten Bezug zum Terrorismus werden eingefroren. Die Begehung terroristischer Handlungen soll durch eine frühzeitige Warnung zwischen den Mitgliedstaaten oder durch Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten verhütet werden. Personen, die terroristische Handlungen finanzieren, planen, unterstützen oder begehen, sollen auf dem Gebiet der EU keinen sicheren Zufluchtsort erhalten. Die Mitgliedstaaten gewähren im Einklang mit dem Völkerrecht und dem jeweiligen innerstaatlichen Recht einander sowie Drittstaaten größtmögliche Hilfe bei strafrechtlichen Ermittlungen oder Strafverfahren im Zusammenhang mit der 4 AblEG Nr. L 344 / 90 vom 28. Dezember 2001. Über die Maßnahmen der EU zur Terrorismus-Abwehr auch: Neisser, S. 227 ff.
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Finanzierung oder Unterstützung terroristischer Handlungen, einschließlich der Hilfe bei der Beschaffung des für die Verfahren notwendigen Beweismaterials, das sich im Besitz eines Mitgliedstaates oder Drittstaates befindet. Die Bewegung von Terroristen oder terroristischen Gruppen soll durch wirksame Grenzkontrolle und die Kontrolle der Ausgabe von Ausweispapieren und Reisedokumenten und Maßnahmen gegen Fälschung und betrügerischen Gebrauch von Dokumenten verhindert werden. Im „Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus“5 ist u. a. festgelegt, was unter einer „terroristischen Handlung“ zu verstehen ist (Art. 1 Abs. 3). Es muss um eine bestimmte vorsätzliche Handlung gehen, die durch ihre Art oder durch ihren Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen kann. Die Handlung muss im innerstaatlichen Recht als Straftat definiert sein und eine der folgenden Zielsetzungen haben: • Einschüchterung der Bevölkerung auf schwerwiegende Weise. • Unberechtigter Zwang einer Regierung oder einer internationalen Organisation zu einem Tun oder Unterlassen. • Ernsthafte Destabilisierung oder Zerstörung der politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder internationalen Organisation durch – Tödliche Anschläge oder Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. – Entführung oder Geiselnahme. – Weitreichende Zerstörungen bestimmter Einrichtungen. – Kaperung von öffentlichen Verkehrsmitteln. – Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung, Bereitstellung, Verwendung bestimmter Waffen. 5
AblEG Nr. L 344 / 93 vom 28. 12.2001.
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– Lebensgefährliche Freisetzung gefährlicher Stoffe; Brandstiftung, Sprengstoffanschläge und die Herbeiführung einer Überschwemmung. – Manipulation oder Störung der Versorgung mit Strom, Wasser oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen und die Drohung mit der Begehung der vorgenannten Taten. – Führung einer terroristischen Vereinigung und die Beteiligung an deren Aktivitäten. Am gleichen Tag hat der Rat die „Verordnung (EG) Nr. 2580 / 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus“6 erlassen, weil er eine Ergänzung der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gegen terroristische Organisationen in der EU und in Drittländern auf Gemeinschaftsebene für erforderlich hielt. Die Verordnung definiert zunächst die Begriffe „Gelder, andere finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen“, „Einfrieren“ und „Finanzdienstleistungen“. Sie sieht vor, alle Gelder, andere finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen, die bestimmten, in einer Liste erfassten Berechtigten gehören bzw. verwahrt werden, einzufrieren. Auch die Bereitstellung von Geldern und die Erbringung von Finanzdienstleistungen etc. werden untersagt. Im „Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung“7 hebt der Rat hervor, dass der Terrorismus einen der schwersten Verstöße gegen die universellen Werte darstellt, auf denen die EU beruht: • Menschenwürde. • Freiheit. • Gleichheit und Solidarität. • Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. 6 7
AblEG Nr. L 344 / 70 vom 28. Dezember 2001. AblEG Nr. L 164 / 3 vom 22. Juni 2002.
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• Demokratie. • Rechtsstaatlichkeit.
In Art. 1 des Beschlusses ist festgelegt, dass jeder Mitgliedstaat der EU die erforderlichen Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass bestimmte vorsätzliche Handlungen, die nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften als Straftaten definiert sind, als terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn sie mit den zitierten Zielsetzungen begangen werden. Bemerkenswert ist dabei der Hinweis, dass der Rahmenbeschluss nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 des Vertrages über die EU niedergelegt sind, zu achten (Art. 1 Abs. 2). Unter „terroristischer Vereinigung“ versteht man einen auf Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu begehen. Ein Zusammenschluss ist organisiert, wenn er nicht nur zufällig zur unmittelbaren Begehung einer strafbaren Handlung gebildet wird. Er muss nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Zusammensetzung oder eine ausgeprägte Struktur haben (Art. 2). Der Rahmenbeschluss sieht auch die Sanktionierung juristischer Personen vor (Art. 7 und 8). Die Europäische Kommission hat in einer „Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament über bestimmte Maßnahmen, die zur Bekämpfung des Terrorismus und anderer schwerwiegender Formen der Kriminalität, insbesondere im Hinblick auf die Verbesserung des Informationsaustausches, zu treffen sind“ einen Vorschlag für einen „Beschluss des Rates über den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit betreffend terroristische Straftaten“ vorgelegt.8 Die Kommission betont zunächst, dass der Terrorismus ein Problem ist, dessen Ursachen und Auswirkungen komplexer 8
KOM (2004)221 endg. 2004 / 0069 (CNS)
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und unterschiedlicher Natur sind. Er vermag das Vertrauen der Bürger und Unternehmen in die Wirtschaftsstrukturen zu zerstören und kann negative Folgen für das Wirtschaftswachstum und die Wahrung eines investitionsfreundlichen Klimas haben. Deshalb müsse die Terrorismusbekämpfung unbedingt auch künftig zu den obersten Prioritäten der EU gehören. Damit der Terrorismus „ausgerottet“ und möglichst an seinen Wurzeln bekämpft werden kann, müsse etwas gegen die Finanzierungsquellen terroristischer Vereinigungen unternommen werden. Dies ist nach Einschätzung der Kommission ein äußerst schwieriges Unterfangen. Sie ist der Überzeugung, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und die Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus miteinander verknüpft werden müssen. Die Zusammenhänge zwischen Terrorismus und anderen Formen der Kriminalität, vor allem der organisierten, sind zwar nicht immer offenkundig. Dennoch bestehen nach Wahrnehmung der Kommission hinsichtlich der Vorgehensweisen und der Finanzierung Verbindungen zwischen diesen beiden Formen der Kriminalität, mitunter sogar zwischen den Vereinigungen selbst. Dies gilt insbesondere für den illegalen Handel mit Waffen, Betäubungsmitteln und Diamanten, aber auch für die Produktfälschung und -piraterie. Auf Unionsebene stellt die Finanzierung der Aktivitäten mittlerweile einen Straftatbestand dar. Daher kann insbesondere in den Fällen gegen terroristische Vereinigungen vorgegangen werden, in denen diese finanzielle Unterstützung aus legalen Quellen erhalten, zum Beispiel über Organisationen ohne Erwerbscharakter oder andere legale Körperschaften. Terroristische Vereinigungen gehen ähnlich wie kriminelle Vereinigungen vor und versuchen auch, sich durch Erpressung, Entführung oder illegalen Handel und Betrug jeglicher Art Geld zu verschaffen. Wie kriminelle Vereinigungen greifen sie auch auf Bestechungspraktiken und Geldwäsche zurück. Die Kommission glaubt, dass es durch Mobilisierung der Staaten im Kampf gegen den Terrorismus und durch Sensibilisierung der Bürger für diesen Kampf möglich sein sollte, die „legalen“ Quellen des Terroris-
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mus auszutrocknen. Sie ist der Überzeugung, dass der Kampf gegen den Terrorismus folglich unter Berücksichtigung der Verbindungen zu anderen Formen der Kriminalität geführt werden muss, um in jeder Hinsicht wirkungsvoll zu sein. Die Kommission plädiert dafür, die vom Rat der EU am 21. Dezember 1998 angenommene Gemeinsame Maßnahme zur Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung9 zu überarbeiten. Diese Maßnahme betrifft nicht nur die organisierte Kriminalität, sondern auch terroristische Vereinigungen, soweit sie insbesondere auf die Straftaten nach Art. 2 des Europol-Übereinkommens abstellt, das auch die Prävention und Bekämpfung des Terrorismus zum Ziel hat. Dabei sind die seit 1998 veränderten Parameter zu berücksichtigen. Dazu zählt die Einführung des Instruments „Rahmenbeschluss“, das zur Angleichung der einschlägigen Strafrechtsvorschriften geeigneter ist als die „Gemeinsame Maßnahme“. Die Kommission will Folgendes erreichen: • Tatsächliche Angleichung der Definitionen von Straftatbeständen und Sanktionen für natürliche und juristische Personen. • Aufnahme eines besonderen Straftatbestandes „Anführen einer kriminellen Vereinigung“. • Definition besonders erschwerender und mildernder Umstände. • Aufnahme von Bestimmungen zur Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden und zur Koordinierung ihrer Tätigkeit.
Vorgeschlagen wird auch die Erstellung einer elektronischen Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, gegen die restriktive Antiterrormaßnahmen gerichtet sind oder gegen die strafrechtlich ermittelt wird. Wie bereits erwähnt, ist das Einfrieren der Gelder und sonstiger Vermögenswerte oder wirtschaftlicher Ressourcen der an terroristischen Handlungen beteiligten Personen, Vereinigungen und Körperschaften 9
AblEG Nr. L 351 / 1 vom 29. Dezember 1998.
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eine der Maßnahmen, die derzeit zur Terrorismusbekämpfung in der EU angewandt werden. Zu diesem Zweck werden Listen erstellt, die regelmäßig aktualisiert und im Amtsblatt der EU veröffentlicht werden. Viele der dort genannten Personen und Vereinigungen bedürfen besonderer Aufmerksamkeit, vor allem im Bankensektor, wo finanzielle Einschränkungen für sie gelten. In jüngerer Zeit sind Zweifel an der Rechtsmäßigkeit der Listen aufgekommen, die vom Europäischen Gerichtshof geprüft werden. Nach Auffassung der Kommission sollte auch die Einrichtung eines effizienten Systems für die Registrierung von Bankkonten angestrebt werden, so dass eine rasche Antwort auf Rechtshilfeersuchen zu Konten und Bankbewegungen ermöglicht wird. In der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit gibt es vor allem im Bereich der Finanzdelikte erhebliche Schwierigkeiten, weil es kaum gelingt, Untersuchungen zu Konten und Bankbewegungen erfolgreich abzuschließen. Eine zentrale Erfassung der Bankkonten könnte dazu beitragen, Kapitalbewegungen im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen, vor allem bezüglich der Finanzierung des Terrorismus und der Geldwäsche, besser zurückzuverfolgen. Das mit dem Rechtsakt des Rates vom 16. Oktober 2001 erstellte Protokoll zu dem Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU enthält bereits Bestimmungen über Auskunftsersuchen zu Bankkonten, Auskunftsersuchen zu Bankgeschäften und Ersuchen um Überwachung von Bankgeschäften.10 Es bedarf auch eines Mechanismus, der das Sammeln und Übermitteln von Informationen ermöglicht und damit das Vordringen terroristischer Vereinigungen in legale Tätigkeitsbereiche verhindert. Wie bereits angedeutet, werden legale Körperschaften von terroristischen Vereinigungen für deren Zwecke, insbesondere ihre Finanzierung benutzt. Ebenso dringen organisierte kriminelle Vereinigungen zum Zwecke 10
AblEG Nr. C 326 / 1 vom 21. November 2001.
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der Geldwäsche in legale Tätigkeitsbereiche vor. Es sollte nicht mehr zweifelhaft sein, dass eine bessere Transparenz juristischer Personen, einschließlich der Organisationen ohne Erwerbscharakter („Gemeinnützigkeit“) sich bei der Prävention sowohl der organisierten Kriminalität als auch des Terrorismus als wirksam erweist. In der Strategie der EU für den Beginn des neuen Jahrtausends ist daher auch richtigerweise die Empfehlung zu finden, dass sich die Mitgliedstaaten bemühen sollten, im Einklang mit den einschlägigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen Daten über die an der Gründung und Leitung der in ihrem Hoheitsgebiet eingetragenen juristischen Personen beteiligten natürlichen Personen zu erheben, um so über ein Mittel gegen das Vordringen der organisierten Kriminalität in den öffentlichen und den legalen privaten Sektor zu verfügen.11 Hinsichtlich der Umsetzung der in dieser Strategie enthaltenen Empfehlungen sprechen sich die Kommissionsdienststellen ausdrücklich für die Ausweitung dieser ursprünglich für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität konzipierten Maßnahme auf die Finanzierung des Terrorismus aus. Natürlich sollten die entsprechenden Aktionen in enger Zusammenarbeit mit den Vertretern der betroffenen Bereiche ausgearbeitet werden. Dabei ist sicherzustellen, dass sich eine verstärkte Transparenz bezüglich der Leiter, Aktionäre und tatsächlichen Nutznießer der Unternehmen nicht negativ auf deren Effizienz und die Höhe ihrer Verwaltungskosten auswirkt. Die Ausgewogenheit zwischen den relevanten Interessen und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit müssen gewahrt werden. Im Hinblick auf eine wirksamere Bekämpfung der Kriminalität und insbesondere des Terrorismus sollte auch die Einführung eines europäischen Strafregisters erwogen werden. Darüber hinaus muss nach den Vorstellungen der Kommission (in der Zwischenphase) ein umfassender Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten und den für die Terrorismusbekämpfung zuständigen Stellen der Union stattfinden. Der 11
AblEG Nr. C 124 / 1 vom 3. Mai 2000.
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Beschluss 2003 / 48 JI des Rates vom 19. Dezember 2002 über die Anwendung besonderer Maßnahmen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus war ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Insgesamt ist die Kommission der Überzeugung, dass die Bekämpfung des Terrorismus und anderer schwerwiegender Formen der Kriminalität verstärkte Anstrengungen erfordern. Sie hält eine Vielzahl von Schritten für geboten: • Beschlussfassungen des Rates unter Beachtung der vorgenannten Gesichtspunkte. • Verstärkung des Rechtsinstrumentariums der Union betreffend kriminelle Vereinigungen und Harmonisierung mit den auf Unionsebene bereits erlassenen Rechtsvorschriften zur Terrorismusbekämpfung durch Ausarbeitung eines Rahmenbeschlusses zur Ersetzung der Gemeinsamen Maßnahme aus dem Jahre 1998. • Erstellung einer Datenbank oder einer konsolidierten elektronischen Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften, gegen die restriktive Antiterrormaßnahmen gerichtet sind oder gegen die wegen terroristischer Straftaten strafrechtlich ermittelt wird. • Ausarbeitung einer europäischen Rechtsvorschrift zur Einrichtung nationaler Kontenregistrierungssysteme in den Mitgliedstaaten, mit der die Identifizierung von Konteninhabern ermöglicht und Untersuchungen im Zusammenhang mit Konten und Bankbewegungen erleichtert würden. • Verbesserung der Transparenz juristischer Personen, um das Vordringen krimineller Gruppierungen und terroristischer Vereinigungen in legale Bereiche zu vereiteln. • Organisierung einer Debatte mit den Mitgliedstaaten über die datenschutzrechtlich unbedenkliche und verhältnismäßige Umsetzung des Instrumentariums und Erörterung des Themas im Forum zur Prävention der organisierten Kriminalität.
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• Debatte über die Einführung eines wirksamen Mechanismus für den Austausch von Informationen über Verurteilungen und Rechtsverluste.
Der Europäische Rat hat nach den Anschlägen von Madrid am 25. März 2004 eine Erklärung über die Bekämpfung des Terrorismus angenommen, in der erneut betont wird, dass terroristische Handlungen Angriffe gegen die Werte sind, auf denen die EU gegründet ist. In der Erklärung wird die Erforderlichkeit eines revidierten Aktionsplans zur Bekämpfung des Terrorismus hervorgehoben, um den Aktionsplan zu ergänzen, der bereits nach den Anschlägen im September 2001 beschlossen worden war. Die neuen strategischen Ziele, die in dem Aktionsplan vom 7. Juni 2004 aufgeführt werden, sind mit folgenden Stichworten beschrieben: • Vertiefung des internationalen Konsensus und Verstärkung der internationalen Anstrengungen zur Terrorismusbekämpfung. • Erschwerung des Zugangs für Terroristen zu finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen. • Maximierung der Fähigkeiten zur Aufdeckung, Untersuchung, Verfolgung und Verhütung terroristischer Angriffe innerhalb der Institutionen der EU. • Schutz der Sicherheit der internationalen Verkehrsverbindungen und Sicherung eines wirksamen Grenzkontrollsystems. • Verstärkung der Fähigkeiten zur Bewältigung der Folgen eines terroristischen Angriffs. • Identifizierung und Behandlung der Faktoren, die im Hinblick auf Unterstützung und Rekrutierung für den Terrorismus erheblich sind. • Entwicklung von Maßnahmen zur Unterstützung von Drittländern bei der Verstärkung ihrer Fähigkeiten zur Terrorabwehr im Rahmen der Außenbeziehungen der EU.
Der (ehemalige) Europäische Koordinator für die Bekämpfung des Terrorismus, Gijs de Vries, hatte am 13. Mai 2004
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während eines Besuchs in den USA Überlegungen zur Strategie Europas im Kampf gegen den Terrorismus und die Zusammenarbeit mit den USA angestellt. Er ging davon aus, dass Europa und die USA „natürliche Partner“ im Kampf gegen den Terrorismus sind. Angesichts der Tatsache, dass der Terrorismus ein grundlegender Angriff auf unser gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches System sei, sah er die Versuchung, jedwedes Mittel bei der Bekämpfung der damit verbundenen Bedrohungen einzusetzen. De Vries wies aber zutreffend darauf hin, dass wir beim Kampf gegen den Terror darauf achten müssen, die Rechte und Freiheiten zu bewahren und zu beschützen, welche die Terroristen zerstören wollen. Andernfalls hätten die Terroristen gewonnen. Der Kampf könne nur dann erfolgreich geführt werden, wenn die Legitimität gewahrt bleibe. Wie auch immer: In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich im internationalen Terrorismus ein fundamentaler Strategiewechsel vollzogen. Aus einer überwiegend innerstaatlichen Bedrohung ist eine Herausforderung der internationalen Ordnung geworden. Wie bereits angedeutet, ist die wesentlich polizeiliche Aufgabe der Terrorismusbekämpfung zu einem erheblichen Teil in den Bereich der nach außen tätigen Nachrichtendienste und des Militärs abgewandert. Terror hat sich von einem taktischen Element im Rahmen einer komplexen politisch-militärischen Strategie in eine selbständige politische Strategie verwandelt. Der Grund ist einfach: Man hat die dramatisch gestiegene Verletzlichkeit hoch entwickelter Länder entdeckt. Die Wirkung der Anschläge wird durch die hohe Mediendichte in solchen Ländern noch verstärkt. Terroristische Anschläge sollen heutzutage wirtschaftliche Effekte in den angegriffenen Ländern erzeugen. Auch das ist nicht allzu erstaunlich. Seit einiger Zeit ist bekannt, dass sich moderne Gesellschaften überwiegend nicht mehr politisch, d. h. über das staatliche System, sondern über die sozioökonomische Ordnung integrieren. Deshalb ist die terroristische Strategie wesentlich einfacher und robuster geworden. Sie macht Anleihen beim Guerillakrieg, dem es weniger um militärische Niederringung als um wirtschaftliche
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Zermürbung geht. Auch diese Einsicht ist nicht neu: Partisanen gewinnen, wenn sie nicht verlieren.12 Die von Partisanen Angegriffenen dagegen verlieren, wenn sie nicht gewinnen. Auch aus diesem Grund mag man die jüngsten Formen des Terrorismus auch als die äußerste Zuspitzung asymmetrischer Kriegsführung ansehen. Die moderne Ausrichtung des Terrorismus hat für die Täter mehrere Vorteile. Dazu gehört auch die Unabhängigkeit von einer hierarchischen Führung. Einzelne Zellen können jederzeit an jedem Ort ohne permanente Koordination und Kontrolle als Teil einer netzförmigen Struktur zuschlagen. Infiltration oder gar „Enthauptung“ sind nicht mehr in erwartetem Umfang Erfolg versprechende Elemente einer Gegenstrategie. Der Verzicht auf politische Dogmen erhöht die Unberechenbarkeit der Akteure. Als einigendes Band genügt der Hass auf Amerika. Flache Hierarchien und politisch-ideologische Konturlosigkeit sind Teile des terroristischen „Erfolgsrezepts“, auch im Hinblick auf das Finanzierungssystem. In der Perspektive von Clausewitz schrieben sich die Gegner im Verlauf eines Krieges wechselseitig das Gesetz des Handelns vor. Al-Qaida behält aber das Gesetz des Handelns weitgehend selbst in der Hand, weil die „Mitglieder“ mit Tarnkappe kämpfen. Insbesondere die Amerikaner sehen sich deshalb zur permanenten Attacke gezwungen. Dabei treffen sie Unbeteiligte und / oder verlieren den moralischen Kredit, den sie unmittelbar nach dem 11. September 2001 erhalten hatten. Der amerikanische Präsident hatte noch am Abend dieses Tages die Parole vom „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgegeben. Krieg ist und bleibt aber eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen einander rechtlich gleichgestellten Gegnern. Die Tatsache, dass eine Seite im Recht ist, verleiht ihr im Krieg selber keine Rechte, die der Gegner nicht ebenfalls hätte. Der Krieg ist kein Rechtsmittel, sondern ein Gottesurteil (Immanuel Kant). Die Macht entscheidet darüber, auf welcher Seite das Recht ist. Recht hat am 12
Ausführlich: Mao Tse-tung.
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Schluss der Sieger, nicht der Gerechte. Es bleibt dem Zufall überlassen, ob der Sieger auch der Gerechte ist. Der Terrorismus ist aber rechtlich „ungleich“. Hinter ihm stehen Gewaltverbrechen, die Angst und Schrecken verbreiten sollen. Der Krieg gegen den Terrorismus lässt den Terrorismus verschwinden, gerade indem er aus ihm einen Krieg macht; aus den Terroristen werden Soldaten (oder auch nur „feindliche Kombattanten“) und ihre Verbrechen mutieren zu einem erheblichen Teil in erlaubte Kriegsakte. In Wirklichkeit ist Terrorismus gerade kein Krieg, sondern Verbrechen. Terroristen können folglich auch nicht die Geltung des Kriegsrechts für sich in Anspruch nehmen. Umgekehrt muss der Staat, der sie bekämpft, nach „normalem“ Recht vorgehen; er kann sich nicht auf Kriegsrecht berufen. Flächenbombardierungen oder die Zerstörung ganzer Städte waren bis jetzt keine anerkannten Mittel der Verbrechensbekämpfung. Die Formel vom Krieg gegen den Terrorismus ist also in sich widersprüchlich.13 Aber auch wenn sich die Politik gegenüber den horizontal vernetzenden Medien des Marktes wie der Kommunikation zur „hobbistischen Ursprungsgestalt eines hierarchischen Sicherheitssystems“ (Habermas) zurückbildet, gerät sie unter Druck: „Ein Staat, der alle Optionen auf die dumme Alternative von Krieg und Frieden bezieht, stößt bald an Grenzen der eigenen Organisationsfähigkeiten und Ressourcen. Er lenkt auch die Verständigung mit konkurrierenden Mächten und fremden Kulturen in falsche Kanäle und treibt die Koordinationskosten in schwindelnde Höhen. In den Vereinigten Staaten selbst unterminiert das auf Dauer gestellte Regime eines „Kriegspräsidenten“ schon heute die Grundlagen des Rechtsstaates. Ganz abgesehen von den außerhalb der Landesgrenzen praktizierten oder geduldeten Foltermethoden, beraubt das Kriegsregime nicht nur die Häftlinge in Guantánamo der Rechte, die ihnen nach der Genfer Konvention zustehen. Es räumt den Sicherheitsbehörden Handlungsspielräume ein, die die verfassungsmäßigen Rechte der eigenen Bürger einschränken.“14 So insgesamt zutreffend: Fisch, in: www.faz.net (30. Oktober 2002). Habermas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 91 vom 13. April 2003, S. 33. Zu den praktischen Folgen: Grey, S. 285 ff. 13 14
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Diesem Druck scheint der ehemalige Bundesminister des Innern und für Sport, Otto Schily, erfolgreich widerstanden zu haben. Er war seinerzeit davon überzeugt, dass alle irgendwie verfügbaren Informationen viel stärker zentralisiert ausgewertet und international, insbesondere im Rahmen der EU, ausgetauscht werden müssen. Bei ihm bestand auch Klarheit hinsichtlich der Motive von al-Qaida. Nach den damaligen Erkenntnissen des Ministers handelt es sich um eine „geistige Deformation“, der schwer auf die Spur zu kommen sei. Zudem befänden wir uns in einem „grundlegenden zivilisatorischen Konflikt“. Schily hatte auch schon Überlegungen angestellt, wie man in diesem Konflikt mit todessüchtigen Terroristen bestehen könnte: „Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben.“
Einerseits teilte der Minister der schutzbefohlenen Bevölkerung Deutschlands mit, dass wir uns innerhalb Europas gegen den Terrorismus im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung wehren und dass dies etwa gezielte Tötungen, mit Ausnahme bestimmter Notwehr- oder Notstandsmaßnahmen im Sinne des „finalen Rettungsschusses“, ausschließe. Andererseits war (ist) er der Überzeugung, dass der Kampf gegen den Terrorismus außerhalb Europas im Extremfall – wie etwa in Afghanistan – auch den Einsatz militärischer Mittel erfordere. In diesem Fall sei es dann auch zu „Kollateralschäden“ gekommen: „Das ist dann Krieg“.
Schily sah sich vor die schwierige Frage gestellt, wo die Grenze zwischen militärischen und polizeilichen Mitteln verläuft. Für ihn verschwimmen die Grenzen von Strafrecht, Polizeirecht und Kriegsrecht. Die Fragen schienen ihm so schwierig, dass es darauf noch keine schlüssigen Antworten geben konnte. Die begründete Vermutung, dass viele Staaten diese Grauzone gar nicht aufklären wollen und der Hinweis, dass die US-Amerikaner offenbar weniger Skrupel haben, einen Verdächtigen zu liquidieren oder ihn nach Guantánamo
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zu schicken, als ihn vor ein ordentliches Gericht zu bringen, änderten am strategischen Überblick Schilys wenig: „Das Problem für die Politik ist, dass sie mitunter handeln muss, bevor die richtigen Kategorien gefunden sind.“15
Es bleibt nur zu hoffen, dass darin nicht auch die Maxime europäischer Sicherheitspolitik beschlossen liegt. Erhellende Hinweise waren zwar insoweit einem Interview des für Freiheit, Sicherheit und Recht zuständigen ehemaligen Mitglieds und Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Franco Frattini, zu entnehmen, das einige grundsätzliche Orientierungen vermittelt. Der Kommissar, der im Mai 2008 als Außenminister in das Kabinett von Silvio Berlusconi berufen wurde, ist nach eigenem Bekunden „verrückt danach, die Sicherheit der europäischen Bürger zu gewährleisten.“ Seine Antwort auf die Frage, wo angesichts geplanter Überwachungsmaßnahmen die Freiheit bleibe, lautet: „Die erste Freiheit ist, lebendig zu sein.“
Im Hinblick auf die Vielzahl erhobener und gespeicherter Daten ließ Frattini schließlich wissen: „Das Problem heißt nicht Datenspeicherung, das Problem heißt Terrorismus.“16
Kurze Zeit nach diesen Äußerungen wurde über eine weit verbreitete Skepsis über die geplante Speicherung von Fluggastdaten in den gesetzgebenden Organen der EU berichtet. Der innenpolitische Sprecher der EVP-Fraktion im Europä15 Die hier direkt und indirekt wiedergegebenen Äußerungen sind einem Interview des damaligen Bundesministers Otto Schily über das neue Interesse al-Qaidas an Deutschland, die gezielte Tötung von Terroristen und den Vorschlag einer Sicherungshaft für Islamisten entnommen (Der Spiegel Nr. 18 vom 26. April 2004, S. 44 ff.). Zum Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit überzeugender: Kühne (Bürgerfreiheit), S. 3 ff. 16 Frattini, in: Der Spiegel Nr. 11 vom 10. März 2008, S. 4. Grundsätzlich zu den europarechtlichen Aspekten der polizeilichen Zusammenarbeit: Heid, S. 213 ff. Umfassend zur Bekämpfung des Terrors in Europa: Hetzer, der kriminalist 2004, 332 ff. Zur sicherheitspolitischen Bedeutung der EU: Glaessner, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), S. 133.
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ischen Parlament (Manfred Weber, CSU) erklärte am 15. April 2008, dass ein Vorschlag der Kommission, künftig zur Terrorabwehr 19 Daten von jedem Reisenden zu erheben, der von oder nach Europa fliegt, in der seinerzeit vorliegenden Fassung keine Mehrheit fände. Aus diplomatischen Kreisen verlautete zu jener Zeit auch, dass es im Europäischen Rat, u. a. von Deutschland, Vorbehalte gegeben habe. Die Vorschläge waren im November 2007 von der Kommission unter Federführung von Frattini eingebracht worden. Es sollten systematisch Fluggastdaten (z. B. Name, Anschrift, Telefon- und Kreditkartennummer, Reisbüro, Sitzplatznummer, Umbuchungen oder Stornierungen) gespeichert werden, um reisende Terroristen ausfindig zu machen. Diese Daten werden von den Fluggesellschaften erhoben, um die Flüge abzuwickeln. Würde die entsprechende Richtlinie verabschiedet, dann stünden sie auch den Ermittlungsbehörden zu Verfügung. Der zitierte Abgeordnete hat die Auffassung vertreten, dass der Entwurf nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspreche. Ihn störe u. a., dass die Daten insgesamt 13 Jahre lang gespeichert werden soll(t)en, fünf in einer „aktiven“ und acht in einer „schlafenden“ Datenbank. Es sei auch nicht vorgesehen, dass die Reisenden Auskunft über die gespeicherten Daten erhalten können. Schließlich sei kein „europäischer Mehrwert“ zu erkennen, weil die Daten von nationalen Behörden in den 27 Mitgliedstaaten gespeichert werden sollen. Weber vermutet, dass einige Regierungen eine europäische Lösung anstreben, weil sie die Einrichtung eines solchen Systems innenpolitisch nicht durchsetzen könnten. Im Übrigen könne der Staat schon heute auf die von den Fluggesellschaften gespeicherten Daten zugreifen, hier sollten zunächst Erfahrungen gesammelt werden. In der EVP-Fraktion gebe es allenfalls „stille und defensive“ Befürworter des Richtlinienentwurfes, in anderen noch nicht einmal das. Die Haltung des Parlaments ist deshalb wichtig, weil es nach den Reformverträgen („Vertrag von Lissabon“), der Anfang des Jahres 2009 in Kraft treten soll, in der Innen- und Justizpolitik gleichberechtigt mit dem Rat entscheidet. Da aber im Frühjahr 2008 nicht mit
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einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens gerechnet wurde, hatte die slowenische Präsidentschaft vorgeschlagen, das Parlament schon jetzt einzubeziehen, um nach Inkrafttreten der neuen Rechtsgrundlage das Verfahren schneller neu beginnen zu können. Im Rat selbst hatte Deutschland Bedenken wegen der Verhältnismäßigkeit und der möglichen Verletzung von Bürgerrechten geäußert. Ein weiterer Mitgliedstaat hatte sogar grundsätzliche Zweifel am Datensammeln vorgetragen. Es gibt allerdings auch Regierungen, die gerne noch über die Kommissionsvorschläge hinausgehen würden. In diesem Zusammenhang sei aber auch daran erinnert, dass die EU mit der amerikanischen Regierung schon im Jahre 2007 ein Abkommen abgeschlossen hatte, auf dessen Grundlage Fluggastdaten auf Transatlantikflügen erhoben werden. Die Kommission hatte ihren Vorschlag zur Einführung eines ähnlichen Systems in Europa u. a. damit begründet, dass es nun an der Zeit sei, auch die eigenen Bürger vor reisenden Terroristen zu schützen.17 Der gegenwärtige Koordinator der Anti-Terror-Politik der EU, Gilles de Kerchove, ist der Überzeugung, dass man in der EU die Gefahr, die von dem Terror der al-Qaida ausgehe, nicht übertreibe. Dieser habe eine ganz andere Dimension als der „Eta-Terror“. Er ziele nicht nur auf Spanien und Frankreich, sondern auf ganz Europa und auf die größtmögliche Zahl an zivilen Opfern. Die EU müsse extrem auf der Hut sein. Es sei die Pflicht von Polizei und Geheimdiensten, Daten zu sammeln, um Attentate zu verhindern. In Europa geschehe das noch vergleichsweise zurückhaltend. Es komme immer darauf an, das Gleichgewicht zwischen den Interessen der Sicherheitsbehörden und des Datenschutzes zu bewahren. Kerchove behauptet, dass wir keine Überwachungsgesellschaft hätten. Zur Vereitelung von Terroranschlägen müsse die Polizei aber nicht nur in ganz eng umgrenzten Verdachtsfällen Daten aufspüren und analysieren. Er glaubt, dass die EU-Regie17 Insgesamt zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 89 vom 16. April, S. 5.
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rungen nicht genug täten, um der Öffentlichkeit im Zusammenhang zu erklären, welche Politik sie für notwendig halten; man präsentiere immer nur Einzelheiten, nie sehe man das ganze Bild. Die Regierungen sollten offen mit dem Europäischen Parlament über das „globale Konzept“ der EU diskutieren, nicht zuletzt deshalb, weil das Parlament ab 2009 eine wichtigere Rolle in der Justiz- und Innenpolitik spielen werde, wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten sei. Dadurch werde Europas Anti-Terror-Politik demokratischer und transparenter. Kerchove vermisst auch Verfahren, um schnell Beweismittel auszutauschen. Man müsse auch mehr tun, um die Radikalisierung junger Leute in Europa zu stoppen. Es gehe um die Integration muslimischer Gemeinden in unseren Gesellschaften, um Bildung – all das sei Teil einer guten AntiTerror-Politik.18
18 Insgesamt: Kerchove, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 91 vom 18. April 2008, S. 10.
V. Kombattanten oder Kriminelle? Nicht erst seit den Anschlägen am 11. März 2004 in Madrid ist offenkundig, dass der moderne Terrorismus nicht lokal eingrenzbar ist oder nur außerhalb der vermeintlich sicheren Grenzen der EU zuschlägt. Die immer wieder verübten Massenmorde dürfen nicht nur als Antwort der Erniedrigten und Beleidigten aus Ländern der „Dritten Welt“ auf außenpolitische Anmaßungen der einzigen verbliebenen Weltmacht (USA) (miss-)verstanden werden. Die in den Attentaten zum Ausdruck kommende Gesinnung ist nicht mit irgendeinem Glauben zu erklären. Es handelt sich nicht um Kampfhandlungen in einem „Religionskrieg“. Die Täter wenden sich vielmehr gegen eine Lebensform, die sie als „westlich-dekadent“ ansehen. Es wäre gleichwohl verfehlt, die Terrorattacken (nur) für einen gewaltsamen Ausdruck kultureller Widersprüche zu halten.1 Gesellschaftsordnungen, die auf Freiheit, Gleichheit, Toleranz und dem Streben nach persönlichem Glück aufbauen, sind für Menschen mit einem bestimmten Charakterbild eine ungeheure Provokation. Womöglich ist ein bestimmter Typus im islamistisch-fundamentalistisch geprägten Umfeld häufiger vertreten als in anderen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Entsprechende Charaktere mögen nicht nur in den USA, sondern auch in den Mitgliedstaaten der EU eine „gottlose“ Gesellschaft versammelt sehen. In Wahrheit dürfte es sich in den meisten Fällen aber eher um eine individualpsychologisch begründete und gruppendynamisch verstärkte Unfähigkeit handeln, mit den Herausforderungen neuzeitlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen zurechtzukommen. Terroristen sehen in Europa vermutlich eine Welt, in der sinn1 Zum Übergang von den „Transitionskriegen“ zu „Bruchlinienkriegen“: Huntington, S. 400 ff.
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stiftende Instanzen fehlen und in der aufgrund des Primats materiellen Erfolgs notwendige geistige Orientierungen ausbleiben. Aus dem gegenwärtigen Mangel an intellektuell und moralisch glaubwürdiger Führung durch die etablierte Politik erwachsen enorme Chancen für Scharlatane jeglicher Couleur. Menschenverachtung, fehlende Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, ein heuchlerisch-rigides Moralsystem mit geradezu neurotischen Auswüchsen, berufliche und ökonomische Perspektivlosigkeit, mörderische Varianten des „Machismo“, Abwesenheit persönlicher Souveränität, charakterliche Haltlosigkeit, rassistische Geringschätzung, Unfähigkeit zum Mitleid und viele andere Faktoren, die hier nicht vollständig aufzuzählen sind, gehören mindestens zu den Ingredienzien des Terrorismus, der nun auch Europa ins Visier genommen hat. Der internationale Terrorismus ist schon seit langem eine Geißel der Menschheit. Das scheint man nach den Ereignissen vom September 2001 vergessen zu haben.2 Zu den Eigenheiten der heutigen Terrorismusdebatte gehört auch, dass man wegen des Fehlens einer allseits anerkannten Definition immer noch nicht genau weiß, wovon man spricht. Es wird gar befürchtet, dass jeder Versuch einer klaren Festlegung ein gemeinsames Vorgehen zum Scheitern bringen würde. Die Situationen, Gründe und Absichten, aus denen heraus terroristische Akte verübt werden, sind zu vielfältig. Eine Gemeinsamkeit wird ihnen immerhin zugestanden. Es handele sich um eine besondere Form der Gewaltanwendung mit im weitesten Sinne politischer Zielsetzung, also eine äußerste Stufe des Extremismus.3 Bislang konnte man sich weder auf der wissenschaftlichen noch auf der politischen Ebene darüber verständigen, was unter Terrorismus genau zu verstehen und wie der Begriff 2 Zutreffend: Klein, S. 9. Gleichzeitig wird man wohl einräumen müssen, dass jedenfalls der islamistische Terrorismus seinen Höhepunkt wohl noch nicht erreicht hat. Vgl. dazu: Remberg, Kriminalistik 2008, 82 ff. Zu der Frage, ob der islamistische Fudamentalismus ein „Bedingungsfaktor für den Terrorismus“ ist: Krumwiede, S. 29, 64 ff. 3 Klein, S. 10, 11.
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einzugrenzen ist. Als einer der Hauptgründe für das Scheitern entsprechender Bemühungen sieht man dessen starke emotionale und moralische Aufladung an.4 Darüber hinaus hat der Streit um eine Definition des Terrorismus sowohl sachliche als auch machtpolitische Gründe.5 Hinter der Bezeichnung bestimmter Gewalttaten als „terroristisch“ steht das Motiv, ihnen jegliche Legitimität abzusprechen. „Terrorismus“ wirkt als Ausschließungsbegriff, mit dem die mangelnde Verhandelbarkeit eines Anliegens signalisiert wird. Die Probleme beim Umgang mit dem Terrorismusbegriff gelten auch als Folge semantischer Verwirrspiele der politischen Akteure, die durch die Besetzung bestimmter Begriffe die eigene Position zu verbessern und die der Gegenseite zu verschlechtern suchen.6 Ein beeindruckendes Beispiel ist die öffentliche Erklärung des ehemaligen Vorsitzenden der SPD, Oskar Lafontaine, im Mai 2007, wonach die Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan selbst Teil eines terroristischen Zusammenhangs seien, weil insbesondere die von ihnen unterstützte amerikanische Art der Kriegsführung zum Tod zahlreicher unschuldiger Zivilisten führe. Sein Amtsnachfolger, Kurt Beck, hat wegen dieser Äußerung eine Vermutung: „Oskar Lafontaine scheint ja gerade völlig durchzudrehen, wenn man hört, dass er beispielsweise behauptet, die Bundeswehr würde den Terror unterstützen. Was für ein Unsinn! Das ist falsch in der Sache, rücksichtslos gegenüber den Soldaten und erbärmlich gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen.“7
Einerseits ist es erfreulich, dass (leider immer noch sehr wenige) führende deutsche Politiker die Nützlichkeit (wenn nicht Erforderlichkeit) psychiatrischer Ansätze zum besseren Verständnis ihrer Aktivitäten entdecken.8 Andererseits steht Waldmann (Determinanten), S. 15. Zur Psychologie der Machtergreifung anhand historischer Beispiele: von Hentig. 6 Münkler (Kriege), S. 175, 176. 7 Beck, in: Der Spiegel Nr. 22 vom 26. Mai 2007, S. 28. 8 Vgl. auch schon: Hetzer, Die Kriminalpolizei 2007, 119, 124. 4 5
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fest, dass damit nicht alle Probleme deutscher und internationaler Politik zu lösen sind, auch wenn fachärztlicher Beistand immer wieder hilfreich sein dürfte.9 Unabhängig von der unterschiedlichen sachlichen Position der beiden ehemaligen Parteigenossen, bleibt festzuhalten, dass – wie dies in der Politik häufig der Fall ist – keiner von ihnen einen praktischen und persönlichen Bezug zum Gegenstand ihrer Analyse hat. Das lässt sich zumindest von einem amerikanischen Soldaten nicht behaupten, der an zahlreichen Kampfhandlungen im Irak teilgenommen hat und aufgrund vielfältiger konkreter Erfahrungen mit der von den US-Truppen praktizierten Kriegführung zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen ist: „Da wurde mir klar, dass wir, die amerikanischen US-Soldaten, die Terroristen waren. Wir terrorisierten die Bevölkerung, schüchterten sie ein, schlugen sie, demolierten ihre Häuser, vergewaltigten sie wohl auch. Diejenigen, die wir nicht umbrachten, hatten allen Grund der Welt, ihrerseits zu Terroristen zu werden. Angesichts dessen, was wir ihnen antaten – wer konnte es ihnen da zum Vorwurf machen, dass sie uns und alle Amerikaner umbringen wollten? Die groteske Erkenntnis setzte sich wie ein Krebsgeschwür in mir fest. Sie wuchs und schwärte und peinigte mich mit jedem Tag stärker: Wir, die Amerikaner, waren im Irak zu Terroristen geworden.“10
Hier sollen Analysen über die Zusammenhänge zwischen Professionalität und Wahnsinnsattacken in der deutschen oder internationalen Politik unterbleiben, auch wenn deren Notwendigkeit immer wieder erkennbar wird. Wichtiger ist die Einsicht, dass der Terrorismusbegriff für eine wissenschaftliche Herangehensweise nur dann brauchbar sein kann, wenn klar ist, welche Ökonomien11 und Strategien der Gewalt damit bezeichnet werden und worin die spezifischen Unterschiede zu anderen politisch-militärischen Strategien liegen. Zugleich erscheint es sinnvoll, nur dann von Terrorismus zu Zur Kompetenz der Politiker: Wieczorek, S. 48 f. Key, S. 152. Zur Frage, warum es nach 1989 zu „neuen Kriegen“ kam und warum man sie vom Verbrechen immer weniger unterscheiden kann: Preuß, S. 57 ff. 11 Ausführlich: Napoleoni. 9
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sprechen, wenn dieser als gewalttätige Durchsetzungsform eines politischen Willens identifizierbar ist.12 Vermutlich ist es bislang nur dem ehemaligen Bundesminister des Innern und für Sport a. D., Otto Schily, in seiner vormaligen Rolle als Strafverteidiger von mutmaßlichen Terroristen gelungen, einen wirklich eindrucksvollen Definitionsversuch zu unternehmen: „Terrorismus ist eine propagandistische Parole, nichts anderes. . . Terroristen nannte Goebbels die russischen Partisanen und die französischen Widerstandskämpfer- Terroristen hießen auch die Freiheitskämpfer gegen Franco, gegen die faschistische Junta. . . die Vietnamesen, die gegen die französische und später gegen die amerikanische Kolonialherrschaft gekämpft haben. Eingedenk dieser Traditionen ist es nahezu ein Ehrenname für die Gefangenen der Roten-Armee-Fraktion, wenn man sie Terroristen nennt.“13
Die amtierende Generalbundesanwältin, Monika Harms, zeigt, dass man sich dem Thema ohne falsches Pathos und Geschichtsklitterung nähern kann: „Ein Terrorist ist jemand, der die Grundfesten des Staates berührt, indem er mit Gewalt unsere demokratische Grundordnung angreifen will.“14
Eine Debatte über die Nützlichkeit mehr oder minder polemischer Definitionsversuche ist nicht zielführend. Sinnvoller erscheint die Beschäftigung mit Beiträgen, die auf einer sachverständigen und realitätsnahen Ebene stattfinden. Geboten ist eine operationale Definition von Terrorismus. Das ist nur möglich, wenn man von einer moralischen oder rechtlichen Bewertung des Phänomens absieht.15 Ein Ausgangspunkt mag folgender Vorschlag sein: „Unter Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund zu Münkler (Kriege), S. 176. Vgl. dazu: Hetzer, in: Gehl (Hrsg.), S. 115 ff., mit weiteren Nachweisen. 14 Harms, in: Der Spiegel Nr. 22 vom 26. Mai 2007, S. 40. Vgl. auch: Hirschmann, S. 453. 15 Zutreffend: Waldmann (Determinanten), S. 12. 12 13
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verstehen. Sie sollen vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen.“16
Diese Definition setzt sich von einer Mehrheitsmeinung ab, die auch den „Staatsterrorismus“ einbezieht. Dabei soll es hier dahingestellt bleiben, ob staatliche Machteliten zwar ein Terror-Regime errichten, aber gegenüber der eigenen Bevölkerung keine terroristische Strategie verfolgen können.17 Die Ausübung von Druck, Zwang und Erpressung zwischen zwei Handelspartnern oder innerhalb der Familie ist auch nicht als Terrorismus anzusehen, obschon die Betroffenen sich natürlich als „terrorisiert“ empfinden. Bei ethnischen Konflikten unterhalb der staatlichen Ebene dürften immer wieder Grenzfälle vorkommen. Mehrere Merkmale tragen zur Charakteristik des Terrorismus bei18: • Öffentliche Komponente. • Planmäßige Vorbereitung. • Angriff aus dem Untergrund. • Kleine und „schwache“ Gewaltverbände. • Asymmetrische Konfliktkonstellation. • Mangelnder Rückhalt in der Bevölkerung. • Vermeidung unübersichtlicher Organisationsstrukturen. • Verzicht auf den Aufbau einer breiten Widerstandsfront. • Konzentration auf einzelne spektakuläre Anschläge. • Mangelnde Möglichkeiten zur offenen Herausforderung des Staates („Verlegenheitsstrategie“). • Pathologische Entwicklung im Rahmen einer spezifischen Entwicklungsdynamik. 16 17 18
Waldmann (wie Fn. 15). So aber Waldmann (wie Fn. 15). Vgl. Waldmann (Determinanten), S. 12, 13, 14, 15.
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• Realitätsverlust durch Isolation in Kleingruppen. • Verachtung gegenüber humanitären Konventionen. • Erzielung von Schockeffekten. • Symbolisierung durch wahllose Gewalt. • Priorität einer Kommunikationsstrategie.
Immerhin zeichnen sich so erste begriffliche Umrisse von Terror und Terrorismus ab. Unter Terror kann man die Androhung und Anwendung körperlicher Gewalt in der Absicht sehen, dadurch Furcht und Schrecken in der Gesellschaft zu erzeugen und das feindliche System zu destabilisieren. Manche sehen in diesem alle physischen Wirkungen überschießenden psychischen Effekt das „Eigentliche“ des Terrors. Als „Propaganda der Tat“ gilt der Terrorismus als eine Strategie des politischen Kampfes, die planmäßig und ohne rechtliche Hemmungen den Terror im Dienste einer „großen“ Idee einsetzt: „Terrorismus ist das Übermaß als Handlungsprinzip“.19
In jedem Fall darf man davon ausgehen, dass die Begriffe des „Terrorismus“ – wie der des „Terrors“ und des „Terroristen“ – zunächst phänomenologischer Natur sind, die in den verschiedensten Sinnzusammenhängen auftauchen und zur Bezeichnung unterschiedlichster Vorgänge verwendet werden. Dadurch wird eine allgemeine Definition verhindert, weil hierzu Abgrenzungen erforderlich sind, die einen konkreten Kontext voraussetzen. Aber selbst bei einer Beschränkung auf einen bestimmten – etwa rechtswissenschaftlichen – Zusammenhang entdeckt man eine erhebliche Varianz. Die „terroristische Vereinigung“ im Sinne des § 129a StGB ist durch andere Verhaltensweisen gekennzeichnet als sie z. B. im Internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge, im Internationalen Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus sowie im 19
Vgl. insgesamt mit weiteren Nachweisen: Isensee, S. 83, 84.
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Europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus beschrieben sind.20 Der von nichtstaatlichen Akteuren praktizierte internationale Terrorismus bietet jedenfalls einige neue Herausforderungen. Sie erwachsen aus dem Umstand, dass das Völkerrecht vor allem zwischenstaatliches Recht entwickelt hat, das die Beziehungen zwischen Staaten regelt. Die einschlägigen zentralen Begriffe (z. B. Frieden, Krieg, Gewaltverbot und Selbstverteidigung) beziehen sich dementsprechend auf zwischenstaatliche Verhältnisse. Das macht die Frage unausweichlich, ob das prinzipiell staatenfixierte Völkerrecht Regeln auch zum Vorgehen gegen international agierende nichtstaatliche Terrorganisationen einschließlich ihrer militärischen Bekämpfung bereitstellt oder ob es die Staaten in völkerrechtlicher Ungebundenheit lässt.21 Nach dem 11. September 2001 hat die Terrorismusbekämpfung durch die Sicherheitsratsresolutionen der Vereinten Nationen vom 12. und 28. September 2001 ein neues Element bekommen. Dort wird auf das „naturgegebene Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der UN-Charta“ hingewiesen. Nach deren Art. 51 ist Selbstverteidigung ein „inherent right“, das militärische Maßnahmen einschließt. Treten damit entsprechende Aktionen aus dem zwischenstaatlichen Bezugsrahmen heraus, erhält der Begriff des internationalen kriegerischen Konflikts eine neue Dimension.22
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Vgl. auch Grzeszick, S. 58 mit Nachweisen. So Klein, S. 14, 15. Weitere Nachweise bei Klein, S. 22.
VI. Kreuzzug oder Bürgerkrieg? Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der USA hat dem internationalen Terrorismus den Krieg erklärt und sich selbst immer wieder öffentlich als „War Time President“ bezeichnet. Damit setzt er eine Tradition fort, die sein Land auch im Umgang mit einer anderen Form der Kriminalität pflegt. Die USA befinden sich auch im Hinblick auf den illegalen Drogenhandel seit Jahrzehnten – nach ihrem Verständnis – im Krieg. Auch der „war on drugs“ wird auf einem höchst unübersichtlichen und gefährlichen Gefechtsfeld geführt. Planung und Durchführung dieses Krieges haben jedoch auch noch nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt. Ein „Friedensschluss“ mit den weltweit operierenden Drogenhändlern ist nicht in Sicht. Die terroristisch motivierten Attentate in den USA im September des Jahres 2001 sind von ihrer politischen Führung und der amerikanischen Öffentlichkeit als Angriffe auf die territoriale Integrität des Landes empfunden worden. Die Folgen waren vorhersehbar. Die Größenordnung der Anschläge, die hohen Verluste an Menschenleben, der riesige Sachschaden und vor allem der außerordentliche Symbolcharakter der Angriffe auf das Welthandelszentrum in New York City verlangten außerordentliche Reaktionen. Auch nach dem Abklingen des Schockzustandes, in den nicht nur die USA, sondern die ganze Welt versetzt worden war, konnte sich niemand vorstellen, dass die Täter, Helfer und Anstifter dieser in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Verbrechen nur durch die Eröffnung konventioneller Ermittlungsverfahren zur Verantwortung zu ziehen sind. Schon aufgrund früherer Erkenntnisse war klar, dass diese Attentate nicht ohne vielfältige logistische und politische Unterstützung, die in manchen Staaten besonders ausgeprägt war, möglich gewesen waren. Vor diesem Hintergrund waren die Reaktion der zivilisierten
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Welt und das militärische Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten insbesondere gegen Afghanistan in vielerlei Hinsicht plausibel und völkerrechtlich zunächst legitim. Es liegt auf der Hand, dass bestimmte Strukturen auf dem Gebiet eines souveränen Staates, der terroristische Aktivitäten nicht nur duldet, sondern auch aktiv fördert, nicht mit den Mitteln des klassischen Polizeirechts zu neutralisieren sind. Es ist auch im Nachhinein kaum zu bestreiten, dass die Politik der Taliban in Afghanistan eine militärische Lage geschaffen hatte, die ohne Streitkräfteeinsatz nicht zu bewältigen war. Unter Einhaltung der Voraussetzungen der UN-Charta durfte dieser erfolgen, um einer weiteren weltweiten Gefährdung von Rechtsgütern unterschiedlicher Art entgegenzutreten. Anders verhält es sich mit dem Angriff der Armee der USA und einiger ihrer Verbündeten auf den Irak.1 Im Vergleich zu Afghanistan bestehen insoweit einige faktische und rechtliche Besonderheiten, die nicht nur die Kriegführung gegen dieses Land, sondern auch die grundsätzliche Frage, ob kriegerische Mittel gegen den internationalen Terrorismus auf unbestimmte Zeit eingesetzt werden dürfen, erörterungsbedürftig machen. Jeder kampferfahrene Soldat weiß, dass die „Hegung“ des Krieges regelmäßig während des ersten Schusswechsels endet. Die Vorgaben eines Einsatzbefehls verlieren nach der Eröffnung des Feuers zunächst jede noch so sorgfältig geplante Orientierungsfunktion.2 Der Einsatz militärischer Mittel erfolgt nicht nach den Grundsätzen der polizeirechtlichen Verhältnismäßigkeit. Im kriegerischen Geschehen erfährt Gewalt 1 Ausführlich: Sofsky (Freiheit). In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung des britischen Justizministers bemerkenswert, wonach der Wunsch nach einem neuen Regime keine gesetzliche Grundlage für eine militärische Aktion sei. Damit hat er offensichtlich Recht: „Aber der Wunsch nach einem neuen Regime war allem Anschein nach die einzige treibende Kraft hinter der Kriegshetze“ (Drumheller, S. 82). Ausführlich: Leyendecker (Lügen). Instruktiv neuerdings auch: Weiner, S. 629 ff. 2 Sofsky (Amok), S. 69: „Der Kampf ist nicht planbar. Im Chaos der Gefechte regieren ganz andere Gesetze als die Planspiele des Generalstabes. Der Krieg ist eine Welt der Friktionen, der Zufälle. . .“.
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immer wieder eine Verselbständigung, die im schlimmsten Fall in institutionalisierter Grausamkeit endet. Der politische und psychologische Schaden, den die Folterbilder von Abu Ghraib angerichtet haben, ist kaum zu ermessen. Selbst Bush hat die dortigen Vorkommnisse als (bislang) „größten Fehler“ bezeichnet. Weitere „größte Fehler“ werden folgen. Es liegt nämlich in der Natur des Kampfes, Kräfte in Gang zu setzen, die alle Hindernisse niederwalzen. Der Exzess absoluter Gewalt ist keine Verfallsform des Kampfes, er ist in seiner Struktur selbst angelegt.3 Es wäre interessant zu erfahren, wie der „Commander in Chief“ die Vorwürfe gewürdigt hat, die das Verhalten seiner Truppen in einer 200 Kilometer nordwestlich von Bagdad gelegenen Kleinstadt namens „Haditha“ am 19. November 2005 betreffen. Angehörige der Marineinfanterie wurden beschuldigt, an diesem Tag 24 unbeteiligte Zivilisten, darunter Frauen und Kleinkinder, getötet zu haben, nachdem einer ihrer Kameraden getötet und zwei weitere durch ein Bombenattentat verletzt worden waren.4 Sollten sich die übrigen zahlreichen, schon seit geraumer Zeit erhobenen Vorwürfe über unrechtmäßiges Vorgehen der amerikanischen Armee und anderer Sicherheitseinrichtungen der USA (z. B. Entführungen, Unterhaltung von Geheimgefängnissen durch die CIA) in vollem Umfang rechtskräftig bestätigen, ist der Erfolg der notwendigen Bekämpfung des internationalen Terrorismus grundsätzlich gefährdet. Darüber hinaus stellt sich vor allem die fundamentale Frage, ob Kriegführung ein geeignetes Mittel sein kann, um der Begehung terroristisch motivierter Verbrechen vorzubeugen und die Bestrafung der Täter und ihrer Gehilfen zu ermöglichen. Diese Problematik ist hier nicht erschöpfend zu beantworten. Es ist allenfalls eine Annäherung möglich, die auch durch die neuere sicherheitspolitische Diskussion im Umfeld bestimmter Gesetzgebungsprojekte in der Bundesrepublik Deutschland veranlasst ist. So zutreffend ebenfalls Sofsky (Gewalt), S. 142. Zu den bisher in die Öffentlichkeit gelangten Erkenntnissen: Mascolo / Spörl, in: Der Spiegel Nr. 23 vom 3. Juni 2006, S. 108 ff. 3 4
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Spätestens im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben (LuftSiG)5 und der dazu ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes6 ist eine Debatte darüber entbrannt, ob und in welchem Umfang sich in Deutschland die Streitkräfte an der Abwehr terroristisch motivierter Angriffe beteiligen sollen und dürfen. Die Frage nach der Zulässigkeit unmittelbarer Einwirkung von Waffengewalt auf ein entführtes Flugzeug, das mitsamt den darin befindlichen Passagieren für einen verbrecherischen Angriff missbraucht werden soll, berührt sowohl grundsätzliche Probleme der Standortbestimmung der Bundeswehr im Sicherheitsgefüge als auch detaillierte verfassungsrechtliche Vorgaben. Die Lage wird dadurch noch komplizierter, dass Antworten und Lösungsvorschläge den sicherheitspolitischen Kontext in der EU und deren Anstrengungen zur Bekämpfung internationaler terroristisch motivierter Gewaltkriminalität berücksichtigen müssen.7 Heutzutage ist unabhängig von diesen Fragen eine besorgniserregende „Leichtigkeit“ bei der Verwendung der Kategorie „Krieg“ zu beobachten. Es kann dahinstehen, ob die jüngste Entdeckung eines amerikanischen Lagerkommandanten den vorläufigen oder endgültigen Höhepunkt der einschlägigen Begriffsgeschichte darstellt. Der verantwortliche Offizier der mit herkömmlichen juristischen Begriffen nicht zu qualifizierenden „Verwahranstalt“ Guantánamo Bay auf Kuba, Konteradmiral Harry Harris jr., hat bemerkenswerte Beiträge zur Präzisierung des Kriegsbegriffs geleistet. Unter seiner Obhut haben sich drei Insassen des Lagers in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 2006 mit Hilfe von Kleidungsstücken und Bettlaken in ihren Einzelzellen im „Camp Delta“ erhängt. BGBl. I, 78. BVerfG, Urt. v. 15. 2. 2006 – 1 BvR 357 / 05; in: NJW 2006, 751 ff. Vgl. auch die Besprechung von Schenke, NJW 2006, 736 ff., und die frühe Kommentierung von Meyer A., ZRP 2004, 203 ff. 7 Grundlegend: Hecker, DÖV 2006, 273 ff. Zu einzelnen Initiativen: Hetzer, der kriminalist 2004, 332 ff. 5 6
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Vor diesen Todesfällen hatte es nach offiziellen Angaben bereits 41 „Selbstmordversuche“ gegeben. Aus der Sicht des Admirals Harris handelte es sich bei den drei genannten Selbsttötungen um „einen koordinierten Akt der asymmetrischen Kriegsführung gegen uns“. Es könne nicht von einer Verzweiflungstat die Rede sein. Die Gefangenen hätten „keinen Respekt vor dem Leben gehabt – weder vor unserem noch vor ihrem eigenen.“8 Harris sieht in dem Freitod der Gefangenen einen „Beweis“ ihrer Schuld.9 Keiner der drei Suizidanten war bisher von dem Militärtribunal, das praktischerweise vor Ort eingerichtet wurde, angeklagt worden. Keiner wurde nach Angaben der Lagerleitung in der jüngeren Vergangenheit regelmäßig verhört. Die Toten dürften zu der großen Gruppe von Gefangenen gehört haben, die sich in einer Art unbefristetem Einzelhaft-Schwebezustand befinden, ohne den Minimalschutz eines rechtsstaatlichen Verfahrens, ohne jede konkretisierbare Aussicht auf eine Beendigung ihrer Situation oder auf die Überführung in einen rechtlich halbwegs nachvollziehbaren Status. In diesen gegen die eigene Person gerichteten tödlichen Gewaltakten zeigt sich die Essenz eines neuen (alten) Prinzips, das immer zu beobachten sei, wenn Staatsmacht nicht mehr durch rechtsstaatliche Gesetze gebunden ist: „Sterben ohne Todesstrafe“.10 Es kommt noch etwas hinzu: Wo Pietät angemessen wäre, reagiert das US-Militär mit Häme. Wie erstaunlich sind wohl suizidale Handlungen, wenn 8 Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 134 vom 12. Juni 2006, S. 1. 9 Wernicke, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 133 vom 12. Juni 2006, S. 2. Harris ist der Sohn eines US-Soldaten und einer Japanerin. Dieses reiche Erbe hat trotz der Internierungspraxis der USA mit ihren Staatsbürgern japanischer Herkunft während des Zweiten Weltkrieges bei Harris, der sich an der Georgetown-Universität in Washington auch mit der „Ethik des Krieges“ beschäftigt hat, zu keiner besonderen Sensibilität geführt. Zweifel an seiner Mission scheinen ihm völlig fremd zu sein. Nicht nur deshalb betont er vermutlich, dass er keinen Auftrag hat, die Dinge zu verändern (auch dazu: Wernicke, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 134 vom 13. Juni 2006, S. 4). 10 Rüb, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 134 vom 12. Juni 2006, S. 3.
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man über Jahre eingesperrt ist, ohne die Gründe hierfür zu kennen, ohne zu ahnen, ob und wann man ggf. wieder freikommt, ohne ernstzunehmende Möglichkeiten der Einflussnahme: „Der Insasse Guantánamos ist ein Mensch ohne Recht. Er wird nicht angeklagt, er steht nicht vor Gericht.“
Für die drei Insassen blieb nur der letzte Ausweg: „Weil es im Diesseits kein Entkommen gibt aus Guantánamo, haben sie sich erhängt.“ Selbstverständlich waren die bisherigen Verhinderungen von Selbsttötungen und Hungerstreiks keine Zeugnisse der Nächstenliebe, sondern dienten ausschließlich dem Schutz des eigenen Systems. Existenz und Funktionsweise des Lagers Guantánamo werden weltweit mehr und mehr als Schande für die USA empfunden. Das Lager hat mehr Terroristen erzeugt als verhindert. Tatsächlich bleibt den Gefangenen nur übrig, auf die amerikanischen Wähler zu hoffen. Nur sie wären in der Lage, ihr Land von der Zwangsvorstellung zu befreien, wonach der „Krieg gegen den Terror“ auch ein Krieg gegen die Menschenwürde ist.11 Im Folgenden kann es weder vornehmlich um die Sensibilität eines amerikanischen Berufssoldaten für individuelle Verzweiflung und dessen Kenntnisse über die Inhalte der Menschenrechte gehen, die immer und für jedermann gelten, noch um den Bildungshorizont von Oberbefehlshabern.12 Zunächst 11 Vgl. insgesamt: Richter, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 133 vom 12. Juni 2006, S. 4. 12 Teile der deutschen Presse haben erkannt, dass man Könige und Staatschefs nicht belehrt, ein Umstand, den man mit Blick auf den 43. Präsidenten der USA (Bush) für bedauerlich hält. Man vermutet, dass in dessen texanischen Lehrplänen die deutschen Gedichte gefehlt hat. Andernfalls, so hofft man, hätte der Präsident gewusst, dass man gewisse Dinge, die man sich unbedacht an den Hals schafft, nicht so leicht wieder los bekommt. Zumindest ein Journalist fühlt sich bei Bushs Umgang mit den Worten „Krieg gegen den Terror“ in fataler Weise an Goethes Zauberlehrling erinnert: „Ob der Irak, Palästina, Iran oder Syrien – Präsident Bush ist der Gefangene seiner Wortwahl, seiner Ideen und seiner Hybris.“ Vgl. insgesamt: Avenarius, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 132 vom 10. / 11. Juni 2006, S. 4.
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sollen vielmehr der historische Hintergrund und die Ausprägungen der wechselvollen Begrifflichkeit und der Praxis des Krieges skizziert werden, der offenbar immer mehr als probates Mittel der „Rechtspflege“ angesehen wird. Die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war durch zwei entsetzliche Weltkriege gezeichnet. Auch danach gab es in den verschiedensten Teilen der Erde eine fast unübersehbare Vielzahl blutiger Kämpfe und kleinerer Kriege zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Gleichwohl war über lange Zeit ein mehr oder minder allgemeines Einverständnis zu beobachten, den Begriff „Krieg“ vorsichtig zu vermeiden. Darin konnte man ein Zeichen dafür sehen, dass alte Ordnungen sich auflösten und noch keine neuen an ihre Stelle getreten waren. In der Problematik des Kriegsbegriffs spiegelt sich vermutlich gleichermaßen die Unruhe der damaligen und jetzigen Weltlage. Die Geschichte des Völkerrechts wurde ohnehin als eine Geschichte des Kriegsbegriffs gesehen. Das Völkerrecht galt zu jener Zeit als ein Recht des Krieges und des Friedens. Daran wird sich nichts ändern, solange es zum Recht selbstständiger, staatlich organisierter Völker gehört, also der Krieg ein Staatenkrieg und kein internationaler Bürgerkrieg ist. In der Tat wirft jede Auflösung alter Ordnungen und jeder Ansatz zu neuen Bindungen dieses Problem auf. Dabei ist es kaum vorstellbar, dass es innerhalb ein und derselben Völkerrechtsordnung zwei widersprechende Kriegsbegriffe gibt. Schon vor vielen Jahrzehnten hatte man im Kriegsbegriff ein Problem gesehen, dessen sachliche Erörterung geeignet ist, den Nebel trügerischer Fiktionen zu teilen und die wirkliche Lage des damaligen Völkerrechts erkennen zu lassen. In den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg hatten die großen Mächte viele (gute und schlechte) Gründe Zwischenbildungen und Zwischenbegriffe zwischen offenem Krieg und wirklichem Frieden zu suchen. Die Formel vom „totalen Krieg“ legte dies sogar nahe.13 Mit dieser Strategie der Unentschiedenheit war 13
Über den „totalen“ Krieg: Sofsky (Sicherheit), S. 97 ff.
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das Problem des Kriegsbegriffs jedoch nicht zu lösen, weil zur „Totalität“ eines Krieges vor allem seine Gerechtigkeit gehört. Man kann zwar darüber streiten, ob die Erklärungen, unter denen der Präsident der USA, Woodrow Wilson, am 2. April 1917 sein Land in den Ersten Weltkrieg gegen Deutschland führte, das Problem des „diskriminierenden Kriegsbegriffs“ in die Geschichte des neueren (damaligen) Völkerrechts eingeführt haben. Es ist aber kaum zu bestreiten, dass damit die Frage des gerechten Krieges sich in anderer Weise gestellt hat als dies noch bei scholastischen Theologen vergangener Jahrhunderte der Fall war. Nationen agnostizistischer Geistesart führten bis zum Amtsantritt von Bush jedenfalls keine „heiligen Kriege“ mehr. Gleichwohl haben die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges gegen Deutschland gezeigt, dass die Kriegspropaganda keineswegs auf die Mobilisierung derjenigen moralischen Kräfte verzichtete, die nur durch einen „Kreuzzug“ zu erfassen sind. Hier ist der Streit darüber, ob sich Geschichte wiederholt, nicht zu entscheiden. Es mag der Hinweis darauf genügen, dass in der amerikanischen Außenpolitik der jüngeren Zeit die Kategorien „Gut“ und Böse“ zu Schlüsselbegriffen avanciert sind und einige Staaten sich in den Augen der amerikanischen Führung zu einer „Achse des Bösen“ zusammengeschlossen haben. In seiner zweiten Inaugurationsrede ließ Bush die Welt zudem wissen, dass seine Nation einen Ruf von „jenseits der Sterne“ erhalten habe. Unterdessen scheinen manche islamistisch-fundamentalistisch gesonnene Zeitgenossen zu glauben, dass sich der Westen (wieder einmal) zu einem „Kreuzzug“ in die islamische Welt aufgemacht hat. Die Qualität der Analysen hat sich also in den vergangenen Jahren nicht entscheidend verbessert und manche Gegner in der gegenwärtigen Auseinandersetzung stehen sich auf einem annähernd gleichen argumentativen Niveau gegenüber. Damit wäre die These von der „Kongenialität“ zwischen Osama bin Laden und George W. Bush noch nicht begründet. Bedeutungsvoller ist ohnehin der Hinweis darauf, dass eine moderne Geisteshaltung für die Annahme eines „gerechten Krieges“ bestimmte Verfahren juris-
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tischer oder moralischer Positivierung braucht. Einige Zeitgenosse hielten den Genfer Völkerbund übrigens im Wesentlichen für ein Legalisierungssystem, welches das Urteil über den gerechten Krieg bei einer bestimmten Stelle monopolisieren sollte. Die mit der Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff verbundene Entscheidung über Recht und Unrecht des Krieges sollte bestimmten Mächten in die Hände gegeben werden. In seiner damaligen Verfassung wurde der Völkerbund nur als ein Mittel angesehen, mit dem ein im höchsten Grade „totaler“, also mit überstaatlichen und übernationalen Ansprüchen geführter „gerechter“ Krieg vorbereitet werden konnte.14 Die Charta der Vereinten Nationen hat normativ erneuernd gewirkt. Der Nutzen eines detaillierten Vergleichs dürfte sich jedoch in Grenzen halten, nicht zuletzt deshalb, weil der amerikanische Präsident mehrfach öffentlich erklärt hat, dass das Selbstverteidigungsrecht der USA nicht entscheidend durch das Völkerrecht moderiert wird. Damit haben die USA es womöglich bis heute nicht geschafft, den Standard zu erreichen, den der Wiener Kongress von 1814 / 15 im Rahmen einer allgemeinen Restauration etabliert hat. Dort ist es immerhin gelungen, die Begriffe des europäischen Kriegsrechts wiederherzustellen, eine der erstaunlichsten Restaurationen der Weltgeschichte. Ihr wird ein enormer Erfolg zugeschrieben. Dieses Kriegsrecht des gehegten kontinentalen Landkrieges hatte nämlich noch im Ersten Weltkrieg die europäische Praxis der militärischen Landkriegführung beherrscht. Auch lange Jahre danach wurde es noch als „klassisches“ Kriegsrecht anerkannt. Der Grund liegt in seinen klaren Unterscheidungen. Es differenzierte zwischen Krieg und Frieden, Kombattanten und Nicht-Kombattanten und Feind und Verbrecher. Der Krieg wird von Staat zu Staat als ein Krieg der regulären, staatlichen Armeen geführt, zwischen souveränen Trägern eines „jus belli“, die sich auch im Kriege als Feinde respektieren und nicht gegenseitig als Verbrecher diskriminie14
Vgl. insgesamt: Schmitt (Wendung), S. 1, 2.
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ren, so dass ein Friedensschluss möglich ist und sogar das normale, selbstverständliche Ende des Krieges bleibt. Im Rahmen dieser klassischen Regularität war Partisanentum nur eine Randerscheinung. Der Terrorist moderner Prägung, auch als „feindlicher Kämpfer“, liegt außerhalb dieses Horizonts. Das klassische Kriegsrecht gelangte mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Entwicklung der Idee vom „Volkskrieg“ an seine Grenzen. Vorher blieb der Krieg grundsätzlich gehegt. Danach trat der Typus des Partisanen auf. Dieser stand und steht außerhalb jeder Hegung. Darin sind sogar sein Wesen und seine Existenz begründet. Der moderne Partisan – darin liegt seine partielle Verwandtschaft mit dem modernen Terroristen – erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben. Diese steigert sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung. Solch eine Typologie tritt in zwei Arten des Krieges besonders hervor: Bürgerkrieg15 und Kolonialkrieg. Diese Kriegsformen entziehen sich dem überkommenen europäischen Völkerrecht. Nach dessen Regelungszielen galt ein offener Bürgerkrieg als ein bewaffneter Aufstand, der mit Hilfe der Polizei und Truppen der regulären Armee niedergeschlagen wurde, wenn er nicht zur Anerkennung der Aufständischen als kriegführender Partei führte. Natürlich hatte die Militärwissenschaft europäischer Nationen wie England, Frankreich und Spanien den Kolonialkrieg nicht aus dem Auge verloren. Gleichwohl ist damit der reguläre Staatenkrieg als klassisches Modell nicht in Frage gestellt worden.16 Die prägende Kraft dieses Modells muss in Epochen revolutionärer Umbrüche versagen. Im Zeitalter der Revolutionen ist die Unterscheidung von Freund und Feind in einem vitalen und bzw. existentiellen Sinne vorrangig. Sie bestimmt Krieg und Politik gleichermaßen. Lenin hatte dies in seiner poli15 16
Grundsätzlich: Enzensberger (1996). Schmitt (Partisanen), S. 16, 17, 18.
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tischen Praxis umgesetzt, indem er nur den revolutionären Krieg als „wahren“ Krieg anerkannte. Nur dieser entspringt „absoluter“ Feindschaft. Alles andere hielt er für konventionelles Spiel. Die Konsequenz ist klar: Der Krieg der absoluten Feindschaft kennt keine Hegung. Im Vollzug einer absoluten Feindschaft erhält er „Sinn“ und „Gerechtigkeit“. Die alles entscheidende Frage ist also: Gibt es einen absoluten Feind und wer ist es in concreto?17 Die Theorie des Krieges kommt ohne eine Unterscheidung der Feindschaft nicht aus. Die Unterscheidung verschiedener Kriegsarten beruht auf der Unterscheidung verschiedener Arten der Feindschaft. Sie ist deshalb auch bei dem Bemühen um die Hegung des Krieges der primäre Begriff. Dessen völkerrechtliche Ächtung wird nie zu seiner Abschaffung führen. Leider blieb der irreguläre Krieg nach den Napoleonischen Kriegen für lange Zeit aus dem Bewusstsein verdrängt. Es entwickelte sich deshalb eine verhängnisvolle Ahnungslosigkeit darüber, was die Entfesselung eines irregulären Krieges bedeutet. Nach dem Empfinden von Carl Schmitt hat erst der Mangel an konkretem Denken das Zerstörungswerk der Revolutionäre vollendet. Darin liege ein großes Unglück, denn mit jenen Hegungen des Krieges sei der europäischen Menschheit etwas Seltenes gelungen: der Verzicht auf die Kriminalisierung des Kriegsgegners, also die Relativierung der Feindschaft, die Verneinung der absoluten Feindschaft. Er hielt es für etwas wirklich Seltenes, ja unwahrscheinlich Humanes, Menschen dahin zu bringen, dass sie auf eine Diskriminierung und Diffamierung ihrer Feinde verzichten. Der moderne Partisan folgt diesem Weg nicht, weil für ihn die äußerste Intensität des politischen Engagements charakteristisch und verpflichtend ist. Bei ihm überragt die Unbedingtheit des politischen Einsatzes alles andere. Er ist ein „Jesuit des Krieges“ (Che Guevarra). Dennoch hat der überkommene Typus des Partisanen, anders als der global vagabundierende Terrorist islamistisch-fundamentalistischer Prägung, 17
Vgl. Schmitt (Partisanen), S. 55, 56.
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einen wirklichen, aber nicht absoluten Feind. Der konventionelle Partisan verteidigt ein Stück Erde, zu dem er eine autochthone Beziehung hat. Seine Grundposition bleibt defensiv. Diese schon vor mehreren Jahrzehnten entwickelten Einsichten bestimmen noch heute die Gedankengänge moderner Analytiker. Auch sie erkennen an, dass die entscheidenden Innovationen des Partisanenkrieges sich nicht in China oder Vietnam und auch nicht auf Kuba vollzogen, sondern vor allem im Nahen Osten und in Nordafrika. Bei dieser Verselbständigung des Partisanenkrieges, so glauben sie, sei der Verbindung von miltärischem Kalkül und ökonomischer Rationalität eine Schlüsselfunktion zugekommen. Als ausschlaggebend für die Verselbständigung des Terrorismus empfindet man die Verbindung der Gewaltanwendung mit der Mediendichte und dem offenen Medienzugang in den attackierten Ländern, wodurch bei minimalem Einsatz maximale Effekte erzielt werden könnten. Im Terrorismus sieht man eine „Kommunikationsstrategie“. Die weitreichende Ausweitung der Konfliktfelder und eine grundlegende Umdefinition der Gewaltmittel habe einen Wandel taktischer Elemente der Kriegführung zu selbständigen Strategien bewirkt und die privilegierte Alleinverfügung des Militärs über die Gewalt des Krieges beendet. Aus dem Terrorismus sei so der „Terrorkrieg“ entstanden. Auch heute stimmt man mit Schmitt insoweit überein, dass man im Partisanenkrieg in militärischer Hinsicht eine prinzipiell defensive Strategie sieht, auch dann, wenn sie politisch für revolutionäre Zwecke eingesetzt wird. Dadurch unterscheide sie sich grundsätzlich von der Strategie des Terrorismus, die nicht nur politisch, sondern auch in operativer Hinsicht einen wesentlich offensiven Charakter habe.18 Doch wie so oft, zeichnet sich das geistige Original durch noch größere Präzision und Stringenz aus: Der wirkliche Feind, so erkennt Schmitt, wird eben nicht zum absoluten Feind erklärt, schon gar nicht zum letzten Feind der Menschheit. Lenin hatte noch den begrifflichen Schwerpunkt vom 18
Münkler (Kriege), S. 188, 189, 190, 191.
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Krieg auf die Politik verlagert. Es mag dahinstehen, ob dies sinnvoll und nach den Vorstellungen von Clausewitz eine folgerichtige Weiterführung des Gedankens vom Krieg als einer Fortsetzung der Politik war. Entscheidend ist, dass Lenin als Berufsrevolutionär des Weltbürgerkrieges noch weiter ging und aus dem wirklichen Feind den absoluten machte. Schmitt erinnert daran, dass Clausewitz zwar auch vom absoluten Krieg gesprochen hatte, aber immer noch die Regularität einer bestehenden Staatlichkeit voraussetzte. Für Clausewitz lag der Staat als Instrument einer Partei außerhalb seiner Vorstellungsmöglichkeiten. Mit der Verabsolutierung einer Partei wird natürlich auch der Partisan absolut und schließlich zum Träger einer absoluten Feindschaft.19 Damit war Lenin, so perplex dies klingen mag, womöglich eine rationale Vorform des menschenverachtenden Totalitarismus der Terroristen, die vorgeben, durch religiöse Motive bestimmt zu sein. Es bedarf keiner eingehenden Begründung dafür, dass diese Gewalttäter eine der großen Weltreligionen in schändlichster Weise missbrauchen, um ihre pathologischen Vorstellungen über den westlichen „Satan“ durch massenmörderische Menschenopfer zu zelebrieren. In ihren Augen ist der „Ungläubige“ der absolute Feind, für den ein ebenso absolutes Vernichtungsgebot gilt. Gleichwohl ist fraglich, ob solche Zeitgenossen mit ihren Attentaten einen „kriegerischen“ Angriff auf Staaten unternehmen, gegen den sich die jeweiligen Regierungen und Armeen nach den Regeln der Landesverteidigung zu Wehr setzen dürfen und müssen. Schon seit geraumer Zeit wird die These diskutiert, dass sich im Verlaufe der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vor allem in Afrika und Osteuropa ein neuer Typus organisierter Gewalt herausgebildet habe, der als Bestandteil unseres gegenwärtigen, globalisierten Zeitalters gelten müsse.20 Diese Form von Gewalt habe die Gestalt eines Schmitt (Partisanen), 94. Über das nicht so neue Tandem „Gewalt und Globalisierung“: Narr, in: Prokla 125 (31. Jahrgang), Nr. 4 Dezember 2001, S. 491 ff. 19 20
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„neuen Krieges“ angenommen. Der Begriff „Krieg“ diene dazu, den politischen Charakter dieser neuen Gewaltform hervorzuheben. Diese neuen Kriege zeichneten sich durch das Verschwimmen der Grenzen zwischen Krieg (d. h. politisch motivierte Gewalt zwischen Staaten), organisiertem Verbrechen und massiven Menschenrechtsverletzungen aus. Zumeist werden die neuen Kriege auch als innere Auseinandersetzungen (Bürgerkriege) oder „Konflikte geringer Intensität“21 beschrieben. Trotz ihrer lokalen Beschränkung sind sie Teil eines kaum überschaubaren Geflechts transnationaler Verbindungen. Eine Unterscheidung zwischen innen und außen wird deshalb in der Tat immer schwieriger.22 Zudem droht im Wirrwarr der Interventionen auch eine Unterscheidung verloren zu gehen, die das Völkerrecht trifft, nämlich die Differenz zwischen Angriffskriegen und internen Konflikten.23 In den letzten Jahrzehnten hat der Krieg schrittweise seine Erscheinungsformen verändert.24 Der klassische Staatenkrieg scheint ein historisches Auslaufmodell geworden zu sein. Die Staaten haben als faktische Monopolisten des Krieges abgedankt. An ihre Stelle treten immer häufiger parastaatliche, teilweise private Akteure (lokale Warlords, Guerillagruppen, Söldnerfirmen, Terrornetzwerke), für die der Krieg zu einem dauerhaften Betätigungsfeld geworden ist.25 Viele von ihnen sind „Kriegsunternehmer“, die den Krieg auf eigene Rechnung führen und sich die nötigen Einnahmen auf unterschiedliche Vgl. dazu: van Creveld, S. 42 ff. Kaldor, S. 7, 8. 23 Enzensberger (1996), S. 84. 24 Zur Modernität des Krieges: Joas, S. 177 ff., und Herberg-Rothe, S. 44 ff. Über die zukünftigen Kriege: Zumach. 25 Über Schattenglobalisierung und Gewaltunternehmer: Lock, S. 59 ff. Vgl. auch: Münkler, in: Merkur (55. Jahrgang), Heft 3, März 2001, S. 222 ff., über die privatisierten Kriege des 21. Jahrhunderts. Grundlegend: Azzelini / Kanzleiter und Uesseler. Vgl. auch: Nordstrom und Scahill. Zur Rückkehr der Söldnerheere auch: van Creveld, in: Die Zeit Nr. 12 vom 13. März 2008, S. 41 f. 21 22
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Art und Weise beschaffen.26 Mit dem Ende des staatlichen Monopols hat der Krieg zusehends seine Konturen verloren. Kriegerische Gewalt und organisierte Kriminalität gehen immer häufiger ineinander über. Oftmals ist es kaum noch möglich, zwischen kriminellen Großorganisationen, die sich mit politischen Ansprüchen drapieren, und den Überresten einstiger Armeen oder der bewaffneten Anhängerschaft eines Warlords zu unterscheiden, die sich durch Plünderungen und den Handel mit illegalen Gütern alimentieren. „Krieg“ wird deshalb als politisch umstrittener Begriff angesehen.27 Tatsächlich war über lange Zeit der Partisanenkrieg die einzige Erfolg versprechende Form, einem waffentechnisch wie militärorganisatorisch weit überlegenen Gegner Widerstand zu leisten. Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 sehen viele Beobachter im Terrorismus eine weitere Form „asymmetrischer“ Kriegführung. Der wichtigste Unterschied zur Partisanenstrategie bestehe – wie bereits angedeutet – darin, dass diese prinzipiell defensiver Art sei, während Terrorismus auch offensiv gehandhabt werden könne. Das liege daran, dass im Terrorismus die Unterstützung seitens der Zivilbevölkerung durch die Nutzung der Infrastruktur des angegriffenen Gegners ersetzt werde.28 Terroristischen Angriffen auf zivile Ziele werden die größeren psychischen Effekte zugeschrieben. Auch bei den Anschlägen des 11. September 2001 schätzt man den über solche Effekte entstandenen indirekten Schaden höher ein als die unmittelbaren Zerstörungen. Als Hauptangriffsziel der jüngeren Formen des internationalen Terrorismus gilt die labile psychische Infrastruktur hoch entwickelter Gesellschaften. Sie werden deshalb als moderne Variante des „Verwüstungskrieges“ bezeichnet. Dieser Kriegstypus werde neben den „Ressourcen- und Pazifizierungskriegen“29 vermutlich das Gewaltgeschehen des Münkler (Kriege), S. 7. Münkler (Kriege), S. 11, 12. 28 Über den Terrorismus als politisch-militärische Strategie: Münkler, in: Merkur (56. Jahrgang), Heft 1, Januar 2001, S. 1 ff. 29 Münkler (Wandel), S. 144 ff. 26 27
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21. Jahrhunderts bestimmen.30 Er richtet sich gegen die wirtschaftlichen Grundlagen des angegriffenen Landes. Die Angreifer sind bestrebt, eine direkte militärische Konfrontation mit den professionellen Streitkräften des Angegriffenen zu vermeiden. Moderne Verwüstungskriege zeichnen sich u. a. durch ihre Heimlichkeit aus. Die Akteure verschwinden in der Tiefe des sozialen Raumes und entziehen sich auf diese Weise der militärischen Vernichtung. Daraus wird neben der Asymmetrisierung und Kommerzialisierung ein weiteres Merkmal der für das 21. Jahrhundert prognostizierten Kriege abgleitet. Gemeint ist die wachsende Entmilitarisierung, die durch die Strategie des Terrorismus vorangetrieben werde. Manche glauben, dass deshalb Geheimdienste bei der Bekämpfung des Terrorismus ein erheblich effektiveres Instrument seien als das klassische Militär. Eine größere Rolle spiele das Militär nach wie vor durch den Einsatz von Spezialkräften, die Wesensmerkmale der Polizei und der Geheimdienste mit denen des klassischen Militärs verbinden. Das alles ändert nichts daran, dass der Terrorismus auf lange Zeit weder mit militärischen noch mit politischen Mitteln zu besiegen sein wird. In dem von den USA ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“ kann es nur darum gehen, die operativen Fähigkeiten von Terrorgruppen durch Militäreinsätze so einzuschränken, dass sie nicht in die Zentren der Wohlstandszonen vordringen können.31 Durch militärische Flankierung von polizeilichen Überwachungsmaßnahmen will man für diese Gruppen so viel Stress erzeugen, dass sie mehr mit ihrer Selbsterhaltung als mit Angriffen beschäftigt sind. Alle drei genannten Kriegstypen sind ihrer Natur nach asymmetrisch. Weder die Reziprozität der Akteure noch die Hegung der Gewalt spielen darin eine Rolle. Selbst die Legitimation ist asymmetrisch geworden, wie die Wiederkehr der Ideen über den gerechten bzw. den heiligen Krieg zeigt. Man befürchtet, dass die daraus erwachsende Ausführlich: Ramonet. Zu Risikosteuerung und Rechtsgüterschutz bei der Terrorismusbekämpfung: Hetzer, MschKrim 2005, 111 ff. 30 31
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Dynamik die zukünftigen Kriege eher ausweiten als begrenzen wird.32 Wie auch immer: Die Geschichte aller Kriege beginnt mit einem uralten und bewährten Mechanismus. Tiradenhaft erklärt man der Öffentlichkeit, welche Gründe es für die Eröffnung kriegerischer Auseinandersetzungen gibt. Dann erläutert man deren Unvermeidbarkeit. Die Politiker beschreiben die angeblich begrenzten Ziele und betonen, dass die eigene Sache gut und gerecht sei. Auch der Präsident der USA hatte zunächst versucht, die Fragen nach den Ursachen, den Zielen und dem Charakter des Krieges gegen den Terror einfach und eindeutig zu beantworten. Ursache des Krieges seien die Terroranschläge vom 11. September 2001. Ziel sei die Vernichtung dieser Terroristen und ihrer Helfer sowie die Errichtung einer freien und sicheren Welt. Ansonsten kann offensichtlich alles so bleiben, wie es war. Der Charakter dieses Krieges kann auf eine kurze und griffige Formel gebracht werden: Es handelt sich um einen gerechten, einen „heiligen“ Krieg, einen „Kreuzzug“, einen Krieg des Guten (und damit der Guten) gegen das Böse (und die Bösen).33 Diese Sichtweise steht in ungebrochener Tradition zu dem jahrzehntelang geführten „Kalten Krieg“ des Guten (der „Freien Welt“ unter Führung der USA) gegen das Böse (den „Kommunismus“ unter Führung der UdSSR). Die siegreiche Beendigung dieses Krieges wird als Grundlage dafür betrachtet, auch den jetzigen Krieg gegen das Böse mit uneingeschränkter Vollmacht anzuführen. Man glaubt, dass auch diesmal der Sieg über das Böse erreichbar ist. Mittlerweile sind jedoch selbst die engagiertesten Befürworter dieses Krieges in ihrer Wortwahl etwas vorsichtiger geworden. Sie beschränken sich meist auf den Feindbegriff des „Terrorismus“.34 Einige Kritiker glauben, dass die 32 Insgesamt: Münkler (Wandel), S. 148, 149, 150. Zum „Krieg der Ideen“: Berman, S. 196 ff. Vgl. auch: Vidal. 33 Zum „guten Krieg“ und über den „Sinn“ des Krieges: Hondrich (Krieg), S. 49 ff., und ders. (Lehrmeister), S. 40 ff. Über die „richtigen“ und „falschen“ Kriege auch: Clarke, S. 321 ff. 34 Sauermann, S. 37, 38. Zur Unhaltbarkeit der Behauptung, die Terrorgefahr sei ein Kriegesgrund gewesen: Rothkopf, S. 305 ff.
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Terroranschläge des 11. September 2001 in den USA den Weltordnungskrieg des „ideellen Gesamtimperialismus“ gegen seine eigenen globalen Krisengespenster in mehrfacher Hinsicht auf ein neues Niveau gehoben hätten. Die Taten seien von einem „Phantom-Zusammenhang“ mit dem Namen „alQaida“ begangen worden.35 Man habe aber noch nicht einmal ansatzweise begriffen, was dieses Phänomen eigentlich darstellt. Der „demokratische Gesamtimperialismus“ tue so, als handele es sich um einen äußeren Feind auf seiner eigenen Ebene der Macht, der „geschlagen“ werden könne mit den Mitteln dieser Macht. Das hält man für einen grundlegenden Irrtum. Die demokratischen Strategen seien zu diesem Irrtum verurteilt, weil der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, hieße, dass man die Verkommenheit der eigenen Kriterien anerkennen müsste.36 Tatsächlich trägt kein Klischee mehr zur allgemeinen Verdummung bei als die Behauptung, al-Qaida sei ein Rückfall ins Mittelalter. Es handelt sich vielmehr um eine Begleiterscheinung der Globalisierung.37 Al-Qaida sieht sich zwar selbst als Alternative zur modernen Welt, aber die Vorstellungen, auf denen sie basiert, sind modern. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der radikale Islam die Vernunft ablehnt, die ihn als moderne Bewegung ausweist, könnte man einen Gedanken bemühen, den Karl Kraus für die Psychoanalyse formuliert hatte: Der radikale Islam ist ein Symptom der Krankheit, gegen die er sich als Heilmittel versteht.38
So sehr sich die Islamisten als Hüter der Tradition aufspielen, so sehr sind sie doch ganz und gar Geschöpfe der globalisierten Welt, die sie bekämpfen.39
Differenzierter: Steinberg. Vgl auch: Ulfkotte (2001). Kurz, S. 272. Zum „Weltordnungs-“Krieg und zur Kriminologie: Kreuzer, S. 995 ff. 37 Gray, S. 11. 38 Gray, S. 40, 41. Grundsätzlich: Berkéwicz. 39 So zutreffend: Enzensberger (2006), S. 27. 35 36
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Die weltweiten macht- und ordnungspolitischen Veränderungen nach 1989, insbesondere aber die Terroranschläge vom 11. September 2001, beeinflussten die neue Sicherheitsstrategie der einzigen verbliebenen Supermacht USA unterdessen maßgeblich. Die ein Jahr nach den Anschlägen vorgelegte „National Security Strategie of The United States“ geht von zwei Prinzipien aus: der US-Dominanz im internationalen System und dem Präventionsgedanken. Trotz der mehrfachen Betonung der Notwendigkeit einer multilateralen Zusammenarbeit in Sicherheitsbelangen lässt die amerikanische Regierung keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, notfalls auch alleine zu handeln und den Aufstieg künftiger globaler Rivalen zu verhindern. Man beobachtet, dass sich aus dem Bewusstsein der scheinbar unangefochtenen militärischen Stärke und der traumatischen Erlebnisse im Jahre 2001 ein unipolares Dominanzdenken entwickelt hat, das die asymmetrischen globalen Machtverhältnisse widerspiegelt. Vor allem die deutlich geäußerte Absicht, im Bedarfsfall auch ohne Zustimmung der Staatengemeinschaft präventiv gegen einen potenziellen Gegner vorgehen zu wollen, ruft inzwischen in vielen Staaten Unbehagen oder offene Ablehnung hervor. Der Kurs des „geopolitischen Affronts“ und der „völkerrechtlichen Konfrontation“, der insbesondere im Frühjahr 2003 im Irak bestätigt wurde, wirft die Frage auf, ob, in welcher Form und in welchem Zeitraum sich eine „antihegemoniale Allianz“ regionaler Großmächte bilden könnte, falls die USA den unilateralen Kurs in der aktuellen Ausprägung weiter verfolgen.40 In der amerikanischen Sicherheitsstrategie wird eine weitere Asymmetrie deutlich. Es handelt sich um die unverhältnismäßig hohe Bedeutung von „schwachen“ oder „gescheiterten“ Staaten und sog. „Schurkenstaaten“. Besonders die (angebliche) Möglichkeit, dass solche Staaten, die sich im Visier der USA befinden, eine „Zweckgemeinschaft“ mit transnationalen „Terrornetzwerken“ wie der al-Qaida eingehen und bereit 40
Feichtinger, S. 69, 75, 76.
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sind, gegebenenfalls auch Massenvernichtungswaffen zu produzieren und einzusetzen, stellt aus der Perspektive der USA ein „worst-case“-Szenario dar, das mit allen Mitteln verhindert werden soll.41 Vor diesem Hintergrund bleibt gleichwohl die Frage bestehen, ob es sich bei der konstatierten „Asymmetrie“ wirklich um ein neuartiges Phänomen handelt, das durch Terroristen und schwache oder gescheiterte Staaten eingeführt wurde. Man kann sehr wohl zu dem Ergebnis kommen, dass Asymmetrien kriegsgeschichtlich nichts Neues sind. Weltgeschichtlich sind sie eher die Regel und Symmetrien eher die Ausnahme. Es dürften die weit reichenden Voraussetzungen an die zivilisatorische, politische und soziale Gleichartigkeit der Akteure sein, die Symmetrien unwahrscheinlich machen. In kaum einer anderen Periode waren symmetrische Kriege so lange vorherrschend wie in Europa zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert. Ausschlaggebend hierfür dürften die „Verstaatlichung des Krieges“, also die Durchsetzung des staatlichen Monopols auf Kriegsführungsfähigkeit, und die Entwicklung eines europäischen Staatensystems gewesen sein, das alle Anläufe zu imperialer Machtbildung auf dem Kontinent abgewehrt bzw. von vornherein in Grenzen gehalten hat. Außerhalb Europas beteiligten sich die europäischen Mächte dagegen immer wieder an asymmetrischen Kriegen und Konflikten, insbesondere bei der Kolonisierung, die nichts anderes als ein staatlich sanktionierter und mit militärischen Mitteln durchgeführter Raubzug gegen technisch unterlegene Völkerschaften war. Dabei ging es nicht nach kriegsvölkerrechtlichen Regularien zu. Oft gab es fließende Übergänge zum Völkermord. Die heute als Kulturstaaten geltenden europäischen Mächte vermieden Schlachten und bevorzugten Massaker. Die Unterscheidung zwischen beiden gilt übrigens als Konkretion des Unterschieds zwischen symmetrischer und asymmetrischer Kriegsführung. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts soll der Krieg seinen Charakter grundlegend verändert haben. Jetzt 41
Feichtinger, S. 76.
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seien die asymmetrischen Kriege an die Stelle der symmetrischen getreten. Wie bereits angedeutet, werden die Staaten durch substaatliche Akteure („Warlords“, Clanchefs, Milizenführer und terroristische Netzwerke) ersetzt. Daneben treten allerdings noch imperiale Mächte auf, die sich als Exekutoren menschen- und völkerrechtlicher Prinzipien verstehen, und gelegentlich auch Staaten, die sich um die Wiederherstellung von Staatlichkeit in Bürgerkriegsgebieten bemühen.42 Keiner dieser neuen oder alten Kriege wird unter den Bedingungen einer wechselseitigen Anerkennung als Gleiche geführt. Deshalb haben auch die überkommenen kriegsrechtlichen Regeln ihre Bindekraft verloren. Unklar ist bis jetzt, was an ihre Stelle treten soll. Die Hoffnung auf einen Internationalen Strafgerichtshof ist illusionär. Die USA haben es abgelehnt, sich dessen Rechtsprechung zu unterwerfen. Der Gedanke an eine effektive Hegung von Gewalt durch eine „Ethisierung“ der Kämpfer ist naiv.43 Medienpräsenz wirkt zudem nicht limitierend, sondern stimulierend.44 Es ist kaum zu bestreiten, dass aufgrund der waffentechnischen und militärtechnologischen Entwicklung, wie sie die USA zur Vermeidung eigener Verluste vorangetrieben haben, ihnen zurzeit keine andere Macht in einem nichtnuklearen Krieg gewachsen ist. Ihren tatsächlichen und potentiellen Gegnern bleibt deshalb nichts anderes übrig als die Gegenstrategie einer weiteren Asymmetrisierung, die von der Guerilla45 bis zum Terrorismus reicht. Die Folgen werden immer augenscheinlicher: Die Dauer eines Krieges wird ins Unendliche verlängert, um den politischen Willen oder die ökonomischen Ressourcen eines überlegenen Gegners in einem Abnutzungs- und Verwüstungskrieg zu erschöpfen. Die (scheinbar) überlegene Seite wird immer stärker bestrebt sein, kurze Kriege mit einer Zur imperialen Dimension: Todd, S. 83 ff. Vgl. dazu aber: Ignatieff, S. 138 ff. 44 Zur Gewalt der Bilder: Baudrillard (2002), S. 65 ff. Über Medien und die terroristische Bedrohung auch: Laqueur, S. 193 ff. 45 Ausführlich: Anderson. 42 43
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schnellen militärischen Entscheidung zu führen. Auf der (anfänglich) unterlegenen Seite wird man alles versuchen, um den Krieg auszudehnen, klare Fronten zu vermeiden und sich in und hinter der Zivilbevölkerung zu verstecken.46 Die Folgen für die Weltordnung könnten dramatisch werden. Die symmetrischen Kriege der europäischen Geschichte boten immerhin die Aussicht ihrer Beendigung durch die Waffenentscheidung und den anschließenden Friedensschluss. Die asymmetrischen Konflikte der letzten zehn Jahre lieferten offensichtlich keine vergleichbaren Chancen. Sie scheinen zwar weniger Opfer zu fordern als ein einziger Feldzug der europäischen Kriege. Sie bieten aber keine Mechanismen zur Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen und zur Herstellung eines neuen Friedens. Der Intensitätsverlust des Krieges unter asymmetrischen Verhältnissen wird durch die Verlängerung der Zeitdauer kriegerischer Auseinandersetzungen ausgeglichen. Zudem bieten asymmetrische Konfliktkonstellationen keine Perspektiven der Kriegsprävention. Ein rationaler Interessensausgleich ist konstitutiv ausgeschlossen. Die gegenseitige Anerkennung würde von den einen als Sieg und von den anderen als Niederlage interpretiert. Die Bedrohlichkeit asymmetrischer Kriege erwächst demzufolge weniger aus ihrer Intensität als aus dem Mangel terminaler Instrumente.47 Offen bleibt, welche Konsequenzen sich aus diesen Einschätzungen für die Praxis der Terrorismusbekämpfung ergeben könnten. Einigkeit scheint immerhin darüber zu bestehen, dass die Asymmetrie innerhalb der internationalen Politik eine besondere Form politischer Gewaltanwendung ist, die als Kommunikationsstrategie über eher indirekte Effekte und psychische Prägungen Erfolge erzielen will. Dies erhellt die Tatsache, dass die USA den gefangenen Taliban- und al-Qaida-Kämpfern den Kombattantenstatus nach Kriegsvölkerrecht verweigern und unter Mitwirkung angeblich freiheitlich46 Zur Frage, warum der Krieg gegen den Terror niemals gewonnen werden kann: Richardson, S. 221 ff. 47 Vgl. insgesamt: Münkler, in: Schröfl / Pankratz (Hrsg.), S. 85 ff.
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demokratischer Rechtsstaaten systematisch Menschenrechtsverletzungen begehen.48
48 Zu den Einzelheiten: Kurnaz. Vgl. auch die beeindruckenden Schilderungen bei: Willemsen und Sassi. Die in Guantánamo angewandte Folter hat System: Häntzschel, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 143 vom 25. Juni 2007, S. 13. Zur strafrechtlichen Bewältigung: Fischer-Lescano, S. 142 ff.
VII. Gefahrenabwehr oder Menschenopfer? Ähnlich wie in den USA scheinen Regierung und Parlament in Deutschland von einer besonderen Art militarisierten Denkens infiziert worden zu sein, das im Verbund mit einem gelegentlich hysterisch anmutenden Sicherheitsbedürfnis zur Erosion der Rechtsstaatlichkeit führen kann. Bei manchen Gesetzgebungsvorhaben könnte sich gar der Eindruck aufdrängen, dass die deutsche Sicherheitspolitik eine aztekische Reduktion erfahren hat. Auf dem Altar der Staatsräson ist man anscheinend auf dem Verwaltungswege zur Opferung von Menschen bereit, die nichts anderes getan haben als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Glücklicherweise ist das Bundesverfassungsgericht bis jetzt immer wieder in der Lage gewesen, die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag an die auch (und gerade) diesen Institutionen durch die Verfassung gesetzten Grenzen zu erinnern. Wie bereits erwähnt, war das Luftsicherheitsgesetz ein entsprechender Anlass.1 Gegen dieses Gesetz war von vier Rechtsanwälten, einem Patentanwalt und einem Flugkapitän, die aus beruflichen und privaten Gründen häufig Flugzeuge benutzen, Verfassungsbeschwerde eingelegt worden. Sie richteten sich unmittelbar gegen die §§ 13 bis 15 LuftSiG. Anlass für diese Gesetzgebung waren die Attentate des 11. September 2001 und der Irrflug eines Sportflugzeugs in Frankfurt am Main am 5. Januar 2003. Die Bundesregierung wollte eine innerstaatliche Rechtsgrundlage schaffen, um Gefahren abzuwehren, die von zivilen Flugzeugen, welche zu terroristischen oder anders motivierten Zwecken als Waffe für einen gezielten Absturz missbraucht werden („RENEGADE-Flugzeuge“), ausgehen. Sie ermäch1
Vgl.: Hetzer, Kriminalistik 2007, 140 ff.
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tigte die Bundeswehr nach Maßgabe des § 13 LuftSiG i. V. m. den Regelungen über den regionalen und überregionalen Katastrophennotstand in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG, ein verdächtiges Flugzeug abzudrängen, zur Landung zu zwingen und als „ultima ratio“ Waffengewalt anzuwenden, also das Flugzeug gegebenenfalls samt Passagieren abzuschießen. Die Beschwerdeführer machten geltend, sie würden durch das Luftsicherheitsgesetz unmittelbar in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Sie seien in dem Augenblick, in dem sie ein Flugzeug bestiegen, der Gefahr einer Maßnahme nach den §§ 13 bis 15 LuftSiG ausgesetzt. Deswegen drohe ihnen eine unmittelbare Grundrechtsgefährdung. Der Bundespräsident, Horst Köhler, hatte zwar am Zustandekommen dieses Gesetzeswerkes mitgewirkt. Zugleich hatte er aber erhebliche Bedenken gegen dessen Regelungsinhalt geltend gemacht und eine verfassungsgerichtliche Überprüfung empfohlen. Der damals noch im Amt befindliche Bundesminister des Innern und für Sport, Otto Schily, hatte dagegen im Januar 2005 festgestellt, „dass sich hier der sehr verehrte Herr Bundespräsident leider geirrt hat.“2 Nun hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass sich leider der sehr verehrte Bundesminister a. D. in seiner juristischen Bewertung geirrt hat, und zwar grundlegend. Nach der Einschätzung eines journalistischen Kommentators dürfe Schily froh sein, diesen „Rückschlag“ nicht mehr als Minister erleben zu müssen.3 Andere sehen in dem Urteil eine „schallende Ohrfeige“ für die rot-grüne Koalition, die im Januar 2004 unter Führung dieses Ministers das Gesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht hatte.4 Der ehemalige Präsident des Hessischen Landeskrimi2 Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 2005. Scholz, S. 177, 185, teilte diese Bedenken. 3 Carstens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 40 vom 16. Februar 2006, S. 3. Von wissenschaftlicher Seite gibt es eindeutigere Charakterisierungen: „In der SPD hätte es eigentlich nicht möglich sein dürfen, dass Schily als Bundesminister des Innern so agierte wie er agierte.“ (Lange, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), S. 129). 4 Hofmann / Pörtner, in: Focus Nr. 8 vom 20. Februar 2006, S. 42.
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nalamtes bewertete die Leitsätze des Urteils als „vernichtendes Zeugnis“ für die Legislative.5 In der Presse wird der verantwortliche Initiator der Gesetzesinitiative, Schily, mit der in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Einsicht zitiert, dass es bei solch schwierigen Fragen nicht um Kategorien wie Sieg oder Niederlage gehen könne. Gleichwohl ist er immer noch davon überzeugt, dass sich die Verfassungsrichter geirrt hätten. Das Urteil sei ein „Produkt von Bemühungen, in dieses Gesetz etwas hineinzulesen, was da gar nicht drinsteht“.6 Sein Mitstreiter, Dieter Wiefelspütz, soll das Urteil als die „schwerste politische Niederlage“ seines Lebens empfunden und die Entscheidung als „richtigen Hammer mit Fernwirkung“ bezeichnet haben, die ihn wirklich getroffen habe. Er übte sich dennoch unverzagt in juristischer Auslegungskunst und ließ wissen, dass das Bundesverfassungsgericht ausschließlich über einen „nichtkriegerischen“ Luftzwischenfall entschieden habe. Ein Vertreter der Völkerrechtswissenschaft (Ipsen) widersprach öffentlich und betonte, dass Terrorakte Schwerkriminalität seien. Deshalb sei ein Streitkräfte-Einsatz nur nach einer Verfassungsänderung erlaubt. Der Bundeswehrverband forderte unterdessen alle Piloten auf, Abschussbefehle zu verweigern. Bei einem gekaperten Flugzeug könne man nicht sicher sein, dass wirklich nur Täter und keine Geiseln an Bord seien.7 Andere Mitglieder der politischen Führungselite sollen die Entscheidung als „worst case“ gewürdigt und ihr zugeschrieben haben, dass sie Deutschland gegen bestimmte terroristische Attacken wehrlos mache. Möglicherweise wird Schily irgendwann einmal – unbelastet von den Amtspflichten eines Bundesministers und trotz seiner Pflichten als Mitglied des Deutschen Bundestages, seiner Arbeit als Rechtsanwalt und seiner Aktivitäten als Teilhaber an Firmen, die sich mit der Herstellung sicherer AusweisdokuTimm, Kriminalistik 2006, 146. Zitiert nach: von Hammerstein / Nelles / Szandar, in: Der Spiegel Nr. 8 vom 20. Februar 2006, S. 36. 7 Süddeutsche Zeitung Nr. 43 vom 21. Februar 2006, S. 5. 5 6
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mente beschäftigen – genügend Zeit finden, um sich in die mit den Zielen des Luftsicherheitsgesetzes verbundene komplexe Rechtslage erneut – womöglich jetzt inhaltlich gründlicher und rechtlich fundierter – einzuarbeiten. Für die Rechtskultur in der Bundesrepublik Deutschland kommt es jedoch nicht entscheidend darauf an, ob dieser ehemalige „Verfassungsminister“ die Urteilsgründe für nachvollziehbar hält. Wichtiger ist, dass das Gericht nicht nur die verfassungsrechtlichen Einschränkungen eines Einsatzes der Bundeswehr im Innern verdeutlicht hat, sondern sich darüber hinaus auch für den strikten Schutz der Menschenwürde und des Grundrechts auf Leben ausgesprochen und insoweit eine Einschränkbarkeit ausgeschlossen hat. Der bisherige öffentliche Disput zeigt, dass die Sicherheit Deutschlands zwar in sachverständigen Händen liegt, es aber nicht immer gelingt, den vorhandenen Sachverstand in den durch Verfassung gezogenen Grenzen einzusetzen. Wie auch immer: Selten in der Geschichte der Bundesrepublik hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber ein so vernichtendes Urteil ausgestellt. Im Folgenden wird an die Regelungsinhalte und -ziele des Gesetzes erinnert.8 Anschließend ist darzulegen, aus welchen Gründen es sich hier um einen erneuten verfassungswidrigen Versuch gehandelt hat, die Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung durch unzulässige Einschränkungen von Individualgrundrechten zu befriedigen. In den Augen eines Kommentators gehört die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in die Kategorie der Urteile, die ganze Bibliotheken zur Makulatur machen. Es beende schier endlose Debatten darüber, ob im Rahmen des Grundgesetzes die Streitkräfte zum Schutz 8 Zum Überblick über das Luftsicherheitsgesetz: Giemualla / van Schyndel. Vgl. zu den hier relevanten Einzelfragen: Meyer, A., ZRP 2004, 203 ff.; Sinn, NStZ 2004, 585 ff., Haffke, KritJ 2005, 17 ff.; Mitsch, JR 2005, 274 ff.; GA 2006, 11 ff.; Welding, RuP 2005, 165 ff. Zum „kriegerischen terroristischen Luftzwischenfall“: Wiefelspütz, RuP 2006, 71 ff. Neuerdings ebenfalls Wiefelspütz, ZRP 2007, 17 ff.; NZwehrR 2007, 12 ff., auch zur Neufassung der Amtshilfe im Zusammenhang mit „Verteidigung und Terrorismusbekämpfung durch die Streitkräfte“.
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der inneren Sicherheit eingesetzt werden können. Aus dem Urteil folge auch die Lehre, dass der Terrorismus den Gesetzgeber nicht zu Mitteln und Methoden verleiten dürfe, welche die Zivilität eines Landes und seiner Rechtsordnung gefährden. Das Gericht habe eine „doppelte Anmaßung“ verurteilt. Zu einen wird diese in dem verfassungswidrigen Vorhaben gesehen, Soldaten zu Hilfspolizisten umzufunktionieren. Zum anderen handele es sich um die gesetzliche Ermächtigung, die Opfer einer Entführung durch den Abschuss des entführten Flugzeugs gezielt zu töten. Unter diesen beiden Gesichtspunkten sei das Luftsicherheitsgesetz formell und materiell verfassungswidrig. Das Urteil habe zudem noch einen „politischen Irrglauben“ zurückgewiesen, der darin bestanden habe, dass der Terror zu extralegalen Maßnahmen berechtigen könne. Bei der Verteidigung des Rechts gegen den Terror dürfe das Recht dem Terror aber nicht geopfert werden – darin liege das große Fazit des Urteils. Das Luftsicherheitsgesetz wird als ein objektiv untauglicher Versuch zur Regelung des Unregelbaren angesehen. Die in vielerlei Hinsicht verführerische Frage: „Wann darf der Staat hundert Menschen töten, um so (vielleicht) tausend Menschen zu retten?“ kann tatsächlich jeder richtig beantworten, soweit er nicht mit Rechtsblindheit geschlagen ist oder bestimmten intellektuellen und charakterlichen Deformationen nicht völlig erlegen ist. In der Tat gibt es für die diskutierte Konstellation nur eine richtige Antwort: Der Staat darf nie eine entsprechende Tötung vornehmen. Kein Minister ist der liebe Gott. Gemessen an der Selbstwahrnehmung mancher Amtsträger mag dies ein schmerzhafter Befund sein. Dennoch ändert sich nichts daran, dass kein Gesetz irgendjemandem die Ermächtigung geben darf, die einen Menschen zu opfern, um andere (vielleicht!) zu retten. Menschenleben sind insoweit nicht quantifizierbar oder (ab-)qualifizierbar. Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz hat nicht nur die Grenzen des Rechts verkannt. Schon diese Tatsache ist beunruhigend. Höchst irritierend ist es aber, dass die in Deutschland in reichem Maße vorhandenen Erfahrungen mit der Missachtung menschlichen Lebens anschei-
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nend ihre Prägekraft verloren haben. Es braucht keine langatmigen Begründungen dafür, dass das Recht dem Unrecht zwar nicht zu weichen braucht, sich dabei aber selbst nicht in Unrecht verwandeln darf. In der Tat findet eine solche Verwandlung bereits statt, wenn immer wieder überlegt wird, in extremen „Ausnahmefällen“ Folter von Staats wegen zuzulassen.9 Angesichts der Bereitschaft zu gezielten Tötungen gilt dies umso mehr. Krämer des Todes können keine glaubwürdigen Repräsentanten des Rechtsstaates sein. Die „rot-grüne“ Bundesregierung verfolgte das Ziel, die für einen wirksamen Schutz des Luftverkehrs gegen Flugzeugentführungen, Sabotageakte und sonstigen gefährlichen Eingriffe erforderlichen Regelungen in einem eigenen Gesetz zusammenzufassen. Sie glaubte u. a. mit ihren Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte in den Fällen, in denen die Polizeibehörden der Länder nicht über die personelle und technische Ausstattung zum Handeln verfügen, einen Beitrag zur Rechtssicherheit und -klarheit zu leisten.10 Die erwähnten Beispiele hätten gezeigt, dass es zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs erforderlich sei, klare Zuständigkeiten bei Bund und Ländern sowie schnelle und effiziente Informations- und Entscheidungsstrukturen zu schaffen. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Regelung von Maßnahmen der Streitkräfteeinsätze auf der Grundlage des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 Satz 1 GG ergebe sich aus Art. 73 Nr. 1 GG. Im Übrigen ergebe sich die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 73 Nr. 6 GG, welcher auch die polizeiliche Sicherheit des Luftverkehrs umfasse sowie aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. In Abschnitt 3 des Entwurfs des Luftsicherheitsgesetzes ist die „Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte“ ge9 Vgl. insgesamt: Prantl, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 39 vom 16. Februar 2006, S. 4. Mit bitterer Ironie legt Kühne (NJW-Editorial Heft 3 / 2006) dar, dass Entführung und Folter der neue Preis sind, den die Erhaltung der Freiheit und die Bekämpfung des Terrorismus von uns fordern. 10 BR-Drs 827 / 03 vom 7. November 2003 und BT-Drs 15 / 2361 vom 14. Januar 2005.
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regelt. Auch die Vorschriften dieses Abschnittes sollen „Gefahrenabwehrrecht“ enthalten. Liegen aufgrund eines „erheblichen Luftzwischenfalls“ Tatsachen vor, die im Rahmen einer Gefahrenabwehr die Gefahr begründen, dass ein „besonders schwerer Unglücksfall“ nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 GG bevorsteht, können die Streitkräfte, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Unglücksfalles eingesetzt werden (§ 13 Abs. 1 LuftSiG). Auf Anforderung des betroffenen Landes trifft der Bundesminister der Verteidigung (oder ein zu seiner Vertretung berechtigtes Mitglied der Bundesregierung) „im Benehmen“ mit dem Bundesminister des Innern die Entscheidung über einen Einsatz. Ist sofortiges Handeln geboten, ist das Bundesministerium des Innern „unverzüglich“ zu unterrichten (§ 13 Abs. 2 LuftSiG). In den Fällen des Art. 35 Abs. 3 GG (Gefährdung durch eine Naturkatastrophe oder Unglücksfall, die sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt) trifft die Bundesregierung die Entscheidung im Benehmen mit den betroffenen Ländern. Ist dies nicht rechtzeitig möglich, so entscheidet der Bundesminister der Verteidigung (oder ein berechtigter Vertreter) im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern (§ 13 Abs. 3 LuftSiG). Aus der Sicht der Bundesregierung liegt ein „Luftzwischenfall“ bei jeder Abweichung vom normalen Luftbetrieb vor. Die Regelungen des § 13 LuftSiG erfassen auch Ballons, Raketen oder sonstige Flugkörper. Die Gefahr eines besonders schweren Unglücksfalls bezieht sie auf die Folgen, die von einem zur Angriffswaffe umfunktionierten Flugzeug bzw. von einem entführten Flugzeug ausgehen können. Als Beispiel wird der Angriff auf ein Hochhaus, eine gefährliche Industrieanlage oder ein Atomkraftwerk genannt. Das Ziel der Streitkräftemaßnahmen sollte die Verhinderung des besonders schweren Unglücksfalles im Rahmen der Gefahrenabwehr sein. Dieser Fall muss nach Lage der Umstände im Entscheidungszeitpunkt bevorstehen, der „Interventionspunkt“ sollte also auf einen Zeitpunkt vorverlagert werden, in dem der be-
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sonders schwere Unglücksfall noch nicht eingetreten ist. Erforderlich ist also regelmäßig eine „Prognoseentscheidung“. Die Bundesregierung wollte die Zuständigkeiten der Gefahrenabwehrbehörden nicht antasten. Weisungsbefugnisse der Streitkräfte gegenüber zivilen Stellen waren nicht vorgesehen. Die Maßnahmen der Streitkräfte sollten sachlich und zeitlich auf solche Gefahrenlagen beschränkt werden, welche die für die Gefahrenabwehr zuständigen Stellen mit ihren eigenen Mitteln nicht bewältigen können. Seine Entscheidung hat der Bundesminister der Verteidigung mit dem Bemühen um die Herstellung eines Einverständnisses („Benehmen“) mit dem Bundesinnenminister zu treffen. Dies reflektiert die Erfahrung, dass die Handlungsspielräume bei der Bekämpfung von Gefahren im Luftraum zeitlich äußerst knapp bemessen sind. Die Einzelheiten des Verfahrens bei der Herstellung des Benehmens bzw. bei der Unterrichtung (Meldewege, Einbeziehung der Gefährdungsbeurteilungen aller zuständigen Stellen) werden einer Regelung zwischen Bund und Ländern überlassen. Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles sollten die Streitkräfte ermächtigt werden, Luftfahrzeuge im Luftraum abzudrängen, zur Landung zu zwingen, den Einsatz von Waffengewalt anzudrohen oder Warnschüsse abzugeben (§ 14 Abs. 1 LuftSiG). Von mehreren möglichen Maßnahmen war diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Sie hätte nur so lange und so weit durchgeführt werden können, wie ihr Zweck es erforderte und durfte nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem angestrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (§ 14 Abs. 2 LuftSiG). Die „unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ war nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen gewesen wäre, das das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollte, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr gewesen wäre (§ 14 Abs. 3 LuftSiG). Die Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG („Abschussbefehl“) hätte nur vom Bundesverteidi-
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gungsminister (oder Vertreter) angeordnet werden dürfen. Im Übrigen sollte dieser den Inspekteur der Luftwaffe ermächtigen können, Maßnahmen nach § 14 Abs. LuftSiG anzuordnen (§ 14 Abs. 4 LuftSiG). Aus der Sicht der Bundesregierung enthält § 14 Abs. 3 LuftSiG für den „schwersten aller denkbaren Eingriffe“ (unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt) eine „ultima ratio-Klausel“. Voraussetzung sei, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollte. Dieses müsse selbst als „Tatwaffe“, nicht als bloßes Hilfsmittel zur Tatbegehung eingesetzt werden. Zusätzlich zu dem Leben der im Luftfahrzeug befindlichen Menschen müsse zielgerichtet auch das Leben anderer Menschen durch den Einsatz von Gewalt rechtswidrig bedroht werden. Von der Nutzung des Luftfahrzeugs als Waffe sowie der Lebensbedrohung der Flugzeuginsassen und der weiteren Personen musste nach allen Umständen auszugehen sein. Zudem hätte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung festgestellt werden müssen, dass die unmittelbare Einwirkung von Waffengewalt das einzige Mittel gewesen wäre, um Menschenleben zu retten. Der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Innenausschusses des Deutschen Bundestages ist zu entnehmen, dass u. a. die §§ 13 und 14 des Entwurfs keine Änderungen erfuhren. Die Fraktion der CDU / CSU hatte darüber hinaus eine Grundgesetzänderung für erforderlich gehalten, um im Falle terroristischer Bedrohungen auf Anforderung eines Landes die Streitkräfte zum Schutz ziviler Objekte einzusetzen. Sie sah den Entwurf als nicht hinreichend an. Die geforderte Verfassungsänderung hätte den Vorteil, dass nicht für jedes Bedrohungsszenario ein eigenes Gesetz geschaffen werden müsse. Die Opposition (FDP) hielt die Entwürfe für unnötig. Der Abschuss eines Flugzeuges zur Abwehr von Gefahren für Menschenleben stelle ein unlösbares moralisches Dilemma dar. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze (Art. 35 GG) genügten, um den Abschuss eines Flugzeugs im Ausnahmefall zu ermöglichen. § 14 Abs. 3 LuftSiG gebe nur den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wieder, der ohnehin gelte. Deshalb liege
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hier auch keine Ermessenseingrenzung vor. Gesetzliche Regelungen könnten vielmehr zur Absenkung der Einsatzschwelle führen. Die damaligen Koalitionsfraktionen betonten demgegenüber, sie wollten die Luftsicherheit „aus einer Hand“ gewährleisten und optimieren. Mit dem Entwurf liege ein „schlüssiges Gesamtkonzept“ vor. Eine Vielzahl von Regeln stärke die Prävention. Der Abschuss eines Flugzeugs werde unter eng begrenzten Voraussetzungen erlaubt. Art. 35 GG sei eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Amtshilfe der Bundeswehr. Das Ermessen der Exekutive werde geregelt und eingegrenzt. Insgesamt schaffe das Gesetz Rechtssicherheit. Die (damalige) Opposition (CDU / CSU) habe nicht die Luftsicherheit im Blick, sondern die Ausweitung auf Einsätze der Bundeswehr im Innern. Eine Vermischung polizeilicher und militärischer Aufgaben müsse aber „in jedem Falle“ vermeiden werden.11 Die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 9. November 2005 war nicht nur lehrreich, weil die Richter des Ersten Senats eine Fülle kritischer Fragen an die Verfahrensbeteiligten stellten. Umstritten war insbesondere, ob das Gesetz den Abschuss eines entführten und als „Lenkwaffe“ missbrauchten Passagierflugzeugs erlaubt. Die Verhandlung war auch argumentativ beeindruckend, weil juristisch höchst qualifizierte Verfahrensbeteiligte und Politiker ihre Rechtsauffassungen kundtaten. Der seinerzeitige Bundesminister des Innern (Schily) soll bei Richtern und Klägern gleichwohl Erstaunen ausgelöst haben, weil er den legalen Abschuss einer Passagiermaschine für „faktisch nicht denkbar“ hielt. Es müssten nämlich zwei Bedingungen zusammentreffen: die unmittelbar bevorstehende Gefahr eines gewollten Absturzes und die gleichzeitige Möglichkeit, dies zu verhindern. Demgegenüber hatte der Abgeordnete Wiefelspütz erklärt, man habe bei der Gesetzgebung sehr wohl den Fall eines 11 BT-Drs 15 / 3338 vom 16. Juni 2004, S. 28. Zur notstandsbedingten Tötung von Unbeteiligten im Fall des § 14 Abs. 3 LuftSiG neuerdings: Ladiges, ZIS 2008, 129 ff.
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Terroranschlages wie am 11. September 2001 im Auge gehabt. Der Prozessvertreter des Bundestages (Widmaier) hatte vorgetragen, das Gesetz erlaube das Abschießen von Flugzeugen in verzweifelten, ausweglosen Fällen. Nach der Wahrnehmung von Prozessbeobachtern zeigten sich die Mitglieder des Ersten Senats angesichts vieler Widersprüche ratlos darüber, was dass Gesetz eigentlich regelt. Der Vorsitzende des Senats (Papier) fragte gar, ob das Gesetz nicht zu unbestimmt sei und ob es sich der Gesetzgeber nicht etwas zu einfach gemacht habe. Er kündigte an, dass man sich wohl mehr am Wortlaut als an den Interpretationen seiner Urheber orientieren werde.12 Sehr viel klarer waren allerdings frühe Einschätzungen außerhalb des Gerichtssaals. In der öffentlich Debatte wurde richtigerweise daran erinnert, dass der Todessschuss auf einen Verbrecher, der die entsicherte Pistole an den Kopf der Geisel hält, mit den strafrechtlichen Kategorien von Notwehr und Notstand zu erfassen ist. Das gilt jedoch nicht für den Abschuss eines Flugzeuges, in dem unschuldige und unbeteiligte Passagiere sitzen. Damit wird das Rechtssystem in der Tat gesprengt. Gesetzliche (Ermächtigungs-)Formeln sind insoweit nichts anderes als der untaugliche Versuch, das Unregelbare zu regeln. Die Bundesregierung hat mit ihrer Gesetzesinitiative die Legalisierung des nicht Legalisierbaren erreichen wollen, wie ein Vertreter der Presse zutreffend erkannte. Er wies auch richtigerweise darauf hin, dass das Luftsicherheitsgesetz den potentiellen Opfern einer Flugzeugentführung das Recht auf Leben entzieht, um (vermeintlich!) mit diesen „Menschenopfern“ mehr Leben zu retten als geopfert werden. Seine Prognose war luzider als die Beiträge mancher Verfahrensbeteiligter: „Der Todesabschuss quantifiziert Menschenleben und wird daher vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Bestand haben können.“13 12 Zitiert nach: Kerscher, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 259 vom 10. November 2005, S. 7. 13 Prantl, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 259 vom 10. November 2005, S. 11.
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Es ist nicht nur bemerkenswert, sondern in höchstem Maße beunruhigend, dass seinerzeit die Diskussion über derartige Maßnahmen weniger intensiv war als über den „normalen“ Todesschuss. Auch insoweit finden sich in den Medien plausible Erklärungen. Die Attentate in den USA (und anderen Ländern) haben offensichtlich die Gewissheiten über das, was der Staat nicht darf, beseitigt. Nach dem Empfinden mancher Beobachter hat die Geschichte des „Todesabschusses“ mit dem Attentat von New York begonnen, auch wenn Schily in der mündlichen Verhandlung versucht habe, dies zu leugnen und so getan habe, als hätte der Gesetzgeber nicht exakt dieses Szenario erfassen wollen. Die Abgeordneten Wiefelspütz und Ströbele hätten dem damaligen Bundesinnenminister an Ort und Stelle widersprochen. Angesichts der Argumentation von Schily (Abschuss „praktisch ausgeschlossen“) fragt man sich, warum § 14 Abs. 3 LuftSiG Eingang in den Gesetzesentwurf gefunden hat. Aus grundsätzlichen und in der juristischen Dogmatik hinlänglich bekannten Gründen erscheint der Regelungsversuch gleichzeitig überflüssig und absonderlich. Ein Abschussbefehl kann unter vorhersehbaren Umständen nie rechtmäßig sein. Unter den annehmbaren Konstellationen hat der einen entsprechenden Befehl erteilende Amtsträger kein Recht zur Tötung Unschuldiger. Eine Politik, die den Flugzeugabschuss rechtfertigt, denkt offensichtlich in den Kategorien des Krieges. Die Bundesregierung ist jedoch vorerst mit dem Versuch gescheitert, das „Kriegsrecht“, wenn es denn so etwas in einem ernst zu nehmenden Sinne überhaupt gibt, auf innerstaatliche Konfliktsituationen auszudehnen. Kritiker betonen, das Bundesverfassungsgericht habe über ein Tabu verhandelt, das ein Tabu hätte bleiben müssen. Ein Beschwerdeführer hatte die These vertreten, dass wir nicht im Mittelalter leben, wo der Staat die Leben seiner Bürger opfert. Er sah durch das Luftsicherheitsgesetz nicht nur Grundrechte, sondern die moralischen Maßstäbe der Gesellschaft schlechthin verletzt. In der Presse ist die Befürchtung laut geworden, dass das Gesetz viel mehr Rechtsprobleme schafft als es löst. Es gaukele nur den Anschein vor, dass es eine an sich richtige
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Entscheidung, eine abstrakt richtige Abwägung geben könne: „Es hat mehr von einem politischen Placebo denn von einer Rechtswahrheit.“14 Während des Gesetzgebungsverfahrens war – abgesehen von den Bedenken, die im Hinblick auf die materielle Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG geäußert wurden – vor allem streitig, ob sich die §§ 13 bis 15 LuftSiG in dem durch Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG vorgegebenen Rahmen halten. Das wurde im Deutschen Bundestag von der Bundesregierung und den Abgeordneten der Regierungsparteien bejaht, von den Oppositionsparteien verneint. Die Beschwerdeführer haben zunächst geltend gemacht, dass das Luftsicherheitsgesetz sie zum bloßen Objekt staatlichen Handelns mache. Wert und Erhaltung ihres Lebens würden unter „mengenmäßigen Beschränkungen“ und nach der ihnen „den Umständen nach“ vermutlich verbleibenden Lebenserwartung in das Ermessen des Bundesministers der Verteidigung gestellt. Die §§ 13 bis 15 LuftSiG könnten mit Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gerechtfertigt werden. Sie wollten für die Bewältigung einer ausweglosen Grenzsituation „partielles Kriegsrecht“ einführen. § 14 Abs. 3 LuftSiG sei im Übrigen schon deshalb nicht verfassungsgemäß, weil das Gesetz nicht mit Zustimmung des Bundesrates zustande gekommen war. Der Deutsche Bundestag war dagegen der Auffassung, dass weder Art. 1 noch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt sei. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 lasse die Tötung eines Menschen ausdrücklich zu. Im Hinblick auf eine Regelung, die darauf hinauslaufe, zur Vermeidung einer noch größeren Zahl von Toten eine relativ kleinere Zahl von Menschen durch die Streitkräfte töten zu lassen, sei es im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG „in Wahrheit“ entscheidend, ob das Gesetz sicherstelle, dass dies im äußersten Notfall geschehe. Der Deutsche Bundestag bejahte dies. In der dicht besiedelten und relativ kleinen Bundesrepublik Deutschland sei es „faktisch fast nicht denkbar“, dass es zur „Option“ des § 14 Abs. 3 LuftSiG komme. Die Vor14
Bittner, in: Die Zeit Nr. 45 vom 3. November 2005, S. 7.
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schrift konstituiere einen persönlichen, an das Amt anknüpfenden Rechtfertigungsgrund für den Bundesminister der Verteidigung und die ausführenden Soldaten. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen hielt dagegen den Abschuss eines Luftfahrzeugs verfassungsrechtlich allenfalls dann für zulässig, wenn sich darin nur „Störer“ befinden. Die Bundesregierung behauptete u. a., dass der Staat mit dem Luftsicherheitsgesetz seine Schutzpflicht gegenüber jedem menschlichen Leben erfülle. Die strengen Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG schlössen die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug, in dem sich unbeteiligte Personen befinden, unter Zugrundelegung aller denkbaren Geschehensabläufe aus. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Flugzeuginsassen gleichsam Teil einer Waffe seien. Angesichts der gegenwärtigen Bedrohung des Luftverkehrs müsse den Passagieren die Gefährdung bewusst sein, in die sie sich begäben, wenn sie am Flugverkehr teilnehmen. Bei einem Handeln nach § 14 Abs. 3 LuftSiG könne wenigstens ein Teil der bedrohten Leben gerettet werden. Dies dürfe auch zu Lasten derer geschehen, die ohnehin nicht zu retten seien. Die Würde der Insassen eines von einem Abschuss betroffenen Flugzeugs werde geachtet. Sie seien Teil einer Waffe, die das Leben anderer bedrohe. Nur deshalb und mangels anderer Möglichkeiten der Gefahrenabwehr richteten sich die Maßnahmen auch gegen sie. Auch eventuell gefährdete Dritte seien nicht in ihrer Menschenwürde verletzt. Das Gesetz diene mit all seinen Regelungen auch ihrem Schutz. Der Streitkräfteeinsatz diene der Abwehr eines besonders schweren Unglücksfalles im Rahmen der Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Eine Zustimmung des Bundesrates sei nicht erforderlich. Die Bayerische Staatsregierung und die Hessische Landesregierung waren der Ansicht, dass die angegriffene Regelung gegen Art. 87a Abs. 2 i. V. m. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG verstoße. Das Bundesverfassungsgericht hält die Rüge der Beschwerdeführer (Verletzung der Rechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2
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Abs. 2 Satz 1 GG durch § 14 Abs. 3 LuftSiG) für zulässig und die Beschwerdeführer für beschwerdebefugt. Der Senat geht von der hinreichenden Wahrscheinlichkeit aus, dass sie durch die angegriffene Vorschrift selbst und gegenwärtig in ihren Grundrechten betroffen werden. Unter „unmittelbarer Einwirkung“ versteht das Gericht letztlich den Abschuss des Luftfahrzeugs. Davon könnten auch Personen betroffen sein, welche die Gefahr eines besonders schweren Unglücksfalls nicht geschaffen haben. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Verfassungsbeschwerde auch für begründet. Die Urteilsgründe sind klar und zwingend: Das (Freiheits-)Recht auf Leben schützt die biologischphysische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes, unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit gegen staatliche Eingriffe. Jedes Leben ist als solches gleich wertvoll. Obwohl es innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt, steht auch dieses Recht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG zwar unter Gesetzesvorbehalt. Davon darf aber nur unter bestimmten Voraussetzungen Gebrauch gemacht werden (kompetenzgemäßer Erlass, Unantastbarkeit des Wesensgehalts des Grundrechts, Widerspruchsfreiheit gegenüber verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen). Der Bund war (noch nicht einmal!) zur Gesetzgebung befugt. Bei § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es auch im Sinne der Kompetenznorm des Art. 73 Nr. GG nicht um „Verteidigung“, sondern im Rahmen der Gefahrenabwehr um eine den Ländern obliegende Aufgabe, da die Varianten des Art. 35 GG unstreitig zu den Regelungen des Grundgesetzes gehören, die im Sinne des Art. 87a GG Abs. 2 GG den Einsatz der Streitkräfte außerhalb der Verteidigung ausdrücklich zulassen. Daran ändert sich durch den Hinweis auf die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Luftverkehr (Art. 73 Nr. 6 GG) nichts, weil es nach der angegriffenen gesetzlichen Konzeption um die Unterstützung bei der Gefahrenabwehr der Länder geht. Art. 73 Nr. 6 GG vermittelt keine Gesetzgebungs-
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befugnis für Ausführungsregelungen zum Streitkräfteeinsatz in den Konstellationen des Art. 35 GG. Der dort eröffnete Kompetenzbereich des Bundes reicht für § 14 Abs. 3 GG nicht, weil diese Vorschrift mit den wehrverfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar ist. Der Bund hat die Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG zur „Verteidigung“ aufgestellt. Ihr Einsatz erfordert nach Art. 87a Abs. 2 GG eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Zulassung. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils über den materiellrechtlichen Widerspruch des § 14 Abs. 3 zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG und zu dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind von zentraler Bedeutung. Nur soweit sich die Einsatzmaßnahme gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder gegen den- oder diejenigen richtet, denen ein solcher Angriff zuzurechnen ist, begegnet die Vorschrift keinen Bedenken. Ansonsten gilt Folgendes: Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert. Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie kann keinem Menschen genommen werden, auch wenn der sich aus ihr ergebende Achtungsanspruch verletzbar ist. Dies gilt unabhängig von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens. Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde schließt es generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen. „Schlechthin verboten“ ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt. In der Extremsituation einer Flugzeug-
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entführung sind Passagiere und Besatzung typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Entführer. Auch der Staat, der zu einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Ein gezielter und mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlicher Beschuss missachtet die Betroffenen (Unschuldigen) als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtet; indem man über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anordnung und Durchführung einer solchen Maßnahme stets mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden können. Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten nicht immer vermeiden lassen, ist es unter Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG „schlechterdings unvorstellbar“, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer hoffnungslosen Lage befinden, sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten zu töten. Es ist nicht anzunehmen, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Flugzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls es zu einem Luftzwischenfall kommt. Eine solche Annahme ist „ohne jeden realistischen Hintergrund und nicht mehr als eine lebensfremde Fiktion.“ Ein Verstoß gegen den Würdeanspruch liegt auch vor, wenn die betroffenen Menschen „ohnehin dem Tode geweiht“ sind. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Das Gericht betont, dass derjenige, der dies leugnet oder in Frage
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stellt, denjenigen, die sich in einer alternativlosen Notsituation befinden, gerade die Achtung, die ihnen um ihrer menschlichen Würde willen gebührt, verweigert. Die Annahme, dass die Opfer einer Flugzeugentführung selbst Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, ist ebenfalls unhaltbar. Sie bringt „geradezu unverhohlen“ zum Ausdruck, dass die betroffenen Opfer nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden. Mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und der Vorstellung vom Menschen als einem Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen, und das deshalb nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf, lässt sich dies nicht vereinbaren. Die Anordnung und Durchführung der unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt lässt außer Betracht, dass auch die im Flugzeug befindlichen Opfer eines Angriffs Anspruch auf den staatlichen Schutz ihres Lebens haben. Es wird ihnen nicht nur dieser Schutz verwehrt. Der Staat greift selbst in das Leben der Schutzlosen ein. Jedes Vorgehen nach § 14 Abs. 3 LuftSiG missachtet somit die Subjektstellung dieser Menschen. Das ist mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem sich daraus für den Staat ergebenden Tötungsverbot nicht vereinbar. Dies gilt unbeschadet der Absicht, mit diesem Vorgehen das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist dagegen mit Art. 2 Abs. 2 Satz i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG insoweit vereinbar, als sich die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder ausschließlich gegen Personen richtet, die das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen. Da es dem Bund für § 14 Abs. 3 LuftSiG aber schon an der Gesetzgebungskompetenz mangelt, hat die Vorschrift auch insoweit, als sie die unmittelbare Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt materiellverfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann, keinen Bestand. Die Regelung ist in vollem Umfang verfassungswidrig und infolgedessen gemäß § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG nichtig.
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Mit der Einbringung und Verabschiedung des Luftsicherheitsgesetzes haben die Bundesregierung – federführend vertreten durch den Bundesminister des Innern und für Sport – und der Deutsche Bundestag versucht, die tragenden Pfeiler der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu demontieren. Sie handelten in der Absicht, das Unverfügbare verfügbar zu machen. Die gesetzliche Ermächtigung zum Abschuss eines gekaperten Luftfahrzeuges, in dem sich neben den Entführern auch noch Besatzung und Passagiere befinden, ist nicht nur der (vorläufige?) Höhepunkt eines seit längerem anhaltenden Prozesses der Erosion der Rechtsstaatlichkeit, der durch den modernen Terrorismus in Gang gesetzt wurde. Eine Zeit lang konnte man sich vielleicht noch damit trösten, dass es vor allem die Regierung der USA war, die mit beeindruckender Leichtigkeit die meisten Errungenschaften des modernen Grundrechtsschutzes in den letzten Jahren aufgegeben hatte.15 In einem Klima, das von individueller Angst, gesellschaftlicher Hysterie und politisch-publizistischer Profitabilität geprägt ist, haben die für eine verteidigenswerte Ordnung unverzichtbaren Freiheitsvermutungen ihre prägende Kraft verloren. Langfristige Strategien zur Risikovorsorge, seriöse analytische Arbeit und qualifizierte Arbeit der Sicherheitsbehörden scheinen nicht mehr zu genügen. Wechselnde politische Machthaber fühlen sich offensichtlich verpflichtet, zur Demonstration ihrer eskalierenden Entschlossenheit Hand an Verfassungsprinzipien zu legen, an deren Unantastbarkeit nach den Erfahrungen mit der menschenverachtenden und massenmörderischen Politik, die der Verabschiedung des Grundgesetzes in Deutschland vorausgegangen war, nie wieder der geringste Zweifel bestehen sollte. Die gesetzgeberischen Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus haben die grundsätzliche Frage, durch wie viel Sicherheit die Freiheit zu schützen ist, in einer Weise aktualisiert, die man vor wenigen Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte. Jetzt scheint auch die politische Führung in 15
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Deutschland sich nicht mehr für die Möglichkeiten einer schutzwirksamen Kompatibilität der Funktionslogiken von Rechtsstaat und Präventionsstaat, von Freiheitssicherung und Sicherheitsgewährleistung zu interessieren. Es sei in diesem Zusammenhang an das Wesen einer Diktatur erinnert. Solch ein System verlegt die Abwehr der ihm feindlichen Tendenzen in Rechtssphären vor, die in einem freien Staat durch Individualrechte gesichert sind. Die vollkommenste Diktatur ist natürlich diejenige Staatsform, der diese Verlegung perfekt gelingt. Inzwischen scheint in den Staaten des Westens ein Wettlauf in diese Richtung begonnen zu haben. Es kann dahinstehen, ob § 14 Abs. 3 LuftSiG als Meilenstein dafür konzipiert war. Ebenso müßig sind individualpsychologische Spekulationen darüber, ob diese Vorschrift Ausdruck von Allmachtsphantasien der am Zustandekommen dieses Gesetzes beteiligten Amtsträger war. Aufschlussreicher wäre eine Antwort auf die Frage, wozu der versammelte juristische Sachverstand einer großen und angeblich hoch qualifizierten Ministerialbürokratie gut ist, wenn noch nicht einmal erkannt wird, dass es keine verfassungsrechtliche Legitimation (Zuständigkeit) für die Einbringung und Verabschiedung eines derartigen Gesetzeswerkes gibt! Dabei wird unterstellt, dass es trotz des vom Bundesverfassungsgericht erkannten Mangels der Gesetzgebungskompetenz unangemessen wäre, die am Gesetzgebungsprozess Beteiligten schon deshalb als „inkompetent“ zu bezeichnen. Es dürfte eher wahrscheinlich sein, dass dieser schwerwiegende Mangel durchaus erkannt war, aber aufgrund der herrschenden Verhältnisse und Personen keinerlei Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen wurden. Noch besorgniserregender ist die Verkennung und / oder Missachtung der materiellrechtlich gegebenen Verfassungslage, so wie sie das Bundesverfassungsgericht in unüberbietbarer Klarheit beschrieben hat. Wenn es demokratisch legitimierten und auf Zeit in ein Amt oder eine Funktion berufenen Abgeordneten und Vertretern der Exekutive gelingt, sich wie „Hohepriester“ zu gerieren, welche eine klare und verpflichtende Rechtslage so ändern und interpretieren können, dass
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sie dem menschlichen Leben gegenüber nicht mehr den unverzichtbaren Respekt haben müssen und je nach ihrer Vorstellung von Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit auf einer bis zuletzt unsicheren Tatsachengrundlage die Opferung unschuldiger Mitbürger veranstalten lassen können, dann wird es allerhöchste Zeit, sich an Grundsätze zu erinnern, die wichtiger sind als jeder Amtsinhaber, der die Bundesrepublik Deutschland in einen Maya-Staat verwandeln möchte. Es ist nicht abschließend zu beurteilen, ob die gesetzliche Ermächtigung zum Abschuss eines mit Unschuldigen besetzten Flugzeugs letztlich nur Verachtung für die in Art. 20 Abs. 3 GG genannte verfassungsmäßige Ordnung dokumentiert. Eine klare Antwort auf diese Frage wäre nicht zuletzt deshalb hilfreich, weil alle Deutschen gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, das Recht zum Widerstand haben, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist (Art. 20 Abs. 4 GG). Es ist unstreitig, dass eine „Beseitigung“ bei kurzfristigen oder vereinzelten Verletzungen der Prinzipien des Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG nicht vorliegt. Art. 20 Abs. 4 GG gewährt daher kein Widerstandsrecht gegen einzelne, Art. 20 GG verletzende Maßnahmen staatlicher Organe. Liegen diese Voraussetzungen aber objektiv vor, sind beliebige Formen des Widerstands möglich, auch wenn sie dem geltenden Recht nicht entsprechen. Die Konsequenzen müssen glücklicherweise in absehbarer Zeit nicht diskutiert werden, weil demokratische Wahlen auch in personeller Hinsicht Remedur schaffen können. Das ist auch gut so, weil die folgenden Gedankengänge nicht jedem Entscheidungsträger zu vermitteln sein dürften: So ausweglos die Situation des Opfers einer Flugzeugentführung objektiv und subjektiv auch ist, die Hoffnung auf eine glückliche Wendung wird buchstäblich bis zur letzten Sekunde bestehen bleiben. In der Tat kann sich die Lage in einer derart dynamisch-dramatischen Konstellation schlagartig ändern. Sollte aber wirklich ab einem bestimmten Zeitpunkt keinerlei Aussicht auf Rettung mehr bestehen, wäre es für das Selbstgefühl immer noch ein Unterschied, ob man zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt an von der eige-
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nen Regierung als „Dead man walking“ oder „lebender Toter“ behandelt wird. Selbst unter den Bedingungen eines existenzbedrohenden Dilemmas ist durchaus vorstellbar, dass die Betroffenen es kraft ihrer Einsicht über die Unentrinnbarkeit ihres Schicksals sogar vorziehen würden, unmittelbar Opfer eines tödlichen Angriffs ihrer Entführer zu werden und nicht als „Exekutionsgegenstand“ einer Ermessensentscheidung des Bundesministers der Verteidigung, die „im Benehmen“ mit dem Bundesminister des Innern und für Sport getroffen wurde, benutzt zu werden. Selbst in ihrer Todesangst könnten die bedrohten Menschen gut verstehen, dass ihnen durch Mitglieder der Bundesregierung ihre letzte Würde noch zu Lebzeiten genommen werden soll.
VIII. Verhör oder Folter? Die Massenmörder, die dem islamistischen Terrorismus zugerechnet werden, beschädigen und vernichten das Eigentum, die Gesundheit und das Leben zahlreicher unschuldiger Mitmenschen überall auf der Welt. Die Folgen ihrer menschenverachtenden Verbrechen sind unübersehbar und in höchstem Maße beklagenswert. Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Sicherheitsbehörden Verdächtigen und Tätern mit größtmöglicher Effizienz aber auch unter gleichzeitiger Beachtung der Maßstäbe eines Rechtsstaates begegnen müssen. Dabei handelt es sich um eine Aufgabe, die komplexer kaum sein kann. Die „Erfolge“ terroristisch motivierter Anschläge sind unterdessen evident. Darüber hinaus ist den Terroristen etwas gelungen, was sich erst in jüngerer Zeit deutlicher herausschält. Nach dem Empfinden eines Beobachters haben sie den Geist der Gesetze vergiftet und das Vertrauen in Rechtsstaaten verseucht. Die islamistischen Terroristen haben sie dazu gebracht, ihre Prinzipien zu opfern. Sicherheitsorgane demokratischer Gemeinwesen sind dazu verleitet worden, jenseits der Legalität zu operieren. Die Attentäter haben die Schaltzentralen der westlichen Demokratien, zuvorderst in Washington, mental besetzt und sie dazu provoziert, die Grundsätze, die es gegen den Terrorismus zu verteidigen gilt, in Frage zu stellen und zu verraten. Darin liegt der bisher größte Erfolg der Terroristen.1 Angesichts der Gemeingefährlichkeit von Tätern, deren vorgeblich religiöse Motivation pathologische Ausmaße angenommen hat, werden nicht alle, die sich durch den Terrorismus bedroht fühlen und in Sicherheit leben wollen, dieser Einschätzung zustimmen. Es ist den1 Zutreffend: Prantl, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 289 vom 15. Dezember 2005, S. 4.
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noch nicht zu bestreiten, dass in diesem Zusammenhang Fragen akut werden, deren grundsätzliche Bedeutung schwer zu überbieten ist. Berichte über Verschleppungen und Folterungen, ausgeführt durch staatliche Organe überall auf der Welt, sind Legion. Nicht erst seit Einführung der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 ist Folter ein Instrument staatlicher und kirchlicher Machtausübung auch in Europa gewesen. Man mag zwar der Auffassung sein, dass ihre Abschaffung durch eine Kabinettsorder Friedrichs des Großen rechtsdogmatisch den Weg zu freien Beweiswürdigung eröffnet hat.2 Wie aber die jüngere Vergangenheit in Deutschland und in vielen anderen Ländern zeigt, ist damit dieses Grundübel der Menschheit keineswegs ausgerottet worden. Mittlerweile liegt experimentell bestätigtes Wissen darüber vor, dass fast alle Menschen zu extremen Formen von Folter bereit sind.3 Im Zuge der Expeditionen der Streitkräfte der USA und anderer Staaten nach Afghanistan und in den Irak wurden immer wieder Gewalttaten verübt, die Folterungen gleichkommen. Entsprechende Vorwürfe werden auch im Hinblick auf die Behandlung von Menschen erhoben, die sich wegen des Verdachts terroristischer Handlungen im militärischen bzw. staatlichen Gewahrsam von Ländern befinden, in denen es einschlägige „Traditionen“ gibt und die es dorthin im Zuge von Entführungen und Verschleppungen („renditions“), ausgeführt von geheimdienstlichen Mitarbeitern, verschlagen hat. Der in der Zeitschrift „New Yorker“ erschienene erste Artikel über den dringenden Verdacht, die USA ließen Verdächtige in Staaten ohne 2 Reifferscheidt, JA 1980, 102 ff. Ausführlich bereits: Hetzer, Verschleppung (2006); ders., Kriminalistik 2006, 148 ff. 3 Milgram. Vgl. auch: Keller. Im Übrigen sei daran erinnert, dass sich auch Massenmörder überwiegend aus dem Kreis „ganz normaler“ Menschen rekrutieren. Dazu ausführlich: Welzer und Heuer. Zur Frage, ob es unter Opferschutzgesichtspunkten sogar eine staatliche Pflicht (!) zur Anwendung der Folter gibt: Brugger, JZ 2000, 165 ff. (bejahend); ders., in: Politik und Zeitgeschehen 36 (2006), S. 1 ff. Vgl. auch: Miehe, NW 2003, 1219 ff. Ablehnend: Schaefer, NJW 2003, 947; Hamm, NJW 2003, 946 f.; Kreuzer, in: Nitschke (Hrsg.), S. 35 ff.
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ausreichende Rechtssicherheit, doch mit um so geübterem Personal foltern, stand unter der Überschrift „Outsourced Torture“. Das klingt modern, hat seine Wurzeln aber in der Inquisition.4 Der gegenwärtig amtierende Bundesminister des Innern und für Sport, Wolfgang Schäuble, hat jedenfalls bestätigt, dass Angehörige deutscher Sicherheitsbehörden an Verhören in Guantanámo und in Syrien beteiligt waren. Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) haben den deutschen Staatsbürger syrischer Herkunft, Mohammed Haidar Zammar, in Syrien verhört. Bedienstete anderer Behörden haben den in Bremen aufgewachsenen Murat Kurnaz in Guantánamo vernommen. Nach dem Kenntnisstand des Innenministers hätten sich die Mitarbeiter des BKA korrekt verhalten. Er beruft sich auf Akten. Dort finde sich kein Hinweis auf Folterungen des Verdächtigen Zammar. Das Verhör sei Teil einer unmittelbaren Zusammenarbeit zwischen Syrien und Deutschland gewesen. Obschon keine Fehler gemacht worden seien, habe sein Vorhaben, in Zukunft noch strenger auf eine Trennung von BKA und Nachrichtendiensten zu achten, mit dem Fall Zammar zu tun.5 Einerseits ist es beruhigend, dass der insoweit allerdings nur partiell zuständige Ressortchef (die Aufsicht über den BND obliegt dem Chef des Bundeskanzleramtes) dem Trennungsgebot zwischen Polizeibehörden und Geheimdiensten gerecht werden will. Anderseits erforderte es eine eigene Untersuchung, ob diese Konstruktion mittlerweile überhaupt noch einen Realitätsbezug hat.6 Wie auch immer: Der Fall Zammar von Müller, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 15. Dezember 2005, S. 51. http: // www.faz.net / s / RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB 23AO~E3681. . . (21.Dezember 2005). Der Gedanke, zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten zu unterscheiden ist nicht völlig neu. Vgl. dazu: Hetzer, der kriminalist 2002, 14 ff. 6 Über die Aufgaben und Befugnisse des BND im Hinblick auf die Aufklärung der Organisierten Kriminalität: Soiné, DÖV 2006, 204 ff. Zum Verhältnis zwischen Polizei und BND und zur „Strafrechtspflege“ durch Geheimdienste auch: Hetzer, der kriminalist 2000, 250 ff.; ders., StV 1999, 165 ff.; ders., ZRP 1999, 19 ff., ders., ZFIS 1999, 3 ff., ders., ThürVBl 2002, 251 ff. 4 5
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hat mittlerweile zu beeindruckenden Kostproben „politischer Logik“ geführt: In seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages am 13. März 2008 hat der Bundesminister des Auswärtigen (und ehemalige Chef des Bundeskanzleramtes und Beauftragter für die Koordination der Nachrichtendienste des Bundes), Frank-Walter Steinmeier, u. a. die verstärkte Zusammenarbeit mit Syrien in den Jahren 2001 / 2001 damit begründet, das Land habe nach dem 11. September 2001 im Kampf gegen den Terrorismus zu den „Verbündeten des Westens“ gehört. Man habe Syriens aktive Mitarbeit gebraucht, weil die Attentäter auch Verbindungen zu syrischen Islamisten unterhalten hätten. Die Entscheidung, Zammar dort zu vernehmen, habe man „wohl abgewogen“, auch in Kenntnis der Folterpraxis in syrischen Gefängnissen. Es wäre jedoch völlig unverantwortlich gewesen, wenn man nicht versucht hätte, Zammar über dessen „breite Vernetzung“ in islamistischen Kreisen in Deutschland zu befragen. Eine aktive oder passive Beteiligung an Folter komme für deutsche Behörden nicht in Frage. Dabei handele es sich um die „politische rote Linie“, die nie überschritten worden sei. Angesichts der lang anhaltenden Weigerung der Syrer, deutsche konsularische Betreuung Zammars zuzulassen, habe die Befragung möglicherweise dazu beigetragen, sein Schicksal praktisch zu verbessern. Steinmeier reagierte in seiner Vernehmung auf den Verdacht, deutsche Sicherheitsbehörden hätten im Herbst 2001 die Verhaftung Zammars in Kauf genommen, damit die US-Dienste ihn verschleppen und mit Methoden befragen können, die in Deutschland nicht erlaubt seien, mit den Worten: „Das ist völliger Unsinn.“7 Nach dem Eindruck journalistischer Beobachter lasse sich über die damalige Zusammenarbeit mit dem syrischen Geheimdienst und über die Befragung von Zammar in einem syrischen Gefängnis durch deutsche Beamte politisch und moralisch streiten; rechtlich sei beides wohl kaum angreifbar. Die politische Opposition habe 7 Insgesamt zitiert nach: Blechschmidt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 63 vom 14. März 2008, S. 7.
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(bis jetzt) nicht belegen können, dass deutsche Ämter von den Früchten syrischer Folterpraktiken profitiert oder gar die Verschleppung Zammars nach Syrien mitinszeniert hätten. Rechtlich gesehen war die Äußerung Steinmeiers (auf die Frage, warum man Zammar im Herbst 2001 trotz seiner Kontakte zu islamistischen Terror-Szene einen neuen Pass ausgestellt habe), er sei nicht Sachbearbeiter der Hamburger Passbehörde gewesen, zutreffend. Diese klare Rechtslage mag zu seiner Selbstsicherheit in der Vernehmung am 13. März 2008 beigetragen haben, während er nach dem entsprechenden Empfinden eines Zuhörers in seiner Vernehmung zum Fall Kurnaz als „herzloser Technokrat“ noch sichtlich unter Druck gestanden habe. Gingen die Fragen im Fall Zammar ihm jetzt zu sehr ins Detail, so leistete Steinmeier eigene Beitrage zu Aufklärung, indem er darum bat, ihm doch bitte die Fragen zu stellen, die in seinen Verantwortungsbereich fallen. Angesichts wiederholter Fragen verkündete er zudem: „Ich könnte geneigt sein, deprimiert das Antworten aufzugeben“. Es kann dahinstehen, ob die in der Presse benutzte Bezeichnung dieses Amtsträgers als „Teflon-Minister“, der unbeirrt alle Kritik an sich abperlen lasse, angemessen ist. Objektiv interessanter ist die Frage, warum man den als „Top-Gefährder“ geltenden Zammar ausreisen ließ. Die von Steinmeier gegebene Antwort, dass dies aus rechtlichen Gründen nicht zu verhindern war, erschien zumindest einem Mitglied des Untersuchungsausschusses (Stadler) nicht befriedigend. Selbstverständlich kann auch dieser Abgeordnete zwar nichts dagegen haben, dass die Rechtsstaatlichkeit der präventiven Gefahrenabwehr vorgeht. Bemerkenswert ist aber in der Tat (nicht) nur, dass sich die Sicherheitsbehörden im Fall Kurnaz unter der Verantwortung Steinmeiers für den umgekehrten Weg entschieden hatten.8 Auf den ersten Blick mag es müßig sein, den Gründen für dieses Verhalten nachzuspüren. Die Vorstellung, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss exklusiv und vor 8 Vgl. insgesamt: Blechschmidt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 64 vom 15. / 16. März 2008, S. 6.
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allem der Wahrheitsfindung dient, ist nicht erst seit der zitierten Vernehmung naiv. Gleichwohl lohnt ein Blick auf die junge Geschichte der Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Syrien zur Herstellung einer Sicherheitspartnerschaft. Zur Erinnerung: Der deutsche Islamist Mohammed Haydar Zammar wurde Ende 2001 auf Betreiben der CIA in sein Herkunftsland Syrien verschleppt. Die „rotgrüne“ Bundesregierung war gerade drei Jahre im Amt und Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte nach dem Eindruck mancher journalistischer Beobachter mit der Unterstützung seines damaligen Mitarbeiters Steinmeier ein neues Kapitel in den Beziehungen zu diesem Land aufschlagen. Schröder besuchte als erster deutscher Kanzler Damaskus im Oktober des Jahres 2000. Baschar al-Assad war nach dem Tode seines Vaters gerade mit 97 Prozent der Stimmen in das Präsidentenamt gewählt worden. Öffentlich wird über politische Reformen und einen „Neuanfang“ geredet. Dazu gehören auch die Finanzen. Syrien soll bis 2025 weniger als ein Viertel der Schulden an Deutschland (seinerzeit 2,5 Milliarden DM) zurückzahlen. Erstmals seit acht Jahren wird zudem wieder Entwicklungshilfe in Aussicht gestellt. Eine Konsequenz der wiederhergestellten guten Beziehung ist anscheinend die Kooperationsbereitschaft der Syrer nach dem 11. September 2001. Das Ergebnis wird in Teilen der deutschen Presse drastisch beschrieben: „Ihre Kerker werden zu Folterkammern für den zivilisierten Westen.“
Recherchen belegen angeblich, dass die Bundesregierung, und dort vor allem der Chef des Bundeskanzleramtes Steinmeier und sein damaliger Abteilungsleiter und jetzige Präsident des BND, Ernst Uhrlau, viel enger mit den Syrern kooperiert hätten als bisher bekannt sei. Die Verantwortlichen für die deutschen Geheimdienste seien früher in illegale CIAPraktiken eingeweiht gewesen, als sie bislang zugegeben hätten. Sie seien in die Entführung von Zammar tiefer verstrickt als bisher eingeräumt und sie hätten sich gemein gemacht mit einem „Folterstaat“ und pumpten angeblich bis heute Millionensummen in das Land. Die Betroffenen hätten dagegen
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geltend gemacht, von den Entführungsmaßnahmen und Verschleppungsaktionen der CIA in Drittstaaten jahrelang nichts gewusst zu haben. Der seinerzeit für die Aufsicht über den BND zuständige Uhrlau habe auf erste Presseberichte Ende 2004 verwiesen und erklärt, dass man im Kanzleramt keine eigenen Erkenntnisse gehabt habe, die über Presseberichterstattung hinausgingen. Dagegen stehen Behauptungen des damals für Europa zuständigen führenden CIA-Mitarbeiters Tyler Drumheller, wonach es schon im Herbst 2001, also Wochen vor der Verschleppung von Zammar, zwischen Vertretern deutscher Sicherheitsbehörden und der CIA Gespräche über das Entführungsprogramm gegeben habe. Die CIA habe versprochen, ihre Verbündeten bei Operationen einzubeziehen. Wegen juristischer Schranken habe es „eine Zusammenarbeit im Stillen“ gegeben. Ende Oktober 2001 hatte Zammar in Hamburg ein Flugticket nach Marokko gekauft. Er war zu dieser Zeit bereits Ziel umfangreicher Überwachungsmaßnahmen des BKA. Steinmeier und Uhrlau sollen über den bevorstehenden Abflug informiert worden sein und dies mit den Leitern der zuständigen Sicherheitsbehörden diskutiert haben. Drei Tage nach dem Abflug von Zammar habe sich die CIA beim BKA nach den Ergebnissen der Überwachung des Zammar erkundigt. Es soll ein reger Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden stattgefunden haben. Immerhin soll Drumheller klargemacht haben, dass man für „Überstellungen“ die Geschichte der Zielpersonen kennen müsse. Auf eine erneute Anfrage amerikanischer Dienste habe das BKA auch das Datum und die Flugnummer für die geplante Rückreise von Zammar übermittelt. Weitere umfangreiche und detaillierte Daten über Zammar sollen ungefragt mitgeteilt worden sein. Nach journalistischen Bewertungen hätte sich das Material perfekt geeignet, um ein Kidnapping vorzubereiten und Zammar dann bei Verhören unter Druck zu setzen – etwa mit konkretem Wissen über Familienangehörige im „Folterstaat“ Syrien. Am 8. Dezember 2001 wird Zammar schließlich auf Geheiß der Amerikaner von marokkanischen Sicherheitskräf-
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ten festgenommen und dem militärischen Geheimdienst Syriens überstellt. Steinmeier und Uhrlau sollen hiervon erst Mitte Juni 2002 durch die CIA unterrichtet worden sein. Der BND sei aber schon drei Monate früher informiert gewesen. Am 21. Juni 2002 habe man im Kanzleramt erstmals über die beabsichtigte Befragung Zammars in Syrien diskutiert. Gegen den Rat eines damaligen Kanzleramtsmitarbeiters (Guido Steinberg) habe Uhrlau zwei Wochen später mit einem hohen Offizier des syrischen Militärgeheimdienstes (Assif Schaukat, ein Schwager des Präsidenten Assad) über konkrete Kooperationsmöglichkeiten verhandelt. Schaukat habe damals angegeben, dass er den Namen „Zammar“ nicht kenne. Dessen ungeachtet soll Uhrlau angeboten haben, Spionageverfahren gegen zwei syrische Agenten in Deutschland einzustellen. Der Kronzeuge in diesem Verfahren, ein Deutscher syrischer Herkunft, sei im Mai 2002 von den Syrern verhaftet worden. Der Beginn der Hauptverhandlung war bereits auf den 23. Juli 2002 terminiert worden, der verhaftete Zeuge verblieb aber im syrischen Gewahrsam. Unmittelbar vor der Hauptverhandlung soll Steinmeier sich an den Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, Hansjörg Geiger, ehemals Präsident des BND und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, gewandt haben und um Einstellung des Verfahrens gegen die beiden angeklagten Spione gebeten haben. In seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages soll Geiger die Einstellung als „fast schon peinlich“ bezeichnet haben. Er soll sich trotzdem mit dem Generalbundesanwalt, Kay Nehm, in Verbindung gesetzt haben, der um ein schriftliches Ersuchen gebeten haben soll, das ihm auch – unterzeichnet von einem Unterabteilungsleiter des Bundesministeriums der Justiz –, zugegangen sein soll. Hier ist nicht zu erörtern, ob damit, wie in der Berichterstattung vermutet wird, die Einflussnahme von Steinmeier auf die unabhängige Justiz verschleiert werden sollte. Angeblich wollte er sich gegenüber der Presse zu dem Vorgang nicht äußern. Nur Stunden vor Prozessbeginn seien die Spione entlassen worden, der Kronzeuge, der Folterspuren aufgewiesen habe,
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sei ausgereist. Der deutsche Staatsbürger Zammar bleibt dagegen in Haft, ein konsularischer Zugang zu ihm werde verhindert. Fünf deutsche Sicherheitsbeamte seien indes im November 2002 mit Wissen von Steinmeier nach Syrien gereist, um Zammar dort über seine Verbindungen zu verhören. Sie hätten auch Behauptungen über Misshandlungen protokolliert. Aus den fünf Jahre später erfolgten Anhörungen des ehemaligen Präsidenten des BKA, Ulrich Kersten, vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages schließt man, dass die Syrer im Fall Zammar schon vor dem Besuch der deutschen Beamten in Damaskus zu einer „einvernehmlichen Lösung“ bereit gewesen seien. Der Abgeordnete Stadler habe sich an den Fall Kurnaz erinnert gefühlt, bei dem die Bundesregierung auch nicht alle Möglichkeiten ausgelotet hätte, um ihn aus Guantánamo herauszuholen. Mittlerweile soll Steinmeier erklärt haben, dass das Auswärtige Amt eine Freilassung Zammars aus „humanitären“ Gründen anstrebe. Uhrlau behaupte, dass er sich in Syrien für eine „konsularische Betreuung“ Zammars einsetze. Auch als Außenminister sei Steinmeier nach wie vor um gute Beziehungen mit Syrien bemüht, ungeachtet der angeblichen Kritik libanesischer und amerikanischer Diplomaten, nach deren Einschätzung Treffen wie mit dem syrischen Außenminister Walid al-Mualim im Januar 2008 dabei helfen, einem völlig isolierten Regime Legitimität zu verschaffen, das nichts tue, um sich diese zu verdienen. Mualim soll übrigens in den Mord an dem libanesischen ExPremierminister Rafik Hariri verwickelt gewesen sein.9 Man mag die zitierten Angaben als fragmentarische und sensationslüstern montierte Ergebnisse des „Boulevard-Journalismus“ ansehen und die Seriosität der Berichterstattung grundsätzlich in Zweifel ziehen. Gleichwohl enthalten sie einige Sachverhaltselemente, welche die Komplexität der zu fällenden Entscheidungen mindestens andeuten. Selbstverständlich ist in unserem Zusammenhang eine Aufklärung des 9 Insgesamt zitiert nach: Rauss / Schröm, in: stern Nr. 12 vom 13. März 2008, S. 67 ff.
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tatsächlichen Geschehens nicht zu leisten. Es geht auch nicht um die rechtliche, politische oder gar moralische Bewertung exekutiven Handelns. Eine derartige Berichterstattung kann (und soll) jedoch „colorandi causa“ demonstrieren, dass die hier zu behandelnden Fragen sich keineswegs in einem Vakuum stellen. Umso wichtiger ist die Fortsetzung der Diskussion, an der sich, in veränderten Positionen, alte und neue Amtsträger beteiligen. Dies gilt auch für den derzeitigen Bundesinnenminister Schäuble, der ebenfalls mehrfach erklärt hat, es wäre völlig unverantwortlich, Informationen, bei denen man nicht sicher sein könne, dass sie unter vollkommen rechtsstaatlichen Bedingungen zu erlangen waren, unter keinen Umständen zu nutzen. Auch solche Informationen müsse man nutzen. Für deutsche Sicherheitsbehörden gebe es aber klare rechtsstaatliche Grenzen. Sie dürften nicht an Folter beteiligt sein und auch nicht „augenzwinkernd“ erwarten, dass gefoltert wird, um an Aussagen von Terrorverdächtigen zu gelangen. Die Argumentation des Bundesinnenministers hat Widerspruch ausgelöst. Er sei nicht länger tragbar für Deutschland, weil die von ihm befürwortete Zusammenarbeit mit „Folterregimes und Folterknechten“ einer Legitimierung gleichkomme. Auch die Gewerkschaft der Polizei hat sich gegen die Nutzung von unter Folter erzwungenen Geständnissen ausgesprochen.10 Mittlerweile wird auch die Frage heftig diskutiert, ob Europa zu einen Drehkreuz für Lufttransporte der CIA geworden ist, mit denen Gefangene in inoffizielle und geheime Lager innerhalb und außerhalb des Kontinents verbracht worden sind, um dort fragwürdigen Vernehmungsmethoden ausgesetzt und rechtsstaatswidrig verwahrt zu werden.11 Die Autorität eines Staatswesens hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, den jeweiligen Staatsbürgern Schutz und 10 http: // www.faz.net / s / RubAC861D48C098406D9675C0E8CE355 498 / Doc~E62DF3A. . . (21. Dezember 2005). 11 Mascolo / Schlamp / Stark, in: Der Spiegel, Nr. 48 vom 28. November 2005, S. 120 ff. Zu der Frage, ob die Erklärungen diverser Amtsträger für Klarheit gesorgt oder eher Konfusion ausgelöst haben: Hetzer, StraFO 2006, 140, 141.
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Sicherheit zu gewährleisten. Dahinter steht die Frage nach der Legitimität des Staates und seines Gewaltmonopols. Wird die Schutzfunktion nicht erfüllt, können sich gravierende Folgen ergeben. Nicht erst seit Thomas Hobbes weiß man, dass die Verpflichtung der „Untertanen“ gegen den „Souverän“ nur so lange dauert, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Vielleicht gibt es tatsächlich einen „ewigen“ (das heißt auflösbaren!) Zusammenhang zwischen Schutz und Gehorsam. In den Zeiten von Hobbes wurde mit der fundamentalen Schutzpflicht eine autoritäre und nahezu schrankenlose Herrschaft begründet. In freiheitlichen Verfassungsstaaten sollte die Gewährleistung von Sicherheit aber nach Recht und Gesetz stattfinden, nicht anders. Die Bekämpfung des modernen Terrorismus hat nicht nur die Frage aufgeworfen, ob sich ein Gut (Rechtsgüter) schützen lässt, indem man es beschädigt.12 Weitere Fragen stehen im Raum: • Wie glaubwürdig können die Sicherheitsversprechen von Politikern heutzutage überhaupt noch sein? • Reichen die Mittel des klassischen Rechtsgüterschutzes aus? • Ist der neuen Qualität terroristischer Bedrohungen nur mit einer unbegrenzten Eskalation staatlicher Macht und Gewalt zu begegnen? • Heiligt der Zweck der Abwehr terroristisch motivierter Anschläge alle Mittel bis hin zur Missachtung der Souveränitätsrechte befreundeter Staaten, Entführung und Folter? 12 Leicht, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 15. Dezember 2005, S. 1, der im Hinblick auf das Verhalten des damaligen Innenministers Schily im Fall elMasri an die begrenzten staatsbürgerlichen Loyalitätspflichten erinnert. Die Erinnerung daran ist in der Tat notwendig, wenn auch nur der Eindruck entstehen kann, deutsche Politiker hätten mehr oder weniger achselzuckend darauf reagiert, dass ein deutscher Staatsbürger von einer ausländischen Macht verschleppt oder gar gefoltert wurde. Leicht stellt auch die Frage, ob Otto Schily, der ja sonst in der Beanspruchung von Staatsautorität nicht eben zimperlich gewesen sei, seinen Hobbes so schlecht kennt, dass er glaubt, er könne sich mit der Auskunft herausreden, er sei doch kein Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft?
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• Welche Folgen hätte ein entfesselter „Pragmatismus“ für eine freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassungsordnung? • Wie hoch ist die Gefahr, dass Freiheitsansprüche durch Sicherheitsbedürfnisse in einem Klima existentieller Angst kompromittiert werden?
Die Dringlichkeit derartiger Fragestellungen scheint trotz besorgniserregender Vorfälle immer noch begrenzt zu sein. Nach wie vor bezieht jeder Staat aus der Sehnsucht nach Sicherheit seine Legitimität. Die Illusion restloser Sicherheit ist sogar zur Hauptsäule politischer Herrschaft geworden. Nicht Freiheit, Gleichheit oder Solidarität sind die Leitlinien heutiger Politik, sondern Sicherheit – jederzeit, überall.13 In der Verknüpfung grundsätzlicher Überlegungen mit historischen und aktuellen Ereignissen ist hier nur eine Annäherung an die Problematik möglich. Angesichts der Benutzung deutschen Luftraums durch Flugzeuge der CIA für den Transport von Personen, die terroristischer Aktivitäten verdächtig sein sollen, hat die Bundeskanzlerin, Angela Merkel, behauptet, dass Politik mit dem Betrachten der Realität beginne. Nach ihrer Wahrnehmung sind die Flüge der CIA und die Sachverhalte, mit denen man sich in diesem Zusammenhang sonst noch beschäftigt, Teile derselben. Im Hinblick auf den Terrorismus sieht sie neue Herausforderungen, die auch in Deutschland noch nicht bis zum Ende durchdekliniert seien. Die neue Bedrohung liege darin, dass die Terroristen, zum Teil gestützt von politischen Strukturen, die mit ihnen sympathisierten, bereit seien, das eigene Leben für ihre Sache zu opfern.14 Darin sieht Merkel eine gegenüber den Zeiten des „Kalten Krieges“ völlig veränderte Lage. Seinerzeit habe die Abschreckung funktioniert, weil man vom Überlebenswillen jeder Seite habe ausgehen können, ein Logik, die heute nicht mehr gelte. Die demokratischen GeSofsky (Sicherheit), S. 84. Zur Problematik der „Selbstmordattentäter“: Croitoru, Reuter und Schmidbauer. 13 14
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meinschaften hätten darauf noch keine gültigen Antworten gefunden, weil es sich „wirklich“ um Neuland handele. Die Bundeskanzlerin ist indes der Meinung, dass die Werte, denen wir uns verpflichtet fühlten (z. B. Achtung der Menschenwürde einschließlich des Verbots der Folter) auch unter den neuartigen Herausforderungen einzuhalten seien. Sie betrachtet Geheimdienste als notwendige Teile demokratischer Strukturen, ist aber auch davon überzeugt, dass insoweit Kontrollmechanismen erforderlich sind. Die Arbeit der Dienste könne nicht im „rechtlichen Niemandsland“ getan werden. Andererseits könne nicht alles in der Öffentlichkeit stattfinden. Wegen der weltweiten Mobilität der Verdächtigen scheide ein rein nationaler Umgang mit den neuen Herausforderungen aus. Deutschland sei auf die internationale Zusammenarbeit zwingend angewiesen. Deren (ebenfalls „neue“) Mechanismen seien immer wieder zu diskutieren. Die öffentliche Diskussion biete die Chance, mit der Bevölkerung über die „vollkommen neuartigen“ Gefährdungen und die Antworten der Bundesregierung zu sprechen. Die Bundeskanzlerin betont, dass man nicht alle Dienste aller anderen Länder verdächtigen dürfe, nicht rechtsstaatlich zu arbeiten. Vor dem Hintergrund der Argumentation ihres Kabinettskollegen Schäuble, wonach man gelegentlich auf Erkenntnisse von Diensten anderer Staaten angewiesen sei, die vielleicht mit Methoden gewonnen wurden, die man in Deutschland nicht gutheißen könne, besteht sie darauf, einen Prozess der „Harmonisierung“ und des Verständnisses für „unsere“ Wertentscheidungen zustande zu bringen. Dies müsse „trotzdem“ unser Ziel bleiben. Die Konsequenz, mit der die Debatte über die Nutzung der durch Folter erpressten „Geständnisse“ geführt wird, zeigt sich im Übrigen in der Unterstützung, die Schäuble durch Wiefelspütz erhielt. Der Minister habe nur ausgesprochen, was bislang keiner gewagt habe. Insgesamt sei ihm in der Folter-Debatte kein Vorwurf zu machen. Wichtig sei, dass sich Schäuble eindeutig gegen die Folter ausgesprochen habe. Wiefelspütz hat zudem herausgefunden, dass es Geheimdienstinformationen nicht anzusehen ist, ob sie durch Folter er-
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mittelt worden sind. Wegen der bestehenden Schutzpflicht gegenüber den Bürgern müssten sie aber ausgewertet werden. Er hat zudem erkannt, dass die „rote Linie“ nicht erst mit der Folter beginnt. Auch entwürdigende Behandlungen (z. B. Anspucken) dürften nicht hingenommen werden. Ein führender Politiker der Christlich Demokratischen Union (CDU), Bosbach, hat die deutsche Öffentlichkeit wissen lassen, dass es „fahrlässig“ sein könne, Erkenntnisse nicht zur Kenntnis zu nehmen, nur weil man nicht sicher ist, wie sie zustande gekommen sind.15 Mit Blick auf den (Entführungs-)Fall des deutschen Staatsbürgers Khaled el-Masri verweist die Bundeskanzlerin auf die Tatsache gerichtlicher Untersuchungen und bezieht sich auf eine Reihe von „Beanstandungen“. Nach einem Hinweis auf den Umbau der Sicherheitsarchitektur in den USA erinnert sie an die Anstrengungen in Deutschland und Europa: • Errichtung eines gemeinsamen Terrorabwehrzentrums der Sicherheitsbehörden des Bundes unter Beteiligung der Bundesländer. • Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Institutionen des Verfassungsschutzes. • Tätigkeiten des BND und dessen Umzug nach Berlin. • Vorbereitungen bei Europol.
Einerseits ist die Bundeskanzlerin der Überzeugung, dass man natürlich nicht aus jedem Verdachtsmoment eine „Handlungsnotwendigkeit des Strafrechts“ ableiten könne. Wie der vereitelte Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt gezeigt habe, könne man andererseits „wirklich nicht“ warten, bis die Tat verübt ist, um dann anschließend sicher zu sein, dass man die „richtigen“ Leute verhaftet hat. Sie sieht ein, dass man sich im Kampf gegen den Terrorismus immer wieder mit der Frage auseinandersetzen muss, was im Rechtsstaat das 15 http: // www.spiegel.de / politik / deutschland / 0,1518,druck-391545,00. html (21. Dezember 2005).
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richtige Maß ist. Die Diskussion unter den Verfassungsressorts der Bundesregierung sei noch nicht abgeschlossen. Die Bundeskanzlerin bemerkt auch, dass der Terrorismus die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verwischt habe.16 Nun müsse darüber gerungen werden, welche Konsequenzen sich daraus für die jeweils Zuständigen ergeben. Zur Rolle der Bundeswehr beim Objektschutz (zunächst im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft) gebe es noch kein „Ende der Debatte“. Die Bundeskanzlerin betont, dass knappe Ressourcen bei der Polizei nicht zu einer permanenten Bewachung von Objekten durch Soldaten der Bundeswehr führen dürften. Die leitende Frage sei: „Was ist gut für die Sicherheit des einzelnen Bürgers, die garantiert werden muss?“17
Ihr Kabinettsmitglied Schäuble hat zum Ende des Jahres 2005 in einem Interview u. a. über „das BKA, die Folter, den Rechtsstaat und den Terror“ zunächst darauf hingewiesen, dass die Terroristen des 11. September 2001 Straftäter sind. Er erinnert daran, dass der Weltsicherheitsrat nach Art. 51 der UN-Charta den Einsatz von militärischen Mitteln erlaubt hat. Damit sei man beim Kriegs- und beim Kriegsfolgenrecht, das gewisse Anforderungen stelle. An diesem Punkt sieht sich der Bundesinnenminister zwar mit der amerikanischen Diskussion konfrontiert. Diese Debatte könne er in seinem Amt aber nicht führen. Immerhin betont Schäuble, dass das Folterverbot unabhängig vom „Kombattantenstatus“ gelte. Nach der Frage, ob die rechtsstaatlichen Grundsätze unter „Terroristen-Vorbehalt“ stehen, weist er darauf hin, dass diese Grundsätze die Einschränkung bestimmter Freiheitsrechte nicht ausschließen. Der Minister erwähnt einerseits die Ächtung der Folter, will andererseits die Probleme in tragischen Fällen (z. B. Entführungsfall Metzler in Frankfurt am Main, wo der Polizei-Vize16 Diese Erkenntnis ist nicht völlig überraschend. Vgl. dazu schon: Hetzer (Verflochtenheit), S. 49 ff.; ders., Kriminalistik 2006, 428 ff. 17 Vgl. insgesamt: Merkel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 297 vom 21. Dezember 2005, S. 3.
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präsident Daschner dem Verdächtigen Folter androhen ließ)18, nicht klein reden. Er will die „rote Linie“ nicht überschreiten, weil sonst die letzten Dinge schlimmer seien als die ersten. Im Hinblick auf den Bundesbürger Zammar hält es der Minister „per se“ für noch nicht völlig überraschend, dass Zammar sich in Syrien befindet. Gegenüber dem Vorwurf, dass auf diese Weise Folter gewissermaßen ausgelagert werde, fällt Schäuble ein, dass die Amerikaner Zammar in das Land seiner (anderen) Staatsangehörigkeit verbracht haben. Syrische Dienste, mit denen deutsche Behörden zusammenarbeiten, haben nach Angaben des Ministers Vernehmungen durch deutsche Bedienstete angeboten. Im Rahmen eigener (deutscher) Ermittlungen haben dementsprechend auch Vernehmungen durch das BKA stattgefunden. Zammar habe „wohl“ gesagt, er sei geschlagen worden – aber nicht in Syrien, sondern im Libanon oder irgendwo sonst, wo er vorher gewesen ist, und nicht im Zusammenhang mit der Vernehmung. 18 Die lebhafte Debatte über diesen Fall eröffnet teilweise beunruhigende Blicke auf psychologische, politische und rechtsdogmatische Abgründe. Die 27. Kammer des Landgerichts Frankfurt am Main hat in der Drohung mit Folter eine Nötigungshandlung i. S. d. § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 3 StGB gesehen, die unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt oder entschuldigt war. Bei der entsprechenden Anweisung des Polizeiführers handelte es sich um die Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat i. S. d. § 357 Abs. 1 StGB (Urteil vom 20. Dezember 2004, Az: 5 / 27 KLs 7570 Jus 203814 / 03 (4704), 5 – 27 KLs 7570 Js 203814 / 03 (4 / 04), in: NJW 2005, 692 – 696; NStZ 2005, 276; JuS 2005, 376 – 379). Vgl. insgesamt: Erb, Jura 2005, 24 ff.; ders., NStZ 2005, 593 ff.; Braum, KritV 2005, 282 ff.; Ellbogen, Jura 2005, 339 ff.; Götz, NJW 2005, 953 ff.; Jerouschek, JuS 2005, 296 ff.; Herzberg, JZ 2005, 321 ff.; Lemhöfer, RiA 2005, 53 ff.; Norouzi, JA 2005, 306 ff.; Scharnweber, Kriminalistik 2005, 161 ff..; Schmal / Steiger, AVR 43 (2005), 358 ff.; Selbmann, NJ 2005, 300 f.; Weihmann, Kriminalistik 2005, 342 ff.; Fahl, JR 2004, 182 ff.; Gebauer, NVwZ 2004, 1405 ff.; Guckelberger, VBIBW 2004, 121 ff.; Hilgendorf, JZ 2004, 331 ff.; Husmann / Schmittmann, VR 2004, 109 ff.; Jahn, KritV 2004, 24 ff.; Neuhaus, GA 2004, 521 ff.; Marx, KJ 2004, 278 ff.; Saliger, ZStW 116 (2004), 35 ff.; Ziegler, KritV 2004, 50 ff.; Düx / Schroeder, ZRP 2003, 180; Hecker, KJ 2003, 210 ff.; Jerouschek / Kölbel, JZ 2003, 613 ff.; Kinzig, ZStW 115 (2003), 791 ff.; Kretschmer, RuP 2003, 102 ff.; Merten, JR 2003, 404 ff.; Welsch, BayVBl 2003, 481 ff.; Wittreck, DÖV 2003, 873 ff.
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Der Bundesminister des Innern hat nach seinem (wiederholten) Bekunden keinen Anlass für die Vermutung, dass das BKA von Verhaltensweisen profitiert hat, die man als Folter bezeichnen kann. Er habe auch keinen Anhaltspunkt, dass Mitarbeiter dieses Amtes gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen haben. Auf den Hinweis, dass der Generalbundesanwalt darauf verzichtet habe, die Informationen, die aus dieser Befragung herrührten, in das Verfahren einzuspeisen, erklärt der Minister, dass er für den Generalbundesanwalt nicht zuständig sei, ein Hinweis, der genauso richtig und hilfreich ist, wie die Aufklärung seines Amtsvorgängers, Schily, der die deutsche Öffentlichkeit darüber informierte, dass er kein Ermittlungsgehilfe der Staatsanwaltschaft sei. Schäuble plädiert im Übrigen dafür, „im Zweifel“ eine strikte Trennung zwischen Informationsbeschaffung durch Nachrichtendienste und Ermittlungstätigkeiten durch Strafverfolgungsbehörden, einzuhalten. Auf die Frage, ob anstelle des BKA Bedienstete des BND nach Syrien hätten gehen sollen, erklärt Schäuble, dass er die Entscheidung nicht kritisieren werde, die in einer Zeit getroffen wurde, für die er nicht zuständig sei und von der er keinen Anhaltspunkt habe, dass sie gegen irgendein rechtliches oder gesetzliches Gebot verstoßen hätte. Im Hinblick auf die Schutzpflichten des deutschen Staates für die Bundesbürger el-Masri und Zammar empfiehlt der Bundesinnenminister seinen Interviewpartnern (Prantl und Ramelsberger) einen Gang in das Auswärtige Amt, weil er für die konsularische Betreuung nicht zuständig sei. Er gibt immerhin zu bedenken, dass es in den zitierten Fällen um den Verdacht der Verstrickung in schlimmste terroristische Aktivitäten gehe und dass man dann nicht im Hotelzimmer mit Whirlpool untergebracht werde, auch wenn man nicht Zammar, sondern Maier heiße. Als Schäuble daran erinnert wird, dass er seit fünfzehn Jahren vergeblich den Einsatz der Bundeswehr im Innern fordert, bekräftigt er, dass dies erforderlich sei. Im Zuge der Fußballweltmeisterschaft sei eine große Anspannung der Polizeikräfte der Länder und des Bundes zu erwarten (gewesen). Unter Hinweis auf die Möglichkeit einer explodie-
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renden Rucksackbombe spricht sich der Minister dafür aus, den Objektschutz vorübergehend, zur Entlastung der Polizei, der Bundeswehr zu übertragen. Für diesen Zweck will er auch das Grundgesetz ändern.19 Dem (ehemaligen) Justizsenator der Hansestadt Hamburg, Roger Kusch, wird die Behauptung zugeschrieben, Schäuble habe Menschen animiert, darüber zu spekulieren, ob Folter im konkreten Fall nicht vielleicht doch ganz nützliche Folgen haben könnte. Kusch hatte der Presse mitgeteilt, dass man mit lockeren Formulierungen nicht Unruhe stiften dürfe. Folter müsse weltweit geächtet werden. Relativierungen habe er als nicht besonders glücklich empfunden. Der Bundesminister des Innern soll betont haben, dass er keine Belehrungen brauche. Er habe das Folterverbot niemals relativiert. Auf die Frage nach seinen Gefühlen bei der Kenntnisnahme von Informationen, von denen er wisse, dass sie unter Zufügung „viehischer Schmerzen“ erlangt wurden, soll der Minister in einem Interview (angeblich „unwirsch“) geantwortet haben, dass man ja nie wisse, unter welchen Umständen die Informationen, die man auf den Tisch bekomme, gewonnen wurden. Nach dem Empfinden des Fragestellers (Kurbjuweit) war dies mehr ausgewichen als geantwortet. Schließlich soll der Innenminister gesagt haben, es sei falsch, Informationen, die Zehntausenden das Leben retten könnten, nicht auszuwerten, auch wenn einem das „fürchterliche Gewissensqualen“ machen könne. In diesem Zusammenhang wird das bewährte und immer wieder gerne vorgetragene Beispiel von der „tickenden schmutzigen Bombe“ genannt, die eine Großstadt verstrahlen könne. Schäuble soll es gleichwohl für „undenkbar“ halten, dass deutsche Sicherheitskräfte foltern. Hier erscheine wieder die „rote Linie“, die man unter keinen Umständen überschreiten dürfe. Er hat darüber hinaus erklärt, dass Deutsche auch keine Folter veranlassen oder Geständnisse verwenden dürften, von denen sie genau wüssten, dass sie unter Folter ent19 Vgl. insgesamt: Schäuble, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 290 vom 16. Dezember 2005, S. 7.
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standen seien. Gleichzeitig wird angemerkt, dass es hier keine Antworten gebe, die richtig oder falsch sind, die einen schuldig machen oder unschuldig. In diesem Bereich sei jede Lösung tragisch. Der Fragesteller sieht das Irritierende an Schäuble darin, dass er, der an der roten Linie herumtändele, so tue, also ob er den klarsten Standpunkt der Welt hätte. Aus der Sicht seines Zuhörers könne es in dieser Frage nur einen klaren Standpunkt geben: „Nein.“ Informationen, die im Verdacht stehen, unter der Folter gewonnen zu sein, werden von Demokraten nicht verwendet. Alles andere möge auch richtig sein, führe aber in die Grauzone. Und da stehe der Innenminister Schäuble. Dessen rote Linie existiere nicht. Es gebe nur den verzweifelten Kampf um das richtige Austarieren von Freiheit und Sicherheit. Sehe man dabei – so wie Schäuble – keinen Konflikt (ohne Freiheit keine Sicherheit und umgekehrt), so sei das zu simpel. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen sei eines der großen Themen unserer Zeit und es sei „ein bisschen beunruhigend“, dass der Innenminister „da mal eben so drüber wegwischt.“ Mit seinem Amtsvorgänger, Otto Schily, und dem Bundeskanzler a. D., Gerhard Schröder, verbinde den gegenwärtig amtierenden Innenminister die Einschätzung, dass es sich in diesem Zusammenhang vor allem um eine „mediale Diskussion“ handele.20 Es wurde hier und da zwar die Sorge geäußert, dass Merkel die Bundesrepublik Deutschland in einen „ökonomischen Effizienzstaat“ verwandeln könne. Es könnte aber sein, dass Schäuble die Bundesrepublik Deutschland mehr verändert als die Bundeskanzlerin. Anders 20 Immerhin hat sich von Schily zu Schäuble die Ausstattung des Ministerbüros verändert. Während beim Amtsvorgänger immer ein bisschen „Lounge-Atmosphäre“ geherrscht haben soll, welche anwesende Mitarbeiter nach den Erkenntnissen von Kurbjuweit allerdings nicht hätten genießen können, weil Menschenrechte für sie nur eingeschränkt gegolten hätten, mache das jetzige schlichte Mobiliar aus jedem Gespräch ein „Arbeitsgespräch“, ein Umstand, der nach der Prognose von Kurbjuweit aber nichts an der politischen Verwandtschaft der ehemaligen und aktiven Amtsträger ändern wird.
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als sie habe er ein geschlossenes konservatives Weltbild. Schäuble habe den Willen eines Mannes, der immer für ganz große Aufgaben geeignet gewesen sei, sie aber nicht bekommen habe. Jetzt mache er sich die innere Sicherheit zur ganz großen Aufgabe. Das sei nichts Falsches. Wenn nur, so Kurbjuweit, der Innenminister sensibler wäre für das Heikle, Debattenerzwingende dieses Bereiches, bei dem es wie nirgends sonst um die Grundlagen der Demokratie gehe. Schäuble sage aber „munter“, auch die Bevölkerung habe wenig Verständnis für die Debatten dieser Tage, sondern wolle Sicherheit.21 Mittlerweile hat sich auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in die öffentliche Diskussion eingeschaltet. Er wendet sich strikt gegen die Auswertung von Foltergeständnissen durch Ermittlungsbehörden. Dabei mache es keinen Unterschied, ob solche Verhöre von deutschen oder ausländischen Stellen geführt werden. Es ergebe sich aus dem Grundgesetz und der Anti-Folter-Konvention, dass Aussagen, die nachweislich unter Folter zustande gekommen sind, in Verfahren nicht verwendet werden dürfen. Klärungsbedürftig bleibe allerdings, was bei einem bloßen Verdacht auf Folter außerhalb konkreter Verfahren gelte. Der jetzige Chef des Bundeskanzleramtes, Thomas de Maiziere, beklagt die angeblich fehlende Sachlichkeit in der Debatte. Wenn deutsche Beamte Erkenntnisse von befreundeten Geheimdiensten aus dem Ausland erhielten, seien sie oft gar nicht in der Lage einzuschätzen, woher die Informationen kämen. Nach seiner Auffassung wäre es fahrlässig, Informationen nicht zu nutzen, „nur“ weil sie eventuell unter Folter zustande gekommen sein könnten. Damit werde nicht stillschweigend Folterung geduldet.22 Diese Logik sollte man indes im Zusammenhang mit einer Erklärung würdigen, die der oberste Richter der Republik einer der bewährtesten Aufklärungsinstitu21 Vgl. insgesamt: Kurbjuweit, in: Der Spiegel, Nr. 52 vom 24. Dezember 2005, S. 26, 27. 22 Vgl. insgesamt: Handelsblatt vom 26. Dezember 2005 (zitiert nach: http://www.handelsblatt.com /pshb/fn/relhib /sfn/cn vom 1. Januar 2006).
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tionen Deutschlands (Bild am Sonntag) gegenüber abgegeben hat. Papier betont, dass nicht alles, was Sicherheitsbehörden effektiv erscheine, deshalb auch erlaubt sei. Im Kampf gegen den Terrorismus müssten rechtsstaatliche Grundsätze beachtet werden, insbesondere der Schutz der Menschenwürde: „Ein Staat, der sich von diesem Fundamentalprinzip verabschiedet, zerstört selbst, was von Terroristen bekämpft wird.“23
Das zitierte – für die vernunftgeleitete demokratische Willensbildung in Deutschland unverzichtbare – Presseorgan hat dem Bundesinnenminister in der Folge Gelegenheit gegeben, seine Meinung entschieden zu bekräftigen, wonach auch in Zukunft jeder Hinweis, den man bekommen könne, genutzt werden solle: „Wenn wir für Informationen anderer Nachrichtendienste eine Garantie übernehmen müssen, dass sie unter Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien zustande gekommen sind, können wir den Betrieb einstellen.“24
Wer glaubt, Deutschland könne sich von Informationen abkoppeln, nehme die Verantwortung für unsere Sicherheit nicht hinreichend wahr. Erkenntnisse anderer Nachrichtendienste seien unverzichtbar. Schäuble findet die gegenwärtige Debatte „als etwas überzogen, um es freundlich zu sagen.“ Es ist wohl nicht nur deshalb eine Prüfung der Frage müßig, ob alle seine Auffassungen mit der in der Regierungserklärung (2005) enthaltenen Aufforderung der Bundeskanzlerin „Mehr Freiheit wagen!“ vereinbar sind. Eine Analyse, die nicht nur in ihrer Präzision manche öffentliche Erklärung von Politikern und Amtsträgern übertrifft, ist in jüngerer Zeit zu dem Ergebnis gekommen, dass mit dem Übergang zum „Massenterror“ eine epochale Schwelle überschritten wurde. Diskurse über Recht und Politik könnten zur Bewertung dieser Gefahr wenig beitragen. 23 Zitiert nach: http://www.netzeitung.de/servelts/page?section=784& item=374473 (1. Januar 2006). 24 Zitiert nach: http://www.spiegel.de /politik/deutschland 0,1518 (1. Januar 2006).
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Die „Terrorkrieger“ der Gegenwart seien durch nichts abzuschrecken, weil sie nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen hätten. Sie kämpften für niemanden und fürchteten deshalb auch keine Strafen für die Staaten und Völker, von denen sie unterstützt werden. Die Gefahr des Massenterrors steige mit der Einsamkeit der Täter.25 Der Terrorismus habe sich zum „Terrorkrieg“ entwickelt. Zu den Opfern des „alten“ Terrorismus gehörten noch ausgewählte Vertreter von Staat oder Wirtschaft. Heute stelle sich terroristische Aktivität als summarische und willkürliche Gewalt dar. Die konkrete Schädigung ist Folge von Wahllosigkeit. Der Zufall wird gewissermaßen zum Verbündeten des Terrors. So wird die gesamte Gesellschaft gelähmt, weil sich niemand mehr sicher fühlen kann. Keiner wird mehr von einer formellen oder informellen „Selektion“ profitieren. Es entsteht kollektive Angst. Deren Erzeugung dient aber nicht mehr der Umsetzung eines rational entwickelten Zweckprogramms. Es geht auch nicht um die erleichterte Kommunikation irgendwelcher substantieller Botschaften. Diese Perspektive ist fatal. Menschen können auf Dauer über ein bestimmtes Maß an Angst hinaus nicht leben. Sie ergreifen die Flucht oder entwickeln Anpassungsstrategien. Aus der Sicht des terroristischen Attentäters ist die Konsequenz klar. Er muss Quantität und Qualität seiner Attacken steigern. Der Terrorist unterliegt dem Zwang zur Totalität. Alleine die Demonstration der Verwundbarkeit des „Feindes“ reicht nicht mehr. Der Meuchelmord mutiert zum Massaker, der terroristische Anschlag zum Terrorkrieg.26 Terrorkrieger bewegen sich außerhalb jeglichen Rechts. Ihre Operationen folgen nicht den Regeln des internationalen Kriegsrechts. Die Konventionen des Völkerrechts sind für sie absolut bedeutungslos. Die Auswirkungen sind verheerend. Die Aufkündigung der Vernunft der Reziprozität ist zu verlockend. Die Selbstverpflichtung zu regelgeleitetem Verhalten wird fragil. In den Staaten, die sich einem terroristischen 25 26
Sofsky (Sicherheit), S. 157. Sofsky (Sicherheit), S. 114 – 116.
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(„kriegerischen“) Angriff ausgesetzt wähnen, bahnt sich die reine Logik der Selbsterhaltung ihren Weg. Selbst in Demokratien entwickelt sich die Bereitschaft zur Anwendung illegaler Gewalt. Politische Ambitionen und gesellschaftliche Hysterie verbinden sich und führen in institutionelle und instrumentelle Dilemmata. Im Terrorkrieg finden kaum mehr offene Feldschlachten statt. Armeen reduzieren sich auf Spezialkommandos. Gewaltakte und Tötungshandlungen verlagern sich in uneinsehbare Räume. Kriegsführung wird zur Kunst klandestiner Vernichtung. Gleichzeitig müssen sich militärische Einheiten wie Polizeiverbände verhalten. Gezielte Zugriffe und flächendeckende Waffenwirkung führen zu einer wechselseitigen Überforderung. Die Zuverlässigkeit und Vertretbarkeit der Zielauswahl nimmt Schaden. Unbeteiligte geraten zwischen die Fronten und werden zu Opfern dilettantischer Gewaltanwendung. Gleichzeitig werden einzelne Verdächtige nach sorgfältiger Vorbereitung als Ziel regelrecht herauspräpariert und im Zuge einer Menschenjagd liquidiert. Dieses Vorgehen ist nicht mit einem klassischen militärischen Angriff vergleichbar oder gar als Exekution ohne Urteil anzusehen. Es intendiert bloße Vernichtung. Aber welche Erfolge sind damit verbunden? Wird so ein Territorium dauerhaft befriedet? Werden die Risiken weiterer terroristischer Anschläge entscheidend verringert? Wird die Basis für die Rekrutierung neuer Attentäter verkleinert? Der Terrorkrieger hat schon dann einen – vorläufigen – Sieg errungen, wenn es ihm gelingt zu überleben. Der Ruhm des Schwachen scheint unvermeidlich, wenn man der Überzeugung ist, dass David immer Recht hat, gleichgültig, ob er verliert, gewinnt oder die Flucht ergreift.27 Fraglich ist, ob der Übergang zur Perplexität erreicht ist, wenn man darüber hinaus glaubt, dass die überlegene Streitmacht fast nur verlieren kann. Möglicherweise gilt auch nur eine unentrinnbare Logik, die hinter den folgenden Gedanken aufscheint: Gelingt den regulären Streitkräften der Staaten, die sich gegen Angriffe der Terrorkrieger zur Wehr setzen wollen aufgrund ihrer 27
Sofsky (Sicherheit), S. 125.
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konventionellen Überlegenheit im Rahmen gewaltsamer Auseinandersetzungen in beliebigen Größenordnungen ein „Sieg“ nach dem anderen, ohne dass sich das Bedrohungsszenario entscheidend ändert, können sich auch Triumphe leicht in Niederlagen verwandeln. Das Handeln des Starken als Sieger ist immer in Gefahr, als Grausamkeit wahrgenommen zu werden. Der Überlegene gerät in eine fast ausweglose Lage. Eine einzelne Untat in den Reihen seiner Truppen wird immer Empörung auslösen. Hält er sich zurück, gilt er als schwach und provoziert neue Angriffe terroristischer Akteure. Die Geschichte bietet zahlreiche anschauliche Beispiele dafür, dass ein langer Krieg gegen einen unterlegenen Gegner sogar die Selbstachtung ruiniert. Die um sich greifende Brutalität zerstört die Kampfmoral und schließlich den Sinn für Gerechtigkeit.28 Damit drängen sich zahlreiche Fragen auf: – Ist der Sieg der Terrorkrieger auf den global verteilten und wechselnden Gefechtsfeldern nur eine Frage der Zeit? – Bewegen sich die von den westlichen Demokratien entsandten Armeen nicht nur in vermintem Gelände, sondern marschieren unaufhaltsam in eine Glaubwürdigkeitsfalle, aus der sie sich nur befreien können, wenn sie überall den Rückzug antreten? – Welche Rolle spielen innerstaatliches Recht und Völkerrecht bei dem Bemühen, den Rechtsgüterschutz zu gewährleisten und Gewaltanwendung im Sinne der Menschenrechte zu moderieren? – Stehen militärische Reaktionen auf terroristische Angriffe in einem unaufhebbaren antagonistischen Verhältnis zum Gebot eines dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verpflichteten rechtsstaatlichen Vorgehens gegen Rechtsbrecher? – Kann es überhaupt Auswege aus den moralischen und humanitären Fallgruben geben, in die Soldaten regulärer Armeen schon hineingeraten sind? 28
Sofsky (Sicherheit), S. 126.
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– Gibt es Erfolg versprechende Vorkehrungen gegen die psychologische und politische Diskreditierbarkeit des überlegenen Siegers im Kampf gegen den Schwachen? – Wie kann man dem Verfall der individuellen Moral und der Unglaubwürdigkeit politischer Postulate vorbeugen, wenn man in lang andauernde „asymmetrische“ Kriege verstrickt wird?
Als die wichtigsten Tugenden in der Auseinandersetzung mit terroristisch motivierten Gewalttätern mag man „Unerschütterlichkeit und Selbstkontrolle“ ansehen.29 Den jeweils betroffenen Gesellschaften wird sogar „heroische Gelassenheit“ (Münkler) beim Umgang mit terroristischen Bedrohungen empfohlen. Es versteht sich von selbst, dass Kaltblütigkeit Panik zügeln kann und Disziplin vor Überreaktionen schützt. Ein dichtes Regelwerk („rules of engagement“) könnte zwar gewährleisten, dass auf jugendliche Steinwerfer kein Artilleriefeuer eröffnet wird und ein Stadtquartier, in dem man Verdächtige vermutet, nach einem Flächenbombardement nicht zu Staub zerfällt. Die Bindungswirkung von Rechtsregeln reicht aber nicht mehr aus, um zu verhindern, dass Razzien in Gewaltexzesse übergehen und Verhöre zu Folterungen entarten. Mittlerweile sind Beispiele des Versagens weltweit bekannt geworden, die geradezu als Symbole für die tief greifende Demoralisierung mancher Truppenteile gehandelt werden. Ein weiteres Dilemma wird erkennbar. Die bestehende Vielzahl von Vorschriften soll einerseits der Gefahr von Kriegsverbrechen entgegenwirken. Andererseits scheint der Soldat dadurch dem Terror fast ausgeliefert. Erliegt er der Versuchung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, degeneriert er zum Mitglied eines Killerkommandos oder einer bewaffneten Bande. Damit geht die militärische „Ursünde“ einher: Verfall der Disziplin. Nicht nur aus diesem Grunde hat sich die äußerst bedenkliche Praxis des „outsourcings“ entwickelt. Sie hat in der Privatisierung der Kriegsgewalt geendet. Angehörige regulärer 29
Sofsky (wie Fn. 25).
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VIII. Verhör oder Folter?
Militärverbände müssen sich nicht mehr selbst die Hände schmutzig machen. Frei von militärischen und völkerrechtlichen Bindungen übernehmen Söldner und Sicherheitsunternehmen prekäre Aufträge. Damit gilt auch heute ein Grundsatz, der zu allen Zeiten Bestand hatte: „Der Krieg ernährt den Krieg“. Eine Konsequenz ist besonders dramatisch: Die Differenz von Krieg und Verbrechen schwindet. Früher oder später werden sich die privaten Dienstleister des Krieges auf ihre Weise (re-)finanzieren. Sie werden – ebenfalls wie zu allen anderen Zeiten – sich mit den Schätzen des jeweiligen Landes versorgen und sich von den kriminellen und terroristischen Marodeuren nicht unterscheiden. In der Zwischenzeit kommt es zu Bündnissen zwischen zumeist schwachen regionalen Regierungen, unterstützt von den Interventionsstaaten, und „Warlords“, von denen einige sogar hohe Positionen in der regulären Armee der Staaten bekommen, in denen die terroristische Bedrohung besonders akut ist. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Begriff eine verbreitete Mischform von Terrorist und Verbrecher, dem es gelungen ist, in den Zirkeln politischer Machthaber salonfähig zu werden und der auch als Partner westlicher Demokratien Anerkennung findet. Es kann hier offen bleiben, ob darin ein außen- und sicherheitspolitischer Widerspruch liegt oder ein flagrantes Beispiel für die Korrumpierung eigener Ideale. Die Argumentation endet ohnehin in dem stereotypen Hinweis auf die „realpolitischen Sachzwänge“. Die schwierigste Aufgabe für die militärischen Führer und Soldaten der Staaten, die den Terrorismus mit kriegerischen Mitteln meinen bekämpfen zu können, liegt sicher darin, den schmalen Grad zwischen Exzess und Geduld, Vergeltungsdrang und Disziplin nicht zu verlassen. Es handelt sich insgesamt um ein äußerst labiles Gleichgewicht, das nicht ewig zu halten ist. Deshalb wird zu Recht an die alte Weisheit erinnert, dass ein rasches Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.30 Andernfalls ist die vollständige Kor30
Insgesamt: Sofsky (Sicherheit), S. 127.
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rumpierung all der Ideale, um derentwillen man angeblich in den Krieg gegen den Terror gezogen ist, unvermeidlich. Im August 1803 wurde eine Verschwörung gegen Napoleon Bonaparte aufgedeckt. Gemeinsam mit seinem Polizeiminister Joseph Fouché suchte Napoleon einen „Verdächtigen“, der sich zur Statuierung eines Exempels eignete. Der Blick fiel auf Louis Antoine Henri de Borbon-Condé, Herzog von Enghien, geboren am 2. August 1722. In der Nacht vom 14. auf den 15. März 1804 ließ Napoleon den Herzog, der in Baden lebte, nach Frankreich entführen, wo er am 20. März 1804 vor ein Tribunal gestellt wurde. Am Tage darauf hat man ihn im Graben des Schlosses von Vincennes erschossen. Sowohl Fouché als auch dem Außenminister Talleyrand wird die Äußerung nachgesagt, dass diese Aktion schlimmer als ein Verbrechen gewesen sei. Es habe sich um einen Fehler gehandelt. Sie bewirkte jedenfalls einen außenpolitischen Schaden, da man hierdurch in Deutschland und Preußen (seinerzeit!) die eigenen Souveränitätsrechte bedroht sah. Innenpolitisch war diese „terroristische Hinrichtung“ jedoch ein Erfolg, weil sie weitere royalistische Komplotte verhinderte und auf breite Zustimmung der Bevölkerung in Frankreich stieß. Die Zeiten haben sich glücklicherweise geändert. Bush, hat – bis auf weiteres – nicht die geringste Ähnlichkeit mit Napoleon. Der Bundesminister des Innern und für Sport a. D., Otto Schily, ist – ungeachtet einiger Allüren – als historische Figur (noch) nicht mit Fouché zu vergleichen. Ähnliches dürfte für Talleyrand und den gegenwärtigen Minister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland gelten. Gleichwohl ruft die in Deutschland Anfang Dezember 2005 begonnene Debatte im Umfeld des Besuchs von Rice eine gewisse Nachdenklichkeit hervor. In sehr jeweiligen Erklärungen haben diese Amtsträgerin und Merkel einen anderen Entführungs-(„Verschleppungs-“)Fall gewürdigt, in den der (aus dem Libanon stammende) deutsche Staatsbürger Khaled el-Masri im Januar 2004 als Opfer verwickelt war. Die Presse stellte in diesem Zusammenhang Musterbeispiele für Aufklärung auf höchster politischer Ebene vor. Einerseits wird in den Berichten behauptet,
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dass Rice auf den Fall des zu Unrecht nach Afghanistan verschleppten und dort nach eigenen Angaben misshandelten el-Masri nicht eingegangen sei. Sie habe aber versprochen, alles zu tun, was wir (d. h. die Regierung der USA) können, um Fehler zu berichtigen, falls sie auftreten. Geheimdienstarbeit sei der Schlüssel zum Erfolg bei der Terrorbekämpfung. Diese Arbeit müsse im Verborgenen verrichtet werden, um die mörderischen Pläne von Terroristen zu vereiteln. Merkel soll nach der Wahrnehmung mancher Journalisten konkreter geworden sein. Rice habe die Entführung von el-Masri bestätigt. Der Fall sei von der Regierung der USA „natürlich“ auch als ein „Fehler“ akzeptiert worden. Solche Fehler sollten auf „rechtsstaatlicher“ Basis korrigiert werden. Rice habe die Einhaltung internationaler Verpflichtungen, darunter die Konvention zum Verbot der Folter, zugesagt. Dies ist nach dem Empfinden der Bundeskanzlerin eine gute Grundlage für die Einhaltung von Bündnisverpflichtungen. Rice habe auch erklärt, dass die USA die Folter von Gefangenen strikt ablehnten. In der Tat stellt sich in diesem Zusammenhang (wieder) „natürlich“ die Frage, ob das Verständnis der USA über Folter identisch ist mit den Vorstellungen, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland weitgehend durchgesetzt haben. Der ehemalige Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck, wird in der Berichterstattung mit der Behauptung zitiert, geheime Gefangenentransporte der CIA seien in der früheren Bundesregierung nie thematisiert worden. Den Fall el-Masri kenne er im Einzelnen nicht. Gleichzeitig behauptet Struck, dass sich die Bundesregierung an Recht und Gesetz gehalten habe. Für die Opposition stellt sich die Frage, ob in diesem Zusammenhang mit Wissen des ehemaligen Innenministers Schily ein „Verbrechen“ begangen worden ist.31 Vorbehaltlich weiterer Sachaufklärung mag man zunächst (bei dem damaligen Diskussionsstand) den Hinweis des Außen31 Schwennicke / Richter, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 282 vom 7. Dezember 2005, S. 1.
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ministers Steinmeier für beachtlich halten, dass es nicht die Aufgabe eines Bundesministers sei, Zeitungsartikel zu kommentieren. Vielmehr müsse man sich auf Fakten stützen32. Immerhin haben die bisherigen Presseveröffentlichungen deutlich werden lassen, dass einige begriffliche Differenzierungen zu leisten sind („Verbrechen“, „Fehler“ oder gar „Irrtum“, „Lüge“ und „Täuschung“). Im Übrigen ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass gerade die Lektüre von Zeitungsartikeln, entgegen der Einschätzung des Außenministers, auch im hier diskutierten Zusammenhang gelegentlich doch mit faktischen Erkenntnisfortschritten verbunden sein kann. Zwar kann und möchte das ehemalige Mitglied des für die Nachrichtendienste zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG), Hermann Bachmaier, die Frage, ob das PKG darüber informiert war, dass deutsche Ermittler in Guantánamo und Syrien tätig waren, nicht beantworten. Die Bundesregierung müsse das PKG über die allgemeine Tätigkeit und Vorgänge von besonderer Bedeutung informieren. Vor allem letzteres sei häufig umstritten. Unabhängig von der ihm gestellten konkreten Frage betont Bachmaier, dass das PKG von vielen Dingen erst über die Medien erfahre. Auch im PKG falle nicht immer sofort auf, dass sensible Bereiche berührt werden. Dafür seien die Informationen33 bisweilen zu allgemein. Auch auf Nachfragen hin seien die Auskünfte nicht immer erhellend.34 Bereits am 5. Dezember 2005 wurde öffentlich erörtert, ob Schily sein Wissen über die Entführung, das ihm vom amerikanischen Botschafter vermittelt wurde, an andere Regierungsmitglieder, darunter den damaligen Chef des Bundeskanzleramtes, Steinmeier, weitergegeben hat. Steinmeier hatte zunächst zu Mutmaßungen über illegale Gefangenentransporte der CIA erklärt, dass die Bundesregierung keine eigenen 32 Leithäuser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung; Nr. 285 vom 7. Dezember 2005, S. 3. 33 Anmerkung des Verfassers: Es sind anscheinend die von der Bundesregierung bzw. den Vertretern der Dienste angebotenen Erkenntnisse gemeint. 34 Bachmaier, in: Der Spiegel, Nr. 1 vom 2. Januar 2006, S. 17.
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Erkenntnisse zu diesen Behauptungen habe. Für einen Kommentator schien deshalb die Glaubwürdigkeit Steinmeiers erschüttert, obwohl im Fall el-Masri weder Gefangenenflüge in deutschem Luftraum noch illegale Gefängnisse der CIA auf europäischem Boden eine Rolle spielten. Steinmeier habe jedenfalls im Sommer 2004 von der Verschleppung des Bundesbürgers el-Masri gewusst, unabhängig davon, ob ihm Schily ein Eingeständnis des amerikanischen Botschafters berichtet haben müsste oder nicht. Der Anwalt von el-Masri hatte sich schriftlich an das Bundeskanzleramt und an das Auswärtige Amt gewandt und Nachforschungen deutscher Dienste ausgelöst.35 Ungeachtet der wegen der Geheimhaltungsbedürftigkeit unvermeidlich unvollständigen und fragilen Tatsachengrundlage glauben einige Journalisten, dass sich das Grundzerwürfnis transatlantischer Politik im Fall der „CIA-Verhörflüge“ spiegele. Diese Flugbewegungen seien so bezeichnend, weil sie dokumentierten, wie stark sich sicherheitspolitische Analyse, Rechtsverständnis, Politik und Kommunikation über den Atlantik hinweg auseinander entwickelt hätten. Der amerikanischen Außenministerin wird in der deutschen Presse eine fast schon erpresserische Art attestiert, weil sie wissen ließ, dass alle jene mit einer höheren Terrorgefahr leben müssten, die nun die Arbeit der Geheimdienste offen legen wollten. In der freien journalistischen Übersetzung heißt das: Der Zweck heiligt die Mittel, Terror darf mit grenzwertigen Methoden am Rande der Legalität bekämpft werden. Aus der Sicht eines Beobachters hat Rice damit „argumentative Handkantenschläge“ verteilt. Die Außenministerin habe einen „legalistischen Eiertanz“ aufgeführt, der einem inneramerikanischen Gefecht über die Zulässigkeit bestimmter „robuster“ oder „innovativer“ Vernehmungsmethoden Rechnung trage. In einem Land, in dem Folter erst dann angenommen wird, wenn es durch die Zufügung körperlicher Schmerzen zu einem totalen Organversagen oder zum Tode kommt, hat man 35
Leithäuser (wie Fn. 32).
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offensichtlich Maßstäbe, die nicht vollständig mit jedem kategorischen Satz des deutschen Verfassungsrechts („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – Art. 1 Abs. 1 GG) in Einklang stehen müssen. Immerhin hat sich der amerikanische Präsident nach lang anhaltendem und immer stärker werdendem Druck (erst) im Dezember 2005 mit einem Gesetzentwurf des Senators McCain einverstanden erklärt, der Folter grundsätzlich für ungesetzlich erklärt. Rice wird zwar zugestanden, dass sie im Dezember 2005 nach Deutschland gekommen ist, um eine neue Ära zu beginnen. Dies sei ihr aber gründlich misslungen. Für den Start einer neuen Beziehung reiche es nicht, wenn lediglich das Personal auf der einen Seite erneuert wird. Ob Schily von den Flügen wusste oder nicht: Unrecht bleibt Unrecht und eine falsche Politik bleibt ein falsche Politik. Auf dieser Basis, so die öffentlich geäußerte Befürchtung, kann das atlantische Verhältnis nicht neu begründet werden.36 Wie dem auch sei: Zum Zeitpunkt der hier angestellten Überlegungen war noch völlig unklar, warum el-Masri bis Ende Mai 2005, also fast vier Monate, in Afghanistan festgehalten wurde. Der Ablauf der gesamten Operation hat immerhin eine auffallende Diskrepanz offenbart: Zwischen der hohen Effizienz einerseits, mit der Terrorverdächtige in Flugzeugen fortgeschafft werden und dem Scheitern der CIA bei einfacher erkennungsdienstlicher Polizeiarbeit andererseits. Die CIA brauchte mindestens vier Wochen, um herauszufinden, dass der Pass von el-Masri echt war. Gegen ihn war noch nicht einmal der Vorwurf zu begründen, dass er mit falschen Papieren reiste. Erst im Mai 2005 soll die Spitze der US-Regierung beraten haben, wie mit dem „Fehlgriff“ umzugehen ist.37 Die Entscheidungen der amerikanischen Administration sind nicht ganz so unübersichtlich, wie es dieser Einzelfall suggerieren mag. Der amerikani36
Kornelius, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 282 vom 7. Dezember 2005,
S. 4. 37 Richter / Wernicke, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 282 vom 7. Dezember 2005, S. 8.
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sche Präsident hatte nach den Anschlägen des Jahres 2001 entschieden, dass die Gefangenen aus dem „Krieg“ gegen den Terror nicht den Regeln der Genfer Konvention unterliegen – und damit nicht ausdrücklich dem Folterverbot. Der CIA sind „enhanced interrogation techniques“ („leichte“ Schläge, Schlafentzug, ununterbrochenes Stehen, Aufenthalt in Kälteräumen und „water boarding“, erlaubt worden. In der Formulierung der Außenministerin, dass die amerikanischen Bediensteten sich an amerikanische Gesetze und amerikanische Verpflichtungen hielten, wird eine indirekte Bestätigung der Anwendung dieser Methoden gesehen. Hier sei nur am Rande daran erinnert, dass diese Methoden auch von sowjetischen und nordkoreanischen Verhörspezialisten angewandt worden sind und dass diese stets als Menschenrechtsverstöße gegeißelt wurden – vom amerikanischen Außenministerium.38 Es dürfte insoweit nicht nur an einer Gedächtnisschwäche des Präsidenten Bush liegen, dass dieser mit seinem Veto ein vom amerikanischen Kongress verabschiedetes gesetzliches Folterverbot gestoppt hat. In dem Verbot sollten die Geheimdienste verpflichtet werden, sich bei Verhören an die Vorschriften der Armee zu halten. In deren internen Anweisungen werden umstrittene Verhörmethoden wie das Waterboarding explizit untersagt. Bush begründete sein Veto mit der Behauptung, das Verbotsgesetz beraube die USA einer ihrer nützlichsten Instrumente im Krieg gegen den Terror. Den Angehörigen der Geheimdienste müssten alle nötigen Mittel zur Verfügung stehen, um die Terroristen aufzuhalten. Die bei „verschärften Verhörmethoden“ gewonnenen Informationen hätten Terroranschläge verhindert, eine These, welcher der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im amerikanischen Senat, John Rockefeller, entschieden widersprochen hat. Aus der Sicht des Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses des Senats, John Bidden, beschädigt das Veto einmal mehr die moralische Glaubwürdigkeit Amerikas in der Welt. Die Regierung von Bush hat mittlerweile eingeräumt, dass das Waterboarding in 38
Klüver, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 282 vom 7. Dezember 2005, S. 8.
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mehreren Fällen eingesetzt wurde.39 Es gibt mehrere Spekulationen zur Erklärung des Verhaltens von Bush: Man mag ihn als „Sturkopf“ ansehen, der seine Positionen verteidigt, koste es, was es wolle – und sei es das Ansehen Amerikas in der Welt. Außerdem scheint sich politisch das Spiel mit der „Paranoia der Amerikaner“ vor einer neuen Terrorattacke immer gelohnt zu haben, wie die (vorher unerwartete) Wiederwahl von Bush zeigt. Das eigentliche Motiv zur Blockade des Folterverbotsgesetzes könnte aber die geradezu imperiale Auffassung von den Befugnissen eines US-Präsidenten sein. Bush glaubt offensichtlich, dass ihm die Macht gebührt, Gesetze außer Kraft zu setzen, wenn er es für richtig hält. Er hat wohl deshalb immer wieder Gesetze mit der hanebüchenen Anmerkung unterschrieben, dass er sich durch sie letztlich nicht gebunden fühle.40 Schon seit geraumer Zeit zeigen auch andere Maßnahmen der amerikanischen Regierung, mit welcher Leichtigkeit zahlreiche Errungenschaften des modernen Grundrechtsschutzes aufgegeben werden. Umso bedauerlicher ist, dass es der politischen Opposition im amerikanischen Repräsentantenhaus nicht gelungen ist, das Veto mit der erforderlichen Zwei Drittel Mehrheit außer Kraft zu setzen.41 Der Bundesminister des Auswärtigen hat am 14. Dezember 2005 im Rahmen einer aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages alle Vorwürfe gegen die (ehemalige) Bundesregierung zurückgewiesen, wonach diese im Falle der Entführung des Bundesbürgers el-Masri zu zögerlich gehandelt oder gar Beihilfe geleistet habe. Von der „Tatsache der Verschleppung“ hätten der damalige Innenminister (Schily) und der Außenminister (Fischer) sowie Steinmeier in seiner Funktion als Chef des Bundeskanzleramtes erst erfahren, als el-Masri be39 Vgl. insgesamt: Klüver, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 59 vom 10. März 2008, S. 8. 40 Vgl. dazu auch: Süddeutsche Zeitung Nr. 59 vom 10. März 2008, S. 4, li Sp. „Sturkopf Bush“. 41 Grundlegend zum Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit (unter Berücksichtigung der amerikanischen Verhältnisse): Hetzer (Total transparent), S. 35, 38 ff.
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reits freigelassen worden war. Es sei nicht ersichtlich, dass Erkenntnisse zur Person des el-Masri durch Sicherheitsbehörden des Bundes an ausländische Geheimdienste weitergegeben wurden. Die Sensibilität des amtierenden Außenministers wird u. a. daran ersichtlich, dass ihm nach seiner Darstellung bei manchen Veröffentlichungen „speiübel“ geworden sei. Man habe unterstellt, dass die Deutschen verdächtige Islamisten zwar nicht foltern dürften, aber anderen die passenden Informationen gäben, dass sie den Mann ergreifen könnten und die gewünschten Informationen aus ihm herausprügelten. Für den Bundesminister des Auswärtigen ist klar, dass man „infam, maßlos, verblendet und verantwortungslos“ sein muss, um solche Vorwürfe gegen diejenigen zu erheben, die „dieses Land auch in schwierigen Zeiten auf einem Kurs von Zivilität und Rechtsstaatlichkeit gehalten haben.“42 Im Hinblick auf die Entführung von el-Masri sprach Steinmeier indes als erstes Mitglied der Bundesregierung von der Möglichkeit einer Straftat. Nach seiner Auffassung hätten die Bundesregierung und die Sicherheitsbehörden jedoch alles getan, was ein Rechtsstaat leisten könne und leisten solle, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass einer seiner Bürger einer Straftat zum Opfer gefallen ist. Aus der Sicht der Opposition (Freie Demokratische Partei Deutschlands – FDP) widerspricht die Darstellung Steinmeiers über die Bemühungen der Bundesbehörden im Fall el-Masri den Klagen der ermittelnden Staatsanwaltschaft in München. Seitens der Fraktion „Die Grünen / Bündnis 90“ (Künast) wird zudem kritisiert, dass zwar viel von der transatlantischen Wertegemeinschaft die Rede ist. In Kernpunkten gebe es aber keine Übereinstimmung. Für diese jetzige Oppositions- und vormalige Regierungspartei sei Folter in Europa nicht akzeptabel, genauso wenig wie die Verschleppung von Menschen oder die Unterhaltung „fliegender Gefängnisse“. Insoweit unterscheide man sich von den USA. 42 http: // www.faz.net / s / Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE / Doc~EB31F43A. . . (21. Dezember 2005)
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Manch einer wird sich vielleicht noch daran erinnern, dass die SPD und die Grünen als vermeintliche Kritiker des Staatsapparates angetreten waren, aber recht bald daran gingen, dessen Instrumente zu schärfen. Zwar habe die Regierung stets zwischen der Einhaltung von Bündnisverpflichtungen, der Bekämpfung des Terrorismus und der Teilnahme am Krieg gegen den Irak unterschieden. Nun aber wird nach dem Empfinden des Außenministers alles miteinander verrührt. Es bringe ihn in Harnisch, wenn man suggeriere, die Dienste dürften nur mit den Staaten kooperieren, die denselben Status von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wie Deutschland haben. Dann würde sich die Zusammenarbeit auf eine Hand voll Länder reduzieren. Mit „Rot-Grün“, so sieht es ein Kommentator, seien aber 1998 diejenigen an die Regierung gekommen, die lange Jahre über die „Unteilbarkeit“ der Menschenrechte gesprochen und der Politik anempfohlen hatten, sich an universellen Normen zu orientieren. Es wird eine zuerst schleichende, dann rapide „Entmoralisierung der Politik“ konstatiert, die anfangs vielleicht sogar etwas Befreiendes hatte, weil Moral nicht mehr gegen Unmoral stand. Es war aber nicht für alle vorauszusehen, dass die Neigung von einst unter der Führung des damaligen Bundeskanzlers, Gerhard Schröder, fast ins Gegenteil kippen würde. Es lockten die Geschäfte. Man mag argumentieren, dass diese als „Konterbande“ Demokratie bringen. Das ändert nichts daran, dass die Koalition, an der auch Künast führend beteiligt war, für ein Übermaß an falsch verstandener Politik gesorgt hat. Es drängen sich manche Fragen auf: Wenn die Deutschen „politische Lösungen“ und die „Stärke des Rechts“ als ihren Weg betrachten, müssen sie dann nicht das Regelwerk des Rechtsstaats ungleich entschiedener verteidigen? Fehlte die Kraft? Der Kopf? Das Zwischenergebnis lautet: „Mit viel Moral fing es an, zumal bei den Grünen, mit viel zu vielen pragmatischen Geschäftsinteressen hörte es auf.“43
43
Hofmann, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 15. Dezember 2005, S. 3.
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Die gegenwärtige Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, hat unterdessen mitgeteilt, dass der (ehemalige) Generalbundesanwalt Nehm es abgelehnt habe, im Fall el-Masri wegen Verschleppung zu ermitteln, weil es keine Anhaltspunkte für ein politisch motiviertes Verbrechen gebe. Außenminister Steinmeier hat eingeräumt, dass im Zusammenhang mit den Flügen der CIA und angeblichen Geheimgefängnissen noch viele Fragen offen sind. Er verweist insoweit auf die Bemühungen des Europarates, an denen sich die Bundesregierung aktiv beteilige. Die Sachverhaltsangaben zu diesen Komplexen sind naturgemäß fragmentarischer Natur. Die Aussichten auf eine halbwegs vollständige und einem Rechtsstaat angemessene Aufklärung sind in jeder Hinsicht begrenzt. Umso wichtiger ist die Erinnerung an die rechtlichen Orientierungen und Verpflichtungen, die auch bei der Abwehr und Verfolgung terroristisch motivierter Straftaten in jedem einzelnen Fall verbindlich sind. Bereits die Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) enthält in Art. 5 das Verbot der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. In dem Wunsch, dem Kampf gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe in der ganzen Welt größere Wirksamkeit zu verleihen, hat die Generalversammlung der UN am 10. Dezember 1984 ein entsprechendes Übereinkommen verabschiedet.44 Am 18. Dezember 2002 hat die Generalversammlung das Zusatzprotokoll zu diesem Übereinkommen angenommen. Es verfolgt einen präventiven Ansatz zum Schutz vor Folter.45 In dem Übereinkommen ist Folter definiert (Art. 1 Abs. Satz 1): „Jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel 44 BGBl. 1990 II S. 247. Dazu: Novak, EuGRZ 1985, 109 ff.; Hailbronner, EuGRZ 1986, 641 ff.; Marx, ZRP 1986, 81 ff.; 45 Follmar-Otto / Cremer, KJ 2004, 154 ff.
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um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen. . . , wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden.“
Darunter fallen nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind (Art. 1 Abs. 1 Satz 2). Hervorzuheben ist, dass außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden dürfen. Das gilt auch für eine von einem Vorgesetzten oder einem Träger öffentlicher Gewalt erteilte Weisung (Art. 2 Abs. 2 und 3). Für die Vertragsstaaten gilt ein umfassender Pflichtenkanon: • Wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche oder sonstige Maßnahmen zur Verhinderung der Folter in allen der jeweiligen Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten. • Verbot der Ausweisung, Abschiebung oder Auslieferung in einen Staat, bei stichhaltigen Gründen für die Annahme einer Foltergefahr. • Strafgesetzliche Pönalisierung aller Folterhandlungen (incl. Versuch). • Begründung jeweiliger Gerichtsbarkeit. • Inhaftnahme bis zur Einleitung eines Straf- oder Auslieferungsverfahrens. • Unverzügliche Durchführung einer vorläufigen Untersuchung zur Feststellung des Sachverhaltes. • Anzeige der Verhaftung an bestimmte Staaten. • Unterrichtung über das Ergebnis der Untersuchung. • Gewährleistung einer gerechten Behandlung. • Gewährung weitestgehender Hilfe im Zusammenhang mit Strafverfahren.
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• Integration von Unterricht und Aufklärung über das Folterverbot als vollgültiger Bestandteil in die Ausbildung des zuständigen zivilen und militärischen Personals. • Regelmäßige und systematische Überprüfung der für Vernehmungen geltenden Vorschriften, Anweisungen, Methoden und Praktiken sowie der Vorkehrungen für Personen, die sich in Gewahrsam oder Haft befinden. • Einräumung des Rechts auf Anhörung der zuständigen Behörden und umgehende unparteiische Prüfung von Foltervorwürfen. • Einräumung eines Rechts auf Wiedergutmachung und eines einklagbaren Rechts auf gerechte und angemessene Entschädigung einschließlich der Mittel für eine möglichst vollständige Rehabilitation. • Ausschluss der Verwendung von Aussagen, die nachweislich durch Folter herbeigeführt worden sind, als Beweis in einem Verfahren (es sei denn gegen eine der Folter angeklagte Person als Beweis dafür, dass die Aussage gemacht wurde). • Verhinderung von Handlungen, die eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen, aber der Folter nicht gleichkommen, wenn Angehörige des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person beteiligt sind.
Gemäß der Resolution 43 / 173 der UN-Generalversammlung vom 9. Dezember 198846 muss jeder menschlich und mit Achtung vor der angeborenen Würde des Menschen behandelt werden. Auf Grund des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden (Art. 7 IPbürgR). Jeder, dem seine Freiheit entzogen ist, muss menschlich und mit Achtung vor der dem Menschen innewohnenden Würde behandelt werden (Art. 10 Abs. 1 IPbürgR). 46 Grundsatzkatalog für den Schutz aller irgendeiner Form von Haft oder Strafgefangenschaft unterworfenen Personen.
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Nach Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschrechte und Grundfreiheiten des Europarates vom 4. November 195047 darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Die Vorschrift ist notstandsfest (Art. 15 Abs. 2).48 Am 26. November 1987 wurde das „Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“49 geschlossen. Es sieht die Einrichtung eines Ausschusses vor, der durch Besuche die Behandlung von Personen prüft, denen die Freiheit entzogen ist, um erforderlichenfalls den Schutz dieser Personen vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu verstärken (Art. 1). Am 16. November 1989 wurden die „Rules of Procedure of the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment“ angenommen.50 Dieser kurze Überblick und die gegenwärtig erhobenen Vorwürfe zeigen, dass es im Hinblick auf die Folter eine möglicherweise sehr große Kluft zwischen Norm und Realität gibt. Deren tatsächliches Ausmaß ist vermutlich selbst durch die Stichworte „Guantánamo“ und „Abu Ghraib“51 nicht abschließend und vollständig bezeichnet. 47 Neubekanntmachung: BGBl. 2002 II, S. 1054. Zur absoluten Natur dieser Bestimmung: Demko, HRRS 2005, 94 ff. Zum Regelungsgehalt (Menschenwürde) und den einzelnen Beschuldigtenrechten: Meyer-Ladewig, NJW 2004, 981 ff., und Eisele, JA 2005, 901 ff. Eingehend zum Begriff der Menschenwürde im strafverfahrensrechtlichen Kontext schon: Kühne (1970), S. 45 ff. 48 Zur Frage, ob der Schutz vor Abschiebung für mutmaßliche Terroristen bei drohender Folter nach Art. 3 MRK auch dann besteht, wenn der Zielstaat zusichert, die Person menschenwürdig zu behandeln: Alleweidt, NVwZ 1997, 1078. 49 BGBl. 1989 II S. 946. Das Abkommen ist am 1. Juni 1990 in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten. Im Einzelnen: Puhl, NJW 1990, 3057 f. Zu den ersten praktischen Erfahrungen: Zimmermann, NStZ 1992, 318 ff. 50 Vgl. dazu: Morgan / Evans und Pfäfflin, RuP 2005, 24 ff. 51 Zu den Strafanzeigen gegen den US-Verteidigungsminister, Donald Rumsfeld, wegen der Misshandlungen in Abu Ghraib und irakischen Ge-
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Die Debatte um die Anwendung von Folter hat nicht erst nach dem 11. September 2001 begonnen. Die Frage der Notfallfolter wird seit dem 18. Jahrhundert debattiert, als Jeremy Bentham dafür war und Immanuel Kant dagegen. Vermutlich werden die Moralphilosophen in dieser Frage ewig streiten. Manch einer hält diese Debatte für fruchtlos und will sie verändern, damit sie „pragmatischer“ wird.52 Ebenfalls vor vielen Jahren hat sich ein Mitglied der politischen Führungselite Deutschlands seine eigenen Gedanken gemacht. Der ehemalige Ministerpräsident Niedersachsens, Ernst Albrecht, kam seinerzeit zu dem Ergebnis, dass es sogar „sittlich geboten“ sein könne, Informationen auch durch Folter zu erzwingen, sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein „namenloses Verbrechen“ zu verhindern. Er ging davon aus, dass ein bestimmter Kreis von Personen über moderne Massenvernichtungsmittel verfügt und entschlossen ist, diese Mittel innerhalb kürzester Frist zu verbrecherischen Zwecken einzusetzen. Albrecht nahm weiter an, dass dieses Vorhaben nur vereitelt werden könnte, wenn es gelänge, rechtzeitig den Aufenthaltsort dieser Personen zu erfahren.53 Am 10. Dezember 1992 ist der Soziologe Niklas Luhmann in einem Vortrag (an der Universität Heidelberg) der Frage nachgegangen: „Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?“ Zur Einstimmung bat er die Zuhörer, sich folgendes vorzustellen: „Sie sind ein höherer Polizeioffizier. In Ihrem Lande – und das könnte in nicht zu ferner Zukunft auch Deutschland sein – gibt es viele linke fängnissen und der Weigerung des Generalbundesanwalts, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten: Fischer-Lescano, KJ 2005, 72 ff. Über die Exzesse von Abu Ghraib: Koch, S. 51 ff. Sachverständige Besucher erwecken in jüngerer Zeit den Eindruck, dass die Verhältnisse in Guantánamo recht erträglich sind, zumal den Häftlingen frische Datteln angeliefert werden und in jeder Zelle ein Pfeil den Insassen darüber informiert, wo der Osten ist, die Himmelsrichtung, in die die Muslime ihre Gebete sprechen: Rotunda, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 1 vom 2. Januar 2006, S. 2. 52 Dershowitz, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 15. Dezember 2005, S. 58. 53 Albrecht, S. 174.
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und rechte Terroristen, jeden Tag Morde, Brandanschläge, Tötungen und Schäden für zahlreiche Unbeteiligte. Sie haben den Führer einer solchen Gruppe gefangen. Sie könnten, wenn Sie ihn folterten, vermutlich das Leben vieler Menschen retten. Würden Sie es tun?“54
Der Rechtsgelehrte Brugger war als Zuhörer so inspiriert, dass er danach versuchte, folgende Situation zu bewältigen: Eine Stadt wird von einem Terroristen mit einer chemischen Bombe bedroht und erpresst. Bei der Geldübergabe wird der Erpresser von der Polizei gefasst. Er schildert glaubhaft, dass er zuvor den Zünder der Bombe aktiviert hat; die Bombe werde in drei Stunden explodieren und alle Bewohner der Stadt töten; diese würden eines qualvollen Todes sterben, die schlimmste Folter sei dagegen nichts. Trotz Aufforderung gibt der Erpresser das Versteck der Bombe nicht bekannt. Androhungen aller zulässigen Zwangsmittel helfen nichts. Der Erpresser fordert eine hohe Geldsumme, die Freilassung rechtskräftig verurteilter Kampfgenossen sowie ein Flugzeug mit Besatzung und die Begleitung durch namentlich benannte Politiker. Die Polizei sieht, nachdem auch eine Evakuierung der Stadt nicht möglich erscheint, nur noch ein einziges Mittel der Gefahrenbeseitigung: Die Erlangung von Informationen über das Versteck der Bombe durch Einsatz von Gewalt. Darf die Polizei das?
Für Brugger lautet die Frage: „Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?“ Das Ergebnis seiner Prüfung ist eindeutig: Die Polizei darf nicht nur Gewalt anwenden, sie muss dies sogar tun. Jeder potentiell betroffene Bürger habe zudem in solch einem Fall einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Folter.55 Auch Brugger weiß, dass das Folterverbot absolut gilt. Dieser Befund widerspreche aber dem Gerechtigkeitsempfinden, was auf eine „Wertungslücke“ verweise.56 Diese Beispiele zeigen, dass die Einübung in das eschatologische Denken im deutschen Rechtskreis lange vor den Terroranschlägen der jüngeren Zeit begonnen hat. Das bedeutet kei54 Luhmann. Ausführlich zur Auseinandersetzung mit der Argumentation Luhmanns: Reemtsma (Folter), S. 25 ff. 55 Brugger, JZ 2000, 165 ff.; ders., Der Staat 1996, 67 ff. 56 Vgl. die ausführliche Würdigung dieser Argumentation bei Reemtsma (Folter), S. 40 ff. Vgl. auch: Bielefeldt, S. 109 ff.
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VIII. Verhör oder Folter?
neswegs, dass mittlerweile überzeugende Ergebnisse vorliegen, auch wenn die Begrifflichkeit immer verführerischer wird („Rettungsfolter“). Umso dringlicher ist die Erinnerung an einige Gedanken, die nicht nur durch politische Ambitionen und Angstzustände bestimmt sind. Staatsräson ist die Außerkraftsetzung von Rechten, Regeln, Normen und Werten zugunsten jenes höheren Guts, das der Erhalt des Ganzen darstellt; der Staat ist also gezwungen zu „sündigen“. Dies kann aber nur für den Fall einer wirklich exzeptionellen Bedrohung des Staates, des Staatsgebietes oder des Staatsvolkes gelten. Die Konflikte, die Hollywood in Gestalt von „Dirty Harry“ präsentiert, sind nicht durch den Bezug auf Staatsräson zu lösen. Dort geht es immer nur um einen generellen Notstandsfall und um das Gemeinwohl. Dessen ungeachtet darf auch nicht vergessen werden, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts alle Illusionen und Hoffnungen zur Ungefährlichkeit des staatlichen Gewaltmonopols zerstört wurden. Und in der zweiten Hälfte hat sich die gegenläufige Hoffnung, selbstorganisierte (Gegen-)Gewalt könnte eine Mitte zwischen (potentiell mörderischem) Gewaltmonopol und Anarchie bilden, ebenfalls erledigt. Mittlerweile wird der Staat jedoch weniger gebrochen in seiner Schutzfunktion wahrgenommen und zunehmend fordernd beansprucht. In der Tat besteht die besondere Bedeutung des 11. Septembers 2001 nicht nur in der Demonstration der Verletzbarkeit einer Supermacht. Dabei handelt es sich übrigens um eine Macht, die sich nicht nur dem Verdacht ausgesetzt sieht, dass sie die „schmutzige“ (Folter-) Arbeit auslagert. Trotz aller Friedensversprechungen diagnostiziert man eine weitergehende Infizierung mit dem Bazillus des Verdachts, der mit der fortschreitenden „Universalisierung“ dieser Macht (USA) wachse. Der Verdacht lautet: Die eigene Macht sei nicht wirklich von Gott („God’s own country“). Und so werde zur Selbstentlastung der Verdacht nach außen gewendet, werden die Anderen in die Hölle versetzt und zu eigenen Reinerhaltung fremde Henkersknechte beschäftigt.57 Das Bild der Hoch57 So eine bedenkenswerte Schlussfolgerung. Vgl.: von Müller (wie Fn. 4).
VIII. Verhör oder Folter?
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häuser in New York im Moment ihrer Zerstörung ist zum Sinnbild des bedrohten Staates geworden. So könnten sich schließlich die Phantasien eines Hollywoodfilms („Dirty Harry“) und die Überlegungen von Ernst Albrecht doch noch in eine dominant werdende neusortierte Wahrnehmung von Staat und Gesellschaft fügen, die weltweit durch terroristische Massenmorde und deutsche (Entführungs-)Kriminalfälle einen „Evidenzschub“ bekommt.58 Trotz alledem: Es gibt keine überzeugenden Gründe, für die Legalisierung der Folter einzutreten. Dagegen spricht bereits der folgende Gedanke: „Weil am Ende nicht das Entscheidende ist, was wir jemandem zumuten zu leiden, sondern was wir uns zumuten zu tun.“59
Im Übrigen ist nicht zu bestreiten, dass überall, wo das Selbstverständnis eines modernen Rechtsstaats herrscht, der Mord von Staats wegen und die Folter ausgeschlossen sind. Die Folter ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar, weil durch sie das Individuum in seiner Fähigkeit, ein Rechtssubjekt zu sein, angegriffen wird. Im Extremfall wird das autonome Individuum zerbrochen und zerstört.60 Zum modernen Rechtsstaat gehört die Garantie an die Bürger, dass der Staat sie niemals Handlungen unterwirft, die ihren Willen brechen und sie damit als Rechtssubjekte negiert. Und vor allem: Wer die Folter ausübt, geht an ihr zugrunde. Das gilt für den Rechtsstaat selbst und für diejenigen, die der Staat anhielte, sie zu exekutieren.61 Die verfassungsrechtliche Menschenwürdegarantie muss unter allen Umständen unberührt bleiben.62 Das Verbot der Folter ist eine ihrer wichtigsten Ausformungen. Es steht für den durch die Verfassung institutionalisierten und garantierten Rechtsstaat.63 In der Gedenkrede des BundespräsidenReemtsma (Folter), S. 100, 101. Reemtsma (Folter), S. 122, 123. 60 Reemtsma (Folter), S. 125. 61 Reemtsma (Folter), S. 126. 62 Zur Stellung der Menschenwürde im derzeit geltenden Recht und im Hinblick auf die die Anwendung der Folter: Otto, JZ 2005, 473 ff. 63 Reemtsma (Folter), S. 129. 58 59
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VIII. Verhör oder Folter?
ten nach der Ermordung von Schleyer im Jahre 1977 findet sich ein besonders bemerkenswerter Gedanke: „Haben diejenigen, die die Terroristen unterstützen, überhaupt noch nicht begriffen, was eine demokratische Lebensordnung ist, so haben diejenigen, die auf der menschlichen Würde auch des Terroristen bestehen, die Demokratie zu Ende gedacht.“64
Richtig ist jedenfalls, dass derjenige, der den Terror dadurch bekämpfen will, dass er über Verdächtige Rechtlosigkeit und Folter verhängt, die Menschwürde mit Füßen tritt und den Terror pflegt. Die Konsequenz ist klar: Die Europäer müssen auch zukünftig den Mut haben, dies den Amerikanern deutlich zu sagen. Das gehört nicht nur zur Staatsräson.65 Ein entschiedenes Auftreten könnte auch dem schleichenden Prozess der eigenen machtpolitischen Korrumpierung entgegenwirken, der unversehens in die Komplizenschaft mit Staaten führen kann, in denen Regierungskriminalität die jeweilige rechtsstaatlich geprägte Verfassungsordnung ausgehebelt hat.
64 Zitiert nach Prantl, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 279 vom 3. / 4. Dezember 2005, S. 4. 65 Zutreffend: Prantl (wie Fn. 64).
IX. Ambition oder Plan? Der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, Wolfgang Schäuble, ist der Auffassung, dass es – insbesondere im Hinblick auf die im „Ernstfall“ erforderliche Befehlskette – ein Unterschied sei, ob man etwas gar nicht regelt oder ob man versucht, es zu regeln, aber vor dem Verfassungsgericht scheitert. Deswegen müsse es eine Regelung geben, damit wir im Ernstfall „geordnet“ handeln können. Dazu gehöre, dass man bei besonders schweren Unglücksfällen im Rahmen der unterstützenden Gefahrenabwehr nach Art. 35 II und III GG auch den Einsatz militärischer Mittel vorsieht und die punktuelle Bekämpfung von Angriffen auf die Grundlagen des Gemeinwesens als eigenständige, der Verteidigung vergleichbare Aufgabe in Art. 87a II GG ergänzt. Nur so – glaubt Schäuble – würde die erforderliche Rechtssicherheit für die Anordnung und Durchführung eines Bundeswehreinsatzes im Ernstfall geschaffen.1 Man mag diese Ausführungen zwar für rechtlich folgerichtig und politisch glaubwürdig halten. Fraglich ist aber, welchen Verpflichtungsgrad und welche Orientierungsfunktion sie in den Grenzzonen staatlicher Terrorbekämpfung haben. In einem Interview hatte man dem Minister im Juli 2007 u. a. folgende Frage gestellt: „Der Kampf gegen den Terror scheint den Rechtsstaat bis an seine Grenzen zu fordern – und darüber hinaus?“2
Er hatte darauf nicht direkt und präzise geantwortet, sondern die Lektüre eines Buches empfohlen: „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“.
1 2
Schäuble, ZRP 2007, 210, 213. Die Zeit Nr. 30 vom 19. Juli 2007, S. 4.
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IX. Ambition oder Plan?
Das Werk stammt von Otto Depenheuer.3 Damit könne man sich – behauptet Schäuble – einen „aktuellen Stand“ zur Diskussion verschaffen. Zuvor hatte der Fragesteller die These vertreten, dass selbst so ein gefestigter Rechtsstaat wie die USA sich offenbar schwer damit tue, bestimmte rechtsstaatliche Grenzen einzuhalten, Stichwort Guantánamo. Schäuble meinte hingegen, dass die Amerikaner mehr als andere in der Lage seien, Irrtümer und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Er gelangt zu dem Schluss, dass wir nicht die amerikanische Debatte führen müssten, weil die das schon selbst machten. Zumindest einer derjenigen, die der Empfehlung von Schäuble gefolgt sind, fühlt sich durch sein Leseerlebnis in eine geradezu „paranoid anmutende, extrem hermetische Gedankenwelt“ versetzt. Dieser ungewöhnliche Erfolg ist einem Autor (Jahrgang 1953) gelungen, der „Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie“ lehrt und Direktor des „Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik“ an der Universität Köln ist. Mit seinem Werk hat der Verfasser bei dem zitierten Leser einen besonders starken Eindruck hinterlassen: „Highnoon ist nichts dagegen.“4
Es handelt sich um einen Journalisten, der sich bei der Lektüre an jene Zeiten erinnerte als sich die Bundesrepublik Deutschland noch nicht entschlackt habe von den Spuren der autoritären Vergangenheit, von der Verachtung des parlamentarischen „Palavers“ und der deliberativen Demokratie. Die gesetzliche (vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte) Abschussermächtigung eines entführten Passagierflugzeuges, das von Terroristen als Waffe eingesetzt werden soll, werde nach seinem Empfinden zur Überhöhung 3 Erschienen in der Reihe „Schönburger Gespräche zu Recht und Staat“ (herausgegeben von Otto Depenheuer und Christoph Grabenwarter), 2007. 4 Hofmann, in: Die Zeit Nr. 33 vom 9. August 2007, S. 7.
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ins Grundsätzliche genutzt, zur Proklamation eines westlichen heiligen Krieges, nach dem Motto: „Wer den Rechtsstaat bewahren will, muss jenseits davon operieren.“
Darin könne man einen Sieg des Terrorismus sehen. Rechtsstaatliche Standards sollten als Fassade enthüllt werden. Dies hält Hofmann für die wahre Kapitulation, sie sei der „rechte Skandal“. Ihm drängt sich die Frage auf, warum der Bundesinnenminister, den man als leidenschaftlichen „repräsentativen Parlamentarier“ und „diskursiven Verteidiger der Prozess-Politik“ kenne, empfiehlt, ein solches „rechtsphilosophisch drapiertes Brevier für den Endkampf“ zu lesen. Nach diesen Bemerkungen hat Schäuble öffentlich (im Radio) erklärt, dass man das Buch lesen solle, bevor man es kritisiere. Dies wird von einem Kollegen Hofmanns als „typisch vernebelnde Äußerung“ bezeichnet. Man wird davon ausgehen dürfen, dass Hofmann das zitierte Werk gelesen hat. Viel bemerkenswerter ist die Tatsache, dass Schäuble jede Aussage darüber vermied, welche Thesen Depenheuers er für richtig oder doch für Denkanstöße hält. Dafür hat er in einer Rede vor der Justizpressekonferenz im November 2007 durch einige Bekenntnisse wertvolle Hilfestellungen gegeben, mit deren Hilfe sich die zukünftigen Horizonte der Sicherheitspolitik erahnen lassen. Schäuble ist der Überzeugung, dass nationale Rechtsordnungen wie internationales Recht den neuen Formen der (terroristischen) Bedrohung nicht mehr ausreichend gerecht werden. Der weltpolitische Wandel lege nicht nur die Anpassung einzelner Rechtsvorschriften nahe, sondern zwinge dazu, grundlegende Ordnungsprinzipien des neuzeitlichen Rechts zu überdenken. Dazu gehöre etwa die strikte Trennung zwischen Völkerrecht im Frieden und Völkerrecht im Krieg. Er sieht sich vor eine Auflösung des Gegensatzes von innerer und äußerer Sicherheit gestellt.5 Die traditionellen Bezüge 5 Zur Bekämpfung des transnationalen Terrorismus durch Kriegführung und zur Bedeutung des humanitären Völkerrechts: Bruha, AVR 40 (2002), 383 ff.; Davy, ZAR 2003, 52 ff.; Gaitanides, KritV 2004, 129 ff.;
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seien jedenfalls obsolet. Der Bundesinnenminister geht davon aus, dass Prävention im Rechtsstaat, gerade bei Straftaten, keinen niedrigeren Rang habe als nachträgliche Verfolgung. Er versteht nach eigenem Bekenntnis deshalb das Argument nicht, dass bestimmte Grundrechtseingriffe von vornherein nur zur Strafverfolgung, aber unter keinen Umständen gesetzlich zur Vorbeugung vorgesehen werden dürfen. Schäuble glaubt, dass manche aktuelle Diskussion in Deutschland bei Thomas Hobbes stehen geblieben sei. Mit einem vordemokratischen Staatsbild werde ein Gegensatz konstruiert zwischen der an Freiheit und Autonomie des Einzelnen orientierten Logik des liberalen Rechtsstaates und der an Sicherheit und Effizienz orientierten Logik eines dem Rechtsstaat entgegengesetzten Präventionsstaates. Aus seiner Sicht sind heutzutage persönliche Freiheit und Bewegungsfreiheit weit mehr von nichtstaatlicher Gewalt bedroht als durch den Rechtsstaat. Das „Konfliktgeschehen“ werde von Bürgerkriegen, Warlords und Guerillakämpfern bestimmt. Darin liege ein Rückfall in die Zeit vor dem Westfälischen Frieden: „Unsere traditionellen Bezüge, die alte Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit werden somit zunehmend obsolet.“
Der Bundesinnen(!)minister hält militärische und polizeiliche Interventionen im Ausland für erforderlich, um ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten. Er attestiert dem Bundesverfassungsgericht zwar insgesamt ein hohes Maß an juristischer Selbstbeschränkung bei der materiellen Grundrechtsprüfung. Vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Sicherheitsgesetzgebung hält er es aber für diskussionsbedürftig, ob bei Themen der inneren (!) Sicherheit diese „Diagnose“ im gleichen Maß gilt.6 Hetzer, Kriminalistik 2004, 508 ff.; Tietje / Nowrot, NZWehrr 2002, 1 ff.; Venohr, AnwBl. 2004, 347; Moshagen, FoR 2002, 57 f. 6 Insgesamt: Schäuble, in: Die Zeit Nr. 47 vom 15. November 2007. (Fundstelle: http: // www.zeit.de / 2007 / Schaeuble-Rede?page=all (28. November 2007)).
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Die Aussagen von Schäuble empfinden manche als Warnung an Richter (des Bundesverfassungsgerichts) und Bürger, dass Eingriffsschranken fallen und Kompetenzaufteilungen verschwinden, wenn die Auflösung von „innen“ und außen“ im Binnenbereich des Rechts nachvollzogen wird. Die in diesem Bereich für Schäuble angeblich typischen „Meta-Bemerkungen“ zeigten ihn als „Meister in der Taktik der asymmetrischen Wortkriegsführung“. Seine Interventionen versehe er regelmäßig nachträglich mit der Erläuterung, er habe keineswegs vorgeschlagen, geschweige denn gefordert, beispielsweise eine gesetzliche Ermächtigung für die gezielte Tötung von Terroristen zu schaffen. Man habe lediglich einen Denkanstoß geben wollen und lieber ausgesprochen, was besser nicht unausgesprochen bleibe. Diese ministerielle „Redefigur“ verschaffe dem Ungesagten eine unheimliche Macht über die öffentliche Debatte. Es werde suggeriert, dass die Realität schon viel finsterer sei als wir uns einzugestehen wagten. Hinter vorgehaltener Hand äußere man die Erwartung, wenn erst einmal ein Massenmord in Deutschland geschehen sei, würden Abschussverbot und Foltertabu dem Volk nicht mehr zu vermitteln sein. Schäuble berufe sich auf ein Geheimwissen, das zugleich offenkundig sein solle. Gemeint sind Geheimdienstinformationen, die sich als Lageeinschätzungen erweisen, die seit Jahren unverändert sind. Für manch einen Beobachter offenbart sich in derartigen Überlegungen ein „ministerieller Fatalismus“, der die hier und heute gesicherte Freiheit nur noch vorläufig gelten lassen wolle. Die Erinnerung daran, dass zur Freiheit auch die Einhaltung der Kompetenzordnung für die öffentliche Gewalt gehört, könnte in der Tat die intellektuelle Basis von Schäubles Projekt der Rechtsordnungsreform im Zeitalter der (angeblich) neuen Bedrohungen erschüttern. Diese (mögliche) Wirkung wird einer Rede zugeschrieben, die der Richter am Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio am 6. November 2007 an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik gehalten hat und die in einem „dramatischen Kontrast“ zu der Rede des Bundesinnenministers am folgenden Tag stehe. In der Sicherheitsdebatte setze die Rede von di Fabio, auf die
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später einzugehen ist, sogar eine Zäsur. Immerhin deutet sich vor diesem Hintergrund schon jetzt an, dass es vielleicht weniger um die „Selbstbehauptung“ des Rechtstaates geht, sondern mehr um dessen „Selbstachtung“.7 In einer Würdigung der zitierten Rede wird darauf aufmerksam gemacht, dass die darin geführte Grundsatzdebatte spät kommt. Sie stehe erst am Anfang und müsse dringend geführt werden.8 Ein anderer Journalist ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine geradezu paranoid anmutende, extrem hermetische Gedankenwelt eine Sache, eine geradezu paranoid anmutende, extrem hermetische Gedankenwelt ins Kölsche übertragen eine ganz andere Sache sei. Depenheuer entführe nämlich in diesem „niedlichen Singsang“ in die Grenzräume deutschen Denkens. Man vermutet, dass dieser kölsche Rechtswissenschaftler weitgehend unbeachtet geblieben wäre, wenn die ministerielle Empfehlung unterblieben wäre und hält es für möglich, dass bei der Lektüre der Atem stockt, so frank und frei werde da über Feinde und Opfer nachgedacht, gern mit Bezug auf Carl Schmitt, jenen Juristen, der sich mit den Nazis einließ und dem autoritären Staat einiges habe abgewinnen können.9 Ein weiterer Kommentator hat ein „mulmiges“ Gefühl bekommen, da Schäuble, als Innenminister immerhin auch „Verfassungsminister“, ein „Büchlein“ anpreise, in dem die folgende Äußerung zu finden ist: „Im hereinbrechenden Zeitalter des Terrorismus aber gibt es ein moralische Verpflichtung, auch das Undenkbare zu denken.“
Einige Kollegen Depenheuers hätten längst aufgeschrieben, was das heißen könne. So habe ein Professor aus Bonn die Menschenwürde plötzlich für anfechtbar erklärt, ein Zweiter habe die Aufweichung des Folterverbots legitimiert und ein Dritter habe auf dem Reißbrett ein Feindrecht entworfen, das 7 Insgesamt: Bahners, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 269 vom 19. November 2007, S. 33. 8 Hofmann, in: Die Zeit Nr. 47 vom 15. November 2007, S. 4. 9 Kurbjuweit, in: Der Spiegel Nr. 46 vom 12. November 2007, S. 119.
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die allgemeinen Prinzipien des fairen Prozesses für al-QaidaGefangene außer Kraft setze. Es wird die Frage gestellt: „Wo ist hier noch eine rote Linie?“10
Die Ausführungen des Rechtslehrers Depenheuer müssen sehr viel umfänglicher rekapituliert werden als dies in kurzen Zeitungskommentaren möglich ist. Immerhin besteht die Absicht, die Handlungsoptionen eines freiheitlichen Rechtsstaates auszuloten, der mit der „Gefahr seiner terroristischen Negation“ konfrontiert sei.11 Zudem kann auf diese Weise dem Wunsch von Schäuble entsprochen werden, dass der Kritik die Lektüre vorgeschaltet sein möge, ein Anliegen, das zweifellos berechtigt ist, aber gleichzeitig Stil und Niveau mancher Debatte charakterisiert, an der sich manche Amtsträger beteiligen. Deren intellektuelle Spannbreite und analytischer Scharfsinn werden möglicherweise auch zu den (üblichen) Vorwürfen führen, dass man nicht richtig und vollständig gelesen habe, dass man nicht verstanden habe, was man gelesen hat, dass man Zitate aus dem Zusammenhang gerissen habe, dass man tendenziös zitiert habe, dass man von der Sache nichts verstehe, dass man Deutschland den Terroristen überlassen wolle, dass man unschuldige 82 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger Tag und Nacht dem Untergang preisgebe, dass man sich am christlich-demokratischen (oder sonst irgendeinem) Weltbild versündige und die Rückkehr des Heiligen in die Politik verhindere. An der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der folgenden Bestandsaufnahme ändert dies nichts. Der Ausgangspunkt ist klar: Die Fähigkeit und die Bereitschaft, Frieden nach innen und Sicherheit nach außen effektiv zu garantieren, ist nach dem Empfinden von Depenheuer Fundament staatlich organisierter politischer Ordnung. Dies gelte allen freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen 10 Klingst, in: Die Zeit Nr. 48 vom 22. November 2007, S. 18, 19. Vgl. auch die Zusammenfassung und kritische Würdigung von: Hetzer, StraFO 2008, 93 ff. 11 Depenheuer, S. 7.
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„Drapierungen“ zum Trotz. Letztlich gehe es um den Willen und die Fähigkeit zur „existentiellen Selbstbehauptung der eigenen politischen Existenz“.12 Der Verfasser hat sich keine leichte Aufgabe gestellt, gibt es doch nach seiner Wahrnehmung – unter Juristen zumal – einen „Affekt“, die Ausnahme zu denken. Die Thematisierung des „Ernstfalls“ mit seinen Notwendigkeiten und Konsequenzen werde mit einer Tabuzone überzogen. Diese wirke in Deutschland umso strikter als die unselige Vergangenheit des Nationalsozialismus mit ihrer „Lust am Ernstfall“ jedes Denken über Staatsraison in ein schiefes Licht zu rücken ermögliche. Wie bereits erwähnt, sieht der Verfasser gleichwohl im Angesicht des (angeblich) hereinbrechenden „Zeitalters des Terrorismus“ eine moralische Verpflichtung, auch das Undenkbare zu denken und das Notwendige mit Deutlichkeit zu sagen. Ihn bewegt eine große Sorge: Kann der freiheitliche Rechtsstaat allein mit verfassungspatriotisch gestimmten Bürgern, die ihn um seiner vermeintlichen Selbstachtung willen im Konfliktfall im Stich lassen, überleben?13 Er scheint tatsächlich der Auffassung zu sein, dass mit den Anschlägen vom 11. September 2001 ein neues Kapitel der Weltgeschichte aufgeschlagen wurde. Den „Krieg gegen den Terror“ hält er als weltweiten Bürgerkrieg gar für eine Konstante der Politik für die nächsten Jahrzehnte.14 Man sieht sich von „Heiden der säkularen Rechtsstaatlichkeit und der individuellen Freiheit“ umzingelt, die sich gegen zivilisatorisch inspirierte und humanitär motivierte Missionierungsversuche rechtsstaatlicher Demokratien wehren. Jenseitige oder diesseitige Lebenserfüllung, Wahrheit oder Frieden stünden sich unüberbrückbar gegenüber.15 Das alte, überwunden geglaubte europäische Trauma der Religionskriege kehre auf die weltpolitische Bühne zurück.16 Während 12 13 14 15 16
Depenheuer, S. 7, 8. Depenheuer, S. 9. Depenheuer, S. 11. Depenheuer, S. 12, 13. Depenheuer, S. 14.
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die USA auf die Anschläge des Jahres 2001 in einem wenig souverän wirkenden Aktionismus reagierten und dabei ihre Souveränität verbrauchten, sei Europa gestrauchelt. Es habe sich in der „Zentralfrage der neuen Zeitrechnung“ – der kollektiven militärischen Selbstbehauptung – in einer Weise uneins gezeigt, als hätte es das Projekt der Europäischen Union nie gegeben. Der 11. September 2001 habe indes den elementaren, aber verdrängten Zusammenhang von Ordnung und Gewalt in Erinnerung gerufen.17 In der Wahrnehmung des Verfassers zeigt sich der Staat des Grundgesetzes gegenüber der terroristischen Herausforderung nur „bedingt abwehrbereit“. Dieser Staat könne nur nach Maßgabe des Rechts handeln. Seine Sicherheitsverfassung sei lückenhaft. Und die Menschenwürde stehe im Grenzfall Maßnahmen staatlicher Selbstbehauptung gegen terroristische Angriffe sogar absolut entgegen.18 Der Verfasser erkennt eine rechtliche Asymmetrie, welche die rechtsstaatliche Herausforderung des „Terrorkriegs“ umschreibe. Eine Frage enthält die dramatische Konsequenz: Kann der Rechtsstaat gegen seine terroristische Negation verteidigt werden, ohne seine rechtlichen Prinzipien zu verraten?
Das Grundgesetz sei für den terroristischen „Ernstfall“ nicht gerüstet. Die asymmetrische Kriegführung des internationalen Terrorismus unterlaufe das System des Sicherheitsverfassungsrechts.19 Das Luftsicherheitsgesetz dokumentiere verdrängtes Problembewusstsein, weil der Gesetzgeber die Erlaubnis zu unmittelbarer Waffeneinwirkung auf ein entführtes Zivilflugzeug als polizeiliche und nicht als militärische Antwort auf die terroristische Gefährdungslage verstehen wollte. Terrorismus werde als Fall gewöhnlicher Kriminalität behandelt, für deren Bekämpfung die Polizei zuständig sei. Mit seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Luftsicher17 18 19
Depenheuer, S. 19. Depenheuer, S. 20. Insgesamt: Depenheuer, S. 22, 23.
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heitsgesetzes habe das Bundesverfassungsgericht die rechtliche Asymmetrie im Kampf gegen den Terror sogar noch verschärft. In der Urteilsbegründung sieht der Verfasser eine vorsorgliche Kapitulation gegenüber terroristischen Angriffen, die einer Einladung an Terroristen gleichkomme, ihre Taten künftig in Deutschland mittels unschuldiger Geiseln zu planen und umzusetzen. Der „Staat der Menschenwürde“ gebe sich in der Konfrontation mit seiner gewaltsamen Negation auf – und das auch noch im Namen der Menschenwürde.20 Er liefere seine Bürger dem menschenverachtenden Terrorismus aus und mache sich politisch erpressbar. Daraus wird eine provozierende Frage abgeleitet: Sich seiner terroristischen Negation nicht angemessen widersetzen zu dürfen – liegt darin der ultimative Triumph oder eher ein Verrat an der Idee des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates?
Depenheuer erkennt in diesem Zusammenhang das angeblich typisch deutsche Hirngespinst des „reinen Gedankenstaates“ (Hegel). Dem Bundesverfassungsgericht wird „Verfassungsintrovertiertheit“ attestiert, die in einen „Verfassungsautismus“ umzuschlagen drohe. Das Gericht gebe ein Exempel für die verfassungsrechtliche Flucht aus der Verantwortung für das politische Gemeinwesen. Man verdränge den Ausnahmezustand, der Feind werde (!) zum Grundrechtsträger. Die Opfer möglicher terroristischer Angriffe überlasse man (allein) ihrem Schicksal. Das Gericht gebe die Passagiere einer entführten Maschine „teilnahmslos“ ihrem sicheren Tode preis. Für den Verfasser handelt es sich um Zynismus, der in signifikanter Weise das Abgleiten der Verfassungsdogmatik in einen wirklichkeitsblinden und letztlich verantwortungslosen Verfassungsautismus bewirke. Das Ergebnis ist klar: „Die Rechtsdogmatik gibt sich im Ernstfall auf“.21
Aus der Sicht von Depenheuer lässt sich moderne Staatlichkeit ohne die Bereitschaft seiner Bürger, sie gegen die terro20 21
Depenheuer, S. 26, 27. Depenheuer, S. 28, 29.
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ristischen Feinde der offenen Gesellschaft zu verteidigen, nicht bewahren. Für ihn erfordert staatliche Selbstbehauptung die Überwindung des Verfassungsautismus. Dazu gehöre die Reflexion des Rechts auf seine Geltungsvoraussetzungen, die Bestimmung des „Feindes“ und die Bereitschaft zum „Bürgeropfer“. Der Verfasser vermisst die Thematisierung dieser Elemente in der gegenwärtigen Staatslehre. In der Rechtfertigung des Bürgeropfers sieht er den „Lakmustest“ dafür, ob auch die heutige Generation den öffentlich bekundeten Verfassungspatriotismus ernst nimmt.22 Depenheuer räumt ein, dass die Selbstbehauptung des Rechtsstaates in tragische Entscheidungssituationen führen kann, denen man sich auch rechtlich stellen müsse. Gleichwohl hält er die rechtliche Verweigerung einer Antwort für eine bedenkenswerte Position, betont aber, dass man darüber im Fall der Terrorabwehr nicht diskutieren könne. Die theoretisch mögliche „Nicht-Antwort“ des Rechtsstaates sei jedoch nicht das Problem, sondern die (immerhin!) klare juristische Antwort des Bundesverfassungsgerichts in dessen Urteil über die Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes. Der Verfasser identifiziert die für ihn unvermeidlich zu beantwortenden Fragen: • Wie weit darf der Staat im Kampf um seine freiheitliche Existenzform gegenüber dem islamistischen Terror gehen? • Darf der Staat um seiner Existenz und Handlungsfähigkeit willen in letzter Konsequenz auch unschuldige Menschen opfern? • Ist der Staat dabei gegenüber den Terroristen an seine Rechtsordnung gebunden, oder gilt der Satz „Not kennt kein Gebot“? • Gehören Folter, Internierung ohne Rechtsschutz, die Reduzierung des Menschen auf sein nacktes Leben zu den „unangenehmen“ (sic!), aber unvermeidlichen Begleiterscheinungen des aufgezwungenen Kampfes? 22
Depenheuer, S. 30.
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Vor einer Beantwortung dieser Fragen würdigt er die zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „blamablen“ Akt, mit dem sich der Rechtsstaat vor der Frage nach seiner Selbstbehauptungsbereitschaft aus der Verantwortung stehle. Es sei gar „rechtsethisch verwerflich“, sich selbst die Hände in „menschenwürdegetränkter Unschuld“ zu waschen, während andere die „Drecksarbeit“ der Selbstbehauptung rechtsstaatswidrig erledigen sollen, auf dass man sich über Guantánamo, CIA-Gefängnisse, Folter und Flugzeugabschüsse echauffieren könne.23 Mit diesen Überlegungen und weiteren Behauptungen sollen die gegenwärtigen terroristischen Herausforderungen beschrieben werden, denen sich (nicht nur) Deutschland gegenübergestellt sehe. Zu deren Bewältigung will Depenheuer zunächst mit einigen Gedanken über die Frage beitragen, wie das auf Normalität bezogene Recht die Realität des „Ernstfalls“ reflektiert. Zu seinen Grundannahmen gehört, dass die ordnungsstiftende Kraft des Rechts auf der latent präsenten Gewaltfähigkeit des Staates beruht.24 Im Folgenden wird zwischen Gefährdungen in der Normallage und Gefährdungen der Normallage, also dem Ernstfall unterschieden. Diese Unterscheidung mit der ihr entsprechenden Aufgabenteilung zwischen Polizei und Militär verliere im „Krieg gegen den Terrorismus“ wegen der asymmetrischen Kriegsführung des modernen Terrorismus ihre Sachgerechtigkeit. Für den Verfasser ist – normativ interpretiert – der Ernstfall der „Ausnahmefall“. Der Ausnahmefall sei – wiederum normativ betrachtet – die intensivste Form des Ernstfalls. Die Rechtsordnung werde im Ernstfall teils suspendiert (Notstandsrecht), teils im Kampf gegen die „Feinde des Rechts“ instrumentalisiert.25 Letztlich landet man bei einer These, die alles andere als neu ist, deren prägende Kraft jedoch ungebrochen zu sein scheint: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“26 23 24 25
Depenheuer, S. 32, 33. Depenheuer, S. 35. Depenheuer, S. 39.
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Das Einverständnis mit Carl Schmitt scheint im Kreise jüngerer Rechtslehrer immer mehr um sich zu greifen. Einerseits glaubt ein anderer akademischer Beobachter, dass wir uns noch längst nicht im Ausnahmezustand befänden und ihn auch nicht herbeireden sollten, weil das ein Spiel mit dem Feuer wäre. Die terroristische Herausforderung könnten wir zwar bewältigen, ohne die rechtsstaatliche Substanz unseres Gemeinwesens anzutasten. Andererseits plädiert er dafür, die „Begriffe zu wahren“ und die Dinge beim Namen zu nennen. Darin bestehe – nach Carl Schmitt – die Aufgabe des Theoretikers: „Recht hat er“, behauptet Pawlik. Für ihn ist der moderne Terrorismus eine Form der Kriegführung, zu dessen Bekämpfung es eines neuartigen Präventionsrechts mit kriegsrechtlichen Elementen bedürfe. Im Übrigen habe der mit hochtechnologischen Mitteln geführte Krieg alle Kennzeichen der „Duellsituation“ verloren und sich „gewissen Formen der Schädlingsbekämpfung“ angenähert. In der Verknüpfung einer „asymmetrischen normativen Grundstruktur – Verteidigung des Rechts gegen das Unrecht – mit kriegsähnlichen Mitteln“ liege das spezifisch Neue des „Rechtsregimes“ zur Bekämpfung des modernen Terrorismus. Als Angehöriger einer dauerhaft gefährlichen Organisation könne sich der Terrorist nicht gegen Maßnahmen zu seiner „Neutralisierung“ beschweren, wozu vor allem die Inhaftierung bis zum Ende der Feindseligkeiten und die Tötung gehörten, und zwar grundsätzlich auch außerhalb konkreter Kampfhandlungen (!). Vor einem derartigen Hintergrund überrascht es nicht, dass dieser Lehrer des Strafrechts, des Strafprozessrechts und der Rechtsphilosophie an der Universität Regensburg es auch für zweifelhaft hält, ob die zur Gefahrabwendung zulässigen Befragungsmethoden an den § 136 a StPO zu binden wären!27 Es mag sein, dass wir im Fall eines Notstandes keine andere Alternative haben, als unserer politischen Führung zu vertrauSchmitt (Theologie), S. 11. Pawlik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 47 vom 25. Februar 2008, S. 40. 26 27
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en, dass schnelles Handeln geboten ist, wenn unser Leben in Gefahr ist. Doch es wäre falsch, ihr die größere Frage zur Entscheidung zu überlassen, wie man langfristig Freiheit und Sicherheit ins Gleichgewicht bringen soll.28 Diese Frage steht jedoch nicht im Zentrum der Überlegungen von Pawlik. Während Jakobs mit seiner Kernthese über die Existenz zweier Arten von Strafrecht (eines für die Bürger, die „Citoyens“ und eines für die Feinde des Gemeinwesens, die den Grundkonsens, den Gesellschaftsvertrag nicht nur verletzen, sondern aufkündigen („Terroristen“) immer noch darauf beharrt, den bereits bestehenden Rechtszustand deskriptiv zu behandeln, will sein Schüler Pawlik nach dem Empfinden von dessen Fakultätskollegen Walter einen Schritt weitergehen. Pawlik deute nicht nur auf die Vorschriften, die sein Lehrer für „Feindstrafrecht“ hält. Er wolle auch zeigen, dass diese Normen ihre Berechtigung hätten und (als „gewöhnliches Strafrecht“) höchst falsch etikettiert seien. In der Sache handele es sich nämlich um ein antiterroristisches Präventionsrecht, das dem eigentlichen Strafrecht – dem der Bürger – fremd sei. Walter hält Pawlik und Jakobs für „christlich-konservativ gefestigte, zu Recht angesehene Rechtswissenschaftler“. Doch ihre Lehren zu Terrorismus und Strafrecht seien nicht nur verkehrt, sondern gefährlich. Eine nüchterne Debatte wird nach seinem Empfinden dadurch erschwert, dass beide eine problematische Lust packe, wider den politisch korrekten Stachel zu löcken, wie der Rekurs auf das „gesunde Volksempfinden“ (Jakobs) und Carl Schmitt (Pawlik) zeige. Auch die Wortwahl von Pawlik löst Unbehagen aus. Es beginne mit dem FreundFeind-Schema von Bürger und Terrorist. Die entsprechende ständige Gegenüberstellung klinge stark nach einer Tätertypenlehre, welche die Nationalsozialisten entwickelt hatten. Sie habe sich aus der Fixierung auf Blut und Erbgut entwickelt: einmal schlecht, immer schlecht. Walter glaubt, dass Jakobs und Pawlik von solchem Denken weit entfernt seien. Gleichwohl werde der Täter bei ihnen zum „Tätertyp“. Mit 28
Zutreffend: Ignatieff (Übel), S. 17.
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Terroristen sei kein Frieden zu schließen. Anders als bei gewöhnlichen Straftätern gehe es bei ihnen um „das Ziel der rechtlich eingehegten Unschädlichmachung“. Für Walter handelt es sich dabei um einen „Tunnelblick“, der das Phänomen des Terrorismus nur unvollständig erfasse. Immerhin hatte der ehemalige Bundespräsident Weizsäcker im Vorfeld von Entscheidungen über die Begnadigung verurteilter Terroristen der RAF darauf hingewiesen, dass die Einmaligkeit jeder Person wichtiger ist als die Lehre vom Tätertyp, eine Erkenntnis, die auch für terroristische Straftäter gelte. Und für Islamisten, woran Walter erinnert. Es komme hinzu, dass sich der „Furor“ des neuen Präventionsrechts notwendig gegen Personen richten müsste, für die zunächst einmal gar nicht sicher wäre, ob es sich um bloße Terroristen handelt. Der bloße Verdacht müsste genügen, und da kann jeder hineingeraten. Für ebenso verfehlt und gefährlich wie das Denken in Tätertypen hält Walter die Gleichsetzung von islamistischem Terror und herkömmlichem Staatenkrieg. In der Tat ist eine Terrorgruppe weder ein Staat noch ein staatsähnliches Gebilde; auch nicht bei einem hohen Organisationsgrad. Bekanntlich ist auch al-Qaida alles andere als eine weltweit straffe hierarchische Terrorloge. Selbstverständlich sind auch ihre Ziele andere als in einem konventionellen „Staatenkrieg“. Es lässt sich noch nicht einmal sagen, auch darin verdient Walter Zustimmung, ob sie überhaupt genügend konkretisierbare Ziele verfolgen. Der diffuse Hass auf den westlichen Lebensstil ist kein „Kriegsziel“. Die nach terroristischen Anschlägen üblicherweise erhobenen Forderungen führten selbst im Falle ihrer Erfüllung nicht regelmäßig den Untergang des Abendlandes herbei. Man kann sich im Übrigen auch schwer ausmalen, wie der Zusammenbruch der westlichen Wertegemeinschaft und der staatlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund dieser Attacken vonstatten gehen soll. Der Anschluss Deutschlands z. B. an den Iran oder ein anderes „Reich des Bösen“, der geschlossene Übertritt der jeweils amtierenden Bundesregierung zum islamischen Glauben oder die Einführung der Scharia in den Geltungsbereich des Grundgeset-
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zes dürften zu den weniger realistischen Optionen gehören. Walter betont zutreffend, dass wir kein neues Feind-oder was auch immer-Strafrecht brauchen: „Standfestigkeit genügt“. Der größte Schaden, auch das wird richtig erkannt, den uns Terroristen zufügen können, besteht darin, dass wir die Nerven verlieren und unsere (Rechts-)Kultur eigenhändig zerstören, noch dazu mit den Mitteln einer demokratisch legitimierten Gesetzgebung. Nach der Einschätzung von Walter droht eine unabsehbare Radikalisierung des Rechts als eine Antwort auf die Radikalisierung der Täter. Für ihn ist das Thema „Existenzkampf“ (Endkampf?), als das „Mit-demRücken-an der-Wand-Stehen“, verbunden mit der Angst vor innerer Verweichlichung und durch sie bewirkter Wehrlosigkeit, seit den Kriegen Friedrichs des Zweiten „Teil der subkutanen deutschen Befindlichkeit“. Walter unterstellt, dass Strafrechtler wie Jakobs und Pawlik kaum weniger wollten, als ihr Gemeinwesen gegen eine tödliche Gefahr zu wappnen, deren Ausmaß in ihren Augen von vielen „liberalen Gutmenschen“ verkannt werde. Aber: „Das klassisch Tragische ist, dass sie ihrem Gemeinwesen dadurch mehr schaden als helfen.“29 Der Affekt gegen den Ernst- und Ausnahmefall – so erklärt unterdessen Depenheuer weiter – sei den Juristen schon deswegen eigen, weil er die Normgeltung – ganz oder teilweise – aufzuheben drohe. Vor diesem Hintergrund bemüht er sich um die Grundlinien des Sicherheitsverfassungsrechts. Dabei wird zwischen der Sicherheitsgewährleistung durch Polizei und Militär sowie zwischen Polizei– und Kriegsrecht unterschieden.30 Der Polizei werden die Aufgaben der Gefahrenabwehr und Störungsbeseitigung zugeschrieben. Rechtlich begrenzt und gerichtlich kontrollierbar sei sie „Garant der Normallage“.31 Im Krieg mit einem äußeren Feind werde für den Staat hingegen die „Existenzfrage“ aufgeworfen. Der Ver29 Insgesamt: Walter, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 22. April 2008, S. 14. 30 Depenheuer, S. 42 ff. 31 Depenheuer, S. 43.
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fasser weiß (woher auch immer), dass es dabei in einem existentiellen Sinn um „Alles oder Nichts“ geht. Deshalb suspendiere die „staatliche Solidargemeinschaft“ im Krieg das Recht der Normallage durch Ausrufung des „Verteidigungsfalls“ (Art. 115a GG). Das Ergebnis ist klar: Polizeirechtliche Verhältnismäßigkeit wird im Ernstfall durch kriegsrechtliche Angemessenheitsüberlegungen abgelöst. Die Folgen sind höchst praktischer Natur: Der Tod unbeteiligter Zivilisten kann als Folge eines militärischen Angriffs kriegsrechtlich als „Kollateralschaden“ gerechtfertigt sein, wenn der Grundsatz der „Proportionalität“ gewahrt ist. Dies steht in unüberbietbarem Kontrast zu den Grundsätzen des Polizeirechts, wonach die Inanspruchnahme eines „Nichtstörers“ unzulässig ist.32 Aus Depenheuers Perspektive ist der moderne islamistische Terrorismus als Gefahr dem Ernstfall näher als dem Normalfall, weil er die Rechtsordnung grundsätzlich negiere und der Terrorist daher eher „Feind“ denn Straftäter sei. Sein Gefahrenpotential sei demjenigen eines militärischen Gegners gleichwertig.33 Es handele sich bei terroristischen Angriffen um den Ernstfall, weil sie eine Bedrohung der politischen Existenzform freiheitlicher Verfassungsstaaten darstellten. Man werde dem Phänomen des islamistischen Terrors nicht gerecht, wenn man seine Angriffe nur als Straftaten ansehe, denen man mit dem (Straf-)Recht der Normallage begegnen könnte und müsste. Immerhin wird noch erkannt, dass die bisherigen Anschläge die Existenz und die Verfassung noch nicht einmal ansatzweise in Frage gestellt haben. Es sei aber unverkennbar, dass Staat und Gesellschaft in Ansehung möglicher Anschläge ihre Politik und Lebensweise änderten. Die Skala reiche schon jetzt von „Appeasementversuchen“ bis zu Formen der Selbstzensur. Darin spiegele sich die wahre Bedrohung durch den modernen Terrorismus: die Infragestellung souveräner Selbstbestimmung des Volkes. Die Autonomie staatlicher Willensbildung und die Souveränität kollektiver Selbstbestimmung lägen „strukturell“ 32 33
Depenheuer, S. 44, 45, 46. Depenheuer, S. 46.
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im Fadenkreuz der terroristischen Anschläge. Deshalb gehe es um mehr als um das Leben und das Eigentum der Bürger. Der Verfasser sorgt sich um die Würde des Menschen und die Freiheit der Bürger, frei von terroristischer Bedrohung nach selbst gesetztem Recht zu leben. Beim Terror handele es sich um die „totale Infragestellung“ der eigenen politischen Existenzform. Staatstheoretisch sei der Terrorist „Feind“. Die terroristische Bedrohung bilde (schon wieder!) den „Ernstfall“. In der Klassifizierung der terroristischen Anschläge des Jahres 2001 als „kriegerischer Akt“ sieht Depenheuer einen Beleg dafür, dass in der entsprechenden Erkenntnis der Botschaft des Terrorismus ein epochales Verdienst der westlichen Staatengemeinschaft liegt.34 Er geht davon aus, dass in der hochgradig verletzbaren Risikogesellschaft der Gegenwart das dem Terrorismus zur Verfügung stehende Schadenspotential bis hin zu Massenvernichtungsmitteln in seiner verheerenden Wirkung nicht hinter dem eines Staates zurückbleibe. Der Verfasser ist der Überzeugung, dass das Grundgesetz insbesondere staatsorganisationsrechtlich auf die vermeintlich neue Bedrohungslage nicht vorbereitet sei. Er will gleichwohl die Diskussion darüber, ob die Bedrohung als innerstaatliche qualifiziert werden soll und dann die zuständige Polizei militärisch aufgerüstet werden sollte oder ob der terroristische Angriff als Verteidigungsfall gewertet werden sollte, so dass die Streitkräfte „zur Verteidigung auch im Innern“ eingesetzt werden dürfen, auf sich beruhen lassen. Stattdessen möchte er die rechtssystematische Grundfrage erörtern, wie die Normalität des staatlichen Lebens und die Verteidigung gegen den terroristischen Ernstfall zusammengedacht werden können. Für ihn tritt das „Ausnahmerecht“ neben das Friedensrecht. Ein Wechsel zwischen dem einen zum anderen „Regime“ bedürfe nicht mehr der Feststellung der Ausnahme, weil der „Krieg gegen den Terror“ weder territorial noch zeitlich begrenzt sei.35 Ein Schluss ist zwangsläufig: Die Ausnahmelage 34 35
Depenheuer, S. 47, 48. Depenheuer, S. 49, 50.
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wird permanent, Friedens- und Ausnahmerecht gelten gleichzeitig.36 Der Ausnahmenzustand wird gar zu einem „Paradigma des Regierens“ bei der „Verteidigung“ gegen den Terrorismus. Ein auf die terroristische Bedrohung reagierendes „Feindrecht“ spiegelt die Entwicklung normativ wider. Über den Ausnahmefall wird in diesem Weltbild im Einzelfall nach Maßgabe konkreter Bedrohungslagen entschieden.37 Der Verfasser konzentriert seine analytischen Kräfte sodann auf zwei Probleme, die ihm im „Krieg gegen den Terror“ als zentral erscheinen: Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind und die Wahrscheinlichkeit des Bürgeropfers. Er hält den Begriff des Feindes zwar für vielfältig kontaminiert, kompromittiert und mißbrauchsanfällig, aber doch in der Sache für alternativlos. Nach seinen Erfahrungen sind mit der Verwendung dieses Begriffs nicht nur „Diskursverweigerung“ und „Exkommunikation“, sondern auch „Entrüstung“ verbunden. In der „Perhorreszierung“ des Feindbegriffs liege der Versuch der Problementsorgung durch Begriffsverweigerung. Der Feindbegriff werde nicht durch eine politische Gesinnung ausgefüllt, sondern durch den politisch motivierten und gewaltsamen Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Es geht ihm um den Islamismus, der den Nährboden des modernen Terrorismus bilde.38 Immerhin erkennt Depenheuer noch, dass auch der Feind Mensch ist und bleibt, über Würde verfügt, eine Ehre hat und Überzeugungen besitzt, für die er gar sein Leben aufs Spiel setzt. Politisch verkörpere der Feind aber die „Negation“ der Lebensform einer säkularen und freiheitlichen Demokratie: „Wird diese Negation organisiert und gewalttätig, wird der Negat zum Feind.“39
Sofort taucht das entscheidende Dilemma auf: Muss der freiheitliche Rechtsstaat, der sich der damit verbundenen Ge36 37 38 39
Depenheuer, S. 51. Depenheuer, S. 52, 53, 54. Depenheuer, S. 56, 57. Depenheuer, S. 58.
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fahren erwehren will, diejenigen an seinen rechtlichen Gewährleistungen teilhaben lassen, die ihn grundsätzlich missachten und bekämpfen? Muss er also seine „Feinde“ behandeln wie „gewöhnliche Verbrecher“, also ihre (terroristischen) Handlungen präventiv nach der gleichen Maßgabe polizeilicher Gefahrenabwehr und repressiv nach der gleichen Maßgabe des strafrechtlichen Sanktionenrechts bekämpfen? Es stellt sich auch die Frage, ob ein „formelles Feindrecht“ normativ geboten ist oder ob dies dem Selbstverständnis des Rechtsstaates a priori entgegensteht. Man räumt zwar ein, dass solche Fragen rhetorisch klingen, behauptet aber gleichzeitig, dass sie an die Grundstruktur moderner Staatlichkeit rührten, die seit 500 Jahren das staatsphilosophische Denken in Europa bestimmten. Diese Grundstruktur werde durch den islamistischen Terrorismus prinzipiell in Frage gestellt.40 Es wird zwar anerkannt, dass es der europäischen Staatentheorie und -praxis gelungen ist, den Feind als rechtmäßigen Kämpfer zu definieren und ihn nicht zu kriminalisieren oder zu diskriminieren. Depenheuer hat aber entdeckt, dass der „islamistische Feind“ weder die Säkularität des Staates noch das Verbot privater Gewaltanwendung achtet und sich nicht den Regeln des Kriegsrechts unterwirft. Wegen des innerstaatlichen Kampfes um die „religiöse“ Wahrheit und der „privaten“ terroristischen Gewalt wird ihm die Anerkennung als „staatlicher“ und „innerstaatlicher“ Feind versagt. Letztlich habe das Staatsrecht den Feind „entpolitisiert“. Deshalb sei eine Kluft eröffnet, die das Staatsrecht vor ein „epochales“ Dilemma stelle. Nur zwei grundsätzliche Alternativen seien denkmöglich. Entweder der Feind wird trotzdem in der Rechtsordnung gehalten und als normaler Straftäter behandelt oder er wird außerhalb derselben gestellt und einem speziellen „Feindrecht“ unterworfen. Der Verfasser weist darauf hin, dass sich die USA in ihrem „Krieg gegen den Terror“ dafür entschieden hätten, den Feind als solchen zu behandeln, während das deutsche Recht auch weiterhin keinen „Feind“ 40
Depenheuer, S. 58, 59.
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kenne. Dennoch sieht er zwischen beiden Ansätzen eine Konvergenz. Während auch die USA feindliche Terroristen nicht völlig rechtlos stellten, entwickele sich in Deutschland „subkutan“ in der Normallage und unter der Nomenklatur des allgemeinen Gesetzes ein spezielles Gefahrenabwehrrecht, in dem die latente Ausnahmelage in der fortbestehenden Normallage normativ erkennbar werde.41 Staatstheoretisch sei es möglich, den Feind des Rechtsstaates durch die Rechtsordnung als Feind zu qualifizieren und damit außerhalb des Rechts („hors del la loi“) zu setzen. Der terroristische Feind stehe selbstbestimmt außerhalb des staatlichen Gegenseitigkeitsverhältnisses. Zwischen Feind und Bürger bestehe daher keine rechtliche Basis als Grundlage für eine fiktive Vereinbarung, nach der er auch an den rechtsstaatlichen Gewährleistungen teilhabe. Verfassungstheoretisch habe er keinen Anspruch, nach Maßgabe der Rechtsordnung behandelt zu werden, die er bekämpft: „Und er hat diesen Anspruch deswegen nicht, weil er sie bekämpft.“42
Depenheuer nähert sich womöglich dem Gipfel seiner Erkenntnismöglichkeiten, indem er darauf hinweist, dass in dem Ausschluss des Feindes vom Recht gar eine Anerkennung seiner Würde liege. Der Terrorist werde als „Überzeugungstäter“ ernst genommen und gerade deswegen als Gefahr für die staatlich verfasste Gemeinschaft bekämpft. Dieser Gedanke erscheint besonders reizvoll, wird doch „Guantánamo“ als phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit „reiner Staatsraison“ erwähnt. Dort ist das Recht in der Tat solange suspendiert wie die Gefahr andauert. Die Gefangenen sind keine Rechtssubjekte mehr, sondern haben nur noch ihr (buchstäblich) „nacktes Leben“. Die „Sicherungsverwahrung à la Guantánamo“ sei jedoch eine verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaat41 42
Depenheuer, S. 60, 61. Depenheuer, S. 62.
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lichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus. Die Konsequenz ist beeindruckend: „Feinde bestraft man nicht. Feinde ehrt und vernichtet man.“43
Der Verfasser hält es auch für möglich, den Kampf gegen die Negation des Rechtsstaates jenseits der Maßstäbe der rechtsstaatlichen Normallage zu führen. Rechtsschutz verdiene der Feind nur ausnahmsweise, nämlich wenn es um die Klärung seines Status als Feind gehe, vorausgesetzt man hat den Feind (vorher) einem spezifischen Rechtsregime unterstellt. Gemessen an diesen gedanklichen Ausgangspunkten ist die Schlussfolgerung fast schon ermutigend: Der Staat müsste dem terrorverdächtigen Feind also jedenfalls ein subjektives Recht zugestehen, nämlich auf gerichtliche Klärung seines Status: als „feindlicher Terrorist“ oder als „bürgerlicher Verbrecher“.44 Depenheuer glaubt, dass die gegenwärtigen terroristischen Herausforderungen Fragen für die Staatsphilosophie aufwerfen, die in Europa seit Jahrhunderten als bewältigt galten. Er bemerkt auch, dass das „noch“ geltende Verfassungsrecht seiner Option entgegensteht: „Feindschaft“ ist keine Kategorie der geltenden Rechtsordnung. Auch der (mutmaßliche!) Terrorist ist ein Rechtssubjekt. Diese unverzichtbare Normativität scheint ihn an die Grenzen seiner Verständnismöglichkeiten zu führen, betont er doch (zum wiederholten Male), dass der Terrorist keinen Anspruch darauf habe, nach Maßgabe der Rechtsprinzipien behandelt zu werden, die er bekämpft.45 Der Staat „fingiere“ den terroristischen Feind nur als Rechtssubjekt, erkenne seine Menschenwürde an und garantiere ihm den Schutz der Grundrechte. Aber: „Den Feind rechtlich nicht als Feind zu behandeln, steht im politischen Ermessen der rechtsstaatlich verfassten Gemeinschaft.“46 43 44 45 46
Depenheuer, S. 64. Depenheuer, S. 64, 65. Depenheuer, S. 65. Depenheuer, S. 66.
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Die Normativität entscheide damit „souverän“ über das von ihr für notwendig gehaltene Maß an rechtsstaatlicher Selbstbehauptung angesichts der terroristischen Gefährdung. Man attestiert dem „grundgesetzlichen Rechtsstaat“, dass er gegenüber dem Phänomen des Feindes der Sache nach nicht blind sei. Er habe zwar kein formelles, wohl aber ein materielles „Feindrecht.“ Darunter wird der Inbegriff derjenigen Rechtsnormen verstanden, die vorbeugend die Ausbildung „feindlicher“ Überzeugungen verhindern, präventiv „feindlichen“ Gefahren vorbeugen oder repressiv „feindliche“ Taten sanktionieren. Auch viele friedliche Bürger kämen mit „feindrechtlichen“ Bestimmungen in Berührung. Deshalb gehe es verfassungsrechtlich um die Austarierung staatlicher Sicherheitsverantwortung mit grundrechtlichem Integritätsschutz des Bürgers und die entsprechende „politische Einschätzungsprärogative der zuständigen Staatsorgane.“47 Depenheuer glaubt, dass das „Feindstrafrecht“48 auf terroristische Bedrohungslagen derart reagiere, dass die strafbarkeitsbegründenden Tatbestände weit in den Bereich der Planung, Vorbereitung und Organisation vorverlagert werden. Immerhin sieht er ein, dass dies mit einem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz wenig, mit Gefahrenabwehr und „Feindbekämpfung“ aber umso mehr zu tun hat. Er bestreitet zwar nicht, dass die strikte Fixierung auf die Kategorie des Verbrechens dem Staat eine Bindung auferlegt – insbesondere die Notwendigkeit, den Täter (Verdächtigen!) als Person zu resDepenheuer, S. 68. Schon 1985 wurde versucht, materielle Grenzen von Kriminalisierungen im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung anhand des Begriffspaars Bürger- und Feindstrafrecht zu bestimmen. Vgl.: Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 ff.; ders., ZStW 117 (2005), 247 ff.; ders., 839 ff.; ders., ZStW 118 (2006), 831 ff.; ders., HRRS 2006, 289 ff. Im Laufe der Jahre und insbesondere unter dem Eindruck terroristischer Attacken ist daraus eine lebhafte Debatte entstanden, die hier nicht mit allen Facetten nachzuzeichnen ist. Über die deskriptiven und normativen Dimensionen des Begriffs „Feindstrafrecht“: Hörnle, GA 2006, 80 ff. Kritisch: Crespo, ZIS 2006, 413 ff.; Prantl, Der Terrorist als Gesetzgeber, 2008, S. 135 ff. Vgl. auch: Greco, GA 2006, 96 ff.; Saliger, JZ 2006, 756 ff.; und Scheffler, S. 123 ff. 47 48
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pektieren. Dies hält er aber gegenüber einem (verdächtigen!) Terroristen, der die Erwartung personalen Verhaltens generell gerade nicht rechtfertige (sic!), für wenig angemessen. „Feindstrafrecht“ sei rechtsstaatlich gebändigter Krieg gegen den Terrorismus. Der Verfasser räumt zwar noch ein, dass auch Feinde für das geltende Recht „Rechtspersonen“ sind. Gleichzeitig hebt er aber hervor, dass die einseitige Einräumung von Rechtssubjektivität und gut gemeinte Verhältnismäßigkeit als dekadente Schwäche interpretiert und entsprechend beantwortet werden könne.49 Die Rechtsordnung habe auf die spezifische Gefahrenlage durch den Terrorismus auch schon mit der Umformung des Polizeirechts zum „Sicherheitsrecht“ reagiert. Der Gefahr möglicher Anschläge könne nur entgegengewirkt werden, wenn weit im Vorfeld einer konkreten, absehbaren Gefahr „flächendeckend“ Schutzvorkehrungen getroffen werden. Es wird eine Kette von Beispielen offeriert: Kontrolle an Flughäfen, Großer Lauschangriff, Kontaktsperre, Rasterfahndung, Computerausspähung, intensivierte Videoüberwachung. 50 Damit nicht genug: Zum „Feindgefahrenabwehrrecht“ gehörten systematisch auch Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung, die Internierung potentiell gefährlicher Personenkreise und die „rechtsstaatlich domestizierte“ (sic!) Folter. Der Verfasser sieht in der Bereitschaft des Rechtsstaates, Menschenwürde und rechtsstaatliche Garantien auch jenen zuzuerkennen, die sie mit Füßen treten und verachten, ein Sicherheitsrisiko und dräut mit dem Hinweis, dass die Abwägung von Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsansprüchen auch anders ausfallen könnte.51 In einem Exkurs gelangt er auch noch zu der Einsicht, dass der islamistische Terrorismus nicht nur ein Problem polizeirechtlicher Gefahrenabwehr und strafrechtlicher Ahndung ist und dass darin keine hinreichende 49 Depenheuer, S. 70. Zum „Krieg gegen den Terrorismus“ auch: Dederer, JZ 2004, 421 ff.; Geis / Möller, Die Verwaltung 37 (2004), 431 ff.; Funk, KrimJ 2002, 132 ff.; Karstedt, KrimJ 2002, 124 ff.; Kotzur, AVR 40 (2002), 454 ff. 50 Depenheuer, S. 71. 51 Depenheuer, S. 72.
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Bedingung für das erfolgreiche Bestehen im „Krieg gegen den Terror“ liegt. Depenheuer spricht sich dafür aus, dem „Feindrecht“ eine „Feindpolitik“ an die Seite zu stellen. Damit sollen die Grundlagen der terroristischen Gesinnung beeinflusst und der terroristische Feind auf das „zivilisatorische Niveau“ des Rechtsstaates gehoben werden. Er plädiert vor allem für die Ausbildung „kommunikativer Strategien“ mit potentiellen Feinden. Der Verfasser verdient insoweit Zustimmung, als er darauf hinweist, dass es nicht genügt, die eigene politische Existenzform säkularer Rechtsstaatlichkeit für die vorzüglichste zu halten und die Botschaft von Menschenrechten und Demokratie anderen Kulturen zu übermitteln.52 Er scheint damit herausfinden zu wollen, ob der islamistische Dschihad („Heiliger Krieg“) eine konzertierte, staatlich geförderte erste Phase eines strategischen Angriffs auf die westliche Zivilisation ist oder ob sich hier „nur“ ein „existentialistischer Lebensüberdruss“ angesichts der Globalisierung seine terroristische Bahn sucht. Die sicherheitspolitische Reaktion müsse diesen Alternativen natürlich angepasst sein.53 Depenheuer wendet sich schließlich der „Realität des Bürgeropfers“ im Krieg gegen den Terror zu. Die Anschläge des September 2001 erscheinen ihm als „ikonographisches Paradigma“ der Problemstellung.54 Und schon wieder begegnet man einem Dilemma: Die staatlichen Entscheidungsträger müssten das Land verteidigen und seine Handlungsfähigkeit bewahren und dabei auch den Tod unschuldiger Bürger bewusst in Kauf nehmen, indem sie ein zur Waffe missbrauchtes Passagierflugzeug abschießen (lassen). Man fragt, ob der freiheitliche Rechtsstaat unter diesen Umständen die Opferbereitschaft seiner Bürger nicht nur als „Loyalitätspflicht“ (!) erwarten, sondern darüber hinaus diese im Grenzfall auch einfordern und in letzter Konsequenz selbst vollziehen darf. Müssen die Bürger dieses Opferrisiko als Folge ihres Bürgerstatus also 52 53 54
Depenheuer, S. 73. Depenheuer, S. 74. Depenheuer, S. 75.
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in Kauf nehmen?55 Der Staat schweige bislang zum Tod der unschuldigen Bürger, die ihr Leben im „Krieg gegen den Terror“ gelassen haben und bleibe ihnen sogar bislang eine angemessene öffentliche Würdigung schuldig. Er könne dem Opfer, das er faktisch fordere oder bewusst in Kauf nehme, keinen politischen Sinn unterlegen. Dies sei politisch skandalös, staatsphilosophisch fragwürdig und staatsrechtlich eine noch zu meisternde Herausforderung.56 Depenheuer glaubt, dass es um die Zukunft der Staatsordnung nicht gut bestellt sei, wenn der Staat das Bürgeropfer weder begründen noch einfordern könne. Er hält eine rechtsstaatliche „Theorie des Opfers“ für erforderlich, die aber vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz „a limine“ verweigert worden sei.57 Die Menschenwürde sei eine „Bastion“ gegen den Opfergedanken. Die praktischen Konsequenzen der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts sind klar: Die deutschen Sicherheitsorgane hätten einem Angriff nach dem Muster des 11. September 2001 tatenlos zuzusehen. Aus der Perspektive von Depenheuer wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde zum „absoluten Reflexions- und Handlungsstopp staatlicher Selbstbehauptung“. Dem Bundesverfassungsgericht schreibt er eine Methode sachlicher Problementsorgung durch verfassungsrechtliche Tabuerrichtung und -wahrung zu. Die zitierte Entscheidung zeige, dass die Verfassungsstaaten des Westens – insbesondere aber Deutschland – auf die wiederaufgeworfenen Grundfragen staatlicher Existenzsicherung ebenso wenig vorbereitet seien wie auf die Opfer an Menschenleben, die im Kampf um die Selbstbehauptung des freiheitlichen Rechtsstaates zu erbringen sein könnten. In Deutschland sei die „Opfervergessenheit“ nicht zufällig auf eine Zeit der „Opferversessenheit“ gefolgt.58 Zwar hätten die Überwindung der politischen Blockbildung, die 55 56 57 58
Depenheuer, S. 76. Depenheuer, S. 78. Depenheuer, S. 79, 80. Depenheuer, S. 81, 82.
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Suche nach einem neuen globalen Gleichgewicht und das Heraufziehen des islamistischen Terrorismus militärische Einsätze und mit ihnen die Möglichkeit des Bürgeropfers wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt. Vor der „Folie des liberalen Freiheitsdenkens“ könne das Bürgeropfer, das man für den Staat bringt, aber nicht schlüssig begründet werden.59 Der Verfasser erklärt, dass die „Opfervergessenheit“ mehr als nur eine historische Reaktion auf den hypertrophen Opferkult des Nationalsozialismus sei. Dieser Zustand sei auch nicht nur Ausdruck eines „friedensgewohnten und wohlstandsunterfütterten Hedonismus“. Depenheuer hat eine fundamentale Entdeckung gemacht: Die Opfervergessenheit liege vielmehr in der theoretischen Konsequenz des „neuzeitlichen Individualismus und Rationalismus“.60 Liberaldemokratische Gesellschaften seien nicht zufällig „todverneinende“ Gesellschaften, die vermöge ihrer utilitaristischen Logik keine Gründe benennen könnten, warum die Bürger anstelle individueller Glückssteigerung für abstrakte Ideale ihr Leben lassen soll(t)en.61 Die liberale Freiheitstheorie begnüge sich in der Form eines „juristischen Autismus“ damit, die grundrechtliche Integrität des Bürgers auch im Ernstfall gegen jegliche Zumutungen zu sichern. Die Würde der Opfer, die schon erbracht wurden, verbiete es aber, die Opfervergessenheit der ihrem Ende entgegengehenden Spaß- und Erlebnisgesellschaft theoretisch und praktisch aufrechtzuerhalten. Es bedürfe – um der Opfer willen – einer Theorie des Bürgeropfers, die deren Tod einen „Sinn“ verleihe.62 Der Verfasser bemüht sich um eine Rechtfertigung des Bürgeropfers und unterscheidet dabei zwischen dem Staat als Solidarverband und dem „apriorischen Pflichtenstatus des Einzelnen“. Dabei würdigt er das Bürgeropfer als „Grenzfall.“63 59 60 61 62 63
Depenheuer, S. 83. Depenheuer, S. 84 Depenheuer, S. 85. Depenheuer, S. 86. Depenheuer, S. 87, 90.
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Die Frage nach dem Bürgeropfer führe auf die uralte Frage nach dem „Wesen“ des Staates zurück. Die Lehre vom Staatsvertrag sei unzureichend, um die Realität konkreter Staatlichkeit abzubilden.64 Staatsideen, die von der alternativlosen staatlichen Existenzweise ausgehen, seien älter und weiser.65 Depenheuer deutet das politische Gemeinwesen letztlich als ursprünglichen, den Individuen unverfügbar vorausgehenden und konkreten Solidarverband. Auf dieser theoretischen Grundlage könnten das Bürgeropfer gedacht und die Bedingungen näher bestimmt werden, unter denen es einzufordern sein könne. Aus der „unverfügbaren Verwiesenheit“ des Einzelnen an die konkrete staatliche Gemeinschaft folge, dass das Grundverhältnis von Staat und Bürger nicht durch Grundrechte, sondern durch Grundpflichten charakterisiert sei.66 Im „Grenzfall“ verdichte sich diese Verwiesenheit zur Pflicht, sich für den Staat aufzuopfern. Sowohl die Erwartung der Opferbereitschaft der anderen als auch die Bereitschaft zum eigenen Opfer für die Gemeinschaft bilde die Konsequenz des Lebens in staatlicher Gemeinschaft.67 Rechtlich wie moralisch dürfe die politische Einheit gegebenenfalls das „Opfer des Lebens“ verlangen. Für den Verfasser handelt es sich dabei nicht um lebensferne Theorie, sondern um „begriffene Realität“. Die Gebote und Handlungsoptionen der Staatsraison sollten nicht um des individuellen Überlebens willen außer Vollzug gesetzt werden. Aus der Perspektive des sich seiner Gemeinschaftsgebundenheit bewussten Individuums werde dadurch die subjektive Sinnhaftigkeit auch des möglichen Opfers kommuniziert, das seine Menschenwürde nicht autistisch in sich selbst, sondern in der bewussten und verantworteten „Selbstaufgabe“ (!) für andere, für eine Idee, für die Gemeinschaft finde. Depenheuer ist der Überzeugung, dass kein Solidarverband ohne die 64 65 66 67
Depenheuer, S. 87, 88. Depenheuer, S. 88. Depenheuer, S. 90. Depenheuer, S. 91.
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latente Bereitschaft seiner Mitglieder zum Opfer auf Dauer überleben könne.68 In der Situation elementarer Bedrohung des Gemeinwesens werde die solidarische Struktur der staatlichen Gemeinschaft offenbar und das Bürgeropfer könne verlangt werden.69 Der Verfasser hält den im Jahre 1977 von Angehörigen der RAF entführten und ermordeten Präsidenten des Arbeitgerberverbandes für das erste „Bürgeropfer“ der Bundesrepublik im Kampf gegen ihre terroristischen Feinde. Bei einer Herausforderung der Staatsgewalt durch terroristische Angriffe könne der Staat um seiner Verantwortung für die Solidargemeinschaft seiner Bürger willen im Grenzfall das Bürgeropfer als „Loyalitätserwartung“ einfordern. Für Depenheuer hat der Abwehrkampf der säkularen Staatlichkeit gegen seine terroristische Negation das Bürgeropfer des Lebens also (wieder) aktuell und denkbar werden lassen. Dessen Einforderung hält er im „existentiellen Grenzfall“ für gerechtfertigt. Gegenüber dieser äußersten Inpflichtnahme könne die Menschenwürde nicht ins Feld geführt werden, weil diese nicht verletzt werde.70 Der Staat missachte auch mit dem Abschuss eines (entführten) Flugzeugs nicht Würde und Persönlichkeit der Passagiere; er reduziere diese unschuldigen Menschen nicht auf ihre bloße Körperlichkeit, sondern löse eine tragische Konfliktlage: Verteidigung oder Selbstaufgabe des Gemeinwesens. Im Verzicht auf einen Abschuss sieht der Verfasser einen Akt staatlicher Aufkündigung der Solidargemeinschaft. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz hält er für den kaum mehr überbietbaren Höhepunkt des Prozesses der „Juridifizierung des Politischen“. Das Gericht habe diesen Prozess aber gleichzeitig in einem „Akt singulären Verfassungsautismus“ desavouiert. Im prinzipiellen Verzicht auf Selbstbehauptung im Namen der Menschenwürde sieht Depenheuer zugleich deren faktische Preisgabe. Für ihn han68 69 70
Depenheuer, S. 92, 93. Depenheuer, S. 95. Depenheuer, S. 96, 97.
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delt es sich um eine „Perversion des Rechtsdenkens“, die er als Verrat an den Ideen und Werten freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit bezeichnet. Die historischen Kämpfe für deren Etablierung wären vergeblich gewesen, wenn die Bürger zu deren Erhaltung tatsächlich weder den Willen noch den Mut hätten.71 In der geschilderten tragischen Entscheidungssituation könne der „rechtschaffene“ Bürger seine Würde einzig darin finden, dass er sein Interesse bis hin zur Aufopferung seines Lebens den Interessen anderer oder des Gemeinwohls solidarisch unterordne.72 Der Verfasser schwingt sich schließlich zu existenzphilosophischen Höhen auf. Er kommt zu dem Ergebnis, dass derjenige, der für nichts sein Leben zu opfern bereit sei, sondern unter allen Umständen nur leben wolle, buchstäblich nichts habe, wofür sich zu sterben lohne. Solch ein Mensch laufe Gefahr, ein „Niemand“ zu sein. Er habe keinen Charakter, sondern nur Wünsche, Bedürfnisse und Begierden. Solch eine Existenz treffe auf kaum mehr als Gleichgültigkeit. Man rekurriert in diesem Zusammenhang auf die Zeiten des „Kalten Krieges“, in denen die „wenig erfreuliche Aussicht“ bestanden habe, dass ein atomarer Schlagabtausch nichts Verteidigungswertes übrig gelassen hätte. Der Satz „Lieber tot als rot“ sei eine Antwort gewesen, die Selbstachtung verraten habe, ohne sie allerdings auskosten zu können. Der Satz „Lieber rot als tot“ habe hingegen für unbedingten Lebenswillen gestanden, zu welchem Preis auch immer.73 Noch bedeutender als dieser historische Rückblick ist der bereits erwähnte Höhenflug. Es bieten sich atemberaubende Perspektiven. Depenheuer belehrt die Welt darüber, dass das einzelne Mitglied eines Solidarverbandes, das im Gefahrenfall das Risiko der Selbstaufgabe seines Lebens für die Gemeinschaft bewusst eingeht, darin seine „Selbsterfüllung“ findet. Vor diesem Hintergrund („Selbsterfüllung durch Aufopferung“) sei die Begründung 71 72 73
Depenheuer, S. 97, 98. Depenheuer, S. 98, 99. Depenheuer, S. 126, Fn. 149.
IX. Ambition oder Plan?
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des Bundesverfassungsgerichts, den Abschuss unter Hinweis auf die Würde der unschuldigen Passagiere zu verbieten, auch unter ethischen Gesichtspunkten mehr als fragwürdig. Das höchste deutsche Gericht nehme den dem Tode geweihten unschuldigen Passagieren die letzte ihnen verbliebene Würde: sich für die Gemeinschaft in einer Situation äußerster und auswegloser Gefährdungslage aufzuopfern.74 Der Verfasser behauptet dagegen, dass das „Bürgeropfer“ mit seinem Leben den Wert von Staat und Verfassung verbürge. Es sei Pflicht und zugleich Selbstvergewisserung der im Staat verfassten Rechtsgemeinschaft diesen durch den Tod „beglaubigten“ Verfassungspatriotismus öffentlich zu würdigen und sichtbar anzuerkennen.75 Die angebliche Unwilligkeit und Unfähigkeit des politischen Systems, den Opfern im „Krieg gegen den Terror“ eine würdige Gedenkstätte bereitzustellen, wird als verfassungspolitischer Skandal und moralischer Offenbarungseid angesehen.76 Depenheuer hat im Übrigen keinen Zweifel daran, dass einer Sache ein historischer Wert erst dann zukommt, wenn es Menschen gibt, die dafür in den Tod gehen, und Politiker, die dieses Opfer positiv würdigen. Für ihn wäre es auch ein „säkularer Verrat an den Ideen der westlichen Zivilisation“, diesen Staat (Bundesrepublik Deutschland) unter Berufung auf die Menschenwürde „im Stich zu lassen“.77 Das „Bürgeropfer“ verbürge nicht nur den Wert der Verfassung, für die „es“ (ein Mensch!) starb. Solch ein Opfer gebe dem Leben eine die individuelle Perspektive transzendierende Dimension. Indem der Einzelne durch sein Opfer für die ihn tragende Gemeinschaft den Sinn seiner Existenz erfahre, verbürge er mit seinem Leben den Sinn und den Wert eben dieser Gemeinschaft.78 Unter Berufung auf Nietzsche gelangt Depenheuer zu dem Ergebnis: „Alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht.“79 74 75 76 77 78
Depenheuer, S. 100. Depenheuer, S. 100, 101. Depenheuer, S. 102. Depenheuer, S. 103. Depenheuer, S. 103, 104.
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IX. Ambition oder Plan?
Weitere Einsichten folgen: „Ein einzelner Mensch stirbt, und schon ist die Solidarität aller Lebenden verstärkt.“80
Schließlich findet er heraus, dass eine derartige werteorientierte Ernsthaftigkeit der Spaß- und Wohlstandsgesellschaft fremd geworden ist. Die Selbstbehauptung des Rechtsstaates und damit die Zukunftsfähigkeit freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit hingen im Zeitalter des Terrorismus von der Fähigkeit ab, diese Fremdheit durch positive Rechtfertigung und Anerkennung des Bürgeropfers zu überwinden.81
79 80 81
Depenheuer, S. 104. Depenheuer, S. 104. Depenheuer, S. 104.
X. Pate oder Verführer? Die Literaturempfehlung des Bundesministers Schäuble hat zu einem Werk geführt, das keinen einzigen originellen Gedanken enthält. Es handelt sich um einen Aufguss altbekannter Gedanken und Theorien, die bereits vor vielen Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten formuliert wurden. Insbesondere die Begriffe „Ausnahmezustand“, „Souveränität“ und die „Freund-Feind-Unterscheidung“ sind seit langem Gegenstände eingehender Betrachtungen. Es bleibt rätselhaft, wie man zu der Einschätzung kommen kann, dass die Schrift den „aktuellen Stand der Diskussion“ enthält. Depenheuer ist maßgeblich durch die Gedanken von Carl Schmitt geprägt. Manche meinen, dass zu der Faszination, die von Schmitt nach wie vor ausgeht, Sprache und Stil mehr beigetragen hätten, als Anhänger wie Kritiker zuzugeben bereit seien. Die Kühnheit seiner Formulierungen lasse die Mühseligkeit kleinteiliger Problembearbeitung hinter sich. Gerade darin hafte ihr etwas zutiefst Unpolitisches an.1 Wie dem auch sei: Unter den deutschen Intellektuellen der Weimarer Republik, die das nationalsozialistische Regime unterstützt haben (z. B. Martin Heidegger, Gottfried Benn, Arnold Gehlen, Hans Freyer) nimmt dieser Jurist einen besonderen Platz ein. Er ging in seinem Engagement für Adolf Hitler am weitesten.2 1 Münkler, in: Die Welt vom 7. April 2005 (Fundstelle: http: // www. welt.de / data / 2005 / 04 / 07 / 642148.html?prx=1 Stand: 11. April 2005). 2 Tertulian, S. 1. Hier sind nicht alle „Schmittiana“ nachzuweisen. Dazu sehr ausführlich: Tommissen (Hrsg.). Zu verlagsspezifischen Hintergründen: Hausmann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 183 vom 9. August 2004, S. 36. Vgl. auch: Rüthers, NJW 1996, 896 ff. Die folgenden Hinweise zur Einführung sind völlig willkürlich: Blasius; Hansen / Lietzmann (Hrsg.); Mehring; Meier, H.; Noack (vgl. dazu: Augstein, in: Der Spiegel Nr. 45 vom 8. November 1993, S. 75 ff.) sowie Schickel; Taubes und Wiegandt, JuS 1996, 778 ff.
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X. Pate oder Verführer?
Schmitt war der Überzeugung, dass das starke, von Bismarck gegründete Deutsche Reich während des 1. Weltkrieges zusammengebrochen sei, weil es im entscheidenden Augenblick nicht die Kraft gehabt habe, von seinen „Kriegsartikeln“ Gebrauch zu machen. Durch die Denkweise eines liberalen „Rechtsstaats“ gelähmt, habe eine politisch instinktlose Zivilbürokratie nicht den Mut gefunden, Meuterer und Staatsfeinde nach verdientem Recht zu behandeln. In beispielloser Tapferkeit habe das deutsche Volk vier Jahre lang einer ganzen Welt standgehalten. Aber seine politische Führung habe im Kampf gegen die Volksvergiftung und die Untergrabung des deutschen Rechts und Ehrgefühls auf traurige Weise versagt. Alle „sittliche Empörung“ über die Schande eines solchen Zusammenbruchs habe sich in Adolf Hitler angesammelt und sei in ihm zur treibenden Kraft einer politischen Tat geworden. Diese Einschätzung findet sich u. a. in einem Beitrag, den der geistige Pate Depenheuers veröffentlicht hat. Unter der Überschrift „Der Führer schützt das Recht“ würdigt Schmitt die Reichstagsrede des Reichskanzlers Adolf Hitler vom 13. Juli 1934, in der dieser die zahlreichen Mordaktionen im Umfeld des angeblichen „Röhm-Putschs“ zu rechtfertigen sucht.3 Folgt man Schmitt, waren in Hitler alle Erfahrungen und Warnungen der Geschichte des deutschen Unglücks lebendig4. Der Führer habe (mittels der von ihm angeordneten Exekutionen) mit den Warnungen der deutschen Geschichte Ernst gemacht. Das gebe ihm das „Recht“ und die Kraft, einen neuen Staat und eine neue Ordnung zu begründen. Der Führer schütze das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als „oberster Gerichtsherr“ unmittelbar Recht schaffe. Nach der Auffassung von Schmitt ist der wahre Führer auch immer Richter. Aus dem Führertum fließe das Richtertum. In einer Trennung oder Entgegensetzung liege der Versuch, den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. Darin liege eine oft er3 4
Schmitt (Führer), 199. Schmitt (wie Fn. 3).
X. Pate oder Verführer?
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probte Methode der Staats- und Rechtszerstörung. Dem liberalen Gesetzesdenken wird „Rechtsblindheit“ attestiert. Kennzeichnend sei die Verwandlung des Strafrechts in den großen Freibrief für Verbrecher. In gleicher Weise musste das Verfassungsrecht dann zur „Magna Charta der Hoch- und Landesverräter“ werden. Staat und Volk sieht Schmitt in einer lückenlosen Legalität restlos gefesselt. Nur für den äußersten Notfall würden ihm vielleicht unter der Hand „apokryphe Notausgänge“ zugebilligt, die von einigen liberalen Rechtslehrern nach Lage der Sache anerkannt, von anderen im Namen des Rechtsstaates verneint und als „juristisch nicht vorhanden“ angesehen würden. Schmitt erkennt, dass mit dieser Art von Jurisprudenz das Wort des Führers, dass er als „des Volkes oberster Gerichtsherr“ gehandelt habe, nicht zu begreifen ist. Sie könne die „richterliche Tat des Führers“ (d. h. Anstiftung zum Massenmord!) nur in eine nachträglich zu legalisierende und indemnitätsbedürftige Maßnahme des Belagerungszustandes umdeuten. Schmitt bezeichnet den Grundsatz des Vorranges der politischen Führung als fundamentalen Satz des gegenwärtigen (damaligen) Verfassungsrechts. Er glaubt, dass dieser Grundsatz dadurch in eine juristisch belanglose Floskel verdreht werde. Das Gleiche gelte für den Dank, den der Reichstag im Namen des deutschen Volkes dem Führer ausgesprochen hatte. Dieser verwandele sich in eine Indemnität oder gar einen Freispruch. Für Schmitt waren die organisierten Schlächtereien hingegen von ganz anderer Qualität: „In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit.“5
Sie habe nicht der Justiz unterstanden, sondern sei selbst „höchste Justiz“ gewesen. Hitler habe nicht als republikanischer Diktator gehandelt, der in einem rechtsleeren Raum, während das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollendete Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen Tatsachen, die „Fiktionen der lücken5
Schmitt (Führer), S. 200.
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X. Pate oder Verführer?
losen Legalität“ wieder Platz greifen können. Schmitt behält seinen klaren Blick: „Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste Grad richterlich rächender Verwirklichung dieses Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt. Das übrige ist kein Recht, sondern ein „positives Zwangsnormengeflecht“, dessen ein geschickter Verbrecher spottet.“6
Hitler hat in seiner Reichstagsrede vom 13. Juli 1934 betont, dass am 30. Januar 1933 ein neues Regiment ein altes und krankes Zeitalter beseitigt habe. Für Schmitt liegt in derartigen Formulierungen die Forderung nach der „Liquidierung“ eines trüben Abschnitts der deutschen Geschichte, die auch für „unser“ Rechtsdenken, für Rechtspraxis und Gesetzesauslegung von juristischer Tragweite sei. Er plädiert dafür, sich nicht blindlings an die juristischen Begriffe, Argumente und Präjudizien zu halten, die ein altes und krankes Zeitalter hervorgebracht habe. Schmitt erinnert an Literatur aus dem 18. Jahrhundert, in der propagiert wurde, dass bei Gefahr oder großem Schaden für den Staat die Regierung jede „Justizsache“ zur „Regierungssache“ erklären könne. Ein jeder gerichtlicher Nachprüfung entzogener Regierungsakt ist von manchen im 19. Jahrhundert als ein Akt definiert worden, dessen Ziel die Verteidigung der Gesellschaft gegen innere und äußere, offene oder versteckte, gegenwärtige oder künftige Feinde sei. Hierin liege eine juristische wesentliche Besonderheit der „politischen Regierungsakte“, die sogar in liberalen Rechtsstaaten rechtlich anerkannt sei. In einem „Führerstaat“ aber, in dem Gesetzgebung, Regierung und Justiz sich nicht, wie in einem liberalen Rechtsstaat, gegenseitig misstrauisch kontrollierten, müsse das, was sonst für einen „Regierungsakt“ Rechtens sei, in unvergleichlich höherem Maße für eine Tat gelten, durch die der Führer sein höchstes Führertum und Richtertum be6
Schmitt (Führer), S. 200, 201.
X. Pate oder Verführer?
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währt habe. Für Schmitt besteht kein Zweifel daran, dass der Führer Inhalt und Umfang seines Vorgehens selbst bestimmt. Noch nicht einmal die Abgrenzung ermächtigten und nichtermächtigten Handelns sei Sache der Gerichte.7 Die Morde im Umfeld des „Röhm-Putschs“ seien richterliche Handlungen des Führers, durch die er als „Führer der Bewegung“ den besonderen, gegen ihn als den höchsten politischen Führer der Bewegung begangenen „Treubruch“ seiner Unterführer gesühnt habe. Schmitt misst dem Führer der Bewegung als solchen eine richterliche Aufgabe zu, deren „inneres Recht“ von keinem anderen verwirklicht werden könne. Er glaubt, dass das Schicksal der politischen Einheit des deutschen Volkes davon abhinge, dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ihre Aufgabe erfülle. Diese gewaltige Aufgabe, in der sich auch die ganze Gefahr des Politischen angehäuft habe, hätte keine andere Stelle, am wenigsten ein justizförmiges prozedierendes bürgerliches Gericht, der Partei oder der SA abnehmen können.8 Infolge der besonderen Qualifikation des (angeblichen) Verbrechens sei der politische Führer noch in einer spezifischen Weise zum „höchsten Richter“ geworden. Zur richtigen Beurteilung der Vorgänge des 30. Juni 1934 dürfe man die Ereignisse nicht aus dem Zusammenhang der politischen Gesamtlage herausnehmen und nach der Art bestimmter strafprozessualer Methoden so lange isolieren und abkapseln, bis ihnen die politische Substanz ausgetrieben und nur noch eine rein juristische Tatbestands- oder Nicht-Tatbestandsmäßigkeit übrig geblieben sei. Mit solchen Methoden könne man keinem „hochpolitischen“ Vorgang gerecht werden. Nach Schmitts Einschätzung habe es zur „Volksvergiftung“ der letzten Jahrzehnte gehört, gerade dieses Isolierverfahren als allein „rechtsstaatlich“ hinzustellen. Er hält diesen Vorgang zudem für einen seit langem geübten Kunstgriff „deutschfeindlicher Propaganda“. Im Herbst des Jahres 1917 hätten alle in ihrem 7 8
Insgesamt Schmitt (Führer), S. 201, 202. Schmitt (Führer), S. 202.
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X. Pate oder Verführer?
Rechtsdenken verwirrten deutschen Parlamentarier in merkwürdiger Einmütigkeit verlangt, dass man das politische Schicksal Deutschlands solchen prozessualen „Fiktionen und Verzerrungen“ ausliefere. Eine geistig hilflose Bürokratie habe damals den politischen Sinn jener „juristischen“ Forderungen nicht einmal gefühlsmäßig empfunden. Schmitt sagte seinerzeit voraus, dass manche Feinde Deutschlands gegenüber der Tat Adolf Hitlers mit ähnlichen Forderungen kommen werden. Sie würden es unerhört finden, dass der heutige (damalige) deutsche Staat die Kraft und den Willen hat, Freund und Feind zu unterscheiden. Sie werden, so Schmitt damals, „uns“ das Lob und den Beifall der ganzen Welt versprechen, wenn „wir“ wiederum, wie damals im Jahre 1919, niederfallen und „unsere“ politische Existenz den „Götzen des Liberalismus“ opfern. Schmitt ist der Überzeugung, dass derjenige, der den gewaltigen Hintergrund „unserer“ politischen Gesamtlage sieht, die Mahnungen und Warnungen des Führers verstehen und sich zu dem „großen geistigen Kampfe“ rüsten wird, in dem „wir“ unser „gutes Recht“ zu wahren hätten.9 Angesichts dieser Ausführungen erscheint die These besonders reizvoll, dass es falsch sei, Schmitt schon vor der Machtübergabe an Hitler als Vertreter der reinen NS-Doktrin anzusehen. Das „Phänomen“, dass Schmitt Begriffe des NS-Staates verwandte, aber etwas anderes darunter verstand, habe es noch in keinem anderen Fall gegeben.10
Schmitt (Führer), S. 203. Schuller, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 287 vom 9. Dezember 1995, S. 13. 9
10
XI. Souveränität oder Autorität? Schmitt hatte bereits 1922 versucht, den wesensmäßigen Zusammenhang von Ausnahmezustand und Souveränität zu klären.1 Sein auch von Depenheuer bemühter Satz: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“2
ist zwar häufig kommentiert worden. Es fehlt aber immer noch eine Theorie des Ausnahmezustandes im Öffentlichen Recht. Deren Berechtigung wird sogar bestritten, weil man sich mit dem Satz „Not kennt kein Gebot“ glaubt begnügen zu können. Es wird behauptet, dass der Notstand, in dem die Ausnahme gründet, keine Rechtsform haben könne. Die Bestimmung des Begriffs „Ausnahmezustand“ gilt zudem als schwierig, weil er auf der Grenze zwischen Recht und Politik angesiedelt ist. Umso wichtiger wäre es, die Grenzlinien zu bestimmen. Sieht man in Ausnahmevorkehrungen die Folge politischer Krisenperioden und muss man sie deshalb als Maßnahmen auf dem Gebiet der Politik begreifen und nicht auf juristischem oder verfassungsgemäßem Boden, dann entsteht womöglich eine paradoxe Lage. Es handelt sich um rechtliche Vorkehrungen, die auf der Ebene des Rechts nicht verstanden werden können. Der Ausnahmezustand zeigte sich dann als die legale Form dessen, was keine legale Form annehmen kann.3 Untersuchungsbedürftig scheint mit1 Über die Ursprünge von Carl Schmitts „Politischer Theologie“: Nicoletti, S. 109 ff. Vgl. auch: Rüthers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28. November 1997, S. 14. Zur „Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie“: Schmitt (Politische Theologie II). 2 Schmitt (Theologie), S. 11. 3 Agamben (Ausnahmezustand), S. 7.
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XI. Souveränität oder Autorität?
hin auch das „Niemandsland“ zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben. Erst wenn der über dieser ungewissen Zone liegende Schleier gelüftet ist, wird man möglicherweise auch eine Antwort auf die Frage finden, deren Echo nach der Wahrnehmung von Agamben die ganze abendländische Politikgeschichte durchhallt: „Was heißt politisch handeln?“
Die polemisierenden Behauptungen von Depenheuer, die in ein zirkuläres Denken eingebunden sind, das sich in politisierend-unpolitischen Ambitionen erschöpft, sind nicht geeignet, um eine (notwendige) Theorie des Ausnahmezustandes zu ersetzen, die eine Vorbedingung zum Verständnis der Beziehung ist, in der sich das Lebendige an das Recht bindet und – zugleich – daran verliert.4 Umso wichtiger ist daher zunächst der Versuch, die Gedankengänge von Schmitt im Detail nachzuzeichnen, so dass nicht nur der epigonale Charakter der Darlegungen von Depenheuer zu Tage treten kann, sondern auch zahlreiche gedankliche Konstrukte erkennbar werden, die objektiv geeignet sind, eine Renaissance faschistoiden Denkens zu bewirken. Für Schmitt ist „Souveränität“ ein Grenzbegriff, dem alleine die zitierte Definition gerecht werden könne. Damit meint er einen Begriff der „äußersten Sphäre“, der nicht an den „Normalfall“ anknüpfen könne. Es geht ihm um den „Ausnahmezustand“ als allgemeinen Begriff der Staatslehre. Dieser sei für die juristische Definition der Souveränität „im eminenten Sinne“ geeignet. Die Entscheidung über die Ausnahme hält Schmitt ebenfalls „im eminenten Sinne“ für „Entscheidung“. Er glaubt, dass eine generelle Norm niemals eine „absolute“ Ausnahme erfassen könne und daher auch die Entscheidung, dass ein „echter“ Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos begründen könne.5 4 5
Agamben (Ausnahmezustand), S. 7, 8. Schmitt (Theologie), S. 11.
XI. Souveränität oder Autorität?
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Schmitt geht es in seinen Überlegungen nicht um ein abstraktes Schema bei der Definition des Souveränitätsbegriffs. Er will sich mit der konkreten Anwendung beschäftigen, also mit der Frage, wer im Konfliktfall entscheidet, worin das öffentliche oder staatliche Interesse, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, das öffentliche Wohl usw. besteht. Eine tatbestandsmäßige Umschreibung des Ausnahmefalls hält er für unmöglich. Dieser könne höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung des Staates oder dergleichen bezeichnet werden. Damit werde die Frage nach dem „Subjekt der Souveränität“ aktuell. Dieses Subjekt stehe außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehöre doch zu ihr, da es zuständig sei für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann. Aus der Sicht von Schmitt gehen alle Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung dahin, den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen. Er betont aber, dass die Frage, ob der „extreme“ Ausnahmefall wirklich aus der Welt geschafft werden kann oder nicht, keine juristische sei.6 Für ihn besteht Souveränität, und damit der Staat selbst, darin, den Streit über Gegensätze innerhalb eines Staates zu entscheiden, also definitiv zu bestimmen, was öffentliche Ordnung und Sicherheit ist, wann sie gestört ist usw. Er weist darauf hin, dass sich in der konkreten Wirklichkeit diese Verhältnisse sehr verschieden darstellen, je nachdem ob eine militaristische Bürokratie, eine vom kaufmännischen Geiste beherrschte Selbstverwaltung oder eine radikale Parteiorganisation darüber entscheidet.7 Die Begründung dieser Verschiedenartigkeit ist einfach. Nach Schmitt beruht jede Ordnung auf einer Entscheidung. Auch der Begriff der „Rechtsordnung“, der gedankenlos als etwas Selbstverständliches angewandt werde, enthalte den Gegensatz der zwei verschiedenen Elemente des Juristischen in sich. Die Rechtsordnung beruhe, wie jede Ordnung, auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm.8 Im Rückblick auf 6 7 8
Insgesamt: Schmitt (Theologie), S. 12, 13. Schmitt (Theologie), S. 15, 16. Schmitt (Theologie), S. 16.
220
XI. Souveränität oder Autorität?
die historische Debatte über den Souveränitätsbegriff gelangt er zu dem Ergebnis, dass sich die Kontroverse immer nur darum bewegte, wer die Souveränitätsbefugnisse innehatte, also für den Fall zuständig sein sollte, für den keine Zuständigkeit vorgesehen war. Letztlich ginge es um die Frage, wer die Vermutung der nicht begrenzten Macht für sich habe.9 Gelänge es, die Befugnisse, die für den Ausnahmefall verliehen werden, zu umschreiben – sei es durch eine gegenseitige Kontrolle, sei es durch zeitliche Beschränkung, sei es endlich, wie in der rechtsstaatlichen Regelung des Belagerungszustandes, durch Aufzählung der außerordentlichen Befugnisse –, so wäre nach der Einschätzung von Schmitt die Frage nach der Souveränität um einen wichtigen Schritt zurückgedrängt, aber natürlich nicht beseitigt. Praktisch habe eine Jurisprudenz, die sich an den Fragen des täglichen Lebens und der laufenden Geschäfte orientiert, kein Interesse an dem Begriff der Souveränität. Auch für sie sei nur das Normale das Erkennbare und alles andere eine „Störung“. Dem „extremen“ Fall stehe sie fassungslos gegenüber. Schmitt betont, dass nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnahme oder Notverordnung bereits Ausnahmezustand ist. Dazu gehöre vielmehr eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so sei klar, dass der Staat bestehen bleibe, während das Recht zurücktrete. Schmitt meint, dass der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes sei als eine Anarchie und ein Chaos. Deshalb bestehe im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine „Rechtsordnung“. Nach seiner Einschätzung bewähre die Existenz des Staates hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung mache sich frei von jeder normativen Gebundenheit und werde im „eigentlichen Sinne“ absolut. Im Ausnahmefall suspendiere der Staat das Recht kraft seines Selbsterhaltungsrechtes. Im Ausnahmefall werde die Norm „vernichtet“. Trotzdem bleibe er 9
Schmitt, (Theologie), S. 16, 17.
XI. Souveränität oder Autorität?
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der juristischen Erkenntnis zugänglich, weil die Norm wie die Entscheidung im Rahmen des Juristischen verblieben. Schmitt hält die Ausnahme für das nicht Subsumierbare; sie entziehe sich der generellen Fassung. Gleichzeitig offenbare sie aber ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in „absoluter Reinheit“. In seiner absoluten Reinheit sei der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten können.10 Aus seiner Perspektive gibt es keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung müsse hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn habe. Es müsse also eine „normale“ Situation geschaffen werden. Souverän ist nach dem Verständnis von Schmitt derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht. Alles Recht sei „Situationsrecht“. Der Souverän schaffe und garantiere die Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er habe das „Monopol“ dieser letzten Entscheidung. Darin liegt für Schmitt das Wesen der staatlichen Souveränität, die er konsequenterweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juristisch definiert. In seinen Augen offenbart der Ausnahmefall das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondere sich die Entscheidung von der Rechtsnorm: „. . . die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.“11
Die rechtsstaatliche Tendenz, den Ausnahmezustand möglichst eingehend zu regeln, ist für Schmitt nur der Versuch, den Fall genau zu umschreiben, in welchem das Recht sich selber suspendiert. Für ihn stellt sich dabei die Frage, woher das Recht diese Kraft schöpft, und wie es logisch möglich ist, dass eine Norm gilt mit Ausnahme eines konkreten Falles, den sie nicht restlos tatbestandsmäßig erfassen kann. Es sei konsequenter Rationalismus zu sagen, dass die Ausnahme 10 11
Schmitt (Theologie), S. 19. Schmitt (Theologie), S. 20.
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XI. Souveränität oder Autorität?
nichts beweist und nur das Normale Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sein kann. Schmitt erkennt demgegenüber, dass die Ausnahme die Einheit und Ordnung des rationalistischen Schemas verwirrt.12 Für ihn ist klar, dass sich gerade eine Philosophie des konkreten Lebens vor der Ausnahme und vor dem extremen Falle nicht zurückziehen darf, sondern sich im höchsten Maße dafür interessieren muss. Ihr könne die Ausnahme wichtiger sein als die Regel, nicht aus einer romantischen Ironie für das Paradoxe, sondern mit dem ganzen Ernst einer Einsicht, die tiefer gehe als die klaren Generalisationen des durchschnittlich sich Wiederholenden. Die Ausnahme sei „interessanter“ als der Normalfall. Das Normale beweise nichts, die Ausnahme alles; sie bestätige nicht nur die Regel, die Regel lebe überhaupt nur von der Ausnahme.13 Schmitt glaubt, dass „Souveränität“ von allen juristischen Begriffen der am meisten von aktuellen Interessen beherrschte sei.14 Gleichwohl werde in den verschiedensten Variationen immer wieder die alte Definition wiederholt: „Souveränität ist höchste, rechtlich unabhängige, nicht abgeleitete Macht.“15
Sie sei nicht der adäquate Ausdruck einer Realität, sondern eine Formel, ein Zeichen, ein Signal. Die Definition zeichnet sich in der Tat durch eine unendliche Vieldeutigkeit aus und ist daher in der Praxis je nach der Situation außerordentlich brauchbar oder gänzlich wertlos. Es ist kaum zu bestreiten, dass es eine unwiderstehliche, mit naturgesetzlicher Sicherheit funktionierende höchste (größte) Macht in der politischen Wirklichkeit nicht gibt. In der Tat beweist die Macht nichts für das Recht. Vor diesem Hintergrund wird die Verbindung von faktisch und rechtlich höchster Macht zum Grundproblem des Souveränitätsbegriffs. Es handele sich darum, eine Definition zu finden, die nicht mit allgemeinen tautologischen 12 13 14 15
Schmitt (Theologie), S. 21. Schmitt (Theologie), S. 22. Schmitt (Theologie), S. 25. Schmitt (Theologie), S. 26.
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Prädikaten, sondern durch die Präzisierung des juristisch Wesentlichen diesen „Grundbegriff der Jurisprudenz“ erfasst.16 Für Schmitt sind alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre aus historischen und systematischen Gründen säkularisierte theologische Begriffe.17 Der Ausnahmezustand habe für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. Die Idee des modernen Rechtsstaates habe sich mit dem „Deismus“ durchgesetzt, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweise und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehne wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung. Der Rationalismus der Aufklärung habe den Ausnahmefall in jeder Form verworfen.18 Untersucht man die staatsrechtliche Literatur der positiven Jurisprudenz auf ihre letzten Begriffe und Argumente, sehe man, dass an allen Stellen der Staat eingreife, bald wie ein „deus ex machina“ im Wege der positiven Gesetzgebung eine Kontroverse entscheidend, welche die freie Tat der juristischen Erkenntnis nicht zu einer allSchmitt (Theologie), S. 26, 27. Schmitt (Theologie), S. 49. Quaritsch (Souveränität), S. 18,19, erinnert daran, dass es bereits seit dem 12. Jahrhundert üblich war, Gott und Götter „souverän“ zu nennen. Nach seiner Auffassung konnte das Wort auf die großen weltlichen Herren wohl nur deshalb angewendet werden, weil sie wirklich in ihrem Herrschaftsbereich „zuhöchst“ waren. Die metaphorische Übertragung vermittele eine Vorstellung vom Rang des feudalen Herren im Denken der Zeitgenossen; sie könne zugleich die Thesen über die Zusammenhänge theologischer und politisch-juristischer Begriffsbildungen stützen, die gerade am Beispiel der Souveränität entwickelt worden sind. Quaritsch ist der Meinung, dass Schmitt den zitierten Satz umgekehrt habe und beruft sich dabei auf folgende Formulierung: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiters einleuchtet.“ (Schmitt (Theologie), S. 59, 60). Über Schmitt als „politischer Theologe“: Rüthers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28. November 1997, S. 14. 18 Schmitt (Theologie), S. 49. 16 17
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gemein einleuchtenden Lösung führen konnte, bald als der Gütige und Barmherzige, der durch Begnadigungen und Amnestien seine Überlegenheit über die eigenen Gesetze beweist; immer dieselbe unerklärliche Identität, als Gesetzgeber, als Exekutive, als Polizei, als Gnadeninstanz, als Fürsorge, so dass einem Betrachter, der sich die Mühe nimmt, das Gesamtbild der heutigen Jurisprudenz aus einer gewissen Distanz auf sich wirken zu lassen, ein großes „Degen- und Mantelstück“ erscheine, in welchem der Staat unter vielen Verkleidungen, aber immer als dieselbe unsichtbare Person agiere. Schmitt meint, dass die „Omnipotenz“ des modernen Gesetzgebers nicht nur sprachlich aus der Theologie hergeholt sei. Auch in den Einzelheiten der Argumentation tauchten theologische Reminiszenzen auf.19 Dabei wird eingeräumt, dass es Juristen gibt, bei denen aus einer Unfähigkeit, widersprechende Argumente oder Einwendungen gedanklich zu bewältigen, der Staat mit einer Art Kurzschluss des Denkens erscheint, wie bei gewissen Metaphysikern der Name Gottes für solche Zwecke missbraucht werde.20 Für die „Soziologie“ des Souveränitätsbegriffs sei es notwendig, sich über die Soziologie juristischer Begriffe überhaupt klar zu werden. Schmitt thematisiert die systematische Analogie theologischer und juristischer Begriffe, weil eine Soziologie juristischer Begriffe eine konsequente und radikale Ideologie voraussetze.21 Er schlägt eine Soziologie von Begriffen vor, die, hinausgehend über die an den nächsten praktischen Interessen des Rechtslebens orientierte juristische Begrifflichkeit, die letzte, „radikal systemische Struktur“ findet und diese begriffliche Struktur mit der begrifflichen Verarbeitung der sozialen Struktur einer bestimmten Epoche vergleicht. Hierfür kommt für ihn nicht in Betracht, ob das Ideelle der radikalen Begrifflichkeit der Reflex einer soziologischen Wirklichkeit ist, oder ob diese als Folge einer be19 20 21
Schmitt (Theologie), S. 51. Schmitt (Theologie), S. 52. Schmitt (Theologie), S. 55.
XI. Souveränität oder Autorität?
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stimmten Art zu denken und zu handeln aufgefasst wird. So gehöre es beispielsweise zur Soziologie des Souveränitätsbegriffs der Monarchie des 17. Jahrhunderts zu zeigen, dass der historisch-politische Bestand der Monarchie der gesamten damaligen Bewusstseinslage der westeuropäischen Menschheit entsprach. Die juristische Gestaltung der historisch-politischen Wirklichkeit habe einen Begriff finden können, dessen Struktur mit der Struktur metaphysischer Begriffe übereingestimmt habe. Dadurch habe die Monarchie für das Bewusstsein dieser Zeit dieselbe Evidenz erhalten, wie für eine spätere Zeit die Demokratie. Voraussetzung dieser Art Soziologie juristischer Begriffe ist nach dem Empfinden von Schmitt also eine „radikale Begrifflichkeit“, das heißt eine bis zum Metaphysischen und zum Theologischen weitergetriebene Konsequenz. Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, habe dieselbe Struktur, wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchte. Die Feststellung einer solchen Identität sei die Soziologie des Souveränitätsbegriffes. Sie beweise, dass die Metaphysik der intensivste und klarste Ausdruck einer Epoche sei.22 Seit dem 17. / 18. Jahrhundert dringe die Konsequenz des ausschließlich naturwissenschaftlichen Denkens auch in den politischen Vorstellungen durch und verdränge das wesentlich juristisch-ethische Denken, das in der Aufklärung noch vorherrschte. Die generelle Geltung eines Rechtssatzes werde mit der ausnahmslos geltenden Naturgesetzlichkeit identifiziert. Der Souverän werde radikal verdrängt. Die „Maschine“ (Staat) laufe jetzt von selbst. Bei Rousseau werde die „volonté générale“ identisch mit dem Willen des Souveräns. Gleichzeitig aber erhalte der Begriff des Generellen auch in seinem Subjekt eine quantitative Bestimmung: „das heißt, das Volk wird zum Souverän.“ Dadurch gehe, so Schmitt weiter, das „dezisionistische und personalistische Element“ des bisherigen Souveränitätsbegriffs verloren. Während die absolute Monarchie im Kampf widerstreitender Interessen die 22
Insgesamt: Schmitt (Theologie), S. 59, 60.
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XI. Souveränität oder Autorität?
Entscheidung und dadurch die staatliche Einheit begründet habe, komme der Einheit, die ein Volk darstelle, nicht dieser dezisionistische Charakter zu. Es handele sich um eine „organische“ Einheit, und mit dem Nationalbewusstsein seien die Vorstellungen vom organischen Staatsganzen entstanden. Dadurch werde der theistische wie der deistische Gottesbegriff für die politische Metaphysik unverständlich.23 Die staatstheoretische Entwicklung des 19. Jahrhunderts zeige zwei charakteristische Momente: die Beseitigung aller theistischen und transzendenten Vorstellungen und die Bildung eines neuen Legitimitätsbegriffes. An die Stelle des monarchistischen sei der demokratische Legitimitätsgedanke getreten. Schmitt misst der Erkenntnis, dass es im Anblick der Revolution von 1848 keinen Royalismus mehr gebe, weil es keine Könige mehr gebe und daher auch keine Legitimität im überlieferten Sinne eine „unermessliche“ Bedeutung bei. Im Übrigen seien sowohl Donoso Cortes als auch Hobbes zu dem Ergebnis gekommen, dass nur die Diktatur als Ergebnis bleibe: „Auctoritas non veritas facit legem.“24
23 24
Insgesamt: Schmitt (Theologie),S. 62, 63. Schmitt (Theologie), S. 66.
XII. Freund oder Feind? Für Schmitt ist nach dem heutigen (1932!) Sprachgebrauch „Staat“ der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes. Nach seinem Verständnis setzt der Begriff des Staates den Begriff des Politischen voraus. Gleichzeitig wird eingeräumt, dass man selten eine klare Definition des Politischen findet.1 „Politisch“ werde im Allgemeinen in irgendeiner Weise mit „Staatlich“ gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen, so dass ein unbefriedigender Zirkel entstehe.2 Schmitt ist der Überzeugung, dass die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen ließen, die Unterscheidung von Freund und Feind sei. Sie gebe eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteriums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe. Diese Unterscheidung habe den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen. Der „politische Feind“ brauche nicht moralisch „böse“, ästhetisch „hässlich“ zu sein oder als wirtschaftlicher Konkurrent aufzutreten; es mag sogar vorteilhaft sein, mit ihm Geschäfte zu machen. Der Feind sei eben der andere, der Fremde. Zu seinem Wesen genüge es, dass er in einem besonders intensiven Sinn existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im Extremfall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines „unbeteiligten und daher „unparteiischen“ Dritten entschieden werden können.3 Schmitt nimmt die Begriffe Freund und Feind in ihrem konkreten, existenziellen 1 2 3
Schmitt (Begriff), S. 20. Schmitt (Begriff), S. 21. Schmitt (Begriff), S. 27.
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XII. Freund oder Feind?
Sinn, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische, und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen. Für ihn ist es bedeutungslos, ob man es für verwerflich hält oder nicht und vielleicht einen atavistischen Rest barbarischer Zeiten darin findet, dass sich die Völker immer noch wirklich nach Freund und Feind gruppieren, oder hofft, die Unterscheidung werde eines Tages von der Erde verschwinden, ob es vielleicht gut und richtig ist, aus erzieherischen Gründen zu fingieren, dass es überhaupt keine Feinde mehr gibt. Es handele sich nicht um Fiktionen oder Normativitäten, sondern um die „seinsmäßige Wirklichkeit“ und die reale Möglichkeit dieser Unterscheidung. Die Gruppierung der Völker nach dem Gegensatz von Freund und Feind als „reale Möglichkeit“ könne man vernünftigerweise nicht leugnen. Der Feind wird als kämpfende Gesamtheit von Menschen angesehen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Dabei gilt als Feind nur der „öffentliche“ Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch „öffentlich“ werde.4 In der Bezugnahme auf eine konkrete Gegensätzlichkeit sei das Wesen politischer Beziehungen enthalten, selbst dort, wo das Bewusstsein des „Ernstfalles“ ganz verloren ging.5 Wenn innerhalb eines Staates die „parteipolitischen“ Gegensätze restlos „die“ politischen Gegensätze geworden sind, so sei der äußerste Grad der innerpolitischen Reihe erreicht. Die innerstaatlichen, nicht die außenpolitischen Freund- und Feindgruppierungen seien dann für die bewaffnete Auseinandersetzung maßgebend. Die reale Möglichkeit des Kampfes, die immer vorhanden sein müsse, damit von Politik gesprochen werden könne, beziehe sich bei einem derartigen „Primat der Innenpolitik“ nicht mehr auf den Krieg zwischen organisier4 5
Schmitt (Begriff), S. 28, 29. Schmitt (Begriff), S. 30.
XII. Freund oder Feind?
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ten Völkereinheiten, sondern auf den „Bürgerkrieg“.6 Nach dem Verständnis von Schmitt gehört nämlich zum Begriff des Feindes die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes. Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhielten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Krieg folge aus der Feindschaft, die Schmitt auch als „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ bezeichnet. Für ihn ist Krieg die „äußerste Realisierung“ dieser Feindschaft. Er hält seine Definition des Politischen weder für bellizistisch oder militaristisch, noch imperialistisch, noch pazifistisch. Sie sei auch kein Versuch, den siegreichen Krieg oder die gelungene Revolution als „soziales Ideal“ hinzustellen.7 Für sich betrachtet sei der militärische Kampf selbst auch nicht die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz). Als Krieg habe er seine eigenen, strategischen, taktischen und anderen Regeln, die sämtlich voraussetzten, dass die politische Entscheidung, wer der Feind ist, bereits vorliegt.8 Das Kriterium der Freund- und Feindunterscheidung bedeute keineswegs, dass ein bestimmtes Volk ewig der Freund oder Feind eines bestimmten anderen sein müsse oder dass eine Neutralität nicht möglich oder nicht politisch sinnvoll sein könne. Nur stehe auch der Begriff der Neutralität ebenfalls unter der letzten Voraussetzung einer realen Möglichkeit der Freund- und Feindgruppierung. Gäbe es nur noch Neutralität, behauptet Schmitt, wäre jede Politik zu Ende. Er hält es (immer) für maßgebend, dass die Möglichkeit von (wirklichen) Kämpfen besteht und dass die Entscheidung darüber getroffen werden kann, ob dieser Fall gegeben ist oder nicht. Schmitt betont, dass dieser Fall einen bestimmenden Charakter habe, der nicht dadurch aufgehoben werde, dass er nur ausnahmsweise eintritt. Vielmehr werde der bestimmende Charakter erst dadurch begründet. Auch heute noch (damals) sei 6 7 8
Schmitt (Begriff), S. 32. Insgesamt: Schmitt (Begriff), S. 33. Schmitt (Begriff), S. 34.
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XII. Freund oder Feind?
der Krieg der „Ernstfall“. Gerade der „Ausnahmefall“ habe eine besonders entscheidende und den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung. Erst im wirklichen Kampf zeige sich die äußerste Konsequenz der politischen Gruppierung von Freund und Feind. Von dieser extremsten Möglichkeit her gewinne das Leben der Menschen seine spezifisch politische Spannung. Eine „pazifizierte“ Welt wäre in den Augen von Schmitt eine Welt ohne Politik.9 In ihr gebe es keinen Grund, auf dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, andere Menschen zu töten. Für die Begriffsbestimmung des Politischen komme es nicht darauf an, ob man eine derartige Welt ohne Politik als Idealzustand herbeiwünscht. Das Phänomen des Politischen lasse sich nur durch die Bezugnahme auf die reale Möglichkeit der Freund- und Feindgruppierung begreifen, gleichgültig, was für die religiöse, moralische, ästhetische, ökonomische Bewertung des Politischen daraus folge. Einen Krieg, der aus den genannten Motiven, auch „juristischen“ geführt wird, ist in den Augen von Schmitt „sinnwidrig“. Ein Krieg brauche weder etwas Frommes, noch etwas moralisch Gutes noch etwas Rentables zu sein; er sei wahrscheinlich nichts von alledem. Kommt es zu einer „Kampfgruppierung“, sei der maßgebende Gegensatz „politisch“. Es sei immer nur die Frage, ob eine Freund- und Feindgruppierung als reale Möglichkeit oder Wirklichkeit vorhanden ist oder nicht. Nichts könne dieser Konsequenz des Politischen entgehen.10 Ist der Wille, den Krieg zu verhindern, so stark, dass er den Krieg selbst nicht mehr scheut, so sei dieser Wille eben ein „politisches“ Motiv geworden, denn er bejahe, wenn auch nur als „extreme Eventualität“ den Krieg und sogar dessen Sinn. Gegenwärtig (damals und wohl auch noch heute) scheine das eine besonders aussichtsreiche Art der Rechtfertigung von Kriegen zu sein. Nach der Einschätzung von Schmitt spiele sich der Krieg dann in der Form des jeweils „endgültigen letz9 10
Schmitt (Begriff), S. 35. Schmitt (Begriff), S. 36.
XII. Freund oder Feind?
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ten Krieges der Menschheit“ ab. Solche Kriege seien notwendigerweise besonders intensiv und unmenschlich, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssten, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden müsse, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind sei. Schmitt vertritt die Ansicht, dass sich an der Möglichkeit solcher Kriege besonders deutlich zeige, dass der Krieg als reale Möglichkeit heute noch vorhanden sei, worauf es für die Unterscheidung von Freund und Feind und für die Erkenntnis des Politischen allein ankomme.11 Von den Menschen im Ernst zu fordern, dass sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben, damit Handel und Industrie der Überlebenden blühe oder die Konsumkraft der Enkel gedeihe, qualifiziert Schmitt als „grauenhaft und verrückt“. Den Krieg als Menschenmord verfluchen und dann von den Menschen zu verlangen, dass sie Krieg führen und im Kriege töten und sich töten lassen, damit es „nie wieder Krieg“ gebe, sei ein „manifester Betrug.“ Der Krieg, die Todesbereitschaft kämpfender Menschen, die „physische Tötung“ von anderen Menschen, die auf der Seite des Feindes stehen, alles das habe keinen normativen, sondern nur einen existentiellen Sinn, und zwar in der Realität einer Situation des wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind, nicht in irgendwelchen Idealen, Programmen oder Normativitäten.12 Schmitt hebt hervor, dass es keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches, kein noch so schönes Ideal, keine Legitimität oder Legalität gebe, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten. Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der „seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form“ geschehe, so lasse sie sich eben nicht recht11 12
Schmitt (Begriff), S. 37. Schmitt (Begriff), S. 49.
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XII. Freund oder Feind?
fertigen. Auch mit ethischen und juristischen Normen könne man keinen Krieg begründen. Gibt es Feinde in der von Schmitt postulierten Bedeutung, so sei es sinnvoll, aber nur „politisch“ sinnvoll, sie nötigenfalls physisch abzuwehren und mit ihnen zu kämpfen.13 Schmitt weist in diesem Zusammenhang nicht nur darauf hin, dass „Gerechtigkeit“ nicht zum Begriff des Krieges gehört. Die Konstruktionen, die einen „gerechten Krieg“ fordern, dienten gewöhnlich selbst wieder einem politischen Zweck. Entweder es sei ganz selbstverständlich, von einem politisch geeinten Volk zu fordern, dass es nur aus einem gerechten Grund Krieg führe, wenn es heißt, dass nur gegen einen wirklichen Feind Krieg geführt werden solle. Oder aber es verstecke sich dahinter das politische Bestreben, das „jus belli“ in andere Hände zu spielen und Gerechtigkeitsnormen zu finden, über deren Inhalt und Anwendung im Einzelfall nicht der Staat selbst entscheide, sondern irgendein anderer Dritter, der auf solche Weise bestimme, wer der Feind sei. Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, müsse es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es aber selbst entscheide – die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liege das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr, so Schmitt weiter, die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so höre es auf, politisch zu existieren. Lasse es sich von einem Fremden vorschreiben, wer sein Feind sei und gegen wen es kämpfen dürfe oder nicht, so sei es kein politisch freies Volk mehr und einem anderen politischen System ein- oder untergeordnet.14 Ein Krieg habe seinen Sinn nicht darin, dass er für Ideale oder Rechtsnormen, sondern darin, dass er gegen einen „wirklichen Feind“ geführt werde. Für Schmitt erklären sich alle Trübungen dieser Kategorie von Freund und Feind aus der Vermengung mit irgendwelchen Abstraktionen oder Normen.15 Erklärt ein Teil des Volkes, 13 14 15
Schmitt (Begriff), S. 49, 50. Schmitt (Begriff), S. 50. Schmitt (Begriff), S. 50, 51.
XII. Freund oder Feind?
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keinen Feind mehr zu kennen, so stelle es sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde und helfe ihnen. Schmitt beharrt darauf, dass die Unterscheidung von Freund und Feind damit nicht aufgehoben sei. Er hält es für einen Irrtum zu glauben, ein einzelnes Volk könne durch eine Freundschaftserklärung an alle Welt oder dadurch, dass es sich freiwillig entwaffne, die Unterscheidung von Freund und Feind beseitigen. Auf diese Weise werde die Welt nicht entpolitisiert und nicht in einen Zustand reiner Moralität, reiner Rechtlichkeit oder reiner Wirtschaftlichkeit versetzt. Wenn ein Volk die Mühen und das Risiko der politischen Existenz fürchte, so werde sich eben ein anderes Volk finden, das ihm diese Mühen abnehme, indem es seinen „Schutz gegen äußere Feinde“ und damit die politische Herrschaft übernehme. Der Schutzherr bestimme dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam. Schmitt hält es für geradezu „tölpelhaft“ zu glauben, ein wehrloses Volk habe nur noch Freunde und für eine „krapulose“ Berechnung, der Feind könnte vielleicht durch Widerstandslosigkeit gerührt werden.16 Dadurch, dass ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen habe, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwinde das Politische nicht aus der Welt. Es verschwinde nur ein schwaches Volk.17 Für Schmitt folgt aus dem Begriffsmerkmal des Politischen schließlich der Pluralismus der Staatenwelt. Die politische Einheit könne ihrem Wesen nach nicht universal in dem Sinne einer die ganze Menschheit und die ganze Erde umfassenden Einheit sein. Die Menschheit als solche könne keinen Krieg führen, denn sie habe – wenigstens nicht auf diesem Planten – keinen Feind. Der Begriff „Menschheit“ schließe den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht aufhöre, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liege. Wenn ein Staat im Namen der Menschheit seinen politischen Feind bekämpfe, so sei das kein Krieg der Menschheit, sondern ein Krieg, für den ein bestimmter Staat gegenüber seinem Kriegs16 17
Schmitt (Begriff), S. 53. Schmitt (Begriff), S. 54.
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XII. Freund oder Feind?
gegner einen universalen Begriff zu okkupieren versuche, um sich (auf Kosten des Gegners) damit zu identifizieren, ähnlich wie man „Frieden“, „Gerechtigkeit“, „Fortschritt“, „Zivilisation“ missbrauchen könne, um sie für sich zu vindizieren und dem Feinde abzusprechen. „Menschheit“ bezeichnet Schmitt im Übrigen als ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen. In ihrer ethisch-humanitären Form sei sie gar ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“18
Die Berufung auf die Menschheit könne nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, dass dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen wird, dass er „hors-la-loi“ und „hors l’humanité“ erklärt und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben werden solle. Schmitt betont noch einmal, dass es, abgesehen von dieser hochpolitischen Verwertbarkeit des unpolitischen Namens der Menschheit, keine Kriege der Menschheit als solcher gebe.19 Aus seiner Sicht entsteht die schlimmste Verwirrung dann, wenn Begriffe wie „Recht“ und „Frieden“ in einer bestimmten Weise benutzt werden, um klares politisches Denken zu verhindern, die eigenen politischen Bestrebungen zu legitimieren und den Gegner zu disqualifizieren oder zu demoralisieren. Das Recht habe – am sichersten im Schatten einer großen politischen Dezision, also z. B. im Rahmen eines stabilen Staatswesens – seinen eigenen relativ selbstständigen Kreis. Es könne aber, wie jede Sphäre menschlichen Lebens und Denkens, sei es zur Unterstützung, sei es zur Widerlegung einer anderen Sphäre verwertet werden. Schmitt plädiert dafür, auf den politischen Sinn solcher Verwertungen von Recht und Moral zu achten und gegenüber der Redewendung von der „Herrschaft“ oder gar der „Souveränität des Rechts“ immer einige nähere Fragen zu stellen. Unter Berufung auf Hobbes weist er u. a. darauf 18 19
Schmitt (Begriff), S. 55. Schmitt, (wie Fn. 18).
XII. Freund oder Feind?
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hin, dass die Souveränität des Rechts nur die Souveränität der Menschen bedeute, welche die Rechtsnormen setzen und handhaben. Die Herrschaft einer „höheren Ordnung“ sei eine leere Phrase, wenn sie nicht (sogar) den politischen Sinn habe, dass bestimmte Menschen auf Grund dieser höheren Ordnung über Menschen einer „niederen Ordnung“ herrschen wollten. Schmitt hält das politische Denken hier in der Selbstständigkeit und Geschlossenheit seiner Sphäre für schlechthin unwiderleglich, denn es seien immer konkrete Menschengruppen, die im Namen des „Rechts“ oder der „Menschheit“ oder der „Ordnung“ oder des „Friedens“ gegen konkrete andere Menschengruppen kämpfen. Der Betrachter politischer Phänomene könne, wenn er konsequent bei seinem politischen Denken bleibe, auch in dem Vorwurf der Immoralität und des Zynismus immer wieder nur ein politisches Mittel konkret kämpfender Menschen erkennen.20 In einer Auseinandersetzung mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts gelangt Schmitt endlich zu dem Ergebnis, dass die politische Einheit gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen müsse. Für den Individualismus des liberalen Denkens sei dieser Anspruch auf keine Weise zu erreichen und zu begründen.21
20 21
Insgesamt: Schmitt (Begriff), S. 65, 66, 67. Schmitt (Begriff), S. 70.
XIII. Ungeist oder Zeitgeist? Fragmentarische Zitate aus wenigen Werken von Schmitt können die Komplexität des von diesem Autor errichteten Gedankengebäudes nicht beschreiben oder auch nur die Unterschiede zwischen seiner politischen Theologie und politischen Philosophie benennen.1 Es sollte gleichwohl deutlich geworden sein, wie stark die Argumentationen des Rechtslehrers Depenheuer von seinem Kollegen Schmitt beeinflusst sind. Dies gilt zumindest für die Schlüsselbegriffe „Souveränität“ „Ausnahmezustand“, „Feind“, „Krieg“ und „Bürgeropfer“. Damit ist selbstverständlich nicht entschieden, ob für Depenheuer die gleichen Zuschreibungen angemessen sind, wie Schmitt sie erfahren hat. Über ihn wird behauptet, dass die absolute Macht, selbst und gerade in der Ausnahmelage, sein „Faszinosum“ gewesen sei. Schmitt gilt manchen als lebenslanger Soziologe, Theoretiker und Romantiker der Macht und des ihr zugeordneten Ausnahmezustandes. Er habe alle zentralen staatsrechtlichen Begriffe als aus der Theologie abgeleitet und letztlich auf die Allmacht Gottes bezogene Begriffe angesehen. In einer bestimmten Epoche seien Larmoyanz, Selbstmitleid, Verbitterung und fortdauernder Antisemitismus seine vorherrschenden Emotionen gewesen. Schmitt habe aus seinen literarischen Verirrungen der NS-Zeit so wenig gelernt wie aus Auschwitz.2 In diesem Zusammenhang wird auch daran erinnert, dass das von ihm gepflegte terminologische Chamäleon der „konkreten Ordnung“ das Begriffsvehikel war, mit dem – neben dem „konkret-allgemeinen Begriff“ von Larenz – die „völkische Rechtserneuerung“, also die Rechtsperversion im Sinne des 1 2
Ausführlich: Meier, H. (1994). Rüthers, NJW 1996, 896, 897.
XIII. Ungeist oder Zeitgeist?
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Nationalsozialismus weitgehend ohne Gesetzgebung bewirkt wurde.3 Für Schmitt gab es jedenfalls eine rationale, politisch sinnvolle Willensbildung oder gar Staatengründung nach demokratischen Prinzipien nicht. Er mag 1932 (noch) kein Anhänger Hitlers oder der Nationalsozialisten gewesen sein. Aber die Behauptung, Schmitt habe in diesem Jahr die Weimarer Republik stärken wollen, ist sicherlich der Versuch einer Legendenbildung. Schmitt wird – vom Milieu in der Wolle gefärbt – als antiparlamentarisch, antidemokratisch und antiliberal angesehen.4 Man schreibt ihm sogar im Hinblick auf bestimmte Erfahrungen („Dorotic’-Skandal“)5 eine geradezu krankhafte Schwäche seiner Urteilsfähigkeit in personalen und werthaften Orientierungen – etwa auch bei der Einschätzung der weltanschaulichen Substanz des Nationalsozialismus – zu.6 Nicht nur die Erinnerung an Schmitt führt zu der Einsicht, dass die Bereitschaft von öffentlich tätigen Juristen, sich jeder neuen Machtlage und jedem als siegreich anerkannten Trend des Zeitgeistes anzupassen, im 20. Jahrhundert, zumal in Deutschland hinreichend oft bewiesen worden ist.7 Nach aller historischen Erfahrung sind Juristen überwiegend geneigt, als „Zeitgeistverstärker“ zu agieren. Nicht nur deshalb sind Völkerstrafrecht und Zeitgeist auch heute ein fesselndes Thema, ähnlich wie Ideologie und Recht.8 Schmitt ist – betrachtet man die häufigen Wechsel politischer Systeme in Deutschland im Zusammenhang – weniger als Einzelperson denn als Pro3 Rüthers (wie Fn. 2), 898. Zum konkreten Ordnungsdenken: von Krockow, S. 94 ff. und Kaiser, S. 319 ff. 4 Rüthers (wie Fn. 2), 901. 5 Es handelt sich dabei um die Tänzerin „Pawla Carita Maria Isabella von Dorotic“, die eine Hochstaplerin war und von Schmitt geehelicht wurde. Diese Frau ist das heimliche und bewegende Zentrum seiner Tagebücher. Vgl.: Hüsmert, S. 173 (dazu: Assheuer, in: Die Zeit Nr. 16 vom 7. April 2004, S. 50). 6 Rüthers (wie Fn. 2), 903. 7 Rüthers (wie Fn. 2), 900. 8 Rüthers (wie Fn. 2), 901.
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XIII. Ungeist oder Zeitgeist?
totyp für bestimmte Verhaltensweisen größerer Gruppen seiner Disziplin und öffentlich tätiger geistiger Berufe interessant und kennzeichnend. In der Tat sind es nicht primär die Motive, sondern die Wirkungen solcher Verhaltensweisen von „Führungseliten“, die das Schicksal eines Gemeinwesens bestimmen. In etlichen Situationen haben sich die Jurisprudenz und viele andere Wissenschaftsdisziplinen sogar als äußerst effiziente Zeitgeistverstärker erwiesen.9 Viele ihrer Vertreter waren Verkünder des von ihnen bejahten „Jeweiligen“. Den Antisemitismus hatte Schmitt bei sich zwar erst später (1935) entdeckt, dann allerdings lautstark propagiert und – unerschüttert vom Völkermord an den europäischen Juden – bis ins hohe Alter beibehalten. Er scheute sich nicht, auch in Kampforganen der Nationalsozialisten (z. B. „Westdeutscher Beobachter“) im Sommer 1933 in kurzer Folge eine Reihe von Artikeln zu schreiben, die als kennzeichnend für seine vorbehaltlose Anpassungswilligkeit an die neuen Machthaber angesehen werden.10 Es bedarf keiner Erörterung, dass der Rechtswissenschaftler Depenheuer von derartigen historischen Bedingungen und persönlichen Eigenschaften völlig unberührt ist. Hier kann es nur darum gehen, ob seine Ausführungen zur Selbstbehauptung des Rechtsstaates objektiv zeitgeistverstärkend wirken und um welchen Zeitgeist es in den Zeiten des „Krieges gegen den Terror“ eigentlich geht. Darüber hinaus lohnt ein Blick auf das diskursive Umfeld von Depenheuer. In Teilen der zeitgenössischen Rechtswissenschaft zeichnen sich Überlegungen ab, bei denen auf den ersten Blick nicht ganz klar ist, ob sich darin ein neuer Zeitgeist ankündigt oder ob darin nur ein affirmativer Reflex zu sehen ist, der die Entscheidungen von Machthabern mit polymorph-theologischen Versatzstücken absegnet. Dabei geht es nicht nur um den Begriff der Souveränität. Auf dem Spiel steht auch der Bestand des Rechtsstaates, so wie er sich nach einer äußerst leidvollen Geschichte und als 9 10
Rüthers (wie Fn. 2), 903. Rüthers (wie Fn. 2), 904.
XIII. Ungeist oder Zeitgeist?
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Geschenk von den Siegern des 2. Weltkrieges in der Bundesrepublik Deutschland etabliert hat. Depenheuer hat übrigens entdeckt, dass der Rechtsstaat, jener „spezifisch deutsche Beitrag zur europäischen Verfassungsgeschichte“, seinen Preis hat. Nach und nach alle gesellschaftlichen Beziehungen ergreifend, lege er sich als vollausgereifter wie Mehltau über die gesamte Gesellschaft. Die regelmäßigen Klagen über zunehmende Verrechtlichung, Bürokratisierung und Gesetzesflut ließen den Trend als solchen unberührt.
XIV. Demokratie oder Heiligkeit? „Souveränität“ zählt zu den umstrittensten Begriffen im Vokabular derjenigen, die über Staat und Recht nachdenken. In deutschen Texten erscheinen „Souveränität“ und „souverän“ zuerst im 17. Jahrhundert. Diese Begriffe hatten aber bereits damals eine fünfhundertjährige Karriere in den westeuropäischen Sprachen hinter sich. Sprachlich wurzeln sie in der lateinischen Präposition „super“ (oben, über) und dem Adjektiv „superus“ (oben befindlich). Aus ihnen entstand im Mittelalter das dem klassischen Latein unbekannte „superanus“, das noch denselben Sinn trug, also unterschieden wurde von dem Superlativ „supremus“ (der oberste, höchste. . . ). Der altfranzösische Sprachgebrauch bildete aus „superanus“ das Adjektiv „soverain“ (sovrain, sofrain, sobrain u. ähnliches) sowie das Substantiv soveraineté (sovrainetez). Bei dieser Umwandlung wurde der ursprüngliche Sinn um die komparative und die superlative Bedeutung ergänzt, so dass erst der Zusammenhang das Gemeinte erschließt.1 Inzwischen hat ein anderer junger deutscher Lehrer des Rechts erkannt, dass das Konzept der Souveränität durch „Suchbewegungen“ bei der Lösung der Probleme dieser Welt immer weiter relativiert wird. Für Haltern ist es wenig zufrieden stellend, von einer abstrakten Definition ausgehend eine Systematik von Souveränität und ihres Niedergangs zu erstellen. Er sieht sich bei der systematischen Annäherung an den Begriff der Souveränität vor eine „Leerstelle der Genealogie“ gestellt. Das Denken über Staats- und Völkerrecht existiere aber nicht jenseits der Geschichte als Systematik.2 Für ihn ist 1 2
Vgl. Quaritsch (Souveränität), S. 13. Haltern, S. 1.
XIV. Demokratie oder Heiligkeit?
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in der Souveränität viel religiöses Gedankengut sedimentiert, das durch die Aufklärung „hindurchgereicht“ worden sei und nach wie vor unsere heutige Vorstellung forme: „Souveränität dankt nicht ab.“3
Dabei geht es ihm nicht lediglich um „politische Metaphysik“, sondern auch um die „Bedeutungen politischer Identität“. In diesem Zusammenhang scheint Haltern eine vorbeugende Verteidigung für erforderlich zu halten. Er will nicht etwa eine staatliche Machtvollkommenheit behaupten. Es sei auch nicht Ziel seiner Überlegungen zu Staat, Recht und Religion, die Präsenz des christlichen Glaubens oder christlicher Werte im öffentlichen Diskurs zu befördern. Er hält es für selbstverständlich, dass derjenige, der über die „Tiefenstruktur einer Imagination“ spricht, diese nicht notwendigerweise für erstrebenswert erachtet. Seine Behandlung der fortexistierenden gewaltsamen Seite des Politischen und der Souveränität und die Thematisierung einer Kategorie wie „Opfer“ bedeute nicht, dass er eine „opferbereite Politik“ wünsche. Haltern bezeichnet sich selbst als „friedfertigen“ Menschen. Gerade deshalb sei es wichtig, über das nicht Friedfertige in „unserem“ Begriff des Politischen zu reden, das nicht etwa eine Aberration, sondern ein integraler Bestandteil „unserer“ abendländischen politischen Vorstellungen sei.4 Für ihn ist es zunächst notwendig, einen „frappierenden Gegensatz“ zur Kenntnis zu nehmen. Während die völkerrechtliche Dogmatik in den letzten 100 Jahren immer differenzierter geworden sei, habe sich die Praxis vieler Staaten in vielen Bereichen genau in die Gegenrichtung entwickelt. Obschon die Haager Landkriegsordnung eine Differenzierung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten fordert, führen die Staaten „totale Kriege“, rüsten mit Atomwaffen auf, die die gesamte Bevölkerung bedrohen, und drangsalieren die Zivilbevölkerung mit beispielloser Brutalität. Je ausgefeilter das rechtliche Instrumen3 4
Haltern, S. 2. Insgesamt: Haltern, S. 2, 3, 4.
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XIV. Demokratie oder Heiligkeit?
tarium zur Regulierung des Einsatzes militärischer Gewalt durch Staaten wird, desto gewalttätiger werde die Staatenpraxis. Das 20. Jahrhundert sei sowohl das Jahrhundert der umfassenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen als auch das Jahrhundert unvorstellbarer zwischenstaatlicher Gewalt gewesen. Haltern will die sich daraus ergebende weit verbreitete Konsequenz genauer untersuchen. Diese bestehe in der Forderung nach noch mehr Verrechtlichung und nach einer gesicherten Durchsetzung des Rechts. In den modernen Deutungen des Völkerrechts erkennt er eine „Fortschrittserzählung“. Deren Deutung von Gewalt als „Holzweg“ und „Pathologie“ lasse unberücksichtigt, dass in der jeweiligen Situation Gewalt einen Sinn ergeben haben könnte, auch wenn dieser sich uns nicht länger erschließe: „Wie kann man singend an die Westfront fahren, um dem französischen Erbfeind eine Lektion zu erteilen?5
Haltern meint, daraus zweierlei lernen zu können. Zum einen wandelten sich die Bedeutungen des Politischen „im Handumdrehen“. Er verweist dabei auf den Wandel „unserer“ Vorstellungsformen über das Politische im Zusammenhang mit dem 11. September 2001. Zum anderen bedeute die Tatsache, dass Gewalt – auch Gewalt in einer nicht durch das Völkerrecht gedeckten Form – zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll und notwendig erscheine, da „wir“ offenkundig unterschiedlichen normativen Strukturen verpflichtet seien. Es sei zu einfach, die Gleichzeitigkeit von sich ausweitender Juridifizierung und sich ausweitender Gewalt mit dem Hinweis auf die Durchsetzungsschwäche des Völkerrechts erklären zu wollen. Der Hinweis auf die mangelnde Institutionalisierung effektiver Durchsetzung könne als Erklärung nicht die Last des großen Auseinandertretens von „Rechtserzählung“ einerseits und „politischer Erzählung“ andererseits im 20. Jahrhundert tragen. Die politische Erzählung sei mehr als „Pathologie“ und „Aberration vom richtigen Weg“. Die Ge5
Haltern, S. 7.
XIV. Demokratie oder Heiligkeit?
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walt des letzten Jahrhunderts lasse eine Metaphysik mit eigener politischer Philosophie vermuten, die ihrerseits handlungsanleitend sei.6 Haltern nähert sich dem Problem, indem er mehrere normative Strukturen vermutet: Eine Struktur, die wir als Fortschritt im und durch das Völkerrecht kennen, und eine andere Struktur, die wir häufig als überwunden empfinden, die aber nach wie vor ein „symbolisches Universum“ konstituiere, in dem wir uns befänden und das „unsere“ Realität ebenso wie „unseren“ Begriff von Legitimität forme. Im Begriff der „Souveränität“ kristallisiere sich ein guter Teil dieses „seltsamen Querstandes“. Einerseits sei Souveränität als „Volkssouveränität“ das Zentrum, von dem aus man moderne Demokratien und den Verfassungsstaat des 20. und 21. Jahrhunderts denke. Andererseits sei Souveränität das große Problem, an dem eine effektivere Umsetzung des Völkerrechts scheitere und das daher von der völkerrechtlichen Dogmatik mit zunehmender Schärfe relativiert werde: „Souveränität ist damit ein Träger des Fortschritts in der Vernunft und zugleich dessen größtes Hindernis.“7
Haltern wählt eine genealogische Perspektive, die nicht in der Aufklärung abbricht. Er hält es für unvermeidlich, die religiöse Dimension des Konzepts der Souveränität mitzudenken, da dieses aus einer Zeit stamme, welche die aufgeklärte Trennung zwischen Staat und Kirche in der heutigen Form nicht gekannt habe.8 Es sei nicht möglich, anhand einer logischen Definition abstrakt zu entziffern, was Souveränität ist. Dessen ungeachtet sei es zumindest gewagt, Souveränität für obsolet zu erklären. Haltern will zeigen, dass der Begriff der Souveränität weit mehr beschreibt als ein Kennzeichen politischer Herrschaftsmacht oder einen Baustein völkerrechtlicher Dogmatik. Souveränität sei Bestandteil einer weit zurückreichen6 7 8
Haltern, S. 8. Haltern, S. 9. Haltern, S. 9, 10.
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den politischen und theologischen Ideengeschichte, die man auch heute nicht außer Acht lassen dürfe. Komme man im Rahmen einer genealogischen Auseinandersetzung zu dem Ergebnis, dass Staat und Souveränität nach wie vor in einer religiösen Tradition stehen, dass das Politische gewaltsam ist und eine „Opferstruktur“ (!) aufweist, welche wir nach wie vor für legitim halten, dass die Aussichten von universaler Verrechtlichung schlecht sind usw., dann habe dies mit den persönlichen Auffassungen von Haltern über Religion und Gewalt nichts zu tun.9 Immerhin scheint er die Auffassung zu vertreten, dass die angenommene völkerrechtliche Destruktion staatlicher Souveränität als Projekt der Säkularisierung zu begreifen sei, in welcher der Rest an „Heiligkeit“ aus dem Denken staatlicher Gemeinschaft verloren ginge.10 Haltern erinnert an den der westlichen Vorstellung politischer Ordnung angeblich eigenen festen Glauben an eine „politische Fortschrittserklärung“, die sich durch drei wesentliche Elemente auszeichne: – Übergang von personalisierten zu demokratischen Formen der Machtausübung. – Übergang von der Folter zum Strafprozess. – Übergang vom Krieg zum Recht.
Alle drei Übergänge appellierten an das Recht, das zum „Leitmotiv“ der gesamten Fortschrittserzählung werde. Das Recht realisiere „das Vernünftige“ innerhalb des Politischen und „Gerechtigkeit“ erscheine als normative Spezifizierung des Vernünftigen im Politischen. Insgesamt handele es sich also um eine „Erzählung vom Fortschritt durch die Vernunft“. Haltern ist der Meinung, dass sich diese Fortschritterzählung auch am Völkerecht ablesen lasse, das er inmitten eines Paradigmenwechsels sieht. Das klassische Völkerrecht sei von einer umfassenden Verrechtlichung abgelöst worden, die nicht nur die zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern zuneh9 10
Insgesamt: Haltern, S. 11, 12, 13. Haltern, S. 14.
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mend das Verhältnis zwischen den Staaten und ihren Bürgern ordnen wolle. Staaten könnten sich immer weniger auf ihre innere Souveränität berufen, sondern müssten ihre Handlungen nach innen am Maßstab des Völkerrechts ausrichten.11 Das Völkerrecht nehme daher eine neue Funktion an, weil es nicht mehr nur die Grenzen der Legalität staatlichen Handelns nach außen bewache, sondern zu einer grundlegenden Handlungsanleitung staatlichen Handels werde. Letztlich verwischten sich die Grenzen zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht.12 Aus der Sicht von Haltern kulminiert das idealistische Moment des Völkerrechtsdiskurses in der Behauptung einer sich herausbildenden „Globalverfassung“, die nicht durch Staaten, sondern durch die „Weltverfassung“ getragen werde: Der „Weltbürger“ löst den „Staatsbürger“ ab. Für ihn ist diese Vorstellung „funktional und imaginativ“ zweifelhaft. In der Rede vom völkerrechtlichen Paradigmenwechsel werde das Fehlen eines Weltsouveräns erkannt. Darauf reagiere man durch die Relativierung des Konzepts der staatlichen Souveränität als Zurechnungs- und Geltungsprinzip. Dieses Konzept müsse man als solches preisgeben, wenn man den Umbau der völkerrechtlichen Ordnung nicht auf die „Wanderung“ des Souveränitätskonzepts von der staatlichen auf die internationale Ebene stützen könne. Da dies auch umfänglich geschehe, sieht Haltern eine Lücke in der Geltungsbegründung des Völkerrechts entstehen. Diese werde durch den Zugriff auf die Diskurse der politischen Theorie und Moral gefüllt. Ins Zentrum des Begründungsdiskurses rückten vor allem der Einzelne und sein Schutz. Haltern glaubt gar, das das „Herz des Völkerrechts“, vormals durch Souveränität gefüllt, nun durch zwei im Wesentlichen unpolitische Themen besetzt sei. Dazu gehörten das vorpolitische Individuum mit seinen unveräußerlichen, naturgegebenen Rechten und die unpolitische Natur, auf die man das Politische lediglich wie auf ein leeres Papier 11 12
Haltern, S. 15, 16. Haltern, S. 17, 19.
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geschrieben habe und sie dadurch gefährde. Er glaubt, dass die Umstellung von staatlichem Selbstzweck auf Individualrechtsund Umweltschutz und der damit behauptete Wandel für die „Imagination“ staatlicher und überstaatlicher Gemeinschaft nicht weniger grundlegend sei als die Reformation und ihre Konsequenzen für die „Imagination“ von religiöser Gemeinschaft. Nach seinem Empfinden handelt es sich um ein Umdenken von Strukturen, die mehr mit Glaubensgemeinschaften zu tun hätten. Eine bessere Beurteilung der Tragweite erfordere die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Souveränität und Säkularisierung.13 Haltern unterscheidet zwischen „Katholischer Souveränität“14 und „Protestantischer Souveränität“. Er erinnert daran, dass die politische Theorie der Neuzeit ihr Profil aus der Negation theologischer Begründungen gewonnen hat. Er glaubt aber nicht, dass damit die Frage nach der „Legitimation der Weltlichkeit“ beantwortet ist und hält den säkularen Staat nicht für frei vom christlichen Erbe. In seinem Überblick über die katholische Souveränität geht er davon aus, dass „das Heilige“ Bedeutung stifte in einer „gefallenen Welt des Endlichen“, weil es „das Bleibende“ sei. Bedeutung werde deshalb nicht als „Wahrheit“, sondern als „Präsenz und Erfahrung“ vermittelt. In der von Haltern skizzierten Vorstellungswelt steht fest, dass der vom „Sündenfall“ errettende Sinn nicht durch Vernunft erlangt werden kann. Mit Logik könne man sich nicht aus dem „Zustand des Gefallenseins“ herausargumentieren. Die Vermittlung geschehe durch die Gegenwart des Heiligen – eine Erfahrung des Schreckens und der Ehrfurcht, ein „mysterium tremendum“. Dessen Platz habe der Souverän eingenommen. Die Vorstellung vom modernen Verfassungsstaat als Geschichte der Autonomie des Staates von der Kirche werde diesem Umstand nicht gerecht. Am deutlichsten werde dies anhand der Macht des Souveräns über Leben und Tod. Letztlich handele es sich bei der Verschiebung 13 14
Insgesamt: Haltern, S. 21, 22, 23. Vgl. auch: Schmitt (Katholizismus).
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letzter Werte von der Kirche zum Staat nicht um einen Prozess der Säkularisierung, sondern um eine Sakralisierung des Staates. Das religiöse Konzept der Souveränität sei zum Politischen gewandert. In beiden Sphären bezeichne Souveränität die „Teilhabe des Endlichen am Heiligen“. Als symbolische Form vermittle der Souverän die Möglichkeit, die eigene Endlichkeit zu transzendieren. Mit der Souveränität ist die Überwindung des Todes, Allgegenwärtigkeit und Allmacht verbunden. Souveränität gilt also immer als „Wunder“.15 Die Migration religiösen Gedankenguts in die politische Ordnung spiegele sich darin wider, dass der Staat „existentielle“ Ansprüche an seine Bürger stellen könne. Der Staat nehme für sich die Autorität in Anspruch, die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu überschreiten und vom Individuum zu verlangen, alle verfügbaren Ressourcen (physischer, materieller oder persönlicher Natur) den vitalen Interessen des Staates zur Verfügung zu stellen. Das Konzept der Souveränität stehe im Zentrum der „Bedeutungswanderung“ vom Christentum in die politische Ordnung. Der Wille des Volkssouveräns sei wiederum dessen Kern. Haltern erkennt, dass eine solche Sichtweise Anleihen bei der religiösen Verknüpfung von Wille, Gnade und Offenbarung macht. Im Moment der Gnade liege die „Selbstoffenbarung des Volkssouveräns“. Aus seiner Sicht ist der transzendentale Akt der Selbstoffenbarung im modernen politischen Gemeinwesen im Extremfall die Gründungserzählung der Revolution. Die Revolution gilt ihm als Politik in der Form einer Metaphysik des Willens.16 Aufgrund ihrer Verwurzelung im Akt der Offenbarung teilten Kirche und Staat ihren Charakter als politische Ordnung auf der Grundlage von Erfahrung transzendenter oder letzter Bedeutung. Das Christentum erscheine in der westlichen Tradition als das wichtigste Modell für die politische Macht einer Ideologie. Es sei das beste Beispiel dafür, dass 15 16
Insgesamt: Haltern, S. 25 – 32. Haltern, S. 33.
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Reichweite und Einflussmöglichkeiten von Zwang und Drohung im Vergleich zu denen eines gemeinsamen Glaubens gering seien. In seiner symbolischen Dimension folge der westliche Nationalstaat genau diesem Modell. Er existiere, um die historische Präsenz einer Erfahrung letzter Bedeutung (Souveränität im Körper des Monarchen oder Selbstoffenbarung des Volkssouveräns) zu bewahren. So werde Souveränität zur Schnittstelle von Kirche und Staat, von Religion und Politik. In der Wahrnehmung von Haltern erwächst sowohl der Kirche als auch dem Staat aus dem gemeinsamen Glauben an die Letztbedeutung die Kraft, die Glaubensgemeinschaften zukomme.17 Vor dem Hintergrund religionsgeschichtlicher Anmerkungen zur „Trennung von Quelle und Erscheinung“18 postuliert Haltern, dass auch der moderne Staat diese Trennung kennt. Den Platz der Quelle nimmt hier der Volkssouverän (nicht mehr Gott) ein. Durch eine politische Handlung, z. B. Revolution oder Verfassungsgebung, spricht er den Staat in seine Existenz. Die Könige haben also ihre Macht zur Inkarnation des Heiligen verloren. Daraus folgt für Haltern nicht, dass das moderne politische Leben in einer säkularisierten Welt stattfindet. Angesichts des zeitübergreifenden Charakters komme man um das „Konzept des mystischen Körpers des Souveräns“ nicht herum. Der Volkssouverän sei nicht lediglich zeitgenössische Mehrheit. Seine Handlung begründe die Welt des Nationalstaates durch die Re-Präsentation einer Quelle von Letztbedeutung, die sich in der Geschichte eines Nationalstaates entfalte. In seiner Betrachtung der katholischen Souveränität kommt Haltern zu dem Ergebnis, dass Souveränität unhintergehbar religiöser Natur sei. Der Ort der Souveränität mag vom Monarchen zum Volk wandern. Dies ändere nichts an ihrem transzendenten Charakter: „Die Souveränität Gottes wird zur Souveränität des Königs, die zur Souveränität des Volkes wird und schließlich zur Souveränität des Menschen.“ 17 18
Haltern, S. 34, 35. Haltern, S. 35 – 39.
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Nach seinem Empfinden ist es zu einem guten Teil dieses metaphysische Versprechen, welches das Politische so anziehend und verführerisch mache. Moderne Staaten hätten sich der Könige entledigt, aber nicht der Souveränität. Stattdessen habe man den Körper des Königs demokratisiert. Der Volkssouverän sei zum „corpus mysticum“ des Staates geworden, der die Attribute des Königs (Zeitlosigkeit, Omnipräsenz und Omnipotenz) übernommen habe. Haltern betont, dass die Gesamtheit der Bürger nicht den aggregierten Volkssouverän ausmache. Der Volkssouverän sei nicht das Produkt des Gesellschaftsvertrages, vielmehr sei der Bürger das Produkt des Volkssouveräns. Er hält den Souverän gegenüber der Summe der Individuen für etwas immer „Überschießendes“.19 Der Staat sei der historische und institutionelle Ausdruck einer Bedeutung, die jede institutionelle Verkörperung transzendiere. Die Institutionen einer politischen Ordnung leiteten ihre Autorität und ihre symbolische Bedeutung daraus ab, dass sie Erscheinungen des Souveräns seien. Dennoch könnten staatliche Institutionen nie Souveränität als Ganzes einfangen, ein Umstand, den Haltern als „Ermöglichungsbedingung“ für Diskurs und Demokratie versteht.20 So wie die Religion den Glauben an Gott als Quelle ihres Textes nicht aufgeben könne, könne auch das Recht den Glauben an den Souverän als Quelle des Rechts nicht aufgeben. Der Souverän werde für den Bürger nur durch Glaube autoritativ. Durch ihn überspringe der Bürger den Graben zwischen dem Selbst und dem Souverän.21 Für Haltern hat sich der moderne Staat dann als souveräner Staat etabliert, wenn er auf seine Bürger in jeder Form zugreifen kann – möge dies der Zugriff auf ihre Körper im Krieg oder auf ihr Geld und ihre Reproduktionsfähigkeit im Frieden sein, jeweils zur kontinuierlichen Fortexistenz des Staates. Die Zurverfügungstellung letzter Werte durch das Gemeinwesen 19 20 21
Haltern, S. 40. Haltern, S. 41. Haltern, S. 43.
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gehe einher mit der Einforderung letzter Opfer durch das Gemeinwesen. Aus der Sinnstruktur des modernen Staates folge die potentielle Opferposition der gesamten Bevölkerung. Die Entdeckung des ultimativen nationalen Sinns im 18. Jahrhundert ziehe folgerichtig den totalen Krieg und die Abschreckungslogik im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts sowie den Terrorismus des 21. Jahrhunderts nach sich. Aus der Perspektive von Haltern zählen das Opfern von Bürgern und das Töten von Feinden zu den prägenden Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Vor allen anderen Formen der Vergemeinschaftung zeichne sich der souveräne Nationalstaat durch die Möglichkeit des Einsatzes von Gewalt aus, eine Möglichkeit, die sich aus der Fähigkeit ergebe, seine eigenen Bürger zum Opfer aufzurufen. Die Möglichkeit zur Gewalt ist für Haltern ein wesentliches (und nicht nur zufälliges) Attribut der westlichen Erfahrung des Politischen. Er fügt hinzu, dass politische Identität im Übrigen nicht nur Vorteile, sondern tödliche Risiken mit sich bringe. Die bloße Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat könne bewirken, dass man das Ziel von Terrorhandlungen werde. Am Beispiel der Souveränität lasse sich schließlich verfolgen, wie moderne Politik dadurch zu einer besonderen Form religiöser Erfahrung im Westen geworden sei, dass das Individuum Volkssouveränität als Zurverfügungstellung und Einforderung letzter Werte erfahren habe. Indem der westliche Nationalstaat die konzeptionelle Struktur vom Christentum entlieh und den Opferakt vereinnahmte, habe er zu einer Institution werden können, welche ihre Bürger für die Zwecke des Staates opfere. Die Verbindung von Souveränität und Opfer betrachtet Haltern nicht als zufällige. In der opferorientierten Religion des Christentums hingen Souveränität und Opfer aufs Engste zusammen. Christus am Kreuz sei die Manifestierung von Souveränität als Opfer. Sowohl Souveränität als auch Opfer seien hier ein Akt der Transsubstantiation. Im Zusammenhang von Opfer und Souveränität erkennt Haltern (schon wieder) ein „mysterium tremendum“. Unter Transsubstantiation sei die endliche Erfahrung der Natur des Heiligen, die als Opfer
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die Wiedergeburt im Tod verspreche, zu verstehen. Genau hierin bestehe die Macht von Souveränität und von Opfer zu gleichen Teilen. Christus sei der Punkt, an dem sich die Linien von Souveränität und Opfer kreuzten. Dadurch werde nach wie vor die Erfahrung des Politischen im modernen Staat „informiert“. Folgt man diesen Gedanken, kann weder die Sprache des Konsenses noch der rechtlichen Verpflichtung oder des Vertrages die Dimension des Opfers (für die Bewahrung des Staates) einfangen. Haltern kommt zu dem Schluss, dass die Fähigkeit des Souveräns, Opfer zu verlangen, und die Gewilltheit des Bürgers, diesem Verlangen nachzugeben, einen „Raum des Heiligen“ markieren, an dem die Beziehung von Leben und Tod umgekehrt sei.22 Seine Überlegungen zur Protestantischen Souveränität beginnen mit dem Hinweis auf eine Grundannahme des Protestantismus. Dort lehnten alle Strömungen den Gedanken ab, die Kirche sei der Körper Christi. Die Reformation habe das Ende der Wunder angekündigt. Zudem habe der protestantische Gott das Objekt von Diskurs und streitiger Auslegung werden können; die Teilnahme am Ritual sei auch nicht länger der Weg zum „Heiligen“.23 Bevor Haltern sich Deutschland als Ausnahme widmet, die sich aufgrund der traumatischen Erfahrung mit der Willensperspektive des Politischen im Nationalsozialismus der protestantischen Form von Souveränität zugewandt habe, weist er auf das Phänomen des „Unreformierten Politischen“ hin. Im Politischen gebe es nach wie vor einen Punkt, an dem diskursive Uneinigkeit nicht durch Argumente, sondern durch Handlung überwunden werde, die außerhalb jeden Arguments stehe. Dabei geht es ihm um die „Opferhandlung“ als Erbe des Christentums.24 Die „souveräne Selbstoffenbarung des Volkswillens“ habe besonders in Deutschland die Gefährlichkeit des Politischen unter Beweis gestellt. Für Haltern ist Schmitt „der große deut22 23 24
Insgesamt: Haltern, S. 47 – 50. Haltern, S. 52. Haltern, S. 54.
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sche Theoretiker der Offenbarungstheologie“ im Zusammenhang mit dem Politischen. Schmitt habe für die Attraktivität der katholischen „ecclesia“ als Form des Politischen das tiefste begriffliche Fundament gebildet. Diese Form beziehe ihre Legitimität (!) aus einem geoffenbarten Willen und einem formalen Durchgebildetsein. Haltern erkennt immerhin noch, dass Schmitt Parlamentarismus und Liberalismus in scharfer Weise denunzierte, den Vernunft- und Interessendiskurs des Liberalismus verachtete und dagegen einen körperbezogenen Begriff des Politischen setzte, der Freund und Feind unterschied. Vor dem Hintergrund der faschistischen Staatpraxis in Deutschland sei es selbstverständlich, dass eine „Imagination“ des Politischen ausgeschlossen war, die den souveränen Willen als Quelle von Letztbedeutung ins Zentrum rückt. Deutschland habe sich von seinem „mystischen Körper“ getrennt und Schmitt sei „exorziert“ worden.25 In modernen Demokratien spreche der Souverän die Worte der Würde und der Menschenrechte, des Rechts- und Sozialstaates und der Demokratie. „Wille“ gerate vollständig aus dem Blickfeld. Interessen und Vernunft bildeten nur eine „dichotomische Matrix des Politischen“. Haltern erklärt dies zur „Matrix des Liberalismus“. Die deutsche Vorstellung des Politischen wende sich vom souveränen Willen ab und sei misstrauisch gegenüber jeder Sakralisierung politischer Ordnung: „Das Arkanum des Politischen ist damit in Deutschland unbetretbar geworden.“
Der deutsche Staat könne keine katholische Kirche mehr sein; er werde „protestantisch“. Damit gehe die Ersetzung der „Magie“ durch das Gespräch einher. Diskurs, Diskussion, Rede, Wort und Text besetzten die unzugängliche Stelle des „corpus mysticum“.26 Der Protestantismus hatte nach dem Eindruck von Haltern mit der Reinigung des christlichen Glaubens von falschen Repräsentationen begonnen. Im Zentrum stehe schließlich alleine der für den neuen deutschen 25 26
Haltern, S. 62. Insgesamt: Haltern, S. 63.
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Staat grundlegende Text, die Verfassung. Damit sei aber „das Heilige“ nicht aus der Konstruktion des Staates verschwunden. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Menschenwürde sei mehr als lediglich eine inhaltliche Umstellung von der Legitimation durch kollektive Souveränität auf Legitimation durch den Einzelnen. Es sei dadurch ein „Surrogat des Heiligen“ geschaffen, welches auf das Wunder verweise. Dieses Wunder ist aber nach der Erkenntnis von Haltern nicht mehr die mystische Einheit der Gemeinschaft oder der kollektive Körper des Staates, sondern die „Seele des Einzelnen“. Darin sieht er nichts weniger als die Reformation politischen Denkens, das Abschied nehme von der „Imagination“ des Souveräns als (wieder und wieder) „mysterium tremendum“ und sich stattdessen dem „Wunder des Menschen“ zuwende. Mit der Anerkennung der Würde des Menschen als das Höchste und Unabänderliche sei der Spagat zwischen der Verankerung des Heiligen einerseits und der Schließung und Positivierung des Rechtssystems andererseits gelungen. Zugleich sei eine Zähmung der erschreckenden „potentia absoluta“ des Souveräns gelungen. Deutschland sei zum „ordo ordinatus“ geworden. In der Folge dieser Reformation werde der neue deutsche Staat eine „Kirche des Redens und Auslegens.“27 Haltern glaubt, dass die Reformation unsere politische Vorstellungswelt so geprägt habe, dass wir nicht nur bei dem Blick auf unser historisches „alter ego“ erschrecken, sondern auch, wenn wir auf Staaten sehen, die einen ähnlichen Protestantisierungsprozess nicht durchlaufen haben. Die Auseinandersetzungen mit den USA als Folge der Anschläge des 11. September 2001 und im Zusammenhang mit dem Golfkrieg hält er nicht allein für ein Resultat einer anderen Politik. Sie seien vielmehr auf unsere Intuition zurückzuführen, dass die USA ein Staat sei, dessen Politik noch immer in einer unreformierten, katholischen „Imagination“ des Volkssouveräns wurzele und sich daher aus ihrem leichten Zugang zu den mystischen Ritualen von Gewalt und Opfer speise. 27
Insgesamt: Haltern, S. 65 – 67.
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Das in Deutschland Unaussprechliche – der hinter dem Verfassungstext stehende Wille, der Volkssouverän, seine Kraft zu Gewalt und Zerstörung, seine dezisionistischen „Offenbarungen“ – werde also durch „protestantisiertes Heiliges“ im Text selbst ersetzt. Haltern behauptet, dass dieser Zustand hochprekär sei. Der Protestantismus stehe unter einem katholischen und einem aufklärerischen Druck. Einem Teil der Bevölkerung erscheine die Tabuisierung des Willens, der Riten und der Symbole immer weniger überzeugend. Vielleicht ist es nicht mehr der Verfassungstext, der den Kontakt zum Souverän ermöglicht; vielleicht, so spekuliert Haltern weiter, sind Rituale, Symbole, Unaussprechliches und ins „Arkanum“ abgewanderte „Umwölkungen“ politischer Identität der Schlüssel zur Gemeinschaft. Beginnt man an der Stimme des Souveräns zu zweifeln, suche man dessen Körper, um Gewissheit zu erlangen. Haltern nimmt eine natürliche Bewegung hin zu den alten körperschaftlichen „Imaginationen“ des Politischen wahr, die nie verschwunden, sondern nur für eine Weile unzugänglich gewesen seien. Stichwort: Nationalismus- und Patriotismus-Debatte.28 Die Grund- und Menschenrechte seien „imaginativ“ lediglich der Inhalt dessen, was der Volkssouverän gesagt habe, und damit – trotz der wichtigen Anknüpfung an den moralischen Diskurs – sekundär für die Bildung von Identität. Fehlt es an einer Verknüpfung mit dem Glauben an die Unterscheidung von Quelle und Erscheinung, sind Rechte und ihre Betätigung in den Augen von Haltern nur der Ausdruck nackter Präferenzen und dann mit dem Markt verwandt. Er glaubt, dass die Heftigkeit des Streites um die Abwägbarkeit der Menschenwürde dadurch erklärbar sei, dass sich zwei grundverschiedene Modelle politischer „Imagination“ gegenüberstünden. Ein abwägbarer Art. 1 GG entlasse den „Rest Heiligkeit“ aus unserem konstituierenden Text und nähere unsere politische Gemeinschaft dem Markt an. Dies sei die sich selbst einholende Reformation. Haltern scheint es zu beklagen, dass 28
Haltern, S. 68, 69.
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gerade in einer Zeit, in der wir nach Richtung und Führung verlangten, um uns einen Weg im unübersichtlichen Gelände von Gentechnologie und Folter zu bahnen, der Rest Transzendenz in sich zusammenbricht. Erst mit dieser Auseinandersetzung um die Menschenwürde ist für ihn die Säkularisation eingetreten: „Es gibt nicht Heiliges mehr.“29
Das Unerklärliche und Heilige wandle sich zu Recht. Am Ende sieht Haltern den Wirtschaftsstaat und die protestantisierten Körper in ihrer ganzen arbeitswilligen Immanenz und Alltäglichkeit. Die Menschenwürde ist ihm eine Chiffre für unsere größten Hoffnungen und Sorgen im Hinblick auf das Politische. Sind die Worte der Verfassung alles, was uns ohne transzendenten Verweis bleibt, wird man der Frage, wer diese Worte gesprochen hat, nicht entgehen können.30 Damit rücke die Frage nach dem Volkssouverän stärker in den Mittelpunkt. Nach der Einschätzung von Haltern steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich unsere Sehnsucht nach Einheit von Endlichem und Unendlichem andere Bezugspunkte als den nun ganz säkularisierten (Verfassungs-)Text suchen wird. Wer also die Menschenwürde „entzaubert“, werde damit Raum schaffen für eine „Imagination“ des Politischen, die an unreformierte Dimensionen des Politischen anknüpfe.31
Haltern, S. 73. Haltern, S. 74, der hier und an vielen anderen Stellen den Ausdruck „invisibilisieren“ vorzieht. 31 Haltern (wie Fn. 30). 29 30
XV. Arkanum oder Anarchie? Mit den Überlegungen von Haltern wird nach dem Eindruck von Depenheuer für den Bereich der Politik versucht, ein letztes „Arkanum“ der Rechtsfreiheit zu retten: die staatliche Souveränität, der gegenüber selbst das Recht sein Recht verloren habe. Die Bemühung des Arkanums belegt zunächst (und wiederum) die (mindestens partikulare) „Seelenverwandschaft“ zwischen Schmitt, Depenheuer und Haltern. Gegenstand der von Depenheuer gewürdigten Diagnose seines Kollegen Haltern ist der (vermeintlich) fatale Hang im völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Schrifttum idealen Rechtskonstrukten den Vorzug zu geben vor der Analyse der Wirklichkeit. Mag diese auch wenig ersprießlich, unangenehm und gar schrecklich sein, der Rechtsidealist bastle unverdrossen an seinem „normativen Elysium“. Depenheuer stimmt Haltern darin zu, dass der angeblich allgegenwärtige Prozess der Konstitutionalisierung sein Ziel, die Ordnung der Wirklichkeit, nicht erreiche. Er scheint mit ihm auch das Wissen über die Gründe dieser Zielverfehlung zu teilen, möglicherweise schon der erste gemeinsame zeitgeistige Schritt ins „Arkanum“. Diese Konstitutionalisierung sei nämlich von dem Glauben getragen, dass das Politische durch Recht vollständig ersetzt werden könne. Für Depenheuer ist klar, dass diese Art von Zeitgeist nur zu einem Ergebnis führe: Die Souveränität, die er als „Kern des Politischen“ ansieht, habe ihre Schuldigkeit getan. Sie könne nunmehr gehen, auf dass allein das Recht herrsche. Depenheuer hält es für eine ebenso naive wie vergebliche Hoffnung, dass sich Souveränität im Rechtsstaat rückstandslos auflösen lässt. Sie verrate mehr über den „Herrschaftsanspruch“ der Juristen als sie der Sache gerecht werde, um die es gehe. Aus seiner Sicht gehe es um ein sachgerechtes Verständnis des Politischen, das im Kern vom Recht zu res-
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pektieren sei. Depenheuer scheint eine angebliche (und bemerkenswerte) Parallelität gegenläufiger Entwicklungen als Beleg für die Richtigkeit seiner These zu verstehen. Während der Siegeszug von Menschenrechten und Demokratie, Kriegsverbot und Humanität im ungebrochenen Prozess von Verrechtlichung und Konstitutionalisierung immer weiter voranzuschreiten scheine, verrohe gleichzeitig die politische Wirklichkeit immer mehr: Je humaner das Völkerrecht, desto brutaler die Menschenrechtsverletzungen, je strikter das Gewaltverbot, desto intensiver kriegerische Gewaltexzesse. Depenheuer hält selbst den Versuch einer europäischen Verfassungsgesetzgebung für eine „juristische Kopfgeburt“. Die Wirklichkeit Europas habe die „normative Hybris“ auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Im Souveränitätsbegriff von Haltern sieht Depenheuer die zentrale und letztlich nicht hintergehbare Kategorie des Politischen bezeichnet. Und wieder: „Das Arkanum des Politischen.“ Nach der traditionellen Lesart stehe der Prozess der Konstitutionalisierung des Politischen in einer strukturellen Parallele zum Prozess der Säkularisierung des Staates, die insbesondere das deutsche Denken maßgeblich beeinflusst habe. Ebenso wie die Säkularisierung die „Heiligkeit des Reiches“ habe erodieren lassen, und dem Vernunftrecht eine Gasse geschlagen habe, solle heute die Konstitutionalisierung von letzten irrationalen Resten rechtlich ungebundener Souveränität des Staates befreien. Nach der Einschätzung von Depenheuer steht am Ende ein geschichtsloser Liberalismus und eine „totalitäre Verrechtlichung des politischen Lebens“. Er glaubt, dass Haltern dem eine schlichte wie überzeugende These entgegenstelle. Jenem sei Souveränität „Inbegriff von Bedeutung schlechthin“. Als solche vermöge sie dem Einzelnen und dem Kollektiv Sinn und Orientierung zu vermitteln. Depenheuer hält diese These indes für anfechtbar, wenn Haltern diese Eigenschaft der Souveränität als eine säkularisierte Übernahme religiöser Anschauungen interpretiert. Es wird allerdings bei Depenheuer nicht deutlich, aus welchen Gründen eine Anfechtbarkeit bestehen soll. Er referiert lediglich den Gedankengang von Hal-
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tern, wonach die Souveränität Gottes auf den Staat übergegangen sein soll, in deren Folge dem Staat jene „Heiligkeit“ zugewachsen sei, in deren Namen Emotionen geweckt und Opfer gefordert werden könnten. Das Projekt des Liberalismus (nach Haltern) habe nach dem Verständnis von Depenheuer demgegenüber darin bestanden, diesen Kern des Politischen rechtlich zu definieren und domestizieren zu wollen. Dabei handele es sich um ein historisch erfolgreiches und nachhaltiges Projekt, unter der Voraussetzung, dass es sich seiner Grenzen bewusst bleibe. Es sei (nach Haltern) eine Spätfolge der „deutschen Katastrophe“, welche die Ideen von Staat, Nation und Souveränität nachhaltig diskreditiert habe, dass man genau diese Grenzen aus den Augen verloren habe. Depenheuer glaubt, dass der nachträglich-kompensatorische Versuch der Konstitutionalisierungsidee, nunmehr alles Politische in Recht zu transformieren, die Politik vom Bundesverfassungsgericht und nicht vom Parlament formulieren zu lassen, vor diesem Hintergrund zwar verständlich, aber – politisch wie rechtlich – auf Dauer gefährlich sei. Dieser Versuch verstelle den Blick für die Grenzen des Rechts ebenso wie für die Eigengesetzlichkeit des Politischen, die sich ihren Weg unter Umständen auch gegen das Recht bahnen könnte – mit wahrscheinlich heiklen Folgen für das Recht. In der Thematisierung dieses Zusammenhangs sieht Depenheuer das Verdienst der Schrift von Haltern. Bezeichnend für Depenheuer selbst ist das, was er bei der Lektüre als störend empfand: Wer sich nur als Beobachter der Wirklichkeit verstehe, müsse sich für seine Analysen nicht immer wieder entschuldigen, ein Gedanke der Depenheuer in fast schon intime Nähe seines geistigen Paten Schmitt rückt. Haltern, so Depenheuer weiter, weise doch zu Recht darauf hin, dass die Realität politischer Souveränität fortbestehe und nicht daran denke, durch wohlfeile normative Gedankenkonstrukte ihre Ansprüche aufzugeben. Politik, so die eigene Auffassung von Depenheuer, gehe eben nicht restlos in Recht auf, sondern folge ihrer eigenen Grammatik, zu der insbesondere das souveräne Letztentscheidungsrecht in den Grenzfällen des politischen Lebens gehöre.
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Er hält es für nachdenkenswert, ob der Souveränitätsidee deswegen eine Nähe zu religiösen Kategorien wie dem des Opfers und des Heiligen eignet. Darin könnte ein anthropologisches Grundbedürfnis seinen Ausdruck finden: Wird das Religiöse privatisiert, entstehe im öffentlichen Raum ein kollektives Sinnvakuum, das durch Politik ausgefüllt werde. Depenheuer glaubt, dass sich die Realität politischer Emotionen und die Grammatiken des Politischen, die sich im souveränen Staat bündelten, vom Recht nur maximal gehegt aber nie restlos ersetzt werden könnten. Den freiheitlichen Rechtsstaat hält er für ein politisches Kunstwerk, das zu bewahren zwar aller Anstrengung wert sei. Depenheuer empfiehlt aber schließlich dem Rechtsstaat, dass sich dieser um seiner Zukunft willen seiner Grenzen bewusst sein und sie respektieren sollte.1
1 Depenheuer, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 188 vom 17. August 2007, S. 14.
XVI. Theorie oder Praxis? Carl Schmitt ist zwar am 7. April 1985 verstorben.1 Im Gedächtnis einiger jüngerer deutscher Rechtslehrer ist er aber offensichtlich sehr lebendig geblieben. Das ist bemerkenswert, ist doch das Thema „Carl Schmitt und der Nationalsozialismus“ auch deshalb nicht beendet, weil er in seinem ganzen langen Leben nie öffentlich von seiner unbestreitbaren geistigen Mittäterschaft abgerückt ist.2 Richtig ist aber auch, dass das Werk von Schmitt nicht auf die Äußerungen in den 12 Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft zu reduzieren ist.3 Man kann zwar der Auffassung sein, dass derjenige, dem die freiheitliche Demokratie am Herzen liegt, Schmitt nicht braucht. Schmitt ist aber nicht zu überwinden, indem man ihn ignoriert. Man muss ihn als Theoretiker ernst nehmen. Dabei ist die Methode der geschichtlichen Spezifizierung anzuwenden. Es dürfte unmöglich sein, Schmitt „neutral“ zu verwerten, ohne seinem spezifischen Denken zum Opfer zu fallen. Es ist jeweils zu fragen, gegen wen Schmitt denkt, für wen und in welcher Situation. Schmitt hat seine Begriffe und Positionen als Theoretiker der Gegenrevolution entwickelt. Aus seiner Hinsicht gab es nur einen wirklichen Feind: das sozialistische Proletariat. Schmitt war aber auch ein AntiLiberaler, weil er die Liberalen für unzuverlässig im Kampf gegen die proletarische Emanzipation hielt. Er bezog eine Frontstellung gegen die bürgerliche Konstitution und die Zu einigen Reaktionen: Maschke, S. 11 ff. Seifert, KritJ 1985, 193. Ausführlich auch: Rüthers (1989) Vgl. dazu: Ritter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 88 vom 16. April 1991, S. 37. 3 Über Reinhard Höhn, Carl Schmitt und andere – Geschichten und Legenden aus der NS-Zeit: Rüthers, NJW 2000, 2866 ff. 1 2
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Menschenrechte, welche für ihn Schutzwälle gegen verschiedenartige Interessen waren.4 Tatsächlich hat sich das Denken Schmitts von Anfang bis Ende in einer radikalen Infragestellung der Menschenrechte und des Rechtsstaates gefallen, wobei er mit dem „totalen Staat“ die Liquidierung des Parteienstaates und den Sieg der Konterrevolution feierte.5 Die Kopplung von Souveränität und Ausnahmezustand darf jedoch nicht als Definition missverstanden werden. Sie verlangt vielmehr eine Analyse der (jeweiligen) Machtkonstellation. Seinerzeit war es Schmitt ein Anliegen, dem Reichspräsidenten, den er als „Hüter der Verfassung“ ansah, Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf den Ausnahmezustand zu verschaffen. Schmitt hält letztlich die Vergesetzlichung des Rechts für „todbringend“. Das Verfassungsrecht gilt ihm als „Magna Charta der Hoch- und Landesverräter“.6 Die Rechtfertigung der Morde im Sommer 1934 ist keine Entgleisung, sondern zwangsläufige Konsequenz des Schmitt’schen Denkens über Legalität.7 Es ist nicht erkennbar, ob sich die zitierten jüngeren deutschen Lehrer des Staats- und Verfassungsrechts dieser Konsequenz schon bewusst geworden sind. In ihren selektiven Assoziationen scheint nicht die Einsicht auf, die Schmitt erst gegen Ende des NS-Regimes (wieder-)gewonnen hatte. Immerhin erkannte er (erst) nach 1945, dass auch im Kampf die auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person nicht entfallen darf, ebenso wenig der Sinn für das Minimum eines geordneten Verfahrens („due process of law“), ohne den es kein Recht gibt. Wie seine jugendlichen Nachfolger hat Schmitt allerdings nicht (oder nicht hinreichend deutlich) an diese Kernelemente allen Rechts erinnert, als er der machtstaatlichen Entrechtung den Weg aus den Fesseln der Legalität bereitete.8 4 5 6 7 8
Seifert (wie Fn. 2), 194. Tertulian, S. 17. Schmitt (Führer), S. 200. Vgl. auch: Seifert, (wie Fn. 2), 195. Ausführlich: Schmitt (Legalität). Seifert (wie Fn. 2), 196, mit weiteren Nachweisen.
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Die von Schmitt wiederbelebte Freund-Feind-Theorie ist übrigens nicht auf entsprechende außenpolitische Gruppierungen zu begrenzen. Sie ist auch auf den „Bürgerkrieg“ anzuwenden. Für ihn ist, wie bereits ausführlich dargelegt, mit dem Feindbegriff die Eventualität eines bewaffneten Kampfes, also eines Krieges verknüpft. Der reale Sinn seiner Differenzierung erschließt sich durch die ebenso reale Möglichkeit der physischen Tötung. Das Freund-Feind-Verhältnis wird eine existentielle Schlüsselkategorie und gipfelt in der „Totalität der Feindschaft“. Das Denken von Schmitt kann in einen lebensgefährlichen Zirkel führen. Schmitt scheint gewisse Zusammenhänge erst begriffen zu haben, nachdem er selbst zum „Opfer“ geworden war. Er erinnert sich (nach 1945) öffentlich daran, dass die Theologen dazu neigten, den Feind als etwas zu definieren, das vernichtet werden müsse. Schmitt bezeichnet sich selbst „aber“ als Jurist, der sich (deshalb) mit der Frage beschäftigen müsse, wen er als Feind überhaupt anerkennen könne. Zum Feind werde derjenige, der ihn (den anderen) in Frage stellen könne. Die Folge ist klar: „Indem ich ihn als Feind anerkenne, erkenne ich an, dass er mich in Frage stellen kann. Und wer kann mich wirklich in Frage stellen? Nur ich mich selbst. Oder mein Bruder. . . Der Feind ist meine eigene Frage als Gestalt.“9
Im Jahre 1963 beginnt Schmitt zwischen dem wirklichen und dem absoluten Feind zu unterscheiden. Nun geht es ihm nicht mehr um „totale Feindschaft“, sondern um die „Grenzen der Feindschaft“, eine Differenzierungsleistung, die seine jungen Adepten noch vor sich haben. Aus seiner Sicht erlangt die „Absolutsetzung des Feindes“ im nuklearen Zeitalter eine neue Qualität: „Solche absolute Vernichtungsmittel erfordern den absoluten Feind, wenn sie nicht absolut unmenschlich sein sollen.“10
9 10
Schmitt (Captivitate), S. 89 f. Schmitt (Partisanen) S. 94.
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Es kann dahinstehen, ob es sich dabei um einen autistischen Selbstvollzug handelt und ob es nicht sinnvoller wäre, schon über die Unmenschlichkeit der Etablierung und Anwendung von Massenvernichtungswaffen nachzudenken, statt sich zu deren Zerstörungskraft den letztlich passenden (Un-)Menschen in Gestalt des „absoluten“ Feindes (in Gestalt des islamistischen Terroristen) dazu zu denken. Wie bereits nachgewiesen, hat sich Schmitt im Jahre 1932 zwar gegen den „jeweils endgültig letzten Krieg der Menschheit“ ausgesprochen, weil solche Kriege notwendigerweise besonders intensiv und unmenschlich sind. Sie gingen über das Politische hinaus und setzten den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herab und machten ihn zum menschlichen Scheusal, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden müsse. Es handele sich also nicht mehr nur um einen in seine Grenzen zurückzuweisenden Feind. Diese Einsichten haben Schmitt jedoch nicht daran gehindert, in der Blütezeit des Nationalsozialismus selbst die Theologie des „gerechten“ Krieges zu verkünden. In einer Rede zum Thema „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf mit dem jüdischen Geist“ schließt er am 4. Oktober 1936 mit einem bemerkenswerten Hinweis: „Indem ich mich des Juden erwehre – sagt unser Führer Adolf Hitler – kämpfe ich für das Werk des Herrn“.11
Im Zweiten Weltkrieg hat Schmitt dessen weltgeschichtlichen Sinn entdeckt. Er bezeichnet ihn als „Raumordnungskrieg“12 und plädiert für dessen „Totalität“. Schmitt spricht gar von der Unterwerfung unter das „Gottesurteil eines totalen Krieges“.13 Diese Forderung mag Schmitt in der Rückschau auf den Ersten Weltkrieg leicht gefallen sein. Angesichts der vollendeten Tatsachen des Zweiten Weltkriegs wird er ihr 11 Schmitt, Deutsche Juristen-Zeitung 1941, 1197 f. Die Publikationen von Schmitt waren in ihrer Stoßrichtung immer mindestens implizit antisemitisch: Sombart, S. 277 ff. 12 Ausführlich: Schmitt (Großraumordnung); ders., (Nomos). 13 Schmitt (wie Fn. 11).
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in keiner Weise genügen. Deutsche Ideologie, psychoanalytisch so ergiebig wie mythomorph reichhaltig, wird in diesem Zusammenhang umrissen als das wehleidige Rechtbehalten der Besiegten, als Betteln um einen Nachhol-Kolonialismus, als gruselige Legitimation des deutschen Krieges um neue Räume und ihre Begriffe als „präventiven Verteidigungskrieg“, schließlich als die perfide außenpolitische und völkerrechtliche Forderung nach einem „ungestörten Imperialismus“, der die anderen da rechtlich binden will, wo es Deutschland nur um Machtpolitik zu tun ist, der also für militärische Expansion auch noch einen Persilschein verlangt, indem er dessen bisheriges Misslingen auf dessen Fehlen zurückführt.14 Die Ergebnisse manch einer historisch bewussten und selbständig-kritischen Analyse sind eindeutiger als die fleißige und scheinbar gelehrsame Wiedergabe bestimmter Aussagen Schmitts in Veröffentlichungen, die angeblich den aktuellen Stand der Debatte wiedergeben: „Wer, Recht mit Epistemologie verwechselnd, den Menschen abschafft, um sich mit Carl Schmitt gemeinzumachen, verschreibt sich implizit einer paranoiden antisemitischen Obsession, die jeden Begriff und jede Position des Schmittschen Werks mitbestimmt.“15
Im Jahre 1935, in dem die Nürnberger Rassengesetze verabschiedet wurden, ließ Schmitt in der Deutschen Juristenzeitung verlautbaren: „Der Rechtsbegriff ,Mensch‘ im Sinne des § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches verdeckt und verfälscht die Verschiedenheit von Volksgenossen, Reichsbürger, Ausländer, Jude usw.“16
Noch größer ist der Kontrast zwischen den Kernaussagen des Staatsrechtslehrers Schmitt und den Wertentscheidungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Angesichts der klaren Aussagen der Verfassung ist nicht ohne weiteres einsehbar, welche dringenden Bedürfnisse durch die 14 15 16
Zakravsky, S. 181, 182. Zakravsky, S. 200. Nachweise bei Zakravsky (wie Fn. 15).
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mehr oder minder tiefschürfenden Aussagen seiner zitierten Kollegen befriedigt werden mussten. Wenige und äußerst fragmentarische Hinweise zur Volkssouveränität, zum Rechtsstaatsprinzip, zum inneren Notstand, zum Verteidigungs- und Spannungsfall sowie zur Menschenwürde genügen, um Zweifel an der Erforderlichkeit und Nützlichkeit ihrer Bemerkungen zu begründen, die auch im Hinblick auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfungsbedürftig sind.
XVII. Verfassung oder Nostalgie? Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Das Konzept der Volkssouveränität bedeutet, dass in einer Demokratie, also in einem System freier Selbstbestimmung aller Bürger, Staatsgewalt nur vom Volk auszugehen hat. Sie kann also keine anderen Legitimationsquellen haben.1 Die Staatsgewalt darf nur vom Volk ausgeübt werden, auch wenn die Ausübung durch besondere Organe von der durch Wahlen und Abstimmungen zu unterscheiden ist. Staatsgewalt bedeutet jedes dem Staat zuzurechnende Tun, Dulden oder Unterlassen. Im Einzelnen hat Volkssouveränität nicht zum Inhalt, dass sich die Entscheidungen der Staatsgewalt von den jeweils Betroffenen her zu legitimieren haben.2 Bei der Ausübung der Staatsgewalt ist das Volk an die verfassungsrechtlichen Kompetenzgrenzen gebunden, ein Umstand der angesichts der gegenwärtigen Sicherheitspolitik immer wichtiger wird.3 Politische Freiheit und Gleichheit sind die Grundbedingungen der Demokratie. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Formel des Bundesverfassungsgerichts, wonach in einer Demokratie die Willensbildung sich vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin vollziehen muss.4 Das Demokratie1 2 3 4
BVerfGE 44, 125 / 142; 107, 59 / 92. BVerfGE 83, 37 / 51. BVerfGE 8, 104 / 115 f. BVerfGE 20, 56 / 98 f.
XVII. Verfassung oder Nostalgie?
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prinzip verlangt eine hinreichende Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk, also ein bestimmtes Legitimationsniveau.5 Dieses muss umso höher sein, je wichtiger die zu treffende Entscheidung ist. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes begründet im Übrigen den Gesetzesvorbehalt, das Repräsentationsprinzip, die Herrschaft auf Zeit und das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition. Die Strukturentscheidung des Art. 20 Abs. 1 GG für einen demokratischen Staat wird durch die Volkssouveränität konkretisiert. Weitere Konkretisierungen sind in vielen anderen Bestimmungen des Grundgesetzes enthalten; sie unterfallen aber nicht insgesamt dem Demokratieprinzip, wie sich aus Art. 28 Abs. 1 GG und Art. 79 Abs. GG ergibt. Die Verwendung des Demokratiegedankens als rechts- und verfassungspolitisches Argument ist vom normativen Gehalt des Art. 20 Abs. 1 GG zu unterscheiden. Der Regelung können als einem entwicklungsoffenen Prinzip neue normative Gehalte zuwachsen. Dabei ist im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG große Zurückhaltung geboten.6 Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG enthält das Prinzip der Gewaltenteilung. Es soll nicht nur die Staatsmacht mäßigen und die Freiheit des Einzelnen schützen.7 Damit soll auch für eine rationale und sachgerechte Organisation des Staates gesorgt werden.8 Die Gewaltenteilung zielt darauf ab, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen.9 Es handelt sich um ein tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes.10 Gleichwohl hat es BVerfGE 93, 37 / 66 f.; 107, 59 / 87. Insgesamt: Jarrass / Pieroth, Art. 20, Rn. 1. 7 BVerfGE 9, 268 / 279 f. 8 BVerfGE 68, 1 / 86. 9 BVerfGE 95, 1 / 15; 98, 218 / 251 f. 10 BVerfGE 3, 225 / 247; 67, 100 / 130. 5 6
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kaum eigenständige Bedeutung, weil für die Ausgestaltung der Gewaltenteilung weitgehend die Organisationsnormen des Grundgesetzes zu den Aufgaben und Zuständigkeiten staatlicher Organe einschlägig sind. Wo solche Regelungen fehlen, ist allerdings auf den Grundsatz der Gewaltenteilung zurückzugreifen.11 Dem Rechtsstaatsprinzip kommt im Gefüge des Grundgesetzes eine elementare Bedeutung zu.12 Es hat in zahlreichen Vorschriften eine nähere Konkretisierung erfahren, aus deren Zusammenschau sich das Prinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz ergibt.13 Das Rechtsstaatsprinzip bindet alle Träger öffentlicher Gewalt, auch den Landesgesetzgeber.14 Es kann vom Bürger, auch von Ausländern, insbesondere über Art. 2 Abs. 1 GG (oder anderer Grundrechte) geltend gemacht werden.15 Umstritten ist, ob sich aus dem Prinzip konkretere Folgen ableiten lassen.16 Offensichtlich enthält es keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote.17 Das Rechtsstaatsprinzip wird jedenfalls durch die Menschenwürde maßgeblich beeinflusst. Seine Forderungen sind zum Teil formaler Natur (Rechtssicherheit) und zum Teil materieller Art (z. B. Verhältnismäßigkeit). Die materiellen Anforderungen werden häufig auf die Idee der Gerechtigkeit bezogen.18 Das bedeutet nicht, dass das Rechtsstaatsprinzip mit überpositiven Gehalten aufgefüllt wird. Die Anforderungen des materiellen Rechtsstaates müssen aus der Verfassung abgeleitet werden. Andernfalls entstünde ein Einfallstor für beliebige Vorstellungen.19 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Jarrass / Pieroth (wie Fn. 6), Rn. 23. BVerfGE 20, 323 / 331. Vgl. auch: Wilhelmi, S. 105. BVerfGE 7, 89 / 92 f.; 45, 187 / 246; 52, 131 / 144 f. BVerfGE 2, 380 / 403. BVerfGE 91, 335 / 338 f.; 51, 356 / 362. Vgl. die Nachweise bei Jarrass / Pieroth (wie Fn. 6), Rn. 29. BVerfGE 52, 131 / 144; 74, 129 / 152; 90, 60 / 86. BVerfGE 20, 323 / 331; 52, 131 / 144 f.; 70, 297 / 308. Insgesamt: Jarrass / Pieroth (wie Fn. 6), Rn. 30.
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Die Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips erfolgt auf verfassungsrechtlicher Ebene durch die Grundrechte (mit den Gesetzesvorbehalten), die Entschädigung bei staatlichen Eingriffen, die Gewaltenteilung, den Vorrang der Verfassung und des Gesetzes, den Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt, das rechtliche Gehör und die Gewährleistung des gesetzlichen Richters. Im Bereich der Teilelemente, die im Grundgesetz näher ausgeprägt sind, ist ein Rückgriff auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich unnötig und unzulässig.20 Insbesondere die Zauberformel vom „Krieg gegen den Terror“ gebietet die Erinnerung daran, dass nach der gegenwärtigen Verfassungsrechtslage die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürfen, soweit es das Grundgesetz ausdrücklich zulässt (Art. 87a Abs. 2 GG). Die Streitkräfte haben im „Verteidigungsfalle“ und im „Spannungsfalle“ die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann ihnen unter den genannten Voraussetzungen der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden, die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen (Art. 87a Abs. 3 GG). Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung unter bestimmten Voraussetzungen (u. a. Art. 91 Abs. 2 GG) Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes (jetzt: Bundespolizei) beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen (Art. 87a Abs. 4 GG). 20
Jarrass / Pieroth (wie Fn. 6), Rn. 30 a.
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Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder sowie Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen und der Bundespolizei anfordern (Art. 91 Abs. 1 GG). Ist das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage, so kann die Bundesregierung die Polizei in diesem Lande und die Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten der Bundespolizei einsetzen. Die Anordnung ist nach Beseitigung der Gefahr, im Übrigen jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben. Erstreckt sich die Gefahr auf das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen Weisungen erteilen (Art. 91 Abs. 2 GG). Die Feststellung, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht („Verteidigungsfall“ oder „äußerer Notstand“) trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Sie erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens einer Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Art. 115a Abs. 1 GG)21. 21 Zur Entscheidung über Krieg und Frieden: Busch, NZWehrR 1992, 191 ff. Zum Einsatz der Bundeswehr bei der Terrorismusbekämpfung im Innern wie im Ausland: Blumenwitz, ZRP 2002, 102 ff.; Leggemann, S. 255; Dreist, NZWehrr 2004, 89 ff.; Fischer, JZ 2004, 376 ff.; Hirsch, ZRP 2003, 378; Krings, NWVBl 2004, 249 ff.; Kutscha, KJ 2004, 228 ff.; Linke, NZWehrr 2004, 115 ff.; Lorse, DÖV 2004, 329 ff.; Nowak, DVBl. 2003, 108 ff.; Ossenbühl, NVwZ 2002, 290 ff.; 1209 f.; Raap, DVP 2002, 282 ff.; Wiefelspütz, NZWehrr 2003, 45 ff.; Wolff, ThürVBl 2003, 176 ff. Im Hinblick auf die Anwendung von Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr stellt sich mittlerweile die Frage: „Rechtsstaat ad hoc?“ Dazu: Voss, ZRP 2007, 78 ff. Zu dem Sonderfall „Kommando Spezialkräfte (KSK)“ zwischen Geheimschutzinteresse und Parlamentsvorbehalt: Axer, ZRP 2007, 82 ff. Über den Einsatz dieses Verbandes in Afghanistan: Koelbl / Ihlau, S. 151 ff. und Goetz / Koelbl / Rosenbach / Szandar, in: Der Spiegel Nr. 40 vom 1. Oktober 2007, S. 22 ff. Die Psychologie dieses Verbandes scheint von besonderen Charakteren mitbestimmt zu werden. Einer seiner Offiziere hat einem ranghörigeren
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Kann der Bundestag nicht rechtzeitig zusammentreten und muss sofort gehandelt werden, ist der „Gemeinsame Ausschuss“ zu einer entsprechenden Feststellung befugt (Art. 115a Abs. 2 GG). In den Art. 115a GG – Art. 115 l GG sind die Veränderungen des verfassungsrechtlichen Organisationsrechts (Kompetenzverteilungen) geregelt, mit denen der Kriegssituation Rechnung getragen werden soll. Sie enthalten aber keinen unmittelbaren Regelungen für den Einsatz der Streitkräfte und ermächtigen nicht zu Eingriffen in Grundrechte.22 Die Erklärung des Verteidigungsfalls setzt voraus, dass eine mit militärischen Waffen durchgeführte Aktion gegen das Bundesgebiet von außen, d. h. unter Verletzung der Grenzen durchgeführt wird oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit droht. Es muss die Absicht einer vorsätzlich schädigenden Einwirkung auf Ziele im Bundesgebiet vorliegen. Übergriffe geringfügiger Art wie Agententätigkeit und Sabotage genügen nicht. Auch im Falle eines Angriffs auf ein NATO-Land kann der Verteidigungsfall nur erklärt werden, wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet unmittelbar droht. Dies kann bei einem Angriff auf ein anderes NATO-Land der Fall sein („isolierter Bündnisfall“), muss aber nicht. Die Entscheidung über die Erklärung des Verteidigungsfalls liegt im Ermessen der zuständigen Organe.23 In einem ganz besonderen Kontrast stehen manchen Aussagen von Depenheuer zu dem bislang erreichten Stand beim Kameraden, der sich kritisch zu Militärangelegenheiten äußerte, mitgeteilt: „Ich beurteile Sie als Feind im Inneren und werde mein Handeln daran ausrichten, diesen Feind im Schwerpunkt zu zerschlagen.“ Und: „Sie werden beobachtet, nein nicht von impotenten instrumentalisierten Diensten, sondern von Offizieren einer neuen Generation, die handeln werden, wenn es die Zeit erforderlich macht.“ Gegen diesen Soldaten der Bundeswehr soll nach Presseberichten eine „einfache Disziplinarmaßnahe“ verhängt worden sein. Vgl.: Dörries, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 72 vom 27. März 2008, S. 6. 22 Ausnahme: Art. 115 c Abs. 2 GG. 23 Insgesamt: Jarrass / Pieroth, Art. 115 a GG, Rn. 3.
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verfassungsrechtlichen Schutz der Menschenwürde, der selbstverständlich auch in Zeiten terroristischer Bedrohung und kriegerischer Auseinandersetzungen gilt. Der Schutz der Menschenwürde steht nicht ohne Grund am Anfang des Grundgesetzes. Zum Wesen des nationalsozialistischen Staates und seiner Bürokratie gehörte die systematische Missachtung der Würde des Einzelnen. Diese historische Erfahrung ist die Grundlage dafür, dass das Grundgesetz zuerst jeden Menschen anerkennt. Im Entwurf des Herrenchiemseekonvents (Art. 1 Abs. 1) findet sich ein Leitsatz, der in seiner Bedeutung von keiner bislang bekannten politischen Idee oder (pseudo-)religiösen Überzeugung überboten wurde: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“
In der Tat haben der Staat und seine Ziele keinen Eigenwert, sondern ziehen ihre Berechtigung alleine daraus, dass sie den Menschen konkret dienen. Darin liegt nicht nur eine Abkehr von der Vergötterung des Staates und der Volksgemeinschaft.24 Die Würde des Menschen ist nunmehr der „oberste Verfassungswert“.25 Bei der Unantastbarkeitsgarantie handelt es sich um die wichtigste Wertentscheidung des Grundgesetzes. Eine Einschränkung des Grundsatzes des Art. 1 Abs. 1 GG ist auch nicht durch Verfassungsänderung möglich (Art. 79 Abs. 3 GG). Die Menschenwürdegarantie verpflichtet die gesamte staatliche Gewalt. Unter Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch zu verstehen, der dem Menschen wegen seines Menschseins zusteht.26 Der Mensch wird also mit seiner Würde als „Gattungswesen“ geschützt. Er ist und bleibt Subjekt, nicht Objekt.27 Das Grundrecht aus Art. 1 GG steht allen natürlichen Personen zu. Es kann nicht verwirkt werden. Die Menschen24 25 26 27
Vgl. auch: Jarrass / Pieroth, Art. 1 GG, Rn. 1. BVerfGE 109, 279 / 311. BVerfGE 87, 209 / 228. BVerfGE 30, 1 / 26; 50, 166 / 175.
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würde endet als Grundrecht erst mit dem Tod. Die Garantie der Menschenwürde unterliegt keinen Beschränkungsmöglichkeiten, auch nicht durch andere Verfassungsgüter. Sie ist „unantastbar“. Vor diesem Hintergrund ist natürlich auch die Folter generell unzulässig, auch wenn einige Rechtslehrer mittlerweile versuchen, zeitgeistinspirierte Hilfestellung zur Relativierung dieses Grundsatzes zu leisten.28 Selbstverständlich gilt das auch für sonstige unmenschliche oder erniedrigende Strafen und Behandlungen. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass die Abschiebung eines Ausländers unzulässig ist, wenn in konkreter und unmittelbarer Weise das Leben oder in erheblichem Umfang die körperliche Unversehrtheit bedroht ist.29 Fazit: Jeder, der terroristisch motivierter Straftaten verdächtig ist oder wegen solcher Taten rechtskräftig verurteilt wurde, besitzt und behält seine Menschenwürde, so wie jeder andere Mensch auch.
Brugger, Der Staat 1996, 79 ff. BVerwGE 102, 249 / 259; 114, 379 / 382. Voraussetzung soll aber sein, dass entgegenstehende Verfassungsgüter nicht überwiegen. Dies hänge wesentlich davon ab, wie groß die Gefahr von Folter etc. ist und wie groß die Gefahren sind, die von dem Betroffenen für die Rechtsgüter Dritter ausgehen (Jarrass / Pieroth, Art. 2, Rn. 98). Zu Terrorismus und Menschenrechten: Oeter, AVR 40 (2002), 422 ff. 28 29
XVIII. Ermahnung oder Alarmierung? Dem Richter am Bundesverfassungsgericht di Fabio ist ein Strukturwandel in der Sicherheitspolitik aufgefallen. Insbesondere die terroristische Gewalt übersteige mittlerweile nicht nur Staatsgrenzen, sondern auch ideelle Grenzen der Politik und des Rechts. Man stelle getrennte Rechtsräume und die Vorstellung von innerer und äußerer Rechtsordnung zur Disposition. Das Ergebnis sei „Weltinnenpolitik“. Di Fabio fragt nach dem Verlauf der Grenzen zwischen Normallage und Not- oder Ausnahmezustand, zwischen Polizei und Militär, zwischen Verteidigung und präventivem Angriff1 sowie zwischen präventiver Gefahrenabwehr und repressivem Strafrecht. Er betont, dass der freiheitliche Verfassungsstaat nicht Frieden um jeden Preis will, sondern einen Frieden im Einklang mit unseren Wertgrundlagen. Eine Bedrohung vor Augen, scheine vielen Menschen Sicherheit wichtiger als Freiheit. Di Fabio macht darauf aufmerksam, dass es aber nicht um Vorrang, sondern um Symmetrie geht. Er erinnert daran, dass zur Freiheit auch die Einhaltung der Kompetenzordnung für die öffentliche Gewalt gehört, sei sie gezogen durch die Charta der Vereinten Nationen, die europäischen Verträge, die Verfassung oder das Gesetz. Da der überstaatliche Bereich kooperativ und exekutiv dominiert ist, könne es zu einem „präventionstechnischen Überbietungswettbewerb“ kommen, wenn man nicht mit der Idee begrenzter Einzelermächtigung und einer klaren Kompetenzordnung gegensteuere. Nach der Auffassung von di Fabio werde ein rechtsstaatliches und pragmatisches Recht der für die Gefahrenabwehr zuständigen Polizei über die Amtshilfe zwar nicht die erforderlichen Mittel verweigern. Das heiße aber nicht, dass die Bundeswehr in 1
Ausführlich: Hetzer (Angriffskriege).
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Deutschland als Polizei regulär eingesetzt werden darf. Er hält die Präzisierung der Kompetenztitel des Grundgesetzes gegenüber der Anwendung des Grundsatzes „Not kennt kein Gebot“ für vorrangig. Die Unterscheidung zwischen Polizei und Militär, also zwischen „innen und „außen“ empfindet di Fabio als „zivilisatorische Errungenschaft“. Entsprechende Grenzziehungen seien also unentbehrlich. Die Verrechtlichung des „ius ad bellum“ bezeichnet er als einen Fortschritt, der durch entdifferenzierende Floskeln wie „Weltinnenpolitik“ nicht rückgängig gemacht werden dürfe. Di Fabio glaubt, dass die Vorstellung, der Rechtsstaat bräuchte im Innern ein spezielles Feindrecht, also ein Sonderrecht für diejenigen, die sich außerhalb der Rechtsgemeinschaft setzen wollen, „ein Stück falscher Rezeption des Kriminellen“ sei. Hinter dem „Feindrecht“ sieht er die intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand, die kein guter Ratgeber sei. So könne nicht mehr Sicherheit für die Freiheit geschaffen werden. Wer die Identitätsmerkmale der Humanität und Rechtsstaatlichkeit aufgebe, opfere sich selbst und könne in unserer Rechtsordnung schwerlich Opfer von den Bürgern verlangen. Der freiheitliche Staat und seine Diener müssten dem „Anspruch auf Sittlichkeit“ genügen. Sie seien deshalb durch Recht und Moral bei der Wahl der Mittel wie auch in ihren Zuständigkeiten begrenzt. Insofern gehe es auch um die Selbstachtung, ja um die Würde eines Gemeinwesens, das wir alle verkörperten. Di Fabio hebt hervor, dass die Achtung des Anderen als Subjekt die Bedingung für Selbstachtung ist. Im Bösen des Feindes finde sich ein letztes Stück von einem selbst. Er warnt vor dem Versuch, das Recht in einen Ausnahmezustand hinein zu „veralltäglichen“ oder vom Ausnahmezustand her konzeptionell zu denken. Diese nicht zufällig an den „scharfsinnigen Geistesverwirrer Carl Schmitt“ erinnernde Terminologie wolle sich nicht mit den Grenzen des Rechts abfinden und auch noch den Grenzfall und vom Grenzfall aus konsistent dogmatisieren, um den Preis einer „verformten Dogmatik“. Di Fabio mahnt, dass man mit Blick auf die Extremlage den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beliebig verschieben
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könne – bis hin zu absolut unerlaubten Mitteln. In der Tat sollte sich eine Gesellschaft nicht hysterisch in eine „NotWende-Zeit“ hineinreden lassen, in der jedes Mittel recht scheint, um zu überleben. Wer heute so katastrophenfixiert formuliere, könne morgen eine solche Wirklichkeitswahrnehmung herbeigeredet haben. An dieser Stelle hätte sich di Fabio auch mit dem Phänomen der Neurose auseinandersetzen sollen. Dabei handelt es sich bekanntlich um das Auseinanderfallen von äußerer und innerer „Wirklichkeit“, ein Zustand, der sich auch zu umfassenden Wahnvorstellungen verdichten kann. Gleichwohl sind seine Schlussfolgerungen schon jetzt überzeugend: „Wer mehr Sicherheit in Freiheit will, sollte den Pragmatismus mehr lieben als das intellektuelle Spiel mit dem Grenzfall.“
Und: Wer die Alltagsvernunft durch den „harten Lehrmeister des gesetzlosen Ausnahmezustandes“ und die „Reanimation des verklärten Opfertodes“ zu ersetzen gedenkt, setze das zivilisatorische Niveau des Westens aufs Spiel.2 Ein (ehemaliger) Kollege von di Fabio, Dieter Grimm, hat darauf aufmerksam gemacht, dass derjenige, der Freiheit für den Preis der Sicherheit hält, schlecht gerechnet hat. Die Frage ist berechtigt, ob derjenige, der seine grundrechtlich geschützte Freiheit gegenüber der Staatsgewalt aufgegeben hat, sich sicher fühlen kann, oder nur eine Gefahrenquelle gegen die andere ausgewechselt hat. Grimm behauptet, dass am Luftsicherheitsgesetz erkennbar geworden sei, zu welchem Ergebnis der Tausch führen könne. Zur Erinnerung: Mit § 14 Abs. 3 dieses Gesetzes wollte sich der Staat das Recht nehmen, unschuldige Passagiere eines entführten Flugzeuges vorsätzlich zu töten, um dadurch andere vor dem (vermeintlich) drohenden Tod zu bewahren. Dabei wurde allen Ernstes (von Juristen!) vorgetragen, dass 2 Insgesamt: di Fabio, Westen muss Westen bleiben. (Fundstelle: http: // welt.de / welt_print / article1354254 / Westen_muss_Westen_bleiben.html, Stand: 25. November 2007).
XVIII. Ermahnung oder Alarmierung?
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derjenige, der in Zeiten terroristischer Bedrohung einen Flug buche, damit in seine Tötung einwillige. Grimm weist darauf hin, dass Freiheit und Sicherheit zwar keine Gegensätze sind, sie aber auch nicht notwendigerweise miteinander harmonieren. Natürlich müssen die durch Freiheitsbetätigung eröffneten Sicherheitsrisiken durch Freiheitsbeschränkungen eingedämmt werden. Er erinnert daran, dass dabei das Ziel nicht aus den Augen verloren werden darf. In einem Land, das sich nach bitteren Erfahrungen in seinem obersten Verfassungsgrundsatz auf Achtung und Schutz der Menschenwürde festgelegt hat, gehe es um die Sicherung der Freiheit. In einem solchen Land dürfe dem Staat nicht jedes Mittel zu Bewahrung der Sicherheit recht sein. Es geht also darum, die richtige Balance zu finden. Während nach der Beobachtung von Grimm dem gegenwärtigen Bundesinnenminister ständig neue Sicherheitslücken auffielen, verweise die amtierende Bundesjustizministerin darauf, dass sich nicht alle Vorschläge mit dem Grundgesetz vereinbaren ließen. Das Bundesverfassungsgericht hat immerhin vier von fünf Gesetzesänderungen, die vor und nach dem 11. September 2001 mit veränderten Gefahrenlagen gerechtfertigt wurden, für verfassungswidrig erklärt! In allen Fällen kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber in seinem Streben nach Sicherheit die Grundrechte der Bürger übermäßig eingeschränkt hatte. Grimm wendet sich nicht grundsätzlich gegen Prävention, die als solche auch kein neues Phänomen ist. Erforderlich ist dafür aber zumindest eine bevorstehende Tat oder eine manifeste Gefahr. Angesichts der neuen Bedrohungen sei die Prävention jedoch immer weiter nach vorn verschoben worden. Es gehe heute nicht mehr darum, einen Verdächtigen zu observieren, sondern darum, überhaupt erst Anhaltspunkte für einen Verdacht oder einen künftigen Gefahrenherd zu finden. Die Vorteile der vorverlagerten Prävention seien aber nicht kostenlos zu haben. Wo erst Verdachtsmomente gesammelt werden sollen, treffe sie potenziell jeden und alles, weil bei der
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Verdachtssuche nichts unverdächtig sei. Deswegen dürfe man auch nicht der Beschwichtigung trauen, wer sich nicht vorzuwerfen habe, müsse auch nichts befürchten. Grimm fordert daher, dem staatlichen Informationshunger Grenzen zu ziehen. Er stimmt di Fabio in einem Punkt ausdrücklich zu. Dieser hatte – wie schon erwähnt – davor gewarnt, das Recht in einen Ausnahmezustand hinein zu veralltäglichen oder vom Ausnahmezustand her konzeptionell zu denken. Das gelte besonders für das „Feindstrafrecht“, aus dem jedenfalls nicht folge, dass der Staat deswegen seinen Rechtsschutz schmälern dürfte: „Der Staat, der seine Feinde außerhalb des Rechts stellt, hört damit auf, ein Rechtsstaat zu sein.“
Auch Grimm erinnert angesichts diverser Ambitionen von Schäuble daran, dass das Grundgesetz auch der Verfassungsänderung Grenzen setzt. Die Grundsätze der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaates sind in der Tat ebenso unabänderlich wie die Garantie der Menschenwürde, die Existenz unveräußerlicher Menschenrechte und die Grundrechtsbindung der gesamten Staatsgewalt. Eine Konsequenz ist glasklar: „Die Rechtlosstellung feindlicher Kombattanten wie in den USA könnte in Deutschland auch mit einer Verfassungsänderung nicht erreicht werden.“
Grimm sieht den Konsens über das Folterverbot in Deutschland bröckeln. Er hält deshalb den Hinweis für geboten, dass Folter auch als Mittel der Terrorismusbekämpfung nicht infrage kommt. Selbst mit der „Rettungschance“ sei sie nicht zu rechtfertigen: „Sie verletzt die Menschenwürde.“ Und: „Diese Würde hat auch der Terrorist.“ Grimm betont, dass die Menschwürde nicht abwägungsfähig ist. Sie müsse (darf) niemals zurückstehen, auch nicht im Kampf gegen den Terrorismus. Es besteht kein Zweifel daran, dass erhöhte Terrorismusgefahren zwar erhöhte Sicherheitsvorkehrungen verlangen. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass es die Sicherheit einer freiheitlichen Gesellschaft ist, die erhöht werden soll:
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„Wenn man im Kampf gegen den Terrorismus zu denselben Mitteln greift, welche die Terroristen anwenden, gibt man den grundlegenden Unterschied zu ihnen auf. Es ist dieser Widerspruch zu den eigenen obersten Prinzipien, der es verbietet, sie gegenüber ihren Verächtern zu missachten.“3
Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, hat am 7. Dezember 2007 in einer Debatte über Sicherheit und Freiheit öffentlich dazu aufgefordert, keine Angst zu schüren. Manch einer empfand dies als einen Beitrag zur „Fern-Debatte“ zwischen dem amtierenden Bundesinnenminister und dem Bundesverfassungsrichter di Fabio. Es bleibt unterdessen unklar, ob die Behauptung eines journalistischen Beobachters zutrifft, wonach di Fabios Kritik an einer vermeintlichen Lust am Ausnahmezustand in der Politik geteilt werde. Hassemer selbst nennt die Debatte „asymmetrisch“. Nach seiner Auffassung sei das Sicherheitsbedürfnis „strukturell unstillbar“. Auch er sieht die Grenzen zwischen Prävention und Repression verschwimmen.4 Der 1999 als Nachfolger von Grimm zum Bundesverfassungsgericht berufene Hochschullehrer für Medienrecht und Verfassungsrecht, Wolfgang Hoffmann-Riem, ist kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt (April 2008) auf die heftige Kritik von Politikern gegenüber der markanten Folge von Entscheidungen des Gerichts zum Thema „Freiheit und Sicherheit“ angesprochen worden. Er ist nach eigenem Bekunden dadurch nicht überrascht. Hoffmann-Riem betont, dass die einschlägigen Entscheidungen seit dem Jahre 2003 konzeptionell alle aus einem Guss waren. Das Gericht orientiere sich nicht an der zitierten Kritik – es werde weder beflügelt noch politisch braver. Nach dem 11. September 2001 sei es vielmehr 3 Insgesamt: Grimm, in: Die Zeit Nr. 40 vom 29. November 2007, S. 14. Vgl. auch schon dens., in: Die Zeit Nr. 34 vom 17. August 2006, S. 15 („Sicherheit geht immer auf Kosten der Freiheit.“). Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Terrorismusbekämpfung auch: Kühne, in: Feltes / Pfeiffer / Steinhilper (Hrsg.), S. 103, 106 ff. 4 Zitiert nach: Müller, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 286 vom 8. Dezember 2007, S. 10.
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die „Philosophie“ seiner Rechtsprechung gewesen, die Prämissen des Rechtsstaates an neuartige Gefährdungen und Instrumente anzupassen, ohne sie aufzugeben. Man habe immer das gleiche rechtsstaatliche Anliegen einer verfassungsrechtlich angemessenen Balance von Freiheit und Sicherheit verfolgt. Hoffmann-Riem hebt auch hervor, dass hinreichende Anhaltspunkte für die Wirksamkeit eines Gesetzes zu den rechtsstaatlichen Anforderungen gehören. Es stelle sich also zwangsläufig immer die Frage, ob ein neues Mittel geeignet, erforderlich und angemessen ist. Das Gericht sei bei der Behandlung dieser Frage nicht von einer Windrichtung in die andere geschwankt. Man habe nicht nur die Freiheit, sondern auch das Interesse an Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sehr ernst genommen. Auf den Hinweis, dass die Minister Schily und Schäuble das anders gesehen hätten, erklärte Hoffmann-Riem, dass deren Kritik ihn persönlich jedenfalls nicht beeindruckt habe, zumal sie viel zu pauschal und häufig polemisch gewesen sei. Die Politik müsse mit Augenmaß auf eine neue Lage reagieren. Neuerdings müsse sie sich zwar verstärkt mit einer mehr oder minder diffusen Gefahrenlage befassen und deshalb schon im Vorfeld des Eintritts möglicher Gefahren tätig werden. Damit entstehe aber das Risiko der Erosion von rechtsstaatlichen Standards. Diese forderten, dass es tatsächlich fundierte Anhaltspunkte für die Gefährdung von hinreichend gewichtigen Rechtsgütern gebe. Prävention gegenüber diffusen Gefahrenlagen bedeute Handeln unter extremer Ungewissheit und mit dem großen Risiko, Unverdächtige zu beeinträchtigen oder die Bevölkerung insgesamt einzuschüchtern. Das Bundesverfassungsgericht habe versucht, die Risiken neuer Instrumente für die Freiheit der Bürger zu begrenzen. Nach der Auffassung von Hoffmann-Riem muss es empirisch nachvollziehbare Anhaltspunkte darüber geben, warum die bisherigen Instrumente (angeblich!) nicht reichen. Und umgekehrt sollte plausibel gezeigt werden, warum neue Instrumente unverzichtbar sind. Wenn aber nach Nachweisen gefragt wird (z B. bei der Online-Durchsuchung oder dem „Großen Lauschangriff“), komme entweder fast gar nichts
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oder es folgten Beschwörungsformeln. Nebenfunde (z. B. das Aufspüren von Drogendealern bei der Rasterfahndung) reichten zur Legitimation einer solchen umfassenden Informationserhebung mit stigmatisierenden Wirkungen für ganze Bevölkerungsteile nicht. Die Rasterfahndung sei nicht grundsätzlich ausgeschlossen worden. Das Bundesverfassungsgericht habe jedoch eine konkrete Gefahrenlage verlangt. Eine allgemeine, etwa die seit 2001 bestehende Bedrohungslage, reiche hierfür nicht aus. Der Rechtsstaat erlaube dem Staat nicht alles, nur weil es vielleicht Erfolg bringt. Im Interesse der Freiheit der Bürger nehme er Grenzen staatlicher Beobachtung und Verfolgung in Kauf. Manch ein (vereitelter) terroristischer Anschlagsversuch („Sauerland-Bomber“) werde auffällig viel strapaziert. Man behauptet, dass ohne die neuen Möglichkeiten das geplante Attentat nie hätte aufgedeckt werden können oder dass man Glück gehabt hätte, da dies auch ohne neue Instrumente erreicht wurde. Hoffmann-Riem kritisiert das Defizit an Erklärungen darüber, warum die herkömmlichen Mittel nicht gereicht hätten und ob die verschiedenen Behörden die herkömmlichen Mittel angemessen und hinreichend koordiniert eingesetzt haben. Nach seiner Erfahrung gehe das häufig so. Man werfe Bälle in die Luft, mit denen man jongliere. Aber niemand wisse, welcher Ball in welche Hand soll und welcher ruhig herunterfallen darf. Für Hoffmann-Riem heißt Stärke im Sicherheitsbereich, dass der Staat in der Lage ist, die Probleme mit geringstmöglichen Nachteilen zu bewältigen. Der Staat habe zwar viele neue Instrumente, aber noch nicht gelernt, sie so einzusetzen, dass mit geringster Beeinträchtigung der Bürger ein größtmöglicher Erfolg eintritt. Hoffmann-Riem ist von der Sorge bewegt, dass der Staat mit dem Griff nach immer mehr Instrumenten versucht, den Anschein der Erfüllung des Versprechens zu geben, dass er damit auch etwas erreichen kann. Es falle dem Staat aber zunehmend schwerer, das Versprechen der Sicherheit einzulösen. Deswegen mache er sehr viel „Symbolpolitik“. Man setze Zeichen, die aber diejenigen wenig beeindruckten, von denen die Gefahren ausgingen.
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Nach dem Empfinden von Hoffmann-Riem hält der Bundesminister Schäuble die Öffentlichkeit jedenfalls mit immer neuen Schreckensszenarien und neuen Vorschlägen in Atem, ohne abzuwarten, was die vielen schon erfolgten Änderungen bewirkten. Das trage Zeichen des „Aktionismus“. Demokratie lebe aber von Optimierung und nicht von Maximierung. Im Hinblick auf das Luftsicherheitsgesetz bekräftigt Hoffmann-Riem, dass er es weiterhin für verfassungswidrig hält, nicht nur wegen des Menschenwürdeschutzes, sondern auch mit Rücksicht auf die hohen Risiken, die hier mit der Risikoabwehr eingegangen werden. Piloten hätten erklärt, sie könnten nicht erkennen, was im Flugzeug los ist. Der Abschuss ist also ein Handeln unter höchster Ungewissheit. Man könne aber nicht Menschenleben opfern, ohne zu wissen, ob es nötig ist und ob es vielleicht sogar durch einen Absturz mehr Opfer gibt. Hoffmann-Riem vermutet, dass es sich bei diesem Gesetzeswerk um eine Art Rückversicherungspolitik, vielleicht Symbolpolitik, gehandelt hat. Politiker wollen sagen können: Wir haben alles getan. Jetzt könnten sie sagen: Das waren die weltfremden Richter. Die haben uns daran gehindert. Aus der Sicht von Hoffmann-Riem ist die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit weiterhin nicht gewahrt. Daran habe auch das Bundesverfassungsgericht mit seinen punktuellen Entscheidungen nichts ändern können. Er sieht zu viele Eingriffe zu Lasten der Freiheit auf der Basis ungesicherter Behauptungen und immer wieder nur durch den allgemeinen Hinweis auf eine angespannte Sicherheitslage. Es gebe sehr diffuse, nicht nachprüfbare Aussagen des Innenministers oder seiner hohen Behörden. Die Richter könnten nicht prüfen, ob diese Hinweise die Folgerungen rechtfertigen. Eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit setze aber voraus, dass man rational zu einer Abwägung kommt. Man müsste also sowohl die Gefahrenlage als auch die Tauglichkeit der Instrumente genau besehen. Hoffmann-Riem vermisst schließlich einen gesellschaftlichen Diskurs über Risiken. Die Frage: „Welche
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Risiken und Restrisiken wollen wir uns leisten?“ sei seit dem 11. September 2001 nicht beantwortet.5 In eine ähnliche Richtung weisen manche Presskommentare, die sich mit den Änderungen des Gesetzes über das Bundeskriminalamt beschäftigen, die heimliche Computeruntersuchungen erlauben sollen („Online-Durchsuchungen“).6 Man hat den Eindruck gewonnen, dass die Sicherheitsbehörden sie mittlerweile als „Wunderwaffe“ anpreisen, während der Öffentlichkeit nachprüfbare Fakten vorenthalten werden. Nicht einmal dem Bundesverfassungsgericht habe man sie offenbart. Das Gericht wollte bei seiner Überprüfung der vorgelegten Gesetzentwürfe in der mündlichen Verhandlung u. a. wissen, welche Erfahrungen Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt mit denjenigen Online-Durchsuchungen gemacht hatten, die sie schon veranstaltet hatten, ohne dass es seinerzeit eine gesetzliche Grundlage bzw. Ermächtigung hierfür gab! Auskünfte wurden mangels Aussagegenehmigung auch dem Bundesverfassungsgericht nicht gegeben. Zu recht drängt sich daher die Frage auf, wie bei solch einer „Geheimniskrämerei“ die Hauptfrage geklärt werden soll: Sind die geplanten Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen? Eines müsste doch klar sein: Solange die Bundesregierung ihre Erkenntnisse nicht zusammen mit dem Gesetz auf den Tisch legt, sind sie es nicht. Uns so lange dürfte auch der Deutsche Bundestag nicht über einen entsprechenden Entwurf beschließen. In der Tat: Ein Gesetzgeber, der sich selber ernst nimmt, kann sich nicht auf die Prüfung dessen beschränken, was im Einzelnen gerade noch zulässig erscheint. Eine Forderung ist daher sehr berechtigt: Angesichts einer immer größer werdenden Zahl von Sicherheitsgesetzen und angesichts eines immer dichteren Überwachungsnetzes muss im Parlament endlich 5 Insgesamt: Hoffmann-Riem, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 86 vom 12. / 13. April 2008, S. 7. 6 Grundsätzlich zur „Polizei in der digitalen Welt“: Ziercke, Kriminalistik 2008, 76 ff. Zu einzelnen Aspekten der Online-Durchsuchungen: Denkowski, Kriminalistik 2007, 177 ff., und Hunsicker, Kriminalistik 2007, 187 ff.
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die Frage debattiert werden: Was ist dieser Gesellschaft der Schutz der Privatheit noch wert? Dabei sollte man nicht vergessen, dass durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit dem „Computer-Grundrecht“ eben ein echtes Grundrecht geschaffen wurde.7 Es handelt sich keineswegs um einen „Spielball“ der derzeitigen „Großen Koalition“ in der Bundesrepublik Deutschland.8 Im Übrigen werden die von Hoffmann-Riem nur angedeuteten Fragen auf der Tagesordnung bleiben. Seit dem Jahre 2007 und in den ersten Monaten des Jahres 2008 hatte die öffentliche Diskussion fälschlicherweise den Eindruck erweckt, als ob es bei der Neuregelung der Zuständigkeiten des BKA „zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“ wesentlich um die Online-Durchsuchung ginge. Diese ist aber nur ein Punkt unter 24 Ermächtigungen, die dem Amt nach den derzeit bekannten Entwürfen per Gesetz übertragen werden sollen. Das Spektrum reicht von der Vorladung bis zur Ingewahrsamnahme. Treten die Entwürfe in Kraft, ist das BKA zu einer langen Reihe weiterer Maßnahmen befugt: 7 Urteil vom 27. Februar 200 – 1 BvR 370 / 07; 1 BvR 595 / 07. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat § 5 Abs. 2 Nr. 11 Satz 1 Alt. 2 des Verfassungsschutzgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen für nichtig erklärt. Die Vorschrift regelt den heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme („Online-Durchsuchung“). Sie verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner besonderen Ausprägung als „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Die Vorschrift wahrt insbesondere nicht das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Angesichts der Schwere des Eingriffs ist die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Zudem ist der Eingriff grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Diesen Anforderungen wird die angegriffene Vorschrift nicht gerecht. Darüber hinaus fehlte es auch an hinreichenden gesetzlichen Vorkehrungen, um Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu vermeiden. 8 Vgl. insgesamt: Prantl, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 90 vom 17. April 2008, S. 4.
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• Erhebung personenbezogener Daten von Verdächtigen. • Befragung von Verdächtigen und Zeugen. • Identitätsfeststellungen. • Erkennungsdienstliche Maßnahmen gegen Verdächtige. • Vorladung zu Vernehmungen. • Anbringung akustischer und optischer Überwachungsmittel in Wohnungen. • Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung. • Überwachung der Telekommunikation. • Erhebungen zur Nutzung des Telefons und des Internets. • Identifikation und Lokalisierung von Mobilfunkgeräten. • Betretungs- und Durchsuchungsrechte in Wohnungen.
Alle diese Ermächtigungen bzw. Befugnisse sollen aus dem BKA, das bekanntlich – auch aus verfassungsrechtlichen Gründen (Polizeihoheit der Bundesländer) – ursprünglich als Datensammelstelle, technisches Labor und internationales Verbindungsbüro gegründet worden war, anscheinend eine kriminalpolizeiliche Zentralbehörde machen, die nun im Verbund mit den Länderpolizeien handeln soll. Politische Auffassungsunterschiede sind im Vorfeld vor allem im Hinblick auf den § 20 k des Entwurfes zu Tage getreten, mit dem der „verdeckte Eingriff in informationstechnische Systeme“ erlaubt werden soll. Im Zuge der Diskussion zwischen den Koalitionspartnern erfuhr der Entwurf fast eine Verdoppelung seines Umfangs. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (April 2008) ist vorgesehen, dass jedenfalls die Online-Durchsuchung nur auf Antrag des BKA-Präsidenten und auf schriftliche Anweisung eines Richters erlaubt sein soll, wenn Leib, Leben oder Freiheit einer Person in Gefahr sind oder die „Grundlagen des Staates oder der Existenz der Menschen“ bedroht sind. Bei Gefahr in Verzug soll der BKA-Präsident selbst die Anordnung erteilen dürfen, muss sie aber nachträglich genehmigen lassen. Wird die Genehmigung nicht inner-
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halb von drei Tagen richterlich bestätigt, soll sie außer Kraft treten. Für die Vornahme einer heimlichen Online-Durchsuchung soll es ausreichend sein, wenn dafür der bloße Verdacht für die zitierten Tatbestände spricht und noch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass es tatsächlich dazu kommt. Allerdings müssten alle anderen Ermittlungsmöglichkeiten aussichtslos oder erfolglos sein. Für Zwecke der Datenschutzkontrolle und zur Beweissicherung soll eine umfangreiche Protokollierungspflicht eingeführt werden. Die Durchsuchungen sollen sich nur gegen den Besitzer eines bestimmten Computers richten, allerdings sollen sie auch durchgeführt werden dürfen, „wenn andere Personen unvermeidlich betroffen sind“. Sie sollen höchstens drei Monate andauern, eine Verlängerungsmöglichkeit ist vorgesehen. Die Untersuchung soll dann verboten sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen, dass durch die Überwachung allein Kenntnisse aus dem Bereich der privaten Lebensführung erlangt würden. Ihre Ergebnisse sollen sofort nach Erhebung der Online-Daten von zwei Beamten des BKA, davon einer mit „Befähigung zum Richteramt“ auf „kernbereichsrelevante Inhalte“ geprüft werden, damit diese gegebenenfalls sofort gelöscht werden oder im Zweifelsfall dem Richter zur Entscheidung vorgelegt werden können, der die Maßnahme erlaubt hat. Es bleibt abzuwarten, ob und wie diese Konzeptionen in einem (gegenwärtig noch nicht eröffneten) Gesetzgebungsverfahren und nach der schon vor dessen Beginn von der politischen Opposition angekündigten verfassungsgerichtlichen Überprüfung Bestand haben werden. Bemerkenswert ist zudem, dass noch kurze Zeit vor der Einbringung einer Gesetzesinitiative innerhalb eines Koalitionspartners (SPD) deutlicher Widerstand gegen einzelne Passagen des Entwurfs geübt wurde. Vor allem die geplante Einführung der visuellen Wohnraumüberwachung löste dort Bedenken aus. Auch die geplante Übernahme der Online-Durchsuchung und des „Spähangriffs“ in das Verfassungsschutzgesetz hält man für hochproblema-
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tisch, weil dies mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kaum vereinbar sei. Dazu müsse man dem Verfassungsschutz Polizeiaufgaben zugestehen; die entsprechende Trennung habe aber gute Gründe, weswegen die SPD nicht mitmache. Man rechnet nicht mit einem schnellen Gesetzgebungsverfahren und sieht auch keinen Anlass, sich zu übereilen, nachdem der Bundesinnenminister ein Dreivierteljahr habe untätig verstreichen lassen.9 Erste kritische Stellungnahmen aus den Reihen der Presse bemühten gar Bismarck, dem der Satz zugeschrieben wird, dass die Leute ruhiger schlafen könnten, wenn sie nicht wissen, wie Gesetze und Würste gemacht werden. Mit diesem Satz „beleidige“ man allerdings die Würste. Verglichen mit diesen neuesten Sicherheitsgesetzen sei ein „Presssack“ eine übersichtliche und wohlschmeckende Angelegenheit. Das geplante BKA-Gesetz sei dagegen auch nach Inhalt, Gehalt und Machart ein „Machwerk“. Die Bundesministerin der Justiz und der Bundesinnenminister hätten alle nur erdenklichen Regelungen aus den Landespolizeigesetzen zusammengekehrt, durch den Wolf gedreht, neu gewürzt – und setzten nun das Ganze als Bundesgesetz dem Parlament zur Genehmigung vor. Das solle dann die Arbeitsbasis für das BKA sein. Man sei von der Gesetzgebung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zwar einiges gewohnt. Aber dass Urteile des Bundesverfassungsgerichts von der Politik so eklatant missachtet werden, sei neu. Die Missachtung ziehe sich durch das ganze Gesetz (Entwurf!). Bei den Ausführungen zur Computerdurchsuchung werde sie besonders deutlich – auch weil sich das Bundesverfassungsgericht hier besondere Mühe gegeben habe. Seine Entscheidung mache deutlich, dass die Online-Durchsuchung nicht zu Zwecken der Vorfeldaufklärung durch den Verfassungsschutz eingesetzt werden dürfe. Die Politik komme demgegenüber auf die Idee, in diesen Fällen einfach das BKA agieren zu lasen, das dann die Daten an den Verfassungsschutz weitergebe. Zudem hat das Bundes9
Benneter, zitiert nach: Der Spiegel Nr. 17 vom 21. April 2008, S. 24.
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verfassungsgericht verfügt, dass die Ergebnisse der Computerausspähung von einem unabhängigen Richter u. a. daraufhin überprüft werden müssen, ob sie wegen eines Eingriffs in den „Kernbereich der privaten Lebensführung“ auszusondern sind. Die Politik wiederum hat die Vorstellung, dass die Durchsicht von zwei BKA-Beamten vorgenommen werden soll, das Amt sich also selbst kontrollieren soll. Dabei handele es sich nur um eine von vielen Missachtungen des höchsten deutschen Gerichts. In anderen Ländern sei so etwas ein Straftatbestand. Die Einführung eines „Spähangriffs“ in Wohnungen von Ärzten, Anwälten oder Journalisten wegen des möglichen Kontakts mit „Gefahrpersonen“ wird als „Lidlisierung“ des Rechts bezeichnet. Das geplante Gesetz weiche die Anforderungen auf, die das Bundesverfassungsgericht in einem Dutzend Entscheidungen an die Konkretheit einer Gefahr gestellt hat. Das geplante BKA-Gesetz sei schließlich kein Gesetz, das Sicherheit, sondern eines, das Unsicherheit bringe.10 Es ist offenkundig, dass derartige publizistisch-polemische Reaktionen den Maßstäben akademisch-analytischer Betrachtung nicht vollständig genügen können (sollen). Insgesamt bleibt jedoch bemerkenswert, dass angesichts mancher Beiträge führender Politiker mittlerweile Journalisten daran erinnern müssen, dass das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort über den Verlauf der roten Linien hat und nicht der jeweilige Bundesminister des Innern.11 Darüber darf man nicht vergessen, dass die Rekrutierung für oberste Bundesgerichte nicht gerade in einem politikfreien Raum stattfindet, wie auch die Debatte um den Rechtslehrer Horst Dreier gezeigt hat, der in Pressekommentaren als ein Befürworter der „Rettungsfolter“ bezeichnet wurde.12 Der öffentliche Streit zwischen der SPD und der CDU / CSU über die NomiPrantl, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 93 vom 21. April 2008, S. 4. Klingst, in: Die Zeit Nr. 48 vom 22. November 2007, S. 19. 12 (http: // www.spiegel.de / politik / deutschland / 0,1518,druck-530535, 00.html – 23. 01. 2008). 10 11
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nierung eines Kandidaten für eines der höchsten Ämter der Republik schwärte fast über vier Monate. Die SPD zog nach angeblichen Zugeständnissen der Union „ihren“ Kandidaten Dreier zurück und präsentierte den bisherigen parteilosen Rektor der Universität Freiburg, Andreas Voßkuhle, als neuen Kandidaten und zukünftigen Vize-Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Damit ist der ursprüngliche ausersehene Dreier am Widerstand von Ministerpräsidenten der CDU und des Regierungschefs von Bayern, Günter Beckstein, gescheitert. Sie sollen Dreier übrigens auch wegen des Drängens der katholischen Kirche, die ihn wegen seiner liberalen Ansichten zur Stammzellenforschung und zur Rolle der christlichen Kirchen in der Demokratie kritisiert hatte, abgelehnt haben. Die SPD hatte nach einer „Ehrenerklärung“ der Union für Dreier und der Zusicherung, sich bei künftigen Absprachen über Personalvorschläge an das bisherige Prozedere zu halten, ihren ersten Vorschlag nicht mehr verfolgt. Man mag diesen Streit als „erbärmlich“ oder gar als „beschämend“ empfinden, wie das der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie Reinhard Merkel öffentlich getan hat. In der Tat darf eine derartige Debatte, die wohl nur gelehrte Beobachter zu einer derart emphatisch-emotionalen Reaktion veranlassen kann, während sie für jeden halbwegs erfahrenen Beobachter nur die übliche Essenz des Politischen offenbart, nicht die (für Merkel angeblich quälende) Frage verdrängen: „Kann es sein, dass manchmal auch die Unterlassung der Folter die Menschenwürde verletzt?“.
Merkel glaubt, dass eine Bemerkung, die Dreier in einem Kommentar zum Grundgesetz veröffentlichte, den Weg nach Karlsruhe versperrt hätte. Dreier geht dort auf Situationen ein, in denen der Staat vor der ausweglosen Alternative steht, entweder die Würde des Opfers oder die des Täters zu verletzen. Gemeint seien Fälle, in denen sowohl die Anwendung als auch die Unterlassung von Folter unausweichlich zu einer Verletzung der Menschenwürde führt, sei es bei einem Verbrecher, sei es bei dessen Opfer. Dann sei der Gedanke einer „recht-
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fertigenden Pflichtenkollision“ nicht von vornherein auszuschließen. Diese Position bezeichnet nach der Einschätzung des Strafrechtlers Merkel ein ungelöstes Problem und sonst nichts. Eine seiner denkbaren Lösungen – die Abwägung der kollidierenden Pflichten nicht von vornherein auszuschließen – heiße offensichtlich nicht, sie zu propagieren. Es erfordert nach dem Empfinden von Merkel schon ein beträchtliches Maß an „boshafter Ignoranz“, dem Autor (Dreier) die hundertfach wiederholte Behauptung anzuhängen, er plädiere für die Zulässigkeit staatlicher Folter. Das sachliche Problem habe im Übrigen eine weitaus quälendere Schärfe als es Dreiers zurückhaltende Wendung andeute.13 Merkel hält die Pflichtenkollision für unausweichlich. Dann bedeute der Rechtsbefehl, eine der beiden kollidierenden Pflichten, das absolute Folterverbot, als sakrosankt zu behandeln, den Zwang zur Verletzung der anderen Pflicht und also der Menschenwürde eines Verbrechensopfers. Ein solcher Zwang gebiete, wenn er jede Abwägung beider Pflichten kategorisch ausschließe, nichts anderes als eine rechtliche Maxime offenen Unrechts. Mit Hilfe eines konstruierten Falles will Merkel zeigen, dass kein Staat der Welt das Recht habe, einen mit einem tödlichen Angriff Bedrohten zur Duldung seiner eigenen Er13 Dreier führt zunächst aus, dass die Garantie des Art. 1 GG jeder Abwägung mit anderen Werten von Verfassungsrang entzogen sei und dies nach herrschender Meinung auch für die Situation gelte, in der polizeiliche Folter des mutmaßlichen Täters zum Schutz des Lebens des entführten Opfers eingesetzt werde. Er bemerkt auch, dass dieser absolute Vorrang der Menschenwürde nicht weiterhelfe, wenn sie auf beiden Seiten ins Feld geführt werden könne und sich die staatliche Organe mit zwei Rechtspflichten konfrontiert sehen könnten, die beide aus Art. 1 GG folgten. Für diesen Fall gibt Dreier keine „Lösung“, sondern meint, dass bei der Beurteilung solcher Fälle „der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein ausgeschlossen sein dürfte“. In diesem Zusammenhang erwähnt er Überlegungen seines Schülers Wittreck über die präventivpolizeiliche Folter zum Schutz der Menschenwürde von Entführungsopfern, der sich dafür ausspricht (vgl. insgesamt: Dreier, in: Dreier (Hrsg.) Grundgesetz – Kommentar, Art. 1, Rnrn. 132, 133). Vgl. auch: Herdegen, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 1 Abs. 1 GG, Rnrn. 30 ff.; 45 ff.
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mordung zu verpflichten. Für ihn läuft es auf eine derartige Duldungspflicht hinaus, wenn man die Androhung oder den Beginn von Foltermaßnahmen durch ein absolutes Verbot unterbindet, obwohl darin die einzig mögliche Abwehr des tödlichen Anschlags liege. Darüber hinaus schließe die schiere Logik der Normen, nicht erst die Grenzen der Autorität des Staates, eine solche Duldungspflicht aus. Denn der drohende Mord bleibe seinerseits selbstverständlich rechtswidrig, ganz unbeschadet von der Frage, ob es die Folterdrohung auch wäre. Dann sei man aber einem paradoxen Rechtsbefehl unterworfen: „Du bist von Rechts wegen verpflichtet, dich rechtswidrig töten zu lassen.“ Eine solche Pflicht hält Merkel für unmöglich. Die Situation der Notwehr erschüttere den sonst fraglosen Grundsatz, dass Folter „absolut“ verboten ist. Dürfte man das Grundrecht auf Leben gegen rechtswidrige Angriffe nicht verteidigen, wäre es kein Grundrecht mehr. Deshalb sei der Staat des Grundgesetzes nicht berechtigt, sich in völkerrechtlichen Verträgen an absolute Verbote zu binden, die einzelnen seiner Bürger in bestimmten Situationen das Recht zu Notwehr nehmen. Genau das habe er aber getan, soweit eben ein absolutes Folterverbot in besonderen Situationen auf das rechtliche Unterbinden der Notwehr hinauslaufen könne. Merkel bezweifelt, dass der deutsche Staat entsprechende Verpflichtungen eingehen durfte und sieht sich deshalb vor ein „trostloses Dilemma“ gestellt, das durch rechtsdogmatische Finessen nicht zu beseitigen sei. Für ihn gehört die Zulässigkeit der Notwehr wie der Nothilfe jedenfalls zum Fundament allen Rechts. Von rechtlichen Interna wie der Normzuweisung an Bürger oder Staatsorgane könne sie nicht einmal berührt, geschweige denn aufgehoben werden. Er sieht weitere Gründe für die Aufgabe des Postulats eines absoluten Folterverbots. Alles, was zur Abwehr eines rechtswidrigen Angriffes erforderlich sei, werde dem Angreifer selbst zugerechnet. Wer sich also in Mordabsicht auf seinen „Feind“ stürzt und von diesem in Notwehr getötet wird, habe sich – normativ gesprochen – selber umgebracht. Nach der Auffassung von Merkel gilt dieses Zurechnungsprinzip aber für Not-
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wehrhandlungen auch dann, wenn sie äußerstenfalls nur im Modus einer Folter möglich wären. Die Konsequenz: Der festgenommene Entführer eines Kindes, der das akut lebensbedrohliche Versteck, in dem er das Opfer festhält, nicht preisgeben will, bedroht sich selbst mit der Folter, die ihm für den Fall seiner fortgesetzten Weigerung angedroht wird! Merkel geht der Frage, ob die Menschenwürde des „Verbrechers“ (gemeint ist wohl der Tatverdächtige) nicht stärker ist als solche Prinzipien rechtlicher Zurechnung nicht aus dem Weg und setzt sich mit dem Einwand auseinander, dass hier keine gleichrangigen Pflichten kollidieren (die Pflicht, nicht zu foltern, sei ein Verbot, eine „negative“ Pflicht, die Hilfspflicht für ein Entführungsopfer nur eine „positive“ Pflicht). Hilfspflichten seien indes weniger gewichtig als Verletzungsverbote. Die Anwendung dieses richtigen Grundsatzes sei in bestimmten Konstellationen falsch. Die Unterbindung der Hilfe für ein Mordopfer durch ein absolutes Verbot des einzigen Rettungsmittels verletze mehr als nur eine Pflicht zur Hilfe für das Opfer. Der „rettende Arm“ des folterbereiten Polizisten werde vom Staat durch ein absolutes und strafbewehrtes Folterverbot quasi zurückgezogen. Darin liege aber ein aktives Tun. Auf diese Weise leiste der Staat dem mörderisch angreifenden Entführer objektiv Beihilfe zum Mord. Für Merkel ist dies ersichtlich mehr und etwas anderes, als dem Opfer nicht zu helfen. Es liege auf der Hand, dass eine solche Mordbeihilfe dem Willen des Normgebers schroff zuwider laufe. Der Mord an einem Entführungsopfer sei auch eine extreme „Würdeverletzung“. Jedes Handeln, das sie ermögliche, sei selbst eine aktive Verletzung der Menschenwürde. Das gelte auch für die Drohung mit staatlicher Strafe, die den rettenden Arm des polizeilichen Helfers von einem Mörder zurückziehe und so dessen Opfer dem Tod ausliefere. Mit diesen Überlegungen gelangt Merkel zu dem Schluss, dass Dreier in seinen Kommentarbemerkungen Recht habe. Es gehe um die Kollision zweier gleichrangiger Pflichten des Staates: um das jeweilige Verbot einer aktiven Verletzung der Menschenwürde. Der Strafrechtler Merkel entdeckt allenfalls ein Ver-
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säumnis, das sich in sämtlichen einschlägigen Grundrechtskommentaren und -lehrbüchern zeige: das Fehlen einer nachdrücklichen Klarstellung, dass es allein die Zurechnungsprinzipien der Notwehr sind, was die Rechtfertigung einer Folter(drohung) allenfalls diskutabel machen könne. Die übliche Beschreibung als „Extremsituation“ führe in die „Irre einer utilitaristischen Perspektive“. Die Rechtfertigung von Folter sei nicht auf das „Extreme“ einer Gefahr zu stützen. Es gehe darum, einem Angreifer gegen fremdes Leben die erforderliche Handlung zur Abwehr seines Angriffs zuzurechnen. Merkel stellt die Frage: „Mobilisiert, wer sich selber mit Folter bedroht, wirklich ein absolutes Verbot?“ Für ihn stellen sich bei einer positiven Antwort weitere Fragen. Er macht sich Gedanken über die „normativen Kosten“ (die objektive Rolle des Staates als eines Gehilfen zum Mord). Auch das Argument der „schiefen Bahn“ (Ist staatliche Notwehr als Folter zulässig, dann folgt bald auch Folter ohne Notwehr.) scheint Merkel nicht zu überzeugen. Es beruhe ebenfalls auf einem „utilitaristischen Kalkül“. Merkel fragt auch, warum ein Kind mit seinem Leben dafür bezahlen sollte, dass wir uns später nicht die scheußlichen Usancen eines Folterstaates antun? Er erkennt schließlich, dass eine Antwort nach den Prinzipien unserer Grundrechtsordnung nicht ersichtlich ist. Es hat den Anschein, als ob er mit der These der Staatsrechtler nicht ganz zufrieden ist, wonach das eben der Preis für die Garantie eines zivilisatorischen Minimums sei.14 Ein strafrechtlicher Kollege von Merkel attestiert ihm zwar scharfsinnige Argumente, bemerkt aber, dass damit eine Verführung zu einem apodiktischen Ton einhergeht. Nach der Wahrnehmung von Günther war die Debatte über die Zulässigkeit der Folter bisher dadurch gekennzeichnet, dass Befürworter wie Gegner überwiegend mit einer eher selbstquälerischen Haltung argumentierten. Günther empfindet nur wenige als restlos überzeugt. Auch die knappen Äußerungen von Dreier erzeugten diesen Eindruck nicht – nicht zuletzt 14
Insgesamt: Merkel, in: Die Zeit Nr. 11 vom 6. März 2008, S. 46.
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deshalb seien die „politischen Invektiven“ gegen seine Wahl zum Bundesverfassungsrichter ein Skandal. Die Überlegungen von Merkel haben bei Günther Unbehagen ausgelöst. Er sieht den „dunklen Schleier des Tragischen“ gelüftet, da Merkel demonstrieren wolle, dass es ein Recht, gar eine Pflicht zur Folter in Notwehrsituationen gebe. Günther gibt zu bedenken, dass die Absolutheit des Folterverbots möglicherweise etwas mit der Natur der Folter selbst zu tun hat, ohne Ansehen der guten oder bösen Zwecke, die mit ihr angestrebt werden. Eine „einseitige Diät“ von Beispielen verführe dazu, sich über die Einzelheiten keine weiteren Gedanken zu machen. Günther mahnt an, dass im Übrigen schon genauer gesagt werden müsste, was unter Zufügung von Schmerzen zu verstehen ist. Zu den notwendigen Erfolgsbedingungen der Folter gehöre nämlich ihre „Eskalationsfähigkeit“, und zwar so, dass der Folternde über die jeweiligen Stufen alleine herrscht und der Gefolterte nicht weiß, wann die nächste Stufe beschritten wird. Diese Ungewissheit erscheint Günther gar „essenziell“. In der Tat wird bloße Schmerzzufügung bei Angehörigen heroischer Gesellschaften nicht ausreichen. Es beginnt also die Suche nach „wunden Punkten“. Letztlich hat Folter nur eine immanente Grenze. Es geht darum, die Tötung des Gefolterten so lange zu vermeiden, wie der Gefolterte noch nicht getan hat, was der Folternde von ihm will. Ansonsten, so befürchtet Günther, ist Folter grenzenlos. Alles müsse erlaubt sein – auch und gerade in Notwehrsituationen, wo die Zeit ohnehin knapp ist. Aber die Rede von der Schmerzzufügung verdecke, dass Folter sich darin nicht erschöpfe. Folter bestehe auch und gerade in der Zufügung psychischer Schmerzen. Sie ziele also nicht bloß auf den Körper des Gefangenen, sondern benutze diesen nur als Werkzeug, auf den Willen des Delinquenten einzuwirken. Günther bemüht in diesem Zusammenhang das Beispiel der sexuellen Demütigung. Er glaubt, dass es historisch die phänomenologische Erfahrung der Folter gewesen sei, die sich vor die damit verbundenen „guten“ oder „bösen“ Zwecke geschoben habe, so dass sie schließlich abgeschafft wurde. Die Abschaffung der Folter
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ging jedenfalls mit dem Aufstieg des Begriffs der Menschenwürde einher, der paradoxerweise heute genutzt wird, um die „Notwehr-“ oder „Rettungsfolter“ zu legitimieren. Günther ist der Auffassung, dass Folter und Sklaverei der Inbegriff dessen sei, was der Menschenwürde widerspreche. Sie zerstörten das komplexe Netz sozialer Anerkennungsbeziehungen. Menschen könnten so das elementare Gefühl der Selbstachtung verlieren, ohne das sie nicht leben oder handeln können. Grenzenlosigkeit und die demütigende Kraft der Folter führten zum Identitätsverlust. Aus dieser Sicht mag der finale Rettungsschuss eine geringere Intensität haben als die Folterung. Günther meint, dass die Widerrechtlichkeit der Handlungsweise des Folterns selbst innewohne, weil die Würdeverletzung ihre notwendige Funktionsbedingung sei. Dies sollte man auch nicht durch Umdefinitionen (z. B. „selbstverschuldete Rettungsbefragung“) verwischen.15 Gleichwohl stellt sich die Frage, ob diese normativen Schlussfolgerungen auch angesichts von Notwehrfällen, auf die sich die Folter beschränken soll, noch gelten können. Günther hält das Argument von der „Selbst-Zurechnung“ der zur Notwehr erforderlichen Verteidigungshandlung auf den Angreifer für das stärkste von Merkel vorgetragene. Offensichtlich liegt darin aber „nur“ eine Normativierung oder auch Objektivierung der Zurechnung. Selbstverständlich würde kein Angreifer zugeben, dass er an den Verletzungen, die er aufgrund der Gegenwehr des Angegriffenen erlitten hat, selbst schuld ist. Günther sieht den plausiblen Grund für diese „Selbst-Zurechnung“ in der „vernünftigen“ Freiheit des Angreifers, anders handeln zu können. Dennoch bleibt die Frage, ob es nicht eine Grenze gibt, jenseits derer man dem Angreifer nicht mehr zumuten darf, alles hinzunehmen – auch wenn es an ihm und seiner Freiheit liegt, den Angriff zu beenden? Günther erinnert an die grundsätzlichen Grenzen der Notwehr und betont die Unterschiede zwischen der Abwehr eines lebensbedrohlichen Angriffs durch aktives Tun (z. B. Erschießen, etc.) und einem Angriff 15
Ausführlich: Trapp und Wagenländer.
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durch pflichtwidriges Nichtstun (z. B. Schweigen über den Aufenthaltsort eines Entführungsopfers). Folterpraktiken sind auf die zweite Alternative zugeschnitten. Wolle man sie hier zulassen, müsse man sie, glaubt Günther, mit allem in Kauf nehmen, was zu ihnen gehöre: immanente Grenzenlosigkeit und Würdeverletzung. Es ginge dabei eben nicht nur um Drohungen, Schläge oder eine notfalls tödliche Körperverletzung, wie etwa bei der Abwehr eines Messerstechers. Günther hebt hervor, dass man dem Angreifer zudem nicht auch noch die Verletzung seiner eigenen Würde als selbstverschuldet zurechnen dürfe. Eine größere Demütigung sei kaum denkbar. Schließlich sieht er die „dunklen Schatten der Tragödie“ wieder heraufziehen. Die Rettung des Lebens und der Würde unschuldiger Opfer sei in einer Nothilfe- und Rettungssituation nur um den Preis der Würdeverletzung des Angreifers zu haben.16 Die hier nachgezeichnete Diskussion hat mindestens in einem Fall „Gänsehaut“ ausgelöst.17 Zwei Strafrechtsprofessoren hätten „im rechtsstaatlich verfassten Deutschland“, so ein weiterer Diskutant, begründet, warum das Foltern von Delinquenten in bestimmten Situationen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sein soll. Der eine (Merkel) habe dazu eine juristische Argumentation vorgelegt, und der andere (Günther) habe ihm (theoretisch) recht gegeben – und das obwohl er (menschlich) ganz offensichtlich gegen die Folter sei. Mit „auf den Bauch zielenden abwegigen wie anschaulichen Beispielsfällen“ werde suggeriert, dass ein Staat, der das Foltern untersage, nichts Geringeres sei als ein Gehilfe beim Massenmord. Der Terrorist hingegen habe sich das Verhalten seiner Folterknechte selbst zuzuschreiben, würde sich gewissermaßen eigenhändig quälen. In einer Würdigung der Auseinandersetzung zwischen Merkel und Günther wird zutref16 Insgesamt: Günther, in: Die Zeit Nr. 12 vom 13. März 2008, S. 42. Ausführlicher zur Frage, ob der Staat foltern darf, um Menschleben zu retten ebenfalls Günther, in: Beestermöller / Brunkhorst (Hrsg.), S. 101 ff. 17 Zeh, in: Die Zeit Nr. 14 vom 27. März 2008, S. 56.
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fend betont, dass Ausnahmen nicht zur Regel taugen und Grenzfälle kein Stoff für grundsätzliche rechtspolitische Erwägungen sind. Zudem gerate derjenige in Gefahr, als Extremist zu denken, der allgemeine Überlegungen auf Extrembeispiele stütze. Der Rechtsgelehrte Merkel breche mit einem wichtigen Prinzip. Staatliche Organe könnten sich, anders als der Bürger, grundsätzlich nicht auf Notwehrrechte berufen. Dennoch fordere er auf dieser Basis eine Relativierung des Folterverbots, bis hin zum Vorschlag, Deutschlands Mitgliedschaft in völkerrechtlichen Anti-Folter-Konventionen noch einmal zu überdenken, Überlegungen seines Kollegen Merkel, die Günther sogar als „scharfsinnig“ empfindet! Anscheinend, so der zitierte dritte Diskussionsteilnehmer, habe die Fixierung auf den Terrorismus bewirkt, dass sich die (vermeintlich!) klügsten Vertreter unseres Rechtssystems darüber austauschen, wie viel Folter in welchem Fall noch geschmackvoll wäre. Es wird aber richtigerweise daran erinnert, dass derjenige, der das Notwehrrecht mit dem Polizeirecht vermischt, die strengen Kontrollmechanismen des Letzteren aufhebt. Nach der „Selbst-schuld-Idee“ müsste sich der Täter (Verdächtige!) nahezu jede Reaktion eines Sicherheitsbeamten gefallen lassen. Dieser bräuchte wiederum nicht mehr über seine Eingriffsbefugnisse nachzudenken. Es gebe aber noch ein komplexeres und ähnlich brisantes Problem. Man könnte annehmen, dass ein Polizist bei der Gefahrenabwehr stets in Nothilfe (nicht nur Notwehr) agiert. Letztlich rettet er immer „die Gesellschaft“. Daraus könnte in der Tat ein höchst gefährliches Staatsverständnis folgen. Es evoziere einen Machtapparat, der sich nach naturrechtlichen Notwehrprinzipien gegen Individuen wehrt. Dieser verborgene Gedanke liege dem gesamten Kampf gegen den Terrorismus zugrunde, und er trage totalitäre Züge. Nicht nur deshalb gerate leicht in Vergessenheit, dass auch (und gerade!) vermutliche Verbrecher Rechtspositionen wie die Unschuldsvermutung und den Anspruch auf ein gerichtliches Verfahren besitzen. Hervorgehoben wird, dass es um das Ausbalancieren von Macht, um das Verhindern von ausufernden Eingriffen gehe,
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die die Menschenwürde verletzen. Sicherheitsbeamte „dürfen nicht immer alles dürfen“, auch wenn das in absichtsvoll konstruierten Beispielsfällen zu tragischen Ergebnissen führt. Je stärker die gefühlte (!) Bedrohung sei, desto mehr müsse man an diesen Grundüberzeugungen festhalten: ,Rechtsstaatliche Verfasstheit muss sich gerade in Krisenzeiten beweisen.“
Auch jüngere Strafrechtsprofessoren könnten und sollten wissen, dass Adolf Hitler im Jahre 1934 ein „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ unterzeichnete, das der Legitimation für die Ermordung der angeblichen Teilnehmer am „Röhm-Putsch“ gedient hat. Es wäre nicht nur ein „janusköpfiges Verfahren“, über das Notwehrrecht eine Grauzone des polizeilichen „anything goes“ zu eröffnen und nicht offen für eine Aufnahme der Folter in die Instrumentarien der Polizeigesetze zu plädieren. Es mag schwer vorstellbar sein, dass Merkel und Günther bereit wären, ihre Auffassungen in gesetzliche Formen gießen zu lassen. Darauf kommt es aber (hoffentlich) auch nicht an. Erforderlich ist es, für die weitestmögliche Verbreitung einer klaren Aussage zu sorgen: „Wir wollen in Deutschland keine Folter. Unter keiner Bedingung.“
Sollte es nicht gelingen, „unsere“ Gesellschaft innerhalb des demokratischen Werteverständnisses zu erhalten, wären Staatsversagen und eine menschliche Katastrophe gleichzeitig zu besorgen.18 Die Debatte hat gerade erst begonnen und sie wird in der Öffentlichkeit mit zunehmender Intensität und in personalisierender Weise fortgeführt werden. Es ist kaum überraschend, dass der amtierende Bundesinnenminister Schäuble dabei besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein Diskussionsteilnehmer hat gar den Eindruck gewonnen, dass Schäuble, je länger er nun wieder die Aufgabe habe, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, den Menschen desto unheimlicher werde. 18
Insgesamt zitiert nach: Zeh (wie Fn. 17).
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Immerhin wurde dieser Amtsträger im Deutschen Bundestag von seinem eigenen Koalitionspartner schon als „Sicherheitsrisiko“ und als „Amokläufer“ bezeichnet und als „besessen“ und „verrückt“ qualifiziert.19 In der Presse wird darüber spekuliert, dass irgendwann im Frühjahr 2007 die „Aufsehen erregende Verwandlung des Dr. Schäuble zum Dr. Seltsam der deutschen Politik“ angefangen habe. Schäuble stelle Fragen und konstruiere Fallbeispiele, wie man sie so noch nicht von einem deutschen Innenminister gehört habe. Er habe nicht nur von den Grauzonen des Rechts gesprochen, sondern selbst Streifzüge auf unbekanntem Terrain unternommen. Manche öffentlichen Reaktionen sind sehr zwiespältig bzw. konträr. Seine Gegner glauben, dass er die Menschen erschrecken wolle, damit sie schneller in die Aufgabe ihrer Freiheitsrechte einwilligen. Hätten sie Recht, wäre das nach dem Empfinden eines journalistischen Beobachters verantwortungslos. Politische „Alliierte“ erklären die Vorstöße Schäubles mit der Sorge, dass Deutschland nicht ausreichend gegen einen terroristischen Anschlag gewappnet sei. Es gehe dabei nicht so sehr um konkrete „Zurüstungen“, sondern um eine „pädagogische Heranführung an den Ernstfall“, wie der Bundesminister der Verteidigung a. D., Rupert Scholz, glauben machen will. Sollte Schäuble tatsächlich das Ziel haben, die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland auf den Notstand einzustimmen, dann hat er bislang wenig erreicht, behauptet ein Kommentator.20 Nach dessen Wahrnehmung habe noch keiner über Schäuble gesagt, dass er hysterisch sei, aber der Vorwurf liege nahe. Es wird an öffentliche Äußerungen des Ministers erinnert, in denen vom Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ die Rede war und gleichzeitig die Aufforderung an die Bevölkerung erging, sich dadurch nicht verdrießen zu lassen. Man hatte den Eindruck, als ob Schäuble den Schrecken habe mildern wollen. Andererseits empfand man den Auftritt 19 Zitiert nach: Fleischhauer, in: Der Spiegel Nr. 52 vom 22. Dezember 2007, S. 46, 47. 20 Fleischhauer (wie Fn. 19), 47.
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als zynisch, als ob Schäuble mit dem Entsetzen seinen Spaß treibe.21 Es wird berichtet, dass der Innenminister an seinen Büroleiter die Frage gerichtet habe, ob wir verfassungsrechtlich nicht eigentlich noch im „Spannungsfall“ sind, da wir doch schließlich seit sechs Jahren an der Seite der Amerikaner im Krieg stünden, auch wenn viele das vergessen hätten. Zuhörer haben den Gedanken „davonsegeln“ sehen. Zumindest einer hält das für eine reizvolle Idee, weil Schäuble dann die Bundeswehr im Innern einsetzen dürfte, ohne dass ihn die SPD daran hindern könnte. Gleichzeitig wird vermutet, dass Schäubles Gedankenexperimente vielleicht nur der Zeitvertreib eines Mannes sind, der sich von seinem Amt nicht richtig ausgelastet fühlt, also ein Glasperlenspiel mit den Axiomen des Rechtsstaats treibt. Unter den gegebenen Umständen wird das sogar als beruhigende Aussicht empfunden.22 Unterdessen versuche man im Umfeld des Ministers die „Wahrnehmungsblockade“ zu durchbrechen, die eine realistische Sicht auf das Wesen des „Feindes“ verhindere, mit dem der Staat es jetzt zu tun habe. Immerhin gibt man an, dass Deutschland „völlig gleichberechtigt ins Feindbild“ aufgenommen worden sei. Das scheint aber in der Bevölkerung immer noch nicht einen entsprechenden Eindruck hinterlassen zu haben. Die „Opfer“ hätten vor langem aufgehört, in Kategorien wie „Feind“ und „Opfer“ zu denken und hielten das für einen gefährlichen Rückschritt in eine Zeit, die als überwunden gegolten habe. Dessen ungeachtet dränge sich die Frage auf, wie sich die zitierte Wahrnehmungslücke schließen lasse. Aber, so eine weitere Vermutung, vielleicht sei das ja auch (nur) eine fixe Idee bzw. falsch, sich gedanklich auf den Ernstfall einzurichten. So gesehen stelle sich dann die Frage, warum Schäuble die Leute nicht in Ruhe lassen könne. Eine Antwort ist in einem Szenario nicht leicht zu finden, in dem ein Bundesverfassungsrichter den Bundesinnenminister als „katastrophenfixiert“ bezeichnet und in dem der gleiche Minister betont, dass die Poli21 22
So Fleischhauer (wie Fn. 19), 48. Vgl. insgesamt: Fleischhauer (wie Fn. 21).
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tik sich von Entscheidungen aus Karlsruhe nicht abhalten lassen sollte, die Gesetze zu machen, die sie für notwendig halte.23 Es wird gar beobachtet, dass Schäuble umso heiterer wirke, je mehr sich seine Gegner über ihn aufregten. Er beziehe einen Teil seiner Energie aus dem „Erregungsstrom“, der sich um ihn aufbaue. Anlässlich eines (gemeinsamen) gesellschaftlichen Ereignisses habe man Schäuble angeblich ansehen können, dass er äußerst gespannt auf eine Erklärung von di Fabio gewartet habe, der am Vortage noch das „intellektuelle Spiel mit dem Grenzfall“ beklagt hatte. Schäuble soll den Mangel einer Erklärung mit „höhnischem Spott“ quittiert haben. Er habe die Vermutung aufgestellt, dass das Handeln von di Fabio insoweit möglicherweise dessen Auffassung von der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts reflektiere. Schäuble soll bei dieser Gelegenheit aber auch betont haben, dass seine Auffassung von Zivilcourage eine andere sei.24 Man bemerkte schließlich, dass die SPD dem Drängen von Schäuble nicht wirklich etwas entgegenzusetzen habe. Alle Gesetze, die er jetzt anschiebe, hätten ihren Ursprung bei „Rot-Grün“. Einer der bedeutendsten Innenpolitiker dieser – historischen – Koalition, der Sozialdemokrat Wiefelspütz, hat festgestellt, dass das Einzige, was sich an der Politik des Innenministeriums wirklich geändert hat, die Parteizugehörigkeit des Ministers ist, der sie vertritt. Ein Kommentator glaubt, dass die SPD auf Zeit spiele, weil sie sich nicht traue, einfach abzulehnen, was sie selbst eingebracht hat.25 Unterdessen wächst das öffentliche Engagement in der Sicherheitsdebatte. In einem anderen Pressebeitrag wird die Diskussion über die „Online-Durchsuchung“ als ein Stellvertreterstreit zwischen denen angesehen, die im Staat eine potentielle Bedrohung der Freiheit sehen, und jenen, die glauben, der Staat müsse dürfen, was er könnte, um das Leben der Einzelnen in der freiheitlichen Gesellschaft zu schützen. Es wird 23 24 25
Vgl. insgesamt: Fleischhauer (wie Fn. 19), 49. Zitiert nach: Fleischhauer (wie Fn. 19), 50. Fleischhauer (wie Fn. 24).
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zwar anerkannt, dass die Grenzen im Möglichen den Rechtsstaat ausmachen. Man glaubt aber auch, dass sich in der Rechtsprechung und in der „linksliberalen“ Politik ein Privatheitsbegriff festgesetzt habe, der die informationelle Intimsphäre des Einzelnen den Lebensinteressen anderer überordne. Im Falle islamistischer Terroristen könne das dramatische Folgen haben. Das „Privatheitsversprechen“, das die Bundesministerin der Justiz und das Bundesverfassungsgericht postulierten, werde so zum Risiko. „Relativitätstheoretiker“ in Karlsruhe und Berlin beharrten aber auf einem Privatheitsbegriff, der wenig mit der Wirklichkeit zu tun habe. Die Karlsruher „Rechtsoligarchen“ fänden in der kleinen „Altliberalen-Fechtgemeinschaft“ der früheren Minister Hirsch und Baum Unterstützung. Deren Beschwerden würden neuerdings von prozessvorbereitenden Interviews und Reden der Richter begleitet. Die Justizministerin kämpfe in der Regierung für eine beinahe schon systematische Lähmung der Polizei. Sie habe sich von einer „unpolitischen“ Staatssekretärin unter Innenminister Schily zur „Mutter der Bürgerrechte“ formen lassen, der es freilich an den sachlichen Beweisen für ihre Gründe mangele. Man werde sie und das Bundesverfassungsgericht gelegentlich danach zu fragen haben.26 Sollten einige der vorgestellten Analysen zutreffen, sind grundsätzliche Überlegungen zur Leistungsfähigkeit und Akzeptanz des etablierten politischen Systems angebracht. Solange aber noch niemand zur Formulierung und Durchsetzung präziser Schlussfolgerungen in der Lage ist, wird man personalisierenden Spekulationen kaum entgehen können, obwohl deren Ungeeignetheit für die Lösung der anstehenden Probleme evident ist. Viel wichtiger ist die grundsätzliche Einsicht, dass jede Macht darauf aus ist, ihr Revier auszudehnen und versucht, noch die letzte freie Nische zu besetzen. Sie erlangt Dauer und Bestand, indem sie die Quellen des Eigensinns austrocknet und die Menschen in freundliche Nachbarn 26 Insgesamt: Carstens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 298 vom 22. Dezember 2007, S. 1.
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und fügsame Menschen verwandelt. Sobald aber die Unterlegenen auf Widerstand verzichten, kristallisiert sich Macht zu Herrschaft. Es sind in der Tat nicht Normen und Institutionen, welche soziale und politische Herrschaft konstituieren, sondern es ist der Konformismus der Menschen.27
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Zutreffend: Sofsky (Verteidigung), S. 17.
XIX. Ende oder Anfang? Verhütung terroristisch motivierter Anschläge und Verfolgung der jeweiligen Straftäter sind grundsätzlich notwendig und legitim. Umfang, Qualität und Intensität der von den USA dominierten Bekämpfungsmaßnahmen werden auf absehbare Zeit von dem Schockerlebnis der Attentate vom September 2001 bestimmt bleiben. Die mediale Aufbereitung der Ereignisse hat im amerikanischen Bewusstsein das Gedächtnis einer „Urszene“ bewirkt, in der sich das insular geprägte Gefühl der Unangreifbarkeit zunächst aufgelöst hatte und einer allgegenwärtigen Bedrohung gewichen war. Durch die Kraft der Bilder haben sich Realität und Fiktion ineinander verschoben. Neuzeitliche Terrorakte sind eben immer auch Medienereignisse. Publizität und die Erregung flächendeckender Angstgefühle gehen Hand in Hand. Die dramatischste Konsequenz der Berichterstattung ist allerdings die Symbolisierung durch eine besondere Form der Gewaltanwendung, in der Sinnlosigkeit und Radikalität verkettet scheinen. Die üblichen Techniken politischer Hypothesenbildung konnten für einige Zeit keine Erleichterung schaffen. Die Ohnmacht einer ganzen Weltordnung schien aufgedeckt, so dass nur noch die Flucht nach vorne in Frage kam, indem man den stärksten „Beweis“ der eigenen, doch noch vorhandenen Macht antrat: Befehl zum kriegerischen Angriff. Der Krieg ist aber vielleicht nicht mehr auf ein Gefechtsfeld zu tragen, auf dem noch substanzielle Verteidigung möglich wäre. Davon werden diejenigen ausgehen, die im Terrorismus die Vollendung der Orgie der Macht, der Geld- und Warenströme, und der Kalkulation sehen, die sich im Welthandelszentrum von New York City verkörperte, und in ihm die gewaltsame Dekonstruktion dieser Extremform von Effizienz und Hegemonie erkennen. Die
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Anschläge des Jahres 2001 haben jedenfalls einen evidenten Verlust an Selbstgewissheit bewirkt und einen Kontrapunkt zu einer bis dahin als unanfechtbar erscheinenden Weltmacht gesetzt, hinter deren Kulissen immer wieder Gesetzlosigkeit und Rechtsbruch zur raison d’etre gehörten. Die bis zum Furor gesteigerte Antwort der USA auf den „kriegerischen“ Angriff gegen die Integrität des amerikanischen „homeland“ ist nicht nur als Realisierung des „Talionsprinzips“ zu verstehen. Natürlich ist Vergeltung ein Motiv, das ohne weiteres das notwendige Maß an nationaler Solidarität aktiviert. Die militärischen Reaktionen reflektieren aber auch die ideologische Prägung der amerikanischen Außenpolitik und nicht zuletzt die geostrategisch-wirtschaftlichen Interessen der USA. Es bleibt abzuwarten, ob die gegenwärtige Politik in der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus wegen einer irgendwann eintretenden „imperialen Überlastung“ unverändert fortgesetzt werden kann. In der Bundesrepublik Deutschland hält man die zukunftsgerichtete Gestaltung der transatlantischen Partnerschaft im Bündnis (NATO) und die Pflege des engen und vertrauensvollen Verhältnisses zu den USA weiter für ein zentrales Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung will sich auf die aus ihrer Sicht neuen Risiken, die sich oftmals weit jenseits des „europäischen Stabilitätsraumes“ entwickeln, gemeinsam mit den USA einstellen und „Sicherheitsvorsorge“ auch mit militärischen Mitteln leisten. Die Frage bleibt aber, welchen objektiven Interessen mit dieser Politik gedient wird. Eine Antwort wäre dann besonders dringlich, wenn die Behauptung zuträfe, dass es das oberste Ziel der USA sei, die Ressourcen zu sichern, die für ihre ureigene Machtenfaltung unentbehrlich sind, und letztlich die geostrategische Beherrschung der Welt fortzusetzen. Die Bundeswehr würde dann weniger die Sicherheit Deutschlands am Hindukusch verteidigen, sondern nur Hilfsdienste bei der Ökonomisierung und Militarisierung der internationalen Politik – unter dem Etikett – der Terrorbekämpfung leisten.
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Die Debatte um den Terrorismusbegriff hat bis jetzt keinen verlässlichen analytischen Ausgangspunkt zur Bestimmung der faktischen Dimension des Problems geschaffen. Es finden semantische Verwirrspiele statt, in denen politische Akteure versuchen, durch die Besetzung bestimmter Begriffe ihre jeweilige Position zu verbessern, ohne dabei die relevanten Ökonomien und Strategien der Gewalt zu erkennen und zu beschreiben. Manche gesetzgeberischen Vorkehrungen gegen den Terrorismus haben zumindest in Deutschland gezeigt, dass die Attentäter jedenfalls einen Erfolg verbuchen können. Sie haben den Geist der Gesetze vergiftet und das Vertrauen in den Rechtsstaat verseucht. Die Sicherheitsorgane demokratischer Gemeinwesen sind verleitet worden, jenseits der Legalität zu operieren. Die Schaltzentralen westlicher Demokratien sind mental besetzt worden. Die Grundsätze, die gegen terroristische Angriffe zu verteidigen sind, wurden von denjenigen, die zu ihrem Schutze berufen sind, teilweise selbst verraten.1 Die vom Bundesminister des Innern und für Sport, Wolfgang Schäuble, empfohlene Schrift „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“ enthält keinen einzigen originellen sicherheitspolitischen oder staatsrechtlichen Gedanken; sie erschöpft sich in der Wiedergabe und polemischen Zuspitzung von Positionen, die insbesondere Schmitt, ein intellektueller Steigbügelhalter der Nationalsozialisten, schon vor vielen Jahrzehnten – wenn auch sehr viel eleganter und präziser – formuliert hatte. Die Auffassung von Schäuble, dass das zitierte Werk von Otto Depenheuer die „aktuelle“ Diskussion zur der Frage enthält, ob der Rechtsstaat Terrorabwehr auch mit Mitteln betreiben darf, die jenseits seiner (verfassungsrechtlichen) Grenzen liegen, ist beunruhigend, weil damit die freiheitlichen und demokratischen Fundamente der Bundesrepublik Deutschland in Gefahr gerieten. 1 Zur Frage, ob der Terrorismus den liberalen Verfassungsstaat gefährdet: Leutheusser-Schnarrenberger, S. 273 ff.
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Die Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz durch Depenheuer ist eine Schmähkritik ohne eigenständiges rechtwissenschaftliches Fundament. In der deutschen Staatsrechtswissenschaft sind im Übrigen diskursive Ansätze entstanden, die dazu führen könnten, dass selbst die von der verfassungsrechtlichen „Ewigkeitsgarantie“ geschützten Grundrechte in den Nebeln einer eschatologischen Phantasie verschwinden. Im Hinblick auf den Souveränitätsbegriff und den Schutzauftrag des Staates ist angesichts der modernen terroristischen Bedrohungen zudem eine akademische Zeitgeistverstärkung in Gang gekommen, die auf eine verfassungswidrige Entgrenzung exekutiver Befugnisse abzielt, dabei verfehlte historische Bezüge nutzt, keine überzeugenden Rechtsargumente vorträgt und sich einer Psychologie der Angst bedient. Von vermeintlich staatsrechtlich begründeten Positionen aus versuchen einige jüngere deutsche Professoren (wieder einmal) das Verhältnis zwischen dem einzelnen Grundrechtsträger und der Staatsgewalt im Sinne einer philosophisch-theologischen Ideologie der Aufopferung zu definieren und dabei den aus der Menschenwürde folgenden individuellen Achtungsanspruch nach Maßgabe etatistisch-utilitaristischer Beliebigkeit zu modifizieren und letztlich sogar abzuschaffen. Die These einer angeblich mangelnden Unterscheidbarkeit zwischen kriegerischen und terroristischen Angriffen begünstigt eine Militarisierung der Politik der inneren Sicherheit, die auf rechtsstaatliche Beschränkungen bei der polizeilichen Gefahrenabwehr und dem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz keine Rücksicht nimmt. Die Sicherung des Bestandes eines freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens darf aber auf keinen Fall unter den Bedingungen eines dauerhaften „Ausnahmezustandes“ erfolgen, in dem früher oder später immer wieder exekutive Exzesse stattfinden und in deren Verlauf die Menschenwürde auf dem Altar der Staatssicherheit geopfert wird.2 Auch bei Verhinderung und Verfol2 Es gibt Untersuchungen, die u. a. auf der These beruhen, dass gerade der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit
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gung terroristisch motivierter Akte sind alle einschlägigen verfassungsrechtlich-kompetenziellen Vorgaben und Grenzen zu beachten, da es andernfalls an der Schutzwürdigkeit eines Gemeinwesens fehlt, in dem seiner politischen Führung erlaubt ist, Selbstlegitimierungsstrategien von Machtcliquen unter missbräuchlicher Berufung auf das Gemeinwohl zu betreiben und in (staats-)kriminell-gewalttätiger Weise die Grundrechte unschuldiger Dritter innerhalb und außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu missachten. Akzeptiert man schließlich die „Freund-Feind-Unterscheidung“ als Kernelement des Politischen, werden die Chancen für die Vielzahl notwendiger globaler und rationaler Formen des Interessensausgleichs minimiert, die auch und gerade im Hinblick auf eine wirksamere Verhinderung und Verfolgung terroristischer Angriffe unverzichtbar sind.
immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht. Als man früher versucht hatte, diesem Unlokalisierbaren eine dauerhafte sichtbare Lokalisierung zu verleihen, kam das Konzentrationslager heraus. Zutreffend: Agamben (Homo sacer), S. 30.
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