Recht und Gerechtigkeit: Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa 9783412506506, 9783412505486


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Recht und Gerechtigkeit: Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa
 9783412506506, 9783412505486

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Europäische Diktaturen und ihre Überwindung Schriften der Stiftung Ettersberg Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Volkhard Knigge Christiane Kuller in Verbindung mit Karl Schmitt Peter Maser Rainer Eckert Robert Traba

Recht und Gerechtigkeit Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa

Herausgegeben von Jörg Ganzenmüller Redaktion Manuel Leppert, Katharina Schwinde

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert durch die Thüringer Staatskanzlei

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Euthanasie-Prozess vor dem Schwurgericht in München 1949 © dpa – Bildarchiv

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Anja Borkam, Jena Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50548-6

Für Frau Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Jutta Limbach (1934 – 2016)

Inhalt

Einführung   Jörg Ganzenmüller Der Rechtsstaat und die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen. Ein Problemaufriss  . . ...................................................................................................  11 Jutta Limbach Mög­lichkeiten und Grenzen des Rechtsstaats bei der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheiten  ...........................................................................  23

Die strafrecht­liche Verfolgung na­tionalsozialistischer Verbrechen in Deutschland   Clemens Vollnhals Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen durch alliierte und deutsche Gerichte in der Bundesrepublik und der DDR. Ein Überblick von 1945 bis 2015  ...........................................................................  33 Tobias Freimüller Erlösung oder Mord? Die strafrecht­liche Verfolgung na­tionalsozialistischer Medizinverbrechen in der Bundesrepublik  ..........  55 Martin Kiechle Ein »unseren gesellschaft­lichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis«. Das Ministerium für Staatssicherheit und die »Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda  .. .............................................  71

Die strafrecht­liche Verfolgung von Verbrechen der SED-Diktatur 



Gerhard Werle  ·  Moritz Vormbaum Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Ein Überblick  ...........  93 Gerhard Sälter Der Rechtsstaat und das Grenzregime der DDR. Die strafrecht­liche Verfolgung der Grenzdelikte in der Bundesrepublik  .....................................  115

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Katharina Lenski Im Schweigekreis. Der Tod von Matthias Domaschk ­zwischen strafrecht­licher Aufarbeitung und offenen Fragen  . . .......................................  131

Die strafrecht­liche Verfolgung von Verbrechen kommunistischer Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 



Joachim von Puttkamer Enttäuschte Erwartungen. Die strafrecht­liche Aufarbeitung kommunistischer Diktatur in Polen  .....................................................................  173 Stefan Troebst Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch. Zum Umgang mit den Akten der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrecht­lichen Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen  ....................................................................  195 Julie Trappe Staatsgestütztes Unrecht und strafrecht­liche Aufarbeitung in Rumänien  ................................................................................................................................................. 211

Die strafrecht­liche Verfolgung von Diktaturverbrechen in Südeuropa 



Ulrike Capdepón Von Nürnberg nach Madrid? Transna­tionale Vergangenheitspolitik und universelle Gerichtsbarkeit – Zur juristischen Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur  ...........................................................................................  231 Adamantios Theodor Skordos Die Juntadiktatur der Jahre 1967 – 1974 in der Vergangenheitspolitik Griechenlands  ....................................................  253 Dokumenta­tion der Abschlussdiskussion des 14. Interna­tionalen Symposiums. Praktische Probleme bei der strafrecht­lichen Ahndung von Diktaturverbrechen  ..........................................................................................  275 Autorinnen und Autoren  .........................................................................................  299 Abbildungsverzeichnis  .. ...........................................................................................  306 Personenregister  ........................................................................................................  307

Jörg Ganzenmüller

Der Rechtsstaat und die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen Ein Problemaufriss

Bärbel Bohley hat ihre Enttäuschung über die Aufarbeitung von Diktaturverbrechen im vereinten Deutschland in einem Satz zum Ausdruck gebracht: »Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.« 1 Der Wunsch, dass die in einer Diktatur verübten Untaten geahndet und Täter zur Rechenschaft gezogen werden, ist ein zutiefst menschliches Verlangen. Insofern ist die Bürgerrechtlerin bei weitem nicht die Einzige, die von den Mög­lichkeiten des bundesdeutschen Strafrechts bei der Ahndung von SED-Unrecht enttäuscht war.2 Der Rechtsstaat strebt zwar Gerechtigkeit an, aber er kann sie nicht gewährleisten. Er spricht Recht nach formalen Kriterien und Regeln.3 Genau darin liegen Stärke und Schwäche des Rechtsstaates zugleich: Er schützt uns vor Willkür, indem er sich durch sein Normen- und Regelgefüge selbst beschränkt. Im Gegenzug muss er Taten ungesühnt lassen, wenn diese nicht innerhalb des selbstauferlegten Normen­gerüsts bestraft werden können. Gerade weil der Rechtsstaat primär auf die Sicherung der Freiheit seiner Bürger zielt, räumt er der Rechtssicherheit einen Vorrang vor der Herstellung von Gerechtigkeit ein. Ernst-­Wolfgang Böckenförde hat deshalb überzogene Erwartungen zurückgewiesen und betont: »Der Rechtsstaat ist kein Gerechtigkeitsstaat.« 4

1 Zu ­diesem geflügelten Wort und seiner Überlieferung siehe Konrad Löw: »Gerechtigkeit haben wir erwartet, den Rechtsstaat bekommen« (Bärbel Bohley). In: ders. (Hrsg.): Zehn Jahre deutsche Einheit. Berlin 2001, S. 25 – 38, hier S. 25. 2 Hans-­Joachim Jentsch: Der Rechtsstaat – von vielen ersehnt, von wenigen angenommen. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 28 (1995), S. 9 – 13. 3 Michael Stolleis: Der Historiker als Richter – der Richter als Historiker. In: Norbert Frei/Dirk van Laak/Michael Stolleis (Hrsg.): Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000, S. 173 – 182, hier S. 181. 4 Ernst-­Wolfgang Böckenförde: Rechtsstaat oder Unrechtsstaat? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Mai 2015. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/war-­ die-­ddr-­ein-­unrechtsstaat-13587574.html, letzter Zugriff: 29. 08. 2016.

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Beim Übergang von einer Diktatur zur Demokratie ist der Umgang mit den Tätern des alten Regimes ein erster Test für die neue Herrschaft des Rechts.5 Autori­ täre und diktatorische Regime installieren eine politische Justiz zur »Säuberung« der Gesellschaft von alten Eliten und politischen Gegnern. Ein Rechtsstaat kann hingegen seine rechtsstaat­lichen Prinzipien nicht über Bord werfen, wenn er Rechtsstaat bleiben will. Somit stellt sich die Frage, vor ­welchen Problemen der Rechtsstaat bei der strafrecht­lichen Ahndung von Diktaturverbrechen steht und ­welche Lösungen euro­päische Transforma­tionsgesellschaften in der Vergangenheit darauf gefunden haben. Ein zentrales Prinzip des Rechtsstaats lautet: nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz. Ein Verbrechen darf also nur angeklagt werden, wenn der Straftatbestand zum Zeitpunkt der Tat bereits als solcher formuliert war. So sehr ­dieses Prinzip den Bürger vor staat­licher Willkür schützt, so hinder­lich ist es bei der Ahndung von Diktaturverbrechen. Es wirft das Problem auf, dass Täter streng genommen nach den in der Diktatur gültigen Gesetzen und nicht nach dem Recht der postdiktatorischen Gesellschaften gerichtet werden müssen. Vor ­diesem Problem standen auch die Alliierten bei den Nürnberger Prozessen, die vor siebzig Jahren ihren Anfang nahmen: Wie konnte man die deutschen Hauptkriegsverbrecher verurteilen, ohne dafür na­tionalsozialistisches Recht anzuwenden? Man fand eine Lösung, die bis heute die strafrecht­liche Verfolgung von Diktaturverbrechen prägt: Man führte die Menschenrechte als überzeit­lichen und weltweiten Bezugspunkt der Rechtsprechung ein. Die im August 1945 von den Alliierten unterzeichnete Londoner Charta, w ­ elche zur Grundlage des Interna­ tionalen Militärgerichtshofs in Nürnberg wurde und als Geburtsurkunde des Völkerstrafrechts gilt, führte drei Anklagepunkte auf: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.6 Seitdem verhandeln Interna­tionale Gerichtshöfe über Kriegsverbrechen und berufen sich dabei auf interna­tionales Recht sowie auf allgemeine Werte und Normen. Bei der strafrecht­lichen Aufarbeitung von Diktaturverbrechen gegen die eigene Bevölkerung sind hingegen na­tionale Gerichte gefragt, die in der Regel auf das zur Tatzeit gültige na­tionale Recht zurückgreifen.

5 Neil J. Kitz: The Dilemmas of Transi­tional Justice. In: ders. (Hrsg.): Transi­tional Justice. Washington 1995, S. XXI. 6 Vgl. Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse. München 2006, S. 22 f.; Reinhard Merkel: Das Recht des Nürnberger Prozesses. Gültiges, Fragwürdiges, Überholtes. In: ­Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg.): Von Nürnberg nach Den Haag. Menschenrechtsverbrechen vor Gericht. Hamburg 1996, S. 68 – 92, hier 80 ff.

Der Rechtsstaat und die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen  |

Auch eine na­tionale Rechtsprechung hat allerdings die Mög­lichkeit, das Rückwirkungsverbot durch einen Bezug auf ein allgemeingültiges Wertegerüst einzugrenzen. 1946 hat der deutsche Rechtsphilosoph Gustav Radbruch nach einer Lösung des Konflikts z­ wischen positivem Recht und materieller Gerechtigkeit gesucht und folgenden Ausweg gewiesen: Der Konflikt z­ wischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhalt­lich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträg­liches Maß erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmög­lich, eine schärfere Linie zu ziehen ­zwischen den Fällen des gesetz­lichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges‹ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.7

Diese Radbruch’sche Formel hatte großen Einfluss auf die deutsche Rechtsprechung.8 Fritz Bauer folgte ihr, indem er die na­tionalsozialistische Herrschaft konsequent als »Unrechtsstaat« definierte und eine Berufung auf dessen Gesetze somit als grundsätz­lich illegitim erklärte.9 Und bei der Verhandlung von SED -Unrecht beriefen sich bundesdeutsche Gerichte im Fall von Tötungsdelikten erneut auf Radbruch, um trotz des Rückwirkungsverbots schwere Menschenrechtsverletzungen ahnden zu können.10

7 Gustav Radbruch: Gesetz­liches Unrecht und übergesetz­liches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), S. 105 – 108, hier S. 107. 8 Siehe dazu Giuliano Vassalli: Radbruchsche Formel und Strafrecht. Zur Bestrafung der »Staatsverbrechen« im postnazistischen und postkommunistischen Deutschland. Berlin/New York 2010. 9 Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903 – 1968. Eine Biographie. München 2009, S. 273 f. 10 Siehe dazu die Beiträge von Gerhard Werle und Moritz Vormbaum sowie von Gerhard Sälter in d ­ iesem Band. Grundlegend dazu außerdem: Gerhard Werle: Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität. In: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001), S. 3001 – 3008; Klaus Marxen: Die strafrecht­liche Aufarbeitung des SED-Unrechts. Eine Bilanz. In: Andreas H. Apelt/Robert Grünbaum/Martin Gutzeit (Hrsg.): Von der SED-Diktatur zum Rechtsstaat. Der Umgang mit Recht und Justiz in der SBZ/DDR. Berlin 2012, S. 86 – 92, hier S. 88.

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Dem Rechtsstaat steht bei der Ahndung von Diktaturverbrechen als Instrumentarium das Strafrecht zur Verfügung. Mit dessen Hilfe lässt sich allerdings nur individuelle Schuld feststellen und nur Einzelpersonen können verurteilt sowie bestraft werden. Dabei gilt das rechtsstaat­liche Prinzip der Unschuldsvermutung: Für eine Verurteilung müssen ausreichend Beweise vorliegen, um die Täterschaft zweifelsfrei feststellen zu können. Bei Diktaturverbrechen stellt sich nicht nur das Problem, dass es häufig keine Zeugen gibt und die Spuren durch die Täter längst verwischt wurden. Eine besondere Schwierigkeit bei der Anwendung des Strafrechts besteht darin, bei komplexen Macht- und Verantwort­lichkeitsstrukturen die Schuld des Einzelnen nachweisen zu müssen. Die Täter wiederum berufen sich auf Befehlsnotstand oder leugnen eine individuelle Verantwortung, da Diktaturverbrechen häufig von staat­lichen Autoritäten angeordnet und von staat­lichen Bürokratien arbeitsteilig ausgeführt werden. Auch hier war Fritz Bauer ein Pionier der Rechtsinterpreta­tion. Er argumentierte, dass in Auschwitz ein arbeitsteilig begangenes Mordgeschehen stattgefunden habe und alle SS -Leute, die in Auschwitz Dienst taten, daran beteiligt waren. Wenn man im Nachhinein den großen Apparat ausblende und jedes Zahnrädchen, das daran beteiligt war, isoliert betrachte, dann verkenne man, was Auschwitz eigent­lich gewesen sei.11 In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik folgten die Gerichte dieser Argumenta­tion in der Regel nicht und hielten an der Vorstellung einer individuellen Tat fest, wodurch hochbelastete Täter oft straffrei ausgingen. Dies war keineswegs alternativlos. Unmittelbar nach Kriegsende waren deutsche Gerichte den Argumenten der Verteidigung noch nicht gefolgt, wenn die Angeklagten sich auf Verbotsirrtum oder Pflichtenkollision beriefen. Die Gerichte begründeten ihre Urteile damit, dass die Taten gegen allgemeine Sittengesetze verstießen.12 Recht­lich war eine Verurteilung also durchaus mög­ lich, doch herrschte seit den frühen 1950er Jahren ein gesellschaft­liches Klima der Exkulpa­tion, das die Täter bei der Rechtsprechung begünstigte. Erst in jüngster Zeit knüpfen deutsche Gerichte an die Argumenta­tion Fritz Bauers an. Den Dienst John Demjanjuks in Treblinka oder Oskar Grönings in Auschwitz werteten sie bereits als hinreichenden Beweis für eine Tatbeteiligung. Wenn der politische Wille vorhanden ist, kann man also durchaus argumentative Strukturen finden, um den Weg für eine Strafverfolgung zu öffnen.13 Doch die Gerichte haben bei der Verfolgung von Diktaturverbrechen mit strukturellen Nachteilen zu kämpfen. Sie bekommen überhaupt nur einen Bruchteil der Täter 11 Wojak: Fritz Bauer (wie Anm. 9), S. 341. 12 Siehe die Beiträge von Clemens Vollnhals und Tobias Freimüller in ­diesem Band. 13 Dies betont auch Julie Trappe in ihrem Beitrag zu ­diesem Band.

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zu Gesicht, die Taten sind häufig verjährt oder aufgrund des zeit­lichen Abstandes nur noch bruchstückhaft rekonstruierbar. Zudem werden die Gerichte selbst allzu oft als Siegerjustiz diffamiert.14 Die Strafverfolgungsbehörden wiederum müssen ihre Anklagen nicht zuletzt auf die Überlieferung des untergegangenen Regimes stützen, was voraussetzt, dass relevante Akten vorhanden und zugäng­lich sind. Diese Prämisse ist in der Regel allenfalls partiell gegeben, da staat­liche Unterdrückungsapparate im Zuge eines Regimewechsels ihre Hinterlassenschaften zu beseitigen suchen. In Polen hatte der Staatssicherheitsdienst seit Sommer 1989 seine operativen Akten in großem Stil vernichtet, ehe dies im Januar 1990 unterbunden wurde.15 Auch in der DDR hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nach dem Mauerfall damit begonnen, Akten zu verbrennen, zu schreddern und zu verkollern. Dem wurde erst durch das Besetzen der Stasi-­Zentralen Einhalt geboten, ein Prozess, der am 4. Dezember 1989 in Erfurt ihren Ausgang nahm und bald das ganze Land erfasste.16 Sofern Akten zur Verfügung stehen, müssen diese wiederum in ihrem Entstehungskontext gelesen und verstanden werden. Im Fall von Matthias Domaschk erkannte die Staatsanwaltschaft nicht, dass eine MfS-Akte als geheimdienst­liche Akte und nicht als reguläre Todesermittlungsakte zu verwenden ist. Sie folgte letzt­ lich der dortigen Darstellung des Sachverhalts und ging damit der Deckerzählung der Staatssicherheit auf den Leim.17 Eine strafrecht­liche Aufarbeitung setzt also voraus, dass die Justiz in der Lage ist, historische Dokumente einzuordnen und quellenkritisch zu lesen. Dies bedarf spezieller Kompetenzen und rechtfertigt die Einrichtung von besonderen Behörden wie der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg, die 1958 zur systematischen Ermittlung von NS-Verbrechen gegründet wurde, oder des Instituts für Na­tionales Gedenken in Polen, das 1998 geschaffen wurde und nicht nur die Akten der Staatssicherheit aufbewahrt, sondern auch über eigene Ermittlungsbefugnisse verfügt.18

14 Stolleis: Der Historiker als Richter (wie Anm. 3), S. 181. 15 Siehe den Beitrag von Joachim von Puttkamer in ­diesem Band. 16 Hans-­Joachim Veen/Peter Wurschi (Hrsg.): »Es lag was in der Luft …«: Die Besetzung der Bezirksverwaltungen des MfS/AfNS in Erfurt, Suhl und Gera. Weimar 2014. 17 Siehe den Beitrag von Katharina Lenski in ­diesem Band. 18 Zur Zentralen Stelle siehe Annette Weinke: Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958 – 2008. Darmstadt 2008; – Zum IPN (poln.: Instytut Pamięci Narodowej – dt.: Institut für Na­tionales Gedenken) siehe Tina de Vries: Die recht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Polen. In: Friedrich-­ Christian Schroeder/Herbert Küpper (Hrsg.): Die recht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Osteuropa. Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 127 – 156, hier S. 154 ff.

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Ein ganz anderes Problem stellt die Elitenkontinuität dar, die in der Justiz aufgrund des hochspezialisierten Fachwissens in Systemtransforma­tionen tradi­tionell sehr hoch ist. Man kann wohl behaupten, dass im Falle einer weitgehenden Elitenkontinuität – wie in Rumänien nach 1989 oder in Deutschland nach 1945 – die strafrecht­liche Verfolgung von Diktaturverbrechen nur sehr zöger­lich stattfindet und bei einer vollständigen Elitenkontinuität – wie in Spanien nach dem Tode Francos oder in Bulgarien nach 1989 – diese sogar ganz ausbleibt.19 Dieser Befund gilt auch für Russland, wo ebenso keine strafrecht­liche Aufarbeitung stattfand, ja noch nicht einmal recht­liche Probleme wie zum Beispiel das Rückwirkungsverbot diskutiert wurden.20 Nur der KPdSU wurde als Partei der Prozess gemacht mit dem politischen Ziel, diese zu verbieten.21 Unter diesen Bedingungen ist die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturverbrechen ein Projekt von Einzelkämpfern, die für ihre Tätigkeit häufig angefeindet und ausgegrenzt werden. Der bereits erwähnte Fritz Bauer ist ein bewundernswertes Beispiel für den unbeirrten Einsatz, NS-Täter strafrecht­lich zu belangen. In Spanien bemühte sich Baltasar Garzón als Ermittlungsrichter um eine strafrecht­liche Verfolgung von Verbrechen der Franco-­Diktatur, wurde jedoch ausgebremst.22 Und selbst in der DDR konnte Engagement im Sinne des staat­ lichen Antifaschismus ins Leere laufen. So sammelte Peter Plötner, Mitarbeiter des MfS, Material für ein Verfahren gegen die in Stadtroda für Patientenmorde verantwort­lichen Ärzte. Die Ost-­Berliner Zentrale verhinderte jedoch, dass es

19 Zu den beiden deutschen Staaten siehe Annette Weinke: Die Verfolgung von NS -Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949 – 1969, oder: Eine deutsch-­ deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg. Paderborn u. a. 2002; zu Rumänien siehe den Beitrag von Julie Trappe in ­diesem Band sowie dies.: Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit. Eine Untersuchung aus strafrecht­licher Perspektive, Göttingen 2009, S. 222 – 242; zu Spanien siehe den Beitrag von Ulrike Capdepón in ­diesem Band sowie dies.: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile. Bielefeld 2015, S. 103 – 126; zu Bulgarien siehe den Beitrag von Stefan Troebst in ­diesem Band. 20 Antje Himmelreich: Die recht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in der Rus­sischen Födera­tion. In: Friedrich-­Christian Schroeder/Herbert Küpper (Hrsg.): Die recht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Osteuropa (wie Anm. 18), S. 187 – 230, hier S. 214 ff. 21 Elke Fein: Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem rus­sischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung – Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transforma­tion. Würzburg 2007. 22 Siehe den Beitrag von Ulrike Capdepón in d­ iesem Band sowie dies.: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Bürgerkrieges (wie Anm. 19), S. 284 – 313.

Der Rechtsstaat und die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen  |

zu einer Anklage kam, da auch eine »Verdiente Ärztin des Volkes« und Leiterin einer Klinik in den Fokus seiner Ermittlungen geraten war.23 Welche Wege gibt es, um derartige Unvereinbarkeiten von Recht und Gerechtigkeit zu überwinden? Eine Mög­lichkeit setzt bei einem anderen Verständnis von Gerechtigkeit an. Eine Aufarbeitung von Diktaturen mit Hilfe des Strafrechts versteht Gerechtigkeit stets im strafenden Sinne: Schuld soll durch Bestrafung ausgeg­lichen werden. Gerechtigkeit kann allerdings auch im wiederherstellenden Sinne verstanden werden. Gerechtigkeit hat dann das Ziel, ­soziale Beziehungen wiederherzustellen, um ein fried­liches Miteinander zu ermög­lichen.24 Diesen Ansatz verfolgen Wahrheitskommissionen, die besonders in Afrika und Lateinamerika ein wichtiges Instrument der transi­tional justice bilden. Hier geht es darum, dass Täter und Opfer zunächst ihre jeweilige Sichtweise anerkennen, um sich dann auf eine gemeinsame Wahrheit zu einigen.25 In Europa wurde der Notwendigkeit, die sozialen Beziehungen in postdiktatorischen Gesellschaften wiederherzustellen, nicht mit Hilfe von Wahrheitskommissionen Rechnung getragen. Stattdessen baute man unter dem Verdikt des gesellschaft­lichen Friedens auf weitreichende Amnestien. In der Bundesrepublik wurde etwa im Zuge der Straffreiheitsgesetze von 1949 und 1954 das Gros der NS -Täter amnestiert.26 In Spanien war eine umfassende Amnestie Bestandteil der Systemtransforma­tion, mit der Folge, dass die Wunden der Opfer und ihrer Angehörigen bis heute nicht geheilt sind und der lange verdeckte gesellschaft­liche Konflikt auch Jahrzehnte ­später noch schwelt und regelmäßig ausbricht.27 Auch in Polen, wo man sich für eine Teilamnestie in Form der Halbierung aller – auch künftig festgelegter – Strafen entschieden hat, hat dies nicht zur Befriedung der Gesellschaft beigetragen, sondern vielmehr den Prozess der Demokratisierung in Misskredit gebracht.28 23 Siehe den Beitrag von Martin Kiechle in ­diesem Band. – Zum Umgang mit NS-Tätern in der DDR siehe grundlegend Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 2005. 24 Susanne Buckley-­Zistel/Anika Oettler: Was bedeutet: Transi­tional Justice? In: Susanne Buckley-­Zistel/Thomas Kater (Hrsg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Der schwierige Umgang mit der Vergangenheit. Frankfurt a. M. 2011, S. 21 – 38, hier S. 30. 25 Anne K. Krüger: Wahrheitskommissionen. Die globale Verbreitung eines kulturellen Modells. Frankfurt a. M. 2014; Christoph Marx (Hrsg.): Bilder nach dem Sturm. Wahrheitskommissionen und historische Identitätsstiftung ­zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Berlin 2007. 26 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 22003, S. 29 – 53 und 100 – 131. 27 Siehe den Beitrag von Ulrike Capdepón in d­ iesem Band sowie dies.: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges (wie Anm. 19), S. 116 – 119. 28 Siehe den Beitrag von Joachim von Puttkamer in ­diesem Band.

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Bärbel Bohleys Gerechtigkeitsverständnis war offensicht­lich entlang von Schuld und Strafe ausgerichtet. Doch das Lokalisieren und Konstatieren von Schuld steht dem sozialen Frieden in einer postdiktatorischen Gesellschaft nicht grundsätz­lich im Wege. Im Gegenteil: Gerade für die Opfer ist die sichtbare Anerkennung von Schuld von Seiten der Täter eine wichtige Voraussetzung für die Integra­tion in eine Gesellschaft, in der auch Täter integriert sein wollen. Der Rechtsstaat bietet durchaus Mög­lichkeiten, das strafende sowie das wiederherstellende Verständnis von Gerechtigkeit miteinander in Einklang zu bringen. So zielt eine öffent­liche Gerichtsverhandlung darauf ab, die Wahrheit herauszufinden und Schuld zu benennen, und eine Verurteilung der Täter fördert das Gerechtigkeitsempfinden der Opfer. Milde Strafen, wie beispielsweise Bewährungsstrafen für die »Mauerschützen«, fördern wiederum den sozialen Frieden durch den Verzicht auf eine harsche Ausgrenzung der Täter. Inwieweit die Herstellung von Gerechtigkeit in d­ iesem doppelten Sinne gelingt, hängt ganz wesent­lich von den gesellschaft­lichen Erwartungen an eine juristische Aufarbeitung von Diktaturverbrechen ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Erwartungen der Alliierten hoch, die Hauptverantwort­lichen zu verurteilen und die deutsche Gesellschaft mit ihren Taten zu konfrontieren. Auch wenn deutsche Gerichte in den ersten Nachkriegsjahren umfangreiche Ermittlungen anstellten, so blieb die Strafverfolgung von NS-Tätern in der westdeutschen Öffent­lichkeit unbeliebt.29 Die Strafverfolgung ebbte in beiden deutschen Staaten unmittelbar nach ihrer jeweiligen Gründung schlagartig ab: In der Bundesrepublik verfestigte sich die reflexhafte Verdrängung der Verbrechen und der eigenen Mitverantwortung, in der DDR hielt man durch die sozialistische Gesellschaftsordnung den »Faschismus« für überwunden und somit für eine Vergangenheit, die auch nicht wiederkehren werde. Der Wunsch nach einem Schlussstrich war in beiden deutschen Staaten groß, wenn er auch politisch jeweils anders begründet wurde.30 Das Beispiel der Bundesrepublik zeigt aber auch, dass selbst eine unbefriedigende Strafverfolgung der Impuls für eine gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit Diktaturverbrechen sein kann. So trug die mediale Berichterstattung über die Prozesse der 1960er Jahre ganz entscheidend zum Bewusstsein bei, dass eine intensive Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit vonnöten sei.31 Und in Spanien trat

29 Edith Rein: NS-Prozesse und Öffent­lichkeit. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz in den west­lichen Besatzungszonen 1945 – 1949. In: Jörg Osterloh/ Clemens Vollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. Göttingen 2011, S. 33 – 51. 30 Siehe den Beitrag von Clemens Vollnhals in ­diesem Band. 31 Weinke: Verfolgung von NS-Tätern (wie Anm. 19), S. 340 f.

Der Rechtsstaat und die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen  |

eine zivilgesellschaft­liche Basisbewegung die Suche nach den Verschwundenen des Bürgerkrieges los und regte damit eine gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur an, die bis heute anhält.32 Nach dem Ende des Staatssozialismus war die gesellschaft­liche Erwartung an eine strafrecht­liche Aufarbeitung allgemein groß. Dies hatte mehrere Gründe. Die Opfer staat­licher Verbrechen stammten – anders als im Na­tionalsozialismus – überwiegend aus der gleichen Gesellschaft wie die Täter. Und die Revolu­tionen von 1989/90 hatten die Machtverhältnisse spürbar verändert, vielerorts saßen ehemalige Verfolgte und Regimegegner nun in einflussreichen Posi­tionen. Besonders deut­lich wird dies am polnischen Beispiel. Dort hatte es bereits in den 1980er Jahren Prozesse wegen politisch motivierter Morde und Todesfälle gegeben, die unter den Bedingungen des Staatssozialismus allerdings wenig zur Aufklärung der Sachverhalte beigetragen und zu völlig unbefriedigenden Urteilen geführt hatten. Nach 1989 glaubten viele, unter neuen politischen Vorzeichen ließen sich die bisherigen Vertuschungen aufdecken und die skandalösen Urteile durch eine gerechte Rechtsprechung ablösen. Als der Rechtsstaat auch hier an seine Grenzen stieß und bei weitem nicht jene Urteile sprechen konnte, die vielfach erwartet worden waren, wurde dies nicht als juristisches Problem, sondern als politische Verschwörung gedeutet. Die Na­tionalkonservativen warfen den Akteuren des Systemumbruchs vor, sie hätten die Machtübergabe durch eine Amnestie der bis 1989 herrschenden Klasse erkauft und die »Dritte Republik« auf einem mora­ lischen Sumpf errichtet.33 Der Fall von Matthias Domaschk zeigt wiederum, dass auch hierzulande die Erwartungen bis heute hoch sind, im Zuge eines strafrecht­ lichen Verfahrens die Wahrheit über einen Tathergang, der von den staat­lichen Organen der DDR systematisch vertuscht und verschleiert wurde, zu erfahren und zugleich durch eine Verurteilung der Täter Gerechtigkeit zu erlangen.34 Griechenland ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Fall. Hier gelang es, ein Verfahren gegen die Führungsspitze der griechischen Junta einzuleiten und die Angeklagten zu verurteilen, da diese über eine gescheiterte Interven­tion in Zypern gestürzt worden waren und somit innerhalb der politischen Elite als diskreditiert galten. Weite Teile der Gesellschaft distanzierten sich von den O ­ bristen und pflegten fortan die exkulpierende Meistererzählung vom »Widerstand des griechischen Volkes«, den es in dieser Form gar nicht gegeben hatte.35 Eine ­derartige 32 Capdepón: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkriegs (wie Anm. 19), S. 233 – 313. 33 Siehe den Beitrag von Joachim von Puttkamer in ­diesem Band. 34 Siehe den Beitrag von Katharina Lenski in ­diesem Band. 35 Siehe den Beitrag von Adamantios Theodor Skordos in ­diesem Band.

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strikte Trennung von Regime und Bevölkerung war jedoch eine wichtige Voraussetzung für eine strafrecht­liche Verfolgung der Hauptverantwort­lichen: Dies lässt sich auch in den ersten Jahren im Nachkriegsdeutschland beobachten, als sich viele Deutsche als Opfer des Krieges und der dafür Verantwort­lichen sahen, ehe in den 1950er Jahren die gesellschaft­liche Solidarität mit den Tätern ein Übergewicht gewann.36 Teile der griechischen Gesellschaft empfanden die Bestrafung der Obristen allerdings als zu glimpflich. Wie bei der Ahndung des SED-Unrechts hat man in Griechenland mit Hilfe des Strafrechts einige herausgehobene Akteure vor Gericht gestellt und verurteilt, aber bei den Strafen in den meisten Fällen Milde walten lassen. Zu einer echten Befriedung der Gesellschaft trug dies nicht bei: In Griechenland richtete sich der Terrorismus der 1970er Jahre zunächst gegen straffrei ausgegangene »Folterknechte« der Militärdiktatur.37 Und im Osten Deutschlands herrscht bei Betroffenen nach wie vor große Unzufriedenheit über nie angestrengte oder im Sande verlaufene strafrecht­liche Verfahren gegen Verantwort­liche jenseits der Staatsspitze.38 Der vorliegende Band versammelt die Beiträge des 14. Interna­tionalen Symposiums der Stiftung Ettersberg, das am 6. und 7. November 2015 in Weimar stattfand.39 Er nimmt die strafrecht­liche Aufarbeitung unterschied­licher euro­päischer Diktaturen in den Blick und beleuchtet infolgedessen auch ganz unterschied­liche Formen der strafrecht­lichen Aufarbeitung in den jeweiligen Nachfolgegesellschaften. Im Zentrum steht dabei die Frage, auf ­welche Weise die postdiktatorischen Gesellschaften mit den Herausforderungen einer rechtsstaat­lichen Strafverfolgung von Diktaturverbrechen umgegangen sind. Dabei wird Jutta Limbach im Anschluss an diese Einleitung die Mög­lichkeiten und Grenzen des Rechtsstaates bei der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheiten noch etwas genauer ausloten. Der erste Teil des Bandes ist der strafrecht­lichen Verfolgung von NS -Ver­ brechen gewidmet. Im Zentrum stehen die Patientenmorde in deutschen Kliniken, also Verbrechen, ­welche die Na­tionalsozialisten an der deutschen Bevölkerung verübten. Der Umstand, dass die Kriegsverbrechen im öst­lichen Europa und die 36 Siehe den Beitrag von Clemens Vollnhals in ­diesem Band. 37 Siehe den Beitrag von Adamantios Theodor Skordos in ­diesem Band. 38 Rainer Wagner: Die juristische Aufarbeitung des SED-Unrechts in der Wahrnehmung der Opfer. In: Apelt/Grünbaum/Gutzeit (Hrsg.): Von der SED-Diktatur zum Rechtsstaat (wie Anm. 10), S. 120 – 127. 39 Siehe den Konferenzbericht von Philipp Weigel. URL: http://www.hsozkult.de/searching/ id/tagungsberichte-6340?title=recht-­und-­gerechtigkeit-­die-­strafrecht­liche-­aufarbeitung-­von-­ diktaturen-­in-­europa&q=Philipp%20Weigel&fq=&sort=newestPublished&total=54&recno= 8&subType=fdkn, letzter Zugriff: 04. 11. 2016.

Der Rechtsstaat und die strafrecht­liche Aufarbeitung von Diktaturen  |

Ermordung der euro­päischen Juden hier unberücksichtigt bleiben, geschieht allein aus Gründen der Vergleichbarkeit. Der Band fragt gezielt nach dem Umgang mit Verbrechen, bei denen Täter und Opfer aus ein und derselben Gesellschaft stammen. Der zweite Teil behandelt die strafrecht­liche Verfolgung von SED-Unrecht seit dem Mauerfall. Wie im ersten Teil führt hier ein allgemeiner Überblick in das Thema ein, um anschließend ein konkretes Beispiel näher zu betrachten und schließ­lich einen regionalen Fall zu beleuchten. Sowohl die Tötung von Patienten in der Landesheilanstalt Stadtroda als auch der Tod von Matthias Domaschk in der Stasi-­Haftanstalt Gera wurden und werden in Thüringen kontrovers diskutiert, und diese Diskussionen sollen hier aufgegriffen werden. Der dritte Teil richtet seinen Blick ins öst­liche Europa und beleuchtet die strafrecht­liche Aufarbeitung in postsozialistischen Gesellschaften. Mit Polen, Bulgarien und Rumänien werden drei sehr unterschied­liche Wege der strafrecht­ lichen Aufarbeitung staatssozialistischer Diktaturen vorgestellt. Der vierte Teil behandelt die Aufarbeitung zweier südeuro­päischer Diktaturen. Spanien und Griechenland hatten unterschied­liche Diktaturerfahrungen und wählten in den 1970er Jahren auch jeweils einen anderen Weg der strafrecht­lichen Aufarbeitung, die hier näher erläutert werden. Der Band schließt mit dem Abdruck der Podiumsdiskussion, die am Ende des Symposiums die praktischen Probleme bei der strafrecht­lichen Verfolgung beleuchtete. Drei maßgeb­liche Akteure bei der Ahndung von SED-Unrecht und NS-Verbrechen berichten hier von handfesten Schwierigkeiten bei der Umsetzung von rechtsstaat­lichen Prinzipien und bilanzieren durchaus kritisch die strafrecht­ liche Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen. Während wir an der Endredak­tion ­dieses Bandes arbeiteten, ist Jutta Limbach verstorben. Wir haben Frau Limbach als eine kluge, engagierte, feinfühlige und humorvolle Persön­lichkeit kennengelernt. Das Symposium hat ungemein von den grundsätz­lichen Ausführungen in ihrem Eröffnungsvortrag sowie von den Schlussfolgerungen aus ihrer praktischen Arbeit, die sie auf dem Schlusspodium zog, profitiert. Die Nachricht von ihrem Tod traf uns völlig unerwartet, hatten wir Frau Limbach im vergangenen Herbst doch noch als vitale Gesprächspartnerin erlebt. Im Gedenken an eine herausragende Juristin und einen uns lieb gewordenen Menschen möchten wir ihr ­dieses Buch widmen.

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Jutta Limbach

Mög­lichkeiten und Grenzen des Rechtsstaats bei der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheiten

1. Enttäuschte Gerechtigkeitserwartungen Die Aufräumarbeit nach beiden deutschen Diktaturen stellt uns vor die Frage: Was leistet unser Strafrecht angesichts der politischen Verbrechen in jenen Zeiten? Der deutschen Justiz ist hinsicht­lich der Aufarbeitung beider Diktaturen der Vorwurf gemacht worden, versagt zu haben. Dass es nicht Sache der Gerichte sein kann, mit einer Diktatur, mit einer Epoche abzurechnen, weil die Strafjustiz das Politische nur begrenzt mit ihren Rechtsbegriffen einfangen kann, ist zuletzt vor allem von Bürgern der neuen Länder enttäuscht wahrgenommen worden. Der Begriff des Rechtsstaats ist nach Vollzug der deutschen Einheit so infla­ tionär zur Erklärung von Gerechtigkeitsdefiziten gebraucht worden, dass er fast zur leeren Phrase verkommen ist. Die humanitären Grenzen irdischer Gerechtigkeit im Falle Erich Honeckers haben schließ­lich Wut und Empörung ausgelöst. Ich habe in meiner Zeit als Berliner Justizsenatorin noch nie so viele Zuschriften mit Vorwürfen erhalten wie bei Honeckers Freilassung. So schrieb mir beispielsweise ein Bürger: Warum nur diese Gefühlsduselei um den Verbrecher Honecker? Hat Honecker diese Rücksichtnahme verdient? Wieviel »Rechtsstaat­lichkeit« hat er denn gegen seine DDR-Bürger geübt? Geben Sie sich nicht der Lächer­lichkeit preis […].1

Auch Politiker aus den neuen Ländern haben nicht weniger empört reagiert und der Bundesregierung den Vorwurf gemacht, dass sie von 1990 bis 1992 die Zeit verschlafen habe. Weil sich die Bundesregierung nicht die Mühe gemacht habe, ein recht­liches Instrumentarium gegen DDR-Regierungskriminalität zu schaffen, ­seien der Prozess gegen Honecker und die Hoffnung der vielen Opfer auf Gerechtigkeit zur Karikatur verkommen.2 Die Frage drängt sich auf, was eigent­lich das rechtsstaat­liche Instrumentarium eines Strafverfahrens ausmacht. 1 Brief eines Bürgers an Jutta Limbach, im Privatbesitz. 2 Siehe Arnold Vaatz in seinem Protestbrief bzgl. des Honecker-­Prozesses an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. In: Wochenpost, 21. Januar 1993, S. 2.

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2. Elemente des Rechtsstaats Seiner Herkunft nach war das Wort Rechtsstaat ein Kampfbegriff. Gegen den totalitären Staat gerichtet, sollte er auf den Entwurf eines Staatswesens hinweisen, in dem die Staatsmacht durch das Recht gezügelt wird. Heute dient der Begriff als Kürzel für eine Reihe von Aspekten, die zumeist in der Verfassung angelegt sind. Solche Elemente des Rechtsstaats sind die Gewähr von Grundrechten, das Prinzip der Gewaltenteilung, die Gesetzesbindung der Verwaltung, die Voraussehbarkeit staat­lichen Handelns und nicht zuletzt der Rechtsschutz bei Eingriffen der öffent­lichen Gewalt. Mit Bezug auf die Strafrechtspflege dient der Begriff des Rechtsstaats als Sammelbegriff für eine Reihe von Verfahrensprinzipien, insbesondere der Justizgrundrechte. Hierzu zählen das Verbot von Ausnahmegerichten, der Anspruch auf recht­liches Gehör, das Prinzip des nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) und die Unabhängigkeit des Gerichts. Hinzu kommen die im Grundgesetz nicht eigens erwähnte Unschuldsvermutung sowie die Verhältnismäßigkeit der Strafe.

3. Die Aufgabe des Strafrechts Die Suche nach der Wahrheit über historische und politische Verantwort­lichkeit ist vorrangig eine Aufgabe der Wissenschaft, die Auseinandersetzung mit den Folgen staat­lichen Gewaltmissbrauchs ein Geschäft der Politik. Auch die Justiz hat ihren Anteil an dem Bemühen, Schuld aufzuarbeiten und Verantwort­lichkeiten aufzudecken. Es ist jedoch nicht Aufgabe des Strafrechts, mit einer historischen Epoche oder einem politischen System abzurechnen. Das kann ein auf die konkrete Tat und die individuelle Schuld ausgerichtetes Strafrecht gar nicht leisten.3 Es geht in den Strafverfahren gegen die einstigen Machthaber der Diktaturen nicht um das Versagen einer Gesellschaftsordnung oder eines Staatswesens. Es geht um den Missbrauch der Regierungsgewalt durch die Mitglieder einer Staatsführung und ihrer Handlanger. Der Schuldvorwurf richtet sich gegen Menschen. Es steht kein Staat vor Gericht. Der Adressat des Strafgesetzbuchs ist die Person. Das üb­liche Einleitungspronomen der Straftatbestände ist das Wort »wer«. Hin und wieder ist auch von »jemand« die Rede. Nehmen wir als Beispiel den Mordparagrafen des Strafgesetzbuchs: 3 Siehe hierzu auch grundlegend Christian Starck in: Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaat­lichen Vergangenheit. In: Veröffent­lichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDDStRL) 51 (1991), S. 11 – 42.

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»Mörder ist, wer aus Mordlust […] oder sonst niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam […] einen Menschen tötet.« 4 Das Strafrecht, das einen Schuldvorwurf gegen Menschen begriff­lich fasst, ist weder dazu gedacht noch taugt es dazu, mit einem verbrecherischen Regime abzurechnen. Die Aufmerksamkeit der Strafgerichtsbarkeit gilt dagegen den individuellen Machthabern, Funk­tionären und Handlangern. Die das Augenmerk auf den Einzelnen gerichtete Perspektive ist gerade im Hinblick auf das häufig zu hörende Argument bedeutsam, dass man »nur als gleichsam mechanisches Glied« (»Rädchen im Getriebe«) in einem totalitären Herrschaftsapparat fungiert habe. Hannah Arendt hat diese Herrschaft des Niemand klas­sisch dargelegt.5 Doch ein Gewaltsystem wirkt weder selbsttätig, noch ist es eine One-­Man-­Show oder nur eine Gerontokratie. Treffend hat Henryk M. Broder darauf hingewiesen, dass ein System, dem sich die Mitläufer versagen, zusammenbricht, wie sehr sich auch die politische Elite darum bemüht, an der Macht zu bleiben. »Wie bei der Pyramidennummer im Zirkus kommt es auf die Leute ganz unten, an der Basis, an.« 6

4. Zweck der Strafe Es wäre jedoch ein Fehlschluss anzunehmen, dass Strafverfahren gegen Individuen bar jeder Informa­tion für die Öffent­lichkeit gewesen sind. Heribert Prantl bietet ein gutes Beispiel dafür auf, dass auch ein gegen einen Einzelnen gerichtetes Strafverfahren die Nachkriegsgesellschaft über die NS-Verbrechen aufgeklärt hat. Und zwar verweist er auf das Verfahren gegen den rechtsradikalen Generalmajor a. D. Otto Ernst Remer, den Gründer der Deutschen Reichspartei (die das Bundesverfassungsgericht übrigens im Jahr 1952 als verfassungswidrig aufgelöst hat). Dieses Strafverfahren hatte der damalige Generalstaatsanwalt in Braunschweig, Fritz Bauer, in Gang gesetzt, weil Remer die Widerständler des 20. Juli des Hochund Landesverrats beschuldigt hatte. Remer wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Das Strafverfahren stellte die Deutschen vor die Frage, wie die Täter des 20. Juli zu beurteilen ­seien: als Hochverräter oder als Widerständler? Fritz Bauer ließ diese Frage nicht unbeantwortet und beendete sein Plädoyer als Staatsanwalt mit den Worten, dass ein Unrechtsstaat wie das »Dritte Reich« überhaupt 4 § 211 Abs. 2 StGB. 5 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Leipzig 1990. 6 Henryk M. Broder: Erbarmen mit den Deutschen. Hamburg 1994, S. 46.

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nicht hochverratsfähig sei. Bauer hatte »Auschwitz vor Gericht« gebracht und in ­diesem Großverfahren eine besondere Aufklärungsarbeit geleistet.7

5. Ein Exkurs: Die ungesühnten »furchtbaren Juristen« Ein besonders dunkles Kapitel der strafrecht­lichen Aufarbeitung bietet die Tatsache, dass das Versagen der Justiz im »Dritten Reich« nicht angemessen aufgearbeitet worden ist. So ist nicht ein Richter oder ein Staatsanwalt, die im Volksgerichtshof agierten, zur Verantwortung gezogen worden. Versuche, diese »furchtbaren Juristen« zu bestrafen, sind zumeist am sogenannten Richterprivileg oder an der Beweisnot gescheitert. Ein Richter, der einen Menschen verurteilt hat, kann nur unter der Voraussetzung wegen Mordes, Totschlags oder Freiheitsberaubung bestraft werden, wenn er vorsätz­lich das Recht gebeugt hat. Diese Bestimmung des Strafrechts soll die richter­liche Unabhängigkeit ­schützen. Sie ist kein Standesprivileg, trotz des irreführenden Wortes Richterprivileg. Nur wenn ein Richter mit dem Erlass eines Todesurteils – das es heute nicht mehr gibt – oder einer Freiheitsstrafe wissent­ lich und willent­lich das Gesetz übertritt, entblößt er sich seiner Richterautorität und kann wegen Rechtsbeugung verurteilt werden. Erinnert sei in d ­ iesem Zusammenhang an die Denunziantenprozesse nach 1945: Der Volksgerichtshof hatte wegen »wehrkraftzersetzenden Äußerungen« Todesstrafen verhängt. Ein politischer Witz oder eine zersetzende Äußerung, die Hitler ein baldiges Ende voraussagte, wurde mit der Todesstrafe geahndet. Denunzianten, die durch ihre Zeugenaussage vor dem Volksgerichtshof ­solche Richtersprüche ausgelöst hatten, wurde in einem Urteil vom Bundesgerichtshof (also nach 1945) verkündet, dass der Missbrauch der Strafzumessung durch den Volksgerichtshof in ihrer übertriebenen Strenge willkür­lich gewesen sei, denn, so der Bundesgerichtshof im Originalton: Diese Art des Strafens überstieg jedes vernünftige Maß und überschritt die dem Tatrichter bei der Beurteilung der Straffrage gesetzten Grenzen so sehr, daß der Mißbrauch der Ermeßensfreiheit ohne weiteres erkennbar ist. Sie war zugleich rechtswidrig, weil sie […] allein darauf abzielte, durch übermäßige Strenge die politisch Andersdenkenden einzuschüchtern und damit die Herrschaft der damaligen Machthaber zu sichern.8 7 Heribert Prantl: Ein Erschütterer. In: Süddeutsche Zeitung, 23. 10. 2015. URL: http:// www.sueddeutsche.de /leben/historie-­ein-­erschuetterer-1.2702040, letzter Zugriff: 20. 07. 2016. 8 BGH St. 4, S. 66 ff., 70.

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Obwohl der Bundesgerichtshof die Auffassung vertrat, dass der Missbrauch der Strafzumessung ohne weiteres erkennbar gewesen sei, ist kein Richter des Volksgerichtshofs wegen eines solchen rechtswidrigen Todesurteils bestraft worden. Als man Ende der 1970er Jahre zu der Einsicht gelangte, dass der Volksgerichtshof gar kein unabhängiges Gericht, sondern – zumindest seit der Präsidentschaft Freislers – nur ein Instrument schlimmen Terrors gewesen war, waren viele Richter und Staatsanwälte bereits verstorben oder verhandlungsun­ fähig. Oder es war nicht mehr nachweisbar, dass der Richter für das Todesurteil gestimmt hatte. Im September 1986 stellte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin die strafrecht­lichen Ermittlungen endgültig ein, ohne dass auch nur ein Angehöriger des Volksgerichtshofs rechtskräftig verurteilt worden ist.9

6. Die Schüsse an der Mauer Nach ­diesem knappen Exkurs richtet sich der Fokus im Folgenden auf die Gewaltakte an der Mauer. Vor Gericht standen die Mitglieder des Na­tionalen Verteidigungsrats, darunter dessen Vorsitzender Egon Krenz, aber auch die Grenzsoldaten. Alle sind – von den Landgerichten bis hinauf zum Bundesgerichtshof – zu verschiedenen Freiheitsstrafen verurteilt worden, obwohl die Angeklagten sich darauf beriefen, dass die Schüsse an der Mauer zu Zeiten der DDR niemals bestraft worden waren. Muss daher nicht auch bedacht werden, dass die Handlanger des Systems im Einklang mit den Normvorstellungen ihres Staates gehandelt hatten? Hier hat man aus der Rechtsprechung zur Kriminalität der Mächtigen 10 der na­tionalsozialistischen Diktatur gelernt. Diese Art des Vorgehens bedeutet nicht, dass die Untaten des einen Regimes durch den Vergleich mit denen des anderen auf die g­ leiche Stufe gesetzt und mit den gleichen Maßstäben gemessen werden. Der staat­liche Gewaltmissbrauch in der DDR kann und darf nicht mit der Perversion des Rechts im Na­tionalsozialismus und der im Schatten ­dieses Unrechts arbeitenden Vernichtungsmaschinerie gleichgesetzt werden. Gleichwohl können

9 Zu den Ermittlungen des Landgerichts siehe Bernhard Jahntz/Volker Kähne: Der Volksgerichtshof. Darstellung der Ermittlungen bei dem Landgericht Berlin gegen ehemalige Richter und Staatsanwälte am Volksgerichtshof. Berlin 31992. 10 Als Kriminalität der Mächtigen wird ein herrschaftskritisches kriminolo­gisches Konzept bezeichnet. Dieses umfasst Straftaten, »die zur Stärkung oder Verteidigung überlegener Macht begangen werden«. Siehe Günther K ­ aiser: Kriminologie. Ein Lehrbuch. 3. völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. Heidelberg 1996, S. 437.

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die Eigentüm­lichkeiten im strafrecht­lichen Umgang mit dem Erbe beider Diktaturen kritisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. In der Tat war das NS -System ein totalitärer Herrschaftsapparat mit einer ­einzigartigen kriminellen Energie. Der Nazismus war – so treffend Eberhard Jäckel – im Wesent­lichen Rassismus, ja »niedrigste Unmenschlichkeit«. Das Kapital war ein ökonomisches Theoriegebilde, zwar nicht in jedem Punkte richtig. Aber Mein Kampf war nur ein »Leitfaden staat­licher Kriminalität«.11 Sämt­ liche Organe des na­tionalsozialistischen Herrschaftsapparats standen im Dienste einer menschenverachtenden Ideologie. Insbesondere die Konzentra­tionslager, die Gestapo und der Volksgerichtshof waren Einrichtungen und Instrumente schlimmen Terrors, die Millionen Menschen das Leben kosteten. Das Endziel der DDR war die klassenlose Gesellschaft, in der alle gesellschaft­ lichen Widersprüche beseitigt sein würden. Die Partei als Avantgarde des Proletariats verfügte bekannt­lich über die Fähigkeit, den Gang der Geschichte vorauszusehen. Sie nahm sich infolgedessen die Freiheit heraus, das Staatsvolk in seiner Meinungs- und Ausreisefreiheit zu beschränken. Der unerlaubte Grenzübertritt konnte die Gesundheit oder das Leben kosten. Doch dürfen die Unterschiede im Ausmaß und in der Brutalität der Verbrechen nicht dazu verleiten, unversehens unter die DDR-Vergangenheit einen Schlussstrich zu ziehen. Hier gilt die schlichte Einsicht von Ralph Giordano, dass ein scheuß­liches System nicht dadurch besser oder gar entlastet wird, dass es ein noch scheuß­licheres System gab.12

7. Der Rückgriff auf das Naturrecht Das DDR-Strafrecht kannte die Tatbestände des Mordes, Totschlags und der Körperverletzung. Und auf das Recht der DDR kommt es an. Die Frage, um die es geht, ist die der Rechtfertigung. Können sich die politischen Machthaber und Grenzsoldaten der DDR auf die Vorschriften und Instruk­tionen berufen, die ihnen das Schießen an der Grenze und die Bestrafung der Republikflüchtlinge gestatteten? Diejenigen, die diese Frage verneinen, berufen sich auf die Moral oder auf das Verfassungsrecht der DDR, indem sie ­dieses beim Wort nehmen; denn dort wurde die Persön­lichkeit und Freiheit eines jeden Bürgers der DDR für unantastbar 11 Eberhard Jäckel: Die doppelte Vergangenheit. In: Der Spiegel Nr. 52 (1991), S. 39 – 43, hier S. 43. 12 Vgl. Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last ein Deutscher zu sein. Hamburg 1987, S. 85 – 160.

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erklärt. Ich lasse diese Begründung dahinstehen und konzentriere mich abschließend auf den Vorrang der Moral. Auf d­ ieses Gebot beziehen sich seit der Ahndung der na­tionalsozialistischen Verbrechen die Juristen immer dann, wenn das geltende Gesetzesrecht in grobem Maße die Gerechtigkeit verfehlt. Gustav Radbruch hat seinerzeit richtig erkannt, dass es hier um das Spannungsverhältnis z­ wischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit geht. Er hat folgende Formel aufgestellt: Das gesetzte Recht müsse auch dann den Vorrang vor der Moral haben, wenn es inhalt­lich ungerecht sei, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträg­liches Maß erreiche, dass es als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen habe.13 Der Bundesgerichtshof hat diese Formel angewandt, das Bundesverfassungsgericht und der Euro­päische Gerichtshof für Menschenrechte haben diese Rechtsprechung gebilligt. Die Schüsse an der Mauer richteten sich gegen das unveräußer­liche Recht auf Leben und die körper­liche Unversehrtheit. Das Grenzgesetz diente dazu, das wirtschaft­liche Ausbluten der DDR zu verhindern und damit die Herrschaft des politischen Systems zu sichern. Ein auf ­dieses Gesetz gestützter Todesschuss gerät mit der mora­lischen und recht­ lichen Grundnorm »Du sollst nicht töten!« in Konflikt. Alle Gerichte waren sich darin einig, dass der Todesschuss in einem unerträg­lichen Missverhältnis zum Verhalten derjenigen stand, die ohne Genehmigung ausreisen wollten. So hat das Landgericht Berlin zu Recht festgestellt, dass das Grenzgesetz wegen der Erlaubnis, Personen notfalls zu erschießen, wenn deren Flucht nicht mit anderen Mitteln zu verhindern war, keinen Respekt verdient und daher recht­ lich unbeacht­lich ist.14 Die Urteile über die Gewaltakte an der innerdeutschen Grenze haben gezeigt, dass die Richter die unterschied­liche Handlungsmacht und ideolo­ gische Verstrickung der »Kleinen und Großen« durchaus in Rechnung gestellt haben. Das belegt vor allem das unterschied­liche Strafmaß. Fast ausnahmslos haben die Gerichte bei der Frage der Strafhöhe die Einsicht bedacht, dass die »Grenzsoldaten letzt­lich [selbst] Opfer der unseligen Spaltung Deutschlands geworden« sind.15

13 Vgl. Gustav Radbruch: Gesetz­liches Unrecht und übergesetz­liches Recht. In: Süddeutsche Juristen-­Zeitung 1 (1946), S. 105 – 108. 14 Urteil Landgericht Berlin vom 20. Januar 1992. In: Neue Justiz 46 (1992), 6, S. 269 ff. 15 Siehe »Beschluss zum Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge in der SBZ – Hanke – Fall«. Entscheidung des Landgerichts Stuttgart vom 11. Oktober 1963. In: Neue Juristische Wochenschrift 1964, Heft 1/2 , S. 63 – 69.

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8. Resümee Die strafrecht­liche Aufarbeitung des Unrechts in Diktaturen ist nicht zuletzt deshalb wichtig, um klarzustellen, dass die Mitglieder einer Staatsführung nicht nach ihrem Gutdünken bestimmen können, was Recht und Unrecht ist. Einer solchen staat­lichen Willkür würde Vorschub geleistet, wenn Politiker und Funk­tionäre von jeder strafrecht­lichen Verantwortung für das durch sie ausgelöste Unrecht freigestellt würden. Auch staat­liche Herrschaft ist an Schranken gebunden, insbesondere an die für das geordnete Zusammenleben von Menschen unabdingbaren Grundnormen des Rechts und der Moral.

Clemens Vollnhals

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen durch alliierte und deutsche Gerichte in der Bundesrepublik und der DDR Ein Überblick von 1945 bis 2015

Die in weiten Teilen gescheiterte Strafverfolgung der ungeheuren Verbrechen des Na­tionalsozialismus gilt zu Recht als eines der finstersten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die meisten Täter blieben unbehelligt oder kamen im Falle einer Verurteilung häufig mit recht milden Strafen davon. Und dennoch ist ­dieses Bild eines völligen Versagens der bundesdeutschen Justiz nicht zutreffend. Wenig bekannt ist die sehr beacht­liche Dimension der Strafverfolgung von NSTätern durch Gerichte der alliierten Siegermächte, die weit über den Nürnberger Hauptprozess hinausging. Auch dass deutsche Gerichte während der Besatzungszeit 1945 bis 1949 in erheb­lichem Umfang zur Strafverfolgung beitrugen, ist erst in den letzten Jahren durch die historische Forschung eingehend untersucht worden. Der vorliegende Aufsatz gibt einen Überblick über die verschiedenen Etappen von 1945 bis zu den letzten Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen im vereinten Deutschland. Im Mittelpunkt stehen dabei die großen Tendenzen und historischen Entwicklungslinien, während komplizierte juristische Fachfragen nicht eingehend erörtert werden können.

1. Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrechen durch Gerichte der alliierten Sieger Noch während des Zweiten Weltkrieges fassten die Alliierten den Entschluss, die exzep­tionellen Verbrechen des NS -Regimes auch strafrecht­lich unnachsichtig zu verfolgen; dies war insbesondere ein Anliegen der amerikanischen Regierung. Bereits im Oktober 1943 wurde deshalb die United Na­tions War Crimes Commission (UNWCC ) gegründet, um diese Verbrechen zu dokumentieren und die dafür Verantwort­lichen festzustellen. Bis Kriegsende hatte diese Kommission, an der die Sowjetunion nicht mitarbeitete, bereits Tausende mutmaß­liche Täter identifiziert; bis zur Einstellung ihrer Arbeit im Februar 1948

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waren es insgesamt 36.529 Personen.1 Den Willen zur strafrecht­lichen Ahndung von »atrocities, massacres and cold-­blooded mass execu­tions« bekräftigten die Großen Drei im Anschluss an die Moskauer Außenministerkonferenz im Namen von 32 verbündeten Na­tionen in der Declara­tion of German Atrocities vom 30. Oktober 1943. Bereits im Sommer 1943 fand in der Sowjetunion ein erster Kriegsverbrecherprozess in Krasnodar statt, in dem das Führungspersonal der dortigen Wehrmachtseinheiten und der Gestapo – in Abwesenheit – wegen der Ermordung von siebentausend Menschen verurteilt und acht wegen Kollabora­tion angeklagte Sowjetbürger hingerichtet wurden. Im Dezember 1943 wurden erstmals drei Wehrmachtsangehörige in Charkiv wegen der Tötung von Tausenden Sowjetbürgern, die in speziellen »Gaswagen« stattgefunden hatte, von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Explizit hieß es in d­ iesem Verfahren, dass die Verantwortung für diese Verbrechen bei der politischen und militärischen Führung des NS -Regimes liege, die die systematische Vernichtung der slawischen Völker geplant habe.2 Nach dem Sieg über das »Dritte Reich« einigten sich die Alliierten, nunmehr unter Beteiligung Frankreichs, im Londoner Abkommen vom 8. August 1945 auf die Bildung eines Interna­tionalen Militärgerichtshofs zur »Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher, für deren Verbrechen ein geographisch bestimmbarer Tatort nicht vorhanden ist«,3 und die Ausarbeitung eines entsprechenden ­Statuts. Es sah die Anklage wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden vor – wobei insbesondere der letzte Punkt wegen der Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege juristisch besonders umstritten war. Aber wie sonst hätte man den na­tionalsozialistischen Zivilisa­tionsbruch und die planmäßige Entfesselung von Krieg und Völkermord ahnden können? Die Schöpfung neuen Rechts war der historisch einmaligen Situa­tion angemessen.

1 Siehe Norbert Frei: Nach der Tat. Die Ahndung deutscher Kriegs- und NS-Verbrechen in Europa – Eine Bilanz. In: ders. (Hrsg.): Transna­tionale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit den deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006, S. 8 – 36, hier S. 11 f. 2 Siehe Andreas Hilger/Nikita Petrov/Günther Wagenlehner: Der »Ukaz 43«. Entstehung und Problematik des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943. In: Andreas Hilger/Ute Schmidt/Günther Wagenlehner (Hrsg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941 – 1953. Köln 2001, S. 177 – 209, hier S. 199 ff. 3 Druck des Londoner Abkommens in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Na­tionalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 – 1952. Frankfurt a. M. 1999, S. 289 – 291.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

Der sogenannte Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 24 führende Vertreter von NSDAP, Staat und Wehrmacht fand seit dem 14. November 1945 in Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage, statt und endete am 1. Oktober 1946 mit differenzierten Urteilen: elf Todesstrafen (u. a. Hermann Göring, Julius Streicher, Hans Frank und Alfred Rosenberg), drei lebenslangen und vier Freiheitstrafen ­zwischen zehn und zwanzig Jahren (u. a. Karl Dönitz, Baldur von Schirach, Albert Speer) sowie drei Freisprüchen (Hjalmar Schacht, Hans Fritsche, Franz von Papen). Ferner wurden die Gestapo, die SS, der SD und das Korps der Politischen Leiter der NSDAP (Kreisleiter aufwärts) zu verbrecherischen Organisa­tionen erklärt, nicht aber die NSDAP oder der deutsche Generalstab.4 Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher war als ein Symbol der öffent­lichen Abrechnung angelegt und sollte eine größtmög­liche Aufmerksamkeit erzielen. Insbesondere die nahezu täg­liche Berichterstattung im Rundfunk trug viel zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die NS-Massenverbrechen bei. Laut Umfragen hielten 55 Prozent der Westdeutschen das Urteil für gerecht, 21 Prozent empfanden es als noch zu milde, und 80 Prozent bezeichneten das Verfahren als »fair«.5 In späteren Jahren sollte sich diese anfäng­lich positive Bewertung der alliierten Justiz ins Gegenteil verkehren. Dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der zugleich die internen Konflikte ­zwischen den alliierten Siegermächten offengelegt hatte, folgten zwölf amerikanische Nachfolgeprozesse, in denen sich auf exemplarische Weise ausgewählte Repräsentanten der Funk­tionseliten des NS-Staates verantworten mussten. Angeklagt waren insgesamt 185 Personen: 39 Ärzte und Juristen (Fall I und III ), 56 Mitglieder von SS und Polizei (IV , VIII und IX ), 42 Industrielle und Manager (V, VI und X), 26 militärische Führer (VII und XII) sowie 22 Minister und hohe Regierungsvertreter (II und XI). Von den Angeklagten wurden 24 zum Tode, 20 zu lebenslanger Haft und 87 zu Freiheitsstrafen z­ wischen 18 Monaten und 25 Jahren verurteilt. In 35 Fällen erfolgten Freisprüche, acht Personen wurden wegen Verhandlungsunfähigkeit entlassen und elf weitere, weil ihre Strafe 4 Siehe Bradley F. Smith: Der Jahrhundertprozeß. Die Motive der Richter von Nürnberg. Anatomie einer Urteilsfindung. Frankfurt a. M. 1979; John Tusa/Ann Tusa: The Nuremberg Trial. London 1995; Thomas Darnstädt: Nürnberg – Menschheitsverbrechen vor Gericht. München 2015. 5 Anna Meritt/Richard Meritt (Hrsg.): Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS-Surveys 1945 – 1949. Urbana (Ill.) 1970, S. 35. – Vgl. auch Heike Krösche: Abseits der Vergangenheit. Das Interesse der deutschen Nachkriegsöffent­lichkeit am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. In: Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. Göttingen 2011, S. 93 – 105.

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mit Ablauf der Untersuchungshaft als verbüßt galt.6 Am 31. Januar 1951 setzte der Hochkommissar John Jay McCloy zahlreiche Strafen herab. Von den zum Tode Verurteilten, für die sich unter anderem Bundeskanzler Konrad Adenauer verwendet hatte, wurden zwölf hingerichtet, elf zu Haftstrafen begnadigt und einer an Belgien ausgeliefert, wo er in Haft starb. Den dritten Pfeiler der amerikanischen Strafverfolgung bildeten die sogenannten Dachauer Prozesse. Insgesamt handelte es sich um 489 Verfahren vor Militärgerichten gegen 1672 Angeklagte. In 256 Prozessen standen die Verbrechen in den Konzentra­tionslagern Dachau, Flossenbürg, Buchenwald, Mittelbau-­Dora und Mühldorf sowie deren Nebenlagern im Mittelpunkt, die übrigen Verfahren befassten sich mit der Misshandlung und Tötung amerikanischer Kriegsgefangener und Piloten. Bis 1948 erfolgten 1416 Verurteilungen, in 426 Fällen verhängten die Gerichte Todesstrafen, von denen 268 vollstreckt wurden.7 In den 1950er Jahren wurden aufgrund einer intensiven Gnadenlobby zahlreiche Urteile herabgesetzt und Häftlinge vorzeitig entlassen. Die letzten verurteilten SS -Einsatzgruppenführer kamen 1958 frei. Zahlreiche weitere Prozesse wegen NS - und Kriegsverbrechen fanden vor britischen und franzö­sischen Militärgerichten sowie in anderen Ländern statt (vgl. Tabelle 1).8 In Polen wurden etwa fünftausend Deutsche wegen Kriegs- und Besatzungsverbrechen verurteilt, unter ihnen auch der Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, der im April 1947 auf dem ehemaligen Lagergelände erhängt wurde.9 Die meisten Verurteilungen erfolgten jedoch in der Sowjetunion. Hier wurden mindestens 26.000 deutsche Kriegsgefangene wegen NS- und Kriegsverbrechen – in der Regel nach UKAS 43 (Ukas, dt. Befehl, Erlass) vom 19. April 1943 – verurteilt, zumeist zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Mehr als doppelt so viele Schuldsprüche 6 Angaben nach Frank M. Buscher: Bestrafen und erziehen. »Nürnberg« und das Kriegsverbrecherprogramm der USA. In: Norbert Frei (Hrsg.): Transna­tionale Vergangenheitspolitik (wie Anm. 1), S. 94 – 139, hier S. 101. – Zu den Nachfolgeprozessen siehe auch Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der Na­tionalsozialismus vor Gericht (wie Anm. 3); Kim C. ­Priemel/ Alexa ­Stiller (Hrsg.): NMT. Die Nürnberger Militärtribunale ­zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hamburg 2013. 7 Angaben nach Buscher: Bestrafen und erziehen (wie Anm. 6), S. 114. – Siehe auch Robert Sigel: Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945 – 1948. Frankfurt a. M. 1992; Frank M. Buscher: The U. S. War Crimes Trial Program in Germany, 1946 – 1955. New York 1989. 8 Vgl. als Überblick die entsprechenden Länderstudien in Frei (Hrsg.): Transna­tionale Vergangenheitspolitik (wie Anm. 1). 9 Siehe Włodzimierz Borodziej: »Hitleristische Verbrechen«. Die Ahndung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Polen. In: ebd., S. 399 – 437.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

sprachen die Militärtribunale gegen sowjetische Staatsbürger wegen »Koopera­tion mit dem Feind« aus. Des Weiteren verurteilten sowjetische Militärgerichte in der SBZ/DDR 5452 deutsche Zivilisten als Kriegsverbrecher.10 Bei den Verurteilungen durch Sowjetische Militärtribunale ersetzte allerdings in der Regel die bloße Zugehörigkeit zu bestimmten Einheiten der Wehrmacht, der SS oder der Polizei den Nachweis konkreter individueller Schuld. Zudem hatten die Angeklagten zumeist keine Mög­lichkeit, sich angemessen zu verteidigen, sodass die stalinistische Justiz – trotz der zweifellos vorhandenen Schuld vieler Angeklagter – keinen Beitrag zur rechtsstaat­lichen Bewältigung von NS-Verbrechen zu leisten vermochte. Tabelle 1  Urteile alliierter Gerichte und Ermittlungsverfahren gegen Deutsche und Österreicher wegen Kriegs- und NS-Verbrechen (ohne die Urteile deutscher und österreichischer Gerichte).

Nürnberger Prozess

Verurteilte

Ermittlungsverfahren/Angeklagte

22

24

142

185

USA Nürnberger Nachfolgeprozesse Amerikanische Zone Großbritannien

1.416

1.672

über 1.000

mehr als 1.000

Sowjetunion Innersowjetisch Sowjetische Zone

mind. 25.921

mind. 55.000

5.452

mehr als 5.452

Frankreich Innerfranzö­sisch Franzö­sische Zone Niederlande Belgien

2.345

mehr als 2.345

mind. 780

mehr als 780

241

mind. 500

mind. 83

max. 3.455

Dänemark

77

ca. 250

Norwegen

95

380

ca. 5.000

mehr als 5.000

ca. 21.000

ca. 43.000

Polen Tschechoslowakei Tschechien

10 Angaben nach Andreas Hilger: »Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf«? Die Bestrafung deutscher Kriegs- und Gewaltverbrecher in der Sowjetunion und der SBZ/DDR. In: ebd., S. 180 – 246, hier S. 231. – Vgl. auch ders. u. a. (Hrsg.): Sowjetische Militärtribunale. 2 Bde. Köln 2001 u. 2003.

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Verurteilte Slowakei Griechenland Italien

Ermittlungsverfahren/Angeklagte

ca. 800

ca. 2.000

14

mind. 800

ca. 35

ca. 500

Kanada

mind. 5

mehr als 5

Gesamt

mind. 64.400

mind. 122.300

Quelle: Norbert Frei (Hrsg.): Transna­tionale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit den deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006, S. 31 f.

Insgesamt wurden durch Gerichte der alliierten Siegermächte rund 64.000 Deutsche beziehungsweise Österreicher – in welcher Form auch immer – strafrecht­ lich für NS- und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen.11 Noch erheb­lich größer ist die Anzahl jener, die sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt zumindest einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt sahen. Hinzu kommt der große Personenkreis, der wegen seiner NS-Belastung für ein oder mehrere Jahre in einem Internierungslager ohne Gerichtsurteil inhaftiert wurde. In den Westzonen waren dies 182.000 Personen, in der Ostzone 122.000 (von denen ein Drittel an Unterernährung und Seuchen verstarb).12 Die Dimension dieser Strafverfolgung von NS -Verbrechen durch Gerichte der alliierten Siegermächte verweist auf einen gesamteuro­päischen Ahndungswillen der ungeheuren NS-Verbrechen, der heute im öffent­lichen Bewusstsein kaum noch präsent ist.

2. Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte während der Besatzungszeit Im besetzten Deutschland stand über den Militärbefehlshabern der vier Besatzungszonen der Alliierte Kontrollrat in Berlin, der seit Juni 1945 die oberste Regierungsgewalt ausübte. Für die Strafverfolgung von NS-Verbrechen bedeutsam wurden das Gesetz Nr. 4 des Alliierten Kontrollrats zur »Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens« vom 30. Oktober 1945, das die Entlassung aller

11 Angaben nach Frei: Nach der Tat (wie Anm. 1), S. 31 f. (ohne deutsche und österreichische Gerichtsverfahren). 12 Siehe Renate Knigge-­Tesche/Peter Reif-­Spirek/Bodo Ritscher (Hrsg.): Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland nach 1945. Erfurt 1993; Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 – 1950. 2 Bde. Berlin 1998.

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aktiven NSDAP-Mitglieder aus dem Justizdienst verfügte, und vor allem das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 über die »Bestrafung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Beide Gesetze beschränkten die Zuständigkeit deutscher Gerichte auf die Strafverfolgung von NS-Verbrechen an Deutschen oder Staatenlosen, die im Einzelfall erteilt werden sollte. In der Praxis erteilten die britische und die franzö­ sische Besatzungsmacht eine generelle Ermächtigung für bestimmte Deliktgruppen, während die Amerikaner an dem Prinzip der Genehmigung von Fall zu Fall festhielten und darauf bestanden, dass in ihrer Zone nur das deutsche Strafrecht zur Anwendung kam. In der sowjetischen Zone kamen hingegen das Kontrollratsgesetz Nr. 10 und s­ päter auch die Kontrollratsdirektive Nr. 38 ebenfalls als Strafrecht zur Anwendung. Diese Regelungen galten bis zum Ende der Besatzungszeit. Erst mit dem Gesetz Nr. 13 der Alliierten Hohen Kommission über die »Gerichtsbarkeit auf den vorbehaltenen Gebieten« ging ab dem 1. Januar 1950 in der Bundesrepublik die volle Zuständigkeit für die Strafverfolgung von na­tio­ nalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG -Verfahren) auf deutsche Gerichte über. In der DDR sprachen Sowjetische Militärtribunale noch bis 1955 Urteile, die sich zumeist jedoch gegen andere Delikte richteten. Bis 1950 wurden in den Westzonen wegen NS -Verbrechen von deutschen Gerichten insgesamt 5410 Personen verurteilt, das entspricht 80 Prozent aller Verurteilungen bis 1989. Im Mittelpunkt standen dabei Verbrechen, die Na­tio­ nalsozialisten vor Ort begangen hatten: Delikte wie Denunzia­tionen, Misshandlungen von politischen Gegnern, Zerstörung von Synagogen und Geschäften im Zuge des Novemberpogroms 1938 sowie Verbrechen während der Endphase des Zweiten Weltkriegs, als sich der NS-Terror zunehmend gegen die eigene Bevölkerung richtete. Die meisten dieser Verfahren erfolgten aufgrund von Anzeigen vor Ort und erreichten nur selten überregionale Beachtung. Aufsehen erregten etwa der Prozess gegen die Denunziantin Carl Goerdelers Ende 1946 oder der Freispruch von Veit Harlan, dem Regisseur des antisemitischen Hetzfilms Jud Süß, Anfang 1948 vor einem Hamburger Gericht. Stärkere Beachtung fanden auch zahlreiche Prozesse zu den »Euthanasie«-Verbrechen, die zum Teil mit vollstreckten Todesurteilen endeten. Weniger bekannt ist heute, dass in diesen frühen Jahren auch mehrere Prozesse gegen Personen, die in den Vernichtungslagern Auschwitz, Treblinka und Sobibór tätig gewesen oder an Massenerschießungen von Juden beteiligt waren, geführt wurden.13 13 Siehe mit ausführ­licher Darstellung der juristischen Grundlagen und der Gerichtsverfahren nach Deliktgruppen Edith Raim: Justiz ­zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945 – 1949. München 2013.

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Auch in der Sowjetischen Besatzungszone fanden verschiedene Prozesse gegen das Personal von Konzentra­tionslagern statt, ebenso wurden die »Euthanasie«-Verbrechen in der Tötungsanstalt Pirna-­Sonnenstein schon 1947 in einem Dresdner Prozess aufgearbeitet. Im selben Jahr wurde in Dresden parallel zu dem Nürnberger Juristenprozess ebenfalls ein Verfahren gegen belastete NS-Juristen eingeleitet, das bereits den deut­lich gestiegenen politischen Druck auf die Justiz erkennen ließ.14 Insgesamt wurden bis zum 16. August 1947, bis zum Erlass des SMAD 15-Befehls Nr. 201, in der SBZ 518 Personen von deutschen Gerichten verurteilt. Die meisten Verfahren richteten sich dabei gegen Denunzianten.16 Der SMAD-Befehl Nr. 201 sollte nicht nur den Abschluss der Entnazifizierung beschleunigen. Er enthielt auch erweiterte Kompetenzen für die deutschen Gerichte und übertrug in solchen Verfahren die Anfertigung der Anklageschrift der Politischen Polizei, einer speziellen Abteilung der Kriminalpolizei (K 5), die den Nukleus der späteren Staatssicherheit darstellte. Mutmaß­liche NS-Verbrechen sowie die beiden schwersten Formalbelastungskategorien aus dem Entnazifizierungsverfahren sollten nunmehr vor gesonderten Strafkammern verhandelt werden, deren Personal sich aus dem Kreis besonders zuverlässiger Genossen rekrutierte. Gleichwohl fällten die sogenannten 201-Kammern bis 1949 zumeist rechtsförmige und differenzierte Urteile; ebenso bemerkenswert ist der immer noch hohe Anteil von Freisprüchen. Viele der von den 201-Kammern verhandelten Fälle betrafen jedoch keine NS-Verbrechen im strafrecht­lichen Sinne, sondern die Feststellung der politischen Belastung (Gruppe 1: »Hauptschuldige« und Gruppe 2: »Belastete/ NS-Aktivisten«) mit der Festsetzung von Sühnemaßnahmen, die im Westen nicht von ordent­lichen Gerichten, sondern im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens von den Spruchkammern vorgenommen wurde.17 Insofern sind die Statistiken, 14 Siehe Boris Böhm/Gerald Hacke (Hrsg.): »Fundamentale Gebote der Sitt­lichkeit«. Der »Euthanasie«-Prozess vor dem Landgericht Dresden 1947. Dresden 2008; Gerald Hacke: Der Dresdner Juristenprozess 1947 im Spannungsfeld der politischen und medialen Auseinandersetzung. In: Osterloh/Vollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit (wie Anm. 5), S. 167 – 188. 15 Die Sowjetische Militäradministra­tion in Deutschland (SMAD). 16 Siehe Christian Meyer-­Seitz: Die Verfolgung von NS-Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone. Berlin 1998, S. 50. – Mit Bezug auf Hilde Benjamin u. a.: Zur Geschichte der Rechtspflege 1945 – 1949. Berlin (Ost) 1976, S. 215. – Zu den politischen Rahmenbedingungen der ostdeutschen Justiz siehe Hermann Wentker: Justiz in der SBZ/DDR 1945 – 1953. Transforma­tion und Rolle ihrer zentralen Institu­tionen. München 2001. – Als Überblick vgl. ders.: Die juristische Ahndung von NS-Verbrechen in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR. In: Kritische Justiz 35 (2002) 1, S. 60 – 78. 17 Siehe Clemens Vollnhals: Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 – 1949. München 1991, insbes. Gesamtstatistik S. 333.

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die für die SBZ bis Ende 1949 insgesamt 8059 verurteilte Personen gegenüber 4667 Verurteilungen in Westdeutschland ausweisen, nur bedingt vergleichbar. Einen Sonderfall, der der ostdeutschen Justiz das Rückgrat brechen sollte, stellten die Waldheimer Prozesse dar, deren Regie die SED bis ins Detail festgelegt hatte. In diesen Verfahren wurden rund 3300 Internierte aus sowjetischen Speziallagern, die erst nach Gründung der DDR endgültig aufgelöst wurden, im Frühjahr 1950 in einer Prozessfarce als »Kriegsverbrecher« abgeurteilt. Die drakonischen Strafen orientierten sich an der Praxis der Sowjetischen Militärtribunale: 32 Todesurteile, die übrigen Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen ­zwischen zehn und zwanzig Jahren.18 Die geheimen Schnellverfahren sowie zehn öffent­liche Schauprozesse sollten im Nachhinein die Willkür der sowjetischen Internierungspraxis legitimieren und einen symbo­lischen Schlussstrich unter die NS -Vergangenheit ziehen. In den folgenden Jahren ging – entgegen dem sorgfältig gepflegten antifaschistischen Gründungsmythos – auch in der DDR die Strafverfolgung von NS-Verbrechen drastisch zurück: von 332 Verurteilten 1951 auf 23 im Jahre 1955. Danach kam sie nahezu zum Stillstand.

3. Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Eine ganz ähn­liche Entwicklung lässt sich in der Bundesrepublik feststellen. So wurden 1950 noch 743 NS -Täter verurteilt, wobei die Ermittlungsverfahren bereits während der Besatzungszeit eingeleitet worden waren. 1951 ging die Zahl der Verurteilungen auf 262 zurück und 1955 waren es nur mehr 15 (vgl. Tabelle 3). Das nachlassende Interesse an einer ener­gischen Strafverfolgung resultierte nicht aus juristischen oder rechtstatsäch­lichen Hindernissen, sondern lag am mangelnden politischen Willen. »Mit Wiederbewaffnung und Westintegra­tion betrachteten die bundesdeutschen Eliten die Phase alliierter Besatzung als abgeschlossen, die weithin als Episode na­tionaler Demütigung empfunden worden war. Damit waren auch die NS-Prozesse an ihr vorzeitiges Ende gekommen.« 19 Zugleich hatte sich in der Öffent­lichkeit eine massive Gnadenlobby – angeführt 18 Siehe Wolfgang Eisert: Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz. Esslingen 1993; siehe auch Wilfriede Otto: Die »Waldheimer Prozesse« 1950. Historische, politische und juristische Aspekte im Spannungsverhältnis ­zwischen Antifaschismus und Stalinismus. Berlin 1993; Norbert Haase/Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer »Prozesse« – fünfzig Jahre danach. Baden-­Baden 2001. 19 Annette Weinke: »Alliierter Angriff auf die na­tionale Souveränität«? Die Strafverfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich. In: Frei (Hrsg.): Transna­tionale Vergangenheitspolitik (wie Anm. 6), S. 37 – 93, hier S. 57.

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von evange­lischen Kirchenführern, aber auch von Presseorgangen wie der Zeit – entwickelt, die nunmehr auch die Freilassung aller von den Alliierten verurteilten »Kriegsverbrecher« forderte. Die lautstarke Agita­tion gegen die angeb­liche Siegerjustiz führte dazu, dass im Mai 1958 auch die letzten verurteilten SD-Einsatzgruppenführer aus dem Gefängnis Landsberg entlassen wurden.20 Gleichzeitig mehrten sich ab Mitte der 1950er Jahren die Stimmen, die eine kritischere Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einforderten und allzu milde Urteile anprangerten.21 Einen Wendepunkt stellte der Ulmer Einsatzgruppen-­ Prozess von 1958 dar, der den Judenmord in Litauen zum Gegenstand hatte. Dieser Prozess machte kritischen Journalisten und Justizpolitikern mit einem Schlag klar, welch schwerwiegende Verbrechen bis dahin von der Justiz kaum strafverfolgt worden waren. Der öffent­liche Druck bewog die Justizminister der Länder im November 1958 zur Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg. Damit gab es in der Bundesrepublik erstmals eine zentrale Behörde zur systematischen Ermittlung von Verbrechen, die in Konzentra­ tionslagern, Ghettos oder durch Einsatzgruppen an Zivilisten begangen worden waren, während die Untersuchung von Kriegsverbrechen de facto ausgenommen blieb.22 Insgesamt waren in den Jahren 1950 bis 1958 wegen NS-Verbrechen 4979 neue Ermittlungsverfahren eingeleitet, 2214 Beschuldigte angeklagt und 1437 Angeklagte verurteilt worden, davon allerdings nur 272 wegen Tötungsdelikten. Zugleich hatten die Gerichte 1227 Angeklagte freigesprochen und in 1553 Fällen das Verfahren eingestellt.23 Mit anderen Worten: Die meisten Mordtaten waren bislang ungesühnt geblieben. Als ein massives Hindernis für die weitere Verfolgung von NS-Tätern erwies sich die fatale Entscheidung des Deutschen Bundestages, die Verjährung von Totschlag im Mai 1960 eintreten zu lassen. Ab ­diesem Zeitpunkt waren nur noch Mord oder die Beihilfe zum Mord juristisch verfolgbar. Im Unterschied zum

20 Zu dieser Kampagne siehe Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1999, S. 133 – 306; Ernst Würzburger: »Der letzte Landsberger«. Amnestie, Integra­tion und die Hysterie um die Kriegsverbrecher in der Adenauer-­Ära. Holzminden 2015. 21 Vgl. für diese Periode Andreas Eichmüller: Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik. München 2012. 22 Zunächst war die Zentrale Stelle in Ludwigsburg nur für Verbrechen außerhalb der alten Reichsgrenzen zuständig. Erst 1965 wurde ihre Zuständigkeit auf das Gebiet der Bundesrepublik ausgeweitet. Siehe Annette Weinke: Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958 – 2008. Darmstadt 2008. 23 Siehe Eichmüller: Keine Generalamnestie (wie Anm. 21), S. 226, 429. – Eichmüllers Zahlen weichen aufgrund neuerer Recherchen geringfügig von den Angaben in Tabelle 3 ­dieses Beitrags ab.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

Totschlag setzt die Verurteilung wegen Mord (§ 211 StGB) bestimmte subjektive Tatmerkmale wie niedrige Beweggründe oder objektive Merkmale wie Heimtücke oder Grausam­keit voraus. Viele NS-Täter konnten deshalb, wenn sie ledig­lich auf Befehl gehandelt und keine besonders grausamen Taten begangen hatten, nach gängiger Rechtsprechung nicht mehr belangt werden. Mit Gründung der Zentralen Stelle und der Verjährung von Totschlag konzentrierte sich die Strafverfolgung zunehmend auf Verbrechen in den Konzentra­ tionslagern und in anderen Haftstätten, auf die Massenverbrechen an den Juden sowie auf Kriegsverbrechen (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2  Anteil der einzelnen Verbrechenskomplexe an den Strafverfahren wegen NSVerbrechen in Prozent (da für manche Verfahren mehr als ein Komplex zutraf, beträgt die Summe jeweils mehr als 100)

Denunzia­tion Endphase

1945 – 2005

1945 – 1949

1960 – 2005

17,9

38,3

1,7

5,3

3,8

5,8

Euthanasie

1,2

0,7

1,7

Fremdarbeiter

4,0

4,6

3,5

Justiz

2,6

0,5

4,9

Kriegsverbrechen

12,9

1,2

24,5

KZ/Haftstätten

17,0

6,7

25,8

Massenvernichtung

12,5

1,2

23,0

Politische Gegner

8,9

16,3

1,0

Reichskristallnacht

6,8

15,4

0,6

Zentrale Behörden

1,0

0,2

1,6

Sonstige

9,4

7,8

12,3

Unbekannt/unsubstantiiert

8,8

11,3

5,2

Quelle: A ndreas Eichmüller: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 628.

Einen Meilenstein stellte der große Frankfurter Auschwitz-­Prozess von 1963 bis 1965 dar, nachdem schon 1961 der Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des Judenmords im Reichssicherheitshauptamt, ein großes Medienecho hervorgerufen hatte.24 Das Frankfurter Verfahren war von dem

24 Siehe Peter Krause: Der Eichmann-­Prozess in der deutschen Presse. Frankfurt a. M. 2002.

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hes­sischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Komplexverfahren mit umfangreichen zeithistorischen Gutachten und Hunderten von Zeugenaussagen konzipiert worden. Die Urteile lauteten auf sechs lebenslange Zuchthausstrafen, eine zehnjährige Jugendstrafe und zehn Freiheitsstrafen z­ wischen dreieinhalb und vierzehn Jahren. Drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.25 Weitere Verfahren befassten sich in diesen Jahren mit den Verbrechen in den Vernichtungslagern Treblinka (1964/65), Bełżec (1965) und Sobibór (1965/66).26 Als 1965 auch die Verjährung von Mord drohte, verschob der Deutsche Bundestag mit einem juristischen Trick das Eintreten der zwanzigjährigen Verjährungsfrist um vier Jahre. 1969 musste sich deshalb das Parlament erneut mit dieser Thematik befassen und verlängerte als Kompromiss die Verjährungsfrist auf dreißig Jahre, bis schließ­lich 1979 die Verjährung von Mord gänz­lich aufgehoben wurde. In den halbherzigen Parlamentsentscheidungen der 1960er Jahre spiegelte sich noch der gesellschaft­liche Widerwille gegen eine konsequente Strafverfolgung der NS-Täter wider, denn für die Aufhebung der Verjährung hatte schon 1965 ein Bündnis von SPD- und verschiedenen CDU-Abgeordneten erfolglos geworben.27 Besonders merkwürdig kam die »vorgezogene Verjährung« in einer gut versteckten Änderung des Strafgesetzbuches (§ 50 Absatz 2) im Rahmen der großen Strafrechtsreform 1968 zustande.28 Sie bestimmte eine obligatorische Strafminderung für Beihilfe zum Mord, wenn die »Gehilfen« die niedrigen Motive der Haupttäter nicht teilten. Diese unscheinbare Abänderung hatte große Auswirkungen: Da die Justiz in den meisten Fällen von NS-Verbrechen Schuldsprüche nur wegen Beihilfe zum Mord fällte und die Angeklagten »niedrige Motive« in aller Regel abstritten, galt nun für sie nur noch ein reduzierter Strafrahmen von 25 Siehe Irmtrud Wojak (Hrsg.): »Gerichtstag halten über uns selbst …«. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-­Prozesses. Frankfurt a. M. 2001; Raphael Gross/ Werner Renz (Hrsg.): Der Frankfurter Auschwitz-­Prozess (1963 – 1965). Kommentierte Quellenedi­tion, 2 Bde. Frankfurt a. M. 2013. 26 Siehe Adalbert Rückerl: Na­tionalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse: Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. München 1977. 27 Siehe Clemens Vollnhals: »Über Auschwitz aber wächst kein Gras.« Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag. In: Osterloh/Vollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit (wie Anm. 5), S. 375 – 4 01. – Zur Justizpolitik vgl. Michael Greve: Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren. Frankfurt a. M. 2001; Marc von Miquel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren. Göttingen 2004. 28 Siehe Kerstin Freudinger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Tübingen 2002, S. 144 ff. – Bei dieser Novelle liegt die Vermutung eines konspirativen Vorgehens ehemaliger NS-Juristen im Justizministerium nahe.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

drei bis fünfzehn Jahren Zuchthaus – was zur Folge hatte, dass die Taten verjährt waren, wie der Bundesgerichtshof in einem umstrittenen Urteil am 20. Mai 1969 entschied. Dies führte zur Amnestierung von zahlreichen NS-Gehilfen und hatte unter anderem zur Folge, dass ein von der Berliner Staatsanwaltschaft seit Jahren penibel vorbereitetes Verfahren gegen die Schreibtischtäter des Reichssicherheitshauptamtes, der Zentrale des NS -Terrors, nicht mehr eröffnet werden konnte. Werle und Wandres bringen es auf den Punkt, wenn sie konstatieren: »Die Verfolgung zahlreicher NS -Verbrechen wurde vereitelt, langjährige Ermittlungen zunichte gemacht.« 29 Einen weiteren Wendepunkt in der öffent­lichen Wahrnehmung stellte der Prozess gegen das SS-Personal des Konzentra­tions- und Vernichtungslagers Majdanek dar, der von Ende 1975 bis Juni 1981 vor dem Landgericht Düsseldorf stattfand. Hier wurde 21 Jahre nach Aufnahme der ersten Ermittlungen eine Aufseherin zu lebenslanger Haft verurteilt, sieben weitere Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen z­ wischen drei und zwölf Jahren.30 Neben dem insgesamt milden Strafmaß empörten vor allem mehrere Freisprüche die Öffent­lichkeit, zumal bereits 1979 die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« eine enorme Resonanz erfahren hatte. Seitdem sprach sich erstmals eine Bevölkerungsmehrheit in Umfragen gegen die Verjährung von NS-Verbrechen aus, was im Kontext einer generell kritischeren Sicht auf die NS-Vergangenheit im Zuge des Genera­ tionenwechsels zu sehen ist.31 Neben Hemmnissen, die sich aus der Verjährung von Totschlag und aus dem bürger­lichen Strafgesetzbuch ergaben, das den Fall einer selbst hochkriminellen Staatsführung nicht vorgesehen hatte, bildeten zweifellos auch personelle Kontinuitäten in der Justiz eine schwere Hypothek für die juristische Aufarbeitung. Dies galt besonders für den Bundesgerichtshof (BGH), der als oberste Instanz 29 Gerhard Werle/Thomas Wandres: Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. München 1995, S. 26. – Vgl. auch Stephan A. Glienke: Die ­De-­facto-­ Amnestie von Schreibtischtätern. In: Joachim Perels/Wolfram Wette (Hrsg.): Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer. Berlin 2011, S. 262 – 277. 30 Siehe Volker Zimmermann: NS-Täter vor Gericht. Düsseldorf und die Strafprozesse wegen na­tionalsozialistischer Gewaltverbrechen. Düsseldorf 2001; Sabine Horn: Erinnerungsbilder. Auschwitz-­Prozess und Majdanek-­Prozess im westdeutschen Fernsehen. Essen 2009. 31 Siehe Vollnhals: »Über Auschwitz aber wächst kein Gras« (wie Anm. 27), S. 400 f. – Vgl. allg. ders.: Zwischen Verdrängung und Aufklärung. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der frühen Bundesrepublik. In: Ursula Büttner (Hrsg.): Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich. Frankfurt a. M. 2003, S. 381 – 422; Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute. München 2001.

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in NSG-Verfahren zu einer sehr restriktiven Auslegung neigte und vorhandene juristische Spielräume nicht nutzte. Besonders deut­lich wurde dies schon in den 1950er Jahren bei Verfahren gegen NS -Juristen.32 Der Bundesgerichtshof hob 1968 auch die Verurteilung von Hans-­Joachim Rehse auf, der als Richter am Volksgerichtshof an zahlreichen Todesurteilen mitgewirkt hatte. 33 Infolge der restriktiven BGH-Rechtsprechung konnte auch in späteren Jahren kein einziger Richter ­dieses NS-Terrorgerichtes rechtskräftig verurteilt werden. Überblickt man die Rechtsprechung, so wird man auch die Prägekraft sozialer Milieus auf die Urteilsfindung in den Fokus nehmen müssen. Kerstin Freudiger kommt in ihrer juristischen Untersuchung zu dem Urteil: »Insgesamt wurden jene NS -Verbrechen von der westdeutschen Justiz tendenziell milde behandelt, an denen die bürger­lichen Führungsschichten wie Ärzteschaft, Justiz und Wehrmacht maßgeb­lich beteiligt gewesen waren. Die Beteiligung der Führungsschichten hatte zur Folge, dass die in der Strafrechtslehre entwickelten Formen der Ahndung und Exkulpa­tion eng mit dem jeweiligen politisch-­g esellschaft­lichen Kontext zusammenhingen. […] Die Ahndung von Verbrechen an Juden wurde von d­ iesem Klimawandel dagegen weniger deut­ lich beeinflusst, da der Völkermord nicht überwiegend von Angehörigen der bürger­lichen Führungsschichten, sondern unter anderem mit starker Beteiligung der Lager-­S S begangen worden war, die sich vor allem aus handwerk­ lichen Berufen rekrutierte.« 34 Als weitere Tendenz lässt sich feststellen, dass auch bei Massenerschießungen hilfloser Zivilisten durch Einsatzgruppen die Täter vielfach nicht als Mörder, sondern nur als Gehilfen verurteilt wurden.35 Die völlig ausufernde Gehilfenrechtsprechung schob die Hauptverantwortung einer kleinen NS -Clique (Hitler, Himmler etc.) zu und entlastete somit die Angeklagten.

32 Siehe Eichmüller: Keine Generalamnestie (wie Anm. 21), S. 280 ff. 33 Zum Fall Rehse siehe Freudinger: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen (wie Anm. 28), S. 386 ff. 34 Ebd., S. 416 f. – Eine wichtige Quellensammlung ist Christiaan F. Rüter/Dick W. de Mildt (Hrsg.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen na­tional­ sozialistischer Tötungsverbrechen 1945 – 2012, 49 Bde. Amsterdam 1968 – 2012. Diese Sammlung enthält nur Urteile westdeutscher Gerichte. 35 Vgl. z. B. Barbara Just-­Dahlmann/Helmut Just: Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945. Frankfurt a. M. 1988; Bettina Nehmer: Das Problem der Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz. Frankfurt a. M. 2015.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

4. Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der DDR Nach dem Justizexzess der Waldheimer-­Prozesse 1950, die ein Erbe der sowjetischen Besatzungspolitik darstellten, ging die justizielle Strafverfolgung auch in der DDR deut­lich zurück. Von 1951 bis zur Aufhebung des Besatzungsstatuts 1955 verzeichnet die Statistik noch 615 Verurteilungen, danach erlahmte der Verfolgungswille nahezu. Von 1956 bis zum Untergang der DDR 1989 verurteilte die Justiz nur mehr 122 Personen wegen NS-Verbrechen (vgl. Tabelle 3). Dass auch in der DDR noch zahlreiche Täter unbehelligt lebten, passte nicht in die Selbstinszenierung als antifaschistischer Staat, der im Gegensatz zur Bundesrepublik die Entnazifizierung und Verfolgung von NS-Verbrechen ener­gisch betrieben habe. Wesent­lich mehr Energie verwandte die SED-Führung seit den späten 1950er Jahren auf die propagandistische Instrumentalisierung von NS-Belastungen, die vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) systematisch zusammengetragen wurden. Beispielhaft war hierfür die Kampagne gegen »Hitlers Blutrichter in Diensten Adenauers«, die viele, in der Tat skandalöse Personalbesetzungen in westdeutschen Justizorganen und Ministerien anprangerte.36 Eine Fortsetzung dieser »Braunbuch-­Kampagnen« bildeten die Ost-­Berliner Schauprozesse gegen den Vertriebenenminister Theodor Oberländer (1960) und den Kanzleramtschef Hans Globke (1963), die auf dünner, zum Teil auch gefälschter Aktenlage in Abwesenheit verurteilt wurden, um die Bundesrepublik als Hort fortlebenden braunen Ungeistes zu diffamieren.37 Im Kontext der westdeutschen Verjährungsdebatte verabschiedete die Volkskammer im September 1964 das Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen, das angeb­lich konsequenten Verfolgungswillen dokumentieren sollte. Auf der anderen Seite blockierte die SED-Führung vielfach die Erfüllung westdeutscher Rechtshilfeersuchen in NSGVerfahren und trug damit in nicht wenigen Fällen zur Strafvereitelung bei.38

36 Zum Braunbuch als Teil der Westpropaganda der DDR und zu dessen Rezep­tion in der Bundesrepublik siehe Klaus Bästlein: »Nazi-­Blutrichter als Stützen des Adenauer-­Regimes«. Die DDR-Kampagnen gegen NS-Richter und -Staatsanwälte, die Reak­tionen der bundesdeutschen Justiz und ihre gescheiterte »Selbstreinigung« 1957 – 1968. In: Helge Grabitz/Klaus ­Bästlein/Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den na­tionalsozialistischen Gewaltverbrechen. Berlin 1994, S. 408 – 4 43. 37 Siehe Michael Lemke: Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die Westpropaganda der SED 1960 – 1963. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993) 2, S. 153 – 174; Philipp-­Christian Wachs: Die Inszenierung eines Schauprozesses – das Verfahren gegen Theodor Oberländer vor dem Obersten Gericht der DDR. Berlin 2001. 38 Siehe Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949 – 1969 oder: Eine deutsch-­deutsche Beziehungsgeschichte

47

48

|  Clemens Vollnhals

Zuständig für Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf NS-Verbrechen war das MfS, genauer gesagt: die Abteilungen 10 und 11 der Hauptabteilung IX. Wie in anderen Bereichen der politischen Strafjustiz galt hier nicht das Legalitätsprinzip, sondern die politische Opportunität. In zahlreichen Fällen kam es trotz eindeutiger Verdachtsmomente zu keinem Gerichtsverfahren, weil MfS und SED eine Anklage nicht für opportun hielten.39 In anderen Fällen, insbesondere wenn westdeutsche Ermittlungen einen Zugzwang ausübten, führte das MfS akribische Ermittlungen durch und übernahm die gesamte Regie, in der noch vor Prozessbeginn jedes Detail bis zur ADN-Pressemeldung über das Urteil festgelegt wurde. Über die meisten Gerichtsverfahren sollte die Presse bis 1989 jedoch nicht oder nur beiläufig berichten. Ganz anders stellte sich dies 1966 bei dem Schauprozess vor dem Obersten Gericht der DDR gegen den SS-Lagerarzt Horst Fischer dar, der als ostdeutsches Pendant zum Frankfurter Auschwitz-­Prozess konzipiert war, wobei das Todesurteil bereits im Vorfeld feststand. Mit Fischer, der in Auschwitz-­Monowitz tätig gewesen war, wollte man zugleich die IG Farben als Triebfeder des NS-Regimes auf die Anklagebank setzen.40 Zu den späten Verfahren, die als Medienereignis inszeniert wurden und unter der Regie des MfS stattfanden, zählte 1987 der Prozess gegen den Judenreferenten der Dresdner Gestapo, Henry Schmidt, der zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.41 Die selektive Strafverfolgung und der instrumentelle Umgang mit aktenkundigen Belastungen und Verdachtsmomenten durch das MfS zeigen, dass auch die DDR ein massives Problem mit der »unbewältigten NS -Vergangenheit« hatte, das jedoch nicht öffent­lich thematisiert werden durfte, da es mit dem antifaschistischen Selbstbild nicht vereinbar war.

im Kalten Krieg. Paderborn 2002, S. 317 ff. 39 Siehe hierzu den Beitrag von Martin Kiechle zum Umgang mit den NS-»Euthanasie«-Ver­ brechen in Stadtroda in d ­ iesem Band; Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der Staatssicherheit. Göttingen 2005. 40 Vgl. Christian Dirks: »Die Verbrechen der anderen«. Auschwitz und der Auschwitz-­ Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer. Paderborn 2006. 41 Siehe Beate Meyer: Der »Eichmann von Dresden«. »Justizielle Bewältigung« von NS-Verbrechen in der DDR am Beispiel des Verfahrens gegen Henry Schmidt. In: Jürgen ­M atthäus/ Klaus-­Michael Mallmann (Hrsg.): Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart. Darmstadt 2006, S. 275 – 291. – Vgl. auch die Urteilssammlung von Christiaan F. Rüter/Dick W. de Mildt (Hrsg.): DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen na­tionalsozialistischer Tötungsverbrechen.14 Bde. Amsterdam 2002 – 2009.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

Tabelle 3  Wegen NS-Verbrechen von deutschen Gerichten verurteilte Personen 1945 – 1989 Todes- Ostdeutschland Über 3 bis 10 strafe Freiheitsstrafe 10 Jahre Jahre Lebensläng­lich 1945

2

Unter 3 Jahre

Summe

1

6

In %

Westdeutschland, Gesamtsumme (in %)

2

1



25

1946

9

3

22

35

58

127

257

1947

8

6

22

130

578

744

900

1948

10

12

62

709

3.756

4.549

2.011

1949

13

11

70

401

2.138

2.633

1.474

1950

49

160

2.914

384

585

4.092

743

1945 bis I950

91

193

3.090

1.661

7.116

12.151 94,3  5.410 (81,4 %)

1951

8

9

30

112

173

332

262

1952

2

6

17

53

61

139

172

1953

1

7

18

44

15

85

114

1954

2

2

7

20

5

36

46

1955

4

4

5

8

2

23

15

1951 bis I955

17

28

77

237

256

615

1956





1





1

25

1957







1



1

29

99,7 

609 (90,5 %)

1958



1



1



2

20

1959

1

1

1

3



6

12

1960

4

4



2



10

16

1956 bis I960

5

5

1

7



18

102

1961

2





4



6

30

1962

3

2



5



10

35

1963

1

4

3

3



11

25

1964



2







2

20

1965



2



1



3

67

1966

1

6

1

1



9

47

1967



1







1

26

1968

1

2







3

67

1969

1









1

22

1970



1

3





4

24

1971

1

1

1





3

18

1972

2









2

22

49

50

|  Clemens Vollnhals Todes- Ostdeutschland Über 3 bis 10 strafe Freiheitsstrafe 10 Jahre Jahre Lebensläng­lich 1973

1



2

1

Unter 3 Jahre

Summe

In %

Westdeutschland, Gesamtsumme (in %)



4

35

1974

1

6



1



8

14

1975



3

2

1



6

7

1976

1

1

1





3

7

1977



2

2





4

5

1978



3

2





5

5

1979



1







1

5

1980





1





1

10

1981



2

1





3

16

1982





1





1

7

1983



4



1



5

2

1984















1985



1







1

6

1986



2







2



1987



1

2





3



1988



1







1

4

1989





1





1

2

129

274

3.191

1.924

7.372

12.890

6.649

Tabelle zusammengestellt von Falco Werkentin. Quellen: Andreas Eichmüller: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 626; Günther Wieland: Gesamtstatistik. In: DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Register und Dokumente. Amsterdam 2010, S. 97 f.

5. Strafverfolgung von NS-Verbrechen im vereinten Deutschland Nach der Wiedervereinigung Deutschlands führten Staatsanwälte umfangreiche Recherchen in den Archiven des MfS durch, das in der DDR zahlreiche Untersuchungsvorgänge wegen NS-Verbrechen angelegt hatte. Ebenso ergaben sich nach 1989/90 neue Zugänge zu osteuro­päischen und rus­sischen Archiven, die zu einer Vielzahl neuer Ermittlungsverfahren führten. Angeklagt wurden ­zwischen 1990 und Ende 2005 jedoch angesichts der etablierten Rechtsprechung in NSG-Verfahren und tatsäch­ licher Beweisprobleme nur zwanzig Personen, von denen sieben verurteilt wurden.42 42 Siehe Andreas Eichmüller: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008) 4, S. 621 – 6 40, hier S. 626.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

Einen juristischen Paukenschlag in der Strafverfolgung von NS -Tätern stellte 2011 das Urteil im Verfahren gegen den damals 91-jährigen John Demjanjuk vor dem Landgericht München II dar. Er hatte als ukrainischer sogenannter Trawniki-­Mann beziehungsweise »Hilfswilliger« 43 für die SS Wachdienste im Vernichtungslager Sobibór geleistet und wurde wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Juden zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt. Einen konkreten Tatnachweis hielt das Gericht – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung – nicht für nötig, da jeder Beteiligte »Teil der Vernichtungsmaschinerie« gewesen sei.44 Die Argumenta­tion des arbeitsteiligen Organisa­tionsverbrechens entstammt der Rechtsprechung gegen den RAF -Terror und interna­tionalen Terrorismus und greift im Grunde die Posi­tion Fritz Bauers im Frankfurter Auschwitz-­Prozess wieder auf, der ebenfalls von einem einheit­lichen, arbeits­ teilig begangenen Mordgeschehen ausgegangen war. Das Münchner Urteil wurde allerdings wegen eingelegter Revision und des vorzeitigen Ablebens Demjanjuks nicht rechtskräftig. Es bildete zugleich die Grundlage für neue Recherchen der Ludwigsburger Zentralstelle, die zu ungefähr fünfzig neuen Ermittlungsverfahren führten. Dazu zählt auch der Prozess vor dem Landgericht Lüneburg gegen den 93-jährigen Oskar Gröning, der als SS -Unterscharführer im KZ Auschwitz tätig gewesen war. Er wurde im Juli 2015 wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Juden zu vier Jahren Haft verurteilt, wobei das Urteil wegen eingelegter Revision beim Bundesgerichtshof ebenfalls noch nicht rechtskräftig ist.45 Einige weitere Verfahren sind noch vor Gerichten in Detmold, Kiel und Hanau anhängig. Dabei ist derzeit völlig offen, ob der Bundesgerichtshof als höchste Instanz die jüngst ergangenen Urteile bestätigen wird, was eine fundamentale Neubewertung und Abkehr von seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung bedeuten würde.

43 Zur »Freiwilligkeit« der Trawniki-­Männer siehe Angelika Benz: Handlanger der SS. Die Rolle der Trawniki-­Männer im Holocaust. Berlin 2015. 44 Vgl. Angelika Benz: Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München. Berlin 2011; Rainer Volk: Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanjuk-­ Prozess. München 2012. 45 Vgl. Peter Huth (Hrsg.): Die letzten Zeugen – Der Auschwitz-­Prozess von Lüneburg 2015. Eine Dokumenta­tion. Stuttgart 2015.

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|  Clemens Vollnhals

6. Resümee Zweifellos gab es bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz viele Defizite und Versäumnisse, die vor allem auf den mangelnden politischen Willen in den 1950er Jahren zurückzuführen sind. Zugleich wird man aber auch konzedieren müssen, dass die Justiz in späteren Jahrzehnten beacht­liche Bemühungen unternommen hat. Gravierende Hemmnisse für eine ener­gische Strafverfolgung waren die 1960 vom Deutschen Bundestag gebilligte Verjährung für Totschlag sowie die restriktive Auslegung des Tatbestandes der Beihilfe zum Mord durch den Bundesgerichtshof. Insgesamt führte die west- beziehungsweise bundesdeutsche Justiz vom 8. Mai 1945 bis zum Jahresende 2005 36.393 Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen gegen mehr als 172.000 Beschuldigte durch. Anklagt wurden 16.740 Personen, wobei es in 2045 Fällen zu keiner gericht­lichen Hauptverhandlung kam, weil die Verfahren aufgrund einer Amnestie eingestellt wurden (780), das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnte (633), die Angeklagten verstarben (234) oder verhandlungsunfähig wurden (59). In einigen Fällen (133) nahm auch die Staatsanwaltschaft die Anklage zurück und stellte das Verfahren ein.46 Zu einem Prozess führten 4964 (14 Prozent) aller einschlägigen Ermittlungsverfahren. Vor den Richtern standen 14.693 Angeklagte, gegen 13.952 ergingen rechtskräftige Urteile: Von diesen wurden 6656 verurteilt (48 Prozent), darunter 1147 wegen Tötungsdelikten und 172 wegen Mordes. 5184 Angeklagte wurden freigesprochen, gegen die übrigen 2101 Angeklagten verfügten die Richter eine Einstellung. »Die Freisprüche erfolgten«, wie Eichmüller ausführt, »in den allermeisten Fällen, weil nach Ansicht der Richter die vorliegenden Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichten, in einigen Fällen sahen sie auch die Unschuld der Angeklagten als erwiesen an.« 47 In der Mehrzahl der Fälle wurden die Angeklagten bei Tötungsdelikten nicht als Täter mit eigenem Tatvorsatz verurteilt, sondern nur der Beihilfe für schuldig befunden. Die hohe Zahl der Beschuldigten resultierte nicht zuletzt aus dem Vorgehen der Staatsanwaltschaften, die häufig ganze Dienststellen und Einheiten der Wehrmacht, deren Angehörige für eine Tatbeteiligung in Betracht kamen, förm­lich beschuldigten, um vorsorg­lich eine drohende Verjährung abzuwenden.

46 Zahlen bei Eichmüller: Strafverfolgung von NS-Verbrechen (wie Anm. 42), S. 631. – Weitere Einstellungen erfolgten aus unterschied­lichen recht­lichen Gründen, ebd., S. 631 bzw. wie Anm. 31. 47 Ebd., S. 632.

Die Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen  |

Blickt man nur auf die Statistik, so ist die Ahndung der massenhaften Verbrechen des NS-Regimes durch die bundesdeutsche Justiz weitgehend gescheitert. So sind von 6500 nament­lich bekannten Personen, die in der Mordmaschinerie Auschwitz ihren Dienst versehen hatten, nur 49 verurteilt worden.48 Die absolut unbefriedigende Bilanz stellt ein finsteres Kapitel in der Geschichte der Bundes­republik dar. Und die Bilanz wäre ohne den enormen, zumeist pauschal als »Siegerjustiz« diffamierten und viel zu wenig gewürdigten Beitrag der alliierten Gerichte zur Strafverfolgung der NS-Verbrechen noch wesent­lich düsterer. Zugleich ist es aber doch bemerkenswert, dass eine so tief in den Na­tional­ sozialismus verstrickte Nachkriegsgesellschaft die Kraft zu einer fortdauernden Auseinandersetzung aufbrachte und ihre Zuflucht nicht in der von der Gnadenlobby geforderten Generalamnestie suchte. Es war ein langwieriger, schmerzvoller Prozess gesellschaft­licher Selbstvergewisserung über den verbrecherischen Charakter der eigenen NS-Vergangenheit, der schließ­lich auch zu der Einsicht führte, dass die weitere Strafverfolgung von NS-Tätern zwingend geboten war. Dies war vor allem das Verdienst engagierter Journalisten und Juristen, die sich der populären Schlussstrichmentalität widersetzten.

48 Siehe Huth (Hrsg.): Die letzten Zeugen (wie Anm. 45), S. 259.

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Tobias Freimüller

Erlösung oder Mord? Die strafrecht­liche Verfolgung na­tionalsozialistischer Medizinverbrechen in der Bundesrepublik

Über die Verbrechen, die im Zusammenhang mit Medizin und Psychiatrie im Na­tionalsozialismus geschehen waren, wurde in Deutschland schon bald nach Kriegsende gesprochen. In Nürnberg standen im ersten der sogenannten Nachfolgeprozesse Mediziner vor Gericht, bald erlangte die Figur des »KZ -Arztes« in Gestalt des berüchtigten Zwillingsforschers Josef Mengele Bekanntheit – und in den frühen 1960er Jahren wurden sowohl publizistisch als auch juristisch erheb­liche Anstrengungen unternommen, Licht in das Dunkel der »Medizin ohne Menschlichkeit« zu bringen. In das Bewusstsein einer breiten Öffent­lichkeit rückten die NS -Medizinverbrechen allerdings erst in den 1980er Jahren. Seither ist die Medizingeschichte des Na­tionalsozialismus breit erforscht worden 1 und gehört inzwischen – ungeachtet einiger noch immer wenig beleuchteter Themenbereiche – zu den am besten analysierten Aspekten der Geschichte des Na­tionalsozialismus. Im Zuge dieser Forschungskonjunktur hat sich die Perspektive auf die Medizinverbrechen erheb­lich verschoben. Nicht mehr die grausamen Humanversuche, die vermeint­lich sadistische und diabo­lische Mediziner in den Konzentra­tions- und Vernichtungslagern durchführten, stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern diejenigen Medizinverbrechen, die im Zuge einer rassistisch überformten, eugenisch orientierten Auslese im medizinischen, vor allem psychiatrischen Alltag des »Dritten Reiches« verübt wurden.

1 Vgl. Winfried Süss: Der Volkskörper im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im na­tionalsozialistischen Deutschland 1939 – 1945. München 2003. – Als Forschungsüberblick vgl. Robert Jütte u. a.: Medizin und Na­tionalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2011. – Zur Nachkriegsgeschichte vgl. Ralf ­Forsbach: Abwehren, Verschweigen, Aufklären. Der Umgang mit den NS-Medizinver­brechen seit 1945. In: Zeitgeschichte-­online, Dezember 2013, URL: http://www.zeitgeschichte-­online.de/thema/ abwehren-­verschweigen-­aufklaeren, letzter Zugriff: 31. 03. 2016; Tobias Freimüller: Mediziner. Opera­tion Volkskörper. In: Norbert Frei (Hrsg.): Karrieren im Zwie­licht. Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt a. M./New York 2001, S. 13 – 69.

56

|  Tobias Freimüller

Neben der Zwangssterilisa­tion von rund 400.000 Menschen 2 betrifft dies vor allem den euphemistisch »Euthanasie« genannten Massenmord an körper­lich und geistig Behinderten, insbesondere die sogenannte »Ak­tion T4«, der 1940 und 1941 mehr als 70.000 erwachsene Kranke zum Opfer fielen. Sie wurden aus den Heil- und Pflegeanstalten in eine von sechs Tötungsanstalten verlegt und dort durch Gas ermordet.3 Bereits vor der »Ak­tion T4« hatte 1939 die »Kindereuthanasie« begonnen. In mehr als 30 »Kinderfachabteilungen« in psychiatrischen Anstalten, Krankenhäusern und Universitätskliniken fanden mehr als 5.000 vermeint­lich arbeits- und bildungsunfähige Kinder den Tod. Auch nachdem die »Ak­tion T4« im August 1941 offiziell für beendet erklärt worden war, wurden weiterhin Patienten in psychiatrischen Anstalten getötet, nun allerdings nicht mehr im Zug eines zentral gesteuerten Programms. Parallel dazu selektierten ehemalige »T4«-Gutachter nun arbeitsunfähige Häftlinge in Konzentra­tionslagern, die anschließend in drei der sechs ehemaligen Tötungsanstalten ermordet wurden (»Ak­tion 14f13«). Das Personal der »T4«-Tötungsanstalten und die Technik der Vergasungen wurde zudem in den ersten Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka eingesetzt, als im »Generalgouvernement« im Rahmen der sogenannten »­­ ­­ Aktion Reinhardt« 1942 und 1943 systematisch polnische und ukrainische Juden ermordet wurden. Den Krankenmorden im Na­tionalsozialismus sind nach heutigem Kenntnisstand (einschließ­lich der etwa 80.000 ermordeten Kranken in den besetzten Gebieten) bis zu 300.000 Menschen zum Opfer gefallen.4 Unmittelbar nach Kriegsende erschien den Besatzungsmächten aber nicht die »Euthanasie« als das zentrale Medizinverbrechen des NS-Staates. Die »Ak­tion T4« war längst beendet, die psychiatrischen Anstalten in der Provinz fielen nicht als Erstes ins Auge. Viel präsenter waren die grausamen Menschenversuche, die in den Konzentra­tionslagern im Zuge einer entfesselten wehrwissenschaft­lichen Zweckforschung vorgenommen worden waren. Der »Ärzteprozess«, der von Dezember 1946 bis August 1947 als erster der sogenannten Nachfolgeprozesse vor dem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg durchgeführt wurde,5 ­spiegelte 2 Vgl. Gisela Bock: Zwangssterilisa­tion im Na­tionalsozialismus. Studien zur Rassepolitik und Frauenpolitik. Opladen 1986. 3 Vgl. Hans-­Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Na­tionalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens« 1880 – 1945. Göttingen 1987. 4 Vgl. Jütte u. a.: Medizin und Na­tionalsozialismus (wie Anm. 1), S. 214. 5 Vgl. Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen. Berlin 2001; Angelika Ebbinghaus/­Karsten Linne (Hrsg.): Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld (Mikrofiche-­Edi­tion). München 1999 (mit

Erlösung oder Mord?  |

Abb. 1  Aufnahme aus dem Gerichtssaal des Nürnberger Ärzteprozesses. Unter anderen auf der Anklagebank Dr. Karl Brandt (erste Reihe, Erster von links)

diese frühe Wahrnehmung der Medizinverbrechen wider: Von 23 Angeklagten waren ledig­lich vier wegen der Patientenmorde angeklagt und nur zwei wurden in ­diesem Punkt verurteilt: zum einen der Generalkommissar für das Gesundheitswesen Karl Brandt, den Hitler in einem auf den Tag des Kriegsbeginns rückdatierten Ermächtigungsschreiben zusammen mit dem Leiter der »Kanzlei des Führers« Philipp Bouhler zum Beauftragten für die »Euthanasie« ernannt hatte, zum anderen Viktor Brack, der in der »Kanzlei des Führers« wesent­lich mit der Vorbereitung und Leitung der »Ak­tion T4« befasst gewesen war. 14 von 16 Medizinverbrechen, die im Ärzteprozess behandelt wurden, bezogen sich auf den Komplex der Menschenversuche.6 Es ging im Einzelnen um Versuche mit Lost, Phosgen und Sulfonamid, um Fleckfieberinfek­tionen, um Unterkühlungs-, Unterdruck- und Meerwasserversuche, die an Häftlingen in Konzentra­tionslagern einem Erschließungsband, München 2000); Claudia Wiesemann/Andreas Frewer (Hrsg.): Medizin und Ethik im Z ­ eichen von Auschwitz. 50 Jahre Nürnberger Ärzteprozess. Erlangen 1996. 6 Vgl. Jütte u. a.: Medizin und Na­tionalsozialismus (wie Anm. 1), S. 124.

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vorgenommen worden waren. Das Gericht rang in Nürnberg um die grundsätz­ liche Frage, wie man diese Humanexperimente beurteilen konnte – denn die Verteidiger machten geltend, dass es sich um seriöse, von angesehenen Medizinern durchgeführte Experimente gehandelt habe, die den im Felde stehenden Soldaten hatten zugutekommen sollen. Die Versuchspersonen s­ eien – so hatten die Angeklagten angeb­lich geglaubt – ohnehin zum Tode verurteilt gewesen oder hätten sich freiwillig gemeldet. Der Gerichtshof geriet in die Zwangslage, Standards für Experimente an Menschen erst einmal zu definieren. Der »Nürnberger Kodex«,7 der daraufhin formuliert wurde, erhob die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson zur zentralen Voraussetzung jedes Menschenversuchs. Das Urteil im Ärzteprozess vom 20. August 1947 lautete in sieben Fällen auf Todesstrafe, sieben Angeklagte wurden zu lebenslangen, zwei zu Zeitstrafen verurteilt. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Während die zum Tode Verurteilten hingerichtet wurden, profitierten die zu Haftstrafen Verurteilten bald vom gewandelten Zeitgeist der 1950er Jahre und wurden nach und nach vorzeitig entlassen. Der Ärzteprozess hatte die NS-Medizinverbrechen nur ausschnitthaft beleuchtet. Wie in allen »Nürnberger Prozessen« ging es um die exemplarische Bestrafung der führenden Köpfe einer Funk­tionselite des NS-Staates, nicht um die gründ­ liche Ausleuchtung eines Verbrechenskomplexes und die Ermittlung mög­lichst aller Schuldigen. Die Liste der Angeklagten resultierte notgedrungen aus dem lückenhaften Kenntnisstand der Ermittlungsbehörden des Jahres 1945, und längst nicht alle mög­lichen Tatkomplexe waren berücksichtigt worden. So waren durchaus nicht alle Humanexperimente vor Gericht gebracht worden,8 vor allem aber war der Komplex der Patientenmorde unterbe­lichtet geblieben. Tatsäch­lich fiel die Verfolgung der NS-»Euthanasie« nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 allerdings auch in die Zuständigkeit der deutschen Gerichte, weil es um Verbrechen ging, die von Deutschen an Deutschen oder an Staatenlosen verübt worden waren.9 Die Strafverfolgung des Mordes an den Psychiatriepatienten war zudem in mehrfacher Hinsicht erschwert: Die »Ak­tion T4« war ein arbeitsteiliges Verbrechen gewesen, Abläufe und Verantwort­lichkeiten waren bei Kriegsende zunächst nicht leicht zu überblicken. Hinzu kam, dass die Opfer der »Euthanasie« in der

7 Alexander Mitscher­lich/Fred Mielke (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt a. M. 1960, S. 272 f. 8 Vgl. Jütte u. a.: Medizin und Na­tionalsozialismus (wie Anm. 1), S. 134 – 139. 9 Vgl. Willi Dressen: NS-»Euthanasie«-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland im Wandel der Zeit. In: Hanno Loewy/Bettina Winter (Hrsg.): NS-»Euthanasie« vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 35 – 58.

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Wahrnehmung vieler Zeitgenossen durchaus einer anderen Kategorie zuzurechnen waren als diejenigen Opfer, die in Konzentra­tions- und Vernichtungslagern den Tod gefunden hatten. Hier ging es um Kranke, um Behinderte. Auch wer das Vokabular von »Ballastexistenzen« und »lebensunwertem Leben« nie verwendet oder sich nach Kriegsende rhetorisch neu ausgerichtet hatte, konnte diesen Überzeugungen weiter anhängen.10 Und selbst wer der Ideologie von Eugenik, Rassenhygiene und der Erbgesundheit des Volkskörpers seit jeher skeptisch oder ablehnend gegenüberstand, konnte dennoch glauben, dass der »Gnadentod« unheilbar Kranker nicht nur eine »Erlösung« für die Betroffenen, sondern auch für ihre Familien dargestellt hatte. Selbst die Hinterbliebenen der Opfer trugen das Thema der Patientenmorde nicht in die Öffent­lichkeit und vor die Gerichte – sei es aus Scham über den Fall von Krankheit und Behinderung in der Familie, sei es, weil man an die seinerzeit offiziell mitgeteilten Todesursachen glaubte, sei es, weil viele Angehörige dem »Gnadentod« ihrer Kinder oder Verwandten durchaus inner­lich zugestimmt hatten.11 Noch weniger als die Patientenmorde wurde die Geschichte der Zwangssterilisa­tionen thematisiert, schien hier doch die Grenze z­ wischen Verbrechen und medizinisch begründeter und erbbiolo­g isch vernünftiger Maßnahme noch wesent­lich unklarer zu sein. Die Vorstellung von einer eugenisch kontrollierenden Geburtenpolitik war schließ­lich weit über Deutschland hinaus überaus populär gewesen. Die Sterilisa­tion der vermeint­lich Erbkranken und »Asozialen« ging außerdem mit einer sozialen Stigmatisierung einher, die lange nachwirkte. So wurden die Opfer von »Euthanasie« und Zwangssterilisa­tion auch weder in West- noch in Ostdeutschland in der Entschädigungsgesetzgebung berücksichtigt.12 Wie umstritten die Grenze ­zwischen erbbiolo­gisch und medizinisch begründeter Maßnahme und Medizinverbrechen war, zeigte sich auch in den ersten Gerichtsverfahren, die in Sachen Patientenmord angestrengt wurden. Die angeklagten Mediziner machten beispielsweise geltend, dass ihr Handeln als »Erlösung«

10 In ­diesem Sinne vgl. u. a.: Ute Hoffmann: Aspekte der gesellschaft­lichen Aufarbeitung der NS-»Euthanasie«. In: Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven. Berlin 2011, S. 67 – 75. 11 Vgl. ebd., S. 69. 12 Vgl. Rolf Suhrmann: Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und »Euthanasie«-Geschädigte. In: Margret Hamm (Hrsg.): Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisa­tion und »Euthanasie«. Frankfurt a. M. 2005, S. 198 – 211; Jütte u. a.: Medizin und Na­tionalsozialismus (wie Anm. 1), S. 283 – 294.

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der Kranken zu verstehen sei.13 Immer wieder verwies man auf die von dem Psychiater Alfred Hoche und dem Strafrechtler Karl Binding 1920 publizierte Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens,14 die als ein Meilenstein in der wissenschaft­lichen Diskussion über den Gnadentod und die »Euthanasie« betrachtet wurde. Ärzte, die in den Anstalten getötet hatten, konnten sich zudem des Argumentes bedienen, dass sie sich der Rechtswidrigkeit ihres Tuns nicht bewusst gewesen ­seien. Mit Verweis auf Hitlers Ermächtigungsschreiben oder zumindest auf den kolportierten Willen des »Führers« und auf die wissenschaft­liche Diskussion über die Erlösung lebensunwerten Lebens konnten sie erklären, dass sie die »Erlösung« der Kranken nicht nur als politisch befohlen, sondern auch als von wissenschaft­lichen Autoritäten als medizinisch und ethisch vertretbar befürwortet verstanden hätten. Wer glaubhaft machen konnte, sich über den Verbotscharakter der eigenen Tat nicht im Klaren gewesen zu sein, wurde fortan nicht mehr als Mörder verurteilt. Mord lag nach § 211 des Strafgesetzbuchs näm­lich nur dann vor, wenn jemand aus niedrigen Beweggründen oder heimtückisch getötet hatte. Auch in einer älteren, bis September 1941 gültigen Fassung des Paragrafen setzte der Tatbestand des Mordes voraus, dass eine Tötung vorsätz­lich und mit Überlegung geschehen war. Dies bedeutete im Übrigen auch, dass selbst im »Dritten Reich« die Krankentötungen nach den Buchstaben des Gesetzes ein Verbrechen dargestellt hatten. Vor ­diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass in den ersten »Euthanasie«Verfahren vor deutschen Gerichten durchaus harte Urteilssprüche gefällt wurden. Im Frühjahr 1946 verurteilte das Landgericht Berlin eine Ärztin und eine Pflegerin, die in der Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-­Obrawalde Patienten getötet hatten, wegen Mordes zum Tode und unterstellte den Frauen niedere Beweggründe. Auch ein Revisionsantrag, der sich auf die Rechtsfigur des Verbotsirrtums stützte, wurde verworfen. Die Tötung der Kranken verstoße gegen ein allgemeines Sittengesetz, erklärte das Gericht. Während der Ärztin die Verantwortung zugesprochen 13 Vgl. Angelika Ebbinghaus: Mediziner vor Gericht. In: Klaus-­Dietmar Henke (Hrsg.): Töd­liche Medizin im Na­tionalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord. Köln u. a. 2008, S. 203 – 224, hier S. 217 ff.; Jürgen Schreiber: Ärzte vor Gericht. Zur Mentalitätsgeschichte der na­tionalsozialistischen »Euthanasie« im Spiegel westdeutscher Strafverfolgung. In: Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven. Berlin 2011, S. 77 – 93, hier S. 80. 14 Karl Binding/Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Leipzig 1920.

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wurde, über die Durchführung der Tötungen entschieden zu haben, wurde der Pflegerin die konkrete Tötungshandlung zur Last gelegt. Die Todesurteile wurden 1947 vollstreckt. Zeit­lich parallel verhandelte das Frankfurter Landgericht in mehreren Prozessen gegen das Personal der hes­sischen Anstalten Eichberg, Kalmenhof und Hadamar.15 Insgesamt sechs Angeklagte verurteilte das Gericht zum Tode, es verhängte 19 Zeitstrafen und sprach 18 Angeklagte frei. Die Todesurteile wurden allerdings nicht vollstreckt, und das »Gnadenfieber« (Robert Kempner) der 1950er Jahre erfasste auch die übrigen in Frankfurt Verurteilten. Bis auf zwei wurden alle vorzeitig wieder in die Freiheit entlassen.16 Eine systematische Analyse der Strafverfolgung der NS-»Euthanasie« liegt bis heute nicht vor.17 Das Amsterdamer Forschungsprojekt zu »Justiz und NS-Verbrechen« hat gezeigt, dass in Westdeutschland zum Komplex der NS-»Euthanasie« nur 30 rechtskräftige Urteile ergingen, obwohl über 400 Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Die Ermittlungsverfahren in Sachen NS-»Euthanasie« machten dabei nur 1,2 Prozent der Verfahren aus, die bis 2005 von west- und gesamtdeutschen Justizbehörden wegen NS-Gewaltverbrechen angestrengt wurden.18 Erwiesen ist auch, dass die Strafverfolgung der Patientenmorde mit Beginn der 1950er Jahre geradezu abriss, nachdem bis 1951 insgesamt 15 Verurteilungen ausgesprochen worden waren.19 Diese Zahlen kamen zustande, weil die Gerichte seit den 1950er Jahren ihren Ermessensspielraum anders nutzten als zuvor und sich nun der Argumenta­tions­ figur des »Verbotsirrtums« in der Regel anschlossen. Ein Veto des natür­lichen 15 Vgl. Matthias Meusch: Die Frankfurter »Euthanasie«-Prozesse 1946 – 1948. Zum Versuch einer umfassenden Aufarbeitung der NS-»Euthanasie«. In: Hes­sisches Jahrbuch für Landesgeschichte 47 (1997), S. 253 – 286. 16 Vgl. Petra Schweizer-­M artinschek: Strafverfolgung der Täter (o. D.), URL: http:// gedenkort-­t4.eu/de/gegenwart/strafverfolgung-­der-­taeter, letzter Zugriff: 07. 03. 2016; ­Henning Tümmers: Justitia und die Krankenmorde. Der »Grafeneck-­Prozess« in Tübingen. In: Stefanie Westermann/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven. Berlin 2011, S. 95 – 119. 17 Vgl. Susanne Benzler: Justiz und Anstaltsmord nach 1945. In: Thomas Blanke (Hrsg.): Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-­Staats. Baden-­Baden 1998, S. 383 – 411. – Die Ergebnisse von einschlägigen Disserta­tionsprojekten ( Jürgen Schreiber, Aachen und Petra Schweizer-­ Martinschek, Augsburg) liegen noch nicht vor. 18 Vgl. Dick de Mildt (Hrsg.): Tatkomplex NS-Euthanasie. Die ost- und westdeutschen Strafurteile seit 1945 (2 Bände). Amsterdam 2009; Jürgen Schreiber: Ärzte vor Gericht (wie Anm. 13), hier S. 78. 19 Vgl. Jütte u. a.: Medizin und Na­tionalsozialismus (wie Anm. 1), S. 272.

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Rechtes oder eines allgemeinen Sittengesetzes drang nun nicht mehr durch. Nach 1949 wurden die Angeklagten in »Euthanasie«-Verfahren von westdeutschen Gerichten nur noch wegen Totschlags, nicht mehr wegen Mordes verurteilt.20 Als erfolgversprechend für die Verteidigung erwies sich nun auch das Argument einer »Pflichtenkollision«, die aus der Posi­tion der Angeklagten als Befehlsempfänger resultiere. Diese »Pflichtenkollision« wurde den Angeklagten in etwa der Hälfte aller »Euthanasie«-Verfahren nach 1948 zugebilligt, vor allem leitenden Ärzten, Gutachtern und »T4«-Bürokraten, während dem ehemaligen Pflegepersonal häufiger der Verbotsirrtum zugutegehalten wurde. Die Ärzte hatten nach dieser Interpreta­tion zwar um den Unrechtscharakter der Tötungen gewusst, weil diese aber von höherer Stelle befohlen worden waren, hatten die Mediziner letzt­lich nur ihre Pflicht getan und waren Weisungen gefolgt. Die Pfleger und Schwestern dagegen – vermeint­lich von niederem Bildungsgrad – waren nicht in der Lage gewesen, das Verbotene ihres Tuns zu erkennen. Ein weiteres entlastendes Argument war die Behauptung von Ärzten, einzelne Kranke vor dem Tod gerettet zu haben. Dies war zum einen kaum zu widerlegen, zum anderen hatte letzt­lich jede Auswahl von potentiellen Mordopfern bedeutet, dass damit andere Kranke (vorerst) verschont geblieben waren. Geradezu perfide war schließ­lich die zuweilen zugunsten der Angeklagten ausgelegte Annahme, dass die Opfer infolge ihrer Krankheit die ihnen drohende Gefahr nicht erkennen konnten, so dass eine heimtückische Täuschung gar nicht vorgenommen werden musste.21 Wurde den Angeklagten der Verbotsirrtum oder die Pflichtenkollision zugutegehalten, standen die ­Zeichen auf Freispruch. Wo diese Entlastungsargumente nicht geltend gemacht werden konnten, eröffnete sich eine andere Ausflucht: Als Täter galt derjenige, der sich dem Morden aus Überzeugung und in vollem Bewusstsein verschrieben hatte. Ließ sich diese innere Überzeugung nachträg­ lich nicht beweisen, so galt der Angeklagte nur als Gehilfe – selbst dann, wenn er eigenhändig getötet hatte. Die Bereitschaft der Gerichte, die Psyche der Angeklagten gleichsam ex post zu erspüren und sich im Zweifel deren Entlastungsargumenten anzuschließen, führte zu einer Häufung von Freisprüchen und sehr milden Urteilen.22

20 Vgl. Susanne Benzler/Joachim Perels: Justiz und Strafverbrechen. Über den juristischen Umgang mit der NS-»Euthanasie«. In: Hanno Loewy/Bettina Winter (Hrsg.): NS»Euthanasie« vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 15 – 34; Tümmers: Krankenmorde (wie Anm. 16), S. 98. 21 Vgl. Benzler/Perels: Justiz (wie Anm. 20), S. 27 f. 22 Vgl. ebd., S. 23; Schreiber: Ärzte (wie Anm. 13), S. 80.

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Um das Jahr 1960 schien die Phase des Beschweigens der NS-Vergangenheit zu Ende zu gehen. Auch im Bereich der NS -Medizin deutete sich die Zeitenwende an. Am 12. November 1959 stellte sich der eher zufällig enttarnte Werner Heyde – ehemals Würzburger Ordinarius für Psychiatrie und zeitweiliger Leiter der »Ak­tion T4« – der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main. Heyde hatte seit 1947 unter dem falschen Namen Fritz Sawade in Schleswig-­Holstein gelebt, als Neurologe praktiziert und für verschiedene Behörden Tausende von neurolo­ gischen Gutachten angefertigt. Die wahre Identität des »Dr. Sawade« war in der schleswig-­holsteinischen Medizin, Politik und Bürokratie weithin bekannt gewesen, wie ein Untersuchungsausschuss des Landtags ­später erwies.23 Nur wenig ­später veröffent­lichte der Fischer Verlag unter dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit die kritische Dokumenta­tion des Nürnberger Ärzteprozesses, die Alexander Mitscher­lich seinerzeit im Auftrag der westdeutschen Ärztekammern angefertigt hatte. Das Buch, dessen erste Auflage 1949 derart ohne Echo geblieben war, dass mancher vermutete, die ärzt­liche Standesvertretung hätte es beiseitegeschafft, wurde elf Jahre ­später nun ein Bestseller und warf – bei aller Unzuläng­lichkeit der Prozessdokumenta­tion – zumindest ein grelles Licht auf die NS-Medizinverbrechen.24 Dies geschah in einem sich schnell verändernden gesellschaft­lichen Klima. Zunehmend gerieten ehemals führende NS-Mediziner unter Druck. Der Kieler Professor Werner Catel, in dessen Leipziger Klinik 1939 das erste Kind »euthanasiert« worden war, wurde 1960 vorzeitig emeritiert. Der Kinder- und Jugendpsychiater Werner Villinger, ehemals Chefarzt der Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel, jetzt Professor in Marburg, verunglückte töd­ lich bei einer Bergwanderung, nachdem ihn der Spiegel im Rahmen der Berichterstattung über den Fall Heyde/Sawade als »T4-Gutachter« beschuldigt hatte. Gleichzeitig interessierte sich in Frankfurt der Hes­sische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer für den Komplex der NS-»Euthanasie« – in mehrfacher Hinsicht: Erstens sah Bauer die Chance, Spitzenvertreter seiner eigenen Zunft, der Justiz, wegen 23 Vgl. Klaus-­Detlev Godau-­Schüttke: Die Heyde-­Sawade-­Affäre. Wie Juristen und Mediziner den NS-Euthanasieprofessor Heyde nach 1945 deckten und straflos blieben. Baden-­ Baden 22001. 24 Vgl. Alexander Mitscher­lich/Fred Mielke (Hrsg.): Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg. Heidelberg 1949; Tobias Freimüller: Wie eine Flaschenpost. Alexander Mitscher­lichs Dokumenta­tion des Nürnberger Ärzteprozesses. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-­Ausgabe 7 (2010) 1, URL: http://www.zeithistorische-­forschungen.de/1 – 2010/ id=4474, letzter Zugriff: 07. 03. 2016, Druckausgabe: S. 145 – 151; Jürgen Peter: Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscher­lich und Fred Mielke. Münster 21998.

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Mitwisserschaft in Sachen Patientenmord zu belangen. Im April 1941 hatten diese sich auf Einladung des kommissarischen Justizministers Franz Schlegelberger in Berlin versammelt, wo Werner Heyde und Viktor Brack den Spitzenjuristen das Mordprogramm präsentierten. Bauer sah nun die Chance, die Teilnehmer dieser Zusammenkunft zur Verantwortung zu ziehen. Zweitens war Bauers Behörde für den eher zufällig ins Netz gegangenen Werner Heyde zuständig. Drittens hatte Bauer bereits vor der Enttarnung Heydes Ermittlungen gegen Beteiligte an der »Ak­tion T4« angeordnet. Im Sommer 1961 glaubten die Frankfurter Staatsanwälte, dass man es mit mindestens 347 beteiligten Personen zu tun hatte, Anfang Oktober 1961 gingen sie bereits von 505 Personen aus, die in die Patientenmorde verstrickt waren. In Bauers Behörde lagerten mittlerweile 59 Aktenordner, gefüllt mit Vernehmungsprotokollen.25 Wer im Sommer 1961 auf die Strafverfolgung von NS -Medizinverbrechern blickte, konnte guter Hoffnung sein, dass die Zeit der Strafverschonung, der personellen Kontinuitäten und der mentalen Blockaden zu Ende ging. Doch diese Hoffnung war verfrüht. Im Fall der Konferenz der Juristen im Berliner Justizministerium konnte Fritz Bauer zwar wenige Tage vor dem Stichtag des 8. Mai 1960 die Aussetzung der Verjährung erwirken. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die die Ermittlungen weiterführen sollte, stellte diese aber 1962 ein mit der Begründung, ein Protest der anwesenden Juristen hätte seinerzeit die Patientenmorde nicht aufhalten können.26 Bauer zog daraufhin das Verfahren nach Frankfurt und strengte eine Voruntersuchung beim Landgericht Limburg gegen den ehemaligen Staatssekretär Franz Schlegelberger und 15 (später 20) weitere Personen an, die in Limburg allerdings liegen blieb. Nach Bauers überraschendem Tod im Sommer 1968 wurde das Verfahren eingestellt.27 Anfang 1961 hatte Bauer Werner Heyde der Tötung von mindestens 100.000 Menschen angeklagt. Weil Bauer einen in Dimension und Wirkung durchaus mit dem Auschwitz-­Prozess vergleichbaren »Euthanasie«-Prozess anstrebte, verband er mehrere andere Fälle mit dem Verfahren gegen Heyde: Mitangeklagt wurden nicht nur die ehemaligen »T4«-Geschäftsführer Gerhard Bohne und Friedrich Tillmann, sondern auch Hans Hefelmann, der als ehemaliger Leiter der Abteilung II b in der »Kanzlei des Führers« maßgeb­lich mit der Organisa­ tion der Patientenmorde befasst gewesen war. Schließ­lich wurde auch das Verfahren gegen Horst Schumann mit dem Heyde-­Prozess verbunden. Schumann war im NS -Staat Tötungsarzt in der Anstalt Grafeneck und zudem sowohl in 25 Vgl. Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903 – 1968. Eine Biographie. München 22009, S. 381. 26 Vgl. ebd., S. 380 f. 27 Vgl. Schweizer-­M artinschek: Strafverfolgung (wie Anm. 16).

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Abb. 2  Spiegel-­Titel aus dem Frühjahr 1964. Das Titelbild rekurrierte sowohl auf den Selbstmord Heydes als auch auf einen Spiegel-­Artikel vom Mai 1961, der einige Monate nach der Verhaftung Heydes unter dem Titel Die Kreuzelschreiber ausführ­lich über die NS-»Euthanasie« und über die »T4-Gutachter« informiert hatte.

die »Ak­tion 14f13« verstrickt als auch an Sterilisa­tionsversuchen in Auschwitz beteiligt gewesen. Noch bevor es zu dessen Verhaftung kam, floh Schumann nach Ghana. In der 833 Seiten umfassenden Anklageschrift, die für das Heyde-­Verfahren angefertigt wurde, war der Komplex der NS -Patientenmorde in beeindruckender Weise dargelegt – lange bevor die wissenschaft­liche Erforschung des Themas überhaupt begonnen hatte. Nennenswerte Wirkung entfaltete ­dieses Werk aber nie. Noch vor Prozessbeginn begingen Werner Heyde und Friedrich Tillmann Selbstmord. Der verbliebene Angeklagte Hans Hefelmann erwies sich als verhandlungsunfähig (1972 wurde sein Verfahren eingestellt). Gerhard Bohne war 1963 nach Argentinien geflohen. Zwar wurde er 1964 von dort als erster NS -Verbrecher in die Bundesrepublik ausgeliefert, doch auch er war nun verhandlungsunfähig. Das mit großem Aufwand geplante Verfahren gegen Heyde war geplatzt.28

28 Vgl. Wojak: Bauer (wie Anm. 25), S. 383 ff.

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Ein Ergebnis der Frankfurter Ermittlungen gegen ehemalige Tötungsärzte war das Verfahren gegen Aquilin Ullrich, Heinrich Bunke und Klaus Endruweit. Die drei Studienfreunde waren zu Kriegsbeginn notapprobiert und 1940 von Werner Heyde zur »Ak­tion T4« angeworben worden. Nach 1945 hatten alle drei weiter als Ärzte praktiziert. Im Juni 1966 wurde die Hauptverhandlung eröffnet, im Mai 1967 erging das Urteil. Die Angeklagten wurden freigesprochen. Zwar bejahte das Gericht das Mordmerkmal der Heimtücke, nahm aber an, dass die Angeklagten unter dem Einfluss der NS-Ideologie sowie in Kenntnis des Ermächtigungsschreibens Hitlers und der Schrift von Binding und Hoche in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt hatten. Der Bundesgerichtshof hob 1970 das Urteil auf und verwies das Verfahren zurück nach Frankfurt, doch jetzt legten die Angeklagten dem Gericht Zeugnisse über ihre Verhandlungsunfähigkeit vor, sodass das Verfahren ausgesetzt wurde. Die drei Ärzte praktizierten trotz ihrer angegriffenen Gesundheit weiter. Parallel zu d­ iesem Verfahren wurde auch Haftbefehl gegen Kurt Borm verhängt, ehemals Arzt in der Anstalt Pirna-­Sonnenstein, s­ päter in der »T4«-Zentrale tätig.29 Als das Schwurgericht Frankfurt am Main im Juni 1972 das Urteil sprach, trieb d­ ieses die exkulpierende Argumenta­tion auf die Spitze: Der Angeklagte sei aufgrund seiner Erziehung und seines begrenzten geistigen Horizonts nicht in der Lage gewesen, das Unrechtmäßige seines Tuns zu erkennen. Er habe geglaubt, dass die »Euthanasie«, der sich die gesamte deutsche Medizin und Psychiatrie verschrieben hatte, eine rechtmäßige Sache sei.30 Die Revision der Staatsanwaltschaft wurde vom Bundesgerichtshof im März 1974 verworfen. Das Urteil sorgte für Proteste – unter anderem erschien ein offener Brief einiger Prominenter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung –, aber es war rechtskräftig.31 Das Verfahren gegen Horst Schumann, der 1966 aus Ghana in die Bundesrepublik ausgeliefert worden war, begann im Dezember 1969. Es endete im Juli 1972 mit einer endgültigen Einstellung wegen Verhandlungsunfähigkeit. Wer Mitte der 1970er Jahre auf die Aufarbeitung und justizielle Ahndung der NS -Medizinverbrechen blickte, der hatte allen Grund zur Resigna­tion. Die großteils in Frankfurt am Main angestoßenen Gerichtsverfahren waren entweder gescheitert oder hatten zu Urteilen geführt, die man als skandalös empfinden konnte. Eine wissenschaft­liche Beschäftigung mit der NS -Medizin hatte nicht wirk­lich begonnen, obwohl es neben der Wiederveröffent­lichung der Mitscher­lich-­Dokumenta­tion einige weitere Anstöße gegeben hatte, die 29 Vgl. ebd., S. 388 f. 30 Vgl. Dressen: NS-»Euthanasie«-Prozesse (wie Anm. 9), S. 46 ff. 31 Vgl. ebd., S. 48.

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NS -»Euthanasie« zu erforschen.32 In der ärzt­lichen Standesvertretung waren keine ­Zeichen zu erkennen, die eine Reflexion über die NS -Vergangenheit der eigenen Zunft angezeigt hätten. Die kritische Aufarbeitung der NS -Medizinverbrechen begann nicht 1960, sondern erst zwei Jahrzehnte ­später, als sich das Thema mit der Kritik einer nachrückenden Genera­tion an der Art und Weise des Umgangs mit Kranken und Behinderten verband. Der als Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag von kritischen Ärzten und Historikern organisierte 1. »Gesundheitstag« stand 1980 unter dem Motto »Medizin im Na­tionalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradi­tion?«.33 Diese Veranstaltung markierte den Beginn einer vielfältigen Beschäftigung mit der NS-Medizin, die sich nun schnell verbreiterte. Zuerst legten Einzelkämpfer wie Klaus Dörner,34 Walter Wuttke-­Groneberg,35 Götz Aly 36 und Ernst Klee 37 entscheidende Publika­tionen vor.38 Parallel dazu gründete sich 1983 ein Arbeitskreis zur Erforschung der na­tionalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisa­tion. Im selben Jahr begann mit der Eröffnung der Gedenkstätte Hadamar auch die institu­tionalisierte Erinnerung an die NSPatientenmorde. 1987 gründete sich ein Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten.

32 Vgl. Klaus Dörner: Na­tionalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967) 2, S. 121 – 152; Helmut Ehrhardt: Euthanasie und Vernichtung »lebensunwerten« Lebens. Stuttgart 1965; Gerhard Schmidt: Selek­tion in der Heilanstalt 1939 – 1945. Stuttgart 1965. 33 Vgl. Gerhard Baader/Ulrich Schultz (Hrsg.): Medizin und Na­tionalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradi­tion? Berlin 1980. 34 Vgl. Klaus Dörner u. a. (Verf. u. Hrsg.): Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Nach »Holocaust«. Erkennen – Trauern – Begegnen. Frankfurt a. M./Bonn 1980. 35 Vgl. Dörner: Der Krieg gegen die psychisch Kranken (wie Anm. 34). 36 Vgl. Götz Aly u. a. (Hrsg.): Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren. Berlin 1985; ders./Christian Pross (Bearb.): Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918 – 1945. Berlin 1989. 37 Vgl. Ernst Klee: »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Frankfurt a. M. 21983; ders.: Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- und Judenmord. Frankfurt a. M. 1985; ders.: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. Frankfurt a. M. 2001. 38 Etwas versetzt begann auch die Hinwendung der Geschichtswissenschaft zum Thema der NS -Medizin. Vgl. zuerst: Robert Jay Lifton: Ärzte im Dritten Reich. Berlin 1998 (Originalausgabe: The Nazi Doctors. Medical Killing and the Psychology of Genocide. New York 1986); Bock: Zwangssterilisa­tion (wie Anm. 2); zur Professionsgeschichte vgl. Renate Jäckle: Die Ärzte und die Politik. 1930 bis heute. München 1988; Michael H. Kater: Ärzte als Hitlers Helfer. Hamburg 2000 (Originalausgabe: Doctors under Hitler. Chapel Hill u. a. 1989).

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Für die strafrecht­liche Aufarbeitung der Medizinverbrechen kam ­dieses neue Problembewusstsein aber zu spät. Die Prozesse waren bereits geführt, oder sie waren versäumt worden. Eine offene Rechnung bestand noch in Frankfurt am Main, wo das Verfahren gegen die Ärzte Bunke, Endruweit und Ullrich seit dem Freispruch von 1967 einer mora­lisch vertretbaren Beendigung harrte. Nachdem eine Gruppe Angehöriger von »Euthanasie«-Opfern lange Zeit Druck ausge­übt hatte, begann 1986 ein neues Verfahren gegen Bunke und Ullrich. Klaus ­Endruweit, der noch im Vorjahr praktiziert hatte, schied krankheitshalber aus. Die Angeklagten­ Ullrich und Bunke erhielten Freiheitsstrafen von je vier Jahren wegen Beihilfe zum Mord. Zwar stellte das Gericht fest, dass es sich um h ­ eimtückisch verübte Verbrechen gehandelt hatte, und erklärte die Patientenmorde für rechtswidrig, der Bundesgerichtshof reduzierte aber das Strafmaß auf drei Jahre. Bunke und Ullrich wurden 1990 aus der Haft entlassen.39 Die strafrecht­liche Ahndung der na­tionalsozialistischen Medizinverbrechen in der Bundesrepublik ist ein repräsentatives Beispiel für die justizielle Aufarbeitung der NS -Verbrechen insgesamt. Einer ersten Phase durchgreifender Säuberung folgte eine Phase der Exkulpa­tion. Die Rechtsprechung reflektierte immer auch die Selbstbilder der Gesellschaft. Unkenntnis über das Verbotene des eigenen Tuns, Glaube an eine quasigesetz­liche Grundlage und an die Rückendeckung durch Vorgesetzte und Autoritäten – das waren Vorstellungen, die sich in Deutschland nach 1945 vielerorts fanden. Die Unklarheit darüber, ob die Patientenmorde nicht als eine Form der Sterbehilfe zu verstehen seien, verweist auf fortdauernde Einstellungen gegenüber körper­lich und geistig Behinderten. Die »Pflichtenkollision«, ­welche die Gerichte vielen Angeklagten bescheinigte, korrespondierte mit der Selbstinterpreta­tion der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Das Unrecht war im NS -Staat stets von höheren Stellen ins Werk gesetzt worden, sodass man selbst in eine Pflichtenkollision geriet. Hatte man auch nur das Mindeste getan, was den Gang der Dinge verlangsamte oder veränderte, war dies als Widerstandshandlung zu verstehen. In den frühen 1960er Jahren hatte es den Anschein, als käme die Strafverfolgung der NS-Ärzte, im Wesent­lichen dank des Engagements von Fritz Bauer, doch noch in Gang. Tatsäch­lich schien sich die Tendenz zur Exkulpa­tion im Laufe der 1960er und 1970er Jahre aber eher noch zu verschärfen. Womög­lich war es die Grausamkeit der KZ -Medizin, die noch immer den Patientenmord überstrahlte. Wer von NS-Medizinverbrechen sprach, dachte in erster Linie an Josef Mengele, den sadistischen Zwillingsforscher, der an der Rampe in Auschwitz

39 Vgl. Schweizer-­M artinschek: Strafverfolgung (wie Anm. 16).

Erlösung oder Mord?  |

selektiert hatte. Die teils planvolle, teils unkoordiniert durchgeführte Ermordung der Anstaltspatienten drang gegen diese schauer­lichen Menschenversuche nicht durch. Die Verantwortung einzelner Ärzte zu bestimmen, die ihr Werk getan hatten im Kontext einer politisch und wissenschaft­lich betriebenen »Reinigung« des Volkskörpers von seinen kranken Gliedern, gelang so lange nicht, wie neben dem Bewusstsein über den prinzipiellen Unrechtscharakter der Tötungen die Unklarheit darüber bestehen blieb, wo die Grenze ­zwischen »Erlösung« und Mord tatsäch­lich verlaufen war. Dass es der westdeutschen Justiz nicht gelang, die NS -Medizinverbrechen angemessen abzuurteilen – nicht nur während der ersten Nachkriegsjahrzehnte, in denen noch personelle und mentale Kontinuitäten einem kritischen Umgang mit der »jüngsten Vergangenheit« entgegenstanden –, war aber nicht nur dem Problem geschuldet, Klarheit über deren Unrechtscharakter zu gewinnen. Auch das Strafrecht selbst erwies sich als wenig geeignetes Instrument, das in hohem Maße arbeitsteilig durchgeführte Verfahren der Patientenmorde abzuurteilen. Ein Strafgesetz, das den Verbrecher als Einzelnen betrachtet, der sich gegen die Allgemeinheit und gegen das geltende Recht stellt, tat sich schwer mit einem Verbrechen, das von einem bürokratischen Apparat verübt wurde und das im Einklang mit dem Willen der Staatsführung stand – zumal dort, wo der konkrete Tatbeitrag des einzelnen Angeklagten nachträg­lich kaum noch zu erhellen war. Diese Unzuläng­lichkeit des Rechtes beruhte frei­lich auf seiner Auslegung durch die Justiz. Dies wurde spätestens deut­lich, als das Landgericht München II im Mai 2011 in einem aufsehenerregenden Verfahren den gebürtigen Ukrainer John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord verurteilte. Zwar war dem Angeklagten, der nach 1942 als Angehöriger von SS-Hilfstruppen Dienst unter anderem im Vernichtungslager Sobibór getan hatte, keine konkrete Tat nachzuweisen, es stehe aber außer Zweifel, erklärte das Gericht in seiner Urteilsbegründung, dass »der Angeklagte in seiner Funk­tion als Teil der Wachmannschaften einen konkret fördernden Beitrag zur Vernichtung der deportierten Menschen, die einziger Zweck des Vernichtungslagers Sobibor gewesen war, leistete«.40 Einer solchen Interpreta­tion der NS-Vergangenheit hätten bundesdeutsche Gerichte in NS-Verfahren zweifellos schon seit den 1950er Jahren folgen können. Dass sie es nicht taten, verweist auf den engen Zusammenhang ­zwischen der Rechtsprechung und dem gesellschaft­lichen Klima, in dem sie vollzogen wird.

40 Dick de Mildt/Christiaan F. Rüter (Hrsg.): Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XLIX. Amsterdam 2012, S. 221 – 386 (lfd Nr. 924), hier S. 355.

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Martin Kiechle

Ein »unseren gesellschaft­lichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis« Das Ministerium für Staatssicherheit und die »Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda

Zwischen 1939 und 1945 waren die Heil- und Pflegeanstalten im deutschen Machtbereich Schauplatz eines unvorstellbaren Massenmords gewesen. In diesen wenigen Jahren fielen fast 300.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte dem na­tionalsozialistischen »Euthanasie«-Programm zum Opfer – die meisten in psychiatrischen Einrichtungen, wo Ärzte und Pfleger Medikamente in töd­lichen Dosierungen verabreichten, die Patienten verhungern ließen oder sie in eigens dafür eingerichteten Mordzentren vergasten.1 Dabei spielte das Gebiet der späteren DDR, vor 1945 noch in der Mitte des Reiches zentral gelegen und verkehrstechnisch gut erschlossen, bei der Tötung der Kranken und Behinderten eine wichtige Rolle. Viele Psychiatriepatienten wurden hier ermordet.2 Als der Krieg 1945 vorbei und das NS -Regime besiegt war, boten sich der ostdeutschen Justiz also zahlreiche Ansatzpunkte, wegen »Euthanasie«-Verbrechen zu ermitteln. Ernsthafte Bemühungen blieben aber – ähn­lich wie in Westdeutschland – die Ausnahme. Zwar gab es kurz nach Kriegsende einige Prozesse; die Verfahren waren aber vom Untersuchungs- und Verhandlungswillen der zuständigen Behörden abhängig. Während in Schwerin, Dresden und Magde­ burg gegen Ärzte und Pfleger durchaus harte Urteile ausgesprochen wurden,3 kam es in Thüringen nur selten zu Verhandlungen und letzt­lich bloß zu einem 1 Vgl. Hans-­Walter Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord. In: Robert Jütte u. a. (Hrsg.): Medizin und Na­tionalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2011, S. 214 – 255, hier S. 214. 2 Vgl. Frank Hirschinger: Die Strafverfolgung von NS-Euthanasieverbrechern in der SBZ/ DDR. In: Klaus-­Dietmar Henke (Hrsg.): Töd­liche Medizin im Na­tionalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord (Schriften des Deutschen Hygiene-­Museums Dresden, 7). Köln/Weimar/Wien 2008, S. 225 – 246, hier S. 227 f. 3 Am meisten Aufsehen erregte zweifellos der Dresdner »Euthanasie«-Prozess. Vgl. hierzu Boris Böhm/Julius Scharnetzky: »Wir fordern schwerste Bestrafung.« Der Dresdner »Euthanasie«-Prozess 1947 und die Öffent­lichkeit. In: Jörg Osterloh/Clemens V ­ ollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und

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Schuldspruch.4 Die Krankenmorde wurden verschwiegen, nicht thematisiert, nicht systematisch aufgeklärt. Kaum verwunder­lich, denn noch immer waren psychisch Kranke und geistig Behinderte stigmatisiert. Das Jahr 1945 brachte für sie keinen Neuanfang. Sie fristeten nach wie vor ein gesellschaft­liches Randdasein. Auch deshalb fehlte es den Polizeidienststellen und Gerichten vielerorts an Interesse und Engagement, sich mit der NS -»Euthanasie« zu befassen – das wurde in Stadtroda, wo sich immerhin das Zentrum der thürin­gischen Krankenmorde befunden hatte, ganz deut­lich.5 Am Rande der Stadt, abseits gelegen, in einem Krankenhaus nahe dem Fluss Roda waren während der NS-Zeit Psychiatriepatienten systematisch ermordet worden. Die Tötungen hatten eigent­lich geheim bleiben sollen, jedoch kursierten bereits vor 1945 in der Bevölkerung Gerüchte,6 die sich nach Kriegsende zunehmend verfestigten. Ende 1946 gab ein ehemaliger Angestellter – ein Betonmeister, der aufgrund seiner NS-Vergangenheit in Untersuchungshaft saß – bei der Stadtrodaer Kriminalpolizei zu Protokoll, er habe 1942 gesehen, wie ein Patient mit Hilfe einer Medikamentenspritze ermordet worden sei. Generell sei, so der Befragte, die Todesrate in Stadtroda auffällig hoch gewesen. Es habe DDR (Schriften des Hannah-­Arendt-­Instituts für Totalitarismusforschung, 45). Göttingen

2011, S. 189 – 206. 4 In Thüringen gab es ledig­lich zwei Verhandlungen. Am 29. Juni 1948 verurteilte das Landgericht Weimar eine Krankenpflegerin zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis, da sie, wie es in der Urteilsbegründung hieß, in den »Vernichtungslagern Grafeneck und Hadamar« an der Ermordung von »etwa 400 – 500 Geisteskranken« mitgeholfen habe. Anfang der 1950er Jahre musste sich der ehemalige Leiter der Landesheil- und Pflegeanstalt Hildburghausen, Johannes Schottky, vor dem Landgericht Meiningen verantworten. »Euthanasie«-Verbrechen konnten ihm jedoch nicht nachgewiesen werden, ledig­lich die Beteiligung an der Erschießung zweier Patienten kurz vor Kriegsende. Nach Ansicht des Landgerichtes habe Schottky die beiden »Sicherungsverwarten« aus »politischen Beweggründen« einem Exeku­tionskommando der Wehrmacht übergeben – allein mit dem Ziel, »den anrückenden amerikanischen Truppen mög­lichst wenig Opfer des faschistischen Terrorregimes in die Hände fallen zu lassen«. Das Urteil lautete daher zwei Jahre und neun Monate Zuchthaus. Schottky war zu ­diesem Zeitpunkt allerdings schon nach Westdeutschland geflohen. Das Urteil wurde nicht vollstreckt. Beide Urteile finden sich bei Dick de Mildt (Hrsg.): Tatkomplex NS-Euthanasie. Die ostund westdeutschen Strafurteile seit 1945, 2 Bde. Amsterdam 2009. 5 Zu den »Euthanasie«-Morden in Stadtroda vgl. Susanne Zimmermann (Hrsg.): Überweisung in den Tod. Na­tionalsozialistische »Kindereuthanasie« in Thüringen (Quellen zur Geschichte Thüringens, 25). Erfurt 42010; Renate Renner: Zur Geschichte der Thüringer Landesheilanstalten/des Thüringer Landeskrankenhauses Stadtroda 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der na­tionalsozialistischen »Euthanasie« (Diss. med.). Jena 2004. 6 Schreiben des Direktors der Thürin­gischen Landesheilanstalten Stadtroda, Gerhard Kloos, an den Reichsstatthalter in Thüringen, Fritz Sauckel, vom 22. 9. 1941. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Beiakte, Bd. I, Bl. 109.

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während des Krieges »ein erheb­liches Absterben von Patienten« gegeben. Die »plötz­lich ansteigende Sterbekurve« sei nicht anders zu erklären, als »dass hier gewaltsam der Tod von Patienten herbeigeführt wurde«. Zudem ­seien wenige Monate nach Kriegsausbruch et­liche Patienten in eine andere Anstalt abtransportiert worden. Wohin, vermochte der ehemalige Angestellte allerdings nicht mehr genau zu rekonstruieren. Er konnte sich nur noch vage daran erinnern, dass der Transport »nach irgendeinem Ort in Sachsen« gegangen sei. Was mit den Patienten geschehen war, hatte er hingegen nicht vergessen: »Von diesen Menschen hörten wir nichts wieder, als, dass nach und nach die Todesnachrichten von diesen bei uns eintrafen.« 7 Die Polizei leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen zwei ehemalige Oberpfleger ein, die im Verdacht standen, Patienten ermordet zu haben. Allerdings kam es nie zu einer Gerichtsverhandlung, obwohl einer der Verdächtigen sogar zugab, von den Tötungen gewusst und die töd­lich wirkenden Spritzen selbst gesetzt zu haben; er habe jedoch nur auf Anweisung der Ärzte gehandelt. Auch die von der Polizei durchgeführten Zeugenbefragungen hatten keinen Erfolg. Am 9. September 1948 entschied daher die Oberstaatsanwaltschaft in Weimar, das Verfahren aus Mangel an Beweisen einzustellen. Gegen die Ärzte des Krankenhauses in Stadtroda gab es kein Untersuchungsverfahren. Sie blieben unbehelligt, ungeachtet der schweren Anschuldigungen.8 Keine vier Jahre nach der Einstellung des Verfahrens kam die Strafverfolgung von »Euthanasie«-Verbrechern in der DDR fast gänz­lich zum Erliegen. Ein Prozess am Landgericht Magdeburg Anfang Februar 1952 gegen den Kraftfahrer Walther Stephan und den »Euthanasie«-Funk­tionär Richard von Hegener markierte den Abschluss der strafrecht­lichen Auseinandersetzung mit den NSKrankenmorden.9 Im Zuge des sich verschärfenden »Kalten Krieges« hatten andere, weltanschau­liche Ziele Vorrang. Die DDR zog offiziell einen Schlussstrich unter die NS-Strafverfolgung und rühmte sich, die Medizinverbrechen rigoros geahndet zu haben. Der Bundesrepublik hingegen attestierte sie eine mangelhafte Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich«. Noch immer befänden sich zahlreiche NS-Täter in führenden Posi­tionen. Die dahinterstehende politische 7 Die polizei­liche Vernehmung des ehemaligen Angestellten A. In: BStU, ASt Gera, AST 268/47 GA, Bd. I, Bl. 11 – 14, zit. nach: Matthias Wanitschke (Hrsg.): Archivierter Mord. Der SED-Staat und die NS-»Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda (Quellen zur Geschichte Thüringens, 26). Erfurt 2005, S. 40 – 4 6. 8 Vgl. Wanitschke: Archivierter Mord (wie Anm. 7), S. 15 – 20. 9 Danach gab es nur noch einen Prozess, näm­lich am 12. Juli 1965 gegen Otto Hebold. Die meisten »Euthanasie«-Verfahren waren bis 1952 abgeschlossen. Vgl. Hirschinger: Strafverfolgung (wie Anm. 2), S. 234 – 238.

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Inten­tion war eindeutig: Sich selbst erhob die DDR zum »antifaschistischen« Staat; die Bundesrepublik dagegen wurde als Nachfolgerin der Hitler-­Diktatur mora­lisch diskreditiert. Bis zum Schluss betrieb das SED-Regime diese propagandistische Doppelstrategie. Für die reibungslose Umsetzung sorgte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das seit Beginn der 1950er Jahre die Federführung in der Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen übernommen hatte.10 Wie sehr das MfS die NS-Vergangenheit ideolo­gisch aufgeladen und instrumentalisiert hatte, zeigte sich in Stadtroda Anfang der 1960er Jahre. Fast zwei Dekaden nach Kriegsende prüfte das Berliner Ministerium den »Euthanasie«Verdacht erneut, diesmal sehr umfangreich. Ob dabei die Ermittlungsakten, die die Stadtrodaer Polizei kurz nach Kriegsende zusammengestellt hatte, in die Untersuchungen einbezogen wurden, ist unklar, allerdings unwahrschein­lich. Das MfS hatte diese zwar übernommen; wann ist aber nicht festzustellen, und in den Dokumenten des Ministeriums ist kein Hinweis darauf zu finden, dass es von früheren Recherchen wusste.11 Dem Engagement der zuständigen »Stasi«Mitarbeiter tat das jedoch keinen Abbruch.

1. Beginn der konspirativen Ermittlungen Ausschlaggebend für die Ermittlungen des MfS war ein Impuls von außen: Am 27. November 1964, einem Freitagvormittag gegen acht Uhr, wurde Erich Drechsler, der Leiter des Bezirkskrankenhauses Stadtroda und einer der angesehensten Psychiater der DDR, in der Stadtrodaer Kreisdienststelle vorstellig, ohne Ankündigung, ganz unvermittelt – sein Anliegen war dafür umso klarer: Drechsler gab zu Protokoll, er habe erst kürz­lich in Erfahrung gebracht, dass unter seinem Amtsvorgänger Gerhard Kloos während des Zweiten Weltkriegs »aller Wahrschein­lichkeit nach Euthanasieverbrechen im Krankenhaus Stadtroda durchgeführt wurden«. Grundlage für diese Vermutung war die Aussage eines Handwerkers, der »mit 10 Vgl. hierzu vor allem Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR (Analysen und Dokumente – Wissenschaft­liche Reihe des Bundes­ beauftragten, 28). Göttingen 32007. 11 Zu den Ermittlungen der Staatssicherheit in Stadtroda vgl. hauptsäch­lich Wanitschke: Archivierter Mord (wie Anm. 7); Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit (wie Anm. 10), S. 344 – 347; Ute Hoffmann: »Das ist wohl ein Stück verdrängt worden …«. Zum Umgang mit den »Euthanasie«-Verbrechen in der DDR. In: Annette Leo/Peter Reif-­Spirek (Hrsg.): Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Berlin 2001, S. 51 – 66; Frank Döbert: »Nicht im Interesse unserer Gesellschaft«. MfS und Nazi-­ Ideologie. In: Gerbergasse 18 (2000) 2, S. 2 ff.

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eigenen Augen gesehen« habe, so Drechsler, wie im Jahre 1941 zwei Patienten mit Medikamentenspritzen behandelt worden ­seien; nur »kurze Zeit« ­später ­seien beide tot gewesen. Drechsler habe daraufhin die entsprechenden Krankenblätter herausgesucht. Und in der Tat, beide Patienten verstarben am selben Tag und bei beiden war eine Todesursache angegeben, die in »Euthanasie«-Akten häufig notiert wurde: »Herz- und Kreislaufschwäche«. Für Drechsler hatte sich damit die Aussage des Handwerkers bestätigt. Die Vermutung der »Euthanasie«-Verbrechen lag nahe. Er vereinbarte daher, mit der Kreisdienststelle zusammenzuarbeiten, nicht zuletzt, da er selbst daran interessiert war, wie es in dem Protokoll abschließend heißt, »diese Sache schnellstens zu klären«.12 Was Drechsler jedoch unerwähnt ließ: Er machte seine Aussage wahrschein­lich nicht aus freien Stücken. Denn noch wenige Monate zuvor schien er sich sicher gewesen zu sein, in Stadtroda habe es keine »Euthanasie«-Morde gegeben. Bereits 1962 hatte die Göttinger Staatsanwaltschaft gegen Gerhard Kloos ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Kloos, der ­zwischen 1939 und 1945 Direktor des Krankenhauses in Stadtroda gewesen war, stand im Verdacht, an den Krankenmorden im »Dritten Reich« mitgewirkt zu haben. Das Verfahren wurde allerdings schon kurze Zeit ­später wieder eingestellt. Die Untersuchungen hätten keine »Anhaltspunkte« ergeben – ganz im Gegenteil: Kloos konnte ein Entlastungsschreiben vorlegen, das ihn von allen Anschuldigungen freisprach. Autor des Schreibens war Erich Drechsler, der ihm im Juni 1963 »gern und mit gutem Gewissen« attestierte, an der NS -»Euthanasie« in »keiner Weise beteiligt« gewesen zu sein. Das hätten mehrere Recherchen, die Drechsler persön­lich nach Kriegsende durchgeführt habe, ergeben. Drechsler ging sogar noch einen Schritt weiter; er stilisierte Kloos zum Widerstandskämpfer. Dieser habe, so Drechsler, Menschen vor den »Klauen der Gestapo« versteckt, er habe Verfolgte des NSRegimes beschützt, ihnen Unterschlupf gewährt, jedoch niemanden ermordet.13 Die Vorzeichen hatten sich vollkommen verkehrt, die Exkulpa­tion war perfekt. Kloos stand als Retter da. Von NS-Verbrechen war keine Rede. Doch schon bald kam die Generalstaatsanwaltschaft der DDR zu einem anderen Ergebnis. Bei Ermittlungen im Landeshauptarchiv Weimar Anfang November 1964 fand sie Unterlagen, die Stadtroda als Ort von »Euthanasie«Verbrechen deut­lich benannten.14 Der Grund der Recherchen ist unklar – sicher 12 Mitteilung des ärzt­lichen Direktors des Bezirkskrankenhauses Stadtroda Obermedizinalrat Prof. Dr. Drechsler vom 27. 11. 1964. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 7 ff. 13 Schreiben Drechslers an Kloos vom 21. 6. 1963. In: BStU, ZA, MfS HA IX/11 RHE 12/85, Bl. 30. 14 Vgl. Wanitschke: Archivierter Mord (wie Anm. 7), S. 21 – 25.

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ist jedoch: Kurze Zeit ­später wurde Staatsanwalt Gerhard Ender bei Drechsler vorstellig. Ender hatte die Recherchen in Weimar selbst durchgeführt; er wusste auch von dem Entlastungsschreiben Drechslers, schätzte es aber als apologetisch ein. Ender konfrontierte Drechsler daher mit seinen Rechercheergebnissen und forderte ihn unmissverständ­lich auf, das Krankenhausarchiv ein zweites Mal zu prüfen, jetzt aber gewissenhafter als zuvor.15 Und tatsäch­lich, es dauerte nicht lange, bis Drechsler am 25. November 1964 die Generalstaatsanwaltschaft informierte, er sei nun doch auf Informa­tionen gestoßen, die nahelegten, in Stadtroda ­seien höchstwahrschein­lich Kranke und Behinderte ermordet worden.16 Zwei Tage ­später ging Drechsler zur MfS-Kreisdienststelle und gab seine »Euthanasie«Vermutung zu Protokoll. In Stadtroda wurde nun eilig ein sogenannter »Operativer Vorgang« (OV) – »Stasi«-Jargon für eine verdeckte Ermittlung – vorbereitet. Zunächst überprüfte der zuständige Mitarbeiter, Feldwebel Peter Plötner, die Glaubwürdigkeit des Anfangsverdachts und der Zeugenaussagen. Nach ersten Recherchen in Stadtroda stand für ihn am 27. Dezember 1964 fest: »An der Objektivität der Materialien« könne »nicht gezweifelt werden«. Die Aussage des Handwerkers habe sich nach Überprüfung der Krankenakten bestätigt. Drechsler selbst stehe zudem außer jedem Zweifel, er habe »aktiv gegen die fasch[istische] Diktatur gekämpft« und sich »vom ärzt­lichen Standpunkt« aus verpflichtet gefühlt, die erhaltenen Informa­ tionen weiterzuleiten. Obschon Drechsler wenige Jahre zuvor Kloos noch entlastet hatte, hegte Plötner keine Zweifel an ihm. Das mag auch am geschickten Vorgehen Drechslers gelegen haben, der zwar offen zugab, das »Beglaubigungsschreiben« für Kloos verfasst zu haben, im gleichen Atemzug aber auch bekannte, er habe es schlichtweg nicht besser gewusst, nun aber neue Einblicke erhalten. »Euthanasie«Verbrechen ­seien jetzt nicht mehr auszuschließen. »Aus ­diesem Grunde« – so Plötner abschließend – »wird das Material in einem operativen Vorgang bearbeitet, nach Paragraf 211 StGB – Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« 17 In den Fokus der Ermittlungen rückten neben Gerhard Kloos, der in Göttingen weiterhin als Psychiater und Universitätsdozent arbeitete, die Ärzte ­Johannes Schenk und Margarete Hielscher. Beide waren nach wie vor in Stadtroda

15 Mitteilung des ärzt­lichen Direktors des Bezirkskrankenhauses Stadtroda Obermedizinalrat Prof. Dr. Drechsler vom 27. 11. 1964 (wie Anm. 12), Bl. 9; Tonbandbericht gesprochen von Prof. Drechsler, undatiert [vermut­lich 1965, M. K.]. In: ebd., Bl. 165 – 170, hier Bl. 170; Verfügung aus Berlin vom 9. 12. 1964 [B]. In: BStU, ZA, MfS HA IX/11 RHE 12/85, Bl. 22 ff. 16 Verfügung aus Berlin vom 9. 12. 1964 [A]. In: BStU, ZA, MfS HA IX/11 RHE 12/85, Bl. 21. 17 Bericht über das Überprüfungsergebnis vom 27. 12. 1964. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 26 f.

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leitend tätig, Schenk als stellvertretender Direktor, Hielscher als Oberärztin in der Kinderabteilung. Vorerst lag aber das Augenmerk auf Kloos. Gegen ihn sollten die Recherchen schnell vorangetrieben werden, nicht nur, weil er im Na­tional­sozialismus Direktor des Krankenhauses gewesen war. Vor allem befürchtete die Staatssicherheit, Kloos könnte, da er sich in Westdeutschland aufhielt, unbemerkt untertauchen und so lange abwarten, bis die »Kriegsverbrechen« verjährt ­seien.18 Hintergrund dieser Annahme war ein Passus im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik, der die Verjährungsfrist für Mord auf zwanzig Jahre festlegte. Davon betroffen waren auch NS-Verbrechen, denen rein recht­lich aber kein spezifischer Tatzeitpunkt zugrunde gelegt wurde, sondern das Kapitula­tionsdatum der Wehrmacht am 8. Mai 1945 – zwanzig Jahre s­ päter drohte nun ein juristischer Schlussstrich unter die Verfolgung von NS-Tätern. Jedoch, anders als noch wenige Jahre zuvor, als die Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« von einem »kommunikativen Beschweigen« 19 bestimmt gewesen war, hatte sich das geistige Klima in der Bundesrepublik merk­lich verändert. In Medien, Wissenschaft und Politik meldeten sich zunehmend kritische Stimmen zu Wort, die sich gegen das Vergessen der NS-Vergangenheit starkmachten. Geprägt von einer mora­lischen Sensibilität gegenüber der eigenen Geschichte, forcierten sie eine hitzige Debatte nicht nur über die juristische Frage der Verjährung, sondern vor allem auch über die Frage der Gerechtigkeit für die Verbrechen des NS-Regimes.20 Diese aufgeheizte Stimmung versuchte die DDR propagandistisch für sich zu ­nutzen. Bereits seit Ende der 1950er Jahre fahndete sie mit großem Aufwand nach Hinweisen, um prominente Westdeutsche als »Nazis« zu desavouieren. Das wahre, das »faschistische« Antlitz der Bundesrepublik sollte »entlarvt«, ihr die demokratische Maske vom Gesicht gerissen und die darunter verborgene nazistische Fratze entblößt werden. Dahinter stand vor allem politisches Kalkül. In Abgrenzung zum bundesrepublikanischen »Klassenfeind« präsentierte sich die DDR als das »bessere Deutschland«, als das Deutschland, das mit dem Staat Hitlers konsequent gebrochen habe. Die SED verband damit zwei Ziele: Außenpolitisch war sie bemüht, die westdeutsche Demokratie zu destabilisieren, 18 Ebd., Bl. 27. 19 Herman Lübbe: Der Na­tionalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein. In: Histo­ rische Zeitschrift 236 (1983), S. 579 – 599, hier S. 594. 20 Vgl. Clemens Vollnhals: »Über Auschwitz aber wächst kein Gras.« Die Verjährungsdebatte im Deutschen Bundestag. In: Jörg Osterloh/Clemens Vollnhals (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR (Schriften des Hannah-­Arendt-­Instituts für Totalitarismusforschung, 45). Göttingen 2011, S. 375 – 4 01.

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innenpolitisch ging es ihr darum, den eigenen »antifaschistischen« Legitima­ tionsmythos zu festigen.21 Der exekutive Arm dieser Bemühungen war das MfS, das im Hintergrund der Propagandaak­tionen konspirativ eine Vielzahl an Dokumenten recherchierte und archivierte. Als nun das Verjährungsdatum in der Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre immer näher rückte und die vergangenheitspolitischen Diskussionen in Westdeutschland an Brisanz gewannen, intensivierten die Ermittlungsorgane der »Stasi« ihre Anstrengungen, Informa­tionen für die propagandistische Nutzung bereitzustellen.22 In Stadtroda legte die verantwort­liche Kreisdienststelle Mitte Januar 1965, nachdem Feldwebel Plötner den Anfangsverdacht geprüft und als valide eingeschätzt hatte, den OV »Ausmerzer« an. In ihm wurden die Ermittlungsergebnisse zusammengefasst. Die Bezeichnung »Ausmerzer« war Tätersprache: NS -Eugeniker hatten die Tötung von Kranken und Behinderten auch als »Ausmerzung« bezeichnet. Die Recherchen im »Ausmerzer«-Vorgang leitete Plötner. Er war von Anfang an involviert, hatte sich bereits eingearbeitet und war äußerst engagiert, wie sich im weiteren Verlauf zeigte. Akribisch machte er in monatelanger Detailarbeit zahlreiche Dokumente ausfindig. Sie füllten mehrere Akten, insgesamt über eintausend Blatt. Zunächst erstellte Plötner jedoch, wie bei konspirativen Ermittlungen der Staatssicherheit üb­lich, einen »Maßnahmeplan«, der den zeit­lichen Ablauf der Untersuchungen festlegte.23 Grundlage dieser Überlegungen waren die bisherigen Ermittlungsergebnisse. Neben der medikamentösen Tötung von Patienten brachte Plötner zwei Transporte in Erfahrung, die er mit den »Euthanasie«-Verbrechen in Verbindung setzte. Zum einen den »Sammeltransport Bad Blankenburg«, der im Herbst 1941 stattgefunden hatte, zum anderen, zeit­lich etwas früher, die sogenannte »Ak­tion Zschadraß «: Am 4. September 1940 waren, begleitet von SS -Wachmannschaften, zwei Omnibusse vor dem Hauptgebäude des Krankenhauses in Stadtroda vorgefahren. Hastig wurden circa sechzig Patienten verladen 21 Zum antifaschistischen Gründungsmythos der DDR vgl. Herfried Münkler: Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen. In: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hrsg.): Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken. Freiburg/Basel/Wien 2002, S. 79 – 99. 22 Vgl. allgemein Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit (wie Anm. 10), S. 43 – 142; Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949 – 1969 oder: Eine deutsch-­deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg. Paderborn u. a. 2002. 23 Maßnahmeplan zur Bearbeitung des Verdachtes über Euthanasie-­Verbrechen in den Krankenanstalten Stadtroda vom 22. 12. 1964. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 19 – 23.

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und nach Zschadraß – südöst­lich von Leipzig gelegen – abtransportiert. Kurze Zeit s­ päter waren sie verstorben. Wie Plötner erstaun­licherweise schon damals wusste, fungierte die Anstalt Zschadraß im Rahmen der sogenannten »Ak­tion T4« als eine Art Verteilungseinrichtung.24 Mit Ausbruch des Krieges hatte die Kanzlei des Führers, die mit der Leitung des »Euthanasie«-Programms beauftragt worden war, im gesamten Deutschen Reich und im annektierten Österreich sechs Mordzentren eingerichtet, in denen mög­lichst geheim über 70.000 Kranke und Behinderte vergast wurden.25 Die Organisa­tion der »Euthanasie«-Morde fand zentral in Berlin statt, in der Tiergartenstraße 4, deshalb die Bezeichnung »Ak­tion T4«. Allerdings bereitete die Geheimhaltung der Morde den »T4«-Verantwort­lichen Schwierigkeiten. Die zahlreichen Krankentransporte in die »Euthanasie«-Anstalten und der dicke Rauch, der aus den Schornsteinen der Krematorien aufstieg, in denen die Kranken nach ihrer Vergasung verbrannt wurden, blieben im Umfeld der Mordzentren nicht unbemerkt. Gerüchte kamen unter der ört­lichen Bevölkerung auf.26 Die »T4«-Organisatoren mussten daher ihr Vorgehen überprüfen und neue Wege der Geheimhaltung finden. Sie richteten zu ­diesem Zweck sogenannte »Zwischenanstalten« ein. Die zum Tode bestimmten Patienten wurden nicht mehr direkt in die Mordzentren überwiesen, sondern zunächst in die »Zwischenanstalten« gebracht. Erst von dort aus wurden sie dann zu ihrem endgültigen Bestimmungsort transportiert. Die Verlegungen konnten so ­besser verschleiert werden. Zudem ließen sich auf ­diesem Wege die Transporte effektiver koordinieren. Die Kranken wurden in den »Zwischenanstalten« so lange untergebracht, bis in den Mordzentren Kapazitäten für ihre Vergasung frei waren. Um jede Vergasungsanstalt entstand daher ein regelrechtes Netz von »Zwischenanstalten«. Die Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß diente von März 1940 bis zur Einstellung

24 Rechercheergebnisse, undatiert [vermut­lich wurde das Dokument Ende 1964 zusammengestellt, noch vor dem Maßnahmeplan vom 22. 12. 1964, M. K.]. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 12 – 15, hier Bl. 12 f. 25 Zur NS-»Euthanasie« und zu ihren methodischen sowie personellen Verquickungen mit dem Holocaust vgl. Henry Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin 1997. – Einen guten Forschungsüberblick bietet Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord, S. 223 – 233 (wie Anm. 1). – Götz Aly entfaltet in seinem Buch Die ­Belasteten die interessante These, viele Deutsche hätten die »Euthanasie«-Morde befürwortet, nur wenige diese deut­lich verurteilt, »die meisten schwiegen schamhaft, wollten es nicht allzu genau wissen«. Götz Aly: Die Belasteten. »Euthanasie« 1939 – 1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2013, S. 9. 26 Zu den »Zwischenanstalten« vgl. etwa Friedlander: Der Weg zum NS-Genozid (wie Anm. 25), S. 184 – 188.

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der »Ak­tion T4« im August 194127 als Durchgangsort für Tausende Patienten; fast alle wurden in das Mordzentrum nach Pirna/Sonnenstein gebracht und dort vergast 28 – so auch der Transport aus Stadtroda vom September 1940. Ein Jahr ­später, Anfang September 1941, trafen 54 Kinder aus dem Anna-­ Luisen-­Stift Bad Blankenburg in Stadtroda ein. Mit wenigen Ausnahmen konnte Plötner fast alle Patientenakten ­dieses »Sammeltransports« einsehen – das Ergebnis: Noch Ende des Jahres ­seien 22 Kinder von Stadtroda aus zurückverlegt worden, vier durften nach Hause, ein Kind wurde in Familienpflege gegeben, 24 Kinder aber verstarben, der Großteil drei Monate nach ihrer Verlegung.29 Die seinerzeit notierten Todesursachen schienen verdächtig. Fast alle Kinder s­ eien

27 Die Einstellung der »Ak­tion T4« im August 1945 bedeutete aber nicht die Einstellung der »Euthanasie«-Morde generell; sie gingen bis Kriegsende weiter. Zum einen wurden im Rahmen der sogenannten »Ak­tion 14f13« in drei der sechs »T4«-Mordzentren alte, kranke und arbeitsunfähige KZ-Häftlinge durch Giftgas getötet. Zum anderen ermordeten Ärzte und Pfleger bis zum Untergang des »Dritten Reiches« ihre Patienten selbstbestimmt mit Hilfe von Medikamenten oder durch Nahrungsentzug. Darüber hinaus wurde die Kinder-»Euthanasie« von 1939 bis 1945 ohne Unterbrechung durchgeführt. Und selbst nach Kriegsende ging das Massensterben in den psychiatrischen Anstalten weiter: Aufgrund der schlechten Ernährungslage verhungerten unzählige Patienten. Es dauerte in manchen Regionen Jahre, bis sich die Anstaltssterb­lichkeit »normalisiert« hatte. Vgl. hierzu Astrid Ley: Vom Krankenmord zum Genozid. Die »Ak­tion 14f13« in den Konzentra­tionslagern. In: Dachauer Hefte 25 (2009), S. 36 – 49; Udo Benzenhöfer: »Kinderfachabteilungen« und »NS-Kindereuthanasie« (Studien zur Geschichte der Medizin im Na­tionalsozialismus, 1). Wetzlar 2000; Winfried Süss: Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, medizinische Versorgung und Krankenmord im na­tionalsozialistischen Deutschland 1939 – 1945. München 2003; Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914 – 1949. Mit einer Topographie der NSPsychiatrie. Freiburg 1998. 28 Zur »Zwischenanstalt« Zschadraß vgl. Ariane Hölzer: Die Behandlung psychisch kranker und geistig Behinderter in der Landesheil- und Pflegeanstalt Zschadraß während der na­tio­ nal­sozialistischen Diktatur (Diss. med.). Leipzig 2000; dies.: Die »T4«-Zwischenanstalt Zschadraß und die Sterb­lichkeit in den Kriegsjahren. In: Arbeitskreis zur Erforschung der na­tionalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisa­tion (Hrsg.): Der säch­sische Sonderweg bei der NS-»Euthanasie«. Fachtagung vom 15. bis 17. Mai 2011 in Pirna-­Sonnenstein (Berichte des Arbeitskreises, 1). Ulm 2001, S. 127 – 137. 29 Nach Untersuchungen von Susanne Zimmermann müssen die Rechercheergebnisse Plötners ergänzt und teilweise etwas korrigiert werden. Zimmermann kommt zu dem Ergebnis: Insgesamt s­ eien elf Mädchen und 15 Jungen innerhalb von zehn Monaten auf den psychiatrischen Erwachsenenabteilungen in Stadtroda verstorben; 21 der 54 Kinder wurden Ende November 1941 in das Stift nach Bad Blankenburg zurückverlegt, wo bis 1945 neun weitere verstarben. Sechs Kinder des »Sammeltransports« wurden nach Hause entlassen oder in eine andere Einrichtung verlegt. Das Schicksal eines Kindes ist bis heute nicht geklärt. Vgl. Zimmermann: Überweisung in den Tod (wie Anm. 5), S. 28 f.

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an »Pneumonie« verstorben. Plötner war überzeugt, auch hierbei habe es sich um ein ­»Euthanasie«-Verbrechen gehandelt.30 Für den »Maßnahmeplan« stellten die beiden Transporte und der Bericht Drechslers über die Tötung von Patienten den Ausgangspunkt dar. Von ihm aus sollten weitere Informa­tionen über die Krankenmorde in Stadtroda gesammelt werden. Dabei galt es jedoch, Stillschweigen zu bewahren. Die Ermittlungen durften auf keinen Fall publik werden. Sie waren konspirativ, nur wenige Personen konnten in Kenntnis gesetzt werden. Eine exponierte Stellung in den Planungen der Stadtrodaer Kreisdienststelle nahm daher Erich Drechsler ein. Mit ihm blieb Plötner ständig in Verbindung. Drechsler sollte Dokumente eruieren, Befragungen durchführen und belastendes Material verschließen, um es vor den Blicken Nichtautorisierter zu ­schützen.31 Doch trotz seiner wichtigen Funk­tion und trotz des Entlastungsschreibens für Kloos 1962: Kritisch hinterfragt wurde Drechseler nicht. Er galt als Antifaschist und Widerstandskämpfer, obgleich in den Akten der Staatssicherheit durchaus Belege vorhanden sind, die seine NS-Vergangenheit differenzierter ausleuchten. Sie waren das Ergebnis einer vorsichtigen Überprüfung im Frühjahr 196532 – das Resultat war eindeutig, die gezogenen Konsequenzen allerdings auch. Vermut­lich bei Recherchen in Weimar fand Plötner Unterlagen, die Drechslers Rolle im Na­tionalsozialismus vielschichtiger darstellten als zunächst angenommen. Denn obschon Drechsler nicht der NSDAP beigetreten war, so hatte er dennoch die na­tionalsozialistische Gesundheitspolitik äußerst engagiert unterstützt und als Beisitzer am »Erbgesundheitsgericht« in Jena – im Rahmen eines dreiköpfigen Gremiums – über die Zwangssterilisa­tion vermeint­lich erbkranker Menschen mitentschieden.33 Letzteres tat er offenbar mit so großer Akribie, dass er als unverzichtbar galt. Drechsler habe sich »bestens bewährt«, resümierte daher Karl Astel, überzeugter Na­tionalsozialist und Rektor der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena während des Zweiten Weltkriegs, in einem Schreiben an den Präsidenten des Thürin­gischen Oberlandesgerichtes 1943.34 Doch trotz dieser Erkenntnisse 30 Rechercheergebnisse, undatiert (wie Anm. 24); Maßnahmeplan vom 22. 12. 1964 (wie Anm. 23). Drei Patientenakten des »Sammeltransports« hatte Plötner nicht einsehen können. 31 Maßnahmeplan vom 22. 12. 1964 (wie Anm. 23). 32 Maßnahmeplan zur weiteren Bearbeitung des Operativ-­Vorganges »Ausmerzer« vom 29. 4. 1965. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 128 – 134. 33 Zur NS-Zwangssterilisa­tion vgl. Gisela Bock: Zwangssterilisa­tion im Na­tionalsozialismus. Rassenpolitik und Frauenpolitik. Opladen 1986. – Einen guten Forschungsüberblick gibt Hans-­Walter Schmuhl: Zwangssterilisa­tion. In: Robert Jütte u. a. (Hrsg.): Medizin und Na­tionalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Göttingen 2011, S. 201 – 213. 34 Schreiben Karl Astels an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Jena vom 14. 1. 1943. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Beiakte, Bd. II, Bl. 95 ff.

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Plötners blieb Drechsler unbehelligt. Die Belege wurden ordent­lich abgeheftet und nie thematisiert.35 Über die Gründe lässt sich nur mutmaßen, sie sind in den MfS-Akten nicht notiert. Mög­licherweise wollte Plötner aber seine Ermittlungen nicht gefährden. Schließ­lich lag sein Fokus auf den »Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda, nicht auf der NS-Zwangssterilisa­tion. Die Kreisdienststelle jedenfalls arbeitete auch weiterhin intensiv mit Drechsler zusammen, der bis zum Ende der Untersuchungen die entscheidende Schnittstelle z­ wischen der Ermittlungsbehörde und dem Bezirkskrankenhaus darstellte. So auch Anfang Februar 1965, als Plötner Drechsler anwies, eine »Aussprache« mit Johannes Schenk und Margarete Hielscher zu führen; neben Kloos waren sie die Hauptverdächtigen zu ­diesem Zeitpunkt.36 Kurz hintereinander zitierte Drechsler beide in sein Büro. Dort konfrontierte er sie mit einigen »Verdachtsmomenten«;37 er setzte sie unter Druck, allerdings ohne Erfolg. Beide, so berichtete Drechsler s­ päter in der Kreisdienststelle, hätten von nichts gewusst. Schenk habe »ganz gleichgültig« reagiert;38 und Hielscher vermochte sich nur an ein paar »verlauste Kinder« zu erinnern, die von Bad Blankenburg nach Stadtroda überwiesen worden waren. Was aus ihnen wurde, habe sie jedoch nicht mehr rekonstruieren können.39 Beide litten augenschein­lich unter einem schlechten Erinnerungsvermögen. Trotz alledem setzte Plötner seine Ermittlungen fort. Sorgfältig sammelte er belastende Dokumente. Er recherchierte in Archiven, führte Befragungen durch und ließ das Personal des Krankenhauses durch einen »Inoffiziellen Mitarbeiter« bespitzeln. Plötner war gewillt, die »Euthanasie«Verbrechen in Stadtroda vor Gericht zu bringen – seine Bestrebungen sollten sich jedoch als Chimäre herausstellen. 35 Drechslers NS-Vergangenheit wurde Mitte der 1960er Jahre nicht zum ersten Mal vertuscht. Bereits kurz nach Kriegsende war seine Tätigkeit als Beisitzer am Erbgesundheitsgericht in Jena bekanntgeworden. Das mangelnde Engagement der thürin­g ischen SED , der thürin­ gischen Landesregierung und der Sowjetischen Militäradministra­tion in Thüringen verhinderte allerdings größere Konsequenzen für Drechsler, der zwar die Leitung der Hauptabteilung Gesundheitswesen im Thürin­g ischen Innenministerium aufgeben musste, jedoch dafür die ärzt­liche Direk­tion des Fachkrankenhauses in Stadtroda übertragen bekam. Vgl. Anna-­Sabine Ernst: »Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus«. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ /DDR 1945 – 1961 (Interna­tionale Hochschulschriften, 210). Münster u. a. 1997, S. 188 – 193. 36 Aussprache mit Prof. Dr. Drechsler am 3. 2. 1965. In: BStU, Ast Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 42 ff. 37 Ebd., Bl. 43. 38 Durchgeführte Aussprache des Prof. Dr. Drechsler mit dem Dr. Schenk vom 11. 2. 1965. In: ebd., Bl. 48. 39 Aussprache mit Prof. Dr. Drechsler am 10. 2. 1965. In: ebd., Bl. 45 ff.

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2. Neue Ermittlungsziele Am 3. März 1965 fasste Plötner seine Ergebnisse in einem »Zwischenbericht« zusammen. Unmissverständ­lich schlug er vor, ein Ermittlungsverfahren gegen Kloos, Schenk und Hielscher einzuleiten, da sie »in dem dringenden Verdacht« stünden, z­ wischen 1940 und 1943 »Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda begangen zu haben. Besondere Brisanz erhielt der Bericht jedoch aus einem anderen Grund. Schnell, noch bevor er die wenigen Seiten an die Bezirksverwaltung in Gera übersandte, notierte Plötner mit Kugelschreiber den Namen einer weiteren Verdächtigen auf das ansonsten fein säuber­lich mit Schreibmaschine getippte Papier: Rosemarie Albrecht, zu Beginn der 1940er Jahre Sta­tionsärztin in Stadtroda. Ausschlaggebend für die Erweiterung des Verdächtigenkreises in letzter Minute waren Recherchen im Archiv des Krankenhauses, wo Plötner sämt­liche Sterbefälle von Juni bis September 1941 gesichtet hatte. Dabei fiel ihm auf, dass in den vier Monaten 58 Patienten entweder an »Herz-­Kreislaufschwäche« oder an »Pneumonie« verstorben waren. Nur wenige von ihnen hatten in der Männerabteilung gelegen, der Großteil war im Frauenflügel behandelt worden. Plötner gab insgesamt 35 Patientinnen an, die alle psychisch erkrankt oder geistig behindert waren, die alle während ihrer sta­tionären Behandlung ums Leben kamen und deren Krankengeschichten allesamt die zuständige Sta­tionsärztin Albrecht unterschrieben hatte.40 Die Bezirksverwaltung in Gera leitete den Ermittlungsstand der Kreisdienststelle nach Berlin an das Ministerium weiter,41 das von Anfang an in den Vorgang involviert war. Als nun jedoch der Name Rosemarie Albrecht in den Akten auftauchte, bekamen die Verantwort­lichen des MfS kalte Füße. Die antifaschistische Selbstlegitima­tion der DDR geriet in Gefahr. Denn Albrecht war mittlerweile in höchste Medizinerkreise aufgestiegen. Als »Verdiente Ärztin des Volkes« leitete sie die HNO-Klinik in Jena und stand kurz davor, zur Dekanin der Medizinischen Fakultät ernannt zu werden. Ab ­diesem Zeitpunkt nahm der Operative Vorgang »Ausmerzer« eine entscheidende Wende. Ziel war es von nun an nicht mehr, »Euthanasie«-Verbrechen zu ermitteln und vor Gericht zu bringen. Jetzt ging es nur noch darum, das belastende Material aus Stadtroda fortzuschaffen. Bereits am 22. März 1965 war die Entscheidung in Berlin gefallen. Alle »Euthanasie«-Beweise sollten ausgelagert und im Zentralarchiv der »Stasi« verschlossen werden.42 40 Zwischenbericht zum Operativ-­Vorgang Ref. Nr. X 63/65 »Ausmerzer« vom 3. 3. 1965. In: ebd., Bl. 55 – 66. 41 Ebd., Bl. 66. 42 Handschrift­liche Notiz vom 22. 3. 1965. In: BStU, ZA, MfS HA XX, Nr. 5230, Bl. 12.

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Nur wenige Tage s­ päter instruierte daher die Bezirksverwaltung Plötner, seine Recherchen ausschließ­lich verdeckt und unter größter Vorsicht voranzutreiben. Er müsse unter allen Umständen verhindern, dass die Ermittlungen öffent­lich würden. Dafür sei es erforder­lich, sämt­liche »Krankengeschichten, die auf Euthanasieverbrechen hinweisen«, in der Kreisdienststelle zusammenzutragen und »bis zur weiteren Verfügung« dort aufzubewahren.43 Die Hintergründe dieser Anweisung erfuhr Plötner allerdings nicht. Er sollte im Unklaren über die Verschleierungsabsichten gelassen werden. Tatsäch­lich bekam er diese auch niemals offiziell mitgeteilt. Nicht nur nach außen hin, auch innerhalb der Strukturen des MfS galt höchstmög­liche Geheimhaltung. Das gelang allerdings nicht immer. Die Konspira­tion bekam schon Anfang März 1965 Risse, als Drechsler ohne Zustimmung des Ministeriums mit dem Bezirksarzt in Gera Werner Müller sprach und ihn über den aktuellen Ermittlungsstand informierte. Warum, geht aus den Akten nicht hervor; Müller suchte jedoch daraufhin die zuständige Bezirksverwaltung des MfS in Gera auf. Schockiert von der Unterredung mit Drechsler wollte er vor allem wissen, wie er jetzt mit Rosemarie Albrecht umzugehen habe, schließ­lich sollte Albrecht am 19. März 1965, pünkt­lich zu ihrem 50. Geburtstag, den »Vaterländischen Verdienstorden« erhalten, zudem nur wenige Monate s­ päter zur Dekanin ernannt werden. Das könne Müller, angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe, nicht mit seinem »ärzt­lichen Gewissen« vereinbaren. Es sei ihm unmög­lich, diesen Ehrungen zuzustimmen. Im weiteren Gesprächsverlauf versuchte das MfS die Wogen zu glätten, und gab Müller unmissverständ­lich zu verstehen, »daß z. Zt. keinerlei Beweise, wohl aber Verdachtsmomente« vorlägen. Er müsse sich aber keine weiteren Gedanken machen. Würden seine »ärzt­lichen Kenntnisse bzw. seine Befugnisse als Bezirksarzt« benötigt, werde er instruiert; zudem war er angewiesen, keine weiteren Personen oder Dienststellen zu informieren.44 Die Indiskre­tion Drechslers hatte keine Folgen: nicht für ihn selbst, nicht für Müller und auch nicht für Rosemarie Albrecht. Planmäßig wählte die Medizinische Fakultät in Jena Albrecht zur Dekanin.45 Auch den »Vaterländischen Verdienstorden« erhielt sie, allerdings erst 1972. Ende April 1965, vier Wochen nach der Auslagerungsentscheidung in Berlin, wurde eine Besprechung in Stadtroda anberaumt, um das weitere Vorgehen im OV 43 Maßnahmeplan zur weiteren Bearbeitung des Operativvorganges Reg.Nr. X63/65 vom 25. 3. 1965. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 71 ff. 44 Bericht über die Kontrolle des Operativ-­Vorgangs Reg. Nr. 63/65 der Kreisdienststelle Stadtroda gegen Prof. Dr. Kloos vom 9. 3. 1965. In: ebd., Bl. 52 ff. 45 UAJ, Bestand L, Medizinische Fakultät, Nr. 404/3, Fakultätsratssitzungen, Bl. 183.

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»Ausmerzer« festzulegen. An ihr nahmen die zuständigen MfS-Mitarbeiter der Kreisdienststelle Stadtroda und der Bezirksverwaltung in Gera teil. Als Vertreter des Ministeriums reiste Oberstleutnant Lothar Stolze an. Stolze war seit kurzem für die Koordinierung und Optimierung der NS-Ermittlungen verantwort­lich.46 »Optimierung« hieß in ­diesem Fall jedoch Vertuschung. Dabei verfolgte Stolze eine doppelte Strategie. Zum einen bagatellisierte er die bisher gewonnenen Erkenntnisse. Sie reichten momentan nicht aus, so Stolze, »um ein Ermittlungsverfahren einleiten zu können«. Dafür bedürfe es noch weiterer Beweise. Zum anderen verwies er apodiktisch darauf, »die Konspira­tion nicht zu verletzen«. Der »eingeweihte Personenkreis« dürfe auf gar keinen Fall vergrößert werden. Daher sei es zwingend geboten, nicht nur intensiv nach Hinweisen zu suchen. Auch müssten die einschlägigen Akten sichergestellt werden. Der Fokus solle hierbei auf den Verwaltungs- und Patientenakten im Archiv des Krankenhauses liegen, die zunächst in der Kreisdienststelle zwischenzulagern, zu analysieren und anschließend nach Berlin abzutransportieren ­seien. Diese Maßnahmen ­seien »unbedingt notwendig, um zu verhindern, daß andere Personen zu dem Material Zugang haben«. Abschließend unterstrich Stolze, die Anweisung komme von Erich Mielke höchstpersön­lich.47 Wann genau die Akten ausgelagert wurden, ist in den Unterlagen des Operativen Vorganges nicht vermerkt. Seit der Archivierungsanweisung wird das weitere Vorgehen zunehmend undurchsichtig, phasenweise gar chaotisch. Sicher ist jedoch, dass Plötner seine Recherchen bis November 1965 akribisch vorantrieb. Er sichtete alle Krankengeschichten der Patienten, die ­zwischen 1939 und 1945 in Stadtroda verstorben waren, analysierte Todesursachen, Krankheitsbilder und die behandelnden Ärzte. Parallel reiste er in weitere Archive, vor allem nach Weimar und Rudolstadt. Plötner trug immer mehr Material zusammen. Dabei stieß er auch auf Dokumente, die den Aufbau einer sogenannten »Kinderfachabteilung« belegten. Die Kanzlei des Führers hatte im Zuge der »Euthanasie«-Morde diese »Abteilungen« in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen aufgebaut. In ihnen wurden Kinder, deren Erkrankungen nach dem damaligen medizinischen Wissensstand als unheilbar und erb­lich galten, gezielt getötet – häufig durch Nahrungsentzug oder mittels einer Medikamentenüberdosierung.48 In Stadtroda gab es eine 46 Vgl. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit (wie Anm. 10), S. 100. 47 Niederschrift über die Besprechung des Operativ-­Vorganges »Ausmerzer« am 21. 4. 1965 in der KD-Stadtroda. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 119 – 122; Maßnahmeplan zur weiteren Bearbeitung des Operativ-­Vorganges »Ausmerzer« vom 29. 4. 1965 (wie Anm. 32). 48 Vgl. Schmuhl: »Euthanasie« und Krankenmord (wie Anm. 1), S. 220 – 223.

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s­ olche »Kinderfachabteilung« seit 1942.49 Die Leiterin war Margarete Hielscher. Unter ihrer Verantwortung ­seien, so schlussfolgerte Plötner nach Sichtung der betreffenden Krankengeschichten, bis Kriegsende insgesamt 72 Kinder verstorben. Fast immer galten sie als »hochgradig schwachsinnig«, als »hilflos«, als »vollkommen bildungsunfähig« und als »pflegebedürftig«, wie es Hielscher in den Akten vermerkt hatte.50 Ende November 1965 erschienen dann der Kreisdienststelle Stadtroda alle Mög­lichkeiten ausgeschöpft, weitere Dokumente ausfindig zu machen. Daher fertigte Plötner einen »Sachstandsbericht« an, der die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfasste. Der Fokus des Berichtes lag vor allem auf der Auswertung der Patientenakten, die Plötner in den vorangegangenen Monaten eingesehen hatte. Die Überweisung von über fünfzig Kindern aus dem Anna-­Luisen-­Stift in Bad Blankenburg nach Stadtroda und die »Ak­tion Zschadraß« nahmen nur wenig Raum ein. Ihre Hintergründe und Abläufe wurden kaum erläutert. Stattdessen arbeitete Plötner die hohe Todesrate in Stadtroda ­zwischen 1939 und 1945 heraus. Auf der psychiatrischen Männerabteilung s­ eien in d ­ iesem Zeitraum 278 Patienten verstorben, in der Frauenabteilung sogar 363 Patientinnen, alle an, wie Plötner es formulierte, »sehr labilen Todesursachen«. Häufig hatten die verantwort­lichen Ärzte »Herz- und Kreislaufschwäche« notiert. Auch auf der jugendpsychiatrischen Abteilung war die Todesrate auffällig. Bis Kriegsende ­seien in Stadtroda 140 Kinder verstorben, alleine 72 von ihnen in der »Kinderfachabteilung«.51 49 In den Unterlagen der Kreisdienststelle wird die Einrichtung der »Kinderfachabteilung« auf Anfang 1943 datiert. Tatsäch­lich aber wurde sie bereits im Herbst 1942 installiert. Vgl. ­Zimmermann: Überweisung in den Tod (wie Anm. 5), S. 27. 50 Gesamtanalyse Kinder vom 23. 9. 1965. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 189; ­Analyse Kinder, die vom 1. 1. 1940 bis 8. 5. 1945 in Stadtroda verstorben sind, vom 23. 9. 1965. In: ebd., Bl. 190 ff. 51 Sachstandsbericht zum Operativvorgang X/63/65 »Ausmerzer« vom 22. 11. 1965. In: BS tU, AS t Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 223 – 237. – Nach der Untersuchung von Renate Renner ­seien in Stadtroda während des Zweiten Weltkriegs sogar noch mehr Psychiatriepatienten verstorben. Renner kommt zu dem Schluss, dass auf den psychiatrischen Abteilungen von 1940 bis 1942 mindestens 413 erwachsene Patienten und 70 Kinder, von 1943 bis April 1945 mindestens 321 Erwachsene und 14 Kinder verstorben s­ eien. Die Sterberate in Stadtroda sei in diesen fünf Jahren auffällig hoch gewesen; sie habe 1940 sogar 23,5 Prozent betragen, womit »sie sich deut­lich über dem Durchschnitt vergleichbarer Anstalten« befunden habe. Zudem ­seien in der »Kinderfachabteilung« bis Kriegsende mindestens 104 Kinder ermordet worden. Vgl. Renner: Zur Geschichte der Thüringer Landesheilanstalten (wie Anm. 5), S. 2. – Schon das MfS in Berlin war seinerzeit zu einem anderen Ergebnis als die Kreisdienststelle Stadtroda gekommen. Nach einer Überprüfung der Patientenakten im Zentralarchiv ermittelten die zuständigen MfS-Mitarbeiter eine höhere Sterberate als

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Eine Ärztin hob Plötner in seinem Bericht besonders hervor: Rosemarie Albrecht, die von Mai 1940 bis Mai 1942 für die Frauensta­tion verantwort­lich gewesen war. In diesen zwei Jahren habe es dort, so Plötner, 159 Todesfälle gegeben. Die Krankengeschichten hatte jedes Mal Albrecht geführt. Und die Todesursachen waren auch hier auffällig einseitig. Sie lauteten fast immer gleich: »Herzund Kreislaufschwäche«.52 Doch trotz der deut­lichen Hinweise kam Plötner zu einem – zumindest auf den ersten Blick – überraschenden Resümee: Aus seiner Sicht sei es nicht mög­lich, dem »Ärzte- und Pflegepersonal objektiv nachzuweisen, daß sie am Verbrechen beteiligt waren und unmittelbar am Tod der Patienten Hand anlegten«.53 Auf den zweiten Blick jedoch ist die Unsicherheit Plötners erklär­lich, der noch wenige Monate zuvor in seinem ersten Zwischenbericht mit Emphase für ein Ermittlungsverfahren gegen die verdächtigen Ärzte plädiert hatte. Denn seitdem der Name Albrecht in den Akten auftauchte, schaltete sich Berlin aktiv in die Recherchen ein. Vertreter des Ministeriums trafen sich in regelmäßigen Abständen mit den Verantwort­lichen aus Stadtroda. Bei diesen Besprechungen verwies das MfS nicht nur eindring­lich darauf, die Konspira­tion penibel einzuhalten, sondern betonte auch immer wieder, dass der Vorgang bisher zwar gut bearbeitet worden sei, jedoch die Beweise nicht ausreichten, um weitere Maßnahmen einzuleiten.54 Das hatte zwei Vorteile: Zum einen wurde Plötner angeleitet, mög­lichst alle Dokumente ausfindig zu machen, die thürin­g ische Ärzte belasteten. Zum anderen beeinflussten ihn die Einschätzungen aber auch in der Auswertung des Materials. Nicht zuletzt daher fiel seine Analyse so vorsichtig aus. Unterschwellig wurde somit die geheime Archivierung des Vorganges vorbereitet.

die von Plötner vermutete; wann die Auswertung in Berlin stattfand, ist allerdings nicht mehr festzustellen, sehr wahrschein­lich aber nach der Auslagerung der Akten aus Stadtroda. Dass das Ministerium jedoch seine Einschätzung nicht an Plötner weiterleitete, war ganz im Sinne der MfS-Verantwort­lichen, die die NS -Medizinverbrechen in Stadtroda zu d­ iesem Zeitpunkt nur noch vertuschen wollten. Vgl. hierzu BS tU, ZA , MfS HA XX , Nr. 5230, Bl. 62 f. 52 Sachstandsbericht zum Operativvorgang X/63/65 »Ausmerzer« vom 22. 11. 1965 (wie Anm. 50), Bl. 224. 53 Ebd., Bl. 229. 54 Die Treffen fanden statt am 21. 4. 1965, 29. 4. 1965, 24. 6. 1965, 20. 11. 1965 und 26. 11. 1965. Vgl. im Einzelnen BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 119 – 122, 128 – 134, 151 – 154, 203 ff. sowie 238 f.

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3. Einstellung der Ermittlungen Ende April 1966 war es dann soweit – das MfS wies die Kreisdienststelle in Stadtroda an, den »Ausmerzer«-Vorgang einzustellen. Die Begründung lautete, paradox und doch kaum verwunder­lich, die erarbeiteten Unterlagen hätten zwar den Nachweis erbracht, daß die Thürin­gischen Landesheilanstalten in Stadtroda […] in das verbrecherische Euthanasie-­ Programm einbezogen wurden. Das vorhandene Material rechtfertigt jedoch nicht die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens.

Die mittlerweile nach Berlin verbrachten Akten wurden »zeitweilig gesperrt« abgelegt.55 Die wahren Motive für die Entscheidung erfuhr Plötner nicht. In einem internen Papier des MfS sind sie aber deut­lich benannt. Hier heißt es: [Da] Beschuldigte aus der DDR in höheren Posi­tionen des Gesundheitswesens […] stehen, könnte bei Auswertung ein unseren gesellschaft­lichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden. Aus ­diesem Grunde wird vorgeschlagen, die Bearbeitung des Vorganges mit einer Sperrablage im Archiv des MfS abzuschließen.56

Die Ärzte Schenk, Hielscher und Albrecht hatten nichts zu befürchten. Die Ermittlungen der Staatssicherheit blieben ohne strafrecht­liche Konsequenzen. Stadtroda war aber kein Einzelfall. Generell erfolgte die Auseinandersetzung des SED -Regimes mit der NS -Vergangenheit ausschließ­lich im Rahmen eines engen ideolo­g ischen Korsetts. Seit Beginn der 1950er Jahre galt die Entnazifizierung in der DDR als abgeschlossen. Nach offizieller Lesart waren »Militarismus und Nazismus ausgerottet«. Alle NS -Täter s­ eien abgeurteilt worden. Kontinuitäten habe es ausschließ­lich in der Bundesrepublik gegeben. Das betonte die SED immer wieder in großangelegten Propagandaak­tionen. Die Wirk­lichkeit sah jedoch anders aus. Nicht nur in Westdeutschland, auch in der DDR gelang es einer Vielzahl ehemaliger NSDAP -Mitglieder, sich in die Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Besonders Mediziner hatten es leicht. Sie waren unersetz­lich. Ohne sie wäre die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen. Schon früh, bereits seit Ende der 1940er Jahre, tabuisierte die SED daher die 55 Einstellungsanweisung vom 30. 4. 1966. In: BStU, ASt Gera, AOP 613/66, Bd. I, Bl. 267; Abschlußbericht zum opr. Vorgang »Ausmerzer« vom 10. 5. 1966. In: ebd., Bl. 268. 56 Vorschlag zum Abschluß des Operativ-­Vorganges »Ausmerzer« vom 22. 4. 1966. In: BStU, ZA, MfS HA XX, Nr. 5230, Bl. 65 ff., hier Bl. 67.

Ein »unseren gesellschaft­lichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis«  |

NS -Vergangenheit vieler DDR -Ärzte – nicht ohne Eigennutz. Als Gegenleistung forderte sie Koopera­tion. Wer sich fügte, blieb unbehelligt. Viele Ärzte nahmen das Angebot bereitwillig an.57 In Thüringen hatten Mediziner allerdings schon vor Gründung der DDR kaum mit Strafen für NS -Verbrechen zu rechnen. Diejenigen, die nicht nach Westdeutschland geflohen waren, fanden bald wieder in ihre Berufe zurück. Bei der Bevölkerung waren sie nach wie vor hochangesehen, anders als die Psychiatriepatienten, die um Anerkennung kämpfen mussten. Ihre Marginalisierung fand nicht zuletzt Ausdruck in den zaghaften Ermittlungen der Justiz, die sich in Stadtroda besonders sinnfällig zeigten, als die Staatsanwaltschaft trotz deut­licher Hinweise 1948 die Einstellung des Untersuchungsverfahrens beantragte. Was jedoch wenige Jahre nach dem Untergang des »Dritten Reiches« noch einem mangelnden Verfolgungswillen geschuldet war, präsentierte sich zwanzig Jahre ­später in einem weltanschau­lichen Gewand. Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR machte eine konsequente Auseinandersetzung mit den NS Medizinverbrechen unmög­lich. Die Gründe waren zwar nunmehr ideolo­gische, das Ergebnis hingegen dasselbe: Amnestie. Erst Jahre nach dem Untergang der DDR gab es ernsthafte Bestrebungen, die »Euthanasie«-Verbrechen in Stadtroda strafrecht­lich zu ahnden. Im Rahmen der hitzigen Debatte um die Verstrickungen des ehemaligen Pädiaters Jussuf Ibrahim 58 in die NS -Krankenmorde stieß der Thüringer Landesbeauftragte für die Stasi-­Unterlagen, Jürgen Haschke, auf den Operativen Vorgang »Ausmerzer«.59 Als er den Namen Rosemarie Albrecht las, zeigte er die seit 1975 emeritierte, aber noch in Jena lebende Ärztin im Frühjahr 2000 beim Landgericht Gera an. Die nachfolgenden Ermittlungen erstreckten sich über Jahre hinweg. Sie gestalteten sich äußert zäh. Es war schwierig, Albrecht eine individuelle, 57 Vgl. hierzu vor allem Ernst: »Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus« (wie Anm. 35); Sascha Topp: Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin. Formen der Vergegenwärtigung der na­tionalsozialistischen Euthanasie z­ wischen Politisierung und Historiographie (Formen der Erinnerung, 53). Göttingen 2013, S. 271 ff. 58 Zur Ibrahim-­Debatte vgl. Peter Reif-­Spirek: Später Abschied von einem Mythos. Jussuf Ibrahim und die Stadt Jena. In: Annette Leo/Peter Reif-­Spirek (Hrsg.): Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Berlin 2001, S. 21 – 50; Marco Schrul/ Jens Thomas: Kollektiver Gedächtnisverlust. Die Ibrahim-­Debatte 1999/2000. In: Uwe Hossfeld u. a. (Hrsg.): Kämpferische Wissenschaft. Studien zur Universität Jena im Na­tio­ nalsozialismus. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1065 – 1098; Susanne Zimmermann/Renate Renner: Der Jenaer Kinderarzt Jussuf Ibrahim (1877 – 1953) und die Tötung behinderter Kinder während des Na­tionalsozialismus. In: ebd., S. 437 – 451. 59 Vgl. dazu etwa Norbert Jachertz: Jena und der »Fall Albrecht«. Eine finstere Geschichte. In: Deutsches Ärzteblatt 100 (2003) 39, A 2490 – 2494.

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strafrecht­lich relevante Schuld nachzuweisen. Die umfangreiche Zahl von 159 Todesfällen, die Plötner Jahrzehnte vorher recherchiert und Albrecht zugesprochen hatte, schmolz auf nur wenige Namen, letzt­lich auf einen einzigen Fall zusammen. Zu einem Prozess kam es aber nicht mehr. Am 9. Februar 2005 wurde das Verfahren wegen Mordes gegen die mittlerweile neunzigjährige Albrecht eingestellt. In einem ärzt­lichen Gutachten war ihr andauernde Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt worden. Damit verstrich die letzte Gelegenheit, die »Euthanasie«-Morde in Stadtroda juristisch zu beurteilen. Albrecht verstarb im Januar 2008. Keiner der Ärzte und Pfleger, gegen die nach Kriegsende ermittelt wurde, lebt heute mehr.

Gerhard Werle · Moritz Vormbaum

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht Ein Überblick

Die Aufarbeitung von DDR -Unrecht mit Hilfe von Strafverfahren dauerte circa 15 Jahre, von 1990 bis zum Jahre 2005, als das letzte bisher bekannte einschlägige Verfahren endete.1 In dieser Zeit wurden statistischen Auswertungen zufolge nahezu 75.000 Ermittlungsverfahren wegen DDR -Unrechts geführt; in über 1.000 Fällen wurde eine Anklage erhoben.2 Im vorliegenden Beitrag wird ein Überblick über diese Justiztätigkeit gegeben. Zunächst werden die Erscheinungsformen des DDR -Unrechts, die für die Strafjustiz relevant waren, zusammenfassend dargestellt. Sodann wird auf einige juristische Kernfragen eingegangen, die im Mittelpunkt der Strafverfahren wegen DDR -Unrechts standen. Im Anschluss daran werden die Grundlinien der Strafverfahren skizziert und es wird eine Bewertung der justiziellen Tätigkeit vorgenommen. Schließ­lich widmet sich der Beitrag mög­lichen Alternativen zur Strafverfolgung von DDR -Unrecht, bevor ein Fazit gezogen wird.

1 Der Text greift Gedanken auf, die in Gerhard Werle/Moritz Vormbaum: After the Fall of the Berlin Wall. In: Vesselin Popovski/Mónica Serrano (Hrsg.): After Oppression − Transi­tional Justice in Eastern Europe and Latin America. Tokio 2012, S. 298−332; Gerhard Werle: Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität. In: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001) 41, S. 3001 – 3008 sowie in Klaus Marxen/Gerhard Werle: Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Berlin/New York 1999 entwickelt worden sind und führt diese weiter. 2 Vgl. Klaus Marxen/Gerhard Werle/Petra Schäfter: Die Strafverfolgung von DDRUnrecht, Fakten und Zahlen. Berlin 2007, URL: http://werle.rewi.hu-­berlin.de/strafverfolgung_ faktenundzahlen.pdf, letzter Zugriff: 20. 05. 2016 sowie die Tabellen im Anhang des Beitrags. – Die Ziffern basieren auf einer statistischen Auswertung der Justizakten, die im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten Projekts »Strafjustiz und DDR-Unrecht« an der Humboldt-­ Universität zu Berlin vorgenommen wurde, URL: http://psv.rewi.hu-­berlin.de/, letzter Zugriff: 29. 04. 2016.

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1. Erscheinungsformen des DDR-Unrechts Mit Beginn der Demokratisierung der DDR stellte sich die Frage nach dem Umgang mit dem staat­lich veranlassten Unrecht von vierzig Jahren Diktatur. Das Unrecht, mit dem sich die Justiz befasste, lässt sich in verschiedene Kategorien gruppieren.3 Im Mittelpunkt des öffent­lichen und ­später auch des rechtswissenschaft­ lichen Interesses standen die Gewalttaten an der deutsch-­deutschen Grenze, insbesondere die Todesschüsse der Grenzsoldaten auf DDR-Bürger, die versucht hatten, in die Bundesrepublik zu fliehen. Daneben befasste sich die Justiz mit folgenden weiteren Formen staat­lich gesteuerten Unrechts: ■■ Wahlfälschungen, das heißt Fälschungen der Wahlergebnisse zugunsten der SED und der weiteren »Blockparteien«, wie sie auf dem Wahlzettel vorgegeben waren; ■■ Amtsmissbrauch und Korrup­tion durch Mitglieder des »Politbüros« und Funk­tionäre; ■■ Rechtsbeugung durch linientreue Richter, Staatsanwälte und Mitglieder des Justizministeriums; ■■ Denunzia­tionen, bei denen offizielle Stellen in der DDR über angeb­liche oder tatsäch­liche Regimegegner zwecks Einleitung von Strafverfahren informiert wurden; ■■ Unrecht durch Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes wie Abhören von Telefonen, Betreten von Wohnungen, Entnahme von Geld aus Briefsendungen zugunsten des Staatshaushaltes, Repressalien gegenüber Ausreiseantragstellern und Entführungen; ■■ Misshandlungen in Haftanstalten, die an der Tagesordnung waren und die von der SED-Führung zumindest geduldet wurden; ■■ systematischem Doping zur Förderung der sport­lichen Leistung von DDRAthleten, oft von Minderjährigen; ■■ Wirtschaftsstraftaten, wie etwa dem Handeltreiben mit Kriegswaffen unter Verstoß gegen einschlägige Vorschriften; sowie

3 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 7 ff.; dies. (Hrsg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumenta­tion, 7 Bde. Berlin/New York 2000 – 2009. – Zu den einzelnen Unrechtskategorien und ihrer Aufarbeitung sowie zur strafrecht­lichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht insgesamt findet sich eine Masse an wissenschaft­lichen Veröffent­lichungen, die hier nicht im Einzelnen aufgelistet werden können. Für eine Übersicht vgl. dies.: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 261 ff.; Moritz Vormbaum: Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Tübingen 2015, S. 6, Fn. 31.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

■■ Spionagetätigkeiten der Nachrichtendienste des MfS und der Na­tionalen Volksarmee gegen die Bundesrepublik.

2. Kernfragen der strafrecht­lichen Aufarbeitung Die strafrecht­liche Konfronta­tion mit ­diesem staat­lichen Unrecht der SED-Diktatur begann bereits in der Endphase der DDR.4 Unter dem Druck der Öffent­ lichkeit und der Medien wurden noch vor den ersten freien Wahlen unter der Nachfolgeregierung von Honecker und Krenz Verfahren gegen Mitglieder der politischen Spitze der DDR und hochrangige Offizielle des alten Regimes eingeleitet. Diese Verfahren wurden auch nach den freien Wahlen vom 18. März 1990 fortgeführt und ausgeweitet. Inhalt­lich befassten sich diese Verfahren hauptsäch­ lich mit Wahlfälschung sowie Amtsmissbrauch und Korrup­tion. Im vereinten Deutschland begann die systematische strafrecht­liche Verfolgung von staat­lichen Verbrechen, die während der SED -Diktatur begangen worden waren, bereits im Oktober 1990, auch wenn es in vielen Fällen noch einige Jahre dauerte, bis ein Verfahren eröffnet wurde. Der Antrag einer Generalamnestie für DDR-Täter, der von der PDS in den Bundestag eingebracht worden war, wurde abgelehnt.5 Alternative Formen der Aufarbeitung staat­lichen Unrechts, etwa die Einsetzung einer Wahrheitskommission, wurden zwar diskutiert, allerdings letzt­ lich nur auf wissenschaft­licher Ebene; in der Praxis blieben sie unberücksichtigt. Frei­lich wurden neben der strafrecht­lichen Verfolgung von DDR-Unrecht zahlreiche weitere Maßnahmen eingeleitet. So wurden etwa Opfer des kommunistischen Regimes entschädigt,6 zwei Enquete-­Kommissionen des Bundestages 4 Zur Aufarbeitung im letzten Jahr der DDR vgl. Petra Bock: Vergangenheitspolitik im Systemwechsel. Die Politik der Aufklärung, Strafverfolgung, Disqualifika­tion und Wiedergutmachung im letzten Jahr der DDR. Berlin 2000. 5 Vgl. Christoph Schaefgen: Dealing with the Communist Past – Prosecu­tions after German Reunifica­tion. In: Gerhard Werle (Hrsg.): Justice in Transi­tion – Prosecu­tion in Germany and South Africa. Berlin 2006, S. 15 – 26, hier S. 15 f. 6 Die politisch-­mora­lische und materielle Rehabilitierung von Opfern des SED-Regimes wurde als zentraler Punkt der Aufarbeitung im Einigungsvertrag festgehalten und in Rehabilitierungsgesetzen, die zunächst in der DDR und ­später im vereinten Deutschland erlassen wurden, geregelt. Vgl. hierzu z. B. Martin Ludwig: Die Rehabilitierung der Opfer. In: Albin Eser/ Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrecht in Reak­tion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transi­tionsprozesse, Bd. 2: Landesbericht Deutschland. Freiburg 2000, S. 433 – 500, hier S. 433 ff.; Werle/Vormbaum: After the Fall (wie Anm. 1), S. 298, 300; Klaus Wimmer: The Rehabilita­tion of the Victims of Political Persecu­tion in the German Democratic Republic within the Provisions of the First and Second Laws of Repara­tion for SED Injustices. In: Medard

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zur »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (1992 – 1994) sowie zur »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (1995 – 1998) eingesetzt,7 eine eigene Behörde zur Sammlung und Archivierung der Stasi-­Akten gegründet 8 und frühere Mitarbeiter der Stasi aus öffent­lichen Ämtern entfernt.9 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Kernfragen der strafrecht­ lichen Aufarbeitung, die in der öffent­lichen Wahrnehmung eine zentrale Rolle spielte. 2.1 Der »Zwei-­Schlüssel-­Ansatz« Den recht­lichen Rahmen für die Strafbarkeit von Unrecht, das unter dem SEDRegime begangen worden war, legte der Einigungsvertrag fest. Nach Artikel 315 Einigungsvertrag war grundsätz­lich das zur Tatzeit geltende Recht anwendbar, es sei denn, es wurde vor der Entscheidung geändert; in ­diesem Fall war nach § 2 R. Rwelamira/Gerhard Werle (Hrsg.): Confronting Past Injustices – Approaches to Amnesty, Punishment, Repara­tion and Restitu­tion in South Africa and Germany. Durban 1996, S. 55−62, hier S. 56 ff. 7 Bei einer »Enquetekommission« handelt es sich um eine vom Deutschen Bundestag eingesetzte Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus allen Frak­tionen, in der langfristige Fragestellungen gelöst und gemeinsame Posi­tionen erarbeitet werden sollen. Die Ergebnisse der Enquetekommissionen, die zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts eingesetzt wurden, finden sich in Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-­Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der DDR-Diktatur in Deutschland«. 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Neun Bände in zwölf Teilbänden, Baden Baden 1995; sowie Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-­Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«. 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Acht Bände in 14 Teilbänden, Baden Baden 1999. 8 Um vor allem den Millionen betroffenen DDR-Bürgern den Zugang zu ihren Akten zu ermög­ lichen, wurde am 29. Dezember 1991 das »Stasi-­Unterlagen-­Gesetz« erlassen, das den recht­ lichen Rahmen für die Einsicht festlegte. Die Bundesbehörde, ­welche die unzähligen Akten archiviert, wurde bereits mit der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 gegründet. Vgl. hierzu etwa Albert Engel: Die recht­liche Aufarbeitung der Stasi-­Unterlagen auf der Grundlage des StUG (Schriften zum Öffent­lichen Recht, 682). Berlin 1995; Martin Ludwig: Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Albin Eser/Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrecht in Reak­tion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transi­tionsprozesse, Bd. 2: Landesbericht Deutschland. Freiburg 2000, S. 501 – 518. 9 Zur Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten der DDR im Zuge der Vereinigung Deutschlands vgl. z. B. Hans Hubertus von Roenne: »Politisch untragbar …?«. Die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten der DDR im Zuge der Vereinigung Deutschlands (Berliner Juristische Universitätsschriften, 7). Berlin 1997.

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Strafgesetzbuch das mildere Gesetz anzuwenden. Die weitgehende Ersetzung des DDR-Strafrechts durch das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik nach dem Beitritt der DDR wurde somit einer na­tionalen Gesetzesänderung ­zwischen Tatbeendigung und Aburteilung gleichgestellt. Die Frage nach der Strafbarkeit von DDR-Unrecht unterlag damit dem sogenannten Meistbegünstigungsprinzip des bundesdeutschen Strafgesetzbuchs. Dies bedeutete in der Praxis, dass die Gerichte erstens zu prüfen hatten, ob eine Tat nach DDR-Recht strafbar war. In einem zweiten Schritt war nach der Strafbarkeit gemäß bundesdeutschem Strafrecht zu fragen. Nur bei doppelter Strafbarkeit (sowohl nach dem Recht der DDR als auch der Bundesrepublik) war die Bestrafung, und dann auch nur nach dem milderen Gesetz zulässig (»Zwei-­Schlüssel-­Ansatz«). Was in der ­Theorie eine klare juristische Lösung war, konnte sich in der Praxis weitaus schwieriger darstellen. Insbesondere bei den »Mauerschützenprozessen«, die hier beispielhaft behandelt werden sollen, wurde die Frage nach der Strafbarkeit nach DDR-Recht aufgeworfen.10 Im Mittelpunkt stand die Frage, ob eine Verurteilung der DDR-Soldaten gegen das Rückwirkungsverbot verstieß. Natür­lich hatte auch die DDR vorsätz­liche Tötung unter Strafe gestellt. Aber die Tötung Fluchtwilliger wurde immer dann als gerechtfertigt angesehen, wenn die Tötung das letzte Mittel zur Verhinderung der Republikflucht war. Nach Artikel 27 Absatz 2 DDR-Grenzgesetz war die Anwendung der Schusswaffe gerechtfertigt, »um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt«. Da die »Republikflucht« nach § 213 DDR-Strafgesetzbuch regelmäßig ein Verbrechen darstellte,11 war bei der Verhinderung der »Tatbegehung« nach dem DDR-Grenzgesetz bei der Anwendung der Schusswaffe ledig­lich »das Leben von Personen nach Mög­lichkeit zu schonen«. Im Ergebnis wurde diesen Bestimmungen in der Praxis der DDR ein eindeutiger Sinn beigelegt: »Keiner darf durchkommen!« – so lautete das oberste Gebot.12 Dieser Zweck, den Grenzübertritt um jeden Preis zu verhindern, war bei jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des DDR-Rechts vorausgesetzt. Verhältnismäßigkeit bedeutete: Es war zunächst 10 Vgl. dazu ausführ­lich Toralf Rummler: Die Gewalttaten an der deutsch-­deutschen Grenze vor Gericht. Berlin 2000; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1); Hans Vest: Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Na­tionale Strafverfolgung von staat­lichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel. Tübingen 2006, S. 7 ff. 11 Vgl. Vormbaum: Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik (wie Anm. 3), S. 420 ff., 517 ff. 12 Vgl. Werle: Rückwirkungsverbot (wie Anm. 1), S. 3001, 3004. – Der Bundesgerichtshof kam in seiner Entscheidung BGHSt 39, 1, 11, zu dem Ergebnis, dass die Devise gegolten habe: »Besser der Flüchtling ist tot, als dass die Flucht gelingt.«

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zu warnen. Bei Erfolglosigkeit der Warnung war der Flüchtende fluchtunfähig zu schießen. Wenn dies nicht gelang, war auch die Tötung als letztes Mittel zulässig. Den Todesschüssen folgten in der DDR auch keine Strafverfahren, sondern lobende Anerkennungen durch die zuständigen staat­lichen Stellen: Urkunden, Orden, Geldprämien, Sonderurlaub, Beförderung.13 Dementsprechend ergab sich auf den ersten Blick eine klare Sachlage: Die innerstaat­liche Legalität der DDR erlaubte die Tötung als letztes Mittel zur Verhinderung des Grenzübertritts. In ­diesem Rahmen erteilten die DDR-Gesetze eine Lizenz zum Töten. Versteht man das DDR-Recht in seinem historischen Sinn, dann waren die Todesschüsse im Normalfall innerstaat­lich »legal«. In d ­ iesem Sinne argumentierten auch die angeklagten Grenzsoldaten und ihre Verteidiger. Die Grenzsoldaten räumten ein, bewusst auf die Flüchtenden geschossen und dabei deren Tod billigend in Kauf genommen zu haben. Allerdings wiesen sie darauf hin, dass dies nach dem Recht der DDR erlaubt gewesen, ja sogar als besonders pflichtbewusstes Handeln belobigt worden sei. Die Verteidiger machten geltend, dass eine Verurteilung wegen der Todesschüsse das Rückwirkungsverbot verletze, da die Handlung zum Tatzeitpunkt nach DDR Recht nicht verboten gewesen sei. 2.2 Menschenrechtsfreund­liche Auslegung des DDR-Rechts Die Justiz im vereinten Deutschland folgte in ihren Entscheidungen dieser Argumenta­tion nicht, sondern bediente sich einer zweigleisigen Argumenta­tion, die im Folgenden in ihren Grundzügen nachgezeichnet wird. Die Gerichte ­nahmen zum einen eine menschenrechtsfreund­liche Auslegung des DDR -Rechts vor,14 zum anderen beriefen sie sich auf die Radbruch’sche Formel und das Völkerrecht. Im Ergebnis war der Bundesgerichtshof der Ansicht, dass die Grenzsoldaten (auch) gegen DDR-Recht verstoßen hätten, womit einer Verurteilung nichts im Wege stand.15 Das Ergebnis des Bundesgerichtshofes, die Grenzsoldaten hätten gegen das Recht der DDR verstoßen, war überraschend – kein Wunder, wurde das Recht der DDR von der bundesdeutschen Justiz doch nicht so angenommen, wie es in der Rechtspraxis der DDR ­soziale Realität hatte. Der Bundesgerichtshof fragte vielmehr: Hätte das Recht der DDR, insbesondere das Grenzgesetz, unter Beachtung der Menschenrechte auch anders gehandhabt werden können 13 Vgl. Werle: Rückwirkungsverbot (wie Anm. 1), S. 3001, 3004. 14 Vgl. hierzu ebd. 15 Vgl. BGHSt 41, 101 ff.

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oder müssen? Anders formuliert: Was hätte ein vom Geist der Menschenrechte erfüllter Richter aus den Gesetzestexten der DDR abgeleitet? Hätte ein solcher menschenrechtsfreund­licher Richter die Tötungen an der Grenze schon in der DDR für rechtswidrig und strafbar erklären können? Der Bundesgerichtshof hielt eine derartige menschenrechtsfreund­liche Auslegung des DDR -Grenzgesetzes für geboten. Auch die DDR -Verfassung habe den Schutz des Lebens und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anerkannt; in deren Lichte hätte man das Grenzgesetz einschränkend auslegen können und müssen. Nach dieser Auslegung habe auf einen unbewaffneten Flüchtling nicht mit Tötungsvorsatz geschossen werden dürfen.16 Das bedeutet: Auch nach DDRRecht, menschenrechtsfreund­lich interpretiert, waren die Tötungen an der Grenze rechtswidrig. Eine, wie es scheint, glatte juristische Lösung: Strafbarkeit bestand auch nach richtig verstandenem DDR-Recht. Beide Schlüssel, bundesdeutsches Recht und DDR-Recht, passten und öffneten das Tor zur Strafbarkeit. Das Rückwirkungsverbot war nicht tangiert, denn das DDR-Recht selbst sah die Strafbarkeit der Tötungen an der Grenze vor.17 Juristische Eleganz und feine Ironie kann man dieser Lösung nicht absprechen: Der Bundesgerichtshof wendete die repressiven DDR-Gesetze gegen die, die sie erlassen und vollstreckt hatten. Einzuräumen ist auch: Das vom Bundesgerichtshof entwickelte Verständnis des geschriebenen DDR-Rechts war rein sprach­lich mög­lich. Ferner hatte sich die DDR, ganz anders als der NS-Staat, nach außen zur Achtung der Menschenrechte bekannt. Der Euro­päische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR ) hat dann auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes vorbehaltlos bestätigt und einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot aus Artikel 7 Absatz 1 der Euro­päischen Menschenrechtskonven­tion verneint.18 Der Gerichtshof betonte verallgemeinernd das Recht demokratischer Nachfolgestaaten, die Auslegung überkommener

16 Vgl. BGHSt 41, 101, 110. 17 Zusammenfassend zu dieser Argumenta­tionslinie der Rechtsprechung vgl. Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 10), S. 330 ff., mit Nachweisen zum Schrifttum; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 17 ff.; Vest: Humanitätsverbrechen (wie Anm. 10), S. 71, 87. 18 Angerufen hatte den Gerichtshof u. a. der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR Egon Krenz, gegen den, wie auch gegen andere Angehörige der politischen und militärischen Führung, eine mehrjährige Freiheitsstrafe wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verhängt worden war. Zu den Entscheidungen des Euro­päischen Gerichtshofs für Menschenrechte vgl. Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-­deutschen Grenze. – Zu den Urteilen des Euro­päischen Gerichtshofs für Menschenrechte ( Juristisches Zeitgeschehen, 10). Baden-­Baden 2002; Vest: Humanitätsverbrechen (wie Anm. 10), S. 71, 87 ff.; Werle: Rückwirkungsverbot (wie Anm. 1), S. 3001, 3006 ff.

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Gesetze im rechtsstaat­lichen Sinne zu ändern: Den Gerichten eines Nachfolgestaats könne man nicht vorwerfen, dass sie die zur Tatzeit geltenden Rechtsvorschriften im Lichte der Grundsätze anwenden und auslegen, die in einem Rechtsstaat gelten. Der Gerichtshof hielt es insbesondere für legitim, den von repressiven Staaten geschaffenen äußeren Schein der Rechtsstaat­lichkeit ernst zu nehmen und die innerstaat­lichen Gesetze neu zu interpretieren.19 Die vom Bundesgerichtshof entwickelte »menschenrechtsfreund­liche Auslegung« wird damit ausdrück­lich als zulässige Methode der postdiktatorischen Strafbarkeitsbegründung anerkannt. Die menschenrechtsfreund­liche Auslegung menschenrechtswidriger Gesetze bleibt aber insgesamt Bedenken ausgesetzt: Die Essenz der Diktatur – menschenrechtsfeind­liche »Legalität« – wurde weginterpretiert. Das Recht der DDR war nicht als menschenrechtsschützende Schranke, sondern als Mittel der Politik konzipiert. Die Grundrechte dienten in der DDR nicht der Abwehr staat­licher Eingriffe;20 der Primat der sozialistischen Ordnung beherrschte jede Verhältnismäßigkeitsabwägung. Die führende Rolle der Partei war ein zentraler Verfassungssatz der DDR , und die Partei führte auch bei der Verwirk­lichung des sozialistischen Rechts. Jede Auslegung war dementsprechend an den Willen der Partei- und Staatsführung gebunden.21 Die menschenrechtsfreund­liche Auslegung des Bundesgerichtshofes blendete diese durch die DDR -Verfassung vorgegebenen Zusammenhänge aus, rehabilitierte gewissermaßen das geschriebene DDR -Recht und begünstigte dadurch recht­liche und historische Missverständnisse. Hinzu kommt: Die Methode der menschenrechtsfreund­lichen Auslegung versagt, wenn ein in brutaler Eindeutigkeit formuliertes Gesetz einer menschenrechtsfreund­lichen Auslegung nicht zugäng­lich ist. Soll ein derartiges Gesetz etwa beacht­lich sein? Soll es von den eigenen Formulierungen einer diktatorischen Regelsetzung abhängen, ob die Machthaber und ihre Vollstrecker s­ päter zur Verantwortung gezogen werden dürfen? Sind am Ende die philolo­g ischen Feinheiten entscheidend und nicht die ­soziale Realität von schweren Menschenrechtsverletzungen? Eine offen ausgewiesene Begrenzung des Rückwirkungsverbotes durch den Gesetzgeber wäre hier klarer und ehr­ licher gewesen.

19 EGMR, Urteil vom 22. 3. 2001 – 34044/96, 35532/97, 44801/98 (Streletz, Kessler und Krenz/ Deutschland), abgedr. in: Neue Juristische Wochenschrift 54 (2001) 41, 3035 ff. 20 Vgl. dazu etwa Siegfried Mampel: Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar. Frankfurt a. M. 31997, Art. 19 Rn. 12 ff. 21 Vgl. Vormbaum: Strafrecht (wie Anm. 3), S. 101 f., 654.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

2.3 Einschränkung des Rückwirkungsverbotes bei menschenrechtswidrigen Tötungen Die zweite Argumenta­tionslinie des Bundesgerichtshofes orientierte sich an der Radbruch’schen Formel. Der deutsche Rechtsphilosoph und Justizminister in der Weimarer Republik Gustav Radbruch hatte diese Formel im Jahre 1946 entwickelt. Ihren Kern bildete Radbruchs Überlegung, dass ein Richter im Konflikt ­zwischen positivem Recht und materieller Gerechtigkeit dahingehend zu entscheiden habe, dass das positive […] Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhalt­lich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträg­liches Maß erreicht, daß das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat.22

Auf die Radbruch’sche Formel hatte sich die (west-)deutsche Justiz bereits bei der Aufarbeitung des Unrechts der NS -Diktatur berufen und die Auffassung vertreten, dass jedenfalls evident ungerechte Regelungen des na­tionalsozialistischen Gesetzgebers für die bundesdeutsche Rechtsprechung unbeacht­lich ­seien.23 Bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts wendete der Bundesgerichtshof die Radbruch’sche Formel erneut an, diesmal zugleich unter Berufung auf das Völkerrecht: Der Bundesgerichtshof vertrat die vom Bundesverfassungsgericht gebilligte 24 Auffassung, die Entwicklung der Menschenrechte seit 1946 führe dazu, bei staat­ lich veranlassten Tötungen menschenrechtswidrigen Rechtfertigungsgründen die Anerkennung stets zu versagen.

22 Gustav Radbruch: Gesetz­liches Unrecht und übergesetz­liches Recht. In: Süddeutsche Juristen-­Zeitung 1 (1946) 5, S. 105 – 108, hier S. 105, 107. 23 Vgl. zur Radbruch’schen Formel in den Mauerschützen-­Prozessen z. B. Robert Alexy: Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit. Göttingen 1993; Gustav Dreier: Radbruch und die Mauerschützen. In: Juristen-­Zeitung 52 (1997) 9, S. 421 – 434; Arthur Kaufmann: Die Radbruchsche Formel vom gesetz­lichen Unrecht und vom übergesetz­lichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht. In: Neue Juristische Wochenschrift 48 (1995) 2, S. 81 – 86; Walter Ott: Die Radbruch’sche Formel – Pro und Contra. In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 107 (1988) 1, S. 335 – 357; Frank Saliger: Radbruchsche Formel und Rechtsstaat. Heidelberg 1995; Giuliano Vassalli: Radbruchsche Formel und Strafrecht. Zur Bestrafung der »Staatsverbrechen« im postnazistischen und postkommunistischen Deutschland (Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik, 22). Berlin/ New York 2010. 24 BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen, 131 ff.

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Die Radbruch’sche Formel hatte frei­lich bereits in ihrer ursprüng­lichen Form nicht nur Zustimmung erhalten.25 Zudem mag man daran zweifeln, ob Gustav Radbruch selbst, der bei der Entwicklung seiner Formel das na­tionalsozialistische Unrecht vor Augen gehabt hatte, der Ansicht gewesen wäre, dass die Gesetze der DDR die Voraussetzungen seiner Formel erfüllten. Dennoch verdient der unter Bezugnahme auf die Radbruch’sche Formel durch die bundesdeutsche Justiz gewählte Weg, bei dem sie zugleich die Grundsätze des Nürnberger Prozesses weiterentwickelte, insgesamt Zustimmung. Das Recht auf Leben ist völkerrecht­ lich anerkannt, und die grundsätz­liche Strafbarkeit von vorsätz­lichen Tötungen ist in allen Rechtsordnungen vorgesehen. Frag­lich kann daher nur sein, ob und unter w ­ elchen Voraussetzungen staat­liche Eingriffe in das Recht auf Leben gerechtfertigt werden können. Prinzipiell sind s­ olche Einschränkungen mög­lich. So sind Tötungen im Rahmen militärischer Auseinandersetzungen völkerrecht­lich erlaubt. Das Völkerrecht sieht ferner in der Verhängung der Todesstrafe für eine schwere Straftat eine zulässige Einschränkung des Rechts auf Leben. Die Frage ist, ob auch die Tötung zum Zwecke der Verhinderung der Ausreise gerechtfertigt werden kann. Nach zutreffender Auffassung ist hier die Rela­tion ­zwischen Mittel und Zweck nicht gewahrt: Die Tötung eines wehrlosen Menschen zum Zwecke der Verhinderung seiner Ausreise ist ein schlechterdings unzulässiges Mittel. Eine derartige Einschränkung des Rechts auf Leben ist willkür­lich. Und willkür­liche staat­liche Tötungen sind mit den Menschenrechten und den Grundrechten immer unvereinbar. Es war deshalb richtig, dass die deutsche Justiz bei willkür­lichen staat­lichen Tötungen Legalisierungsversuchen die Anerkennung versagte. Das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes steht in solchen Fällen einer Bestrafung nicht entgegen.

3. Grundlinien der strafrecht­lichen Verfolgung Analysiert man das Vorgehen der deutschen Gerichte bei der strafrecht­lichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts, so zeigt sich, dass sich ähn­liche Argumenta­ tionen, wie sie zuvor anhand der Mauerschützenprozesse aufgezeigt wurden, auch in anderen Bereichen der strafrecht­lichen Aufarbeitung, das heißt bei anderen Deliktsgruppen finden.26

25 Vgl. hierzu z. B. Vest: Humanitätsverbrechen (wie Anm. 10), S. 71. 26 Vgl. im Einzelnen Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 239 f.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

3.1 Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen Tatbestandsmäßiges Verhalten, das in offensicht­licher und schwerwiegender Weise gegen völkerrecht­lich anerkannte Menschenrechte verstößt, wurde durchgängig als strafbar erfasst. Das Erfordernis einer schweren Menschenrechtsverletzung wirkte dabei zugleich legitimierend und begrenzend. So hat in Fällen der Rechtsbeugung das Fehlen einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung zu zahlreichen Freisprüchen und Verfahrenseinstellungen geführt. Das Ergebnis war eine Konzentra­tion der Strafverfolgung auf Verurteilungen durch DDR-Gerichte, mit denen unter schwerem Verstoß gegen die Menschenrechte die Todesstrafe oder eine längere Freiheitsstrafe verhängt wurde. Ähn­liches gilt etwa für die strafrecht­liche Verfolgung von Denunzia­tionen. Auch hier wurden im Ergebnis nur ­solche Anzeigen strafrecht­lich verfolgt, w ­ elche die Gefahr einer offensicht­lichen und schweren Menschenrechtsverletzung durch das drohende Strafverfahren begründeten. Die Behandlung weiterer Fallgruppen fügt sich in das Bild einer Konzentra­tion der Strafverfolgung auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen: So wurde bei der Ahndung der Misshandlung von Strafgefangenen und des Dopings ohne Einwilligung der Betroffenen aufgrund des massiven Eingriffs in die körper­liche Gesundheit der Opfer eine schwere Menschenrechtsverletzung angenommen. Die Strafbarkeit von MfS-Mitarbeitern wurde dagegen, jedenfalls soweit es um das Abhören von Telefonen oder das heim­liche Betreten von Wohnungen ging, oftmals wegen des Fehlens einer schweren Menschenrechtsverletzung verneint. 3.2 Verfolgungskontinuität Von ­diesem Grundsatz finden sich allerdings auch Ausnahmen. Betrachtet man die Statistik der Strafverfahren wegen DDR-Unrechts,27 fällt auf, dass ein Teil der Verfahren, die durch rechtskräftige Urteile endeten, Amtsmissbrauch, Korrup­ tion und Wahlfälschungen behandelten. Diese Taten waren nicht durch schwere Menschenrechtsverletzungen geprägt. Vielmehr orientierte sich die strafrecht­liche Aufarbeitung in ­diesem Bereich am Leitprinzip der Verfolgungskontinuität, die den zweiten Grundpfeiler der strafrecht­lichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht darstellte.28 Fast alle Verfahren wegen Amtsmissbrauchs und Korrup­tion (im juristischen Sinne handelte es sich um Fälle von Untreue) sowie zahlreiche Verfahren

27 Vgl. die Tabellen im Annex zu ­diesem Beitrag. 28 Vgl. hierzu Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 240 f.

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wegen Wahlfälschung wurden noch in der DDR unter der Nachfolgeregierung von Honecker und Krenz eingeleitet. Eine gewandelte DDR-Justiz kam bereits zu einer nicht geringen Zahl von Verurteilungen. Die Strafjustiz der Bundesrepublik führte diese Strafverfolgungsaktivitäten fort.

4. Bewertung der strafrecht­lichen Aufarbeitung Schon zu Beginn des strafrecht­lichen Aufarbeitungsprozesses war abzusehen, dass viele Verfahren, wie immer sie auch enden mochten, juristisch und politisch umstritten bleiben würden. Angesichts der schwierigen Materie war es auch nicht überraschend, dass es in der Rechtsprechung zu Widersprüchen kam und dass juristische Begründungen in manchen Bereichen angreifbar blieben. Folgende Stärken und Schwächen der strafrecht­lichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht lassen sich feststellen.29 4.1 Stärken Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen Positiv zu bewerten ist zunächst das zentrale Ergebnis des strafrecht­lichen Aufarbeitungsprozesses: die Konzentra­tion der Strafverfolgung auf die Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Dieses Ergebnis fügt sich ein in das von Übergangsprozessen in anderen Ländern, zum Beispiel in Argentinien, Chile oder Peru, in denen Amnestien für eben ­solche Verbrechen aufgehoben und die Täter strafrecht­lich verfolgt wurden.30 Aus völkerrecht­licher Sicht besteht sogar eine Pflicht zur strafrecht­lichen Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen für den Staat, in dem sie begangen wurden.31 Dies ist zu begrüßen. Die Straflosigkeit von schweren Menschenrechtsverletzungen ist eine der wichtigsten Ursachen ihrer Neubegehung. Hier geben die deutschen Verfahren das richtige 29 Vgl. ebd., S. 241 ff. 30 Vgl. die wegweisenden Urteile des Interamerikanischen Strafgerichtshofes in den Fällen Barrios Altos v Peru, Urt. v. 14. März 2001, Rn. 41; Almonacid Arellano v Chile, Urt. v. 26. September 2006, Rn. 105 ff.; zuletzt in Gelman v Uruguay, Urt. v. 24. Februar 2011, Rn. 225 ff. 31 Vgl. z. B. Christian Tomuschat: The Duty to Prosecute Interna­tional Crimes Committed by Individuals. In: Hans-­Joachim Cremer u. a. (Hrsg.): Tradi­tion und Weltoffenheit des Rechts. Festschrift für Helmut Steinberger (Beiträge zum ausländischen öffent­lichen Recht und Völkerrecht, 152). Berlin 2002, S. 315 – 350; Gerhard Werle /Florian Jessberger: Völkerstrafrecht. Tübingen 42016, Rn. 252 ff.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

Signal gegen eine »Kultur der Straflosigkeit«. Die Verfahren tragen dazu bei, den Respekt vor den Grund- und Menschenrechten zu festigen. Die Bestrafungen schwerer Menschenrechtsverletzungen bringen recht­liche Missbilligung am schärfsten zum Ausdruck. Bestrafungen werden zum Teil eines Prozesses der Normbekräftigung, der auch und gerade nach dem Untergang eines repressiven Systems notwendig ist: Die Grund- und Menschenrechte sind stets zu achten; staat­liche Duldung oder Förderung von Menschenrechtsverletzungen verschafft den Handelnden keinen Freibrief. Als weitere Stärke ist die Wirkung individueller Zurechnung zu nennen.32 Individuelle Zurechnung macht deut­lich, wie staatsgesteuertes Unrecht aus dem Zusammenwirken bestimmter Individuen entstanden ist. Die Individualisierung führt der Gesellschaft vor Augen, dass nicht ein anonymes Kollektiv, sondern ein bestimmbarer Kreis von Personen die schweren Menschenrechtsverletzungen geplant, organisiert und vollzogen hat. Dieses Vorgehen läuft keineswegs auf eine Verdunkelung oder gar ein Leugnen gesellschaft­licher Verantwortung hinaus. Denn spätestens bei der Bemessung von Strafen ist die Einbindung der Täter in den Zusammenhang staat­lichen Handelns zu berücksichtigen. Dementsprechend wurden in den Prozessen wegen DDR-Unrechts vielfach vergleichsweise milde Strafen verhängt. Zu verweisen ist insbesondere auf die zahlreichen Bewährungsstrafen, die gegen Grenzsoldaten ausgesprochen wurden.33 Der ungewöhn­liche Umstand, dass ein vorsätz­liches Tötungsdelikt mit einer Bewährungsstrafe geahndet wurde, zeigt vielmehr in aller Deut­lichkeit, dass die Justiz Schuld sorgfältig individualisiert hat. Beachtung des Willens der DDR-Bürger Gegen die strafrecht­liche Verfolgung von Amtsmissbrauch, Korrup­tion und Wahlfälschung, bei der die »Verfolgungskontinuität« leitendes Motiv war, lassen sich beacht­liche Gründe geltend machen: Schwere Menschenrechtsverletzungen im Sinne von Angriffen auf Leben, Gesundheit und Bewegungsfreiheit lagen in diesen Fällen nicht vor. Einige Stimmen äußerten zudem scharfe Kritik daran, dass der demokratisch gewählte DDR-Gesetzgeber die einschlägigen Verfahren, soweit sie auf eigent­lich aufgehobenen DDR-Strafnormen beruhten, ausdrück­lich von der Einstellung ausnahm. Hierin wurde auch von bundesdeutschen Strafrechtlern ein Verstoß gegen den verfassungsrecht­lichen Gleichheitssatz gesehen.34 32 Vgl. Werle /Jessberger: Völkerstrafrecht (wie Anm. 31), Rn. 126. 33 Vgl. Tabelle 6 im Annex zu ­diesem Beitrag. 34 Vgl. z. B. Anne-­M arie Peter/Klaus Volk: Zur partiellen Weitergeltung alten DDRStrafrechts. In: Juristische Rundschau (1991) 3, S. 89 – 91; Uwe Schneiders: Die Regelungen

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Gleichwohl verdienen die Bemühungen, die noch in der DDR begonnenen Verfahren fortzuführen, im Ergebnis Zustimmung.35 Die gewendete DDR-Justiz machte Ernst mit der Anwendung der DDR-Strafgesetze und beendete damit die strafrecht­liche Privilegierung von staat­lichen Machthabern. Die bundesdeutsche Justiz handelte juristisch konsequent, als sie die schon in der DDR gewandelte Rechtspraxis übernahm und eingeleitete Verfahren fortführte. Damit sorgte die Justiz gleichzeitig dafür, dass ein klarer politischer Wille der DDR-Bevölkerung, der sich in der Endphase der DDR auch in staatsanwaltschaft­lichen Aktivitäten manifestiert hatte, den Umbruch der Vereinigung überdauerte. Nicht zu übersehen ist dabei frei­lich, dass diese Entwicklung ihren Ursprung in Besonderheiten des deutschen Vereinigungsprozesses hatte. Anders als die Forderung nach Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen lässt sich die Verfolgungskontinuität im Bereich von Amtsmissbrauch und Wahlfälschung mithin nicht verallgemeinern und auf Aufarbeitungsprozesse anderer Länder übertragen. Aufklärung und Anerkennung von Unrechtsvergangenheit Die Aufklärung und Anerkennung von DDR -Unrechtsvergangenheit ist ein weiteres zentrales Verdienst der Verfahren. Auch wenn manche juristische Wertungen der Gerichte umstritten bleiben, werden die gericht­lichen Feststellungen die gesellschaft­lichen Erinnerungen der Deutschen an die DDR mitprägen.36 Was in den gericht­lichen Verfahren mit den Mitteln des Strafprozesses als zweifelsfrei festgestellt wurde, kann einen hohen Grad an Verläss­lichkeit beanspruchen. Neben die Ahndungsfunk­tion strafrecht­licher Verurteilungen tritt damit ihre Aufklärungs- und Anerkennungsfunk­tion.37 Dabei kann in manchen Verfahren die Betonung stärker auf der Aufklärungsfunk­tion liegen, wenn näm­lich Gerichte wirk­lich Neues zutage gefördert haben. In anderen Bereichen war das begangene Unrecht in seinen Umrissen bekannt; hier steht die Anerkennungsfunk­tion gericht­ licher Entscheidungen im Vordergrund.38 Bei den Verfahren, die auf dem Leitprinzip der V ­ erfolgungskontinuität (Amtsmissbrauch, Korrup­tion und Wahlfälschung) beruhen, steht die Aufklärungsfunk­tion

über das materielle Strafrecht im Einigungsvertrag. In: Monatsschrift für Deutsches Recht vom 15. Juni 1990, S. 1049 – 1054, hier S. 1049, 1052. 35 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 240 f., 244 f. 36 Vgl. hierzu eingehend Heiko Wingenfeld: Die öffent­liche Debatte über die Strafverfahren wegen DDR-Unrechts. Vergangenheitsaufarbeitung in der bundesdeutschen Öffent­lichkeit der 90er Jahre (Berliner Juristische Universitätsschriften, 27). Berlin 2006. 37 Vgl. Werle /Jessberger: Völkerstrafrecht (wie Anm. 31), Rn. 126. 38 Zur Aufklärungsfunk­tion vgl. Bock: Vergangenheitspolitik (wie Anm. 4).

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

im Vordergrund. Gerade der Verdacht von Amtsmissbrauch und Korrup­tion sowie von Wahlfälschung wurde am Ende der DDR zu einem wichtigen Motor für die Bürgerrechtsbewegung. Entsprechende Bedeutung hatten Aufklärung und Verfolgung von Straftaten in ­diesem Bereich in den Jahren 1989/90 in Ostdeutschland. Betrachtet man die Resultate, so wurden in den Wahlfälschungsprozessen Strukturen und Abläufe der Wahlfälschungen in der DDR exemplarisch offengelegt. In den Verfahren wurde bewiesen, was man vorher nur hatte vermuten können. So ist beispielsweise das durch vielfache Zeugenaussagen belegte »Verhandeln« um Prozentpunkte bei Wahlergebnissen ein eindrucksvoller Beleg für die zynische und systematische Missachtung des Wählerwillens. Die Bedeutung der Wahlfälschungsprozesse wurde weder durch die verhältnismäßig geringen Strafen noch durch gewisse juristische Zweifel an der Anwendbarkeit des bundesdeutschen Wahlfälschungstatbestandes geschmälert. Ähn­lich wie bei der Wahlfälschung wurden auch im Bereich von Amtsmissbrauch und Korrup­tion Handlungen nachgewiesen, über die zuvor nur hatte spekuliert werden können. Die bewusstseinsprägende Bedeutung dieser Verfahren in der Wendezeit und unmittelbar danach sollte deshalb nicht vergessen werden. Die Anerkennungsfunk­tion steht bei den für das öffent­liche Bewusstsein besonders wichtigen Tötungen an der innerdeutschen Grenze im Vordergrund. Dass an dieser Grenze im staat­lichen Auftrag getötet wurde, war weltweit bekannt. Gleichwohl hat die strafgericht­liche Aufarbeitung der Vorgänge ihren besonderen, eigenen Wert. Um die Taten der einzelnen Angeklagten, etwa der Grenzsoldaten, einordnen zu können, zeigten die Verfahren das Gesamtsystem der Grenzsicherung minutiös auf. Sie rekonstruierten die Befehlskette, die von der Spitze der politischen Führung bis hinunter zum einfachen Grenzsoldaten reichte. Die gericht­ lichen Entscheidungen machten ferner deut­lich, wie der einzelne Grenzsoldat durch Instruk­tionen und Indoktrina­tion in ­dieses System eingebunden worden war und wie dies dann zum individuellen Tatbeitrag geführt hatte. Die Verfahren insgesamt haben zweifelsfrei ergeben, dass und wie von staat­licher Seite Tötungen bewusst als letztes Mittel zur Verhinderung von Grenzübertritten eingesetzt worden waren. Diese Feststellungen wirken jeder Verharmlosung der Gewaltverbrechen an der Grenze entgegen. Überdies belegen die Verfahren wegen Rechtsbeugung, wie die Justiz selbst zum Instrument schwerer Menschenrechtsverletzungen geworden war. Die staatsanwaltschaft­lichen Ermittlungen lieferten dabei wichtige Einblicke in Organisa­tion und Ablauf politisch gesteuerter Strafjustiz. Bedeutung für die Opfer Schließ­lich ist die Bedeutung der Verfahren für die Opfer als positiver Gesichtspunkt zu nennen. Die Aufklärung und Anerkennung begangenen Unrechts ist für die Opfer

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schwerer Menschenrechtsverletzungen von entscheidender Bedeutung. Unerläss­licher erster Schritt jeder Form von Wiedergutmachung ist die offizielle Bestätigung des erlittenen Unrechts. Dies wird auch in Übergangsgesellschaften anerkannt, die – oft aus einer Notlage heraus – auf strafrecht­liche Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen verzichten. In diesen Gesellschaften werden andere Wege gesucht, um das Recht der Opfer auf Wahrheit durchzusetzen.39 Auch nach der deutschen Vereinigung wurden, wie eingangs erwähnt, weitere Maßnahmen zur Entschädigung und Rehabilitierung der Opfer ergriffen. Zweifellos sind aber auch strafgericht­liche Verfahren geeignet, dem Recht auf Wahrheit zur Geltung zu verhelfen. Die strafgericht­ liche Verurteilung von Tätern hat sogar einen besonders hohen Symbolwert. Denn die Urteile halten nicht nur fest, was geschah, sondern bringen recht­liche Missbilligung des geschehenen Unrechts in der schärfsten Form zum Ausdruck. 4.2 Schwächen Frei­lich sind auch einige Schwächen der strafrecht­lichen Aufarbeitung des DDRUnrechts zu verzeichnen.40 Die Vorgaben des deutschen Gesetzgebers lieferten ledig­ lich einen Rahmen für die strafrecht­liche Aufarbeitung. Geregelt wurden nur Fragen des Strafanwendungsrechtes. Zu inhalt­lichen Fragen des anzuwendenden Strafrechts schwieg der Gesetzgeber. Zudem ließ er die Organisa­tionsstrukturen der Strafverfolgung im Wesent­lichen unverändert. Zusagen, das Personal der Verfolgungsorgane zu verstärken, wurden nicht im vollen Umfang eingelöst. Eine staatsanwaltschaft­ liche Zentralstelle etwa, ­welche die Ermittlungen hätte koordinieren und für eine einheit­liche Verfahrenspraxis hätte sorgen können, wurde nicht eingerichtet. In der politischen Diskussion überschatteten die schwerwiegenden allgemeinen Probleme des Zusammenwachsens von Ost und West die Auseinandersetzung über die strafrecht­liche Aufarbeitung. Es entwickelte sich ein scharfer Meinungsgegensatz, in dem Forderungen nach härterer Verfolgung und nach Amnestie aufeinanderprallten.41 Damit geriet die strafrecht­liche Aufarbeitung zu einem justiziellen Großprojekt unter schwierigen Bedingungen. Dessen Verlauf 39 Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Truth and Reconcilia­tion Commission in Südafrika. Vgl. hierzu etwa Gerhard Werle: Without Truth, No Reconcilia­tion. The South African Rechtsstaat and the Apartheid Past. In: Verfassung und Recht in Übersee 29 (1996) 1, S. 58 – 72. 40 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 247 ff. 41 Ein Überblick über die Diskussion findet sich bei Kai Rossig/Antje Rost: Alternativen zur strafrecht­lichen Ahndung des DDR-Systemunrechts. In: Albin Eser/Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrecht in Reak­tion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transi­tionsprozesse, Bd. 2: Landesbericht Deutschland, S. 521 – 536, hier S. 525 ff.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

war notgedrungen geprägt von den Merkmalen einer Justiz, die zur Hauptsache von den Bundesländern ausgeübt wurde und ein kompliziertes, mehrstufiges Rechtsmittelsystem unter verfassungsgericht­licher Kontrolle zur Verfügung stellte. Unvermeid­lich traten Divergenzen in der Verfolgungspraxis auf, Leitlinien in der richter­lichen Entscheidungspraxis bildeten sich erst in einem langwierigen Klärungsprozess heraus. Die Neugestaltung der Verjährungsregeln erwies sich zudem als unzureichend.42 Den Gerichten hingegen muss man den Vorwurf machen, dass sie die beiden zuvor gezeigten Hauptlinien – Menschenrechtsschutz und Verfolgungskontinuität – nicht stets mit der nötigen Klarheit herausstellten, zum Teil mehrgliedrig argumentierten und nur zaghaft an die Grundlagen des völkerstrafrecht­lichen Menschenrechtsschutzes anknüpften. Zudem ließe sich, wie gezeigt, gegen die menschenrechtsfreund­liche Auslegung des DDR-Rechts, so wie sie vom Bundesgerichtshof vorgenommen wurde, der Vorwurf einer Verzerrung der historischen Tatsachen vorbringen. In den Entscheidungen stellt man zudem eine Diskontinuität fest, was die Strafhöhe betrifft. Die Bewertungsmaßstäbe veränderten sich mit der Zeit hin zu einer immer milderen Bewertung gleicher Sachverhalte. Verfehlte Kritik In der öffent­lichen Diskussion in Deutschland wurde gegen die von der bundesdeutschen Justiz durchgeführte strafrecht­liche Verfolgung teilweise der Vorwurf der »Siegerjustiz« erhoben. Gemeint war damit, der »Sieger« – die Bundesrepublik Deutschland – säße über die »Verlierer« – ehemalige Repräsentanten und Funk­tionäre der untergegangenen DDR – zu Gericht. Dieser Vorwurf ist angesichts der aufgezeigten Grundsätze der strafrecht­lichen Verfolgung von DDR -Unrecht verfehlt. Die Verfolgung schwerer Verletzungen interna­tional anerkannter Menschenrechte kann nicht als »Siegerjustiz« qualifiziert werden. Der Vorwurf der Siegerjustiz wird im Übrigen auch dadurch widerlegt, dass die Strafen, selbst bei Verurteilungen wegen Tötungsdelikten, zum Teil äußerst niedrig blieben. Die Gerichte haben der Tatsache Rechnung getragen, dass etwa die Grenzsoldaten, die Todesschüsse abgaben, letzt­lich auch nur »Rädchen im Getriebe« des staat­lichen Unrechts waren.43 Andere Stimmen, vor allem Angehörige der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR, haben allerdings die Justiz wegen zu milder Strafen kritisiert. Teilweise wurde in der deutschen Diskussion auch der Vorwurf einer »verdeckten 42 Hierzu vgl. ausführ­lich Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 1), S. 248 ff. 43 Zur Organisa­tion des Grenzregimes der DDR sowie zur recht­lichen Bewertung der Taten durch die bundesdeutsche Justiz vgl. ebd., S. 8 ff.

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Amnestie« erhoben.44 Auch diese Kritik ist zurückzuweisen. Die milden Strafen waren Ausdruck einer sorgfältig austarierten Strafzumessung, die Verstrickungen von Tätern zu deren Gunsten berücksichtigte. Sie ist mithin eher als Stärke der Aufarbeitung zu sehen. Zwar wurde die Rechtsprechung, soweit eine schwere Menschenrechtsverletzung in den einzelnen Straftatbeständen nicht gefordert wurde, in gewisser Weise rechtsschöpferisch tätig. Dies ist aber ein Vorwurf, der dem Gesetzgeber zu machen ist, der sich bei der strafrecht­lichen Aufarbeitung weitgehend zurückhielt. Die Justiz hat durch die Beschränkung auf schwere Menschenrechtsverletzungen zur Glaubwürdigkeit des strafrecht­lichen Aufarbeitungsprozesses beigetragen und einen unverhältnismäßigen Verfolgungsaufwand vermieden.

5. Alternativen zur strafrecht­lichen Aufarbeitung Die Aufarbeitung von DDR-Unrecht erfolgte zu einem erheb­lichen Teil mit den Mitteln des Strafrechts. Auch im öffent­lichen Bewusstsein spielte das Strafrecht eine zentrale Rolle. Forderungen nach einer General- oder Teilamnestie konnten sich im parlamentarischen Raum nicht durchsetzen. Überlegungen zu alternativen Aufarbeitungsmodellen, die Anfang der 1990er Jahre aufgestellt wurden, blieben praktisch ohne Folgen. Im Hinblick auf die Verfolgung von schweren Menschenrechtsverletzungen wäre ein Alternativmodell – etwa nach dem Vorbild des südafrikanischen Wahrheitskommissionsmodells – als Ersatz für die von staat­licher Seite gebotene Strafverfolgung auch nur aus einer aktuellen Notsitua­tion gerechtfertigt gewesen. Eine s­ olche Notsitua­tion war im Falle der DDR, die nach einer fried­lichen Revolu­tion und einem freiwilligen Beitritt ihr Ende gefunden hatte, aber nicht gegeben. Es bestand mithin kein Grund, auf Strafverfolgung zu verzichten, wie es in einigen anderen Transi­tionsprozessen der Fall gewesen ist, in denen ein solcher Strafverzicht der Preis für eine fried­ liche Machtübergabe war. Unterhalb der Schwelle schwerer Menschenrechtsverletzungen war die Ahndung von Systemunrecht hingegen nicht zwingend geboten. In ­diesem Bereich wäre Platz gewesen für Alternativen zum Strafrecht. Die Justiz selbst hat hingegen entscheidend dazu beigetragen, durch die Beschränkung der Strafverfolgung auf schwere Menschenrechtsverletzungen die Strafbarkeit weitgehend einzugrenzen.

44 Thomas Hillenkamp: Offene oder verdeckte Amnestie – Über Wege strafrecht­licher Vergangenheitsbewältigung. In: JuristenZeitung 51 (1996) 4, S. 179 – 187.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

6. Schlussbemerkungen Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht weist zwar gewisse Defizite auf, aufs Ganze gesehen ist diese Aufarbeitung aber geglückt. Das gilt zunächst im Vergleich mit den Transi­tionsprozessen in anderen Staaten nach dem Ende von Diktaturen. Aber auch im deutschen Vergleich ist die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht ungleich besser gelungen als die Verfolgung von NS-Verbrechen. Heute, nach Abschluss der Strafverfahren, ist vor allem darauf zu achten, dass die Bemühungen der Strafjustiz um eine Aufklärung des DDR -Unrechts nicht buchstäb­lich zu den Akten gelegt werden. Denn für das gesellschaft­liche Erinnern sind die von der Strafjustiz getroffenen Feststellungen von allergrößtem Nutzen. Die Strafurteile sind wichtige Mittel gegen das Verdrängen, Verleugnen und Verklären der überwundenen Diktatur.

Anhang: Verfolgungsstatistiken Tabelle 1  DDR-Justiz: Anklagen, Strafbefehlsanträge, Urteile und Strafbefehle nach Deliktsgruppen 45 ­Wahlfälschung

Amtsmissbrauch und Korrup­tion

Sonstiges

Gesamt

Anklage/Strafbefehlsanträge

19/11

21/0

1/0

41/11

Darin Angeschuldigte

65/11

28/0

2/0

95/11

Rechtskräftige Urteile/ Strafbefehle

6/11

1/0

0/0

7/11

14/11

1/0

0

15/11

Verurteilte insgesamt Davon verurteilt zu Öffent­lichem Tadel

1

1

Geldstrafe

18

18

Bewährung

4

4

Bewährung und Geldstrafe

2

2

Freiheitsstrafe ohne Bewährung

1

1

45 Alle Tabellen und weitere Statistiken bei Marxen/Werle/Schäfter: Strafverfolgung (wie Anm. 2).

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Tabelle 2  Ermittlungsverfahren, Erledigungen und Anteil der Anklagen an Erledigungen 46 Ermittlungsverfahren

Erledigungen (gesamt)

Anklagen

Anteil der Anklagen (in %)

ca. 74.894

ca. 74.793

1.037

ca. 1,4

Tabelle 3  Anzahl der Verfahren nach Deliktsgruppen 47 Anzahl

Anteil (in %)

Rechtsbeugung

Deliktsgruppen

374

36,6

Gewalttaten an der Grenze

244

23,9

MfS-Straftaten

142

13,9

Misshandlung Gefangener

79

7,7

Wahlfälschung

66

6,5

Amtsmissbrauch/Korrup­tion

38

3,7

Doping

38

3,7

Wirtschaftsstraftaten

16

1,6

Denunzia­tion

11

1,1

Sonstiges

13

1,3

1.021

100

Gesamt

Tabelle 4  Erledigung im Hauptverfahren und durch Strafbefehl, bezogen auf Angeklagte Art der Erledigung

Anzahl

Anteil (in %)

Verurteilung

753

53,9

Freispruch

336

24,1

Einstellung

280

20,0

Verwarnung mit Strafvorbehalt Gesamt

28

2,0

1.397

100

46 Die Zahlen ergeben sich aus Angaben der Justizbehörden der (ostdeutschen) Länder. Eine zuverlässige Aussage über die exakte Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren wird u. a. durch Unterschiede in den Erfassungszeiträumen sowie die Registrierung von Vorgängen im Allgemeinen Register, wie sie in Brandenburg und Sachsen praktiziert wurde, beeinträchtigt. 47 Erfasst werden Fälle, in denen Anklage erhoben oder ein Strafbefehlsantrag gestellt wurde. Soweit die Zahl der Verfahren in Tabelle 3 niedriger ist als die der Anklagen in Tabelle 2, liegt dies in erster Linie an Unterschieden bei der Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Anders als in den Landesstatistiken wurden im Rahmen des Projekts »Strafjustiz und DDRUnrecht« z. B. vereinigungsbedingte Wirtschaftsstraftaten und Aussagedelikte, die in Verfahren wegen DDR-Unrechts begangen wurden, nicht als »DDR-Unrecht« gewertet.

Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht  |

Tabelle 5  Freisprüche und Verurteilungen nach Deliktsgruppen Deliktsgruppe

Aburteilungen

Freisprüche (Anteil in %)

Verurteilungen (Anteil in %)

Gewalttaten an der Grenze

385

110 (28,6)

275 (71,4)

Rechtsbeugung

301

120 (39,9)

181 (60,1)

Wahlfälschung

103

4 (3,9)

99 (96,1)

MfS-Straftaten

131

62 (47,3)

69 (52,7)

Misshandlung Gefangener

57

15 (26,3)

42 (73,7)

Doping

47

0 (0)

47 (100)

Amtsmissbrauch/Korrup­tion

32

10 (31,3)

22 (68,8)

Wirtschaftsstraftaten

18

5 (27,8)

13 (72,2)

Denunzia­tion

9

4 (44,4)

5 (55,6)

Sonstiges

6

6 (100)

0 (0)

1.089

336 (30,9)

753 (69,1)

Gesamt

Tabelle 6  Verhängte Strafen nach Deliktsgruppen und Sank­tionsart Deliktsgruppen

Gesamt

Geldstrafe (Anteil in %)

Freiheitsstrafe gesamt (Anteil in %)

Davon mit Bewährung (Anteil in %)

Gewalttaten an der Grenze

267

1 (0,4)

226 (99,6)

236 (88,7)

Rechtsbeugung

181

5 (2,8)

176 (97,2)

169 (96)

Wahlfälschung

99

57 (57,6)

42 (42,4)

42 (100)

MfS-Straftaten

69

31 (44,9)

38 (55,1)

36 (94,7)

Denunzia­tion

5

0 (0)

5 (100)

5 (100)

Misshandlung Gefangener

42

26 (61,9)

16 (38,1)

14 (87,5)

Amtsmissbrauch/Korrup­ tion

22

5 (22,7)

17 (77,3)

12 (70,6)

Wirtschaftsstraftaten

13

10 (76,9)

3 (23,1)

3 (100)

Doping

47

30 (63,8)

17 (36,2)

17 (100)

Gesamt

745

165 (22,1)

580 (77,9)

534 (92,1)

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Gerhard Sälter

Der Rechtsstaat und das Grenzregime der DDR Die strafrecht­liche Verfolgung der Grenzdelikte in der Bundesrepublik

Das Grenzregime der DDR hat die historische Forschung bisher wenig herausgefordert. Die akademische Forschung überließ d­ ieses Thema weitgehend den populären Publizisten und den Gedenkstätten, obwohl Einigkeit darüber besteht, dass das Grenzregime für die SED eine der wichtigsten Säulen ihrer Macht in der DDR bildete und die Herrschaftsbeziehungen in der DDR wesent­lich konturierte.1 Ausnahmen bilden die relativ gut erforschte Grenzpolizei und die Grenztruppen der DDR.2 Ähn­lich wie mit dem Grenzregime selbst verhält es sich mit der 1989 eingeleiteten strafrecht­lichen Ahndung von DDR-Unrecht, das im Zusammenhang mit dem Grenzregime erwachsen ist. Dieses Feld wurde von Rechtshistorikern breit bearbeitet, die vor allem zu rechtsdogmatischen Fragen argumentierten.3 Im Rahmen einer umfassenden Dokumenta­tion der G ­ erichtspraxis wurden die 1 Vgl. Thomas Lindenberger: Diktatur der Grenze(n). Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde. In: Hans-­Herrmann Hertle/Konrad H. Jarausch/Christoph ­Klessmann (Hrsg.): Mauerbau und Mauerfall. Ursachen, Verlauf, Auswirkungen. Berlin 2002, S. 203 – 214; Patrick Major: Behind the Berlin Wall. East Germany and the Frontiers of Power. Oxford 2010; Gerhard Sälter: Fluchtverhinderung als gesamtgesellschaft­liche Aufgabe. In: Klaus-­Dietmar Henke (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. München 2011, S. 152 – 162. – Allerdings scheint sich das langsam zu ändern: siehe Edith Sheffer: Burned Bridge. How East and West Germans Made the Iron Curtain. Oxford 2011; Sagi Schaefer: States of Division. Border and Forma­tion in Cold War in Rural Germany. Oxford 2014. 2 Vgl. Gerhard Sälter: Grenzpolizisten. Konformität, Verweigerung und Repression in der Grenzpolizei und den Grenztruppen der DDR (1952 – 1965). Berlin 2009; Jochen Maurer: Dienst an der Mauer. Der Alltag der Grenztruppen rund um Berlin. Berlin 2011; ders.: Halt – hier Staatsgrenze! Alltag, Dienst und Innenansichten der Grenztruppen der DDR. Berlin 2015. 3 Vgl. Herwig Roggemann: Systemunrecht und Strafrecht am Beispiel der Mauerschützen in der ehemaligen DDR. Berlin 1993; Henning Rosenau: Töd­liche Schüsse im staat­lichen Auftrag: Die strafrecht­liche Verantwortung von Grenzsoldaten für den Schußwaffengebrauch an der deutsch-­deutschen Grenze. Baden-­Baden 21998; Klaus Marxen/Gerhard Werle: Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Berlin 1999; Toralf Rummler: Die Gewalttaten an der deutsch-­deutschen Grenze vor Gericht. Berlin/Baden-­Baden 2000; Hanno Siekmann: Das Unrechtsbewusstsein der DDR-»Mauerschützen«. Berlin 2005.

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Ergebnisse der strafrecht­lichen Ahndung dargestellt.4 Jedoch hat sich die Zeitgeschichte ­diesem Thema bisher kaum zugewendet.5 Fragen zur Einordnung dieser Strafprozesse in die Geschichtspolitik und den Erinnerungsdiskurs im Zusammenhang mit den gesellschaft­lichen Veränderungen im Osten Deutschlands wurden bisher nur am Rande gestellt.6 Dabei ließe sich durchaus vertreten, dass die sogenannten Mauerschützenprozesse neben der IM-Diskussion, die auf den Schock nach der Öffnung der Stasi-­Archive folgte, ein wichtiges Versatzstück bildeten, das in den 1990er Jahren den gesellschaft­lichen und medialen Diskurs zur retrospektiven Bewertung der SED-Diktatur akzentuierte.7 Die strafrecht­liche Verfolgung von SED -Unrecht nach 1989 unterscheidet sich wesent­lich von der Ahndung von NS-Verbrechen nach 1945. Anders als 1945 begann die strafrecht­liche Verfolgung von systembedingtem Unrecht 1989 noch unter dem alten Regime.8 In den ersten Jahren nach 1989 wurde im Zusammenhang mit der Vereinigung in Ostdeutschland ein weitgehender Elitenaustausch vollzogen, der auch die Justiz betraf.9 Als Ergebnis stand, anders als nach 1945, der Unrechtscharakter systembedingten Unrechts in den gesellschaft­lichen Eliten, in 4 Vgl. Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumenta­ tion, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-­deutschen Grenze. Berlin 2002. 5 Vgl. Clemens Vollnhals: Strafrecht­liche Ahndung der Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze. In: Klaus-­Dietmar Henke (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. München 2011, S. 241 – 251; Gerhard Sälter: Die Prozesse gegen die Mauerschützen und ihre Befehlsgeber. In: Horch und Guck 20 (2011) 71, S. 46 – 51. 6 Vgl. Sebastian Richter: Die Mauer in der deutschen Erinnerungskultur. In: Klaus-­ Dietmar Henke (Hrsg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung. München 2011, S. 252 – 266. 7 Vgl. Heiko Wingenfeld: Die öffent­liche Debatte über die Strafverfahren wegen DDR-Unrechts. Vergangenheitsbewältigung in der bundesdeutschen Öffent­lichkeit der 90er Jahre. Berlin 2006; Thomas Grossbölting: Die DDR als »Stasi-­Staat«? Das Ministerium für Staatssicherheit als Erinnerungsmoment im wiedervereinigten Deutschland und als Strukturelement der SEDDiktatur. In: ders. (Hrsg.): Friedensstaat, Leseland, Sportna­tion? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Berlin 2009, S. 50 – 73. – Zum weiteren Kontext vgl. Martin Sabrow: »Fußnote der Geschichte«, »Kuscheldiktatur« oder »Unrechtsstaat«? Die Geschichte der DDR ­zwischen Wissenschaft, Politik und Öffent­lichkeit. In: Katrin Hammerstein/Jan Scheunemann (Hrsg.): Die Musealisierung der DDR. Wege, Mög­lichkeiten und Grenzen der Darstellung von Zeitgeschichte in stadt- und regionalgeschicht­lichen Museen. Berlin 2012, S. 13 – 24. 8 Dies betrifft insbes. Verfahren wegen Amtsmissbrauchs und Korrup­tion. Vgl. Willi ­Fahnenschmidt: DDR-Funk­tionäre vor Gericht. Die Strafverfahren wegen Amtsmißbrauchs und Korrup­tion im letzten Jahr der DDR und nach der Vereinigung. Berlin 2000; Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumenta­ tion, Bd. 3: Amtsmißbrauch und Korrup­tion. Berlin 2002. 9 Vgl. Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 542; Jon Elster: Die Akten schließen. Recht und Gerechtigkeit nach dem Ende von Diktaturen. Frankfurt 2005, S. 253 – 261.

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der Justiz und in weiten Teilen der Gesellschaft außer Diskussion.10 Das führte zu einer im Vergleich spiegelverkehrten Intensität der Verfolgung: Blieben zahlreiche Mordtaten na­tionalsozialistischer Funk­tionsträger, die zumeist die Motive ihrer Führung für den Massenmord teilten, nach 1945 ungesühnt, ahndete die Justiz nach 1989 vergleichsweise schnell und effizient das Systemunrecht der DDR. Darin ist, nicht ohne Grund, ein gesellschaft­licher Lernprozess gesehen worden.11 Jedoch bleibt ein gewisses Missbehagen: Es scheint wesent­lich einfacher gewesen zu sein, über das DDR-Unrecht zu urteilen, als die ungleich schwereren Verbrechen der Nazis zu ahnden.

1. Verfahren und Urteilspraxis Die bundesdeutsche Justiz hat im Rahmen der sogenannten Mauerschützenprozesse Todesfälle an den Grenzen der DDR verfolgt, die durch den Einsatz von Schusswaffen oder durch Minen verursacht worden sind. Damit wurde die nachträg­liche Ahndung von Gewalttaten im Bereich der Grenzdelikte auf s­ olche Fälle beschränkt, in denen die Justiz eine schwere Verletzung von Menschenrechten gesehen hat. Nur s­ olche, so die juristische Argumenta­tion, hätten eine Verfolgung unter den besonderen recht­lichen Bedingungen nach 1989 gerechtfertigt. Nicht verfolgt wurden beispielsweise – trotz der erheb­lichen Konsequenzen für die Opfer – Fälle von Körperverletzung und versuchtem Totschlag, auch nicht Nötigung in den Fällen, in denen Flüchtlinge unter Waffenandrohung zur Aufgabe ihrer Flucht gezwungen worden waren.12 Dabei ist selbst heute die Größenordnung der an den Grenzen durch Waffeneinwirkung Getöteten noch immer nicht vollständig bekannt. Die Berliner Staatsanwaltschaft ging am Ende ihrer Ermittlungstätigkeit 2004 von 270 nachweis­lich durch Schusswaffen und Minen umgekommenen Opfern aus.13 Allein an den 10 Vgl. Wingenfeld: Debatte (wie Anm. 7), S. 31 – 61. 11 Vgl. etwa Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 524 ff. – Zur Verfolgung von NS-Verbrechern zuletzt vgl. Cord Arendes: Zwischen Justiz und Tagespresse. »Durchschnittstäter« in regionalen NS-Verfahren, Paderborn 2012; Andreas Eichmüller: Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik. München 2012; Edith Raim: Justiz z­ wischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945 – 1949. München 2013. 12 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 8, 15 f., 22 f., 174, 258; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 474 f. 13 Vgl. Hans-­Hermann Hertle/Gerhard Sälter: Die Todesopfer an Mauer und Grenze. Probleme einer Bilanz des DDR-Grenzregimes. Deutschland Archiv 39 (2006) 4, S. 667 – 676.

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­Berliner Grenzen waren jedoch mindestens 122 Flüchtlinge, Grenzgänger und Unbeteiligte erschossen worden.14 Somit dürften die Zahlen deut­lich höher sein als von der Berliner Staatsanwaltschaft angenommen. Zudem hat es den Anschein, als hätten sich die Staatsanwaltschaften insbesondere bei den Ermittlungen zu Todesfällen aus der Zeit vor 1961, die in den überlieferten DDR-Akten deut­lich schlechter dokumentiert sind als für die Zeit nach dem Mauerbau, etwas schwer getan. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften zum DDR-Unrecht wurden aufgrund des Umfangs, der notwendigen Kenntnis der historischen Zusammenhänge und der nicht einfachen Rechtsmaterien zentralisiert in Schwerpunktbehörden der Länder und in der Staatsanwaltschaft II beim Kammergericht Berlin, die damit auch zuständig wurden für die Verfolgung von Straftaten aus dem Zusammenhang des Grenzregimes. Sie führten in vielen Fällen die Voruntersuchung und gaben sie s­ päter zur Anklageerhebung an die ört­lich zuständigen Staatsanwaltschaften ab.15 Bis zum Sommer 1998 waren allein in Berlin 3200 Verfahren wegen Handlungen eingeleitet worden, die aus dem Grenzregime der DDR resultierten. Davon waren die meisten bereits eingestellt worden, weil entweder keine Tat nachweisbar war oder kein Täter ermittelt werden konnte. Vielfach wurden Verfahren eingestellt, weil die Staatsanwaltschaft keinen Vorsatz nachweisen konnte, was für eine Verurteilung zwingend notwendig war. Nur 125 Verfahren waren zu d­ iesem Zeitpunkt noch offen.16 Insgesamt wurden in mehreren tausend Ermittlungsverfahren schließ­lich 466 mutmaß­liche Täter in Grenzdelikten ermittelt, davon erging gegen 385 (83 Prozent) ein Urteil. Von denjenigen, gegen die ein Urteil erging, erhielten 275 (71 Prozent) ein Strafurteil und 110 wurden freigesprochen.17 Es lassen sich, was die Tatbeteiligung, die Posi­tion in der Hierarchie der DDR und das Strafmaß angeht, drei Tätergruppen unterscheiden.18 Erstens wurden diejenigen angeklagt, die in der SED-Führung die politische Verantwortung für 14 32 erschossene Opfer bis zum 13. August 1961, 90 z­ wischen 1961 und 1989; vgl. Gerhard Sälter/Johanna Dietrich/Fabian Kuhn: Die vergessenen Toten. Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948 – 1961). Berlin 2016; Stiftung Berliner Mauer/Zentrum für Zeithistorische Forschung (Hrsg.): Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989. Ein biographisches Handbuch. Berlin 22009. – Leicht revidierte Zahlen sind auf der Webseite der Gedenkstätte Berliner Mauer zu finden, URL: http://www.berliner-­mauer-­gedenkstaette.de/de/uploads/todesopfer_dokumente/2013_11_26_ hertle_nooke_berliner_mauer_todesopfer.pdf, letzter Zugriff: 26. 01. 2016. 15 Vgl. Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 16 ff. 16 Vgl. ebd., S. 31, und die Zahlen bei Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 164 f. 17 Vgl. Klaus Marxen/Gerhard Werle/Petra Schäfter: Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und Zahlen, Berlin 2007, Tab. 21 – 23, S. 41, 43. 18 Zur Differenzierung z­ wischen Befehlsgebern und Befehlsempfängern vgl. Peter J. Winters: Der letzte Politbüro-­Prozess. Deutschland Archiv 37 (2004) 5, S. 752 – 757.

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das Grenzregime trugen: Angehörige des Na­tionalen Verteidigungsrats, des Politbüros, des Verteidigungsministeriums und der Chef der Grenztruppen. Der Verteidigungsminister Heinz Keßler wurde zu siebeneinhalb, Egon Krenz, Mitglied im Na­tionalen Verteidigungsrat und letzter Parteichef der SED, zu sechseinhalb, General Fritz Streletz, Sekretär des Na­tionalen Verteidigungsrats, zu fünfeinhalb, General Klaus-­Dieter Baumgarten, Chef der Grenztruppen, zu sechseinhalb und Hans Albrecht, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl, zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Verfahren gegen Erich Honecker und einige andere führende Politiker wurden wegen ihres hohen Alters und Krankheit eingestellt, andere verstarben vor Prozessende. In den Verfahren gegen die politische Elite der DDR bildeten die Grenzdelikte allerdings häufig nur einen von mehreren Anklagepunkten, allerdings den gravierendsten. An zweiter Stelle standen diejenigen, die zwar »keinen maßgeb­lichen Einfluss auf das Grenzregime hatten«, aber aufgrund des politischen Willens der Führung die Befehle formulierten und nach unten durchstellten: die Kommandeure der drei Grenzkommandos, der Grenzbrigaden und der Grenzregimenter. Sie erhielten Haftstrafen z­ wischen drei und vier Jahren. Drittens standen die »unmittelbar handelnden« Grenzer, die durch Schusswaffeneinsatz einen Todesfall verursacht hatten, vor Gericht.19 Bei den Fällen der Berliner Staatsanwaltschaft gehörten 10 Beschuldigte der politischen Führung an, 42 sind der militärischen Führung zuzurechnen und 80 waren Grenzsoldaten.20 Setzt man die Tätergruppen und die Urteilspraxis der Gerichte in eine Beziehung, ergibt sich der Eindruck, als ­seien die eigent­lichen Todesschützen vor allem deswegen vor Gericht gestellt worden, um die politisch Verantwort­lichen belangen zu können. Bei der Strafzumessung differenzierten die Gerichte nach den genannten Tätergruppen. Sie verurteilten Angeklagte aus der politischen und militärischen Führung, soweit sie schuldig gesprochen wurden, zumeist zu mehrjährigen Haftstrafen, die zumindest zu einem Teil auch verbüßt werden mussten. Brigadekommandeure oder Kommandeure eines Grenzkommandos erhielten in der Regel Strafen von etwas über drei Jahren.21 Die einfachen Grenzsoldaten dagegen erhielten, wenn keine besonderen Umstände wie etwa Exzesstaten vorlagen, 19 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 164 f., 173 ff.; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 31. – Zur Differenzierung der Tätergruppen in der öffent­lichen Wahrnehmung vgl. Wingenfeld: Debatte (wie Anm. 7), S. 88 – 92. 20 Vgl. Stiftung Berliner Mauer/Zentrum für Zeithistorische Forschung (Hrsg.): Todesopfer (wie Anm. 14), S. 24 f. 21 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 24, 237 f.; Hansgeorg Bräutigam: Die Toten an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze und die bundesdeutsche Justiz. Versuch einer Bilanz, Deutschland Archiv 37 (2004) 6, S. 969 – 976, hier S. 970 ff., 975; Vollnhals: Ahndung (wie Anm. 5), S. 245 – 249.

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zumeist Strafen z­ wischen einem und zwei Jahren Gefängnis, aufgrund ihres Alters zur Tatzeit häufig sogar Jugendstrafen. Die Strafen für die Todesschützen wurden in der Regel zur Bewährung ausgesetzt. Die Aussetzung zur Bewährung wurde damit begründet, dass die Grenzer missbraucht wurden, dass sie auf Befehl handelten, dass sie zur Tatzeit einem nicht unerheb­lichen Druck ausgesetzt waren und dass keine Wiederholungsgefahr gegeben war. Außerdem wurde der Umstand, dass sie in der Bundesrepublik bestraft wurden, als Milderungsgrund berücksichtigt.22

2. Juristische Konstruk­tionen Verurteilt wurden Personen aus allen drei Tätergruppen wegen ihrer Beteiligung am selben Delikt. Die Ermittlungsbehörden – und die Gerichte folgten ihnen darin – konstruierten einen abgestuften Tatbeitrag. Angehörigen der politischen Führung legten sie mittelbare Täterschaft zur Last. Diese hätten ihren politischen Willen in entsprechende Weisungen umgesetzt, wobei die eigent­lichen Todesschützen nur ihre Handlanger gewesen s­ eien, denen sie, vermittelt über die militärische Befehlshierarchie, die Tat befohlen hatten. Diejenigen, die eine verantwort­liche Posi­tion unterhalb des Verteidigungsrats eingenommen und zum Beispiel dem Politbüro angehört hatten, wurden der Anstiftung bezichtigt, weil sie die Taten politisch gewollt und propagandistisch für das Grenzregime gewirkt hatten. Abgesehen vom Chef der Grenztruppen, dem die Gerichte eine größere Verantwortung zumaßen, wurden die leitenden Offiziere, ­welche die Befehle ausformuliert und durchgestellt hatten, wegen Beihilfe belangt. Sie hatten das Grenzregime nach den politischen Weisungen organisiert und die Grenzsoldaten zum Schießen angehalten.23 Die Verantwortung der politischen Führung und der Befehlsebene der Grenztruppen musste für jeden Einzelfall nachgewiesen werden. Dafür wurde eine durchgehende Befehlskette konstruiert: von den Entscheidungen des Politbüros und des Na­tionalen Verteidigungsrats über die Jahresbefehle der Grenztruppenführung bis zu den Truppenoffizieren und deren täg­licher Befehlsausgabe, der sogenannten Vergatterung der Grenzsoldaten, die zu Todesschützen geworden waren.24 Nur 22 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 24, 238; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 15 f., 489 – 494, 500, 540 f. 23 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 33 – 36; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 22 f; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 464 – 4 69. – Zur Verantwortung der politischen Elite vgl. Bräutigam: Die Toten (wie Anm. 21), S. 973 f.; Uwe Wesel: Der Honecker-­Prozeß. Ein Staat vor Gericht. Frankfurt a. M. 1994. 24 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 36, 37 – 75; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 9 f.; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 120 – 136, 440 – 4 60. – Nebenbei

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aufgrund ­dieses Tatzusammenhangs konnten die politisch Verantwort­lichen für die einzelnen Todesfälle juristisch verantwort­lich gemacht werden. Anders als bei vielen NS-Delikten wertete die Justiz die Gewaltdelikte an den Grenzen der DDR übereinstimmend nicht als Mord, sondern als Totschlag. Für eine Verurteilung aller drei Tätergruppen musste in den Verfahren gegen die einfachen Schützen diesen somit ein Vorsatz nachgewiesen werden. Die Gerichte konstruierten, wenn der Schütze den Tötungsvorsatz nicht zugab, in der Regel einen bedingten Vorsatz, wobei dargelegt werden musste, dass ihre Handlung zwar nicht darauf gerichtet war, das Opfer umzubringen, sie aber dessen Tod billigend in Kauf genommen hatten. Als Indizien hierfür wurde das Schießen mit einer auf Dauerfeuer eingestellten Maschinenpistole gewertet oder das Eingeständnis des Angeklagten, er habe der Befehlslage entsprechend die Flucht um jeden Preis verhindern wollen. Konnte der Vorsatz nicht nachgewiesen werden, wurde das Verfahren zumeist eingestellt beziehungsweise der Angeklagte freigesprochen, da Körperverletzung mit Todesfolge nach Ablauf der Verjährung nicht mehr verfolgt wurde.25 In jedem Strafverfahren musste nachgewiesen werden, dass der Angeklagte entweder gegen Strafrecht der DDR verstoßen hatte oder gegen höherrangiges Recht. Bei Exzessfällen war es unstrittig, dass die Angeklagten gegen DDR Gesetze verstoßen hatten und auch in der DDR hätten verfolgt werden müssen. Dies traf auch auf die Tötung von Flüchtenden durch Minen zu, da die Verlegung von Minen nicht durch DDR -Gesetze legitimiert war.26 Bei Fahnenflüchtigen dagegen wurde, da eine Bewaffnung durchweg hätte angenommen werden müssen und weil die Deser­tion in allen Ländern als strafwürdig gelte, eine Schuld der Grenzer nicht angenommen.27

bemerkt hat diese juristische Konstruk­tion, ­welche die Vergatterung als verbindendes Element ­zwischen den Offizieren und denjenigen sah, ­welche die Tat ausgeführt hatten, in histo­rischen Darstellungen zu einer deut­lichen Überschätzung der täg­lichen Befehlsausgabe für die Motivierung der Grenzsoldaten geführt. Vgl. dazu Sälter: Grenzpolizisten (wie Anm. 2), S. 155 – 210. 25 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 17; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 253 – 276, 509 f.; Hans-­Jürgen Grasemann: »Grenzverletzer sind zu vernichten!« Tötungsdelikte an der innerdeutschen Grenze. In: Jürgen Weber/Michael Piazolo (Hrsg.): Eine Diktatur vor Gericht. Aufarbeitung von SED-Unrecht durch die Justiz. München 1995, S. 67 – 88, hier S. 68 – 72. 26 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 90 – 98, 189 – 266, 269; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 3 ff., 16, 21; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 7 – 15, 248 – 253, 267. 27 Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 20.

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Wenn jedoch auf einen Flüchtling entsprechend der Befehlslage geschossen worden war, kurz bevor seine Flucht erfolgreich gewesen wäre, ging die Rechtsprechung davon aus, dass dies durch das Grenzgesetz der DDR vom März 1982 und vergleichbare Normen gedeckt gewesen sei.28 Deshalb musste die Unwirksamkeit dieser normativen Ermächtigung gezeigt werden. Die Gerichte argumentierten einerseits, dass das Grenzgesetz zwar den Einsatz der Schusswaffe vorsah, aber weder vorschrieb noch erlaubte, mit Tötungsabsicht zu schießen; dort war nur von der Anwendung der Schusswaffe die Rede. Andererseits hätten die einschlägigen Bestimmungen des Grenzgesetzes mit höherrangigen Rechtsnormen der DDR im Widerspruch gestanden, etwa mit Bestimmungen der Verfassung der DDR.29 Hierbei handelt es sich um eine der gewagtesten Annahmen, denn die Justiz unterstellte damit implizit, ein Grenzsoldat hätte die auf die Verhinderung der Flucht durch Einsatz der Schusswaffe zielenden Befehle unter Verweis auf die Verfassung der DDR verweigern können und sogar müssen. In dieser Argumenta­ tionsfigur kommt nicht nur eine Verkennung militärischer Gehorsamsstrukturen zum Tragen.30 Zudem wird eine systematisch angelegte Diskrepanz im Recht der DDR zweckdien­lich missdeutet: Der einschlägige Paragraf im Grenzgesetz sollte den Einsatz von Schusswaffen an der Grenze einschließ­lich seiner gegebenenfalls töd­lichen Folgen legitimieren und tat das in den Augen seiner Schöpfer auch. Nur aus Gründen der Außenwirkung waren er und andere Normen nach dem Modell west­licher Rechtsstandards abgefasst.31 Der Bezugnahme auf s­ olche Normen und 28 DDR-Gesetzblatt, 1982, Teil II, S. 197, insbes. § 27, Anwendung von Schusswaffen. 29 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 113 – 129, 166 – 173; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 17 ff., 239; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 159 – 172, 276 – 302, 315 – 384. – Vgl. aber auch Wesel: Honecker-­Prozeß (wie Anm. 23), S. 33 – 37; Hans-­Ludwig Schreiber: Strafrecht­liche Verantwortung für den Schußwaffengebrauch an der Grenze z­ wischen Bundesrepublik und DDR. In: Ernst J. Lampe (Hrsg.): Die Verfolgung von Regierungskriminalität nach der Wiedervereinigung. Köln 1993, S. 53 – 65. 30 Vgl. Gerhard Sälter: Gehorsamsproduk­tion in einer Totalen Institu­tion. Disziplinierung, Überwachung und Selbstüberwachung von Grenzpolizisten der DDR in den fünfziger Jahren. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2008) 1, S. 102 – 119. 31 »Zwar trifft es zu, daß die gesetz­lichen Vorschriften der DDR, soweit sie den Schußwaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze regelten, den Vorschriften der Bundesrepublik über die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wortlaut entsprachen. Die in den angegriffenen Urteilen getroffenen Feststellungen ergeben jedoch, daß die Gesetzeslage von Befehlen überlagert war, die für eine Eingrenzung des Schußwaffengebrauchs nach den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinerlei Raum ließen und den Angehörigen der Grenztruppen vor Ort die Auffassung ihrer Vorgesetzten, letzt­lich des Na­tionalen Verteidigungsrates, vermittelten, Grenzverletzer s­ eien zu ›vernichten‹, wenn der Grenzübertritt mit anderen Mitteln nicht verhindert werden könne.« Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 10. 1996 [im Folgenden: BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen].

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die Verfassung liegt die zweifelhafte Fik­tion zugrunde, sie hätten in der DDR mehr als einen deklaratorischen beziehungsweise propagandistischen Charakter gehabt, und ihnen wird eine recht­lich bindende Wirkung zugeschrieben, die sie in dieser Weise nicht gehabt haben. Diese Fik­tion lässt die DDR post mortem als Rechtsstaat erscheinen, was sie definitiv nicht war, um die in ihr politisch Verantwort­ lichen für das von ihnen begangene Unrecht belangen zu können. Hinsicht­lich der Feststellung individueller Schuld, die ebenfalls für eine Verurteilung notwendig ist, gingen die Gerichte in der Regel davon aus, dass den Grenzern bewusst gewesen war, dass sie sich beim Schießen auf zumeist unbewaffnete und unbescholtene Flüchtlinge ins Unrecht setzten.32 De facto hatte die Justiz damit Recht: Die meisten Grenzer standen, wie es für die frühe Zeit des Grenzregimes gezeigt worden ist, dem Grenzregime zumeist skeptisch bis ablehnend gegenüber und missbilligten das Schießen.33 Ein echter Befehlsnotstand, also das Einsehen des Unrechts durch den Täter, der dem Befehl aber dennoch nachgekommen sei, um erheb­liche Nachteile für sich selbst zu vermeiden, wurde in den Prozessen nicht geltend gemacht.34 Die Gerichte unterstellten in ihren Urteilen, Gustav Radbruch folgend, die Grenzer hätten das der Tat innewohnende Unrecht erkennen müssen, weshalb eine Ermächtigung durch das Recht der DDR und die Befehle von Vorgesetzten als unwirksam angesehen wurde. Dieser Rechtsgrundsatz wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die Verfolgung der Massenmorde im Na­tionalsozialismus entwickelt.35 Die Anwendung der Radbruch’schen Formel war allerdings nie völlig unumstritten, weil sie den Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege relativiert. Insbesondere war ihre Anwendung auf das DDR-Unrecht umstritten, weil die Verbrechen des Na­tionalsozialismus, das die von Radbruch begründete Einschränkung des Rückwirkungsverbots gerechtfertigt hatte, ungleich gravierender waren. Einige Autoren bezweifelten, ob der Unrechtscharakter der Todesfälle an der Grenze so schwer wog, dass er eine Relativierung des Rückwirkungsverbots rechtfertigte. 32 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 269 – 278; Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 21; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 384 – 417. 33 Vgl. Sälter: Grenzpolizisten (wie Anm. 2), S. 203 – 210. – Vgl. dagegen Siekmann: Unrechtsbewusstsein (wie Anm. 3), insbes. S. 201. – Siekmann vertritt, dass die einzelnen Schützen ein Unrechtsbewusstsein nicht gehabt hätten, weshalb sie wegen mangelnder Schuldfähigkeit aufgrund eines unvermeidbaren Verbotsirrtums »hätten freigesprochen werden müssen«. 34 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 278 ff.; Interview mit der Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach. In: Werner Filmer/Heribert Schwan: Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes. München 1991, S. 71 f. 35 Vgl. Gustav Radbruch: Gesetz­liches Unrecht und übergesetz­liches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung, 1 (1946) 5, S. 105 – 108.

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Verfassungsjuristen wie Bernhard Schlink befürchteten eine dauerhafte Beschädigung des Rechtsstaats. Schlink urteilte dezidiert: »Die rechtsstaat­liche Normalität schließt das Rückwirkungsverbot ein und die strafrecht­liche Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit, wie sie derzeit stattfindet, aus.« 36 Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts bestätigte jedoch die Verfassungsmäßigkeit der Urteilspraxis einstimmig und begründete dies in seinen Leitsätzen zum Beschluss mit der Schwere der Menschenrechtsverletzung. Das Gericht sprach in d­ iesem Zusammenhang zwar von einem »absoluten und strikten Vertrauensschutz«, den das Rückwirkungsverbot in Artikel 103 Grundgesetz begründe, bezog diesen jedoch auf einen rechtsstaat­lichen Rahmen: Diese besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hatte, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtete.37

Positiv referierte das Gericht zur Begründung die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Grenzdelikten: Denn ein solcher Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die Grenze zu überschreiten, schlechthin Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gibt, sei wegen offensicht­lichen, unerträg­lichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrecht­lich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wirke so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletze. In einem solchen Fall müsse das positive Recht der Gerechtigkeit weichen.38 36 Bernhard Schlink: Rechtsstaat und revolu­tionäre Gerechtigkeit. In: ders.: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht. Frankfurt a. M. 2002, S. 38 – 60, hier S. 60, auch S. 43 – 55, 58. – Vgl. aber auch Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 20; Rosenau: Töd­ liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 129 – 134; Wesel: Honecker-­Prozeß (wie Anm. 23), S. 33 – 43; Volkmar Schöneburg: Der verlorene Charme des Rechtsstaates. Oder: was brachten die Mauerschützenprozesse? In: WeltTrends 19 (2012) 34, S. 97 – 109; Knut Amelung: Die juristische Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Strafrechtsdogmatik und politische Faktizität im Widerstreit. In: Alfons Kenkmann/Hasko Zimmer (Hrsg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als interna­tionales Problem. Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Essen 2005, S. 97 – 108, hier S. 98 – 101. 37 BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen; vgl. auch Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 350 f.; Wesel: Honecker-­Prozeß (wie Anm. 23), S. 42; Bräutigam: Die Toten (wie Anm. 21), S. 973. 38 BVerfGE 95, 96 – Mauerschützen; vgl. BGH, Urteil vom 20. 03. 1995 – 5 StR 111/94.

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Damit bestätigte es die Anwendung der Radbruch’schen Formel. Der Euro­ päische Gerichtshof für Menschenrechte wies entsprechende Klagen ebenfalls durchweg ab.39 Auch wenn die Mehrheit der Rechtsgelehrten sich dieser Auffassung anschloss, fand die Auslegung keine ungeteilte Zustimmung. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass Radbruch seine Vorstellungen angesichts von millionenfachem Mord entwickelte und sie nun auf staat­lich sank­tionierte Gewalthandlungen angewendet wurden, die d­ ieses Ausmaß bei weitem nicht erreichten. Ein weiteres Problem war, dass viele der vor Gericht gebrachten Gewalttaten 1989/90 eigent­lich bereits verjährt waren. Bei allen Straftaten, die zwar nach DDR-Recht der Strafverfolgung unterlegen hätten, aber aufgrund des politischen Willens der Führung nicht verfolgt wurden, war deshalb durch ein Bundesgesetz der Verjährungsbeginn auf den Tag der Vereinigung festgesetzt worden. Auch die Verjährungsregelungen waren nicht unumstritten. Kritiker brachten vor, dass durch die Verlängerung der Verjährung unter der Hand das Rückwirkungsverbot umgangen werde, weil dadurch west­liche Rechtsstandards für die strafrecht­liche Bewertung zurückliegender Handlungen gültig geworden ­seien.40 In der Sache war jedoch die Verlängerung der Verjährung gerechtfertigt, weil in der DDR regelmäßig weder die Rechtmäßigkeit noch die Verhältnismäßigkeit des Schusswaffeneinsatzes überprüft worden war. Stattdessen ermittelten die Behörden gegen das Todesopfer wegen des Verdachts der Republikflucht beziehungsweise ungesetz­lichen Grenzübertritts nach § 213 Strafgesetzbuch der DDR, die Todesschützen dagegen erhielten Auszeichnungen, Prämien und Beförderungen. Selbst offensicht­liche Exzessfälle, wenn etwa bereits festgenommene Flüchtlinge nach erkennbarer Aufgabe der Fluchtabsicht erschossen worden waren, wurden strafrecht­lich nicht verfolgt. Ähn­liches gilt für den Fall, dass Verletzte, entgegen der Vorschriften im Grenzgesetz der DDR, keine Erste Hilfe erhielten und deswegen starben.41 Dies geschah relativ häufig, weil – im Widerspruch zum Grenzgesetz – laut Befehlslage die Benachrichtigung der Vorgesetzten und die Geheimhaltung Vorrang vor der Versorgung von Verletzten hatten. Die DDR war eben kein Rechtsstaat.

39 EGMR, Urteil vom 22. 3. 2001 – 34044/96; 35532/97; 44801/98; vgl. Marxen/Werle: Strafjustiz, Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 915 – 937. 40 Vgl. Rosenau: Töd­liche Schüsse (wie Anm. 3), S. 287 – 301; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 417 – 431; zur Verjährungsdiskussion prägnant: Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 5 ff., 248 f. 41 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 11 f. – Als Beispiel für eine Exzesstat vgl. den Tod von Walter Kittel bei dies.: Strafjustiz, Bd. 2 (wie Anm. 4), S. 353 – 378, hier insbes. S. 365.

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Für die Verurteilung von Angehörigen der politischen Elite der DDR als mittelbare Täter der Grenzdelikte und die Verurteilung der Grenzoffiziere wegen Beihilfe war die Verurteilung der Todesschützen eine systematische Voraussetzung. Andernfalls hätte es kein Delikt gegeben, für das man Vorgesetzte und führende SED-Politiker hätte vor Gericht stellen können. Um diesen Tatzusammenhang herzustellen, waren die beschriebenen Konstruk­tionen notwendig: erstens der abgestufte Tatbeitrag, zweitens eine durchgehende Befehlskette, drittens der bedingte Vorsatz des Schützen, viertens die Relativierung des Rückwirkungsverbots und fünftens schließ­lich die Aussetzung der Verjährung. Wenn hierbei der Begriff Konstruk­tionen verwendet wird, so soll das keineswegs einen Zweifel an der juristischen Stichhaltigkeit begründen – da kann man dem Verfassungsgericht fraglos folgen –, sondern es dient der Nachzeichnung der Argumenta­tionsfiguren, ­welche die Grundlage der beschriebenen Urteilspraxis bildeten, und stellt den Versuch dar, die justizielle Handlungslogik zu rekonstruieren.42

3. Debatten, Bewertungen und die Frage der Gerechtigkeit Bei den öffent­lichen und juristischen Debatten um die Urteilspraxis war ein deut­ liches und multiples Unbehagen zu spüren. Dies betraf Zweifel an der Rechtsstaat­ lichkeit der Verfahren einerseits und Kritik an den von einem Teil der Öffent­ lichkeit als zu milde wahrgenommenen Urteilen andererseits.43 Auch wenn die gericht­lich bestätigten Konstruk­tionen juristisch kaum anfechtbar und historisch weitgehend korrekt waren, so haben die Urteile letzt­lich nur wenige zufriedengestellt. Da ist erst einmal ein Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu konstatieren, das auf den ersten Blick ungerechtfertigt erscheint: Mehrere tausend Ermittlungsverfahren waren nötig, um 275 Verurteilungen zu erreichen und von den Urteilen betrafen nur zehn Angehörige der politischen Elite und 42 Offiziere der militärischen Führung, die meisten jedoch die einfachen Grenzsoldaten, die in der Regel zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Das wurde als Missverhältnis ­zwischen 42 Eine intensivere Analyse dieser Handlungslogik werden die Akten der Justizverwaltung, ­insbes. die Korrespondenz ­zwischen den Staatsanwaltschaften und den zuständigen Ministerien, berücksichtigen müssen. 43 »In der veröffent­lichten Meinung war es entscheidend, dass das Ergebnis eines Strafverfahrens mit dem Gerechtigkeitsempfinden übereinstimmte. Juristisch schlüssige Begründungen waren dabei von zweitrangiger Bedeutung. […] Allerdings waren die juristischen Begründungen im Urteil der Öffent­lichkeit mit dem Gerechtigkeitsempfinden nicht immer in Einklang zu bringen.« Wingenfeld: Debatte (wie Anm. 7), S. 114 f. – Er geht an dieser Stelle nicht darauf ein, wie sich ein solches Gerechtigkeitsempfinden konstituiert.

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Aufwand und Ertrag wahrgenommen und hat in der Öffent­lichkeit Irrita­tionen ausgelöst, die jedoch nicht zwingend gegen die Durchführung der Verfahren sprechen müssen, sondern sicher­lich auch einem mangelnden Verständnis für die Funk­tionsweisen des Rechtsstaats und seines Justizapparats geschuldet sind.44 Die Herstellung von Gerechtigkeit war wahrschein­lich eine Hoffnung, die viele nach 1989 mit der Ahndung von DDR-Unrecht verbanden.45 Gerechtigkeit im schlichtesten Sinne des Wortes wurde in diesen Verfahren sicher­lich nicht hergestellt, weil das schlechterdings nicht mög­lich war. Gerechtigkeit ist zwar eine dem Rechtsstaat eingeschriebene Zielvorstellung, aber gleichzeitig eine diskursive Kategorie, die eines absoluten Bezugspunkts entbehrt. Anders formuliert können gesellschaft­liche und individuelle Vorstellungen davon, was eine gerechte Norm und was eine gerechte Strafe ist, stark voneinander abweichen.46 Deswegen kann sie in einem recht­lich verfassten, modernen Gemeinwesen keine handlungsleitende Kategorie der Justiz in Einzelverfahren sein. Das ging im Mittelalter und das geht in der Scharia-­Gerichtsbarkeit, wo durch den Gottesbezug ein absoluter, gleichsam universaler Maßstab gegeben ist, dem modernen Rechtsstaat ist dieser Bezug jedoch versagt. Die in Westeuropa aus der Tradi­tion römischen Rechtes seit dem späten Mittelalter entstandene Strafjustiz hat das Anliegen, Gerechtigkeit herzustellen, substituiert durch ein geregeltes und so weit wie mög­lich transparentes Verfahren und durch den Strafzweck der Präven­ tion.47 Gerechtigkeit ist durch die Rückbindung des Strafrechts an die universellen Menschenrechte, auf die das erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts Bezug nimmt, ein der rechtsstaat­lichen Strafjustiz inhärenter Zweck, sie kann jedoch sicher nicht in gericht­lichen Einzelverfahren hergestellt werden.

44 Wingenfeld formuliert die Diskrepanz vom Standpunkt des Juristen: »Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDR-Regierungskriminalität bestätigt typische Verständigungsprobleme ­zwischen Justiz und Öffent­lichkeit. Von einem die Strafjustiz begleitenden öffent­lichen Diskurs mit identischem Diskussionsgegenstand kann kaum gesprochen werden.« Ebd., S. 102. 45 Vgl. Klaus Lüderssen: Der Staat geht unter, das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR. Frankfurt a. M. 1994. 46 Vgl. Gerhard Sälter: Gerechtigkeit und ­soziale Ordnung. Konflikte um individuelle Interessen und die rechte Ordnung der Dinge in Paris im frühen 18. Jahrhundert. In: Andrea Griesebner/Martin Scheutz/Herwig Weigl (Hrsg.): Justiz und Gerechtigkeit. Histo­ rische Beiträge (16.–19. Jahrhundert). Innsbruck 2002, S. 61 – 74. 47 Vgl. Günter Jerouschek: Die Herausbildung des pein­lichen Inquisi­tionsprozesses im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 104 (1992), S. 328 – 360; Karl Härter: Strafverfahren im frühneuzeit­lichen Territorialstaat: Inquisi­ tion, Entscheidungsfindung, Supplika­tion. In: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000, S. 459 – 480; Niklas Luhmann: Legitima­tion durch Verfahren. Frankfurt a. M. 62001; Lüderssen: Der Staat geht unter (wie Anm. 45), S. 140 ff.

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Versteht man Gerechtigkeit im Sinne von Vergeltung, so waren diese Verfahren sicher­lich unbefriedigend. Die meisten politisch Verantwort­lichen konnten aufgrund von Alter, Gebrech­lichkeit und Krankheit einer Verurteilung entgehen, und die Todesschützen selbst erhielten denkbar niedrige Bewährungsstrafen. Die Enttäuschung von Erwartungen, die auf ausgleichende Gerechtigkeit abzielten, dürfte durch eine deut­liche Fallhöhe ­zwischen perhorreszierenden Darstellungen in vielen Medien, die in Bezug auf die Gewalttaten an der Grenze gern von Mord sprachen, und der Strafpraxis noch verstärkt worden sein. DDR-Bürgerrechtler und Verwandte von Todesopfern haben ihre verständ­liche Enttäuschung über diese Urteilspraxis durchaus zum Ausdruck gebracht. Es ist sogar von einer »verdeckten Amnestie« gesprochen worden.48 Zudem ist, worauf wiederum Bernhard Schlink hingewiesen hat, in den Strafprozessen nur ein exemplarischer Teil des begangenen Unrechts verfolgt worden. Indem die Gerichte wenige mit starker Beteiligung der Öffent­lichkeit verurteilten, so Schlink, habe man zur Exkulpa­tion all derer beigetragen, die »das System auf weniger spektakuläre Weise gestützt haben«.49 Damit sei eine tiefergehende gesellschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Unrecht eher verhindert als gefördert worden. Andererseits ist es in diesen Verfahren zweifellos gelungen, gerichtsöffent­lich Handlungen und Motive zu rekonstruieren, Verantwort­lichkeiten zu benennen und durch die Verurteilung zu dokumentieren, dass es sich um individuell zu verantwortendes Unrecht handelte.50 Die Berichterstattung in den Medien hat zudem transportiert, dass es sich bei ­diesem Unrecht um System gehandelt hat.51 Die damit verbundene Delegitimierung des politischen Systems der DDR hat sicher­lich den Elitenaustausch in Ostdeutschland rechtfertigend unterstützt.52 48 Vgl. Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 534 f.; Roman Grafe: Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützer und ihre Befehlshaber. München 2004, hier insbes. S. 306 – 319. – Grafe hat die Kritik an der seiner Ansicht nach zu milden Urteilspraxis in deut­ licher Form vorgetragen, anders argumentiert Bräutigam: Die Toten (wie Anm. 21), S. 976. 49 Schlink: Rechtsstaat (wie Anm. 36), S. 42. 50 »Das Unrecht ist überwiegend nur noch beurkundet, aber nicht geahndet worden.« ­Bräutigam: Die Toten (wie Anm. 21), S. 976. 51 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 242 – 247; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 544 – 548; Wingenfeld: Debatte (wie Anm. 7), S. 31 – 42. 52 So verband der damalige Justizminister Klaus Kinkel mit den Prozessen die Hoffnung auf eine rückwirkende Delegitima­tion der SED-Diktatur: »In der Praxis aber wurde in der früheren DDR – zumindest teilweise – vergleichbares Unrecht begangen wie im NS-Staat. Dieses System gilt es jetzt zu delegitimieren.« Zit. nach Paul Lersch: Sie wußten, was sie taten. Bundesjustizminister Klaus Kinkel über DDR-Unrecht und eine Amnestie für Stasi-­Täter. In: Der Spiegel Nr. 33, 12. August 1991, S. 21 – 24; vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 242 f.; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 544 – 547; Jens Reich: A la lanterne? Über den Strafanspruch des Volkes. In: Kursbuch 111 [In Sachen Honecker] (1993), S. 3 – 12.

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Die intensive juristische und publizistische Debatte um die Gerichtsverfahren konzentrierte sich auf das Rückwirkungsverbot und die Verlängerung der Verjährung. Aufgrund der Debatte über die Grenzen, Erfolge und Probleme der Strafverfahren sind seinerzeit Alternativen zur Strafverfolgung diskutiert worden, so etwa verschiedene Formen von Wahrheitskommissionen, aber die haben wohl niemals eine ernsthafte Chance auf Realisierung gehabt. Dagegen ist zutreffend argumentiert worden, dass s­ olche Alternativen dort zum Einsatz kamen, wo das neue Regime schwach und die alten Eliten noch stark waren und die Konflikte anders nicht hätten befriedet werden können, ohne die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufzubeschwören.53 Das war in Deutschland nach 1989 nicht der Fall. Der Verzicht auf eine strafrecht­liche Verfolgung des Unrechts dagegen hätte die Aufgabe rechtsstaat­licher Prinzipien bedeutet. Konsequenterweise wurden denn auch Aspekte der Generalpräven­tion für die Unabdingbarkeit der Verfolgung ins Feld geführt: unter anderem die Stärkung beziehungsweise Schaffung eines Vertrauens in die Schutzfunk­tion des Staates und die Befriedung der durch das Unrecht aufgebrochenen Konflikte.54 Die Hoffnung jedoch, durch ­solche Prozesse eine abschreckende Wirkung für künftige Diktaturen und Unrechtsregime zu erzeugen, scheint sehr optimistisch zu sein.55 Die Missachtung elementarer Menschenrechte durch die SED-Führung ist nur ein Beispiel in einer langen Reihe, in denen sich Staatsführungen an s­ olche übergreifenden Normen nicht gebunden fühlten. Durch die Aburteilung des SEDUnrechts ist diese Reihe ebenso wenig abgebrochen wie durch die strafgericht­ liche Ahndung anderen staat­lichen Unrechts.56 Die Furcht vor eventueller späterer Strafe kann den Verlockungen uneingeschränkter Machtausübung nicht die Waage halten, das kann wohl nur gesellschaft­liche Gegenmacht.

4. Der Rechtsstaat und das Grenzregime der DDR Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Staatsanwaltschaften und die Gerichte der Bundesrepublik sich den Umgang mit dem DDR -Unrecht und die Sank­tionierung der Gewalttaten an der Grenze nicht leicht gemacht haben. 53 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 254 – 258. 54 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 246 und den Aspekt des Schuldausgleichs in: ebd., S. 243; Rummler: Gewalttaten (wie Anm. 3), S. 533, 544 f. 55 So explizit und stellvertretend Marxen/Werle: Aufarbeitung (wie Anm. 3), S. 242, 244. 56 Vgl. Kenkmann/Zimmer: Nach Kriegen und Diktaturen (wie Anm.  36); Katrin ­Hammerstein u. a: Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Göttingen 2009. – Für einen größeren historischen Überblick vgl. Elster: Die Akten schließen (wie Anm. 9).

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Sowohl die Ermittlungspraxis als auch die Urteile zeugen von einem geradezu skrupulösen Bemühen, die zugrunde liegenden Sachverhalte zu rekonstruieren und sie angemessen zu bewerten. Der kurzzeitig aufflackernde Protest, es habe sich um Siegerjustiz und eine nachgeholte Kommunistenverfolgung gehandelt, ist denn auch mittlerweile fast vollständig verklungen. Ironischerweise war es gerade das Bemühen der Justiz, angemessen zu reagieren, das durch eine nahezu verhaltene Anklage- und Urteilspraxis zur Kritik an den Verfahren beigetragen hat. Eine unzureichende Kenntnis der historischen Zusammenhänge und ein ungenügendes Verständnis für justizielle Handlungslogiken unter den Bedingungen des Rechtsstaats, verstärkt durch eine nicht immer sachgemäße Berichterstattung in den Medien, hatten nach 1989 eine verfehlte Erwartungshaltung entstehen lassen. Die für die Urteilspraxis relevante Fik­tion von der recht­lich bindenden Wirkung von Rechtsnormen in der DDR allerdings bildet eine Schwachstelle in der juristischen Argumenta­tion. Sie war jedoch notwendig, um darstellen zu können, dass die Schützen und damit ihre Vorgesetzten und die politisch Verantwort­ lichen gegen Recht der DDR verstoßen hatten. Ein weiterer Schwachpunkt war die Rekonstruk­tion einer durchgehenden Befehlskette vom Na­tionalen Vertei­ digungsrat bis hinunter zu den einfachen Grenzsoldaten, in der die täg­liche Vergatterung ein Schlüsselelement bildete. Sie überschätzt die Funk­tion dieser formalisierten Befehlsausgabe und vernachlässigt andere Formen der Einflussnahme auf das Handeln der Grenzsoldaten. Beide Aspekte relativieren jedoch weder die justizielle Bewertung der Todesschüsse als eindeutiges Unrecht noch die festgestellte Verantwortung der politischen Elite der DDR für die Todesfälle. Allerdings bilden sie historische Zusammenhänge ungenau ab und schwächen damit die Argumenta­tion, mit der die Urteile begründet wurden. Ob man eine Verwässerung von rechtsstaat­lichen Prinzipien oder gar eine dauerhafte Beschädigung des Rechtsstaats durch eine Aufweichung des Rückwirkungsverbots erkennen möchte, hängt sehr stark davon ab, als wie schwerwiegend man das DDR-Unrecht und die Gewalttaten an der Grenze beurteilt, die seine Aussetzung rechtfertigten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich eindeutig dazu geäußert, indem es die Anwendung der Radbruch’schen Formel sank­tionierte. Andererseits ist damit die Frage des Verhältnisses zur Verfolgung anderer staat­ licher Unrechtshandlungen berührt. Es bleibt deshalb ein gewisses Unbehagen, wenn die erfolgreiche Verfolgung des DDR-Unrechts mit der zöger­lichen und wenig durchgreifenden Ahndung des na­tionalsozialistischen Massenmords durch deutsche Gerichte in Beziehung gesetzt wird.

Katharina Lenski

Im Schweigekreis Der Tod von Matthias Domaschk ­zwischen strafrecht­licher Aufarbeitung und offenen Fragen

»Die Hoffnung, die ich habe, ist, dass die Wahrheit rauskommt.« 1

Wer von einem Scheitern der juristischen DDR -Aufarbeitung nichts hören will, wird vom Ermittlungsverfahren zum Tod von Matthias Domaschk eines anderen belehrt. Dieser hatte sich 1981 angeb­lich in der Geraer Stasi-­ Untersuchungshaftanstalt erhängt. Die Ermittler waren nach 1989 nicht in der Lage, die hierzu einzige überlieferte Schriftquelle, eine MfS-Akte, zu entschlüsseln. Im Gegenteil: Sie folgten der dortigen Deckerzählung vom Selbstmord des 23-jährigen Jenaer Arbeiters. Kriminolo­gische Fragen zum Fall und zu den widersprüch­lichen Aussagen der Staatssicherheitsmitarbeiter wurden während des Todesermittlungsverfahrens fallengelassen und mussten deshalb während des zweiten Verfahrens, das wegen Freiheitsberaubung eröffnet wurde, erneut gestellt werden. Im Todesermittlungsverfahren entschied das Landgericht Erfurt, es bestehe kein juristisch begründeter Verdacht gegen mög­liche Tatverdächtige, und stellte das Verfahren 1994 ein.2 Ob die dort angeführten Argumente der Überprüfung standhalten, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. Im erwähnten zweiten Verfahren ließ das Landgericht Gera den Vorwurf der schweren Freiheitsberaubung fallen und verurteilte einzelne Stasi-­Offiziere im Jahr 2000 zu Geldstrafen.3 Vorausgesetzt wurde auch hier ein Selbstmord. Freiheitsberaubung mit Todesfolge liege nicht vor, da der Suizid nicht vorhersehbar gewesen sei.4 Wie der Tote wann, wo, warum und durch w ­ elche Hand zu Tode gekommen war, blieb ungeklärt. Trotzdem wurde vorausgesetzt, er habe sich zweifelsfrei erhängt. Dabei steht der 1 Peter Rösch im TLZ-Interview am 7. April 2011. 2 Thüringer Hauptstaatsarchiv Weimar. Im Folgenden: ThHStAW, hier: ThHStAW, StA EF 4229, Bl. 126 – 142. 3 Diesem Verfahren wohnte die Autorin als Beobachterin bei. 4 ThHStAW, StA EF, 4201, Bl. 154 f. Siehe auch das Sonderheft I der Zeitschrift Horch und Guck (2003).

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Nachweis für einen Suizid bis heute aus, und die Art und Weise des Umgangs mit dem Tod erhärtet die Zweifel am Selbstmord. Dennoch unterscheiden sich beide Verfahren. Das Todesermittlungsverfahren blendete die Mechanismen der Erziehungsdiktatur aus und beeindruckte durch beacht­liches Unwissen hinsicht­lich der bürokratischen Routinen in der Staatssicherheit. Dadurch schrieb es die Stigmatisierung der Betroffenen fort. Umgekehrt mussten die Ermittlungen im Widerschein einer intensiven Mediendebatte zum konkreten Fall geführt werden, was diese beeinflusste.5 Zudem ist zu bedenken, dass die Erkenntnisse über den Stasi-­Apparat zu jenem Zeitpunkt nicht weit genug fortgeschritten waren, als dass die Staatsanwaltschaft, die Medien oder selbst der Bundesbeauftragte für die Stasi-­Unterlagen die Irreführung in der Akte als s­ olche hätten erkennen können, zumal dort mit durchaus plausiblen Worthülsen argumentiert wurde. Im zweiten Verfahren distanzierte sich der Blick der Staatsanwaltschaft deut­ lich von den ideolo­g ischen Feindbildern. Diese Stereotype bilden die Grundlage der Stasi-­Aktenkomposi­tionen. In den Quellen des MfS ist die »Zersetzung« des vorgeb­lichen Gegners deshalb nur insoweit dokumentiert, als sie seiner Diskreditierung diente. Das Ausmaß der Stasi-­Tätigkeit wird also in der MfS-Dokumenta­tion gerade dort nicht überliefert, wo die Geheimpolizei gewalttätige Vorgänge verschleierte.6 Im folgenden Text ist die MfS-Methode der »Zersetzung« in Jena deshalb Ausgangspunkt für die Analyse der MfSTodesakte zu Matthias Domaschk.7 Da die Darstellung über Leben und Tod von Matthias Domaschk in den Medien und selbst in der Fachliteratur in verschiedenen Versionen kursiert, wird zunächst die Faktenlage nebst Interpreta­tionen geschildert. Anschließend wird genannte »Todesermittlungsakte« der Staatssicherheit besprochen. Analysiert man die Funk­tion ihrer Bestandteile, kann man vorsichtig auf den Tod selbst schließen. Schließ­lich sind die staatsanwaltschaft­lichen Ermittlungen nach 1989 zu diskutieren, die viele Fragen offenlassen. Zur Klärung ist auch der weitere Kontext beizuziehen, der den Abschluss dieser Betrachtungen bildet.

5 Vgl. die Sendung »Kontraste« vom 17. Mai 1993. Die ambivalente Situa­tion für die Ermittlungen spiegelt sich auch in den Akten der Staatsanwaltschaft wider, so in ThHStAW, StA  EF, 4199, Bl. 73. 6 Siehe Katharina Lenski: Der zerbrochene Spiegel. Methodische Überlegungen zum Umgang mit Stasi-­Akten. In: Joachim von Puttkamer/Stefan Sienerth/Ulrich A. Wien (Hrsg.): Die Securitate in Siebenbürgen. Köln 2014, S. 116 – 136. 7 Die Signatur der Akte lautet BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81.

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In die Quellenbasis wurden neben der MfS-Akte die Überlieferungen der staatsanwaltschaft­lichen Ermittlungsverfahren nach 1989 einbezogen, zudem die Akten der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV), regionale Polizeiüberlieferungen, Interviews mit Betroffenen beziehungsweise Ego-­Dokumente sowie Gespräche mit Betroffenen, wie beispielsweise mit Peter Rösch und Renate Ellmenreich.8 Hinzuzufügen ist, dass ich seit 1991 gemeinsam mit Uwe Ku­lisch, ebenso ehemaliger Bürgerrechtler, das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« (ThürAZ) in Jena aufgebaut und bis 2011 geleitet habe.9 Der ungeklärte Tod fordert damals wie heute zur kritischen Reflexion lebenswelt­licher wie auch fachmethodischer Gewissheiten auf. Meine Forschungen im ThürAZ waren somit von der Frage nach gesellschaft­lichen Ausgrenzungs- und Einkreisungsprozessen und vom Unbehagen über die Verdrängung unbequemer Einsichten in der Aufarbeitungsdiskussion begleitet.10

1. Stand von Debatte und Forschung Selbstmord war in der DDR ein angestrengt beschwiegenes Tabu.11 Diesen Sachverhalt unterstrich zuletzt eine Studie von Udo Grashoff, der beispielhafte Fälle im Kontext gesellschaftspolitischer Rela­tionen vortrug, wobei er überwiegend quantitativ argumentierte.12 Der Tod von Matthias Domaschk habe, so der Autor, Protest gegen die DDR-Führung hervorgerufen. Den Suizid selbst bezweifelte er weniger. 8 Ich danke den Mitarbeiterinnen des Hauptstaatsarchivs Weimar und des Staatsarchivs Rudolstadt für die freund­liche Unterstützung bei den Recherchen. – Zu Renate Ellmenreich: Die Theologin (geb. 1950) trug vor ihrer Übersiedlung in die BRD 1980 den Namen Groß. Siehe hierzu das Interview von Doris Liebermann mit Renate Ellmenreich in: Horch und Guck, Sonderheft I (2003), S. 50 – 51. 9 Vgl. Katharina Lenski: Vom bedrohten Gedächtnis zum lebendigen Kulturspeicher. Die Entstehung, Überlieferung und Bedeutung privater Sammlungen im ThürAZ. In: Reiner Merker (Hrsg.): Archiv, Forschung, Bildung. Fünfzehn Jahre Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«. Berlin 2009, S. 27 – 38. 10 Vgl. Lenski: Der zerbrochene Spiegel (wie Anm. 6). 11 Matthias Mattussek: Das Selbstmord-­Tabu. Von der Seelenlosigkeit des SED-Staates. Hamburg 1992. 12 Udo Grashoff: »In einem Anfall von Depression …«: Selbsttötungen in der DDR. Berlin 2006; zu Matthias Domaschk vgl. ebd. S. 368 – 371. URL: http://www.bpb.de/geschichte/­ zeitgeschichte/deutschlandarchiv/211769/suizide-­in-­haftanstalten-­legenden-­und-­fakten, letzter Zugriff: 09. 01. 2015.

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Insgesamt dominieren Zeitzeug_innenberichte, die vom Erschrecken über das Ereignis geprägt sind.13 Dabei ragt der Dokumentarroman Magdalena von Jürgen Fuchs heraus, den er nach der in der Berliner Magdalenenstraße ansässigen Stasi-­Untersuchungshaftanstalt betitelte. Fuchs nähert sich dort im Zwiegespräch mit dem Toten auf quälende und eindrück­liche Weise dem schwierigen und ambivalenten Aufarbeitungsdiskurs der 1990er Jahre.14 Nicht weniger als 42 Einwände listete er dort gegen die Einstellung des Todesermittlungsverfahrens, die ursprüng­lich aus der Feder Renate Ellmenreichs stammten. Diese hatte 1981 der Beisetzung ihres ehemaligen Lebensgefährten fernbleiben müssen, da sie nach der Beendigung der Beziehung 1977 im Jahr 1980 mit der gemeinsamen Tochter in die Bundesrepublik ausgereist war.15 Die Einwände zeigen zum Teil gravierende Widersprüche der Ermittlungen, die im weiteren Verlauf jedoch nicht gewürdigt wurden.16 Die romanhafte Darstellung ist für Außenstehende mög­licherweise schwer zu verstehen, geht sie auch teilweise in die Falle der Stasi-­Logik, erhellt aber Widersprüche der staatsanwaltschaft­lichen Argumenta­tion. Magdalena demonstriert außerdem auf einmalige Art und Weise die sekundäre Viktimisierung der Zurückgebliebenen. Deren Aussagen würdigte die Staatsanwaltschaft in den Todesermittlungen nicht, weil sie »Betroffene« ­seien; ging somit zwar implizit von einem schweren Unrecht aus, was sie aber zu deren Lasten auslegte. Weitere Darstellungen changieren z­ wischen viktimisierenden und heroisierenden Interpreta­tionen, die verbindet, dass das Ereignis dem Widerstand auf dem Weg zur Fried­lichen Revolu­tion entscheidende Impulse verliehen habe.17 13 Die erste Darstellung publizierte Renate Ellmenreich: Matthias Domaschk. Die Geschichte eines politischen Verbrechens in der DDR und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären. Erfurt 1996, 21998. Dort auch eine Übersicht über einen Teil der Aufarbeitungsbemühungen von 1990 – 1996. – Dieser Stand wird in Horch und Guck, Sonderheft I (2003) erneuert. – Zur Chronologie der Ereignisse: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« (Hrsg.): Chronologie 1980 – 1989. Jena 1995, S. 9 f. 14 Jürgen Fuchs: Magdalena. MfS. Memfisblues. Stasi. Die Firma. VEB Horch & Gauck – ein Roman. Berlin 1998. 15 Renate Ellmenreich: Begegnungen in Prag. In: Doris Liebermann/Jürgen Fuchs/ Vlasta Wallat (Hrsg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968 – 1998 (Veröffent­lichungen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im öst­lichen Europa, 11), Essen 1998, S. 37 – 4 0, hier S. 40. 16 Jürgen Fuchs: Magdalena (wie Anm. 14), S. 305 – 363. – Wichtige Einwände waren u. a. die Hinweise auf die permanente Observa­tion der Jungen Gemeinde (oder der Personen, die die Stasi dazu zählte) und auf den Schlafentzug, die Frage nach der korrekten Angabe der Vernehmungszeiten und nach dem Zugang zum Besucherzimmer, zur Auffindesitua­tion sowie die Hinweise auf die Zeugen, die ein Erdrosseln oder Erwürgen nahelegen. 17 Henning Pietzsch: Jugend ­zwischen ­Kirche und Staat. Geschichte der kirch­lichen Jugendarbeit in Jena 1970 – 1989. Köln/Weimar/Wien 2005, bes. S. 8 – 12, 74; Freya Klier: Matthias

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Bereits 1995 erschien eine Chronologie zur Jenaer Opposi­tion mit den Zeitabläufen zum ungeklärten Tod Domaschks.18 Die dortige Darstellung des äußeren Ablaufs übernahmen sukzessive die meisten Autoren. Großen Raum nahm in weiteren Darstellungen die Frage nach der Echtheit der Verpflichtung Matthias Domaschks vom 12. April 1981, kurz vor seinem Tod, ein, als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit zu wirken.19 Diese Verpflichtung benutzte die Staatssicherheit anstelle des nicht vorhandenen Abschiedsbriefes zur Begründung des Todes. Sie veränderte die Funk­tion der Verpflichtung also zur Plausibilisierung des Geschehens. Das fiel jedoch im mora­lischen Erschrecken über die mög­liche Schuldhaftigkeit des Opfers bislang nicht auf. Zum weiteren Diskussionsgegenstand entspann sich die laut IM-Bericht an die Kreisdienststelle Jena weitergetragene angeb­liche Aussage Domaschks kurz vor seinem Tod, nur Terror wie derjenige der »Roten Brigaden« könne die DDR verändern.20 Genau diese Aussage, die, sofern sie denn wahr sein sollte, nur im Kontext der westdeutschen Debatte zu verstehen wäre, traf in den Jahren nach 1989 mit der erneuerten Linksterrorismusangst beziehungsweise der Verlängerung der alten Kalten-­Krieg-­Achsen auf einen wunden Punkt des Aufarbeitungsdiskurses. Hier wurde es auch den ehemaligen Bürgerrechtler_innen fast unmög­lich, sich in dem durch die Terrorismus- und Totalitarismusdebatte doppelt politisierten Feld zu posi­tionieren. Für die Betroffenen blieben allerdings die Traumata der Diktatur als persön­liche und weniger als politische Lebenserfahrung präsent. Dass die Denunzia­tion gegen Domaschk als terroraffin ledig­lich die rechtfertigende Deckerzählung der Staatssicherheit stabilisierte, ging somit weder in die Analysen der Staatsanwaltschaft noch der Betroffenen ein und diente unter anderem der staatsanwaltschaft­lichen Schließung des Vorgangs.21

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Domaschk und der Jenaer Widerstand. Berlin 2007; Gedenkstätte Amthordurchgang e. V. (Hrsg.): Matthias Domaschk. Gera 2012; Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposi­ tion in der DDR (1949 – 1989). Berlin 1997, S. 432, der ihn zu einer Zentralfigur der Jenaer Opposi­tion stilisiert. Vgl. auch mehrfach Roland Jahn, zuletzt unter Mitarbeit von Dagmar Hovestädt: Wir Angepaßten. Überleben in der DDR. München 2014, S. 151. ThürAZ (Hrsg.): Chronologie 1980 – 1989 (wie Anm. 13). Walter Schilling: Die Verpflichtungserklärung: ein dubioses Dokument. In: Horch und Guck (2003), Sonderheft I, S. 46 – 47. So insbesondere Henning Pietzsch, der, die juristische mit der historischen Ebene verwechselnd, als hauptverantwort­lich am Tod Domaschks neben den Stasioffizieren den IM »Steiner« beschuldigte. Siehe Pietzsch: Jugend ­zwischen ­Kirche und Staat (wie Anm. 17), S. 142 – 143. Vgl. ThHStAW, StA  EF, 4222, Handakten zur Strafsache 570 UJs 12133/93, Band VI, Bl. 34 – 39: Der erwähnte IM kam mit dem MfS mit knapp 18 Jahren in Kontakt, da er Probleme mit Nazis hatte und ein Freund ihm riet, sich an die Jenaer Polizei zu wenden, die ihn aber schnell der Stasi

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Nach dem zweiten Prozess veröffent­lichte die Zeitschrift Horch und Guck ein Sonderheft unter dem Namen Domaschks. Dort wurden kritische Stimmen zum Umgang der Justiz mit dem Fall laut, zudem kamen erstmals bis dahin weithin unbekannte Freund_innen und Wegbegleiter_innen zu Wort.22 Die Schilderungen demonstrieren die sekundäre Viktimisierung wie auch den Umgang mit dem Tod Domaschks. Einerseits sei 1981 der letzte Rest des Vertrauens in die DDR und ihre Funk­tionäre geschwunden, andererseits habe man erkannt, dass Anpassung in d ­ iesem Land keine Op­tion mehr sein werde: »Bleibe im Lande und wehre Dich täg­lich«. Zeitzeug_innen bezeichnen den Tod wie erwähnt als »Wendepunkt der Jenaer Opposi­tion«.23 Die zahlreichen Medienartikel wiederholen das Bekannte.24 Dabei hält sich hartnäckig das Gerücht, die Staatssicherheit habe Matthias Domaschk ermordet. Diese hat wiederum alles getan, um jeg­liche Spur zu verwischen. Ledig­lich eine wenig umfangreiche Akte fand sich nach 1989 in der Überlieferung der Geraer Bezirksverwaltung des MfS.25 Auf diese wird im Folgenden näher einzugehen sein. Anläss­lich eines Gedenktages veranstalteten Jenaer und Geraer Aufarbeitungsinitiativen im Jahr 2006 eine Tagung in Gera, auf der Zeitzeug_innen über ihre damalige Situa­tion berichteten und auf der deut­lich wurde, wie quälend sich die Ungewissheit über den Tod auswirkte.26 Damals verwies der in Braunsdorf bei Rudolstadt ansässige Pfarrer der Offenen Arbeit Walter Schilling auf Ermittlungswidersprüche und -versäumnisse. Fünf Jahre ­später, am 9. April 2011, beteiligte sich erstmals der damalige Erst­ obduzent vom Jenaer Gerichtsmedizinischen Institut, Manfred Disse, anläss­lich einer Podiumsdiskussion im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte an der Debatte.

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überantwortete, was dem IM nicht klar gewesen sein will. Denn sein späterer Führungsoffizier Roland Mähler hatte ihm, seine Unkenntnis über die Junge Gemeinde ausnutzend, suggeriert, selbst dem Leitungskreis der Jungen Gemeinde anzugehören. Der einstmalige IM sagte nach 1989 aus, er habe nie behauptet, dass Domaschk terroristische Ak­tionen befürworte. Offensicht­lich sei dies als MfS-Legende aufgebaut worden, um Erfolge zum X. Parteitag zu erzielen. Siehe das Sonderheft I der Zeitschrift Horch und Guck (2003). Siehe u. a. Henning Pietzsch: Der Fall Matthias Domaschk: Wendepunkt der Jenaer Opposi­tion? In: Deutschland Archiv 39 (2006) 3, S. 455 – 4 60. Vgl. auch die Einlassungen von späteren Mitgliedern der Jenaer Friedensgemeinschaft unter URL: http://www.jugendopposi­ tion.de/index.php?id=1424, letzter Zugriff: 22. 01. 2017. Es sind zahlreiche Zeitungsartikel erschienen, zuerst: DDR-Geheimdienst. Tod in Gera, in: Stern Nr. 26, 18. Mai 1981. BStU, MfS, BV Gera, Ref. XII/Archiv, AP 1097/81, weiterhin zitiert als: BStU, MfS, BV Gera AP 1097/81. Der Live-­Mitschnitt befindet sich im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«, siehe ThürAZ-TT-CD 397.

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Weder Mord noch Selbstmord könne er ausschließen, teilte er mit, was die Suizidthese erneut beträcht­lich ins Wanken brachte.27 Zuletzt brachte Renate ­Ellmenreich den Thüringer Ministerpräsidenten dazu, im März 2015 bei der Thüringer Staatskanzlei eine Gruppe »Tod von Matthias Domaschk« zu bilden. Diese ist bemüht, weitere Erkenntnisse zu erlangen, was jedoch bislang nicht zu neuen Ergebnissen geführt hat.28 Nachdem die Autorin ­dieses Aufsatzes anläss­lich des 35. Todestages einen Beitrag zur Problematik in der Regionalpresse veröffent­licht hatte, vertiefte der Zweitobduzent mit einer widersprüch­lichen Gegendarstellung ungewollt die Zweifel an der offiziellen Version.29 Diese Quellenlage zeigt, dass ein Gewirr aus Vermutungen, Zuschreibungen, Halbwahrheiten und Lügen zu analysieren und einzuordnen ist. Insgesamt ist diese Diskussion in eine seit 1990 immer wieder aktualisierte Debatte zur juristischen Aufarbeitung politischer Gewaltkriminalität eingebettet. Bereits 1990 veröffent­lichte die Kritische Justiz einen Aufsatz, in dem der Autor aufgrund der Erfahrung mit den »kalten Amnestien« der Vergangenheit vorschlug, sogleich den nach seiner Ansicht ehr­licheren Weg der offensiven Amnestie zu gehen. Der Rechtsstaat verfüge nicht über das Instrumentarium, die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur zu ahnden, weshalb gerade ohne die juristischen Zwangsmittel eine intensivere Debatte in der Gesellschaft ermög­licht werde als

27 Siehe den Live-­Mitschnitt in ThürAZ-TT-CD 397. – Das ThürAZ widmete Matthias Domaschk im Jahr 2011 eine Gedenkwoche mit jeweils einer Podiumsdiskussion zur juristischen und zur medialen Aufarbeitung des Todes sowie mit einem Stadtspaziergang von Historiker_innen und Zeitzeug_innen. Siehe dazu Axel Dossmann: Brief an das ThürAZ, April 2011, im Besitz der Autorin. Disse schließt Fremdverschulden nicht völlig aus. Vgl. URL: http://­www. insuedthueringen.de/regional/thueringen/thuefwthuedeu/Fall-­Domaschk-­Aerzte-­Kein-­ Fremdverschulden;art83467,4786904, letzter Zugriff: 12. 07. 2016. 28 Siehe Medieninforma­tion 37/2015 der Thüringer Staatskanzlei vom 05. 03. 2015. Der Gruppe gehören an: Peter Rösch, Renate Ellmenreich, Ehrhart Neubert, Henning Pietzsch sowie Vertreter diverser Landesinstitu­tionen. In der Zeitschrift Gerbergasse 18 wird statt Neubert der Rechtsanwalt Wolfgang Loukidis genannt, die Vertreter der Landesinstitu­tionen werden nicht erwähnt. Siehe Henning Pietzsch: Kein symbo­lischer Akt. Erneute Untersuchung der Todesumstände von Matthias Domaschk. In: Gerbergasse 18 (2016) 1, S. 42 – 45, bes. S. 45. Dort wird Bekanntes wiederholt, mit weithin unbelegten Behauptungen verknüpft und eine erneute Befragung der Täterzeugen gefordert, deren Rolle jedoch nicht problematisiert wird. 29 Siehe Katharina Lenski: Noch keine Signale aus dem Schweigekreis. In: Thürin­gische Landeszeitung 13. Mai 2016; Frank Döbert: »Damals wie heute nichts zu verbergen«: Jenaer Gerichtsmediziner hat zur Todesurache von Matthias Domaschk keine Zweifel. In: Ostthüringer Zeitung 17. April 2016. Daneben erschienen zahlreiche Presseartikel mit zum Teil falschen Informa­tionen.

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mit Sank­tionsdruck.30 Dem widersprachen diverse Autoren, die befürchteten, die durch die DDR -Herrschaftspraxis entstandenen rechtsfreien Räume ohne die Orientierungsfunk­tion der Justiz nicht schließen zu können. Der politische und mora­lische Diskurs würde entsprechend ins Leere laufen.31 Dieser Debatte schloss sich die Konstituierung der beiden Enquete-­Kommissionen des Bundestages an, die als Bestandteil der staat­lichen Geschichtspolitik festlegten, was wie als erinnerungswürdig zu gelten habe.32 Zuletzt resümierten mehrere Autoren ein Unbehagen an der juristischen Aufarbeitung. Die Opferverbände formulierten das Problem existentiell. Sie sahen sich für die politische Debatte als »Vorreiter der Demokratie« instrumentalisiert, während das Unrecht existentiell weiterwirke, dagegen die ehemaligen Täter den ehemals privilegierten Status weiterhin genössen.33 Einige Autoren räumten juristische Mängel bei der Ermittlung von Gefangenenmisshandlungen, Rechtsbeugung und Zwangsdoping ein.34 Die ersten beiden Punkte treffen auch auf die Ermittlungen zu Matthias Domaschks Tod zu, denn auch in seinem und dem Fall von Peter Rösch, der mit ihm festgesetzt worden war, sind in den Ermittlungen weder der Sinn der »Zuführung« und die Gewaltpraxis noch der Schlafentzug oder die Dauerverhöre kritisch hinterfragt worden. Vielmehr stellte das Gericht im Todesermittlungsverfahren beispielsweise fest, der Tote sei nach zwei Nächten ohne Schlaf nicht übermüdet gewesen, da er einige handschrift­liche Korrekturen am Vernehmungsprotokoll vorgenommen hatte.35 Immerhin widmete sich das zweite Verfahren einem Rechtsbeugungstatbestand: der Freiheitsberaubung. Der Tod an sich ist jedoch nie verhandelt worden. 30 Redak­tion Kritische Justiz (Hrsg.): Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-­Staates. Baden-­Baden 1998. 31 Herbert Jäger: Amnestie für staat­liche Verbrechen? In: Kritische Justiz 23 (1990), S. 467 – 472. 32 Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-­Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Neun Bände in zwölf Teilbänden, Baden-­Baden 1995; Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-­Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«. 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Acht Bände in vierzehn Teilbänden, Baden-­Baden 1999. 33 Siehe u. a. Rainer Wagner: Die juristische Aufarbeitung des SED-Unrechts in der Wahrnehmung der Opfer. In: Andreas H. Apelt/Robert Grünbaum/Martin Gutzeit (Hrsg.): Von der SED-Diktatur zum Rechtsstaat. Der Umgang mit Recht und Justiz in der SBZ/DDR. Berlin 2012, S. 120 – 127. 34 Klaus Marxen: Die strafrecht­liche Aufarbeitung des SED-Unrechts. Eine Bilanz. In: Apelt/ Grünbaum/Gutzeit (Hrsg.): Von der SED-Diktatur zum Rechtsstaat (wie Anm. 33), S. 86 – 92, hier S. 90 f. 35 ThHStAW, StA EF, 4229: Verfügung 570 UJs 12133/93 vom 1. 7. 1994, Bl. 103.

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2. Vorgeschichte: »Zersetzung« in Jena Jürgen Fuchs veröffent­lichte 1994 beim Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen die Studie Unter Nutzung der Angst. Als einer der E ­ rsten beschäftigte er sich für die DDR mit der Implementierung von Gewaltstrukturen in s­ oziale Zusammenhänge besonders in jugend­lichen Gruppen.36 Die Staatssicherheit fand dafür den Begriff »Zersetzung«, der zugleich das Ziel bezeichnet, den »Gegner« an den Rand der Gesellschaft zu drängen und unhörbar zu zerstören, was durch zahlreiche Zitate nicht zuletzt Mielkes belegt ist.37 Jürgen Fuchs hatte von 1971 bis 1975 an der Universität Jena Psychologie studiert. Seine Diplomarbeit wurde im »operativen Interesse« der Staatssicherheit von der Sek­tion Psychologie und der Jenaer Universitätsleitung abgewiesen. Er war bereits während seines Studiums von seinem Kommilitonen, dem späteren Stasi-­Offizier Jochen Girke, bespitzelt worden. Girke beteiligte sich an den »Zersetzungsmaßnahmen« gegen Jürgen Fuchs und andere. 38 Später unterrichtete er an der Stasi-­Hochschule in Potsdam das Fach »Operative Psychologie« und bildete Stasi-­Offiziere darin aus, »Zersetzungsmaßnahmen« mög­ lichst effektiv einzusetzen.39 Zur Realisierung solcher »Maßnahmen« waren die beteiligten Personen die Bindeglieder in einer Kette von Ereignissen und Situa­tionen. Die inoffiziellen oder auch offiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit schufen in staat­lichen Stellen, in der Verwaltung, am Arbeitsplatz, an der Universität und in der Schule Situa­tionen, in denen Betroffene eingekreist, destabilisiert und im Handeln

36 Jürgen Fuchs: Unter Nutzung der Angst. Die »leise Form« des Terrors – Zersetzungsmaßnahmen des MfS (BF informiert 1994, 2). Berlin 1994. 37 Zur Komplementarität der Repressionsformen siehe Annette Weinke: Strafrechtspolitik und Strafrechtspraxis in der Honecker-­Ära. In: Leonore Ansorg u. a. (Hrsg.): »Das Land ist still – noch!« Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971 – 1989). Köln/Weimar/Wien 2009, S. 37 – 55, hier S. 43. 38 Jürgen Fuchs (1950 – 1999), Autor, Psychologe, Bürgerrechtler. 1971 – 1975 Studium der Psychologie an der Universität Jena, politische Exmatrikula­tion kurz vor dem Abschluss, ab 1974 kritische Veröffent­lichungen zur DDR-Realität, 1976 Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, neun Monate Haft nach § 106 StGB (staatsfeind­liche Hetze), 1977 Ausbürgerung, während der Haft erschienen in der BRD seine Gedächtnisprotokolle, 1978 die Vernehmungsprotokolle; Autor in West-­Berlin und weiter Repression durch die Staatssicherheit, seit 1989/90 aktiv in der Aufarbeitung, 1999 an Leukämie verstorben. Siehe hierzu Jan Wielgohs: Jürgen Fuchs. In: Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biografien. Berlin 52010, S. 356 f. 39 Jürgen Fuchs: Bearbeiten, dirigieren, zuspitzen. Die »leisen« Methoden des MfS. In: Klaus Behnke/Jürgen Fuchs (Hrsg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995, S. 44 – 83, hier S. 50 f.

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eingeschränkt wurden. Sie sorgten auch dafür, dass ­solche Situa­tionen längerfristig aufrechterhalten blieben und sich verdichteten, sodass sie den »Schein der Normalität« erhielten.40 Dabei handelte es sich nicht nur um Zumutungen, sondern um aktives Handeln der Verantwortungsträger in einem Erfahrungsraum, der sich im Laufe der DDR -Entwicklung hin zu einem bürokratisch normal erscheinenden, doch de facto militärisch strukturierten Raum entwickelte. Wir betrachten somit Personennetzwerke, die diese Zumutungen realisierten und dabei Tradi­tionen des Feindbilddenkens entwickelten; eine ausgrenzende Handlungskultur entstehen ließen.41 Die seit 1953 Geborenen gerieten während der Phase ihres Erwachsenwerdens auch in Jena zunehmend in Konflikte. Insbesondere seit dem Prager Frühling und mit der Gründung der »Lesekreise« in den 1970er Jahren verschärften sich diese Spannungen und erreichten mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann einen Höhepunkt. Dabei nannte das MfS als »gefähr­liche Sammelpunkte» in Jena nicht nur halboffizielle Orte wie den Arbeitskreis »Literatur und Lyrik« oder die Junge Gemeinde (JG) Stadtmitte Jena in der Johannisstraße, sondern auch Wohnungen und Wohngemeinschaften, in denen sich Hauskreise zur Literaturdiskussion trafen. Sowohl die Wohnung Am Rähmen 3, wo Matthias Domaschk zu jenem Zeitpunkt unter anderem mit Renate Ellmenreich wohnte, stand unter Beobachtung als auch die Wohnung in der Käthe-­Kollwitz-­Straße 14, in der sich der Kreis um Lutz Leibner, Gerd Sonntag, Siegfried Reiprich, Wolfgang Hinkeldey und Bernd Markowsky traf und in der auch Matthias Domaschk zu Besuch war, wie die regionale Staatssicherheit notierte. Diese schöpfte ihr Wissen hauptsäch­lich aus dem Operativen Vorgang (OV) »Pegasus«.42 Anfangs als »OV-Gruppe« deklariert, experimentierte die kurz nach dem Inkrafttreten der »Zersetzungsrichtlinie« 43 1976 eingesetzte Vorgangsgruppe von Oberstleutnant Günter Horn im OV »Pegasus« dort mit menschenrechts-,

40 Clemens Vollnhals: Der Schein der Normalität. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Siegfried Suckut/Walter Süss (Hrsg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 213 – 247. 41 Vgl. Katharina Lenski: Kommunika­tionsräume. Die Staatssicherheit an der Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena (1968 – 1989). Diss. phil. Jena 2015 (i. V.). Zu Feindbildern auch Silke Satjukow/Rainer Gries (Hrsg.): Unsere Feinde. Konstruk­tionen des Anderen im Sozialismus. Leipzig 2004. 42 OV »Pegasus«, BStU, MfS, BV Gera Reg.-Nr. X 66/75, AOV 740/77. 43 Die Richtlinie 1/76 trat am 1.  Januar 1976 in Kraft, abgedruckt zuerst in: David Gill/Ulrich Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-­Imperiums. Hamburg 1993, S. 346 – 4 01. – Zur »Zersetzung« siehe Behnke/Fuchs (Hrsg.): Zersetzung der Seele (wie Anm. 39).

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verfassungs- beziehungsweise rechtsstaatswidrigen Methoden. Sie inszenierte vorgetäuschte oder echte Werbungen zur inoffiziellen Mitarbeit, verhinderte Abschlüsse von Ausbildungs- und Arbeitsverträgen, blockierte die Karriere oder den Aufstieg in sicherheitsrelevante Posi­tionen und inszenierte willkür­liche Einberufungen zum Wehrdienst. Während die inoffizielle Mitarbeit das Misstrauen innerhalb der Gruppen schürte, sollte mit den weiteren Blockierungen das Selbstbewusstsein der Einzelnen untergraben und ihr Handlungsraum auf ein Minimum reduziert werden, bis sie sich aus jeg­lichem öffent­lichen Leben zurückzogen. Diese Vorgehensweise wurde durch Haftandrohungen, erpresste Geständnisse und Verurteilungen ergänzt. Im Gefolge der Biermann-­Ausbürgerung verschwanden nach einer Unterschriftensammlung seit dem 19. November 1976 allein in Jena zahlreiche Menschen im Gefängnis, so aus dem Arbeitskreis »Literatur und Lyrik«, dem vom MfS sogenannten »Pegasus-­Kreis« um Bernd Markowsky, aus der Jungen Gemeinde Stadtmitte Jena um Thomas Auerbach sowie weitere Mitglieder zahlreicher Hauskreise, so Wolfgang Hinkeldey, Marian Kirstein, Uwe Behr, Walfred Meier und Kerstin Graf.44 Weitere 23 Personen wurden in der Jenaer MfS-Kreisdienststelle vernommen und nach einer Verwarnung entlassen, jedoch weiter beobachtet. Das betraf Renate Groß und Matthias Domaschk, Doris Liebermann, Uta Trillhase, Lutz Leibner, Lutz Rathenow, Franziska Rohner, Thomas Grund, Achim Dömel, Angelika Rublack, Reinhard Klingenberg.45 In der Hoffnung, sie als inoffizielle Mitarbeiter werben zu können, bestellte das MfS einige von ihnen auch weiterhin zu sogenannten »Gesprächen« in die Jenaer Kreisdienststelle. Eine Indienstnahme lehnten unter anderem Lutz Leibner und Lutz Rathenow rundweg ab. Dagegen hatte die Stasi den bereits politisch exmatrikulierten Philosophiestudenten Siegfried Reiprich weder vernommen noch sank­tioniert. Allerdings hatte sie das Gerücht verbreiten lassen, er habe sich als inoffizieller Mitarbeiter verpflichtet, was jedoch nicht den Tatsachen entsprach, sondern zersetzend insbesondere gegen die vom OV »Pegasus« Betroffenen wirkte.46 Der gleichaltrige Thomas Grund ließ sich dagegen anwerben und berichtete dem Führungsoffizier Herbert Würbach 44 Bis auf Uwe Behr waren die Verurteilten ausgebürgert worden. Behr fotomontierte s­ päter die berühmte Jenaer Postkarte »Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht« und zog damit endgültig den Hass der Geheimpolizei auf sich. 45 Vgl. OV »Pegasus«, Abschlussbericht vom 6. Dezember 1976. Gegen diese Personen und gegen Gerd Lehmann, erfasst als IM »Hansen«, Reg.-Nr. X 739/70 lfd., leitete das MfS Ermittlungsverfahren mit Untersuchungshaft ein. 46 Zuerst dazu Jürgen Fuchs: Landschaften der Lüge. Teil II. In: Der Spiegel 48 (1991), S. 89. Reiprich wurde seit 1977 in einer OPK, und seit 1980 im OV »Opponent« bearbeitet. BStU,

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von 1977 bis Ende 1981 über die internen Vorgänge in der Jenaer Jungen Gemeinde bis hin zu den Reak­tionen auf den Tod von Matthias Domaschk. Er traf sich in den Tagen nach dem Tod und vor der Trauerfeier mehrfach mit dem Führungsoffizier.47 Auch auf der mittleren und oberen Ebene der Thüringer Landeskirche waren inoffizielle Mitarbeiter zum Teil seit vielen Jahren aktiv, so Gemeindehelfer Michael Stanescu, Kreisjugendpfarrer Siegfried Nenke, Kreiskirchenrat Martin Kirchner und Oberkirchenrat Hans Schäfer.48 Über die weiteren Beteiligten legte die Jenaer Staatssicherheit nach der sogenannten Biermann-­Ak­tion Handakten, Schriftenvergleichsmaterial und Karteien, Operative Personenkontrollen (OPK) und Operative Vorgänge (OV) an,49 um strafrecht­liche Handhabe gegen sie zu schaffen, so den OV »Kanzel« gegen Renate Groß, den Horst Köhler führte.50 Er, der Renate Groß und Matthias Domaschk

MfS, KD Jena, OV »Opponent« Reg.-Nr. X/231/80, AOV 1020/81. Vgl. dazu: Siegfried Reiprich: Der verhinderte Dialog. Meine politische Exmatrikula­tion. Berlin 1996. 47 Zu OV »Pegasus« vgl. Jürgen Fuchs: Unter Nutzung der Angst (wie Anm. 36); – Thomas Grund ließ sich im Kontext des OV »Pegasus« anwerben. BStU, MfS, BV Gera IM Reg.-Nr. X/57/77. Im Jahr 1981 wurden die Gerüchte um seine IM-Tätigkeit schließ­lich so laut, dass Freunde ihn drängten, sich dem Bischof anzuvertrauen, was er am 6. Mai 1981 tat, sodass seine IM-Akte am 5. Februar1982 geschlossen wurde. Vgl. hierzu Henning Pietzsch: Jugend ­zwischen ­Kirche und Staat (wie Anm. 17), S. 151. – Allerdings lieferte Grund nach dem 6. Mai 1981 noch vierzehn Berichte mit detaillierten Informa­tionen zur Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena, zur Offenen Arbeit in Halle und zu Einzelpersonen an die Staatssicherheit. Seit 1985 wurde er in den OV »Kreuz« BStU, MfS, BV Gera, KD Jena, OV Reg.-Nr. X 1691/85 (archiviert 1988) und OV »Dach« BStU, MfS, KD Jena, Reg.-Nr. X 1486/88 lfd. bearbeitet. Zur Rolle Grunds in der Jungen Gemeinde siehe das Interview mit Dorothea Rost im ThürAZ; verklärend dagegen Henning Pietzsch: Jugend (wie Anm. 17), u. a. S. 151, 299. 48 Ausführ­lich Walter Schilling: Die »Bearbeitung« der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Clemens Vollnhals (Hrsg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1996, S. 211 – 266; vgl. Katharina Lenski u. a. (Hrsg.): Die »andere« Geschichte. Erfurt 1993. – Zu Stanescu vgl. Tobias ­Kaiser: Ein anderes Schicksal der »68er«-Flugblattak­tion. Eine Bemerkung zu Michael »Konstantin« Stanescu (IM »Bartholomäus Runge«). In: ders./Heinz Mestrup (Hrsg.): Politische Verfolgung an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena von 1945 bis 1989. Wissenschaft­liche Studien und persön­liche Reflexionen zur Vergangenheitsklärung, Berlin 2012, S. 344 f. 49 OPK wurden angelegt gegen Lutz Rathenow, Lutz Leibner, Siegfried Reiprich, Doris ­Liebermann, Uta Trillhase. 50 Zu Horst Köhler siehe Katharina Lenski: Durchherrschter Raum? Staatssicherheit und Friedrich-­Schiller-­Universität. Strukturen, Handlungsfelder, Akteure. In: Uwe H ­ ossfeld/ Tobias K ­ aiser/Heinz Mestrup (Hrsg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena (1945 – 1990). Köln/Weimar/Wien 2007, S. 526 – 572, hier S. 545 ff. – Ausführ­lich dies.: Kommunika­tionsräume (wie Anm. 41).

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1976 verhört und bedroht hatte, sammelte in einer Handakte weiterhin Informa­ tionen zu Domaschk. Köhler hatte ebenso den OV »Revisionist« 51 in der Hand, den er von seinem Vorgesetzten Herbert Würbach übernommen hatte. In ­diesem ging s­ päter zunächst sein Kollege Roland Mähler und seit Dezember 1978 der Offizier für Sonderaufgaben der Kreisdienststelle Gert Keller mit Zersetzungsmethoden gegen den Psychologen Jürgen Fuchs und s­ päter unter anderem gegen den Psychologen Jochen-­Anton Friedel vor.52 Doch an d ­ iesem Punkt erschöpfte sich die emsige Blockadestrategie der Jenaer Staatssicherheit nicht. Auch die Polizei führte bereits seit ihrem Bestehen beispielsweise die »Jugendschutzkartei« 53 oder auch Karteien zu sozial Abweichenden, zu DDR -Flüchtigen und »Rückkehrern« aus der Bundesrepublik. Diese Karteien standen wie selbstverständ­lich der Geheimpolizei zur Verfügung und waren eine Grundlage des »politisch-­operativen Zusammenwirkens« von Polizei und Geheimpolizei besonders gegen »politisch-­ideolo­ gische Diversanten«.54 In Absprache mit dem Wehrkreiskommando wurden die Betroffenen während der Militärzeit so weit entfernt vom Wohnort sta­tioniert, dass sich ­soziale Bindungen zwangsläufig lockerten oder auflösten. Die Einberufung zur Armee zielte nicht nur auf militärischen Gehorsam, sondern auch auf politische Unterordnung und Anpassung des Lebensstils. Die Staatssicherheit betrieb somit gemeinsam mit den staat­lichen Institu­tionen die ­soziale und beruf­liche Deplatzierung, Desorientierung und Verdrängung von stigmatisierten Menschen.55

51 OV »Revisionist«, BStU, MfS, BV Gera, OV Reg.-Nr. X 39/74, AOV 1205/81. 52 Hatte dort zuerst eine Diskussion einer studentischen »Jenenser« mit einer »Hallenser Plattform« um einen demokratischen Sozialismus für die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei gesorgt, bekämpften Würbach, Köhler, Mähler bzw. Keller für die Vorgangsgruppe Horn, ­später die um Friedel gebildeten Diskussionskreise von Lehrlingen im Zeiss-­Betrieb. Der Jenaer Stasi-­Offizier Steffen Lippoldt machte die Zersetzung im OV »Revisionist« zum Thema seiner Stasi-­Fachschularbeit. BStU, MfS, VVS JHS o001 1165/79: Die Organisierung einer wirkungsvollen politisch-­operativen Abwehrarbeit bei der offensiven Bekämpfung politische Untergrundtätigkeit betreibender Kräfte unter dem Aspekt des ständigen operativ-­taktischen Reagierens auf vorgetragene Feindangriffe durch kontinuier­liche Einleitung und Durchführung geeigneter effektiver Verunsicherungs-, Zersetzungs- und Zurückdrängungsmaßnahmen, dargestellt an Hand des OV »Revisionist«, Reg.-Nr. X 39/74. 53 So ThStA Rud, BDVP Gera, 21/0190: BDVP Gera/VPKA Jena, Sekretariat 1952 – 1960. 54 So für 1981 besonders zu erwähnen ThStA Rud, BDVP Gera, Zentralspeicher 0604. Vgl. zum Feindbild der politisch-­ideolo­gischen Diversion u. a. – Ausführ­lich Lenski: Kommunika­ tionsräume (wie Anm. 41). 55 Vgl. u. a. BStU, MfS, VVS JHS o001 1165/79, Bl. 25.

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3. Einkreisen: Matthias Domaschk und der X. Parteitag der SED 1981 Matthias Domaschk wird 1957 in Görlitz geboren. Die Familie zieht nach Jena, als er dreizehn Jahre alt ist, da der Vater, zugleich Auslands- und Reisekader, in der Forschungsabteilung des Betriebs Carl Zeiss angestellt wird.56 Der Sohn erlernt das Feinmechanikerhandwerk als »Berufsausbildung mit Abitur«;57 kaum volljährig zieht er zu Hause aus. Er liest, beteiligt sich an Lesekreisen; 1976 an der Unterschriftensammlung gegen die Biermann-­Ausbürgerung und wird wie auch weitere 44 Jenaer Jugend­liche festgesetzt, zwei Tage lang vom MfS vernommen und bedroht. Während des Verhörs suggerieren ihm Schreie einer Frau im Nebenraum, seine schwangere Freundin würde gequält werden, die aber längst entlassen ist. Der Vernehmer Horst Köhler legt gegen die Freundin kurz danach den Operativen Vorgang »Kanzel« an und observiert unter anderem auch Matthias Domaschk.58 Obwohl dieser während der »Ak­tion Pegasus« offiziell nur »verwarnt« wird, zeigt dies die Tragweite der zersetzenden Maßnahmen. Er, der seinen Platz in der Gesellschaft auch intellektuell sucht, der sich an den Jenaer Lesekreisen beteiligt, die auch in seiner Wohnung stattfinden,59 wird auf den Arbeiterstatus festgelegt und darf das Abitur nicht mehr abschließen. Zu Pfingsten 1977 fährt er nach Prag, wo Petr Uhl und Anna Šabatova seine und die Erlebnisse von Renate E ­ llmenreich während der Biermann-­Ausbürgerung für die Charta 77 protokollieren.60 Nun n ­ utzen die Behörden ein weiteres Zwangsmittel. Seit November 56 Die folgenden Ausführungen basieren, sofern nicht extra ausgewiesen, auf den Publika­tionen des in Punkt eins ­dieses Aufsatzes referierten Literaturberichts. 57 Die Berufsausbildung mit Abitur war ein dritter Zugangsweg zur Hochschulreife, der in drei Jahren während der Facharbeiterausbildung absolviert wurde. Wer politisch stigmatisiert wurde, konnte zwar meist den Berufsabschluss erlangen, das Abitur aber nicht. 58 BS tU, MfS, KD Jena, OV »Kanzel«, Reg.-Nr. X 18/78, Bl.  215 f. Dort ist auch eine Gesprächskonzep­tion zur Befragung von Matthias Domaschk für das Jahr 1980 zu finden. – Zu den beteiligten MfS-Offizieren siehe das Sonderheft I der Zeitschrift Horch und Guck (2003), S. 48 – 49. Vgl. Renate Ellmenreich im Interview auf URL: https://www.youtube.com/watch?v= xJcoG_1n5QQ, letzter Zugriff 21. 01. 2017. 59 Die Wohnung »Am Rähmen 3« befand sich in dem Gebäude der denkmalgeschützten Tonnen­ mühle. Dort fand der Lyriker Frank Schöne nach seiner Haft und vor seiner Ausbürgerung eine Zeitlang Obdach. Dort war von 2001 bis 2008 auch das nach Matthias Domaschk benannte Thüringer Archiv für Zeitgeschichte ansässig, dem wegen der Absicht der Stadt, das Gebäude abzureißen, 2008 gekündigt wurde. Die Stadt Jena ließ das Gebäude im Jahr 2014 ungeachtet seiner Vorgeschichte abreißen. 60 Renate Ellmenreich: Begegnungen in Prag (wie Anm. 15), S. 39 f.; Siehe auch das Interview von Eva Kanturkova mit Anna Šabatova: Verbotene Bürger. Die Frauen der Charta 77. München/Wien 1982, S. 105 – 120.

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Abb. 1  Matthias Domaschk, Renate Groß, Michael »Faustus« Pfauder (von rechts nach links) und Michael »Stokel« Stokelbusch (im Vordergrund) auf dem Marktplatz in Jena am 2. Mai 1976

1977 muss Matthias Domaschk in Eggesin/Torgelow im Norden der DDR, weit entfernt von Jena, den militärischen Zwangsdienst ableisten. Das entspricht einem mustergültigen Vorgehen im Sinne der Zersetzungsrichtlinie: Relega­tion vom Abitur, Wehrdienst, Störung und Auflösung der sozialen Bindungen. Nach seiner Rückkehr verliebt er sich neu und beim Trampen werden die verloren gegangenen Weltberührungen wieder spürbar. Er arbeitet nicht mehr bei Zeiss, wo die Überwachung seit der Errichtung der Forschungszentren institu­tionelle Formen angenommen hat, sondern als Installateur am Institut für Mikrobiologie.61 Der X. Parteitag 1981 und insbesondere der Besuch der sowjetischen Partei­ delega­tion am 13. April sind schon seit Ende 1980 Anlass hektischer Aktivitäten der Sicherheitsorgane. Die Staatssicherheit legt mit der »Ak­tion Kampfkurs X« fest, alle Kräfte zu konzentrieren, damit niemand, der vom Schema der sozialistischen Lebensweise abweicht, nach Berlin gelangt. Dafür kann der Sicherheitsapparat

61 Siehe dazu Lenski: Kommunika­tionsräume (wie Anm. 41).

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auf langjährige Erfahrungen zurückgreifen, zumal sich die bürokratischen und militärischen Strukturen und Praktiken konsolidiert haben. Bereits 1973 waren anläss­lich der Berliner Weltfestspiele die Verurteilungen wegen »Asozialität« und »Rowdytum« in die Höhe geschnellt. Auch die Zahl jener erreichte einen Höchststand, die in diverse Anstalten eingewiesen, denen der Personalausweis entzogen und die mit Urlaubssperren belegt worden waren, um insbesondere Jugend­liche von der Hauptstadt fernzuhalten.62 Das sollte sich anläss­lich des X. SED-Parteitages wiederholen. Vorbereitend hatte die MfS-Auswertungs- und Kontrollgruppe 1980 eine Übersicht über Personen zusammengestellt, die sie, die westdeutsche Terrorismusdebatte aufgreifend, als linksextrem einschätzte. In dieser Aufstellung galt das »Westberliner Schutzkomitee für Freiheit und Sozialismus« als linksextrem, weil es Rudolf Bahros Alternative in der DDR verbreitete.63 Dieses Buch zirkulierte wie auch andere linkssozialistische Schriften in den Jenaer Lesekreisen, zu denen Matthias Domaschk gehörte. Sein Name wurde deshalb in erwähnter Aufstellung vermerkt.64 Aus dieser Übersicht wird ebenso das parallele Einsatzfeld des oben erwähnten Stasi-­Offiziers Horst Köhler deut­lich, der vor seiner Stasi-­Karriere in einem Scheinarbeitsverhältnis an der Jenaer Universität Literatur aus dem west­ lichen Ausland kontrolliert und beschlagnahmt hatte.65 Der Chef der Bezirkspolizei Gera wies kurz vor dem 13. April 1981 den Leiter des Volkspolizeikreisamtes (VPKA) Jena an, die mittlerweile präzisierten Kontrollen der überwachten Personen nochmals mit dem MfS abzustimmen und »bei [der] Einweisung [die Polizei]Kräfte darauf hin[zu]weisen, wie zu handeln

62 Elke Stadelmann-­Wenz: Widerständiges Verhalten und Herrschaftspraxis in der DDR. Vom Mauerbau bis zum Ende der Ulbricht-­Ära, Paderborn u. a. 2010, bes. S. 214 – 222; Thomas Lindenberger: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffent­liche Ordnung im SED-Staat. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 436 f.; Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus ­zwischen Repression und Ausgrenzung. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 706. 63 BStU MfS BV Gera, AKG, GVS 136/80 vom 9. 6. 1980. Der Philosoph Rudolf Bahro (1935 – 1997) ist mit seinem Buch Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus als der wichtigste Vertreter einer parteiinternen Kritik am planwirtschaft­lichen DDR-Staatssozialismus bekannt und verfolgt worden. Im Jahr 1978 wurde er nach dem Erscheinen von Auszügen im Spiegel zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, 1979 durfte er nach interna­tionalen Protesten nach Westberlin ausreisen. Vgl. Hubert Laitko: Art. Rudolf Bahro. In: Wer war Wer (wie Anm. 38), S. 57 – 58; Guntolf Herzberg: Rudolf Bahro. In: Ilko-­Sascha Kowalczuk/Tom Sello (Hrsg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposi­tion und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 140 – 142. 64 BStU MfS BV Gera, AKG, GVS 136/80 vom 9. 6. 1980, Bl. 83. 65 Siehe Lenski: Kommunika­tionsräume (wie Anm. 41).

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ist, Demonstrativhandlungen und Angriffe auf [den] Konvoi [zu] verhindern, rechtzeitig Signale [zu] setzen bei Vorkommnissen oder sich abzeichnenden Problemen«.66 Gemeint war der Konvoi der sowjetischen Parteidelega­tion zum X. Parteitag, zu dessen Absicherung die Sicherheitsstufe erhöht wurde. Das schloss rigide Personenkontrollen und Einkreisungen ähn­lich der Praxis von 1973 ein. Bereits seit Mai 1980 verbüßte die Verlobte von Matthias Domaschk eine einjährige Freiheitsstrafe nach § 249, weil sie, wegen »Asozialität« noch auf Bewährung, zweimal zu spät zur Arbeit erschienen war.67 Diese harten Sank­tionen trafen nicht nur sie. Das Jenaer Volkspolizeikreisamt, kurz vor dem Parteitag für ausgezeichnete Leistungen geehrt, war für Intransparenz und Rigidität bekannt. Beschwerden und Anzeigen aus der Bevölkerung gelangten oft nicht einmal bis zur Pforte des Amtes.68 Der § 249 gegen diese sogenannte Asozialität diente nicht nur der Kriminalisierung politisch Unliebsamer, sondern sollte, ausufernd genutzt, deren Umkreis verunsichern. Mit dem Paragrafen sollten die Betroffenen nicht nur sozial deplatziert werden, sondern die Anwendung formaler Gesetz­lichkeit sollte dies obendrein verschleiern.69 Die Jenaer Kriminalpolizei und die MfS-Kreisdienststelle verständigten sich für die weitere Abriegelung vor dem Parteitag auf einen engen Informa­tionsaustausch und abgestimmtes Handeln. Im März 1981 berichtete die Jenaer Polizei: [Die Absicherung] erfordert besonders von der Abteilung K[riminalpolizei] neben der Aufklärung von Straftaten, rowdyhaften Handlungen und kriminelle bzw. kriminell-­gefährdete Gruppierungen ständig exakt vorausschauend zu bewerten, ener­gische Anwendung recht­licher Sank­tionen gegenüber Asozialen und Rückfalltätern, alle kriminalistischen Mittel, Methoden und Verfahren durchzusetzen [Hervorh. d.Verf.].70

66 ThStA Rud, BDVP Gera, 0637, 1 – 3: Aufzeichnungsbücher des Leiters des Sekretariats BDVP Gera 1981 – 1983, 637/3, Bl. 48r. 67 Siehe die plastische Schilderung von Gerold Hildebrandt in Horch und Guck, Sonderheft I (2003), S. 21. Vgl. auch die zeitgenös­sische Schilderung in: Der Spiegel (1983) 7, S. 100. 68 ThStA Rud, VPKA Jena, 19/1: Monat­liche Lageeinschätzungen 1981: Ordnung und Sicherheit 1.3.–31. 3. 1981. 69 Vgl. bes. Thomas Lindenberger: »Asoziale Lebensweise«. Herrschaftslegitima­tion, Sozialdisziplinierung und die Konstruk­tion eines »negativen Milieus« in der SED-Diktatur. In: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 227 – 254; Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR (wie Anm. 62). 70 ThStA Rud, VPKA Jena, 19/1: Monat­liche Lageeinschätzungen 1981: Ordnung und Sicherheit 1.3.–31. 3. 1981.

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Wer konkret als »asozial« und »rückfällig« galt, wurde durch die Feindbilder festgelegt, die die Polizisten und Stasi-­Offiziere jeweils in die Realität umsetzten, nicht jedoch durch konkretes Verhalten der Betroffenen, das bestenfalls als Anlass diente. Stigmatisierte Personen wurden so mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingekreist ( Jürgen Fuchs) und mit Gesetzesmitteln rechtlos gemacht.

4. Einschließen: Der Tod von Matthias Domaschk Aus d­ iesem Blickwinkel zeigt sich die Festsetzung von Peter Rösch und Matthias Domaschk als planvoll organisiert.71 Beide haben eine durchfeierte Nacht mit anschließender Frühschicht hinter sich und freuen sich auf eine Geburtstagsfeier in Berlin. Doch die Beobachtergruppe der Jenaer MfS-Kreisdienststelle hat sie an ­diesem 10. April 1981 längst im Visier und registriert selbst das vor der Abfahrt auf dem Jenaer Saalbahnhof getrunkene Bier.72 So wird auch die legendierte Aussetzung der Schlafenden (!) wegen »Rowdytums« aus dem Zug nach Berlin organisiert. In Jüterbog weckt sie die Transportpolizei. Zunächst werden sie von der Polizei, anschließend von der ört­lichen Staatssicherheit befragt. Sollten diese »Kriminalisten« des Potsdamer Einsatzstabes aber keine für die Arbeitsgruppe verwertbaren Ergebnisse herausfinden, sollen die Betroffenen nach Jena gebracht werden, um dort weiter verhört zu werden. Deshalb hat nach dem Willen der Stasi-­ Offiziere Herbert Würbach und Artur Hermann das Personal der Geraer MfSUntersuchungsabteilung nach Jena anzureisen.73 In der Nacht des 11. April liegt um 3:50 Uhr der Sachstand bei Würbach vor, der jedoch nichts Belastendes ergibt. So wird der Transport zur Dienststelle in Gang gesetzt, der sich wegen technischer Probleme verzögert, sodass das in Jena eintreffende Untersuchungspersonal nach Gera zurückkehrt. Die Kreisdienststelle Jena stimmt nun mit der Abteilung XX ab, die Jugend­lichen »in VP[Volkspolizei]-Begleitung« von Jüterbog nach Gera zu bringen. Allerdings untertreibt diese Formulierung den tatsäch­lichen Sachverhalt bis ins Unkennt­liche, da Rösch und Domaschk in Knebelketten in einem Transportbus des Strafvollzugs von waffentragendem Personal bedroht werden.

71 Das ergibt sich auch aus dem Aktenvermerk vom 10./11. 04. 1981 im OV »Qualle« gegen Peter Rösch, wo vermerkt ist, dass die Beobachtergruppe mit Bildmaterial ausgestattet war, um beide zu überwachen. Siehe auch ThHStAW, StA EF, 4199, Handakten zur Strafsache 520 UJs 11638/93, Bl. 19. 72 Gedächtnisprotokoll Peter Rösch, in: ThürAZ, P-WS-K 3.3. 73 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 13. Das legten Würbach und Hermann in der Nacht vom 10. zum 11. April um 1:30 Uhr fest.

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Die Waffen werden ihnen mit der einschüchternden Bemerkung demonstriert, man könne meisterhaft schießen.74 Allein das verstößt gegen jeg­liche Rechtsnorm. Bereits zu d ­ iesem Zeitpunkt gibt es keinerlei Anhaltspunkte für Vorwürfe gegen die Betroffenen, die allein den Maßstäben der DDR-Justiz standgehalten hätten. Dennoch werden sie ohne recht­liche Grundlage in die Geraer Untersuchungshaftanstalt überführt, wo sie um 23 Uhr eintreffen und bis zum Folgetag fast pausenlos verhört werden. Am 12. April ist Matthias Domaschk laut offizieller Zeitangabe um 14:15 Uhr tot. Die Untersuchungsabteilung der MfS-Bezirksverwaltung Gera setzt am selben Tag eine »Spezialkommission« ein, die den Vorfall schnellstmög­lich zu befrieden und die Reak­tionen insbesondere der Familie unter Kontrolle zu halten hat. Der Staatsanwalt wird telefonisch informiert und ordnet, allerdings erst am Folgetag, eine Obduk­tion an.75 Allein die Zuständigkeit des Staatsanwalts für die Abteilung IA, politische Straftaten, hätte bei den Ermittlungen nach 1989 Aufmerksamkeit auf sich ziehen müssen. Dieser war auch für die Mauertoten zuständig.76 Dies widerspricht der posthumen Behauptung, die Festsetzung Domaschks sei nicht politisch motiviert gewesen, da dieser »im Gegensatz zu Rösch nicht operativ bearbeitet« worden sei. 77 Die Obduk­tion findet laut Protokoll am Montag statt. Obwohl danach eine Fremdeinwirkung nicht auszuschließen ist, und obwohl der Staatsanwalt aufgrund der unklaren Todesursache eine gericht­liche Obduk­tion anordnet, werden weitere Ermittlungen nicht angestellt.78 Nach 1989 kann kein staatsanwaltschaft­ licher Ermittlungsvorgang aufgefunden werden, obwohl dieser notwendigerweise hätte angelegt werden müssen. Bereits am Gründonnerstag, dem 16. April 1981, findet auf dem Jenaer Nordfriedhof die Trauerfeier statt, bei der die Staatssicherheit demonstrativ Eingänge und Friedhofswege überwacht. Hundert Freund_innen aus der gesamten DDR reisen an, obwohl die Nachricht erst am Tag zuvor zu ihnen durchgedrungen ist. Peter Rösch wird für die Dauer der Trauerfeier auf dem Polizeirevier festgehalten 74 So Peter Rösch im Sonderheft I der Zeitschrift Horch und Guck (2003), S. 53. 75 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 88: Anordnung der Staatsanwalt Benndorf vom 13. 4. 1981 [gemäß § 45 (1) der Strafprozessordnung]. Vgl. zu den Untersuchungsaufgaben einschl. Leichenöffnung bei unnatür­lichen Todesfällen, zu denen auch Suizid gehörte: Ingo Wirth/Remo Kroll: Morduntersuchung in der DDR. Berlin 2014, Kap. 9. 76 Hans-­Hermann Hertle: Wie das SED-Regime Gewalttaten an der Berliner Mauer verschleierte. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 45 – 4 6 (2009), S. 37 – 4 4. 77 So die Begründung zur Einstellung des Todesermittlungsverfahrens, siehe ThHStAW, StA  EF, 4229: Verfügung 570 UJs 12133/93 vom 1. 7. 1994, Bl. 136. 78 Zur Gerichtssek­tion Wirth/Kroll: Morduntersuchung in der DDR (wie Anm. 75), S. 354 f.

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Abb. 2  Birke mit Inschrift »Matz 12.6.57 – 12.4.81« am Grab von Matthias Domaschk, Jena 1981: Symbol der verdrängten und sich dennoch formulierenden Erinnerung. Quelle: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«

und muss sich weiter mit einer vorläufigen Personenbescheinigung ausweisen: Ihm wird nicht einmal der ohnehin stigmatisierende Ersatzausweis »PM 12« ausgehändigt. Inoffizielle Mitarbeiter sollen zudem verhindern, dass er ein Gedächtnisprotokoll schreibt, welches an die Öffent­lichkeit dringt, was nicht ganz gelingt.79 Noch am Tag der Trauerfeier wird der Leichnam eingeäschert und nicht, wie die Staatsanwaltschaft 1994 fälschlich mitteilt, vier Tage s­ päter, am 20. April 1981.80 Vorher hat die Staatssicherheit dafür gesorgt, dass keine »unbefugte Person« den

79 Das Gedächtnisprotokoll wurde dennoch überliefert, so im ThürAZ (Bestand Walter Schilling: Mappe zu Übergriffen der Sicherheitsorgane, unvollständig) und in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft (vollständig). 80 Siehe Registerkarte Nr. 73909 Nordfriedhof Jena: Angabe zur Einäscherung von Matthias Domaschk am 16. 4. 1981. Die Urnenbestattung folgt am 26. Juni 1981 im engsten Familienkreis. Siehe das Feuerbestattungsregister, lfd. Nr. 73909, Nordfriedhof Jena. – Zum falschen Einäscherungszeitpunkt in der staatsanwaltschaft­lichen Ermittlung vgl. Staatsanwaltschaft Erfurt Handakten zur Strafsache 570 UJs 12133/93, Band VI, ThHStAW, StA  EF, 4222, Bl. 27. Die Ermittler erhielten diese Auskunft telefonisch, prüften sie jedoch nicht.

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Leichnam zu Gesicht bekommt.81 Im Krematorium finden sich entgegen den Vorgaben keine Unterlagen über die zwingend vorgeschriebene staatsanwaltschaft­ liche Freigabe der Leiche zur Einäscherung,82 ebenso kein Hinweis auf die bei Feuerbestattungen vorgeschriebene Krematoriumsleichenschau.83 Im Gegenteil beschuldigt die Staatssicherheit die Jenaer Junge Gemeinde Stadtmitte (JG), junge Leute systematisch zu Gegnern der DDR erzogen, geschult und materiell unterstützt zu haben.84 Die JG habe inoffizielle Mitarbeiter der Geheimpolizei bei Enttarnung aus ihrem Kreis ausgeschlossen, so dass Domaschk die einzige Alternative im Selbstmord gesehen habe, nachdem er in Gera eine entsprechende Verpflichtung unterschrieben hatte. Gegenüber dem Vater von Matthias Domaschk erwähnt das MfS die IM-Verpflichtung dagegen nicht. Sein Sohn sei nach Gera zwangsverbracht worden, damit sein renitentes Verhalten im Zug nach Berlin geprüft werde, was aber den Tatsachen widerspricht. Der Vater wird auch in den folgenden Wochen durch Gespräche insbesondere mit dem speziell für ihn zuständigen Mitglied der Spezialkommission, Untersuchungsführer Karl-­Heinz Petzold, manipuliert, um die These des selbstverschuldeten Todes zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten. Schließ­lich vermutet der Vater gegenüber der Stasi, sein Sohn habe unter einer psychischen Störung gelitten oder seine Freunde hätten ihn manipuliert. Die Beeinflussung durch den Mitarbeiter der Spezialkommission vertieft bei dem trauernden Vater zumindest vorerst ein Feindbild, das er auf den Verstorbenen und dessen Freunde projiziert und damit vom gefürchteten MfS weglenkt.85 Innerhalb der K ­ irche wird die offizielle Deutung dank der Interven­tion inoffi­ zieller Mitarbeiter in der Thüringer Kirchenleitung und »im Interesse eines guten Verhältnisses« zum Staat schnell übernommen. Oberkirchenrat Hans Schäfer, als 81 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 139. 82 »Die Bestattung ist nur mit schrift­licher Zustimmung des Staatsanwalts zulässig, wobei eine Feuerbestattung ausdrück­lich zu genehmigen ist.« Zit. nach Wirth/Kroll: Morduntersuchung im der DDR (wie Anm. 75), S. 342. 83 Ebd., S. 331. Nach § 14 der Leichenschauanordnung war eine genaue Inspek­tion vor der Einäscherung vorgeschrieben, um sicherzustellen, dass die Todesursache zuvor tatsäch­lich aufgeklärt worden war. Hierzu musste der Bestattungsschein durch »einen in der Leichenschau und von dem für das Krematorium zuständigen Kreisarzt beauftragten Arzt (Krematoriumsarzt)« bestätigt werden. Anderenfalls durfte die Einäscherung nicht erfolgen. Siehe ebd. 84 Der konkrete Vorwurf richtete sich gegen Thomas Auerbach und die weiteren nun in der Bundesrepublik und West-­Berlin ansässigen ehemaligen Jenenser_innen. 85 Nach 1989 ordnete sich dies offenbar, denn er forderte ebenso Aufklärung über den Tod seines Sohnes, weshalb er Anzeige erstattete. Die Manipula­tion hatte demnach langfristig nur in Nebenfeldern (Freunde, Lebensweise) gewirkt, nicht bei der Hauptfrage, wie und durch ­welche Hand der Sohn umgekommen war.

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IME »Gerstenberger« von Artur Hermann vom Geraer MfS-Kirchenreferat XX/4 persön­lich geführt, diszipliniert den Rudolstädter Kreisjugendpfarrer Walter ­Schilling wegen dessen Aufklärungsbemühungen: Er solle sich aus Jena heraushalten.86 Der Thüringer Landesbischof interveniert nicht weiter beim Rat des Bezirkes Gera, da er den Willen der Eltern zum Schweigen über den Tod respektiere.87 Der Stern veröffent­licht am 18. Juni 1981 im Anschluss an einen Beitrag des Senders RIAS vom 21. Mai den ersten Artikel über den Tod. Der Selbstmordthese widersprechen spontan ehemalige Häftlinge; man sei im Gewahrsam »jederzeit« kontrolliert worden, unbeobachtete Momente habe es nicht gegeben. Innerhalb des Stasi-­Apparats wird das Geschehene »konspirativ« behandelt, offiziell gilt auch hier die Version der »Kurzschlussreak­tion«.88 Da sich die Staatsanwaltschaft in ihren Ermittlungen nach 1989 neben den Aussagen der Vernehmer und des Wachpersonals in der Hauptsache auf die sogenannte Todesermittlungsakte des MfS stützt, wird diese nun eingehender betrachtet.

5. Verschleiern Teil 1: Die »Todesermittlungsakte« Diese einzige überlieferte Akte zum Tod von Matthias Domaschk ist als »Allgemeine Personenablage« (AP) 1097/81 deklariert. Die Voraussetzung für das Anlegen einer AP war entweder die Erfassung der Person in einem Sicherungsvorgang oder das Vorliegen von anderem Material, genannt »passive Erfassung«.89 Vorher war 86 Walter Schilling: ich hab gehungert und ihr wart vollgefressen… zum Beispiel: IME ­»Gerstenberger«. In: Lenski u. a. (Hrsg.): Die »andere« Geschichte (wie Anm. 48), S. 347 – 348 und S. 355 – 361. – IME waren Inoffizielle Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz. Dabei unterschied das MfS ­zwischen IM in Schlüsselposi­tionen und Experten-­I M, die Gutachten zu Fragen der Stasi zu ihren Spezialgebieten lieferten. Siehe Siegfried Suckut (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Defini­tionen zur »politisch-­operativen Arbeit«. Berlin ³2001, S. 197 f. (=Artikel Inoffizieller Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz) und S. 345 (=Artikel Schlüsselposi­tion, inoffizielle); – »Gerstenberger« fungierte als IM in einer »Schlüsselposi­tion«. Vgl. dazu und zum Gesamtzusammenhang Schilling: Die »Bearbeitung« der Landeskirche (wie Anm. 48), S. 227. 87 Werner Leich: Wechselnde Horizonte. Mein Leben in vier politischen Systemen. Wuppertal/ Zürich 1992, Taschenbuchausgabe 1994, S. 208. – Bei seiner Darstellung war ihm offensicht­ lich die Bitte der ­Mutter von Domaschks Tochter, Renate Ellmenreich, entfallen, die ihn in einem Brief gebeten hatte, sich um Aufklärung über den Tod zu bemühen. ThürAZ P-ER-K 1.10.: Renate Ellmenreich am 19. 04. 1983 an Bischof Werner Leich. 88 ThHStAW, StA EF, 4222, Bl. 72 – 76. 89 BStU (Hg.): Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit. Berlin 62003, S. 13. – Informa­tionen aus den OV »Pegasus«, OV »Kanzel« und OV »Qualle« gingen partiell in die »AP« ein.

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Matthias Domaschk 1976 bereits nicht nur regional, sondern auf Berliner Ebene sowohl in der Hauptabteilung XX/4 (Kirchen) als auch der HA XX/5 (Links- und Rechtsextremismus, politische Emigranten aus der DDR und anderen sozialistischen Ländern) aktiv in Karteikarten erfasst gewesen.90 Diese Vorerfassungen weisen auf die Feindbilder, mit denen er seit 1976 versehen worden war, und auf die Stigmatisierung des Neunzehnjährigen. Zudem widersprechen sie der staatsanwaltschaft­lichen Feststellung, er sei erst 1981 ins Fadenkreuz der Überwachung geraten. Der Vorgang beginnt am 20. März 1981 und wird erst am 2. Oktober 1981 vom Untersuchungsführer Petzold »gesperrt« und nur für die Geraer Untersuchungsabteilung IX zugäng­lich zur Archivierung verfügt. Diese verplombt die Akte im Januar 1982, öffnet sie bis zum Juni 1982 jedoch mehrfach.91 Die Informa­tionen aus dem Vorgang werden genutzt, um diejenigen, die öffent­lich an den Toten erinnern wollen, zu kriminalisieren. Die Akte ist bis zum Obduk­tionsprotokoll vom 13. April 1981 chronolo­gisch sortiert. Es folgen zeit­lich ungeordnet Dokumente über die Manipula­tion des Vaters, über die Beeinflussung Dritter und Material darüber, wie die geplante Informa­tionssperre über den Tod durchzusetzen ist. Selbst eine Sterbeannonce soll nicht erscheinen dürfen. Verantwort­lich zeichnen die Spezialkommission der Untersuchungsabteilung IX und die Abteilung XX/4 der MfS-Bezirksverwaltung sowie die Jenaer Stasi-­Offiziere Würbach und Köhler. Die Dokumenta­tion zum »unnatür­lichen Tod des Domaschk, Matthias« 92 umfasst ledig­lich 19 der insgesamt 219 Blatt umfassenden Akte, zu denen 47 Blatt Ermittlungsmaterial gegen Dritte aus den Jahren 1979 bis 1982 hinzukommen.93 Sowohl am Ereignisortbericht als auch am Sek­tionsprotokoll fallen unkonkret formulierte Angaben auf. Auch der Zeitpunkt irritiert, an dem der Befund der toxikolo­gisch-­chemischen und gaschromatographischen Untersuchung vorlag: Er wurde erst gut zwei Wochen nach der Einäscherung vorgelegt, obwohl er nach DDR-Recht eine der zwingenden Voraussetzungen für die Einäscherung darstellte.94 90 Fuchs: Magdalena (wie Anm. 14), S. 35. 91 Ein erneuter Hinweis auf Verplombung fand sich im vorliegenden Material nicht. 92 BStU, MfS, BV Gera AP 1097/81, Bl. 76: BVG/IX/Spezialkommission: Ereignisortuntersuchungsprotokoll 12. 4. 1981. 93 Diese 19 Blatt umfassen: den Totenschein (1 Bl. mit Rückseite), das »Ereignisortuntersuchungsprotokoll« (5 Bl.) der Spezialkommission mit Bildbericht (5 Bl. mit Rückseite), die Niederschrift von Ultn. Schaller, der den Toten gefunden haben soll (2 Bl.), die Anordnung zur gericht­ lichen Leichenöffnung von StA Benndorf (1 Bl.), das Obduk­tionsprotokoll und das Ergebnis der toxikolo­gisch-­chemischen und gaschromatographischen Untersuchung vom 29. April 1981 (5 Bl.). BStU, MfS, BV Gera AP 1097/81, Bl. 75 – 93. 94 BStU, MfS, BV Gera AP 1097/81, Bl. 93.

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Die Akte beginnt mit einer Lageeinschätzung zum OV »Qualle« vom 20. März 1981, drei Wochen vor dem X. Parteitag der SED . Dort wird geplant, neben Peter Rösch mehreren seiner Freunde einen stigmatisierenden Ersatzausweis, einen »PM 12« zuzuteilen und sie damit bewegungsunfähig zu machen.95 Insbesondere sollen sie nicht nach Halle, Dresden oder Berlin fahren können. 25 Freund_innen sollen ab sofort mit Observa­tion, Stigmatisierung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit überzogen werden. Die Treffen mit dem ehemaligen Leiter der Jenaer Offenen Arbeit, Thomas Auerbach, und anderen aus der DDR ausgewiesenen Jenenser_innen in Polen oder der ČSSR sollen blockiert werden. Durch MfS-»Scheinkontakte« verfestigt sich das in der Jungen Gemeinde ohnehin grassierende Misstrauen.96 Außerdem wollen Köhler und Hermann sieben (!) Bekannte und Freunde von Peter Rösch zur inoffiziellen Mitarbeit anwerben. Zusätz­ lich wird der Handlungsraum der Jenenser_innen mit der Einkreisung für die Zeit des X. Parteitags und die Wahlen im Mai durch eine »Sicherungskonzep­tion« weiter verengt, wozu Observa­tion und Kontrolle der Betroffenen am Arbeitsplatz gehören. Dafür ist im OV »Qualle« hauptsäch­lich Stasi-­Offizier Horst Köhler zuständig. Für die Dauer des Parteitages bildet jeder Bezirk einen Operativen Einsatzstab (OES).97 Nach der Lageeinschätzung datiert vom 10. April 1981 eine Informa­tion des Operativen Einsatzstabes »Kampfkurs X« in Gera über die »Entdeckung und Aussetzung« von Rösch und Domaschk, die auf keinen Fall nach Berlin gelangen sollen, doch bereits Tage zuvor observiert worden sind. Die Jenaer Kreisdienststelle bildet am Abend des 10. April eine Arbeitsgruppe, die Herbert Würbach leitet und der auch Horst Köhler angehört.98 Diese Gruppe sichtet sämt­liches

95 Dieser Ersatzausweis »PM 12« stigmatisierte DDR-Bürger_innen als »asozial« und damit jederzeit kontrollierbar. Zum Problem der Asozialität u. a. Lindenberger: »Asoziale Lebensweise« (wie Anm. 69), S. 233 f.; Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/ DDR (wie Anm. 62), bes. S. 52 – 60. – Zur Entwicklung des § 249 (Asozialität) auch Joachim Windmüller: Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren …– »Asoziale« in der DDR. Frankfurt am Main u. a. 2006. 96 Das wurde von Dorothea Rost als »Stasi-­Agonie mit gewaltigen Misstrauenssymptomen« adäquat reflektiert. BStU, MfS, BV Gera AP 1097/81, Bl. 7. – So versuchte die Staatssicherheit, das JGMitglied Henning Pietzsch als IM zu werben, und ließ ihn auch nach seiner Ablehnung in dem Glauben, jederzeit über ihn verfügen zu können. BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 4 f. 97 Dort liefen sämt­liche für die »Sicherung« des Parteitages relevanten Informa­tionen zusammen. Sie wurden von der Polizei (Pass- und Meldewesen), Transportpolizei, der MfS-Abteilung XIX (zuständig für Verkehr), der Kreisdienststelle Jena (Rössel) eingespeist und liefen schließ­lich beim Zentralen Operativstab in Berlin zusammen. 98 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 9 – 11. Das geschah um 22 Uhr. Leiter war der Stellvertretende Kreisdienststellenleiter Herbert Würbach, dem zugleich alle der Linie XX zugehörenden Arbeitsbereiche in der Kreisdienststelle und somit auch Horst Köhler unterstellt waren,

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Material und alle Verbindungen der Jugend­lichen auf Relevanz für die eigenen Zwecke, insbesondere zur Zerstörung der Offenen Arbeit. Zur Arbeitsgruppe kommt mit dem Geraer Stasi-­Offizier Artur Hermann aus der Abteilung XX/4 der beste Kenner der Thüringer Kirchenszene hinzu.99 Dieser will spätestens in den Morgenstunden des 11. April den Jenaer Kreisjugendpfarrer Nenke, den er selbst zwölf Jahre lang bis 1974 als IMB »Brenner/Weiß« geführt hat, kontaktieren.100 Nenke soll weitere Anhaltspunkte für mög­liche Befragungskomplexe liefern. An d­ iesem Punkt löst sich die Deckerzählung der angeb­lich von Domaschk und Rösch ausgehenden Gefahr auf, denn vielmehr nutzten die Offiziere der Linie XX auf Kreis- und Bezirksebene die Gelegenheit, um in einer Einkreisungssitua­ tion und mittels Druck gegen die Offene Jugendarbeit vorzugehen.101 Die Verhöre beginnen für Matthias Domaschk kurz nach dem Eintreffen in Gera um 23:05 Uhr und enden offiziell am Folgetag um 12:15 Uhr.102 Die Vernehmung dauert demnach zwölf Stunden in der zweiten Nacht, in der Domaschk und Rösch nicht geschlafen haben. Nun verspricht ein Befragungsprotokoll Aufschluss über die näheren Umstände in der Untersuchungshaftanstalt Gera. Allerdings lässt ­dieses nicht erkennen, wer die Betroffenen wann in welchem Raum vernommen hat. Ledig­lich die Rahmendaten erweisen sich auch nach Durchsicht der Zeugenaussagen als belastbar. Im Protokoll wird die Richtigkeit der Angaben vom jeweiligen Untersuchungsführer der Untersuchungsabteilung IX unterschrift­lich bestätigt, doch tatsäch­lich waren außerdem die operativen Mitarbeiter der Linie XX aus Jena und Gera anwesend. Ledig­lich

dieser jedoch als Parteisekretär der KD diese Unterstellung aufwog. Zu Herbert Würbach siehe Lenski: Durchherrschter Raum? (wie Anm. 41), S. 539. 99 Vgl. Lenski u. a. (Hrsg.): Die »andere« Geschichte (wie Anm. 48), S. 9. – Zum Kontext und zu Hermanns Einbindung Clemens Vollnhals: Die kirchenpolitische Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. In: ders. (Hrsg.): Die Kirchenpolitik (wie Anm. 48), S. 93 – 95. 100 BStU, MfS, BV Gera 1107/81, Bl. 12. Siegfried Nenke ließ sich 1962 zum »inoffiziellen Mitarbeiter mit Feindberührung« (IMB) anwerben. Er wurde erst hauptsäch­lich im »Weimarer Arbeitskreis« und seit spätestens 1977 als Jenaer Kreisjugendpfarrer für die Geheimpolizei aktiv. Obwohl Vertrauensperson der Heranwachsenden, ließ er sich fast dreißig Jahre lang bis 1989 auf einen andauernden, systematischen und institu­tionalisierten Vertrauensbruch ein. Reg.-Nr. BStU, MfS, BV Gera X 643/62 (lfd.). Siehe dazu Schilling: Die »Bearbeitung« der Landeskirche (wie Anm. 48), S. 223. – Zur Kategorie des IMB vgl. Suckut (Hrsg.): Wörterbuch (wie Anm. 86), S. 187 (= Art. Inoffizieller Mitarbeiter, Feindkontakt) und S. 197 (= Art. Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindkontakt […]); siehe dazu außerdem Sandra Pingel-­Schliemann: Zersetzen. Strategie einer Diktatur. Berlin 2002. 101 Das bestätigt sich auch durch die Vernehmung von Werner Benndorf im Jahr 2000. Vgl. ThHStAW, StA EF, 4201, Bl. 86 – 89. 102 Mit einer halbstündigen Unterbrechung um jeweils 3 Uhr und 6 Uhr.

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die Mitarbeiter der Untersuchungsabteilung quittieren den Vorgang; für Matthias Domaschk Leutnant Peißker, für Peter Rösch Oberleutnant Hans-­Joachim Seidel, doch keiner der Beteiligten der Linie XX. Der Rangniedrigste unterzeichnet das Protokoll zur Vernehmung von Matthias Domaschk, die am längsten dauert. Laut d­ iesem Protokoll nimmt dort zeitweise der Leiter des Referats I »hohe Gesellschaftsgefähr­ lichkeit« der Untersuchungsabteilung, Dieter Strakerjahn, teil. Wer die Verhöre tatsäch­lich führt, bleibt offen. Köhler und Hermann sind am 11. und 12. April in Gera anwesend, Würbach streitet es heute ab, obwohl er die Arbeitsgruppe leitete. Die Th ­ emen des Verhörs beziehen sich nicht etwa auf die Gefährdung des Parteitages, sondern auf die Offene Arbeit, deren Protagonisten und die Ereignisse um die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976. Ein direkter Bezug besteht also in der Verfolgungstradi­tion der 1970er Jahre zum OV »Pegasus«, zum OV »Kanzel« und zum OV »Qualle« gegen Peter Rösch. Die beiden letzten Operativvorgänge hat Horst Köhler in der Hand. Die Befragungskomplexe deuten auf dessen ­Ak­tions­ feld und das Artur Hermanns, der zugleich gegen den Pfarrer der Offenen Arbeit Thüringens, gegen Walter Schilling, im OV »Spinne« arbeitet und inoffizielle Mitarbeiter des MfS in der Thüringer Kirchenleitung anleitet. Mit der Ak­tion »Kampfkurs« schuf das MfS somit eine Drucksitua­tion, in der es schneller an Informa­tionen zu gelangen suchte und handgreif­licher intervenierte. Dies stimmt mit dem eingangs genannten Plan überein. Der »Schutz der Parteifunk­tionäre« diente demnach ledig­lich als Argument, um »Voraussetzungen« für diese Einkreisung herzustellen.103 Nach den Befragungsprotokollen von zwei weiteren Betroffenen, die ebenfalls festgesetzt worden waren, schließt sich der unvollständig ausgefüllte Totenschein an, der eine »traumatische Strangula­tion« bescheinigt. Am Folgetag bestätigt der Erstobduzent unterschrift­lich als Todesursache »Erhängen«. Die äußere Ursache wird mit »Selbstmord durch Erhängen« beschrieben. Es folgt nicht etwa das Sek­tionsprotokoll, sondern das »Ereignisortuntersuchungsprotokoll« der Spezialkommission der Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung Gera vom 12. April 1981.104 Dabei wird 103 Zu den IM-Werbungen: Auch eine der beiden nach Gera 1981 ebenfalls zufällig festgesetzten Frauen wurde als IM kontaktiert, was zu überprüfen wäre. Aus d ­ iesem Grund entsteht die Frage, warum Matthias Domaschk nicht schon längst angeworben worden war, denn schließ­ lich hatte er sich während der Biermann-­Verhöre und während seines Wehrdienstes ebenfalls in ähn­lichen Einkreisungssitua­tionen befunden. 104 Zu ihr gehören vier Mitarbeiter, die auf Weisung des Leiters der Abteilung um 15:05 Uhr am »Ereignisort« eintreffen. Darunter der Untersuchungsführer Oltn. Petzold und für die Spurensuche und -sicherung Oltn. Barth.

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­deutlich, dass der als Tatort vorausgesetzte ­Fundort nicht hinterfragt wird. Die Spezialkommissare protokollieren, der Fundort sei von Wachmann Schaller und MfS-Haftarzt Hagner wegen Wiederbelebungsmaßnahmen verändert worden. Wie der Fundort verändert wurde, bleibt offen. Was ebenso unerwähnt bleibt, ist die Anwesenheit von drei weiteren MfS-Mitarbeitern am Fundort: von Strakerjahn, Hermann und Köhler.105 Die Spezialkommission trifft laut Protokoll um 14:40 Uhr ein und nimmt den Fundort, das Besucherzimmer der Untersuchungshaftanstalt, als Ereignisort hin, ohne zu fragen, wie der Betroffene dorthin gelangt ist.106 Es folgt der kurze Bericht des Wachmanns, der Matthias Domaschk gefunden, ihn gemeinsam mit Strakerjahn vom Heizungsrohr gelöst und Reanima­tionsmaßnahmen durchgeführt haben will, bis 14:30 Uhr der Anstaltsarzt eintrifft und den Tod bescheinigt. Es ­seien keine weiteren als die beschriebenen Veränderungen vorgenommen worden. Von einer Untersuchung kann demnach nicht die Rede sein, sondern ledig­lich von dem Protokoll einer vorgefertigten Situa­tion.107 Ein irritierender Exkurs: Die Aussage des Staatsanwalts für politische Straftaten Noch während Peter Rösch um 14:15 Uhr im Auto auf dem Hof der Untersuchungshaftanstalt auf den Rücktransport wartet, sieht ihn vom Besucherzimmer, also vom Fundort aus der Staatsanwalt Werner Benndorf. Dieser hält sich demnach zum Zeitpunkt des »Auffindens« von Matthias Domaschk bereits dort auf: Vor Ort wurde mir von einem Untersuchungsführer der Sachverhalt erklärt. Mir wurde gesagt, dass die beiden Personen entlassen werden sollten. Während der eine »fertiggemacht« wurde, habe sich der andere im Besucherraum erhängt. Das Fenster im Besucherraum hat die Blickrichtung nach außen. Ich kann mich daran erinnern, dass im Hof, damit meine ich den Innenhof der Haftanstalt, die zweite Person im Auto zur Verbringung nach Hause saß.108

105 So u. a. die Einlassung Horst Köhlers vom 20. Januar 1994, vgl. ThHStAW, StA EF 4221, Bl. 106 – 120, hier Bl. 113. 106 Dieser befand sich neben dem Raum 119, in dem sich Peter Rösch bis zu seiner Entlassung aufhielt. 107 Man könnte dem entgegenhalten, dass die Situa­tion ja schließ­lich fotografisch dokumentiert worden ist. Allerdings sind auch hier diverse Anhaltpunkte für ein Arrangement zu finden, die sich bei einer Nachstellung der Situa­tion leicht verdeut­lichen ließen. Zur Stasi-­Fotografie vgl. Karin Hartewig: Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit. Berlin 2004; dies./ Alf Lüdtke (Hrsg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat. Göttingen 2004. 108 Siehe die Zeugenaussage Benndorfs ThHStAW, StA EF, 4201, Bl. 86.

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Diese Situa­tion ist der Todesakte nicht zu entnehmen, sie wurde nicht protokolliert. Erst mit der Zeugenaussage des ehemaligen politischen Staatsanwalts wurde im Jahr 2000 offenbar, dass er den Ort des Geschehens bereits aufgesucht hatte, als er laut Akte erst noch herbeigerufen werden sollte. Daraus ergibt sich eine Version, die nicht so recht ins Bild passen will, denn der »Ruf nach dem Arzt« wird somit unglaubwürdig. Wenn Staatsanwalt wie auch Spezialkommission bereits im Besucherzimmer anwesend waren, als Peter Rösch auf seine Heimfahrt wartete, musste der Tod früher eingetreten sein, als dem Zeugen Peter Rösch suggeriert werden sollte, zumal dieser bereits gegen 15 Uhr nach Jena zurückgekehrt war.109 Laut MfS-Dokumenta­tion traf die Spezialkommission erst ein, nachdem der Arzt den Toten untersucht hatte, näm­lich um 14:40 Uhr. Diente der »Ruf nach dem Arzt« der Legitima­tion der Erzählung davon, dass sich Domaschk in einem unbeobachteten Moment kurz vor der Entlassung umgebracht habe? Tatsäch­lich diente ­dieses als stärkstes Argument der Verfahrenseinstellung 1994: Peter Rösch habe selbst den Ruf nach einem Arzt gehört.110 Die Aussage des Staatsanwalts im Jahr 2000 dagegen zeigt, dass es sich ebenso um eine Inszenierung gehandelt haben kann, die Rösch eine glaubhafte Begründung liefern sollte, warum sein Freund nicht gemeinsam mit ihm entlassen wurde.

6. Verschleiern Teil 2: Allgemein bleiben, Konkre­tion meiden In der Akte schließt sich nun die Anordnung zur gericht­lichen Leichenöffnung vom 13. April an, die der Staatsanwalt für politische Straftaten erteilte.111 Ein Aktenzeichen wurde für den Vorgang nicht vergeben, obwohl mit der Bestimmung der Todesursache sowie toxikolo­gischen und feingeweb­lichen Untersuchungen weitergehende Befunde angefordert worden waren.112

109 Vernehmung Peter Röschs am 21. 6. 1990 durch StA Berlin, in: ThHStAW, StA EF, 4199, Bl. 102. Rösch hatte nach eigener Aussage drei bis vier Minuten im Auto gewartet, als er den Ruf nach einem Arzt hörte. Er konnte demnach nicht wissen, um ­welchen konkreten Sachverhalt es sich handelte. Siehe hierzu Vernehmung Peter Rösch am 20. 1. 1983, in: ThHStAW, StA EF, 4226, Bl. 9. 110 Davon abgesehen basiert die Annahme, dieser Ruf habe in Bezug zu Domaschk gestanden, auf den Aussagen der potentiellen Täter. 111 Das im Jenaer Universitätsarchiv vorzufindende Exemplar wies als Absender den Bezirksstaatsanwalt aus. 112 Tatsäch­lich waren anwesend: Staatsanwalt Wöhrl und ein Vertreter des MfS, so das anliegende Obduk­tionsprotokoll vom 13. April. Unterzeichnet wurde das Protokoll von Oberarzt Dr. Manfred Disse und Dipl-­Med. Sascha Rommeiß.

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Eine Leichenöffnung ist nicht notwendig, wenn sich »die Todesursache schon durch die Besichtigung des Leichnams und Fundortes eindeutig klären« 113 lässt. Warum also wurde die Autopsie angefordert?114 Offenbar bestanden entgegen den überlieferten Angaben Unsicherheiten. Die Obduk­tion fand am 13. April 1981 in der Rekordzeit von 10:00 bis 10:40 Uhr im Gerichtsmedizinischen Institut der Jenaer Universität statt. Im Widerspruch zum Totenschein wurde dort als Todesursache nicht »erhängen«, sondern »Strangula­tion« protokolliert. Die Todesursache wurde demnach im Gegensatz zu den Behauptungen der Staatssicherheit nicht eindeutig festgestellt. Nicht einmal die Abteilung IX der Bezirksverwaltung Gera legte sich auf einen Suizid fest, als sie kurz darauf dem Stellvertretenden MfS-Minister Rudi Mittig mitteilte, dass »als Todesursache eindeutig Strangula­tion festgestellt« wurde.115 Der Begriff der Strangula­tion umfasst sowohl »Erdrosseln«, »Erwürgen« als auch »Erhängen«.116 Zudem besteht die Mög­lichkeit eines Reflextodes nach Gewalteinwirkung am Hals des Betroffenen.117 Die MfS-Dokumenta­tion dagegen konstruierte alle Argumente auf einen Suizid hin und schuf somit eine Eindeutigkeit, nach der sich jede andere Ermittlungsrichtung verbot. Das Sek­tionsprotokoll entspricht ledig­lich auf den ersten Blick und nur formal den Regularien, doch der Widerspruch zum Totenschein lässt sich nicht aufklären. In den Bestimmungen zur gericht­lichen Obduk­tion heißt es, der Bericht über die Sek­tion gelte so lange als vorläufig, bis die Ergebnisse der Zusatzanalysen vorgelegt worden ­seien.118 Allerdings fehlt das Ergebnis der feingeweb­lichen Untersuchungen gänz­lich, und erst am 29. April 1981, lange nach der Einäscherung des Toten, sandte der Gerichtschemiker den toxikolo­gischen Befund an den Staatsanwalt.119

113 Sek­tion Rechtswissenschaft der Humboldt-­Universität zu Berlin (Hrsg.), Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Luther: Strafverfahrensrecht. Lehrbuch. Berlin 1982, S. 195. 114 Selbst nach den Verwaltungssek­tionsvorschriften sollte diese, allerdings nicht zwingend, vorgenommen werden. Wirth/Kroll: Morduntersuchung (wie Anm. 75), S. 329 f. 115 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 101: Ergänzung zum Bericht vom 12. 04. 1981 am 16. 04. 1981. 116 Mark Buchta/Dirk W. Höper/Andreas Sönnichsen (Hrsg.): Das Zweite StEx. Basiswissen Klinische Medizin für Examen und Praxis. Heidelberg/Berlin 22004, S. 1269 – 1270. 117 Randolph Pennig: Rechtsmedizin systematisch. Bremen ²2006, S. 114. Durch Reizung des Karotinussinus und anderer Nervus-­Vagus-­Bahnen konnte es zum reflektorischen Blutdruckabfall mit Herzstillstand kommen. 118 Wirth/Kroll: Morduntersuchung (wie Anm. 75), S. 338 f. 119 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, Bl. 93: Gerichtschemiker Demme am 29. 04. 1981 an Bezirksstaatsanwalt.

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Der endgültige Obduk­tionsbericht ist nicht aufzufinden; die staatsanwaltschaft­ liche Freigabe des Leichnams zur Feuerbestattung fehlt.120 Entgegen der gesetz­lichen Bestimmungen, untersuchungsmethodisch stets »wie bei der Aufklärung von Tötungsdelikten vorzugehen«,121 war der Leichnam bereits eingeäschert worden, bevor überhaupt ein rechtskräftiger Autopsiebericht vorgelegen hatte.122

7. Die Bedeutung des Falls im Kontext der Verfolgung Offener Jugendarbeit Der letzte Teil der Akte setzt sich besonders aus Informa­tionen und Plänen zu zwei Schwerpunktvorgängen zusammen, die mit Haft und Zersetzung gegen die kirch­liche Offene Jugendarbeit in Thüringen und Halle gerichtet waren. In Halle war vor dem X. Parteitag unter anderem der Frontmann der Kultband »Bettelsack«, Gunter Preine, verhaftet worden und erhielt wegen einiger Satiren über die Volkspolizei zweieinhalb Jahre Gefängnis.123 Preine pflegte enge Kontakte zur Offenen Arbeit in Halle, die dortige Staatssicherheit arbeitete im OV »Konventikel« auf die Festnahme des Hallenser Sozialdiakons Lothar Rochau hin.124 Sie zielte auch auf Walter Schilling, den Pfarrer der Offenen Arbeit in Thüringen (OV »Spinne«). Dafür war zu jenem Zeitpunkt bereits erwähnter Artur Hermann in der Bezirksverwaltung Gera als Referatsleiter XX/4 zuständig. Matthias Domaschk und Peter Rösch waren in Gera intensiv zu den Hallensern befragt worden, und nach seiner Entlassung versuchte das MfS, Peter Rösch 120 Vgl. Wirth/Kroll: Morduntersuchung (wie Anm. 75), S. 342. 121 Ebd., S. 343. 122 Das wird durch die Aussage Pitzlers erhärtet, der durch Disse von der Existenz eines zweiten Gutachtens wusste. Vgl. ThHStAW, StA  EF, 4231, Bl. 30 f. und 4226, Bl. 31. Disse selbst hatte das 1991 ebenso eingeräumt, die Aussage jedoch erneut revidiert. ThHStAW, StA EF, 4216, Bl. 59: Vermerk 7. 1. 1991. 123 Wolfgang Leyn: Volkes Lied und Vater Staat. Die DDR-Folkszene 1976 – 1990, mit Beiträgen von Ralf Gehler und Reinhard Ständer, Berlin 2016, S. 179, 267 und 317. 124 Nach Bearbeitung im OV »Konventikel« verhaftete das MfS 1983 den Hallenser Jugenddiakon Lothar Rochau, der nach Androhung von drei Jahren Haft schließ­lich in die BRD ausreiste. Zu dem noch weitgehend unerforschten Problem liegt eine Studie des ehemaligen Oberkirchenrates Rudolf Schulze vor: Die Konflikte um den Jugenddiakon Lothar Rochau und seinen Dienst in Halle-­Neustadt 1981 – 1983. Hannover 1996, die jedoch hauptsäch­lich dem Ziel der Rechtfertigung untergeordnet ist. – Zuletzt der schmale Band von Sebastian Bonk/ Florian Key/Peer Pasternack (Hrsg.): Rebellion im Plattenbau. Die Offene Arbeit in Halle-­Neustadt 1977 – 1983. Halle-­Wittenberg 2013.

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analog der Repression in der Saalestadt zu inhaftieren. Er erhielt noch nicht einmal mehr den Ersatzausweis »PM 12«, sondern hatte sich täg­lich um zwölf Uhr auf dem Jenaer Polizeirevier zu melden.125 Schon mit dem »PM 12« war er jederzeit kriminalisierbar, doch ohne jedes Dokument verengte sich sein Bewegungsraum so drastisch, dass er sich gezwungen sah, 1982 nach Westberlin auszureisen. Zur Situa­tion im Jahr 1981 ist sein Bericht aufschlussreich, den er anläss­lich des 25. Jahrestages zum Tode Matthias Domaschks am 1. April 2006 gab: Ich bin hoch in die Hals-­Nasen-­Ohren-­Klinik gegangen, […] da kam der Stasi-­Mann mit ins Behandlungszimmer rein, da hat der Arzt gefragt: »Ja, wer ist denn das?« Ich sage: »Das ist mein Stasi-­Mann, der auf mich aufpasst.« Und da hat der den dann rausgeschmissen […]. Ja, und ich hatte dann zusätz­lich außer den dreien [die ihn observierten, Anm. d. Verf.] auch noch die Auflage, jeden Mittag um zwölf mich beim VPKA [Volkspolizeikreisamt] zu melden […]. Und das ist ein Leben, das macht ganz müde.126

Entgegen der Vermutung, die Staatssicherheit könnte die Zersetzungstaktik angesichts des tra­gischen Todes vernachlässigt haben, wird deut­lich, dass sie ganz im Gegenteil die nun geschaffene Druck- und Einkreisungssitua­tion weiter aufrechterhielt und den Betroffenen seiner (gesetz­lich garantierten) Handlungsmög­ lichkeiten beraubte: bis zu dem Punkt, an dem ihm nur noch die von der Geheimpolizei offerierte Mög­lichkeit blieb, das Land zu verlassen. Walter Schilling aus Braunsdorf zu vertreiben misslang. Dies war nicht der Unterstützung der Kirchenleitung zu verdanken, aus der mehrere Oberkirchenräte eng mit Artur Hermann und Klaus Rossberg, dem Stellvertretenden Leiter der Berliner Hauptabteilung XX/4 kooperierten.127 Ihn schützten seine Posi­tion als alteingesessener Pfarrer mit langjährigen Netzwerken und dem darauf fußenden Umgang mit Repression vor dem Entzug des Personalausweises und vor der Kriminalisierung, wie sie die Jugend­lichen erdulden mussten.128 Da dem Abteilungsleiter IX in Gera, Hans-­Jürgen Seidel, und seinem Leiter der Spezialkommission, Petzold, zur Ablage des entstandenen Materials keine 125 Bei der Entlassung am 12. April 1981 hatte man ihm einen Zettel mit seinem Namen und seiner Anschrift in die Hand gedrückt: Er solle sich am nächsten Tag auf dem VPKA melden. Siehe den Tagungsmitschnitt 2006 im ThürAZ und Peter Rösch im Sonderheft I der Zeitschrift Horch und Guck (2003), S. 54. 126 Mitschnitt des Geraer Symposiums vom 1. April 2006 (wie Anm. 26). 127 Siehe Walter Schilling: Die »Bearbeitung« der Landeskirche (wie Anm. 48), S. 211 – 266; Lenski u. a. (Hrsg.): Die »andere« Geschichte (wie Anm. 48), hier S. 5 – 22, 99. 128 Allerdings versuchte die Staatssicherheit immer wieder, seinem Ruf zu schaden und ihn mora­ lisch zu diskreditieren, was jedoch im Gegensatz zu anderen Fällen nicht gelang.

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weitere Akte zur Verfügung stand, wies Ersterer im Oktober 1981 an, die Unterlagen der Spezialkommission in die vorhandene Personenablage einzufügen und diese ausschließ­lich für seine Abteilung zugäng­lich zu archivieren.129 Zum Anlass der Archivierung hieß es: »Am 12. 4. 1981 beging der D. Suizid.« Das Geschilderte zeigt, dass die Akte nicht dem Ziel diente, die Umstände des Todes zu ermitteln, sondern im Gegenteil eine nähere Aufklärung darüber zu verhindern. Vielmehr sammelten sich in der Akte zunächst Denunzia­tionen und belastende Informa­tionen gegen Matthias Domaschk und Peter Rösch und anschließend gegen die Verwandten und Freund_innen des Toten. Die Akte dokumentiert, wie die Staatssicherheit auch nach dem tra­gischen Tod Domaschks die Zersetzungsmaßnahmen gegen die kirch­liche Offene Arbeit und unangepasste Jugend­liche fortführte und sogar intensivierte.

8. Verfestigen: Die Fragen der Staatsanwaltschaft Obwohl die Thüringer Justiz sich noch im Dezember 1990 dafür ausgesprochen hatte, die 1981 unterlassenen Ermittlungen nachzuholen,130 wurde dies nicht realisiert. Die Akten des Todesermittlungsverfahrens, das von 1990 bis 1994 hauptsäch­lich von der Erfurter Staatsanwaltschaft geführt wurde, basieren wesent­ lich auf der oben diskutierten »Todesermittlungsakte« des MfS. Damit stützte sich die Staatsanwaltschaft in Ermangelung eines regulären staatsanwaltschaft­lichen Leichenvorgangs auf diejenige Akte, die eine Realität zweiter Ordnung generiert hatte, um die Todesumstände nicht aufzuklären, sondern zu verschleiern. Diese Akte wurde nicht entsprechend ihrer geheimpolizei­lichen Funk­tion entschlüsselt, sondern im Gegenteil nun zu einem Ermittlungsvorgang umfunk­tioniert. Dabei merkte selbst die Staatsanwaltschaft in der Begründung zur Einstellung des Todesermittlungsverfahrens an, das MfS habe diese Akte zur Rechtfertigung des eigenen Vorgehens zusammengestellt.131 Dennoch übernahmen die Ermittler nicht nur das Feindbild der Geheimpolizei, sondern folgten auch der Deckerzählung vom angeb­lichen Suizid. Nun hätte nach 1989 die Chance bestanden, die zeitgenös­sische Presse oder auch die Aussage des mit dem Erstobduzenten befreundeten chirur­g ischen

129 BStU, MfS, BV Gera, AP 1097/81, unpag.: Abverfügung zur Archivierung 2. 10. 1981. 130 Vgl. ThHStAW, StA EF, 4231, Bl. 2 f.: Thüringer Justizministerium 6. 12. 1990: Todesermittlung. 131 Vgl. ThHStAW, StA EF, 4229, Bl. 38.

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Chefarztes Kurt Pitzler heranzuziehen.132 Im Mai 1981 hatte Gerichtsmediziner Manfred Disse diesen ins Vertrauen gezogen: Nach seinem Obduk­tionsbefund sei ein Selbstmord von Domaschk mit Sicherheit auszuschließen, da er A ­ bdrücke am Hals des Toten gefunden habe, die von einem hinter d­ iesem Stehenden stammen mussten. Das habe er protokolliert, doch am Tag nach der Obduk­tion ­seien Angehörige des MfS bei Disse erschienen: Er solle das Protokoll ändern, was er verweigert habe.133 Darauf habe ihm die Direktorin des Gerichtsmedizinischen Instituts, Christiane Kerde, den Fall entzogen. Tatsäch­lich wurde Kerde häufig mit »schwierigen Begutachtungsfällen« 134 betraut und für ihre Verdienste mehrfach von den Sicherheitsorganen ausgezeichnet.135 Pitzler, nun aus der DDR ausgereist, hatte dies beim BND ausgesagt, die Aussage ­später aus Sorge um zwei DDR-Bürger zurückgezogen, aber nach 1989 erneuert und bekräftigt.136 Noch 1992 hatte der Oberstaatsanwalt ­dieses Zeugnis als wichtig und glaubwürdig bewertet.137 Doch in der Begründung zur Verfahrenseinstellung ließ man es als »unglaubwürdig« unter den Tisch fallen. Da Pitzler seine Aussage vor 1989 zurückgezogen und sich nach 1989 nicht mehr an jedes Detail erinnert habe, sei er als nicht glaubwürdig einzuordnen. Den lückenhaften und sich deut­lich widersprechenden Erinnerungen der einstmaligen MfS-Mitarbeiter dagegen glaubte man. Die Staatsanwaltschaft setzte damit Rechtssicherheit und Gesellschaftskontinuität voraus, die real nicht existierten. Es wurde nicht gefragt, wie es ursprüng­ lich zur Rücknahme der Aussage gekommen und ob Pitzler oder andere Personen unter Druck gesetzt worden waren, wie es auch der 1977 nach West-­Berlin ausgereiste ehemalige Leiter der JG Mitte Thomas Auerbach erlebt hatte, der nach

132 Kurt Pitzler (geb. 1930), FSU Jena, Dozent und Oberarzt Chirurgie, 1967 SED, Mitglied der Arbeitsgruppe Rheumatologie, 1982 Ausreise in die BRD. 133 ThHStAW, StA EF, 4229, Bl. 61: StÄ Wolf/Gera: Aktenvermerk 16. 04. 1991. 134 UAJ, PA Med 19089, Bl. 109: Gewährung eines Steigerungssatzes (1984). 135 Christiane Kerde, geb. 1933, Fachärztin für gericht­liche Medizin, 1967 Habilita­tion/HUB: Artifizielle Immunisisierung von Menschen zur Herstellung von Anti-­Rh-­Seren, seit 1973 Direktorin des Instituts für gericht­liche Medizin der FSU Jena, 1968 Verdienstmedaille der NVA in Gold, 1977 Verdienstmedaille der Organe des Ministerium des Innern in Gold, 1979 Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland, 1990 invalidisiert. Vgl. UAJ, PA Med 19089. 136 ThHStAW, StA  EF, 4217, Bl. 194: Pitzler siedelte am 24. 1. 1982 in die BRD über. Am 24. 2. 1982 wurde er vom BND München befragt. Es schlossen sich sechs (!) weitere Befragungen am 26. 4. 1983, 10. 5. 1983, 18. 5. 1983, 13. 3. 1990, 23. 7. 1991, 23. 9. 1991 an. Vgl. ThHStAW, StA  EF, 4222, Bl. 2. ThHStAW, StA  EF, 4229, Bl. 61. Er wurde also vor 1989 viermal, nach 1989 dreimal befragt (!). Vgl. ThHStAW, StA EF, 4226, Bl. 31. 137 ThHStAW, StA EF, 4231, Bl. 30 f.

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dem Tod nächt­liche Drohanrufe erhalten hatte, um zu verhindern, dass er die Medien informiert.138 Die Sachlage wurde also ins Gegenteil verkehrt und den Aussagen ehemaliger Täter sowie potentieller Tatverdächtiger höhere Glaubwürdigkeit eingeräumt als dem vergleichsweise unbeteiligten Zeugen Pitzler. Es wurde vorausgesetzt, dass die Angehörigen der Geheimpolizei rechtsförmig gehandelt hatten und kein Interesse der unmittelbar Beteiligten bestand, das Geschehen zu verschleiern. Auch bei der Inanspruchnahme der recht vorsichtig formulierten Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen zeigt sich das Muster, diese einseitig zur Festigung der Selbstmordthese heranzuziehen, obwohl sie breiten Raum für Interpreta­tionen lassen. Widersprechende Aussagen werden bei den Ermittlungen außer Acht gelassen, an den Rand gedrängt, für unglaubwürdig befunden. Um dieser Logik folgen zu können, mussten sich die Ermittler am intendierten Muster der MfS-Akte orientieren und mit vier unhinterfragten Vorannahmen argumentieren. Diese gingen davon aus, dass es sich erstens bei der Festsetzung der Betroffenen nicht um einen rechtsstaatswidrigen Vorgang gehandelt hatte. Zudem musste vorausgesetzt werden, dass zweitens die Zeiten der Vernehmungen korrekt angegeben waren und drittens die Orte des Aufenthaltes des Toten den Angaben der ehemaligen MfS-Mitarbeiter entsprechend wahrheitsgemäß dokumentiert worden waren. Schließ­lich ging man viertens davon aus, dass ein bürokratisch normales Prozedere und damit eine »Todesermittlung« stattgefunden hatte. Diese Voraussetzungen bestätigen sich nach Analyse der Details nicht. Bei einer unnatür­lichen Todesursache hatten die Ermittlungsorgane auch nach DDRRecht untersuchungsmethodisch analog zur Aufklärung eines Tötungsverbrechens vorzugehen.139 Diese Ermittlungen waren im Fall »Matthias Domaschk« nicht vorgenommen worden und hätten nach 1989 nachgeholt werden müssen. Doch trotz einiger Aufklärungsansätze unterblieb dies schließ­lich. Dagegen wurden sogar Erklärungen zur Rechtfertigung der Widersprüche herangezogen, die jede Chance auf eine Aufklärung des tatsäch­lichen Geschehens verstellten, da sie der MfS-Logik folgten. Im Folgenden sind deshalb mehrere offene Fragen zu thematisieren, die auch das Ausmaß der Problematik umreißen.

138 Gerold Hildebrand: Trauer, Wut und Anklage. Nach dem Tod von Matthias Domaschk. In: Horch und Guck, Sonderheft I (2003), S. 35 – 4 4. 139 Wirth/Kroll: Morduntersuchung (wie Anm. 75), S. 343.

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9. Offene Fragen Insbesondere die Auffindesitua­tion und das Verschwinden essentieller Beweise sind Anlass konkreter Nachfragen. Die Literatur betont, das Erhängen sei einer der am häufigsten verschleierten Tatbestände unter den Mordtaten, weshalb die Tatortsitua­tion und die Spuren systematisch zu sichern sind. Die Kernfrage ist dabei, WIE der Tote an den Fundort gelangte. Bei der Betrachtung der Leiche geht es also nicht nur um den gestorbenen Menschen selbst, sondern auch um den Beweis der Tat. Insbesondere sind die Füße, die Haltung der Leiche, Lokalisa­tion der Leichenflecke, Totenstarre sowie Verletzungen des Opfers zu untersuchen und zu dokumentieren. Zur Auffindesitua­tion ist bereits frag­lich, ob das Besucherzimmer der Tatort war. Zum Aufenthalt von Matthias Domaschk liegen sich widersprechende und lückenhafte Aussagen der MfS-Mitarbeiter vor.140 Ebenso können die Zeiten des Befragungsendes nicht genau erinnert werden. Bereits kurz nach dem Ereignis differieren sie nicht um Minuten, sondern um Stunden. Angeb­lich habe man ein späteres Ende der Befragungen notiert, um die Betroffenen nicht sofort freilassen zu müssen. Dies wiederum stimmt nicht mit der Befragung von Peter Rösch überein, bei dem das Befragungsende mit 6 Uhr am Morgen des 12. April 1981 angegeben wurde. Tatsäch­lich wurde er anschließend jedoch weiter befragt und erst um 14:15 Uhr zum Rücktransport in den Hof gebracht.141 Es handelt sich demnach entgegen der Einschätzung der staatsanwalt­lichen Ermittler nicht um eine »glaubhafte Aussage« der ehemaligen MfS-Mitarbeiter Peißker und Hans-­Joachim Seidel.142 Am Fundort nahm der Anstaltsarzt nur den Oberkörper von Matthias Domaschk in Augenschein und nicht, wie vorgeschrieben, den gesamten Körper. Zwar mutmaßte er, der Tote sei bereits um 14 Uhr tot gewesen und nicht erst um 14:15 Uhr, was jedoch nicht, wie üb­lich, durch eine Temperaturmessung des Körpers geklärt wurde.143 Gerade beim Tod durch Erhängen ist es wichtig, die Füße zu untersuchen, da besonders die Totenflecke an den Füßen auf das Erhängen hinweisen. Doch nirgendwo findet sich darauf ein Hinweis. Dass der Staatsanwalt am 12. April vor Ort war, ist in der Akte nicht dokumentiert. Laut seiner eigenen Aussage war er jedoch bereits am Tatort, als laut anderer Aussagen nach einem Arzt gerufen wurde, also spätestens um 14:20 Uhr. 140 So auch das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens wegen Freiheitsberaubung. 141 BStU, MfS, BV Gera AP 1097/81, Bl. 52: Befragungsprotokoll Peter Röschs: Beginn 11. 4. 1981 um 23:00 Uhr bis 12. 4. 1981 um 2:00 Uhr, weiter 2:30 Uhr, Ende 6:00 Uhr. 142 Vgl. ThHStAW, StA EF, 4229, Bl. 104. 143 Das wurde auch vom Gutachter Janssen (GA vom 28. 10. 1991) moniert.

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Auch der Totenschein wirft Fragen auf. Obwohl die dortigen Angaben zu verschiedenen Zeiten festzustellen waren, wurde der Totenschein offensicht­lich mit ein und derselben Schreibmaschine ausgefüllt. Offenbar hatte der MfS-Vertragsarzt das Ergebnis der Leichenschau am Fundort nicht eingetragen, sondern ledig­lich einen nicht natür­lichen Tod bescheinigt. Hinzu kommt die Funk­tion der Spezialkommission der Abteilung IX des MfS.144 In der Literatur heißt es: Die Linie IX unterstützt die Linie XX und andere operative Diensteinheiten bei der Bearbeitung von Schwerpunktvorgängen im frühesten Stadium, um mit den spezifischen Mitteln der Untersuchungsarbeit, wie Einsatz der Spezialkommissionen und der gemäß meinem [Mielkes] Befehl 35/69145 gebildeten Referat zur Aufklärung und Untersuchung von Vorkommnissen, zum kurzfristigen Abschluss beizutragen.146

Die Spezialkommission war somit nicht mit den Morduntersuchungskommissionen der Polizei zu vergleichen, die als Spezialkommissionen bezeichnet wurden, wenn ein unnatür­licher Tod zu untersuchen war. Vielmehr sollte die MfS-Spezialkommission Ereignisse, die subversives Potential bargen, so abdecken, dass der Schein der Normalität gewahrt blieb und die tatsäch­lichen Vorgänge nicht an die Öffent­lichkeit drangen. Der Hinweis darauf, dass die MfS-Linie IX die Linie XX unterstützt, erhellt die Anwesenheit Köhlers und Hermanns von der Linie XX während der Verhöre und umso mehr die Rechtsstaatswidrigkeit dieser vom MfS bewusst arrangierten Einkreisungssitua­tion. Letztere MfS-Mitarbeiter waren nicht in einer nachrangigen Posi­tion platziert, sondern führten die Verhöre an, während die Abteilung IX den eigent­lichen Zweck des Arrangements ummantelte, abdeckte und den konkreten geheimpolizei­lichen Zweck verschleierte. Der Weg des Toten in die Gerichtsmedizin ist nur teilweise aufgeklärt. In der Erstvernehmung des Jahres 1990 erklärte der Erstobduzent Disse, am Abend 144 Über die entsprechenden Untersuchungen findet sich nach dem Ereignisortuntersuchungsprotokoll nur, dass die Spezialkommission sämt­liche Habe des Toten, darunter auch das Hemd (das vorgeb­liche Strangwerkzeug), in Verwahrung nahm und unvollständig an die Familie zurückgab, was aus der entsprechenden Aufstellung hervorgeht, in der Hemd und Parka fehlen. 145 Befehl 35/69 vom 29. 12. 1969 (VVS 769/69) zur Bildung von Referaten zur Untersuchung und Aufklärung von Vorkommnissen und Erscheinungen mit feind­lichem Charakter oder hoher Gesellschaftsgefähr­lichkeitauf der Linie Untersuchung des MfS (BStU, MfS, BdL-Dok. 1381). 146 Roger Engelmann/Frank Joestel (Bearbeiter): Grundsatzdokumente des MfS. Handbuch des MfS V/5. Berlin 2004, S. 228.

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des 12. April 1981 das Tor der Gerichtsmedizin für den Fahrer des Kleinbusses B 1.000 geöffnet und mit ihm die Leiche in das Gebäude gebracht zu haben.147 Allein dieser Vorgang ist rätselhaft, schließt jedoch an die Aufgabe der Spezialkommission an, der Abdeckung den Vorrang vor der Aufklärung zu verschaffen. Es wurde demnach, ebenso wie bei den Grenzopfern, auf einen offiziellen Leichentransport verzichtet, um mög­lichst keine Hinweise auf den Toten zu hinterlassen. Dass der Erstobduzent persön­lich das Tor öffnete und den Toten gemeinsam mit dem Fahrer in die Gerichtsmedizin trug, verweist darauf, dass mög­lichst wenige Personen Kenntnis über den Zeitpunkt, die Umstände der Ankunft und den Zustand des Toten erlangen sollten. Auch die Obduk­tion lässt Fragen offen. In den Vorgaben heißt es: »Die Sachverständigen fertigen über das Ergebnis ihrer Untersuchungen ein Sek­tionsprotokoll (Autopsiebericht) an, das die Grundlagen für das ggfls. zu erstattende Gutachten bildet.« 148 Das Sek­tionsprotokoll liegt vor, nicht jedoch das abschließende Gutachten. Das Protokoll konkretisiert wichtige Details nicht, die ein Erhängen bestätigen würden, sondern bleibt unkonkret. Erstens werden die Totenflecken als ledig­lich an der »Körperrückseite« befind­ lich beschrieben, was allerdings nur beim postmortalen Aufhängen anzutreffen ist. Die Unterschenkel, Füße, Unterarme und Hände werden nirgendwo erwähnt (!), sodass offenbleibt, ob dort die eindeutigen ­Zeichen des Erhängens erkennbar waren oder nicht.149 Zweitens musste das Opfer für die Ausbildung von nicht mehr wegdrückbaren Totenflecken mindestens 24 Stunden tot sein. Der Todeszeitpunkt lag demnach eventuell länger zurück als suggeriert: Der Todeszeitpunkt wurde nicht mittels Körpertemperaturmessung eingegrenzt. Drittens wurden keine, wie bei Erhängungsfällen auch damals üb­lich, Faserspuren von den Händen des Opfers genommen. Damit steht der Beweis dafür aus, dass Matthias Domaschk sich erhängte und das Hemd als Strangwerkzeug benutzte.150 147 Vernehmung Disse am 31. 8. 1990. In: ThHStAW, StA EF, 4216, Bl. 43 – 45. 148 Ministerium der Justiz (Hrsg.): Strafprozessrecht der DDR. Kommentar zur Strafprozessordnung. Berlin 1987 (2. Auflage von 1968), hier § 45 (1.3), S. 72. 149 Siehe die Aussage des damaligen Gerichtsassistenten Olaf Österreich. 150 Angeb­lich soll die Leiche »frei gehangen« haben. Dann müsste die Strangmarke allerdings gleichmäßig verlaufen. Dieser Widerspruch wird nicht aufgeklärt. Im Kopf und den inneren Organen finden sich starke Stauungen. Beim typischen Erhängen dürfte es nicht zu Kopfstauungen kommen. Treten massive Stauungsblutungen oberhalb der Strangmarke auf, deuten diese auf eine vitale Entstehung. Siehe dazu Burkhard Madea/Frank Musshoff/ Brigitte Tag: Kurzlehrbuch Rechtsmedizin. Bern 2012, S. 178.

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Viertens wurde das Hemd nicht auf Schleifspuren untersucht. Damit bleibt ungeklärt, ob es überhaupt zur Strangula­tion benutzt wurde.151 Fünftens ist der feingeweb­liche Untersuchungsbefund ebenfalls nicht aufzufinden. Dieser hätte unter anderem Aufschluss darüber geben können, wie die Strangmarke entstand. Und sechstens waren für die Einäscherung die eindeutige Klärung der Todesursache und die daraus resultierende schrift­liche Freigabe durch den Staatsanwalt nötig. Beide sind nicht aufzufinden.

10. Ein unwahrschein­licher Selbstmord im Schweigenetz Vergleicht man den Fall »Matthias Domaschk« mit der den Grenzopfern widerfahrenen Gewalt und deren Verschleierung, ergeben sich Parallelen. Auch für sie war die politische Abteilung IA der Staatsanwaltschaft zuständig. Die Spezialkommission der Abteilung IX übernahm dort ebenfalls die Regie und behielt die Toten in ihrer Verfügungsgewalt: angefangen vom Transport in die Gerichtsmedizin über die Obduk­tion, die Ausstellung des Totenscheins bis hin zu Bestattung und Sterbe­ annonce. Auch die Tatortuntersuchung wurde so durchgeführt, dass die Abdeckung der Tat Vorrang vor der Spurensicherung hatte.152 Die fehlende Sicherung der Beweise im Fall von Matthias Domaschk deutet ebenso wie die Desinforma­tion der Öffent­ lichkeit und das Belügen der Verwandten und Freund_innen in diese Richtung. In der Zusammenschau der Fakten erscheint ein Selbstmord von Matthias Domaschk als unwahrschein­lich. Gleichwohl endete das Todesermittlungsverfahren abschließend und endgültig, da keine juristisch fassbare Verantwort­lichkeit bewiesen werden konnte. Neben der Schwierigkeit der Zeugenerinnerung traf die Staatsanwaltschaft auf eine MfS-Akte, die nicht voraussetzungsfrei zu entschlüsseln ist. Weder wurde der Entstehungszusammenhang dieser Akte gewürdigt noch ihre Funk­tion. Tatsäch­lich diente die MfS-Akte im Jahr 1981 nicht der Aufklärung der Todesumstände, sondern der MfS-eigenen Argumenta­tion, der Überwachung der Betroffenen und der Kontrolle der Reak­tionen auf den Tod sowie den weiter­ führenden Ermittlungen zur Kriminalisierung und politischen Überwachung.

151 Zu fragen ist außerdem, warum trotz Zeitnot beide Knoten gelöst wurden, obwohl es zu den Grundlagen des Kriminalisten gehört, diese zu belassen, um die Tat rekonstruieren zu können. Das Hemd lag zwar laut Aussage des zweiten Obduzenten während der Leichenschau vor, doch die MfS-Vertreter nahmen ­dieses im Anschluss wieder mit sich. Der Verbleib des Hemdes ist unbekannt. 152 Vgl. Hertle: Wie das SED-Regime Gewalttaten an der Berliner Mauer verschleierte (wie Anm. 76), S. 37 – 4 4.

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Die Staatsanwaltschaft wiederum verwendete sie nicht als geheimpolizei­liche Akte, sondern nahm eine Umdeutung zur »Todesermittlungsakte« vor. Die Staatssicherheitsakte erhielt damit eine neue Funk­tion. Sie wandelte sich von einer Überwachungsakte der Geheimpolizei, in der sogar konkrete Interven­tionsvorgaben gegen Freunde_innen und Bekannte des Toten festgehalten sind, in eine reguläre Todesermittlungsakte. Die Begründung dafür, das Todesermittlungsverfahren 1994 einzustellen, folgte dem dortigen Argumenta­tionsmuster und ging so in die Falle des Feindbildes und der Abdeckungsstrategie der Staatssicherheit. Gleichwohl wurde im zweiten Verfahren zumindest die Festsetzung der Betroffenen als Freiheitsberaubung verurteilt, was heute die Einstellung des Todesermittlungsverfahrens als umso fragwürdiger erscheinen lässt. Verlängert man die Linien, so zeigt sich das Geschilderte als Teil des komplexen Vorgehens der Staatssicherheit gegen die kirch­liche Offene Jugendarbeit, die gerade begonnen hatte, sich überregional zu vernetzen.153 Am 4./5. März 1981 hatten sich Vertreter_innen der Offenen Arbeit zu ihrem ersten Vernetzungstreffen in Buckow bei Berlin getroffen. In Halle und Dresden war es zu Verhaftungen und Verhören gekommen, so gegen den oben erwähnten Musiker Gunter Preine. Zwei Wochen nach dem Tod Domaschks erhielt die Hallenser Stasi die Antwort auf ihren Informa­tionsbedarf vom Monat zuvor. Die angeb­liche Gefahr hatte den Anlass geliefert, in einer Vernehmung Informa­tionen unter anderem zu Preine und der Jungen Gemeinde Halle-­Neustadt zu erpressen und so auch die Verhaftung von Peter Rösch zu ermög­lichen. Die angeb­liche Gefährdung des Parteitags durch »Asoziale« und »Rückfalltäter« war demnach als Deckargument und juristischer Vorwand benutzt worden, um in mehreren Bezirken gegen selbstbestimmte Jugend­liche und gegen die alternative Jugendarbeit vorzugehen. Es bleibt die Einsicht über die im Todesverfahren ermittelnden Personen, dass sie von den in der Geheimpolizei aktuellen Feindbildern nicht unbeeinflusst geblieben waren und deren Logik schließ­lich weiterführten. Die juristische Aufarbeitung war nicht als unparteiische Institu­tion aktiv, sondern hing von den zeitgebundenen Einstellungen und Fragen der ermittelnden Personen und dem Rahmen ab, der von Institu­tionen und Öffent­lichkeit gesetzt wurde. Die Dekonstruk­tion der Erzählungen der ehemaligen Verantwortungsträger bleibt somit notwendige Voraussetzung der Aufklärung. Die Umstände des Todes wären allerdings schnell erhellt, wenn die Beteiligten und Zeugen jenseits juristischer Sank­tionen Einsicht zeigen, die Wahrheit offenbaren und persön­liche Verantwortung übernehmen würden. 153 Siehe Katharina Lenski: Sozialistisches Menschenbild und Individualität: Die »Offene Arbeit« als Mög­lichkeitsraum? Entstehung, Konzepte und ­soziale Praxis alternativer Jugendkultur im Staatssozialismus (1965 – 1989) i. E.

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Enttäuschte Erwartungen Die strafrecht­liche Aufarbeitung kommunistischer Diktatur in Polen

Am 5. November starb in Warschau General Czesław Kiszczak. Als Innenminister war er der Architekt des »Runden Tisches«, mit dem der Sturz des kommunistischen Regimes in Polen und Ostmitteleuropa eingeleitet wurde, aber auch des Kriegsrechts vom 13. Dezember 1981, der den Frühling der »Solidarność« abrupt beendete. Über zweieinhalb Jahrzehnte hinweg war Kiszczak seit 1989 eine der Schlüsselfiguren strafrecht­licher Aufarbeitung kommunistischer Diktatur in Polen, mehrfach stand er vor Gericht. Nach vier Prozessen wurde er von der Schuld am Tod mehrerer Bergleute in der oberschle­sischen Grube »Wujek« im Dezember 1981 im strafrecht­lichen Sinne freigesprochen. Dafür hingegen, dass er an der Verhängung des Kriegsrechts mitgewirkt hatte, wurde der 89-jährige General im Juni 2015 doch noch zu zwei Jahren Haft verurteilt, musste die Strafe jedoch nicht mehr antreten.1 Strafrecht­liche Aufarbeitung der Diktatur – dies bedeutete in Polen über lange Zeit und bis heute in großen Teilen die juristische Auseinandersetzung mit dem Kriegsrecht und seinen Folgen. Für die Spezifik der Entwicklung in Polen ist dies in doppelter Hinsicht relevant. Zum einen hatte sich bereits seit den späten 1970er Jahren eine breitenwirksame Gegenöffent­lichkeit etabliert, ­welche die Verletzung von Bürgerrechten aufmerksam registrierte. Zum anderen gab es ein hohes Maß an recht­licher Kontinuität. Die strafrecht­lichen Verfahren, die seit den 1990er Jahren angestrengt wurden, betrafen durchweg Straftaten, die auch unter dem kommunistischen Regime selbst strafbar waren, auch wenn dies mit Blick auf das Kriegsrecht selbst einiger Argumenta­tionskunst bedurfte. Einige Fälle, so der Mord an dem Priester Jerzy Popiełuszko, waren bereits in den 1980er Jahren vor Gericht verhandelt worden. Die Frage eines Rückwirkungsverbotes stellte sich also nur bedingt. Ein recht­licher Bruch bestand allenfalls darin, dass Polen mit einer Verfassungsänderung vom Dezember 1989 zum »Rechtsstaat«

1 Zur Biographie Czesław Kiszczaks siehe zuletzt Lech Kowalski: Cze Kiszczak. Biografia gen. Broni Czesława Kiszczaka. Warszawa 2015.

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(polnisch: państwo prawne) erklärt wurde.2 Zuvor waren Straftäter, die bis zu zwei Jahre Haft verbüßten, ebenfalls im Dezember 1989 amnestiert worden, längere Haftstrafen wurden um die Hälfte verkürzt. Politisch motivierte Vergehen aus der Zeit seit dem Danziger Abkommen vom August 1980, die mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden konnten, waren bereits im Mai 1989 per Gesetz dem Vergessen anheimgegeben worden.3 Auf den 1998 eigens geschaffenen Straftatbestand eines »kommunistischen Verbrechens« wird noch zu sprechen zu kommen sein, auch er berührte nur ­solche Taten, die zum jeweiligen Zeitpunkt nach geltendem Recht bereits strafbar gewesen waren. Diese beiden Faktoren, hohe Erwartungen an das Strafrecht und ein hohes Maß an Rechtskontinuität prägten den strafrecht­lichen Umgang mit dem Kriegsrecht und der kommunistischen Diktatur in Polen nach 1989. In vielen Fällen handelte es sich um Wiederaufnahmeverfahren, deren Ergebnisse als größtenteils unbefriedigend angesehen werden. Sie sind eng verbunden mit der Debatte über den Charakter des Umbruchs von 1989/90. In der Formel vom »dicken Strich« unter die kommunistische Vergangenheit hat das Unbehagen an einem vermeint­lich allzu milden Umgang mit der kommunistischen Diktatur bildhaften Ausdruck gefunden. Sie verdeckt mehr, als sie enthüllt.

1. 1981 – 1989 In den ersten Tagen, nachdem am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt worden war, gehörten die oberschle­sischen Bergwerke zu den neural­gischen Punkten.4 Hier ging das Regime mit aller Härte gegen streikende Arbeiter vor, die sich in den Gruben verschanzt hatten. Um die Lage zu »pazifizieren«, setzte die sogenannte Bürgermiliz (polnisch: Milicja Obywatelska), faktisch die reguläre uniformierte Polizei, Panzer und Schusswaffen ein. Als Einheiten der Bereitschaftspolizei, der ZOMO (polnisch: Zmotoryzowane Oddziały Milicji Obywatelskiej) 2 Ustawa z dnia 29 grudnia 1989 r. o zmianie Konstytucji Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej [Gesetz vom 29. Dezember 1989 über die Veränderung der Verfassung der Volksrepublik Polen] (Dz. U. 1989, Nr. 75, poz. 444). 3 Ustawa z dnia 7 grudnia 1989 r. o amnestii [Gesetz vom 7. Dezember 1989 über die Amnestie] (Dz. U. 1989, Nr. 64, poz. 390); Ustawa z dnia 29 maja 1989 r. o przebaczeniu i puszczeniu w niepamięć niektórych przestępstw i wykroczeń [Gesetz vom 29. Mai 1989 über die Vergebung einiger Straftaten und Ordnungswidrigkeiten und ihre Tilgung aus dem Gedächtnis] (Dz. U. 1989, Nr. 34, poz. 179). 4 Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20.  Jahrhundert. München 2010, S. 368 – 372.

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am 16. Dezember in Kattowitz das Steinkohlebergwerk »Wujek« stürmten, kamen neun Bergleute zu Tode. Dutzende wurden verletzt. In dem anschließenden Ermittlungsverfahren befand die Staatsanwaltschaft, die Polizisten hätten in Notwehr gehandelt. Diese gaben durchweg an, in die Luft geschossen zu haben. Das mochten selbst die Staatsanwälte nicht glauben. Es ließ sich aber nicht feststellen, aus ­welchen Waffen die töd­lichen Schüsse abgegeben worden waren.5 Das Verfahren wurde eingestellt, ebenso wie die Ermittlungen zu der Grube »Manifest Lipcowy« in Jastrzębie-­Zdrój. Hier hatte die ZOMO bereits am Tag zuvor mit scharfer Muni­tion auf streikende Arbeiter geschossen, es gab mehrere Verletzte, aber keine Toten.6 In beiden Fällen schob die Staatsanwaltschaft den streikenden Bergleuten selbst die Schuld dafür zu, dass die Situa­tion eskaliert sei. Wo die politische Verantwortung zu suchen war, lag wenige Wochen nach Verhängung des Kriegsrechts auf der Hand, konnte aber nicht offen diskutiert werden. Zunächst ging von den Schüssen in der Grube »Wujek« das Signal aus, dass das Regime brutale polizei­liche Übergriffe auch dann zu decken bereit war, wenn dabei Menschen zu Tode kamen. In den folgenden Jahren kamen bei Einsätzen der Miliz gegen die Opposi­ tion wiederholt Menschen ums Leben. Zum Jahrestag des Danziger Abkommens, mit dem streikende Arbeiter im August 1980 der Staatsmacht eine unabhängige Gewerkschaft abgetrotzt hatten, gingen 1982 Tausende auf die Straße. Im niederschle­sischen Lubin schossen erneut Angehörige der ZOMO auf die Demonstranten, es gab drei Tote, elf weitere Personen wurden verletzt.7 Auch 5 Siehe Andrzej Paczkowski: Wojna polsko-­jaruzelska. Stan wojenny w Polsce 13.XII .1981 – 22.VII .1983 [Der polnisch-­jaruzelskische Krieg. Das Kriegsrecht in Polen 13. 12. 1981 – 22. 7. 1983]. Warszawa 2006, S. 88 – 93; Archiwum Sejmu. Sejm PRL /RP  – X Kadencja (1989 – 1991). Protokoły Komisji Sejmowych. Komisja Nadzwyczajna do zbadania działalności Ministerstwa Spraw Wewnętrznych. Nr. 1 – 8. 17.VIII .1989 – 9.X.1990. Tom I. Protokół 6 posiedzenia Komisji Nadzwyczajnej do Zbadania Działalności Ministerstwa Spraw Wewnętrznych. 5. Czerwca 1990 r [Archiv des Sejm. Der Sejm der PRL/RP – X Legislaturperiode (1989 – 1991). Protokolle der Sejm-­Kommissionen. Außerordent­liche Kommission zur Untersuchung der Tätigkeit des Innenministeriums. Nr. 1 – 8. 17.VIII.1989 – 9.X.1990. Bd. I. Protokoll der 6. Sitzung der Außerordent­lichen Kommission zur Untersuchung der Tätigkeit des Innenministeriums. 5. Juni 1990], S. 225v.–234. [Im Folgenden: Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll, Datum]. 6 Radosław Miłoch: Pacyfikacja KWK Manifest Lipcowy [Die Pazifizierung der Steinkohlegrube Manifest Lipcowy]. URL : http://www.encyklopedia-­solidarnosci.pl/wiki/ index.php?title=D01131_Pacyfikacja_KWK_Manifest_Lipcowy_Katowice, letzter Zugriff: 23. 03. 2016. 7 Andrzej Swidlicki: Political Trials in Poland 1981 – 1986. London 1988, S. 267 – 268; Jerzy Kordas: Wydarzenia 31 sierpnia 1982 r. na Dolnym Śląsku. Geneza, przebieg, skutki [Die Ereignisse vom 31. August 1982 in Niederschlesien. Entstehung, Verlauf, Ergebnisse]. Wrocław

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hier wurde ermittelt, auch hier zunächst ohne Ergebnis. Die Beamten bestritten zunächst, überhaupt geschossen zu haben. Ihre Waffen wurden nicht identifiziert, es gab keine ballistischen Untersuchungen. Dies behinderte die Ermittlungen der Breslauer Militärstaatsanwälte, machte sie aber nicht unmög­lich. In einem sorgfältigen Bericht stellten sie fest, dass durchaus geschossen worden war, und auch nicht in Notwehr. Vielmehr sei die Kommunika­tion ­zwischen den verschiedenen Milizeinheiten, die blinde und scharfe Muni­tion gleichermaßen erhalten hatten, chaotisch gewesen. Auf dieser Grundlage empfahlen die Staatsanwälte, ein Strafverfahren gegen die verantwort­lichen Beamten einzuleiten. Ihr Bericht jedoch blieb geheim und kam aus der Zentrale in Warschau nicht zurück. Vielmehr wurden die Ermittlungen im April 1983 eingestellt, auch hier mit dem Hinweis, die Beamten hätten in Notwehr geschossen, und zwar in die Luft. Die Demonstranten ­seien durch Querschläger ums Leben gekommen.8 Etwas anders gelagert war der Tod des neunzehnjährigen Schülers Grzegorz Przemyk, der nicht weniger Aufsehen erregte. Przemyk war am 12. Mai 1983 bei der Heimkehr von seiner Abiturfeier auf dem Schlossplatz in Warschau zusammen mit einem Freund festgenommen worden, weil die beiden sich nicht ausweisen konnten. Auf der Wache wurde er geprügelt und dann in die Notaufnahme verbracht. Zwei Tage ­später starb er an schweren inneren Verletzungen.9 Grzegorz Przemyk war der Sohn einer prominenten Warschauer Bürgerrechtlerin, der Dichterin Barbara Sadowska. Zu seiner Beerdigung kamen 50.000 Personen, es war eine der größten Demonstra­tionen seit Verkündung des Kriegsrechts. Die Ermittlungen richteten sich rasch gegen zwei Sanitäter, die den Verletzten in die Notaufnahme verbracht hatten. Einer von diesen gab zu, Przemyk tatsäch­lich geschlagen zu haben, zog diese Aussage s­ päter jedoch zurück, da sie von einem Oberst des Innenministeriums erzwungen worden sei. Die Sanitäter wurden im folgenden Jahr wegen unterlassener Hilfeleistung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, die Beamten hingegen freigesprochen.10 Es war im sozialistischen Polen ein weitverbreitetes Phänomen, dass Milizbeamte brutal auf Festgenommene einschlugen, ganz gleich, ob diese in der Opposi­ tion aktiv waren oder nicht. Grzegorz Przemyk wurde zum Opfer dieser allgemeinen Polizeibrutalität, vermut­lich wussten die Beamten gar nicht, wen sie vor sich 2010, S. 99 – 107. URL: http://www.dbc.wroc.pl/dlibra/docmetadata?id=10269&from=pub lica­tion, letzter Zugriff: 23. 03. 2016. 8 Siehe Kordas: Wydarzenia (wie Anm. 7), S. 167 – 169. 9 Siehe Swidlicki: Political Trials (wie Anm. 7), S. 348 – 351. 10 Siehe ebd., S. 351; Maria Łoś/Andrzej Zybertowicz: Privatizing the Police-­State. The Case of Poland. New York 2000, S. 66 – 69.

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hatten. Anders hingegen bei Piotr Bartoszcze, dessen Leiche am 9. Februar 1984 in einem Entwässerungskanal bei Inowrocław (Hohensalza) gefunden wurde. Bartoszcze war infolge seiner Tätigkeit für die »Solidarność« in der Zeit des Kriegsrechts monatelang interniert gewesen und hatte seine opposi­tionelle Tätigkeit auch danach konspirativ fortgesetzt. Die Staatsanwaltschaft stellte ihre Ermittlungen nach drei Monaten mit dem Hinweis ein, es handele sich um einen Unfall. Die Version, Bartoszcze sei betrunken mit seinem Auto verunglückt, über einen Acker gestolpert und schließ­lich in den Kanal gestürzt, wirkte jedoch wenig glaubwürdig und wurde von der Opposi­tion offen in Zweifel gezogen. Der Verdacht, hier sei ein gezielter politischer Mord verübt worden, stand und steht bis heute im Raum.11 Dieser Verdacht ist schon deshalb glaubwürdig, weil im selben Jahr ein weiterer politischer Mord an dem Priester Jerzy Popiełuszko verübt wurde. Dessen Geschichte ist oft erzählt worden.12 Pater Popiełuszko, der die Gemeinde des Heiligen Stanisław Kostka in Warschau leitete, war 1980/81 Kaplan der »Solidarność« in dem Stahlwerk »Huta Warszawa«. Mit dem enormen Zulauf zu seinen »patriotischen Messen« (polnisch: Msze za Ojczyznę) in der Zeit des Kriegsrechts war er der Staatsmacht seit 1982 ein Dorn im Auge. Die von ihm geleitete Beerdigung Przemyks im Mai 1983 empfanden die Behörden als offene Herausforderung. Monatelang war Popiełuszko von der Staatssicherheit drangsaliert worden. Am 19. Oktober 1984 wurde er bei der Rückreise aus Danzig entführt, in den Kofferraum eines Dienstwagens des Innenministeriums gesperrt und bei einem Fluchtversuch halbtot geprügelt. Schließ­lich warfen die Beamten den leblosen Körper bei einem Stauwehr in die Weichsel. Hunderttausende gaben dem Toten in Warschau das letzte Geleit. Die Ermittlungen führten innerhalb weniger Tage in das Innenministerium. Denn einem Begleiter Popiełuszkos war die Flucht geglückt, sodass er die Miliz alarmieren konnte. Die drei unmittelbaren Täter wurden rasch identifiziert und gemeinsam mit ihrem direkten Vorgesetzten in Thorn vor Gericht gestellt. Der Prozess fand enorme na­tionale und interna­tionale Aufmerksamkeit. Anfang Februar wurde die beiden Haupttäter zu jeweils 25 Jahren, die beiden Mittäter

11 Swidlicki: Political Trials (wie Anm. 7), S. 335; Kevin Ruane: To Kill a Priest. The Murder of Father Popiełuszko and the Fall of Communism. London 2004, S. 120 – 121. 12 Siehe ebd. – Siehe hierzu auch: Jolanta Mysiakowska (Hrsg.): Aparat represji wobec księdza Jerzego Popiełuszki 1982 – 1984 [Der Repressionsapparat gegen den Priester Jerzy Popiełuszko 1982 – 1984]. Warszawa 2009; Jakub Gołębiewski (Hrsg.): Aparat represji wobec księdza Jerzego Popiełuszki 1984 [Der Repressionsapparat gegen den Priester Jerzy Popiełuszko 1984]. Warszawa 2014.

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zu 15 und 14 Jahren Haft verurteilt. Auf Interven­tion von Innenminister ­Kiszczak wurden die Strafen in den folgenden Jahren mehrfach herabgesetzt, einer der Täter kam bereits im April 1989 wieder auf freien Fuß.13 Schon während des Thorner Verfahrens warfen Prozessbeobachter die Frage auf, ob es sich bei den Angeklagten nicht um ein Bauernopfer handelte, um ihre höheren Vorgesetzten zu ­schützen. Abteilungsleiter General Zenon Płatek, der anfangs selbst die Ermittlungen geleitet hatte, wurde vom Dienst suspendiert und mehrfach verhört. Seine widersprüch­lichen Aussagen vor Gericht bestärkten die Vermutungen, dass er seine Vorgesetzten schützte. 1986 wurde er an die polnische Botschaft in Prag delegiert. Staatssicherheitschef General Władysław Ciastoń, durch die Aussage eines der Verdächtigen ebenfalls belastet, wurde auf den Botschafterposten in Tirana versetzt.14 Die Grube »Wujek« und die Toten von Lubin, Grzegorz Przemyk, Piotr­ Bartoszcze und Pater Popiełuszko waren nur die prominentesten aus einer Vielzahl von Todesfällen, an denen Miliz und Staatssicherheit beteiligt waren. Die einschlägigen Ermittlungen und Strafprozesse festigten jeweils den Eindruck, dass die Behörden die Täter schützten und dass die Verantwortung bis in die politische Führung selbst hineinreichte. Dieser Eindruck setzte sich unter veränderten Vorzeichen bis in die Gegenwart fort. Er prägte vor allem den Umbruch von 1989/90. Er weckte enorme Erwartungen, diese Taten jetzt aufklären und auch die politische Führung haftbar machen zu können. Nicht nur die unmittelbaren Täter sollten end­lich vor Gericht gestellt werden, so die Hoffnung, sondern auch die politische Verantwortung würde sich mit den Mitteln des Strafrechts feststellen und ahnden lassen.

2. 1989/1990 In den Verhandlungen am Runden Tisch wurden diese Fragen zunächst nicht angesprochen. Den Verhandlungsführern der Opposi­tion, nament­lich dem angesehenen Strafrechtler Adam Strzembosz, ging es zunächst darum, die richter­liche Unabhängigkeit zu gewährleisten und eine Entpolitisierung des Strafrechts zu erreichen. Im ersten Punkt erzielte die Opposi­tion einen weitreichenden Erfolg, im zweiten Punkt hingegen nur wenig. Hier blieb ihr nichts anderes übrig, als den anhaltenden Dissens öffent­lich zu machen.15 13 Ruane: To Kill a Priest (wie Anm. 11), S. 361. 14 Siehe Ruane: To Kill a Priest (wie Anm. 11), S. 283 – 288, 294 – 295 und 315 – 340. 15 Siehe Krystyna Trembicka: Okrągły stół w Polsce. Studium o porozumieniu p­ olitycznym [Der Runde Tisch in Polen. Eine Studie zur politischen Verständigung]. Lublin 2003,

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Erst die halbfreien Wahlen vom 4. und 18. Juni 1989 brachten den Durchbruch. Gleich in der ersten Interpella­tion forderten Abgeordnete des opposi­ tionellen Bürgerklubs (polnisch: Obywatelski Klub Parlamentarny/OKP ) das Innenministerium dazu auf, zum gewaltsamen Vorgehen der Miliz gegen eine Mahnwache der Konfödera­tion Unabhängiges Polen (polnisch: Konfe­deracja Polskiej Niepodległej/KPN ) vor dem Sejm Stellung zu nehmen. In der anschließenden Debatte provozierte der Abgeordnete Tadeusz Kowalczyk den Vizeinnenminister General Zbigniew Pudysz mit dem Zwischenruf, das Ministerium habe einhundert politische Morde auf dem Gewissen. Gereizt forderten Pudysz und Kiszczak dazu auf, den ungeheuer­lichen Vorwurf zurückzunehmen – oder zu beweisen. In einer der nächsten Sitzungen beschloss der Sejm folgerichtig, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, die ­später nach ihrem Vorsitzenden Jan Rokita benannte Rokita-­Kommission. Dem stimmten, noch während Kiszczak selbst über eine Regierungsbildung verhandelte, auch Abgeordnete der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (polnisch: Polska Zjednoczona P ­ artia Robotnicza/PZPR ) und ihre bisherigen Blockpartner zu. Noch am Runden Tisch glaubte das Regime, seine Mehrheit auch in einem halbfrei gewählten Sejm sei unangreifbar, denn es hatte ja nur ein Drittel der Sitze freigegeben. Diese Mehrheit begann nun zu bröckeln. Drei Wochen ­später erhielt Tadeusz Mazowiecki den Auftrag, eine Regierung zu bilden, die erste seit 1947, die nicht von einem Kommunisten geführt wurde.16 Am 13. September trat die Rokita-­Kommission zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Über Parteigrenzen hinweg verständigten sich ihre Mitglieder darauf, keine eigenen Ermittlungen anzustellen. Dazu sah sie sich schon personell gar nicht in der Lage. Vielmehr verlegte sie sich auf das Aktenstudium. Das Innenministerium, immer noch unter Leitung Kiszczaks, sagte zu, die Kommission werde alle einschlägigen Akten erhalten, und bildete intern einen entsprechenden Ausschuss. Allerdings ging es der Rokita-­Kommission zunächst ohnehin ausschließ­lich um die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft, die sie mit sachverständiger Hilfe auf mög­liche Unregelmäßigkeiten prüfen wollte. Ihr ging es darum, ob im Einzelfall einseitig ermittelt worden war, um Täter innerhalb des Apparates zu ­schützen, und um die Deforma­tion des gesamten Systems. Auch die Kommissionsmitglieder aus der PZPR bekannten sich zu dem Auftrag der S. 215 – 230; Wanda Falkowska: »Głosowanie nie było« [Es gab keine Abstimmung]. In: Prawo i Bezprawie nr 23 – 24/2/1989 Luty – Marzec, S. 5 – 8. 16 Siehe Joachim von Puttkamer: Der Mythos vom »dicken Strich«. Der 24. August 1989 und der Anfang vom Ende der Staatssicherheit. In: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Histo­ rische Forschung Berlin 7 (2013/14), S. 34 – 66.

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Kommission. Der Vorwurf, politische Morde gedeckt zu haben, richtete sich indirekt auch an die bisherige Staatspartei, die sich von d­ iesem Verdacht reinwaschen wollte.17 Von einem »dicken Strich« konnte im Herbst 1989 also kaum die Rede sein. Tadeusz Mazowiecki hatte in seiner Antrittsrede als Ministerpräsident drei Wochen zuvor mit ­diesem Bild vielmehr klarstellen wollen, wer die Verantwortung für die katastrophale wirtschaft­liche Lage zu tragen habe.18 Es ging keineswegs darum, das untergehende kommunistische Regime zu entlasten und mit der kommunistischen Vergangenheit abzuschließen. Vielmehr weckte gerade die Bildung der Rokita-­Kommission enormes öffent­liches Interesse. Binnen weniger Wochen erhielt sie etwa eintausend Zuschriften und konnte sich nur mit Mühe der Erwartung erwehren, über die bekannten Todesfälle hinaus auch Fälle polizei­licher Korrup­tion, Veruntreuung und exzessiver Brutalität im Arrest aufzuklären.19 Das Vertrauen, unter den neuen politischen Bedingungen werde eine nunmehr unabhängige Justiz die Befunde der Rokita-­Kommission aufgreifen und in neuen Ermittlungen die wahren Schuldigen überführen, war vergleichsweise hoch. Das Innenministerium hingegen und vor allem die Staatssicherheit sahen sich in die Defensive gedrängt. In Warschau stürzte Mitte November eine johlende Menge das Denkmal Feliks Dzierżyńskis, des Gründervaters aller kommunistischen Staatssicherheitsdienste, eine Woche nachdem in Berlin die Mauer gefallen war. Acht Jahre nach Verkündung des Kriegsrechts von 1981 warf der franzö­sische Journalist Gabriel Mérétik in einer sorgfältigen Rekonstruk­tion der Ereignisse die Frage auf, ob die Verantwortung für die Toten des Kriegsrechts mög­licherweise bis zu General Wojciech Jaruzelski reichte, der seit dem Juli 1989 als Staatspräsident die demokratischen Reformen politisch absicherte. Laut Mérétik hatte Jaruzelski seine Zustimmung zum Gebrauch von Schusswaffen in der Grube »Wujek« explizit verweigert, der lokale Kommandeur der ZOMO habe vielmehr den Kopf verloren. Dennoch habe Jaruzelski Blut an den »weißen Handschuhen«, mit denen er 17 Ebd., S. 46 – 47. 18 Tadeusz Mazowiecki: Polska będzie inna. Przemówienie wygłoszone w Sejmie 24 sierpnia 1989 roku [Polen wird sich verändern. Rede vor dem Sejm vom 24. August 1989]. In: ders.: Rok 1989 i lata następne. Teksty wybrane i nowe [Das Jahr 1989 und die folgenden Jahre. Ausgewählte und neue Texte]. Warszawa 2012, S. 38 – 41. – Siehe hierzu auch Andrzej Brzeziecki: Tadeusz Mazowiecki. Biografia naszego premiera [Tadeusz Mazowiecki. Die Biographie unseres Premierministers]. Warszawa 2015, S. 409 – 415, hier S. 411 – 412; Cezar M. Ornatowski: Into the Breach. The Designa­tion Speech and Expose of Tadeusz Mazowiecki and Poland’s Transi­tion from Communism. In: Advances in the History of Rhetoric 11 (2008), S. 359 – 427, hier S. 367. 19 Puttkamer: Der Mythos vom »dicken Strich« (wie Anm. 16), S. 46.

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die Opera­tion habe durchführen wollen.20 Die polnische Übersetzung wurde zum Bestseller. Wie also entstand der Eindruck, die kommunistische Diktatur werde nur schleppend aufgearbeitet und die Täter kämen davon? Seit dem Sommer 1989 hatte der Staatssicherheitsdienst damit begonnen, seine operativen Akten in großem Stil zu vernichten. Dies wurde durch einen aufschlussreichen Zufall publik. Die Menschenrechtskommission des Senates hatte im Herbst einen ehemaligen Beamten der Staatssicherheit angehört, der nach eigener Aussage 1986 den Auftrag erhalten hatte, den Priester Adolf Chojnacki, einen der Kaplane der »Solidarność«, durch einen vorgetäuschten Autounfall zu ermorden. Auf Bitten der Senatskommission nahm sich Rokita der Sache an und wandte sich an die zuständige Dienststelle des Innenministeriums im südpolnischen Sucha Beskidzka. Freimütig schrieb ihm der dortige Leiter der Staatssicherheit, alle operativen Akten zu Priestern und Pfarreien s­ eien mit Auflösung der entsprechenden Abteilung auf Anordnung der vorgesetzten Behörde im September 1989 makuliert worden.21 Daraufhin stellte Rokita eine offizielle Anfrage an das Innenministerium und ging, nachdem er von dort zwei Wochen lang keine Antwort erhalten hatte, am 31. Januar 1990 an die Öffent­lichkeit. Dem Innenministerium blieb nichts anderes übrig, als die Aktenvernichtung als harmlosen Routinevorgang darzustellen, der nunmehr gestoppt werde.22 Der Skandal war perfekt. Auf die Arbeit der Rokita-­Kommission wirkte sich dieser Vorgang jedoch nicht aus. Denn sie prüfte ja erklärtermaßen die jeweiligen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft. An die Staatssicherheit hatte sich Rokita in d­ iesem besonderen Fall nur deshalb gewandt, weil der Mordplan, wie weit er auch gediehen sein mochte, nicht ausgeführt worden war und es gar keine staatsanwalt­lichen Ermittlungen gegeben hatte. Überlegungen Rokitas, die jeweiligen Beamten wegen Behinderung der Kommissionsarbeit anzuzeigen, verliefen im Sande.23 Nicht die Vernichtung der Akten, sondern die Mühen der Ebene machten der Kommission zu schaffen. Ihre einzelnen Arbeitsgruppen kamen mit den Untersuchungen nur schleppend voran. Rokita selbst klagte ­später, die Kommissionsmitglieder aus der inzwischen aufgelösten ehemaligen Staatspartei hätten sich

20 Gabriel Mérétik: Noc generała. 13. grudnia 1981 [Die Nacht des Generals. Der 13. Dezember 1981]. Warszawa 1989, S. 239. 21 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 147 und 178 – 180. 22 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 4. Sitzung vom 19. Januar 1990, S. 110 – 120. 23 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 146 – 149 und 178 – 180.

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kaum beteiligt und wohl auf einen »stillen, unspektakulären Boykott« gehofft.24 Die stenographischen Protokolle zeichnen hingegen ein anderes Bild. Denn auch Kommissionsmitglieder des Bürgerklubs und selbst Tadeusz Kowalczyk, auf dessen Zwischenruf hin die Kommission überhaupt erst eingerichtet worden war, fanden in der intensiven Parlamentstätigkeit des Jahres 1990 kaum die nötige Zeit, regelmäßig in der Kommission mitzuarbeiten.25 Rokita selbst verwahrte sich im Juli gegen den Vorwurf, den sein einstmaliger politischer Mentor Antoni Macierewicz, Urgestein des kompromisslos antikommunistischen Flügels der Opposi­tion, in einer Fernsehsendung erhob, die Kommission verwische die Spuren der Verbrechen des Innenministeriums. Schon diesen Vorwurf hielt Rokita für strafbar. Kowalczyk ergänzte: »Richtig wäre allein die Feststellung, dass wir zu wenig Zeit haben.« 26 Zu d ­ iesem Zeitpunkt hatte die Kommission bereits einsehen müssen, dass viele der ihr vorliegenden Todesfälle nicht mehr eindeutig zu klären sein würden. Gleich in den ersten Fällen riet Jacek Taylor, einer der bekanntesten opposi­ tionellen Anwälte in Polen, der Kommission als Sachverständiger wiederholt davon ab, weitere Ermittlungen anzuregen.27 Auch von einem politischen Motiv konnte oft nicht die Rede sein; so etwa im Fall von Stanisław Kot, Fahrer in einem Transportbetrieb in Rzeszów. Kot war im März 1982 von der Miliz volltrunken auf der Straße eingesammelt worden und acht Tage s­ päter im Krankenhaus verstorben. Nach eigenen Angaben hatten die Beamten ihn brutal geschlagen. Die Obduk­tion bestätigte, dass Kot an einer Lungenverletzung infolge von Schlägen gestorben sei. Dennoch hatte die Militärstaatsanwaltschaft ihre Ermittlungen eingestellt. In den Beratungen der Kommission schlug Rokita vor, erneut gegen die beiden diensthabenden Beamten sowie gegen den Militärstaatsanwalt zu ermitteln. Darin wurde er auch von einem Abgeordneten der PZPR unterstützt. Der sachverständige Anwalt hingegen riet davon ab. Auch wenn das Verfahren seinerzeit ohne Hinweis auf die offenkundige Schuld der Beamten eingestellt worden sei, habe die Staatsanwaltschaft alle Beamten sorgfältig verhört und keinen Hinweis darauf gefunden, wer Kot tatsäch­lich geschlagen hatte. Die Kommission legte den Fall zunächst zu den Akten, ohne einen Beschluss zu fassen, erreichte ­später aber doch eine

24 Jan Rokita/Antoni Dudek: Raport Rokity. Sprawozdanie Sejmowej Komisji Nadzwyczajnej do Zbadania Działalności MSW [Der Rapport Rokitas. Der Bericht der Außerordent­lichen Sejm-­Kommission zur Untersuchung der Tätigkeit des Innenministe­ riums]. Kraków 2005, S. 9. 25 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 8. Sitzung vom 9. Oktober 1990, S. 455. 26 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 7. Sitzung vom 31. Juli 1990, S. 348 und 424. 27 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 130 – 138.

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Wiederaufnahme des Verfahrens.28 Ein anderer Fall betraf einen Häftling, der im Gefängnis eines natür­lichen Todes gestorben war. Allenfalls war den Justizbehörden unterlassene Hilfeleistung vorzuwerfen.29 Eine weitere Gefangene, eine obdachlose Alkoholikerin, war im Milizarrest von einer Mitinsassin in der Zelle erschlagen worden. Es könne nicht sein, dass die Miliz jemanden festnehme und dann werde Selbstjustiz geübt, empörte sich der Abgeordnete Ryszard Wojciechowski von der PZPR: »Wir können uns mit solchen Vorfällen nicht abfinden, nur weil jemand Alkoholiker war.« 30 Jan Lityński vom Bürgerklub entgegnete, dass auch dieser Fall die Zuständigkeit der Kommission überschreite. In einem weiteren Fall schließ­ lich ging es um drei Milizbeamte, die einen Mann in dessen eigener Wohnung zu Tode geprügelt hatten. Dafür waren sie seinerzeit auch vor Gericht gestellt worden, hatten die ohnehin niedrigen Haftstrafen aber infolge wiederholter Straferlasse im Zuge der Amnestie nicht antreten müssen. Der berichterstattende Abgeordnete Wojciech Solarewicz vom Bürgerklub sah keine weiteren Handlungsmög­lichkeiten. »Drei Beamte erschlagen einen Mann, und wir können nichts tun?«, fragte sein Frak­tionskollege Maciej Bednarkiewicz ungläubig.31 Solarewicz wie Bednarkiewicz waren selbst Juristen und in der Opposi­tion tätig gewesen. In ihrem Wortwechsel war das Ungenügen daran mit Händen zu greifen, dass rechtsstaat­liche Verfahren einer umfassenden Aufklärung enge Grenzen zogen. Die Auseinandersetzungen darüber verliefen innerhalb der Kommission, nicht entlang parteipolitischer Linien. Auch in politischen Fällen kam die Kommission mitunter nicht weiter. K ­ azimierz Majewski etwa, ein Aktivist aus Hirschberg (polnisch: Jelenia Góra) hatte sich das Leben genommen, unmittelbar nachdem er in einem Verhör von Beamten der Staatssicherheit bedroht worden war. Solche Drohungen waren zwar strafbar. Aber auch hier sah die Kommission keine Mög­lichkeit für ein weiteres Ermittlungsverfahren, da die Staatsanwaltschaft seinerzeit alle Zeugen vernommen hatte und ihr nichts vorzuwerfen war.32 Ihren vielleicht größten Erfolg erzielte die Kommission hingegen im Fall von Bogdan Włosik. Dieser, ein zwanzigjähriger Berufsschüler, war am 13. Oktober 1982 in Nowa Huta am Rande einer Protestdemonstra­tion gegen das Kriegsrecht 28 Ebd., S. 138 – 142 und S. 169 – 177. Siehe auch Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 149 und S. 154. 29 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 145 – 146. 30 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 7. Sitzung vom 31. Juli 1990, S. 334. 31 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 6. Sitzung vom 5. Juni 1990, S. 240. – Zu ­diesem Fall (Kazimierz Łazarski) siehe auch Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 152 und 176. 32 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 142 – 144; Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 145 – 147.

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von einem Hauptmann der Staatssicherheit erschossen worden. In den anschließenden Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft Notwehr angenommen und das Verfahren eingestellt. Auf Antrag der Rokita-­Kommission wurde das Verfahren nunmehr neu aufgenommen. Der Täter wurde im Dezember 1991 in erster Instanz zu acht Jahren, in zweiter Instanz dann zu zehn Jahren Haft verurteilt, von denen er fünfeinhalb Jahre verbüßte. Auch gegen den zuständigen Militärstaatsanwalt erstattete die Kommission Anzeige.33 In ihrem Abschlussbericht vom Herbst 1991 beantragte die Kommission, 88 strafrecht­liche Ermittlungsverfahren einzuleiten oder wiederaufzunehmen, weil die Wahrheit über vergangene Straftaten in den 1980er Jahren vertuscht worden sei. In 21 Fällen sei die Staatsanwaltschaft zu ­diesem Zeitpunkt ( Juli 1991) bereits tätig geworden. Beinahe einhundert Beamte von Miliz und Staatssicherheit ­seien schwerer Verbrechen verdächtig. Bei mehr als siebzig Staatsanwälten sei die mora­lische Eignung für den weiteren Dienst zweifelhaft und müsse unverzüg­lich geprüft werden. Allerdings habe der Generalstaatsanwalt in mehreren Fällen bereits mitgeteilt, dass die recht­lichen Vorschriften ein solches Vorgehen nicht zuließen.34 Ausführ­lich beschrieb der Bericht auch die Funk­ tionsweise der Sicherheitsorgane und ihr Zusammenspiel mit der Justiz. Dies hatte Rokita bereits zum Auftakt der Kommissionsaufgaben als eine zentrale Aufgabe benannt.35 Kaum zu erfüllen war hingegen der Anspruch, »alle Beamte strafrecht­lich zur Verantwortung zu ziehen, die ihre Befugnisse missbraucht haben«.36 Im Rückblick konstatierte Rokita eine bedauer­liche Ambivalenz der Kommissionsarbeit. Der Sejm habe den Bericht zwar angenommen, die Ergebnisse s­ eien aber nicht konsequent umgesetzt worden. Immer und immer wieder hätten sich die Behörden auf die Unabhängigkeit der Justiz berufen. Dennoch sei die Arbeit der Kommission nicht gänz­lich umsonst gewesen, denn in mehreren Fällen (insgesamt sieben) ­seien auf der Grundlage ihrer Befunde tatsäch­ lich Haftstrafen verhängt worden.37 33 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 136 – 138 und 164 – 167; Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 133 – 135; Stan wojenny w Małopolsce. Relacje i dokumenty. [Das Kriegsrecht in Kleinpolen. Berichte und Dokumente]. Bearb. Zbigniew Solak/Jarosław Szarek Kraków 2005, S. 161 – 173 (Gespräch mit den Eltern Włosiks). 34 Siehe Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 33 – 34. – In der Einleitung aus dem Jahr 2005 korrigierte Rokita die Zahl von 88 auf 78 Ermittlungsverfahren. Siehe ebd., S. 14. 35 Siehe das Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 2. Sitzung vom 13. September 1989, S. 67. 36 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 5. Sitzung vom 13. März 1990, S. 130. 37 Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 16.

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3. 1990 – 2016 Zu den sieben Fällen aus der Rokita-­Kommission, die bis 2005 zu einer Verurteilung geführt hatten, gehörten neben dem Fall von Bogdan Włosik auch die töd­lichen Schüsse vom August 1982 auf Demonstranten in Lubin. Die Rokita-­Kommission kam zu dem Schluss, dass sehr wohl festgestellt werden könne, wer die Ausgabe scharfer Muni­tion an die Einheiten der ZOMO angeordnet hatte und w ­ elche Soldaten scharf geschossen hatten.38 Wer genau den Schießbefehl erteilt hatte, ließ sich allerdings nicht mehr nachweisen. Die Prozesse zogen sich über 17 Jahre hin, mehrere Urteile wurden wegen der vorangegangenen Amnestien vermindert oder wegen Verjährung kassiert. Gegen drei Angeklagte wurden schließ­lich Haftstrafen bis zu dreieinhalb Jahren verhängt, aber nicht mehr vollstreckt.39 Auch die töd­lichen Schüsse vom Dezember 1981 in der Grube »Wujek« waren in der Kommission unter dem Vorsitz Rokitas bereits im Juni 1990 zur Sprache gekommen. Ein juristischer Sachverständiger kam nach der Analyse der Akten der Staatsanwaltschaft in Gleiwitz (polnisch: Gliwice) zu dem Ergebnis, dass die Ermittlungen in der Tat fehlerhaft geführt worden ­seien. Denn die Ermittler hätten von vornherein Notwehr angenommen. Er bemängelte die ballistischen Gutachten. Die Schützen s­ eien so nicht ermittelt worden, auch habe es keine Fotos der Opfer gegeben. Der ermittelnde Staatsanwalt habe ausgesagt, er sei von der Richtigkeit der als Zeugen aussagenden Milizbeamten nicht überzeugt. Das Verfahren sei offensicht­lich aus politischen Gründen eingestellt worden. Ein zweiter Sachverständiger warf die Frage nach der strafrecht­lichen Verantwortung der Entscheidungsträger auf und riet zu einem neuen Ermittlungsverfahren. Nach einer ­kurzen Debatte entschied die Kommission, dass es ein berechtigtes öffent­ liches Interesse an dieser Frage gebe.40 Für den Dezember 1990 wurde sogar ein Ortstermin anberaumt. Auf dieser Grundlage kam die Kommission zu detaillierten Ergebnissen. Sie empfahl die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen der neun getöteten Bergleute ebenso wie die Einleitung eines neuen Ermittlungsverfahrens gegen die politische Führung des Innenministeriums und insbesondere gegen General Kiszczak. Denn ein Telegramm des Innenministeriums vom Vormittag des 13. Dezember, das den Gebrauch von Schusswaffen »in außergewöhn­lichen Fällen« regelte und von Kiszczak abgezeichnet worden war, sei zwar formal vom Dekret über 38 Siehe Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 101 – 132. 39 Kordas: Wydarzenia (wie Anm. 7), S. 169 – 170; Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 16. 40 Archiv des Sejm. Rokita-­Kommission. Protokoll der 6. Sitzung vom 5. Juni 1990, S. 225v.–234.

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das Kriegsrecht gedeckt gewesen. Dieses Dekret sei aber erst am 17. Dezember veröffent­licht worden und damit auch erst dann rechtskräftig geworden. Damit aber entbehre der Einsatz von Schusswaffen am Vortag seiner Rechtsgrundlage. Auch müsse vor dem Staatstribunal geklärt werden, ob die Leitung des Ministeriums während der Ereignisse womög­lich ihre Aufsichtspflicht verletzt habe.41 Auf dieser Grundlage wurden in der Folge in Kattowitz drei Strafprozesse gegen zunächst 17 ehemalige Beamte der ZOMO geführt. Die beiden ersten Verfahren vor dem Bezirksgericht endeten mangels Beweisen mit Freisprüchen. Es sei nicht mehr festzustellen, wer die Schüsse abgegeben habe. Nachdem beide Urteile von der nächsten Instanz aufgehoben worden waren, führte der dritte Prozess schließ­ lich dazu, dass 14 Beamte auf der Grundlage neuer Zeugenaussagen im Mai 2007 Freiheitsstrafen von jeweils zweieinhalb Jahren erhielten, wiederum unter Bezug auf die Amnestie vom Dezember 1989. Der Befehlshaber der Einheit wurde zu elf Jahren Haft verurteilt. Nur das Urteil gegen den Kommandeur der Einheit hatte schließ­lich auch vor dem Appella­tionsgericht Bestand, dieser erhielt eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren.42 Auch gegen den Staatsanwalt, der seinerzeit die Ermittlungen eingestellt hatte, wurde nun ein Prozess geführt. Das Verfahren gegen General Kiszczak wurde wegen dessen schlechter Gesundheit abgetrennt. Er wurde 1996 zunächst freigesprochen, dann 2004 zu vier Jahren Haft verurteilt, die nach der Amnestie von 1989 auf zwei Jahre vermindert wurden. Beide Urteile wurden vom Appella­tionsgericht aufgehoben. In den nachfolgenden Verfahren wurde vor allem die Frage behandelt, ob die Tat seit 1986 verjährt sei, da nicht von Vorsatz ausgegangen werden könne. Kiszczak wurde 2011 schließ­lich freigesprochen.43 Mög­lich wurden die langwierigen Verfahren überhaupt nur dadurch, dass im Dezember 1998 mit der Einrichtung des Instituts für Na­tionales Gedenken (polnisch: Instytut Pamięci Narodowej/IPN) der Straftatbestand des »kommunistischen Verbrechens« (polnisch: zbrodnia komunistyczna) eingeführt worden war. Dieses wurde definiert als Handlung, begangen z­ wischen dem 17. September 1939 und dem 31. Juli 1990 von Beamten eines kommunistischen Staates, 41 Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 39 und 66 – 70. 42 Tina de Vries: Die recht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Polen. In: Friedrich-­Christian Schroeder/Herbert Küpper (Hrsg.): Die recht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Osteuropa (Studien des Instituts für Ostrecht München, 63). Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 127 – 156, hier S. 140. – Siehe hierzu auch Wszyscy zomowcy spod »Wujka« winni i skazani [Alle ZOMO-Beamten im Fall »Wujek« schuldig und verurteilt]. In: Wiadomości 31. 05. 2007. URL : http://wiadomosci.wp.pl/ wiadomosc.html?kat=1342&wid=8892688&ticaid=115e0c, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 43 Siehe URL : http://wiadomosci.onet.pl/kraj/general-­kiszczak-­uniewinniony-­ws-­smierci-­ gornikow-­z-­kopalni-­wujek/9czqd, letzter Zugriff: 13. 06. 2016.

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die in der Anwendung von Repression oder einem sonstigen Verstoß gegen die Menschenrechte bestand, sofern sie nach geltendem polnischen Recht bereits strafbar gewesen war.44 Damit wurde das Rückwirkungsverbot nicht umgangen, aber die Verjährung faktisch aufgehoben. Diese setzte nun erst ab dem 1. Juli 1990 ein. Sie beträgt nach polnischem Strafrecht dreißig Jahre, bei Tötungsdelikten vierzig Jahre. Die Ermittlungen führte fortan das IPN, das damit anders als die deutsche Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) eigene Ermittlungsbefugnisse erhielt.45 Diese Bestimmungen lassen sich auf die Erfahrungen der 1980er Jahre zurückführen, als ein Großteil einschlägiger Ermittlungen eingestellt wurde, und auf das anhaltenden Misstrauen in eine Justiz, deren Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit darin bestand, dass sie die richter­liche Unabhängigkeit erreicht hatte. Die Rokita-­Kommission hatte zwar die Grundlagen für erneute Ermittlungen gelegt und damit hohe Erwartungen geweckt, zumal sich in den Verfahren zur Grube »Wujek« zunächst auch die Frage nach der politischen Verantwortung für das Kriegsrecht bündelte. Dass die Justiz ihre wiedergewonnene Unabhängigkeit auch in diesen Verfahren aufrechterhielt, mochte unter denjenigen, die auf härtere Urteile hofften, Zweifel daran wecken, ob die strafrecht­liche Aufarbeitung kommunistischen Unrechts wirk­lich ener­gisch genug vorangetrieben wurde. Denn unter dem Strich wurde nur der Kommandeur der Einheit rechtskräftig verurteilt, aus der in der Grube »Wujek« die töd­lichen Schüsse abgegeben worden waren. Das Strafrecht erwies sich als stumpfes Schwert. Die Vermutung, eine seit kommunistischen Zeiten unveränderte Justiz vertusche auch weiterhin ungestört die Straftaten der Diktatur, äußerte Rokita unverblümt in Bezug auf den Mord an Grzegorz Przemyk.46 Dieser war von der Rokita-­Kommission selbst gar nicht untersucht worden, da die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen bereits im Frühjahr 1990 selbständig wieder aufgenommen hatte. Der Fall wurde auf andere Weise bedeutsam. Kurz nachdem der ehemals opposi­tionelle Journalist Krzysztof Kozłowski im März 1990 sein Amt als stellvertretender Innenminister angetreten hatte, erhielt er einen Hinweis darauf, in welchem Panzerschrank des Ressorts die Akte Przemyk aufbewahrt wurde. Er stellte sie umgehend persön­lich sicher und übergab sie der Staatsanwaltschaft.

44 Ustawa z dnia 18 grudnia 1998 r. o Instytucie Pamięci Narodowej – Komisji Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu [Gesetz vom 18. Dezember 1998 über das Institut für Na­tionales Gedenken – Kommission zur Untersuchung von Verbrechen gegen die polnische Na­tion], Art. 2.1 (Dz. U. 1998 nr 155 poz. 1016; vereinheit­lichter Text nach Dz. U. 2014, poz. 1075). 45 De Vries: Die recht­liche Aufarbeitung (wie Anm. 42), S. 154 – 156. 46 Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 189.

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Das eigenmächtige Vorgehen war nach Kozłowskis eigenen Worten ein bewusster Bruch der Loyalität gegenüber Innenminister Kiszczak. Von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit der beiden konnte in dieser Übergangsphase ohnehin kaum die Rede sein, aber sie respektierten einander in ihren gegensätz­lichen Rollen. Die beschlagnahmte Akte aber enthielt den Nachweis, dass Kiszczak seinerzeit selbst angeordnet hatte, es dürfe nur in eine Richtung ermittelt werden, näm­lich gegen die Sanitäter, die Przemyk von der Wache in die Notaufnahme gebracht hatten.47 Kozłowskis Ak­tion belegt wie kaum eine andere, dass die Regierung ­Mazowiecki auch im Frühjahr 1990 keineswegs auf einen »dicken Strich« hinarbeitete. Vielmehr vollzog sie jetzt den endgültigen Bruch mit dem alten Regime. General Kiszczak trat wenige Wochen ­später zurück. In einer Reihe von insgesamt fünf Strafprozessen wurde schließ­lich eine Haftstrafe gegen den zuständigen Wachkommandanten verhängt und 1999 vom Obersten Gericht bestätigt. Wegen des schlechten Gesundheitszustands des Verurteilten wurde sie allerdings nicht vollstreckt. Einer der Beamten, die Przemyk misshandelt hatten, wurde freigesprochen, der andere zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Haftstrafe wurde unter Verweis auf die Amnestie vom Dezember 1989 auf die Hälfte vermindert.48 Auch sie konnte nicht mehr vollstreckt werden, da die Tat als verjährt galt. Gegen weitere Beamte des Innenministeriums ist nach wie vor ein Verfahren am Institut für Na­tionales Gedenken zu dem Vorwurf anhängig, seinerzeit die Ermittlungen behindert zu haben.49 Auch der Mord an Pater Popiełuszko wurde von der Rokita-­Kommission zunächst nicht untersucht, denn die unmittelbaren Täter waren ja bereits rechtskräftig verurteilt und saßen mit einer Ausnahme noch immer in Haft. Hier musste sich die Kommission damit begnügen, die interne Neuordnung zu benennen, mit der das Innenressort die Zuständigkeiten zu verschleiern versucht und eine Wende in seiner Personalpolitik eingeleitet habe.50 Unabhängig davon wurden die Generäle Płatek und Ciastoń 1990 verhaftet und vor Gericht gestellt. Mehrere Strafprozesse, die sich vor allem auf die Aussagen der Mörder, ihrer ehemaligen Untergebenen stützten, endeten 2002 zunächst mit Freisprüchen, da keinem 47 Witold Bereś/Krzysztof Burnetko: Gliniarz z »Tygodnika«. Rozmowy z byłem ministrem spraw wewnętrznych Krzysztofem Kozłowskim [Der Bulle vom »Tygodnik«. Gespräche mit dem ehemaligen Innenminister Krzysztof Kozłowski]. Warszawa 1991, S. 54 – 56; Krzysztof Kozłowski/Michał Komar: Historia z konsekwencjami [Eine Geschichte mit Folgen]. Warszawa 2009, S. 260 – 261. 48 Łoś/Zybertowicz: Privatizing the Police-­State (wie Anm. 10), S. 68 f. 49 Siehe URL: http://ipn.gov.pl/pl/dla-­mediow/komunikaty/10226,Sledztwa-­stanu-­wojennego. html, letzter Zugriff: 09. 08. 2016. 50 Rokita/Dudek: Raport Rokity (wie Anm. 24), S. 166 und 176.

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der Angeklagten nachgewiesen werden konnte, unmittelbar an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Auch hier dauern die Ermittlungen des Institutes für Na­tionales Gedächtnis noch an. Sie gründen sich auf die Vermutung, dass ein eigenmächtiges Handeln der unmittelbaren Täter nicht angenommen werden könne.51 Hinter dieser Annahme steht der Anspruch, den Machtapparat als Ganzes mit den Mitteln des Strafrechts zur Verantwortung zu ziehen. Entsprechend umfassend ermittelte das Institut für Na­tionales Gedenken. Bis zum Jahr 2007 wurden beinahe neunhundert Ermittlungsverfahren wegen kommunistischer Verbrechen eingeleitet. 333 Anklageschriften wurden eingereicht. Derzeit untersucht eine eigene Kommission im Institut für Na­tionales Gedenken noch 46 Fälle mutmaß­licher kommunistischer Verbrechen, in denen der Verdacht besteht, frühere Ermittlungen ­seien vertuscht worden.52 Ein Großteil dieser Fälle geht unmittelbar auf die Rokita-­Kommission zurück. Der Abschluss der Ermittlungen ist für 2016 angekündigt. Ein gemischtes Bild zeigen schließ­lich auch die Verfahren, w ­ elche Fälle aus früheren Jahrzehnten betrafen. So wurde die Misshandlung einiger weniger politischer Häftlinge in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und im Stalinismus bereits 1996 und 1997 in Warschau und Krakau abgeurteilt.53 Viele Fälle hingegen waren verjährt, auch im Lichte der 1998 verlängerten Fristen. So scheiterte das IPN im Mai 2014 mit dem Einspruch gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes in Radom, welches die Misshandlung eines Inhaftierten durch einen Beamten der Staatssicherheit im Frühjahr 1950 als verjährt angesehen hatte.54 Auch der Versuch, die Festnahme von Demonstranten in Radom im Juni 1976 als Freiheitsberaubung vor Gericht zu bringen, führte zu keinem befriedigenden Ergebnis. Nachdem zwei Beamte in dieser Sache bereits 2002 freigesprochen worden waren, erhob die Staatsanwaltschaft 2008 nochmals Anklage gegen dreißig ehemalige Beamte der ZOMO. Das Gericht stellte auch hier fest, dass die entsprechenden Anklagepunkte bereits 1995 verjährt ­seien.55 Die Strafverfahren wegen des Todes zweier Demonstranten in Radom im Juni 1976 waren bereits 2001 eingestellt, weil die Täter nicht zweifelsfrei hatten ermittelt werden können. 51 De Vries: Die recht­liche Aufarbeitung (wie Anm. 42), S. 140 – 141. 52 Siehe URL: http://ipn.gov.pl/pl/dla-­mediow/komunikaty/10226,Sledztwa-­stanu-­wojennego. html, letzter Zugriff: 09. 08. 2016. 53 Frances Millard: Polish Politics and Society. London/New York 1999, S. 64. 54 Akt oskarżenia przeciwko Tadeuszowi K. [Anklageschrift gegen Tadeusz K.]. URL: http:// ipn.gov.pl/pl/sledztwa/akty-­oskarzenia/17095,277-Akt-­oskarzenia-­przeciwko-­Tadeuszowi-­K. html, letzter Zugriff: 05. 08. 2016. 55 Rocznica Czerwca 76. Pacyfikacja w Radomiu [Der Jahrestag des Juni 76. Die Pazifizierung in Radom]. URL: http://www.polskieradio.pl/5/3/Artykul/237072,W-czerwcu-76-protestowa lo-80-tysiecy-­ludzi, letzter Zugriff: 01. 05. 2016.

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Zum Fluchtpunkt aller strafrecht­lichen Aufarbeitung schließ­lich wurden die Prozesse gegen General Wojciech Jaruzelski selbst. An ihnen würde sich bemessen, ob das Regime als Ganzes abgeurteilt werden könnte. Als langjähriger Verteidigungsminister war Jaruzelski mitverantwort­lich für das Vorgehen von Armee und Polizei gegen streikende Arbeiter an der Ostseeküste im Dezember 1970, bei dem 45 Menschen ihr Leben verloren hatten, und für das Kriegsrecht vom 13. Dezember 1981. Wie kein anderer stand Jaruzelski deshalb für den repressiven Charakter des kommunistischen Regimes in Polen, aber auch für dessen Selbstaufgabe am Runden Tisch und für einen gewaltfreien Übergang zur Demokratie. Die beiden Verfahren gegen ihn machten die Grenzen strafrecht­licher Aufarbeitung deut­lich. Das Strafverfahren wegen des Militäreinsatzes gegen streikende Arbeiter im Dezember 1970 wurde im Dezember 1995 in Danzig eröffnet. Fünf Jahre lang war gegen die zwölf Angeklagten ermittelt worden, gericht­lich verhandelt wurde zwanzig Jahre. Zwei mittlere Befehlshaber erhielten am Ende Haftstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Jaruzelski wurde freigesprochen. Für seinen Biographen Paweł Kowal war dies eine der größten Blamagen der polnischen Justiz.56 Ebenso erfolglos endete das Verfahren wegen der Verhängung des Kriegsrechts. Bereits im Dezember 1991 hatte die antikommunistische Konfödera­tion Unabhängiges Polen beim Staatstribunal Anzeige erstattet, weil das Kriegsrecht formell nicht, wie in der Verfassung vorgesehen, vom Sejm, sondern vom Staatsrat verhängt worden war und weil mit dem Militärischen Rat zur Na­tionalen Rettung (polnisch: Wojskowa Rada Ocalenia Narodowego/WRON) eine verfassungswidrige Vereinigung gebildet worden sei. Verhandelt wurden die Anklage vor einer eigens gebildeten Kommission des Sejm. Diese hatte darüber zu befinden, ob vor dem Staatstribunal Anklage erhoben werden konnte. Noch im Verlauf der Anhörungen schob die KPN den im Falle Jaruzelskis nachgerade absurden Vorwurf der Korrup­tion und des Verrats hinterher. Damit rückte die Frage, ob ein sowjetischer Einmarsch im Dezember 1981 unmittelbar bevorstand und nur durch das Kriegsrecht verhindert worden sei, in den Mittelpunkt. Denn falls dem so gewesen wäre, konnte von Verrat keine Rede sein. Diese Diskussion dauert bis heute an, von der historischen Forschung ist sie weitgehend beantwortet: Die politische Verantwortung für das Kriegsrecht lag bei Jaruzelski 56 Paweł Kowal/Mariusz Cieślik: Jaruzelski. Życie paradoksalne [ Jaruzelski. Ein paradoxes Leben]. Kraków 2015, S. 341. – Zu den Ereignissen an der Ostseeküste im Dezember 1970 siehe Jerzy Eisler: Grudzień 1970. Geneza, przebieg, konsekwencje [Der Dezember 1970. Entstehung, Verlauf, Konsequenzen]. Warszawa 2000.

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selbst.57 Juristisch hingegen blieb das Verfahren zunächst ohne Ergebnis. Denn nach dem Wahlsieg der Linken im September 1993 stellte der Sejm das Verfahren ein.58 Auch ein paralleles Verfahren gegen Jaruzelski und Kiszczak wegen der Vernichtung von Politbüroprotokollen verlief auf diese Weise im Sande.59 Nur vier Jahre nach dem Sturz des kommunistischen Regimes hatte also eine postkommunistische Mehrheit im Sejm das zentrale Strafverfahren gegen den ehemaligen Staatspräsidenten eingestellt. Kaum etwas dürfte stärker zu dem Eindruck beigetragen haben, dass die strafrecht­liche Aufarbeitung kommunistischer Verbrechen politisch verfügbar war und an einem ungebrochenen Einfluss ehemaliger Kommunisten gescheitert sei. Gut ein Jahrzehnt ­später wurde erneut Anklage erhoben, diesmal durch die Staatsanwälte des Instituts für Na­tionales Gedenken. Diese werteten die Internierung führender Mitglieder der »Solidarność« sowie die Verhängung des Kriegsrechts als Straftat, da Jaruzelski gemeinsam mit Kiszczak und sieben weiteren Angeklagten eine »bewaffnete organisierte kriminelle Vereinigung« (polnisch: kierowanie zorganizowanym związkiem przestępczym o charakterze zbrojnym) gebildet und die Mitglieder des Staatsrates zum Bruch der Verfassung angestiftet hätten.60 25 Jahre nach den Ereignissen war ein solcher Prozess nur noch schwer zu führen. Das Verfahren gegen Eugenia Kempara, die ehemalige Vorsitzende der kommunistischen Liga Polnischer Frauen und Staatsratsmitglied, wurde eingestellt, weil die Vorwürfe gegen sie verjährt waren. Das Verfahren gegen den früheren Justizminister Tadeusz Skóra wurde abgetrennt, weil dieser sich auf seine richter­liche Immunität berufen konnte. Krystyna Marszałek-­Młyńczyk, ebenfalls ehemaliges Staatsratsmitglied, verstarb im Dezember 2007, der frühere Chef der polnischen Zivilverteidigung General Tadeusz Tuczapski im April 2009. Im selben Jahr wurde das Verfahren gegen den früheren Generalstabschef Florian Siwicki mit Rücksicht auf dessen schlechte Gesundheit suspendiert und vor seinem Tod nicht

57 Siehe Andrzej Paczkowski (Hrsg.): From Solidarity to Martial Law. The Polish Crisis of 1980 – 1981. A Documentary History. Budapest 2006; Andrzej Paczkowski: The Spring will be Ours. Poland and the Poles from Occupa­tion to Freedom. University Park 2003, S. 440 – 450. 58 Kowal/Cieślik: Jaruzelski (wie Anm. 56), S. 340. Tina Rosenberg: The Haunted Land. Facing Europe’s Ghosts after Communism. New York 1995, S. 352 [deutsch: Die Rache der Geschichte. Erkundungen im neuen Europa. München, Wien 1997]. 59 Millard: Polish Politics and Society (wie Anm. 53), S. 51; Rosenberg: The Haunted Land (wie Anm. 58), S. 252. 60 Die Anklageschrift gegen Jaruzelski und andere ist zugäng­lich unter der URL: https://ipn.gov. pl/pl/sledztwa/stan-­wojenny/24205,Akt-­oskarzenia-­przeciwko-­Wojciechowi-­Jaruzelskiemu-­ i-­innym-­skierowany-­do-­Sadu-­Ok.html, letzter Zugriff: 09. 08. 2016.

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wieder aufgenommen. Aus demselben Grund wurde im August 2011 schließ­lich auch das Verfahren gegen Jaruzelski suspendiert.61 In seinem Fall entschied also auch ­dieses Verfahren »die Biologie«.62 Nur über zwei der acht Angeklagten wurde schließ­lich ein Urteil gesprochen. Jaruzelskis Vorgänger als Generalsekretär der PZPR Stanisław Kania erhielt einen Freispruch. Allein General Kiszczak wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Auf der Grundlage der Amnestie aus dem Jahr 1989 wurde die Strafe halbiert und zur Bewährung ausgesetzt. Das Urteil hatte auch vor dem Appella­tionsgericht Bestand und wurde im April 2015 rechtskräftig. Der Ankläger aus dem IPN verbuchte diesen einsamen Richterspruch als Erfolg seiner Behörde und »in gewissem Maße« auch der polnischen Justiz.63 In Kiszczaks Nachlass, sicher verwahrt in einem privaten Safe, fand sich im Februar 2016 die sagenumwobene Akte »Bolek«. Sie enthielt jene Belege für eine Zusammenarbeit Lech Wałęsas mit der Staatssicherheit in den frühen 1970er Jahren, nach der nicht nur das Institut für Na­tionales Gedenken so lange gesucht hatte.64 Dieser Fund wirft nochmals ein dramatisches Licht auf die geschichtspolitische Dimension strafrecht­licher Aufarbeitung. Denn für die polnische Rechte und ihre Wortführer in der PiS, allen voran Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, war diese Unterschrift der längst erwartete Beweis dafür, dass die gesamte politische Ordnung der Dritten Republik von ihren Wurzeln her verrottet sei. Was wäre ein besserer Beleg dafür als diese Akte, dass Wałęsa und mit ihm die Führung der »Solidarność« der kommunistischen Staats- und Parteiführung am Runden Tisch den sanften Übergang in die neue Ordnung geebnet hätten? Wałęsa selbst nahm im April 2016 Einsicht in die Akte und bestritt die Echtheit der Dokumente.65 61 Zawieszono proces Wojciecha Jaruzelskiego [Verfahren gegen Wojciech Jaruzelski eingestellt]. URL: http://wiadomosci.onet.pl/kraj/zawieszono-­proces-­wojciecha-­jaruzelskiego/x6mp7, letzter Zugriff: 30. 04. 2016. 62 Kowal/Cieślik: Jaruzelski (wie Anm. 56), S. 341. 63 Czesław Kiszczak prawomocnie skazany za stan wojenny [Czesław Kiszczak wegen des Kriegsrechts rechtskräftig verurteilt]. URL: http://www.rmf24.pl/fakty/news-­czeslaw-­kiszczak-­ prawomocnie-­skazany-­za-­stan-­wojenny,nId,1834968, letzter Zugriff: 30. 04. 2016. 64 Zur »Akte Bolek« siehe Piotr Osęka: The Bolek Affair: Or, Kiszczak’s Cupboard and the Meaning of History. URL: http://www.cultures-­of-­history.uni-­jena.de/debating-20th-­century-­ history/poland/the-­bolek-­affair-­or-­kiszczaks-­cupboard-­and-­the-­meaning-­of-­history/, letzter Zugriff: 17. 06. 2016. 65 Komunikat w sprawie okazania Lechowi Wałęsie teczki TW »Bolka« [Mitteilung zur Vorlage der Akte des IM »Bolek« an Lech Wałęsa]. URL: https://ipn.gov.pl/wydzial-­prasowy/ komunikaty/komunikat-­w-­sprawie-­okazania-­lechowi-­walesie-­teczki-­tw-­bolka, letzter Zugriff: 30. 04. 2016.

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Die kontroversen Debatten, die seit den 1990er Jahren um die Lustra­tion geführt werden, führen endgültig von der Strafjustiz in die Politik und sollen hier nicht weiter behandelt werden.66

4. Zusammenfassung: Kein »dicker Strich« Den sprichwört­lichen »dicken Strich«, mit dem aus politischem Kalkül auf eine wirksame strafrecht­liche Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Polen verzichtet worden sei, hat es nicht gegeben. Vielmehr setzten Abgeordnete der »Solidarność« die Verbrechen der Diktatur früh auf die Tagesordnung des demokratischen Umbruchs, unmittelbar nach ihrem überwältigenden Wahlsieg vom Juni 1989 und noch bevor Mazowiecki ­dieses Bild überhaupt geprägt hatte. Die Erwartungen an das Strafrecht waren in Polen früh sehr hoch, und sie wurden früh enttäuscht. Dies hatte mehrere Gründe. Die frühe und einseitige Konzentra­tion auf vermeint­lich politisch motivierte Morde und Todesfälle, ­welche zu erheb­lichen Teilen bereits in den 1980er Jahren Gegenstand strafrecht­licher Ermittlungen gewesen waren, erweckte den Eindruck, es bedürfe unter veränderten Vorzeichen nur des entschiedenen politischen Willens, um bisherige Vertuschungen und Einseitigkeiten aufzudecken und zügig zu korrigieren. Es zeigte sich rasch, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wie die Rokita-­Kommission diesen Anspruch nicht erfüllen könnte. Vielmehr traten in ihrer Arbeit noch während des politischen Umbruchs selbst die Schwierigkeiten juristischer Aufklärung deut­lich zutage. Diese Probleme griffen konservative Politiker wie Lech Kaczyński und Antoni Macierewicz in der aufbrechenden Polarisierung der Parteienlandschaft auf und spitzten sie zu einem politischen Vorwurf an die linksliberalen Intellektuellen um Bronisław Geremek, Jacek Kuroń und Adam Michnik zu. Der Runde Tisch und Mazowieckis ganz anders gemeinte Formel vom »dicken Strich« boten mächtige Bilder, ­welche den Eindruck untermauern halfen, es sei für den fried­lichen Umbruch ein hoher Preis gezahlt worden in einem unmora­lischen, schmutzigen Geschäft. Der Wahlsieg der Linken 1993, die Wahl Aleksander Kwaśniewskis zum Staatspräsidenten und auch der Umstand, dass insbesondere Michnik in den Debatten der 1990er Jahre dafür stritt, die 66 Siehe hierzu de Vries: Die recht­liche Aufarbeitung (wie Anm. 42), S. 141 – 151; Millard: Polish Politics and Society (wie Anm. 53), S. 15 – 25; Jan Woleński: Lustracja jako zwierciadlo [Lustra­tion als Spiegel]. Kraków 2007; Agnieszka Opalińska: Lustracja w Polsce i w Niemczech [Die Lustra­tion in Polen und in Deutschland]. Wrocław 2012.

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Lustra­tion nicht zur Hexenjagd werden zu lassen, verfestigten diesen Eindruck zu einer politischen Ideologie. Das Bedürfnis, die Verbrechen des Regimes umfassend aufzuklären und die Täter rasch und hart zu bestrafen, konnte trotz der frühen Bemühungen nicht befriedigt werden. Vielmehr entstand der Eindruck, die Vertuschungen und Manipula­tionen, ­welche die strafrecht­lichen Ermittlungen der 1980er Jahre geprägt hatten, setzten sich fort. Das Gegenteil von Kommunismus, so die amerikanische Publizistin Tina Rosenberg im Jahr 1995, sei nicht Antikommunismus, sondern der Rechtsstaat.67 Diese Unterscheidung hat auch nach zwanzig Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren.

67 Rosenberg: The Haunted Land (wie Anm. 58), S. 407.

Stefan Troebst

Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch Zum Umgang mit den Akten der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrecht­lichen Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen

»Stojo Petkanow, Sie werden vor dem Obersten Gericht ­dieses Landes der folgenden Vergehen angeklagt. Erstens, Betrug in Verbindung mit offiziellen Dokumenten, gemäß Artikel 127 (3) des Strafgesetzbuches. Zweitens, Amtsmißbrauch in Ihrer offiziellen Funk­tion, gemäß Artikel 212 (4) des Strafgesetzbuches. Und drittens …« [»Massenmord.« »Völkermord.« »Zerstörung des Landes.«] »… Mißwirtschaft gemäß Artikel 332 (8) des Strafgesetzbuches.« [»Mißwirtschaft!« »Mißwirtschaft der Gefangenenlager.« »Er hat die Leute nicht angemessen gefoltert.« »Scheiße, Scheiße.«]1

Zum politischen und juristischen Umgang mit dem Erbe des kommunistischen Regimes im Nach-»Wende«-Bulgarien vorab einige autobiographische Bemerkungen: Im Zeitraum von 1974 bis 1989 war ich mehrfach – circa zwanzig Mal – in der Volksrepublik Bulgarien, darunter im akademischen Jahr 1976/77 als Stipendiat des (West)Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Historischen Fakultät der Kliment-­Ohridski-­Universität Sofia.2 Den zum Teil deut­ lichen Anzeichen einer Überwachung durch das Komitee für Staatssicherheit im Innenministerium der Volksrepublik Bulgarien maß ich seinerzeit keine besondere 1 Julian Barnes: Das Stachelschwein. Aus dem Eng­lischen von Stefan Howald und Ingrid Heinrich-­Jost. Zürich 1992, S. 40. – Die Figur von »Stojo Petkanow« steht bei Barnes für den langjährigen bulgarischen Partei- und Staatschef Todor Živkov. Noch vor dem Erscheinen des eng­lischen Originals (The Porcupine, London 1992) wurde eine bulgarische Übersetzung veröffent­licht: Džulian Barnes: Bodlivo svinče. Sofia 1992. 2 Ana Luleva (Sofia) und Klaus Schrameyer (Bonn) ­seien für Hinweise gedankt. – Eine bulgarische Übersetzung des Textes erschien 2016. Vgl. Stefan Troebst: Preodoljavaneto na minalo po bălgarski [Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch]. In: Liberalen pregled [Liberale Umschau] vom 15. April 2016, URL: http://librev.com/index.php/discussion-­bulgaria-­ publisher/2964 – 2016 – 0 4 – 15 – 13 – 51 – 0 4#ftnref1, letzter Zugriff: 28. 04. 2016.

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Bedeutung bei. Vorgeladen und befragt, zugeführt und verhört, ausgewiesen oder gar inhaftiert wurde ich nie.3 Allerdings konnte ich 1993 meiner vom Ministerium für Staat­sicherheit der DDR angelegten Akte entnehmen, dass das MfS in den Jahren 1979 bis 1986 mit seinem bulgarischen Pendant in regelmäßigem Austausch über mich stand; dies deshalb, weil man in Sofia gegen mich den Verdacht auf »antibulgarische Tätigkeit und antibulgarische wissenschaft­liche und andere Publika­tionen« hegte.4 Im März 1997 erließ die bulgarische Na­tionalversammlung nach langem parlamentarischen Streit das Gesetz über den Zugang zu den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit und der ehemaligen Spionageabteilung des Generalstabs, das mehrmals geändert wurde.5 Aus ­diesem Grund bat ich im Februar 2000 den Bulgarischen Botschafter in Deutschland brief­lich, den in Sofia zuständigen Stellen meinen Wunsch auf Einsicht in meine bulgarische Staatssicherheitsakte 3 Vgl. dazu »Antibălgarskata dejnost« na edin zapadnogermanec. Intervju săs Štefan Tr’obst [Die »antibulgarische Tätigkeit« eines Westdeutschen. Interview mit Stefan Troebst]. In: Deutsche Welle. Bulgarisches Programm vom 6. Januar 2016, URL: http://www.dw.com/bg/ антибългарската-­дейност-­на-­един-­западногерманец/a-18962749, letzter Zugriff: 09. 04. 2016, sowie die deutsche Kurzfassung: Freiwillig in Bulgarien? Er muss ein Spion sein. Interview mit dem deutschen Historiker Stefan Troebst. In: Deutsche Welle vom 19. Januar 2016, URL: http://www.dw.com/de/freiwillig-­in-­bulgarien-­er-­muss-­spion-­sein/a-18988825, letzter Zugriff: 09. 04. 2016. 4 Diese Formulierung findet sich in der Anlage »MdI der VRB [Ministerium des Innern der Volksrepublik Bulgarien], Übersetzung aus dem Rus­sischen. STRENG GEHEIM!« zu einem Brief von Generalmajor Willi Damm an Generaloberst »Mischa« Wolf, Berlin, 5. Februar 1986 (X/1273/86 – Re) in Antwort auf ein Schreiben der Hauptverwaltung Aufklärung IX des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 12. Dezember 1985 (207-bö/2512/85) bezüg­lich »Überprüfung der Sicherheitsorgane der VRB von TROEBST, Stefan« (BStU ZA, MfS-Abt. X, Nr. 579, Bl. 279 f.). In dieser Anlage heißt es: »Seit Juli 1985 hat Troebst ein auf 5 Jahre befristetes Einreiseverbot für die VRB wegen antibulgarischer Tätigkeit und antibulgarischer wissenschaft­licher und anderer Publika­tionen«. (Das Einreiseverbot wurde im Mai 1986 auf Interven­tion des damaligen Ministers für Volksbildung Ilčo Dimitrov aufgehoben.) – Zur Koopera­tion des MfS mit seinem bulgarischen Gegenüber vgl. Christopher Nehring: Die Zusammenarbeit der bulgarischen Staatssicherheit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR. In: Konrad Adenauer Stiftung – Auslandsbüro Bulgarien (Hrsg.): Texte zum Kommunismus in Bulgarien, 18. Februar 2013, URL:http://www.kas.de/bulgarien/ de/publica­tions/33548/, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 5 Zakon za dostăp do dokumentite na bivšata Dăržavna sigurnost i bivšeto razuznavatelno upravlenie na Generalnija štab [Gesetz über den Zugang zu den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit und der ehemaligen Spionageabteilung des Generalstabs]. In: Dăržaven vestnik [Staatsanzeiger] Nr. 24 vom 13. März 2001. – Zu den Wirkungen des Gesetzes vgl. Heinz Brahm: Bulgariens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit. In: Gernot Erler/ Johanna Deimel (Hrsg.): Bulgarien – Ein Jahr nach dem Regierungswechsel. München 1998, S. 103 – 116.

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zu übermitteln.6 Eine Antwort auf meinen Brief erhielt ich nicht, sondern stattdessen eine E-Mail des mir flüchtig bekannten Bruders (!) des Botschafters: I wanted to write you a message […] about your request from my brother […]. The things stand like this: my brother does not like at all those people from the security services since his student years. […] [H]e is unwilling to do anything related to the security services. I would suggest to you to contact for the informa­tion that you need Krassimir Karakachanov. I think he would be more in a posi­tion to help you.7

Eine ebenso merkwürdige, aber für die damalige Zeit bezeichnende Antwort: Das Thema war zum einen politisch heikel und zum anderen gab es ungeachtet des genannten Gesetzes keine klaren Regelungen zum Aktenzugang, schon gar nicht für Ausländer. Ich bat daraufhin im Juni 2000 die Deutsche Botschaft in Sofia, »den zuständigen bulgarischen Stellen meinen dring­lichen Wunsch nach Einsichtnahme in meine Akte […] zu übermitteln und auf eine amt­liche schrift­ liche Reak­tion zu drängen«.8 Auch darauf erhielt ich keine Antwort. 2002 hob dann eine neue Regierung unter Simeon Sakskoburggotski, von 1943 bis 1946 als Simeon II. von Sachsen-­ Coburg-­Gotha auf dem bulgarischen Thron, das Gesetz von 1997, das noch 2001 vom Verfassungsgericht bestätigt worden war, ersatzlos auf. Die Folge war, dass in den Jahren 2002 bis 2006 keinerlei Zugangsmög­lichkeiten zu den Staatssicherheitsakten bestanden.9 Im Frühjahr 2007 unternahm ich dann einen neuen Anlauf, da zum einen das bulgarische Parlament am 6. Dezember 2006, also wenige Wochen vor dem EU-Beitritt des Landes am 1. Januar 2007, das neue »Gesetz über den Zugang 6 Brief von Stefan Troebst an Botschafter Nikolaj Apostolov, Leipzig, 14. Februar 2000, S. 2. In: Archiv S. Troebst; Nachfrage in Brief von Stefan Troebst an Botschafter Nikolaj Apostolov, Leipzig, 23. März 2000. In: ebd. 7 E-Mail von Dr. Mario Apostolov an Stefan Troebst, 30. Mai 2000, 14:54 Uhr (Betreff: »Flensburg et al.«). In: Archiv S. Troebst. – Der bulgarische Historiker Krasimir Karakačanov hat 1990 die Partei »Innere Makedonische Revolu­tionäre Organisa­tion« gegründet – so benannt nach einer zunächst antiosmanischen, dann antijugoslawischen terroristischen Organisa­tion der Jahre 1893 – 1934/46 –, der er bis heute vorsitzt und die de facto für den Anschluss der Republik Makedonien an das EU-Land Bulgarien optiert. Er ist Abgeordneter der bulgarischen Na­tio­ nalversammlung und kandidierte 2011 für den Posten des Staatspräsidenten. 2005 wurde er vom bulgarischen Innenministerium als Informant »Ivan« des Komitees für Staatssicherheit geoutet. 8 Brief von Stefan Troebst an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sofia, Leipzig, 13. Juni 2000, S. 1. In: Archiv S. Troebst. 9 Vgl. Klaus Schrameyer: Politiker im Dienst der Dienste. Das bulgarische Gesetz über die Stasi-­Unterlagen. In: Euro­päische Rundschau 36 (2008) 2, S. 85 – 104, hier S. 86.

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zu den Unterlagen der bulgarischen Staatssicherheit und der Nachrichtendienste der Bulgarischen Volksarmee, über die Aufdeckung dieser Unterlagen und über die Veröffent­lichung der Zugehörigkeit von bulgarischen Bürgern zur bulgarischen Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee« erlassen hatte.10 Zum anderen aber teilte im April 2007 der vormalige Generalsekretär des Komitees für Staatssicherheit und seinerzeit Mitglied des Parteirats der regierenden Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP), Oberst a. D. Cvjatko Cvetkov, bulgarischen Medien mit, er sei im Zeitraum von 1979 bis 1985 für meine Überwachung zuständig gewesen und habe eine umfangreiche Akte über mich angelegt.11 Daraufhin erkundigte ich mich unter Verweis auf diese Pressemeldungen bei der Bulgarischen Botschafterin in Berlin im Mai 2007 brief­lich danach, ob es eine gesetz­liche Regelung für den Zugang von Bürgern der Euro­päischen Union zu den Akten des KDS im MVR [Komitee für Staatssicherheit im Ministerium für Innere Angelegenheiten] gibt und – falls ja – wie diese aussieht bzw. ob im Zuge des mittlerweile erfolgten 12 EU-Beitritts der Republik Bulgarien in Bälde eine s­ olche gesetz­liche Regelung zu erwarten ist.

Auch darauf blieb eine Antwort aus. Immerhin wurde mir von der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-­Unterlagen (BStU) auf Anfrage ebenfalls im Mai 2007 mitgeteilt: Der BStU ist kein Fall bekannt, bei dem ein deutscher Staatsbürger Akteneinsicht in Sofia erhalten hätte. Die Kontaktversuche der BStU zur Partnerinstitu­tion in Sofia sind leider bislang nicht wirk­lich erfolgreich. Es gab einen Besuch der Bulgaren vor rund 2 Jahren. Unsere Nachfragen vom Ende 2006 wg. der geränderten Gesetzeslage sind aber bislang nicht beantwortet worden.13

10 Zu einer deutschen Übersetzung des Gesetzes vgl. ders.: Bulgarien: Das Gesetz über die Unterlagen der Staatssicherheit vom 6. Dezember 2006. In: Jahrbuch für Ostrecht 49 (2008), S. 169 – 197, hier S. 182 – 197. 11 Vgl. DS razrabotvala nemskija răkovoditel na »Bataškija proekt« [Die Staatssicherheit hat den deutschen Leiter des »Batak-­Projektes« überwacht]. In: Mediapool vom 26. April 2007, URL: http://www.mediapool.bg/ds-­razrabotvala-­nemskiya-­rakovoditel-­na-­batashkiya-­proekt-­ news128163.html, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 12 Brief von Stefan Troebst an Botschafterin Dr. Meglena Plugčieva, Berlin, 24. Mai 2007, S. 2. In: Archiv S. Troebst. 13 E-Mail der Fachbereichsleiterin Politische Bildung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-­ Unterlagen, Dr. Gabriele Camphausen, an Stefan Troebst, 9. Mai 2007, 10:07 Uhr (Betreff »Bulgarien«). In: ebd.

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Erneut ließ ich die Sache ruhen, bis ich im Juni 2013 Gelegenheit hatte, einer von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur organisierten Studienreise nach Bulgarien dem Leiter der 2007 gegründeten neuen bulgarischen Behörde für die Unterlagen der dortigen Staatssicherheit einen Antrag auf Akteneinsicht persön­lich zu überreichen.14 Diese Behörde trägt die überlange Bezeichnung »Kommission der Republik Bulgarien zur Offenlegung der Dokumente und zur Bekanntmachung der Zugehörigkeit bulgarischer Staatsbürger zur Staatssicherheit und zu den Spionagediensten der Bulgarischen Volksarmee«.15 Da ihre bulgarische Abkürzung aus nicht weniger als vierzehn Buchstaben – KRDOPBGDSRSBNA – besteht, hat sie sich selbst die Kurzbezeichnung KOMDOS (bulgarisch: Komisija za dosietata, deutsch: Kommission für die Akten) gegeben. So praktisch diese Selbstbezeichnung ist, so pragmatisch handelte auch der Kommissionsvorsitzende Evtim Kostadinov: Ungefähr fünfzehn Minuten, nachdem ich ihm meinen Antrag in die Hand gedrückt hatte, legte er mir meine Akte mit der durchaus passenden Vorgangsbezeichnung »Makedonec« (deutsch: Makedonier)16 im Original vor. Ich las die siebenhundert Seiten dann im Verlaufe mehrere Tage und erwarb sie anschließend in gescannter Form auf einer CD. Mein Fall ist in gewisser Weise symptomatisch für den Umgang im Nach»Wende«-Bulgarien mit der papierenen Hinterlassenschaft der Parteidiktatur der Jahre 1944 bis 1989, vor allem mit den Akten der Staatssicherheit: Vor dem 1. Januar 2007, dem EU-Beitritt des Landes, hatten die meisten der in rascher Folge wechselnden Regierungen den Zugang zu diesen nach Mög­lichkeit versperrt oder

14 Vgl. ein entsprechendes Foto der Übergabe bei Christo Christov: Za kakvo se interesuvat germancite of archivite na Dăržavna sigurnost [Wofür sich die Deutschen in den Archiven der Staatssicherheit interessieren]. In: Dăržavna sigurnost [Staatssicherheit] vom 28. Juni 2013, URL: http://desebg.com/2011 – 01 – 06 – 11 – 45 – 23/1298 – 2013 – 06 – 28 – 13 – 58 – 12, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 15 Vgl. dazu die (eng­lischsprachige) Webseite der Kommission. URL: http://www.comdos.bg/p/ language/en/ sowie die Übersicht: Die Kommission zur Offenlegung der Dokumente und der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee. Bulgarien. In: BStU (Hrsg.): Das »Euro­päische Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden«. Ein Reader zu ihren gesetz­lichen Grundlagen, Strukturen und Aufgaben. Berlin 2010, S. 6 – 17, URL: https://www.bstu.bund. de/DE/BundesbeauftragterUndBehoerde/AufarbeitungImAusland/Download%20Reader. pdf ?__blob=publica­tionFile, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 16 Ich habe von 1977 bis 1989 versucht, Zugang zu den Beständen bulgarischer Archive zu den im Zeitraum 1918 bis 1946 in Bulgarien tätigen legalen wie halblegalen makedonischen Organisa­ tionen zu bekommen – mit höchst bescheidenem Erfolg. Vgl. dazu Stefan Troebst: Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922 – 1930. Die »Innere Makedonische Revolu­tionäre Organisa­ tion« in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien. Köln/Wien 1987, S. XVI, 533 f.

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zumindest erschwert – auch über deren vollständige Vernichtung hatte die bulgarische Na­tionalversammlung mehrfach debattiert –, doch seitdem haben sämt­liche Bürger Bulgariens, der EU und anderer Staaten ungehinderte Akteneinsicht, und zwar in die Originalakte, also nicht wie bei der BStU in die Kopie einer teilweise geschwärzten Kopie.17 Der erstaun­liche bulgarische Sinnes- und Politikwandel von 2007 in Sachen Staatssicherheitsakten geht natür­lich auf eine Brüsseler Bedingung im Kontext des EU-Beitritts zurück, an deren Zustandekommen die seinerzeitige grüne Europaabgeordnete Gisela Kallenbach aus Leipzig beträcht­lichen Anteil hatte. So professionell die Kommission also in einem politisch schwierigen und weiterhin korrupten Umfeld agiert und et­liche Erfolge in Form erzwungener Rücktritte von Politikern aufweisen kann, die vormals Staatssicherheitsmitarbeiter waren, so bescheiden sind doch weiterhin die Mög­lichkeiten einer strafrecht­lichen Verfolgung von kriminellen Taten durch das Personal des Komitees für Staatssicherheit.18 Dies gilt selbst für interna­tional so aufsehenerregende Verbrechen wie dem berüchtigten Regenschirmmord an dem Schriftsteller Georgi Markov in seinem Londoner Exil oder dem gleichartigen Mordanschlag auf den Exiljournalisten Vladimir Kostov in Frankreich, beide verübt 1978.19 Das liegt nicht zuletzt 17 Was nicht heißt, dass nicht auch nach 2007 bulgarische Regierungen, Ministerien und andere Behörden versucht haben, Einfluss auf KOMDOS zu nehmen. Vgl. Martin Woker: Bulgariens Mühen mit der Vergangenheit. Nur zöger­liche Öffnung der Archive aus der kommunistischen Zeit. In: Neue Zürcher Zeitung vom 31. Oktober 2007, URL: http://www.nzz. ch/bulgariens-­muehen-­mit-­der-­vergangenheit-1.576686, letzter Zugriff: 05. 04. 2016; Vanya Eftimova: »Welcher normale Mensch interessiert sich noch für die Geheimdienstakten«. In: Wirtschaftsblatt [Sofia] Nr. 11 vom November 2007, S. 6 (beim Titel d­ ieses Aufsatzes handelt es sich um ein Zitat des postkommunistischen Ministerpräsidenten Sergej Stanišev); Diljina Lambreva: Geheimdienstakten und verfehlte Vergangenheitspolitik in Bulgarien. In: Südosteuropa Mitteilungen 47 (2007) 5 – 6, S. 71 – 85; Björn Opfer-­Klinger: Die bulgarische Staatssicherheit vom Kalten Krieg bis zur gescheiterten Vergangenheitsbewältigung. In: Halbjahresschrift für südosteuro­päische Geschichte, Literatur und Politik 22 (2010) 1 – 2, S. 90 – 111, hier S. 109 f.; Maria Dermendzhieva: Die Akten der Staatssicherheit in Bulgarien und die Folgen ihrer verspäteten Öffnung. In: Südosteuropa Mitteilungen 51 (2011) 5 – 6, S. 73 – 80; Christopher Nehring: Von Dossiers, Kommissionen und hochrangigen Agenten. Das Erbe der bulgarischen Staatssicherheit 1989 – 2015. In: Halbjahresschrift für südosteuro­päische Geschichte, Literatur und Politik 27 (2015) 1 – 2, S. 31 – 52. 18 Vgl. Momchil Metodiev: Bulgaria. In: Lavinia Stan (Hrsg.): Transi­tional Justice in Eastern Europe and the Former Soviet Union. Reckoning with the Communist Past. L ­ ondon/New York 2009, S. 152 – 175; Ana Luleva: Transi­tional Justice and Memory Culture in Post-­Socialist Bulgaria. In: Our Europe. Ethnography – Ethnology – Anthropology of Culture (2013) 2, S. 117 – 128, URL: http://ptpn.poznan.pl/Wydawnictwo/czasopisma/our/OE-2013 – 117 – 128-Luleva.pdf, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 19 Vgl. Christo Christov: Dăržavnata sigurnost sreštu bălgarskata emigracija [Die Staatssicherheit gegen die bulgarische Emigra­tion]. Sofia 2000; Vladimir Kostov: The Bulgarian

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daran, dass die politische Klasse des Landes, die 1990 aus einem ledig­lich genera­ tionellen Elitenwechsel, keinem tatsäch­lichen hervorging, eine informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit, desgleichen eine hauptamt­liche, gar eine leitende, nicht als gravierendes Manko auffasst.20 In dieser Hinsicht mag bezeichnend sein, dass das renommierte Sofioter Verlagshaus Ciela, das 2008 unter dem Titel Legitimitätsmaschine eine mustergültige Analyse über die Rolle der Staatssicherheit im kommunistischen Bulgarien aus der Feder des Zeithistorikers Momčil Metodiev veröffent­licht hatte,21 2013 eine apologetische Kurze Geschichte der Staatssicherheit von 1907 bis 2013 eines als Historiker dilettierenden ehemaligen Hauptabteilungsleiters der Staatssicherheit publizierte. Darin wird die Staatssicherheit der Jahre 1949 bis 1989 als Bindeglied ­zwischen der politischen Polizei des Fürstentums und ­später Königreichs Bulgarien vor 1944 und dem 1990 formierten Sicherheitsdienst des heutigen EU-Mitglieds Bulgarien, also als ganz »normaler« sowie primär von patriotischen Motiven beseelter Nachrichtendienst porträtiert.22 Neben einem relativ kleinen Teil der Medien und der Öffent­lichkeit bezog nur der von 2012 bis 2016 amtierende Staatspräsident Rosen Plevneliev klar Stellung in Sachen Vereinbarkeit früherer Staatssicherheitstätigkeit mit gegenwärtigen politischen und administrativen Funk­tionen. So hat er seit seinem Amtsantritt im Januar 2012 seine Unterschrift unter sämt­liche Ernennungsurkunden zum Botschafter für ­solche bulgarischen Diplomaten verweigert, die Offiziere oder Zuträger der Staatssicherheit gewesen waren. Im Gespräch mit der besagten Delega­tion der Bundesstiftung Aufarbeitung sagte Plevneliev im

Umbrella. The Soviet Direc­tion and Opera­tions of the Bulgarian Secret Service in Europe. New York 1988. 20 Vgl. Iskra Baeva: How Post-1989 Bulgarian Society Perceives the Role of the State Security. In: Maria Todorova/Augusta Dimou/Stefan Troebst (Hrsg.): Remembering Communism. Private and Public Recollec­tions of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest/ New York 2014, S. 367 – 383. 21 Vgl. Momčil Metodiev: Mašina za legitimnost. Roljata na Dăržavna sigurnost v komunističeskata dăržava [Legitimitätsmaschine. Die Rolle der Staatssicherheit im kommunistischen Staat]. Sofia 2008; ders.: Der bulgarische Staatssicherheitsdienst: Ursprung, Entwicklung, Vermächtnis. In: Konrad Adenauer Stiftung – Auslandsbüro Bulgarien (Hrsg.): Texte zum Kommunismus in Bulgarien, 3. Juni 2014, URL: http://www.kas.de/bulgarien/de/ publica­tions/38252/, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. – Zu einer umfassenden und aktuellen Bibliografie zu Personal, Struktur und Funk­tionsweise der bulgarischen Staatssicherheit vgl. ders./ Marija Dermendžieva: Dăržavna sigurnost – predimstvo po nasledstvo. Profesionalni biografii na vodešti oficeri [Staatssicherheit – ererbter Vorrang. Berufsbiografien der führenden Offiziere]. Sofia 2015, S. 933 – 999. 22 Vgl. Dimităr Ivanov: Kratka istorija na Dăržavna sigurnost 1907 – 2013 [Kurze Geschichte der Staatssicherheit 1907 – 2013]. Sofia 2013.

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Sommer 2014: »In der einen Koali­tionspartei der gegenwärtigen Regierung sind die Hälfte aller Minister ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit. In der anderen Koali­tionspartei sind es alle.« 23 Rückendeckung erhielt er dabei überraschenderweise vom Verfassungsgericht, das im März 2012 eine Kehrtwende weg von seiner bis dahin lustra­tionsfeind­ lichen Rechtsprechung vollzog und den Präsidenten bei seinen Bemühungen um eine Säuberung des diplomatischen Dienstes von ehemaligen Stasi-­Spitzeln unterstützte.24 Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten bildet damit die Ausnahme von der bulgarischen Regel. Aber auch die strafrecht­liche Verfolgung von Angehörigen anderer Teile des kommunistischen Repressionsapparats, also der Justiz, der Miliz, der Armee, der »roten Barette« – das sind Spezialtruppen des Innenministeriums – sowie der Verwaltungen der circa fünfzig Zwangsarbeits- und Umerziehungslager, durch die eine geschätzte Viertelmillion Menschen gegangen ist, ist defizitär. Relativ zügig nach der politischen »Wende« von 1989 wurde immerhin die repressive Gesetzgebung aus der Stalin-­Zeit aufgehoben. Dies betraf Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, jedoch zunächst nicht die Willkürurteile des berüchtigten Volksgerichtshofs der Jahre 1944/45 sowie die Opfer des kommunistischen Terrors in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee am 9. September 1944.25 Eher symbo­lischen Charakter trugen »Dekommunisierungsgesetze«, so etwa das »Gesetz zur Erklärung des kommunistischen Regimes in Bulgarien als verbrecherisch« vom Dezember 1992.26 Ilija Trojanows aktueller Bestsellerroman Macht und Widerstand liefert erschreckende Einblicke sowohl in die grausamen bulgarischen Lagerregime wie in das Ausbleiben beziehungsweise Scheitern einer juristischen Aufarbeitung nach

23 Gespräch des Staatspräsidenten Rosen Plevnelievs mit der Delega­tion der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 24. Juni 2013 in seinem Sofijoter Amtssitz. Eigene Mitschrift. In: Archiv S. Troebst. 24 Vgl. Klaus Schrameyer: Die Rechtssprechung des bulgarischen Verfassungsgerichts zum Stasi-­Unterlagengesetz. In: Osteuropa-­Recht 58 (2012) 3, S. 54 – 66; ders.: Bulgariens Stasi-­ Diplomaten. In: Euro­päische Rundschau 39 (2011) 1, S. 93 – 109. 25 Vgl. dazu Iskra Baeva/Evgenija Kalinova/Nikolaj Poppetrov: Die kommunistische Ära im kollektiven Gedächtnis der Bulgaren. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 405 – 501, hier S. 422 – 426; Luleva: Transi­tional Justice (wie Anm. 18), S. 119 – 122. 26 Vgl. Klaus Schrameyer: Das bulgarische Parlament erklärt das kommunistische Regime für verbrecherisch. In: Südosteuropa 49 (2000) 11 – 12, S. 624 – 628. – In ebd., S. 626 – 628, findet sich eine deutsche Übersetzung des Gesetzes.

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1989.27 Während die in den Lagern der Stalin-­Zeit verübten Verbrechen nach bulgarischem Recht 1990 bereits verjährt waren, galt dies nicht für das, was im Frauenarbeitslager Skravena sowie in einem Steinbruch bei Loveč, in dem Männer Zwangsarbeit leisten mussten, geschah. Beide Lager waren von 1959 bis 1962 »in Betrieb«. Ebenfalls zu nennen sind das Gefangenenbergwerk Kucijan in Pernik sowie vor allem das große Arbeits- und Umerziehungslager Belene auf der Donauinsel Persin, in dem von 1949 bis 1953 und von 1956 bis 1959 Zwangsarbeiter einsaßen und das 1984 wiedereröffnet wurde.28 Ein ebenso paradigmatisches wie prominentes Beispiel strafrecht­licher Verfolgung à la bulgare ist der Fall des Parteichefs der Jahre 1954 bis 1989, Todor Živkov, der seit 1962 überdies Staatschef war.29 Nachdem er am 10. November 1989 von seinen Politbürokollegen »mit Dank« seiner Funk­tionen enthoben worden war, wurde er bereits im Januar 1990 wegen »Anstiftung zu Rassismus und zu na­tionaler Feindseligkeit« – gemeint ist die gewaltsame Kampagne zur Namensänderung der bulgarischen Türken um 1984/85 und die Repression des Protestes der Zwangsumbenannten 1989 – angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Zu einem Prozess kam es nicht, da das Oberste Gericht die Anklage wegen Unvollständigkeit nicht weniger als viermal an die Militärstaatsanwaltschaft zurückverwies, und dies obwohl über vierhundert Zeugen benannt worden waren. Im Februar 1991 wurde Živkov dann wegen unberechtigter Vergabe von Wohnungen, Autos und Geld der Prozess gemacht, im Ergebnis dessen das Oberste Gericht ihn im September 1992 zu einer siebenjährigen Haftstrafe sowie zu einer hohen Geldstrafe verurteilte. Im Zuge der Revision wurde das Urteil

27 Vgl. Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Roman. Frankfurt a. M. 2015; ders.: Die fingierte Revolu­tion. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte. München 22006, S. 238 – 249 (Kapitel: Die Macht kommt aus den Dossiers). 28 Vgl. zu Belene Ana Luleva: Commemorating the Communist Labour Camps: Is a New Memory Culture Possible? In: dies./Ivanka Perova/Slavia Barlieva (Hrsg.): Contested Heritage and Identities in Post-­S ocialist Bulgaria. Sofia 2015, S. 60 – 89; Ivajlo Znepolski: Bez sleda? Lagerăt Belene 1949 – 1959 i sled tova … [Spurlos? Das Lager Belene 1949 – 1959 und danach]. Sofia 2009; Daniela Koleva: Belene – mjasto na pamet? Antropologična anketa [Belene – ein Erinnerungsort? Eine anthropolo­g ische Enquete]. Sofia 2010 (dort, S. 28, Hinweise zur Memoirenliteratur); Tzvetan Todorov: Au nom du peuple. Témoignages sur les camps communiste [Im Namen des Volkes. Zeugnisse über die kommunistischen Lager]. La Tour-­d’Aignes 1992; Iskra Baeva/Stefan Troebst (Hrsg.): Vademecum Contemporary Bulgaria. A Guide to Archives, Research Institu­tions, Libraries, Associa­tions, Museums and Sites of Memory. Berlin/Sofia 2007, S. 77. 29 Vgl. zum Folgenden Baeva/Kalinova/Poppetrov: Die kommunistische Ära (wie Anm. 25), S. 415 – 422.

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zwar im Januar 1994 zunächst bestätigt, doch im Februar 1996 aufgehoben. In der Zwischenzeit waren weitere Prozesse gegen Živkov, etwa angesichts des Kollapses der bulgarischen Wirtschaft oder wegen seiner Mitschuld am Tod von Lagerhäftlingen, im Sande verlaufen. Insgesamt endete das juristische Vorgehen gegen Živkov, das maßgeb­lich seine weiterregierenden ehemaligen Kollegen im Politikbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei – die sich jetzt Bulgarische Sozialistische Partei nannte – orchestrierten, in einem Fiasko. Der Plan, Živkov die Hauptschuld, gar die Alleinschuld an systematischen Menschenrechtsverletzungen sowie an dem ökonomischen Desaster der Parteidiktatur zuzuschieben, scheiterte grandios. Der »Vandale aus Pravec«, wie ihn nicht nur die politische Opposi­tion, sondern auch seine früheren Genossen unter Bezug auf seinen Geburtsort nannten, erwies sich zwar nicht als der gute Landesvater »Onkel Tošo«, zu dem er sich selbst stilisierte, aber doch als bauernschlauer und dialektisch geschulter Angeklagter, als veritables »Stachelschwein«, so wie ihn der britische Erfolgsautor Julian Barnes in seinem sachkundigen Roman The Porcupine von 1992 porträtiert hat.30 Denn Veruntreuung, Bereicherung und Bestechung waren Živkov nicht nachzuweisen. Vielmehr stellte sich heraus, dass er persön­lich gänz­lich mittellos, ja obdachlos war. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er daher in der Wohnung seiner Enkelin, wo er am 5. August 1998 starb – nicht ohne zuvor mehrere apologetische Memoirenbände veröffent­licht zu haben. Mit anderen Worten: Živkovs Image im heutigen Bulgarien ist, wenn nicht makellos, so doch überwiegend positiv.31 Das Todor-­Živkov-­Museum neben seinem Geburtshaus in Pravec ist folg­lich heute nicht nur Weihestätte bulgarischer Altkommunisten, sondern Anziehungspunkt für in- und ausländische Touristen. In der dortigen Fotogalerie, die Živkov als Partner der Großen der Welt zeigt, nimmt Helmut Schmidt einen Ehrenplatz ein. Nicht zufällig erklärte Živkovs ehemaliger Leibwächter Bojko Borisov (2009 30 Barnes: The Porcupine (wie Anm. 1). 31 Vgl. kritisch zur retrospektiven Verklärung der bulgarischen Kommunismusvariante Michail Gruev/Diana Miškova (Hrsg.): Bălgarskijat komunizăm. Debati i interpretacii [Der bulgarische Kommunismus. Debatten und Interpreta­tionen]. Sofia 2013; Ana Luleva (Hrsg.): Bălgarskijat XX vek. Kolektivna pamet i nacionalna identičnost [Das bulgarische 20. Jahrhundert. Kollektives Gedächtnis und na­tionale Identität]. Sofia 2013. – Zu einer kritischen Gesamtdarstellung der Geschichte der Volksrepublik Bulgarien vgl. Ivajlo Znepolski (Hrsg.): Istorija na Narodna Republika Bălgarija. Režimăt i obštestvoto [Geschichte der Volksrepublik Bulgarien. Das Regime und die Gesellschaft]. Sofia 2009; ders.: Bălgarskijat komunizăm. Sociokulturni čerti i vlastova traektorija [Der bulgarische Kommunismus. Soziokulturelle Züge und Trajekt der Macht]. Sofia 2008.

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bis 2013 und erneut 2014 – 2016 Ministerpräsident Bulgariens) im November 2010 als Ministerpräsident im bulgarischen Fernsehen: Wenn wir nur ein Hundertstel dessen, was Todor Živkov für Bulgarien geschaffen und was er in diesen Jahren zustande gebracht hat, zustande bringen und das ökonomische Potential des damaligen Staates erreichen, wäre das ein gewaltiger Erfolg für jede Regierung. Die Tatsache, dass ihn 20 Jahre nach seinem Fall von der Macht niemand vergessen hat, belegt, dass viele Dinge erreicht worden sind. Seit 20 Jahren privatisieren wir ledig­lich das, was damals geschaffen wurde.32

Damit ist das Bild, das viele Bulgaren, auch jüngere, von der 35-jährigen Živkov-­Ära haben, ziem­lich präzise umrissen: Damals wurde, so diese Retrovision, ein rückständiges Agrarland in einen modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat transformiert – durch einen volksnahen und fürsorg­lichen älteren Herrn. Und analog zur ernüchternden Formel nach der Staatsgründung von 1878: »Ot Tursko p­ o-­lošo!« (deutsch: »Schlimmer als unter den Türken!«), war nach 1989, im Zuge der Erosion staat­licher Strukturen, der dramatischen Senkung von Renten, des Zerfalls des Gesundheitssystems, der Schließung unwirtschaft­licher Großkombinate und der Aufteilung der halbwegs profitablen Wirtschaftszweige unter ehemaligen Parteifunk­tionären und Staatssicherheitsoffizieren, die Variante populär: »Ot Tošo po-­lošo!« (deutsch: »Schlimmer als unter Živkov!«). Die böse Antwort auf die nur vermeint­liche Scherzfrage: »Was ist der Unterschied ­zwischen unserer Regierung und der organisierten Kriminalität?«, näm­lich: »Die organisierte Kriminalität ist organisiert«, spiegelt die raue Wirk­lichkeit der Umbruchphase wider, zu der über zweihundert politökonomisch motivierte Auftragsmorde gehören. Eine gänz­liche andere Wirkung auf die bulgarische Öffent­lichkeit als Živkovs aalglattes Verhalten vor Gericht hatte indes ein Prozess, der zwar ebenfalls nur zu einem Minimalergebnis führte, aber das Bild von der Herrschaft des als »gütigen Vaters« (bulgarisch: tata; deutsch: Papi) Porträtierten zumindest partiell veränderte: 1992 wurde der ehemalige stellvertretende Innenminister Mirčo Spasov zusammen mit Kommandanten und Kommandantinnen der beiden genannten Zwangsarbeitslager Loveč und Skravena der vierzehnfachen vorsätz­lichen Tötung von Insassen in den Jahren 1959 bis 1962 angeklagt.33 In dem im Juni 1993 beginnenden Prozess 32 Zit. nach Opitite da se văzdigne Živkov edva li ne do vodešt bălgarski dăržavnik sa žalki. Intervju s Mitko Novkov [Die Versuche, Živkov zum führenden bulgarischen Staatsmann zu machen, sind erbärm­lich. Interview mit Mitko Novkov]. In: Svobodata, 7. Dezember 2012, URL: http:// www.svobodata.com/page.php?pid=7490&rid=8, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 33 Vgl. Baeva/Kalinova/Poppetrov: Die kommunistische Ära (wie Anm. 25), S. 421 f.

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forderte der Generalstaatsanwalt die Todesstrafe für alle Angeklagten. Da jedoch der Hauptangeklagte Spasov kurz nach Prozessbeginn starb, musste der Prozess neu aufgerollt werden. Dies gelang erst nach sechs Jahren. Im Ergebnis wurden 1999 zwei der fünf Angeklagten, ein Aufseher und eine Lagerkommandantin, zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt. Im Zuge des Prozesses berichteten zahlreiche Zeugen vom unmenschlichen Lageralltag und von den brutalen Übergriffen von Lagerleitung und -personal. Die Kommunismusnostalgie im Lande, die durch die verheerende Wirtschaftskrise des Winters 1996/97 massiven Auftrieb erhalten hatte,34 erfuhr dadurch zumindest temporär eine Abschwächung. Gleichfalls nicht ohne Wirkung auf die bulgarische Öffent­lichkeit, wenngleich ebenfalls ohne umfassende strafrecht­liche Konsequenzen, blieb die juristische Aufarbeitung des mit dem Euphemismus »Wiedergeburtsprozess« belegten Staatsverbrechens an den bulgarischen Türken der 1980er Jahre.35 Zum einen wurden fast allen von ihnen – circa 800.000 Personen – zwangsweise slawisch-­ christ­liche anstelle ihrer arabisch-­muslimischen Vor, Vaters- und Familiennamen oktroyiert. Zum anderen waren diejenigen, die dagegen Widerstand leisteten, zunächst administrativen, dann juristischen, gar phy­sischen Repressionen ausgesetzt – bis hin zu Zwangsumsiedlung, Ausweisung in die Türkei, Inhaftierung, Internierung in Belene, Prügel, gar Tötung. Hinzu kam das brutale Vorgehen der Sicherheitsorgane gegen die türkische Protestwelle des Frühjahrs 1989, das mehrere Todesopfer kostete. Während die Prozesse gegen die seinerzeit in Politbüro und Regierung dafür Verantwort­lichen sämt­lich keine Urteile erbrachten, wurden ledig­lich zwei Angestellte des Innenministeriums und zwei Zivilpersonen wegen eines einzelnen Mordes an einem Türken verurteilt.36 So ernüchternd die Bilanz der strafrecht­lichen Verfolgung und historischen Aufarbeitung der Verbrechen des kommunistischen Regimes in Bulgarien auch ausfällt, so klar muss doch der Umstand berücksichtigt werden, dass im ersten Jahrzehnt nach der »Wende« in Sofia die politische Couleur der Regierungen dort ständig gewechselt hat. Was an sich ein Beleg für Demokratisierungstendenz ist, hat einen permanenten Zickzackkurs gerade in d­ iesem Punkt bewirkt: Wann immer die Postkommunisten am Ruder waren, blockierten sie, wann immer die 34 Vgl. dazu Angelika Schrobsdorff: Grandhotel Bulgaria. Heimkehr in die Vergangenheit. München 1997. 35 Vgl. dazu Evgenia Kalinova: Remembering the »Revival Process« in Post-1989 Bulgaria. In: Todorova/Dimou/Troebst (Hrsg.): Remembering Communism (wie Anm. 20), S. 567 – 593; S­ tefan Troebst: Bulgarien 1989. Gewaltarmer Regimewandel in gewaltträchtigem Umfeld. In: Martin Sabrow (Hrsg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012, S. 356 – 383. 36 Vgl. Baeva/Kalinova/Poppetrov: Die kommunistische Ära (wie Anm. 25), S. 419.

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einstige antikommunistische Opposi­tion an der Macht war, versuchte sie, hier etwas gesetz­lich voranzubringen. Dass der aus der Živkov-­Ära übernommene Justizapparat seinerseits massiv gebremst hat, versteht sich von selbst. Im Rückblick auf das Vierteljahrhundert seit dem Sturz Živkovs ist allerdings zu konstatieren, dass das Problem der bulgarischen Gesellschaft aber nicht primär die ausgebliebene strafrecht­liche Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen, ja nicht einmal die fehlende Aufarbeitung der Parteidiktatur einschließ­lich der Krake Staatssicherheit als ihr »Schild und Schwert« ist. Es ist vielmehr die Rehabilitierung eines in der Mehrheit der Gesellschaft verankerten Na­tionalismus, die eben nicht erst 1989, unter sich jetzt demokratisierenden Bedingungen erfolgte, sondern die bereits unter Živkov in der Mitte der 1960er Jahre begann. Erste Testballons waren ab 1967 die Kontroverse mit dem Nachbarstaat Jugoslawien um die Geschichte Makedoniens und die ethnokulturelle Zugehörigkeit seiner Bevölkerungsmehrheit Makedoniens, genauer: der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien, von 1971 an dann die zwangsweise Namensänderung der Pomaken im Rhodopen-­Gebirge an der Grenze zu Griechenland. Die Begründung war, dass diese Muslime bulgarischer Zunge zu osmanischer Zeit unter staat­lichem Zwang zum Islam hätten konvertieren müssen – ein angeb­lich schreiendes historisches Unrecht, das jetzt, unter der weisen Führung der Partei, glück­licherweise rückgängig gemacht werde. Es folgte die Massenkampagne zur Umbenennung der bulgarischen Türken 1984/85, die mit einem gigantischen Propagandafeldzug einherging. Dessen Botschaft war es, dass es sich bei den Umzubenennenden nur vermeint­lich um muslimische Türken, in Wirk­lichkeit aber um vormals christ­liche Bulgaren handele, die in der Frühen Neuzeit von den Osmanen nicht nur – wie die Pomaken – zwangsislamisiert, sondern zugleich sprach­lich zwangstürkisiert worden s­ eien. Die Rückgängigmachung der Zwangsumbenennung in den Jahren 1990 und 1991 hat dann zu einem chronischen Konflikt ­zwischen Türken und Bulgaren in den öst­lichen Teilen des Landes geführt.37 Und es hat bis 2012 gedauert, bis das bulgarische Parlament die Umbenennungskampagne von 1984/85 als Unrecht bezeichnet und den durch Schüren einer Fluchthysterie staat­lich beförderten Massenexodus von circa 370.000 Türken im Sommer 1989 als »eine Form der ethnischen Säuberung« verurteilt hat.38

37 Vgl. Stefan Troebst: Na­tionalismus vs. Demokratie: Der Fall Bulgarien. In: Margareta Mommsen (Hrsg.): Na­tionalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie. München 1992, S. 168 – 186, hier S. 202 f. 38 Michael Martens: Sofia verurteilt Vertreibungen. Erklärung zu Unrecht an Türken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Januar 2012, S. 7.

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Die Funk­tion des Na­tionalismus als Palliativ für die Schmerzen der Transforma­ tion zeigt sich in jüngster Vergangenheit in aller Schärfe an der Reak­tion von Politik, Öffent­lichkeit, Medien und nicht zuletzt der bulgarischen Geschichtswissenschaft auf ­solche Stimmen im Ausland, zunehmend aber auch im Inland, die den Anteil Bulgariens am Holocaust thematisieren.39 Dabei ist die Verhaftung, Deporta­tion und Vernichtung in Treblinka der circa 12.000 Juden aus den von Bulgarien z­ wischen 1941 und 1944 zunächst okkupierten, dann annektierten Gebieten Jugoslawiens und Griechenlands in der Regie von bulgarischer Polizei, Armee und Staatsbahn mittlerweile durchaus Bestandteil des Geschichtsbilds vieler Bulgaren. Was indes auf strikte Ablehnung, ja aggressive Verweigerung stößt, ist die Revidierung des von Todor Živkov persön­lich mitkonstruierten Mythos von der »Rettung« der etwa 50.000 Juden Altbulgariens durch die Kommunistische Partei beziehungsweise das bulgarische Volk. Živkov hatte sich diesbezüg­ lich gegen Ende seiner Amtszeit ernsthaft Chancen auf den Friedensnobelpreis ausgerechnet.40 Der Verweis darauf, dass das bulgarische Parlament z­ wischen 1941 und 1943 et­liche Gesetze zur Verbannung der Juden aus Städten in Dörfer, zur Konfiszierung ihrer Immobilien und ihres Vermögens sowie zur Einweisung in Zwangsarbeitslager beschloss, dass sich vor allem in Sofia und anderen Städten Bulgaren massenhaft Häuser, Wohnungen, Kunstwerke, Möbel, Hausrat und Autos ihrer verbannten jüdischen Nachbarn aneigneten 41 – das zu thematisieren, wird mit Ächtung geahndet.42 Insofern ist die kollektive Reak­tion auf d­ ieses spezifische Unrecht vergleichbar mit derjenigen auf die Forderungen der Opfer des kommunistischen Regimes

39 So ist zwar eine einschlägige Edi­tion bulgarischer Quellen in fast allen Buchläden des Landes zu finden, doch gibt es keine öffent­liche Debatte zum Thema; vgl. Nadja Danova/Rumen Avramov (Hrsg.): Deportiraneto na evreite ot Vardarska Makedonija, Belomorska Trakija i Pirot, mart 1943 g. Dokumenti ot bălgarskite archivi [Die Deporta­tion der Juden aus Vardar-­ Makedonien, Ägäisch-­Thrakien und Pirot im März 1993. Dokumente aus den bulgarischen Archiven], 2 Bde. Sofia 2013; Nadja Danova: Dălgata sjanka na minaloto [Der lange Schatten der Vergangenheit]. In: Liberalen Pregled vom 27. August 2013, URL: http://www.librev.com/ index.php/discussion-­bulgaria-­publisher/2155 – 2013 – 08 – 27 – 08 – 32 – 45, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 40 Vgl. Tzvetan Tzvetanov: Bulgarien – Meilenstein einer kontroversen Selbstfindung. In: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Na­tionen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1. Berlin 2004, S. 95 – 116, hier S. 110. 41 Vgl. Rumen Avramov: »Spasenie« i padenie. Mikroikonomika na dăržavnija antisemitizăm v Bălgarija 1940 – 1944 g. [»Rettung« und Fall. Mikroökonomie des staat­lichen Antisemitismus in Bulgarien 1940 – 1944]. Sofia 2012. 42 Vgl. Stefan Troebst: Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust. In: Südosteuropa 59 (2011) 1, S. 97 – 127.

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nach angemessener Entschädigung oder zumindest nach öffent­licher Anerkennung ihrer Leiden. Sie gelten als aus der Zeit gefallene Störer – siehe die Figur des Konstantin Scheitanow in Ilija Trojanows besagtem Roman Macht und Widerstand –, was auch erklärt, warum die Justiz des Landes jeg­liches Interesse an einer strafrecht­lichen Verfolgung der Täter verloren zu haben scheint. Auf der Webseite Transi­tional Justice and Memory in the EU etwa sind unter Bulgaria in der Rubrik Jurisprudence ganze drei Gerichtsurteile aufgeführt. Diese sind dabei nicht von bulgarischen Gerichten, sondern vom Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte gefällt worden. In allen drei Fällen ging es um Rückerstattung von in den 1950er Jahren konfisziertem Eigentum 43 – nicht hingegen um die strafrecht­liche Verfolgung von Tätern des kommunistischen Regimes in Bulgarien. Der bulgarischen Ethnologin Ana Luleva ist daher Recht zu geben, wenn sie unlängst in einer Studie über Transi­tional Justice and Memory Culture in Post-­Socialist Bulgaria geurteilt hat: The conclusion about the justice of the transi­tion, thus far, is that the Bulgarian experience for establishing retributive justice has been unsuccessful, uncertain and inconsistent. As a result, the trust of the citizens in democratic institu­tions – the court, the parliament, the political elite – has been undermined.44

Eine bittere Erkenntnis und wohl auch eine zutreffende. Zwar hat das bulgarische Parlament im September 2015 die Verjährungsfrist für kommunistische Staatsverbrechen aufgehoben,45 doch ob dies eine Neuaufnahme strafrecht­licher Verfolgung nach sich ziehen wird, bleibt abzuwarten.

43 Vgl. Spanish Na­tional Research Council (CSIC): Transi­tional Justice and Memory in the EU. Bulgaria: Jurisprudence, URL: http://www.proyectos.cchs.csic.es/transi­tionaljustice/ content/bulgaria, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. 44 Luleva: Transi­tional Justice (wie Anm. 18), S. 127. 45 Vgl. Boris Mitov: Parlamentăt premachna davnostta za prestăplenijata pri komunizma [Das Parlament hat die Verjährung von Verbrechen während des Kommunismus aufgehoben]. In: Mediapool, 17. September 2015, URL: http://www.mediapool.bg/parlamentat-­premahna-­ davnostta-­za-­prestapleniyata-­pri-­komunizma-­news239363.html, letzter Zugriff: 05. 04. 2016. – Allerdings hat die den Ministerpräsidenten stellende Partei GERB zwei Wochen s­ päter aus einem Gesetzesentwurf zur Schulbildung die Bestimmung gestrichen, dass kommunistische Staatsverbrechen Gegenstand des Geschichtsunterrichts sein sollten. Vgl. Martina ­Bozukova: GERB ne dopusna prestăplenijata na komunizma da se učat v učilište [GERB lässt nicht zu, dass die Verbrechen des Kommunismus in der Schule gelehrt werden]. In: ebd., 30. September 2015, URL: http://www.mediapool.bg/gerb-­ne-­dopusna-­prestapleniyata-­na-­komunizma-­da-­se-­ uchat-­v-­uchilishte-­news239842.html, letzter Zugriff: 05. 04. 2016.

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Julie Trappe

Staatsgestütztes Unrecht und strafrecht­liche Aufarbeitung in Rumänien

1. Ein radikaler Auftakt – Das Verfahren gegen Nicolae und Elena Ceauşescu Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit beschäftigt die rumänische Gesellschaft und Justiz nach wie vor.1 Dabei spielt die Frage nach der Verantwort­ lichkeit für das geschehene Unrecht eine entscheidende Rolle. Auch über 25 Jahre nach dem gesellschaftspolitischen Umbruch erklingt der Ruf, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und end­lich Gerechtigkeit zu schaffen. Die seit über 25 Jahren eher zäh laufende strafrecht­liche Aufarbeitung ist immer wieder auf der politischen Tagesordnung und bewegt noch immer die Gemüter. Dabei hatte es rasant begonnen. An Weihnachten 1989 gingen die Bilder des Prozesses gegen den rumänischen Staatschef Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena um die Welt. In keinem anderen Land des ehemaligen Ostblocks hat man so radikal reagiert und dem Staatschef einen im wahrsten Sinne des Wortes ­kurzen Prozess gemacht. Nachdem die Proteste gegen sein Regime im Dezember 1989 immer stärker wurden, flohen Ceauşescu und seine Frau aus Bukarest. Die beiden wurden in eine Militärkaserne in die siebzig Kilometer entfernte Stadt Tîrgovişte gebracht und dort in einem Ad-­hoc-­Verfahren vor ein Sondergericht gestellt. In der Anklageschrift der Militärstaatsanwaltschaft Bukarest vom 24. Dezember 1989 heißt es: Die Angeklagten Elena und Nicolae Ceauşescu haben in der Absicht, das rumänische Volk und die na­tionalen Minderheiten zu zerstören […], der Bevölkerung Lebensbedingungen geboten, die geeignet waren, eine Vielzahl von Personen phy­sisch zu zerstören […], was in den vom 16.–22. 12. 1989 auf die Demonstrantenmassen abgegebenen Schüssen kulminierte […]. Die Angeklagten haben sich dadurch des Genozids gemäß Art. 357 CP 2 sowie der Untergrabung

1 Der vorliegende Beitrag stützt sich in weiten Teilen auf die Monographie der Autorin. Siehe Julie Trappe: Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit. Eine Untersuchung aus strafrecht­licher Perspektive. Göttingen 2009. 2 Cod Penal (Strafgesetzbuch).

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der Staatsgewalt gemäß Art. 162 CP, der Sabotage gemäß Art. 163 und der Untergrabung der na­tionalen Wirtschaft gemäß Art. 165 CP strafbar gemacht.3

Die Anklageschrift lässt erkennen, dass es sich beim Ceauşescu-­Regime um eines der restriktivsten Regime des Ostblocks handelte. Dabei stand Ceauşescu, als er 1965 die Macht übernahm, zunächst für einen Neuanfang und eine Liberalisierung Rumäniens. Der Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich zeitweilig, Auslandsreisen waren mög­lich, und es herrschte Aufbruchsstimmung.4 Dies äußerte sich auch durch eine stärkere Öffnung in Richtung Westen, die mit einer Abkehr von Moskau einherging. Ihren deut­lichsten Ausdruck fand diese Distanzierung von Moskau in der Weigerung Ceauşescus, 1968 rumänische Truppen zur Niederschlagung des Prager Frühlings zu s­ chicken. Ceauşescu wurde deshalb im Westen als liberal und vertrauenswürdig eingeschätzt.5 Doch schon bald endete die anfäng­liche Liberalisierung. Der allmäh­liche Ausbau der Macht Ceauşescus in Staat und Partei ging einher mit einem immer repressiver werdenden Herrschaftssystem.6 Wesent­licher Bestandteil seines Regimes war Ceauşescus Personenkult, der mit demjenigen Maos oder Stalins verg­lichen wird. Dabei verband er die kommunistische Ideologie mit einem an Mythen anknüpfenden Na­tionalismus im Sinne eines mythischen Na­tionalkommunismus.7 Ceauşescu stellte sich selbst als Teil der rumänischen Mythologie dar und ließ sich als »Großen Führer« einer »Goldenen Epoche« 8 verherr­lichen. Seine Frau Elena Ceauşescu wurde als Vorbild für alle rumänischen Frauen ebenfalls in den Personenkult mit einbezogen.9 Dies verstärkte sich in dem Maße, in dem sie selbst wichtige Posi­tionen bekleidete, etwa seit 1979 den Vorsitz im Na­tionalrat für Wissenschaft und Technologie und seit 1980 das Amt der stellvertretenden Ministerpräsidentin Rumäniens.10

3 Die Übersetzung ­dieses Zitats aus dem Rumänischen stammt ebenso wie alle weiteren nicht näher gekennzeichneten Übersetzungen in ­diesem Beitrag von der Autorin. 4 Richard Wagner: Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland. Berlin 1991, S. 35. 5 Zur Rezep­tion Ceauşescus im Westen vgl. z. B. Stelian Tănase: Revoluţia ca eşec. Elite şi societate [Revolu­tion als Scheitern. Elite und Gesellschaft]. Bukarest 2006, S. 173. 6 Thomas Kunze: Nicolae Ceauşescu: Eine Biographie. Berlin 2000, S. 188. 7 Vgl. auch Marius Oprea: Moştenitorii securitǎţii [Die Erben der Securitate]. Bukarest 2004, S. 34 f. 8 Ceauşescu selbst sprach von der »Epoca d’Aur«, der »Goldenen Epoche«. 9 Anneli Ute Gabanyi: Cultul lui Ceauşescu [Der Kult Ceauşescus]. Iaşi 2003, S. 79 ff. 10 Kunze: Nicolae Ceauşescu (wie Anm. 6), S. 320 f.

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Politische Gefangene gab es offiziell nicht; Regimekritiker wurden durch ständige Überwachung und Hausarrest zum Schweigen gebracht.11 Eine Reihe von Intellektuellen wurde durch Schikanen zum Verlassen des Landes gedrängt.12 Ein verbreitetes Mittel der Repression war die Zwangsinternierung in eine psychiatrische Anstalt.13 Auch wenn in den Gefängnissen unter Ceauşescu nicht mehr systematisch gefoltert wurde, so kam es doch in vielen Fällen zu Gewaltanwendung in der Haft.14 Der Überwachungsstaat wurde unter Ceauşescu immer weiter ausgebaut.15 Das Abhören von Telefonen und die Kontrolle von Briefsendungen gehörten zum Alltag. Die Allgegenwart der Geheimpolizei Securitate schaffte eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens.16 In den 1980er Jahren verschlechterten sich auch die Lebensbedingungen drastisch. Eine zufriedenstellende medizinische Versorgung war nicht gewährleistet. Armut, schlechte hygienische Verhältnisse und eine hohe Krankenrate führten zu sinkender Lebenserwartung und zu einer hohen Kindersterb­lichkeit.17 Lebensmittel waren auf einem niedrigen Niveau streng ra­tioniert. Das stundenlange Schlangestehen vor den Geschäften, um überhaupt etwas zu erhalten, gehörte zum Alltag. Elektrizität war auf wenige Stunden am Tag reduziert. Durch extreme Sparmaßnahmen verfolgte Ceauşescu den wahnwitzigen Plan, alle Auslandsschulden Rumäniens abzubezahlen. Außerdem sollte ab Anfang der 1980er Jahre alle Kraft Rumäniens in den Bau eines gigantischen Palastes in Bukarest fließen. Dafür ließ Ceauşescu ganze Stadtviertel abreißen.18

11 Ebd., S. 208. 12 Wagner: Sonderweg Rumänien (wie Anm. 4), S. 37. 13 Vgl. Ion Vianu u. a.: Abuzurile psihatrice din Europa de est în perioada comunistă. Studii de caz: România şi Republica Moldova [Missbräuche in der Psychiatrie in Osteuropa während der kommunistischen Epoche. Fallstudien: Rumänien und die Republik Moldau]. In: Armand Goşu (Hrsg.): Şcoala Memoriei 2003. Bukarest 2003, S. 403 – 4 60. 14 Siehe den Länderkurzbericht zu Rumänien von Amnesty Interna­tional vom Juni 1980, S. 11, sowie den Bericht von Amnesty Interna­tional Romania: Human Rights Viola­tions in the Eighties. London 1987, S. 21 ff. 15 Zur Rolle der Securitate vgl. Marius Oprea: L’Héritage de la Securitate: Terreur en Roumanie 1952 – 2002. In: Stéphane Courtois (Hrsg.): Le jour se lève. L’héritage du totalitarisme en Europe 1953 – 2005. Paris 2006, S. 240 – 253. 16 Wagner: Sonderweg Rumänien (wie Anm. 4), S. 37. 17 Siehe Mihnea Berindei: Roumanie: Le naufrage planifié. In: Politique Interna­tionale 44 (Sommer 1989), S. 57 – 75, 61 f. 18 Siehe dazu Anne Colas: Destruc­tion d’une capitale. In: L’Alternative 31 ( Januar/Februar 1985), S. 40 – 45.

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Die dramatische Situa­tion der rumänischen Bevölkerung spiegelt sich in dem am Ende des Prozesses erlassenen Urteil wider. Dort heißt es: Das Gericht stellt nach Beratung auf Grundlage des Beweismaterials aus der Akte in vorliegender Sache Folgendes fest: […] Zur Verwirk­lichung ihrer kriminellen Handlungen haben die Angeklagten die politische Macht an sich gerissen, sich des gesamten Staatsapparates bemächtigt und diesen benutzt, um ihre armseligen Interessen zu befriedigen und das rumänische Volk zu unterdrücken. In d­ iesem Sinne haben sie sich des sogenannten »Wissenschaft­lichen Programms für Volksernährung« bedient und Maßnahmen verordnet, die darauf abzielten, die Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen, indem sie ihr die grundlegendsten Lebensbedingungen vorenthielten. Eingenommen von der Idee, gigantische Gebäude zu bauen, haben die beiden Megalomanen mit der Begründung der Systematisierung der Ortschaften und der Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung regelrechte Zerstörungspläne der Städte und Dörfer des Landes ausgearbeitet und ausgeführt. Zu ­diesem Zweck haben die Angeklagten den Abriss vieler hunderttausender Gebäude, darunter wahrhafte Vorzeigestücke der einheimischen Architektur, vieler K ­ irchen sowie zahlreicher historischer Stätten des rumänischen Volkes, angeordnet und durchgeführt. Zur Umsetzung ihrer wahnsinnigen Pläne haben die beiden Tyrannen (in Lei und Valuta) unglaub­liche Summen ausgegeben und dabei ungerechtfertigterweise die Reichtümer des Landes erschöpft, während das Lebensniveau des rumänischen Volkes eines der niedrigsten in Europa war (Hunger, ohne Heizung, ohne Licht usw.). Durch derlei betrügerische Machenschaften und willkür­liche Maßnahmen wurden dem kulturellen Erbe des rumänischen Staates Werte von schätzungsweise über eine Milliarde USDollar entzogen. Dieser Schaden hat die na­tionale Wirtschaft zutiefst erschüttert und sogar dazu geführt, dass durch das Aushungern des Volkes, die fehlende medizinische Grundversorgung der Bevölkerung, den Mangel an Rohstoffen und moderner Ausrüstung usw. die Existenz der Na­tion gefährdet wurde.19

Aus dieser Sachverhaltsdarstellung spricht deut­lich die Wut über die Diskrepanz ­zwischen den extrem schlechten Lebensbedingungen der rumänischen Bevölkerung und den luxuriösen Verhältnissen, in denen Ceauşescu und seine Frau, fern von den Sorgen und Nöten der Bevölkerung, gelebt hatten und an denen nur ein kleiner Kreis von Parteifunk­tionären ein Stück weit teilhaben konnte. An der emo­tionalen Sprache wird zudem deut­lich, dass ­dieses Urteil, wie bereits die

19 Tribunal Militar Teritorial Bucureşti. Urteil Nr. 1 vom 25. 12. 1989. Verfahren Nr. 1/1989, S. 6 – 9.

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Anklageschrift, voller Wut geschrieben wurde und dass es dabei nur um eines ging: das Herrscherpaar schnellstmög­lich loszuwerden. In ­diesem Sinne kann man nicht von einem gewöhn­lichen Strafprozess sprechen, da es sich um einen Schauprozess handelte, dessen Ergebnis zu Beginn bereits feststand, auch wenn man sich bemühte, ihn wie einen normalen Strafprozess aussehen zu lassen. Das Gericht setzte sich aus zwei Richtern und zwei Geschworenen zusammen. Anwesend waren außerdem der Militärstaatsanwalt, zwei Zeugen sowie zwei Pflichtverteidiger.20 Letztere hatten jedoch mehr eine Alibifunk­tion inne und nahmen keine ernsthafte Verteidigung der Angeklagten vor. So erkannte das Gericht das Ehepaar Ceauşescu aufgrund seiner jahrelangen Herrschaft und der Niederschlagung der Revolu­tion des Völkermordes, der Untergrabung der Staatsmacht, der Sabotage sowie der Untergrabung der na­tionalen Wirtschaft für schuldig. Der Prozess dauerte eine Stunde und endete mit der Verhängung der Todesstrafe, die umgehend vollstreckt wurde.21

2. Die strafrecht­liche Aufarbeitung der rumänischen Revolu­tion von 1989 Unmittelbar nach dem Verfahren gegen Ceauşescu wurden auch die engsten Vertrauten Ceauşescus vor Gericht gestellt. Diese waren Mitglieder des Politbüros, hohe Funk­tionäre innerhalb der rumänischen Geheimpolizei Securitate oder hohe Vertreter des Militärs. Alle waren an der Entscheidung, die Demonstra­tionen im Dezember 1989 niederzuschlagen, beteiligt gewesen. Davon ausgehend ging es in den Verfahren um die Frage der Verantwort­lichkeit für die Opfer der rumänischen Revolu­tion. Rumänien wurde als einer der letzten Staaten Osteuropas vom Umbruch 1989 erfasst. Nachdem die Berliner Mauer gefallen war und in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn bereits grundlegende Veränderungen des gesellschaftspolitischen Systems stattgefunden hatten, ließ sich Ceauşescu noch Ende November 1989 auf dem XIV. Parteitag der Kommunistischen Partei feiern.22 Mitte Dezember 1989 erreichte die Wende dann auch Rumänien. Zunächst kam es in

20 Zur Besetzung des Sondergerichtes siehe Petrache Zidaru: Tribunalele militare. Un secol şi jumǎtate de jurisprudenţa 1852 – 2000 [Die Militärgerichte. Jurisprudenz aus eineinhalb Jahrhunderten 1852 – 2000]. Bukarest 2006, S. 305. 21 Zu den Umständen des Prozesses siehe Jean-­M arie Le Breton: La fin de Ceauşescu. Histoire d’une révolu­tion. Paris 1996, S. 91 ff. 22 Kunze: Nicolae Ceauşescu (wie Anm. 6), S. 364 ff.

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Abb. 1  Gedenktafel im Zentrum Bukarests mit der Inschrift: »Hier starb man für die Freiheit, 21. – 22. Dezember 1989«

der an der ungarischen Grenze gelegenen Stadt Timişoara zu Protesten gegen das Ceauşescu-­Regime, die sich bald auf das ganze Land ausweiteten.23 Auf einer Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei wurde am 17. Dezember 1989 die Niederschlagung der Demonstra­tionen angeordnet. Dieser Beschluss wurde umgehend umgesetzt und mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgegangen.24 Die Protestbewegung war jedoch nicht länger aufzuhalten. Ceauşescu hatte die Situa­tion nicht mehr im Griff und verließ Bukarest am 22. Dezember 1989 nach einer letzten missglückten Ansprache an die Demonstranten. Am Abend desselben Tages wurde die Konstituierung der Front der Na­tionalen Rettung bekanntgegeben. Diese neue politische Führung erklärte die Diktatur unter Ceauşescu für beendet. Aber auch nach dem 22. Dezember gingen in Bukarest und in den anderen rumänischen Städten die Straßenkämpfe weiter. Insgesamt verloren 1104 Menschen ihr Leben, 3352

23 Ebd., S. 375 ff. 24 Ebd., S. 382.

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Personen wurden verletzt.25 Die meisten Opfer der Revolu­tion sind sogar für die Zeit nach der Flucht Ceauşescus zu verzeichnen.26 Dabei ist bis heute nicht geklärt, wer in dieser turbulenten Zeit die Fäden in der Hand hatte, insbesondere, ­welche Rolle die am 22. Dezember 1989 offiziell zur revolu­tionären Bewegung übergetretene Armee sowie die Geheimpolizei Securitate spielten. Die Front der Na­tionalen Rettung verkündete über die Massenmedien, dass sich feind­liche Terroristen in Rumänien befänden, die zu bekämpfen s­ eien. Diese nie bestätigte These von Terroristen, gegen die man die Errungenschaften der Revolu­tion zu verteidigen habe, sorgte für zusätz­liche Panik und Chaos. Bis Anfang Januar 1990 kam es vor allem in Bukarest zu regelrechten Straßenschlachten mit mehreren Tausend Opfern, wobei nicht klar war, wer eigent­lich gegen wen kämpfte. Einige Autoren gehen davon aus, dass es sich bei den Ereignissen vom Dezember 1989 nicht um eine Revolu­tion, sondern um einen Staatsstreich der »Kommunisten der zweiten Reihe« gehandelt habe, der dann durch die Wahlen vom Mai 1990 nachträg­lich legitimiert worden sei.27 Vertreten wird auch die ­Theorie, dass die Revolu­tion als Aufstand der Bevölkerung gegen das Ceauşescu-­Regime begonnen habe, dann aber von den Postkommunisten »übernommen« worden sei. Die Umstände der Revolu­tion sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Diese historische Unklarheit spiegelt sich auch in der Aufarbeitung der Ereignisse wider. Es kam zu einigen Verurteilungen hochrangiger Funk­tionsträger, von Mitgliedern des Politbüros, dem Leiter der rumänischen Geheimpolizei Securitate und weiteren politischen und militärischen Entscheidungsträgern. Die Verfahren gingen durch alle Instanzen, und die Beschuldigten wurden in der Regel im Wege der außerordent­lichen Revision wegen Totschlags rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt.28

25 Angabe aus einer unveröffent­lichten, internen Studie der Militärstaatsanwaltschaft von 1994. Siehe Parchetul Militar: Sinteza aspectelor rezultate din anchetele efectuate de Parchetul militar în perioada 1990/1994 în cauzele privind evenimentele din decembrie 1989 [Studie über die von der Militärstaatsanwaltschaft im Zeitraum ­zwischen 1990 und 1994 durchgeführten Ermittlungen in Zusammenhang mit den Ereignissen vom Dezember 1989]. Bukarest 1994, S. 28. – Siehe auch Kunze: Nicolae Ceauşescu (wie Anm. 6), S. 393. 26 Bis zum 22. 12. 1989 verloren 162 Personen ihr Leben, nach dem 22. 12. 1989 starben 942 Menschen, davon 495 in Bukarest. – Siehe Kunze: Nicolae Ceauşescu (wie Anm. 6), S. 393. 27 Alex Mihai Stoenescu: Istoria loviturilor de stat în România [Geschichte der Staatsstreiche in Rumänien]. Bd. 4, Teilband II: Revoluţia din decembrie 1989 – o tragedie româneascǎ [Die Revolu­tion vom Dezember 1989 – eine rumänische Tragödie]. Bukarest 2005, S. 809 f. 28 Siehe dazu Trappe: Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit (wie Anm. 1), S. 64 ff.

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Abgesehen von diesen Verfahren stellt sich die Situa­tion der strafrecht­lichen Aufarbeitung der rumänischen Revolu­tion bis heute als äußerst komplex dar. Es lassen sich verschiedene Phasen der Ermittlungsintensität feststellen. Die erste Welle der Revolu­tionsprozesse begann unmittelbar nach der Revolu­tion mit den Prozessen gegen die Machtspitze des alten Regimes. In den frühen 1990er Jahren wurde außerdem eine Vielzahl an Ermittlungsverfahren gegen Ausführende sowie lokale Parteifunk­tionäre und Verantwortungsträger des Militärs, der Securitate, der Miliz sowie in einigen Fällen auch gegen Zivilpersonen eingeleitet. Die Verfahren, die zumeist durch Angehörige von Opfern oder von Opferverbänden ­angestoßen worden waren, wurden fast ausschließ­lich vor – regulären und außerordent­ lichen – Militärgerichten verhandelt.29 Bis 1994 wurden insgesamt 4495 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 2224 von ihnen wurden wieder eingestellt. Gegen 198 Personen wurde Anklage erhoben,30 einige von ihnen wurden verurteilt. In den folgenden Jahren blieb ein großer Teil der Verfahren jedoch bei der Staatsanwaltschaft liegen, ohne dass es zu Entscheidungen kam. Erst Ende der 1990er Jahre nahm die strafrecht­liche Aufarbeitung der Revolu­tion erneut Fahrt auf. In einer zweiten Welle wurden verschiedene Verfahren wiederaufgenommen sowie neue Ermittlungen eingeleitet, insbesondere gegen militärische Entscheidungsträger, die in wenigen Fällen auch rechtskräftig verurteilt wurden.31 Die Wiederaufnahme der Ermittlungen in den Revolu­tionsfällen fiel zusammen mit dem politischen Wechsel, der durch die Parlaments- und Präsidentenwahlen im November 1996 eingeleitet wurde. Die PDSR (Sozialdemokratische Partei) unter Ion Iliescu als Nachfolgepartei der während der Revolu­tion gegründeten Front der Na­tionalen Rettung verlor nach sieben Jahren die Mehrheit und mit der Convenţia Democratǎ (Demokratischen Vereinigung) unter Präsident Emil Constantinescu kam ein Bündnis aus verschiedenen, sich als Opposi­tion zur PDSR verstehenden Parteien an die Macht.32 Als im November 2000 erneut Iliescu und die PDSR 33 die Wahlen gewannen, war in Bezug auf die Revolu­tionsverfahren wiederum eine Stagna­tion zu beobachten, die bis zu den nächsten Wahlen im November 2004 andauerte, bei 29 Im Januar 1990 wurden durch Gesetzesdekret Nr. 7/1990 militärische Sondergerichte errichtet, um die Revolu­tion aufzuklären. 30 Siehe Parchetul Militar (wie Anm. 25), S. 35. 31 Zu nennen ist hier zum Beispiel der Fall der beiden Generäle Stǎnculescu und Chiţac. Siehe dazu Trappe: Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit (wie Anm. 1), S. 64 ff. 32 Zu den Wahlen vom November 1996 vgl. Daniel Ursprung: Das rumänische Parteiensystem – Spiegel der Krise. In: Arbeitspapiere und Materialien der Forschungsstelle Osteuropa Bremen, 57 (2001), Beiträge für die 9. Brühler Tagung junger Osteuropa-­Experten, S. 30 – 35. 33 Die Sozialdemokratische Partei PDSR benannte sich im Jahre 2001 in PSD um.

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denen sich der rechtsliberale Traian Bǎsescu als Präsidentschaftskandidat gegen Ion Iliescu durchsetzte. Die Wahlen im Dezember 2004 markieren einen entscheidenden Wandel in der rumänischen Politik nach 1989. Der Wahlsieg Bǎsescus und seines Wahlbündnisses Dreptate şi Adevǎr (Gerechtigkeit und Wahrheit)34 wurde von einem Teil der Bevölkerung als Loslösung von der kommunistischen Vergangenheit euphorisch gefeiert. Keine zehn Tage nach dem Machtwechsel begann mit den ersten Zeugenvernehmungen die dritte Phase der Ermittlungen zur Revolu­tion von 1989. Es liegt nahe anzunehmen, dass hier seitens der Politik der Startschuss gegeben und im Zuge des politischen Neuanfangs vom Dezember 2004 auch die Frage nach der Beurteilung und Aufklärung der Revolu­tion neu gestellt wurde. Erklärtes Ziel der Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft war es, die Revolu­tion abschließend aufzuklären. Dies ist jedoch bis heute noch nicht geschehen. Zwar versuchte man in der Zwischenzeit, die unübersicht­liche Verfahrenssitua­tion in den Griff zu bekommen, und sammelte bis 2010 alle Revolu­tionsverfahren bei der Generalstaatsanwaltschaft.35 Dennoch kamen die Ermittlungen in vielen Fällen nicht vorwärts. Enttäuscht von der rumänischen Justiz suchten Opfer und Opferverbände Unterstützung auf interna­tionaler Ebene und wandten sich seit 2007 an den Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Und in der Tat sprach sich der EGMR mehrfach im Sinne der Opfer aus. In einem der Fälle hatten sich beispielsweise die Eltern eines der verstorbenen Opfer der Revolu­tion an den EGMR gewandt, nachdem das Verfahren zur Aufklärung des Todes ihres Sohnes über fünfzehn Jahre nicht abgeschlossen worden war. 2011 wurde der rumänische Staat in d­ iesem Verfahren vom EGMR wegen Verletzung von Artikel 2 Euro­päische Menschenrechtskonven­tion (Recht auf Leben) zur Zahlung einer Entschädigungssumme verurteilt.36 Der Gerichtshof stellte fest, dass das verschleppte Verfahren gegen die Menschenrechtskonven­tion verstieß. Beim EGMR ist noch eine Vielzahl ähn­licher Verfahren anhängig – und es sind entsprechende Urteile zu erwarten. Dennoch wurde 2015 die Akte der Revolu­tion bei der Generalstaatsanwaltschaft in Bukarest überraschenderweise geschlossen. Man begründete diesen Schritt mit der eingetretenen Verjährung 34 Das Bündnis bestand aus der Liberalen Partei PNL (Partidul Naţional Liberal) sowie der Demokratischen Partei PD (Partidul Democrat). 35 Unübersicht­lich ist die Situa­tion schon allein aufgrund der Vielzahl an Verfahren. Außerdem gab es im Laufe der Jahre viele Einstellungen, Wiederaufnahmen und Verfahrensverbindungen, was es schwierig macht, den Überblick zu behalten. Siehe dazu die Angaben auf der Webseite der Generalstaatsanwaltschaft, die die bewegte Entwicklung der Revolu­tionsverfahren spiegelt. URL: www.mpublic.ro. 36 European Court of Human Rights: Third Sec­tion. Case of Associa­tion »21 December 1989« and others v. Romania, Judgment 24. 05. 2011. Applica­tion Nr. 33810/07.

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beziehungsweise mit der Schwierigkeit, die Geschehnisse einem konkreten Straftatbestand zuzuordnen.37 Diese Entscheidung sollte ein für alle Mal einen Schlussstrich unter die strafrecht­liche Aufarbeitung der Revolu­tion ziehen. Dabei blieb es aber nicht. Im April 2016 wurde diese Entscheidung revidiert und die Generalstaatsanwaltschaft entschied nunmehr unter neuer Führung, den Weg für Strafverfahren im Sinne der Entscheidung des EGMR zu eröffnen.38 Das Kapitel der Revolu­tion ist insofern noch nicht geschlossen, und es bleibt abzuwarten, was in den nächsten Jahren passieren wird.

3. Die strafrecht­liche Verfolgung des staatsgestützten Unrechts der Jahre 1945 – 1989 Abgesehen von den Verfahren gegen Ceauşescu und den Verfahren in Zusammenhang mit der Revolu­tion gab es kaum eine nennenswerte strafrecht­liche Reak­tion auf das staatsgestützte Unrecht, das von 1945 bis 1989 in Rumänien begangen worden war. Für den Zeitraum der Herrschaft Ceauşescus (1965 – 1989) gibt es letzt­lich nur einen Fall, der traurige Berühmtheit erlangt hat. Es handelt sich um den Fall des Regimegegners Gheorghe Ursu, der aus politischen Gründen zum Opfer des staat­lichen Machtapparates wurde. Da er sich in der Öffent­lichkeit regimekritisch geäußert hatte, wurde er 1985 unter einem Vorwand verhaftet und zu Tode gefoltert. Nach 1989 bemühte sich seine Familie, den Fall aufzuklären und die Verantwort­ lichen für den Tod Ursus vor Gericht zu stellen. Die Odyssee vor den rumänischen Gerichten sollte lange andauern: Erst im Jahre 2006 wurde das Strafverfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung abgeschlossen, allerdings ledig­lich gegen einen der Verantwort­lichen.39 Der Fall Gheorghe Ursu ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung. So wie Ursu waren im Rumänien Ceauşescus unzählige Personen, die das System kritisiert hatten, überwacht und verfolgt worden.40 Der Fall Ursu ist insofern exemplarisch für die ­Repressionsmechanismen des Ceauşescu-­Regimes. 37 Siehe die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Gericht vom 14. 10. 2015 [Ordonanta privind Dosarul Nr. 11/P/2014]. URL: http://www.mpublic.ro/presa/2015/ ordonanta_clasare_14_10_2015.pdf, letzter Zugriff: 22. 07. 2016. 38 Siehe die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Gericht vom 05. 04. 2016 [Ordonanta privind Dosarul Nr. 11/P/2014 si Ordonanta de clasare din 14. 10. 2015]. URL: http://www.mpublic.ro/presa/2016/c_05_04_2016_1.pdf, letzter Zugriff: 22. 07. 2016. 39 Zum Fall Ursu siehe Trappe: Rumänines Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit (wie Anm. 1), S. 131 ff. 40 Bericht von Amnesty Interna­tional Romania: Human Rights Viola­tions in the Eighties. London 1987.

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Bezeichnend ist der Fall Ursu aber nicht nur für die Verhältnisse im Rumänien unter Ceauşescu, sondern auch für die Zeit nach 1989. An ihm lässt sich ablesen, wie schwer sich die rumänische Strafjustiz tat, auf staatsgestütztes Unrecht des alten Systems zu reagieren. Dies gilt auch für die frühe kommunistische Zeit in Rumänien. Die Ära des Staats- und Parteichefs Gheorghiu-­Dej (1945 – 1965) war durch die brutale Unterdrückung jeg­licher Opposi­tion, durch Masseninhaftierungen, Verschleppungen, Arbeitslager und unmenschliche Haftbedingungen in den überfüllten politischen Gefängnissen gekennzeichnet. Man spricht für diese Epoche vom »rumänischen GUL ag«, der Hunderttausende Opfer forderte.41 Nach 1989 ist eine beein­druckende Fülle an Erinnerungsliteratur über diese Zeit erschienen,42 die zur Aufklärung der ersten zwei kommunistischen Jahrzehnte beiträgt.43 Im Verhältnis zu dem Ausmaß des in d­ iesem Zeitraum begangenen Unrechts fällt die strafrecht­liche Aufarbeitung nach 1989 knapp aus. Dabei gab es unmittel­ bar nach 1989 eine ganze Reihe von Initiativen, um die Straftaten aus dieser Zeit zu ahnden. Zahlreiche Privatpersonen, Opfer oder Angehörige von Opfern wandten sich an die Staatsanwaltschaft. Verschiedene Opferverbände erstatteten Anzeige gegen bekannte oder unbekannte Täter, was in einigen Fällen auch zur Aufnahme von Ermittlungen führte. Bei der Generalstaatsanwaltschaft legte man unter dem Titel »Kommunismusprozess« eine spezielle Akte an, die alle Ermittlungen erfasste, die sich auf die während der kommunistischen Zeit begangenen, staat­lich angeordneten oder unterstützten Straftaten bezogen. Dabei lag der Schwerpunkt der Ermittlungen auf dem Unrecht der 1950er Jahre. Der »Kommunismusprozess« war Anfang der 1990er Jahre ein vieldiskutiertes Thema in Rumänien. Man fragte sich, inwiefern man dem Kommunismus als solchen öffent­ lich verurteilen müsse, wie die aktuelle rumänische Regierung sich verhalten solle und auch, w ­ elche Rolle der Justiz in ­diesem Zusammenhang zukomme.44 Parallel

41 Zur Verwendung ­dieses Begriffes vgl. Ruxandra Cesereanu: Gulagul în conştiinţa româ­ neascǎ. Memoralistica şi literatura inchisorilor şi lagǎrelor comuniste [Der Gulag im rumänischen Bewusstsein. Die Erinnerungsschriften und Literatur zu den kommunistischen Gefängnissen und Lagern]. Iaşi 2005. 42 Vgl. z. B. Ion Ioanid: Închisoarea noastrǎ cea de toate zilele [Unser täg­liches Gefängnis]. Bukarest 1994; Vergil Ierunca: Fenomenul Piteşti [Das Phänomen Pitesti] Bukarest 1990; Ion Gavrilǎ Ogoranu: Brazii se frâng, dar nu se îndoiesc [Die Tannen beugen sich, aber sie zerbrechen nicht]. Timişoara 1995. 43 Eine gute Übersicht über die zu ­diesem Thema erschienene Literatur gibt Cesereanu: Gulagul în conştiinţa româneascǎ (wie Anm. 41), Iaşi 2005. 44 Vgl. z. B. Gabriel Andreescu: Procesul Revoluţiei [Der Prozess der Revolu­tion]. In: ders.: Patru ani de revoluţie [Vier Jahre Revolu­tion]. Bukarest 1994, S. 95 – 97.

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zu dieser ­gesellschaft­lichen Diskussion wurden bei der Staatsanwaltschaft die Beweise für das während der kommunistischen Zeit begangene staatsgestützte Unrecht gesammelt. Das hochgegriffene Ziel der Generalstaatsanwaltschaft, einen »Kommunismusprozess« zu initiieren, wurde jedoch nicht erreicht: Die Ermittlungen verliefen bald im Sande. Die Anfang der 1990er Jahre begonnenen Ermittlungsverfahren wurden in der Regel nicht weiterverfolgt. Der anfäng­liche Elan verschwand bald und so wurde die Akte des »Kommunismusprozesses« geschlossen, ohne dass es zu einer wie auch immer gearteten Entscheidung kam. Nur in wenigen Fällen wurde eine Anklageschrift verfasst; so wie beispielsweise beim 1993 begonnenen Verfahren gegen Alexandru Drăghici, der von 1952 bis 1965 rumänischer Innenminister unter Gheorghiu-­Dej gewesen war. In dieser Funk­tion war er an den diese Epoche kennzeichnenden Repressionen gegen jedwede Opposi­tion maßgeb­lich beteiligt gewesen.45 Zu einem späteren Zeitpunkt, im Jahre 2000, wurde außerdem Anklage gegen den Leiter des für seine besonders grausamen Haftbedingungen bekannten Gefängnisses Aiud, Gheorghe Crăciun, erhoben. In beiden Fällen kam es letzt­lich nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung, da die Täter verstarben.

4. Juristische und politische Hürden der Strafverfolgung Es drängt sich die Frage auf, warum nicht mehr passiert ist. Warum gab und gibt es so wenige Verfahren im Verhältnis zu so viel Unrecht? Betrachtet man die juristischen Dokumente, so sind es die folgenden Gründe, die einer Strafverfolgung entgegenstanden: Beweisprobleme, Verjährung und Rückwirkungsverbot. Der rumänische Fall ist dabei nicht untypisch. Abgesehen von Deutschland, wo das Strafrecht nach 1989 umfassend genutzt wurde, kann man ansonsten überall auf der Welt beobachten, dass das Strafrecht in Transi­ tionsprozessen nur wenig oder überhaupt nicht zum Einsatz kommt.46 Und überall sind es dieselben juristischen Hürden, die einer Strafverfolgung entgegenstehen. Das liegt nicht zuletzt schon an dem Charakter der Straftaten, mit denen wir es zu tun haben. Im Bereich des Transi­tionsstrafrechts hat man es mit staatsgestützter Kriminalität oder mit Systemunrecht zu tun. Es geht also um die 45 Siehe dazu Doina Jela: Lexiconul negru. Unelte ale represiunii comuniste [Das schwarze Lexikon. Instrumente der kommunistischen Repression]. Bukarest 2001, S. 103 ff. 46 Jörg Arnold/Albin Eser (Hrsg.): Strafrecht in Reak­tion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transi­tionsprozesse. Freiburg 2000 – 2011.

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Aufarbeitung einer Kriminalität, hinter der ein ganzes System mit komplexen Macht- und Verantwort­lichkeitsstrukturen steht. Mit den so charakterisierten Straftaten sieht sich das an die Verantwort­lichkeit des Einzelnen anknüpfende Strafrecht konfrontiert. Eine wie auch immer geartete Kollektivschuld ist dem Wesen des Strafrechts fremd. Es stellt sich damit die Frage, inwiefern das bei der individuellen Schuld ansetzende Strafrecht auf Straftaten reagieren kann, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie von einem gesamten System getragen werden. Hier zeigt sich eine grundsätz­liche Schwierigkeit der strafrecht­lichen Reak­tion auf Systemunrecht – und eines der dilemmas of transi­tional justice.47 Denn in komplexen Machtstrukturen ist die individuelle Verantwort­lichkeit für eine konkrete Tat oftmals schwer festzustellen. Das Strafrecht muss umfangreiche, schwer zu durchschauende Sachverhalte auf Einzelfälle herunterbrechen und stößt dabei an seine Grenzen. Zunächst einmal ergeben sich Beweisprobleme. Denn im Nachhinein, oftmals mit großem zeit­lichen Abstand, ist es schwer, zu rekonstruieren, was tatsächlich passiert war. Umso komplizierter ist es, zu ermitteln, w ­ elchen konkreten Tatanteil eine Person zu verantworten hat. Hinzu kommt die mühsame Aufgabe, Beweismaterial in dem für ein Strafverfahren notwendigen Umfang zusammenzutragen. Für Rumänien gilt das umso mehr, als der Großteil der relevanten Sachverhalte sich in den 1950er beziehungsweise 1960er Jahren abgespielt hat. Viele Zeugen leben nicht mehr, die ausführenden Täter sind unbekannt. Hinzu kommt, dass das hier in Frage stehende Unrecht, wie etwa Folter, typischerweise nicht dokumentiert wurde. Oftmals wird d­ ieses dilemma of transi­tional justice des Aufeinandertreffens von individuellem Schuldstrafrecht und Staatskriminalität durch Straflosigkeit »gelöst«. Verfahren werden gar nicht begonnen oder eingestellt. Es findet sich auch das Phänomen der »Platzhalterverfahren«. Das bedeutet, dass die Frage der Verantwort­lichkeit für größere Unrechtszusammenhänge aufgrund einer staatstragenden Funk­tion unberücksichtigt bleibt, während der konkrete strafrecht­liche Vorwurf auf einen leichter fassbaren Sachverhalt reduziert wird. Als Beispiel kann hier für Deutschland der Fall Mielke herangezogen werden. Mielke war wegen eines Totschlags in den 1930er Jahren zur Verantwortung gezogen worden. Offiziell stand die Verurteilung in keinem Zusammenhang mit dessen politischer Verantwort­lichkeit für das DDR -Unrecht, um die es jedoch, unausgesprochen, eigent­lich ging. Für Rumänien kann der Fall Drăghici genannt 47 Ruti Teitel: Transi­tional Justice. Oxford 2000, S. 40 ff. – Siehe auch Neil Kritz: The Dilemmas of Transi­tional Justice. In: ders. (Hrsg.): Transi­tional Justice. Washington 1995. S. XIX – X XX.

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werden, in dem ebenfalls die strafrecht­liche Verantwort­lichkeit für eine konkrete, verhältnismäßig unbedeutende Tat festgestellt wurde. Auch ­diesem Verfahren lag indirekt und unausgesprochen der Vorwurf für das schwerer fassbare Systemunrecht zugrunde.48 Diese Vorgänge machen deut­lich, dass es Lösungen gibt, um den Schwierigkeiten des Strafrechts zu begegnen. Juristische Hürden sind nicht unüberwindbar. Und so gibt es auch Wege, das Rückwirkungsverbot oder die Verjährung beiseitezurücken. Juristerei ist keine Mathematik. Mit einem entsprechenden politischen Willen und juristischer Kreativität kann man argumentative Strukturen finden, den Weg für Strafverfolgung zu öffnen. Ein Blick auf die einschlägigen Diskussionen in Deutschland, aber auch in andere Länder bestätigt das.49 In Rumänien wurden s­ olche Wege erst spät eingeschlagen. Während in Deutschland, aber auch in mehreren osteuro­päischen Staaten bereits in den 1990er Jahren intensive Diskussionen zu Fragen der Verjährung und des Rückwirkungsverbotes liefen, wurden ähn­liche ­Themen in Rumänien zunächst nicht debattiert. Die rumänische Justiz war zwar in Einzelfällen mit diesen Fragen konfrontiert, es gab jedoch keine Grundsatzentscheidung von höchster Instanz im Sinne einer Richtlinie für eine einheit­liche Rechtsprechung. Auch eine politische Stellungnahme seitens der Regierung blieb lange Zeit aus. Bis zu der politischen Wende vom Dezember 2004 war die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Rumänien die Angelegenheit eines kleinen Zirkels von opposi­tionellen Meinungsträgern. Der Träger des Aufarbeitungsprozesses war die Zivilgesellschaft. Dabei hatten die Akteure d­ ieses Prozesses oftmals das Gefühl, einen vergeb­lichen Kampf zu führen. Es gab kein vergangenheitspolitisches Konzept, und die Justiz wurde mit Entscheidungen, wie mit dem Systemunrecht umzugehen sei, alleingelassen. Seit 2004 änderte sich der offizielle Diskurs peu à peu und Fragen nach dem Umgang mit der diktatorischen Vergangenheit und dem im kommunistischen Rumänien begangenen Unrecht mündeten in eine gesamtgesellschaft­liche und politische Diskussion. Das Jahr 2006 markiert einen Meilenstein. Im April 2006 berief der rumänische Präsident Traian Băsescu die Kommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien ein.50 Aufgabe dieser mit Experten, vor allem Historikern und Politologen besetzten Kommission war es, eine umfassende wissenschaft­liche Studie über das kommunistische Regime in Rumänien zu erstellen. Im Dezember 48 Siehe dazu Trappe: Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit (wie Anm. 1), S. 164 ff. 49 Vgl. z. B. Arnold/Eser (Hrsg.): Strafrecht in Reak­tion auf Systemunrecht (wie Anm. 46). 50 Rumänisch: Comisia Prezidenţială pentru Analiza Dictaturii Comuniste din România.

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Abb. 2  ­Pfeiler auf dem Universitätsplatz in Bukarest mit der Inschrift: »Rumänien, Km. 0, Bukarest, Universitätsplatz, Freiheit, Demokratie, neokommunismusfreie Zone«

2006 legte die Kommission ihren Abschlussbericht vor.51 Auf über sechshundert Seiten gibt der Bericht einen Überblick über das kommunistische Rumänien. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem in dieser Zeit begangenen Unrecht. Der Bericht dokumentiert das Ausmaß und die Methoden der Repression im kommunistischen Rumänien. In der Einführung des Berichts wird auch allgemein auf den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit im postkommunistischen Rumänien eingegangen. Es heißt dort: Zum Entsetzen der zahlreichen Verfechter der Demokratie, aber auch des Westens sind in Rumänien die Verbrechen der kommunistischen Epoche unbestraft geblieben. Die Diskussion um den kommunistischen Staat als ein auf totaler Missachtung der Idee der Gesetz­lichkeit basierendes politisches System hat nicht dazu geführt, dass der neue demokratische Staat seinen historischen Vorgänger deut­lich und kategorisch verurteilt hat. Bis zum heutigen 51 Comisia Prezidenţială pentru Analiza Dictaturii Comuniste din România: Raportul Final [Abschlussbericht der Kommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien]. Bukarest 2007.

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Tage gibt es kein offizielles Dokument des rumänischen Staates, das die Opfer des kommunistischen Grauens für ihre enormen und durch nichts verdienten Leiden um Vergebung bittet. Die Last der fehlenden Verurteilung des Kommunismus in der Zeit von 1990 bis 2006 hat in verschiedener Hinsicht die demokratische Konsolidierung erschwert und darüber hinaus in weiten Teilen der Bevölkerung ein tiefes Gefühl von Frustra­tion, Enttäuschung und Verzweiflung ausgelöst. Es ist höchste Zeit, dass dieser Zustand der systematisch geförderten Amnesie beendet wird.52

Diese Passage ist bezeichnend für den Duktus des Berichts, der ein Bild von Rumänien zeichnet, das sich seiner Vergangenheit seit 1989 nicht oder nicht in ausreichendem Maße gestellt hat. Es habe weder eine strafrecht­liche noch eine mora­ lische und politische Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit gegeben. Am 18. Dezember 2006 wurde im rumänischen Parlament eine Feierstunde abgehalten, auf der der Präsident vor Parlamentariern und geladenen Gästen auf Grundlage des Abschlussberichtes der von ihm eingesetzten Kommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien das kommunistische Regime in Rumänien verurteilte: Wir haben uns heute hier versammelt, um verantwortungsvoll ein düsteres Kapitel der Vergangenheit unseres Landes abzuschließen. […] Als rumänisches Staatsoberhaupt verurteile ich ausdrück­lich und kategorisch das kommunistische System in Rumänien, von seinen aufgezwungenen Anfängen der Jahre 1944 – 1947 bis zu seinem Untergang im Dezember 1989. Ausgehend von den in dem Bericht dargelegten Tatsachen stelle ich in voller Verantwortung fest: Das kommunistische Regime in Rumänien war unrechtmäßig und verbrecherisch. […] Im Namen des rumänischen Staates bringe ich hiermit mein Bedauern und mein Mitgefühl gegenüber den Opfern der kommunistischen Diktatur zum Ausdruck. Im Namen des rumänischen Staates bitte ich diejenigen, die gelitten haben, deren Familien und alle diejenigen, deren Schicksale durch die Missbräuche der Diktatur auf verschiedene Weise zerstört wurden, um Entschuldigung.53

Die Erklärung des Präsidenten markiert einen Wandel in der rumänischen Vergangenheitspolitik oder besser: den Beginn einer rumänischen Vergangenheitspolitik. Und obwohl Kritik an dem Bericht der Kommission und des Aktes der »Verurteilung des Kommunismus« nicht ausblieben, kann festgehalten werden, 52 Einführung zum Abschlussbericht der Kommission zur Analyse der kommunistischen Diktatur in Rumänien, S. 10. 53 Die Rede des Präsidenten findet man unter der URL: www.hotnews.ro, letzter Zugriff: 26. 08. 2016.

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dass sie etwas auslösten. So begann eine Diskussion um die Verjährbarkeit staatsgestützten Unrechts. Die Stimmen, die sich für eine Änderung der gesetz­lichen Grundlagen hinsicht­lich der Verjährung einsetzten, wurden stärker. Im Jahre 2012 wurde das rumänische Strafgesetzbuch schließ­lich dahingehend geändert, dass die Verjährungsregeln für vorsätz­liche Tötungsdelikte und Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Anwendung finden.54 Das bedeutet, dass viele der Unrechtstaten aus der kommunistischen Zeit heute strafverfolgt werden können, unabhängig vom Tatzeitpunkt. Zu erwähnen ist auch die Grundsatzentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft aus dem Jahr 2014, dass alle Verfahren, die in Zusammenhang mit staatsgestütztem Unrecht stehen, wiederaufgenommen werden können. Der Boden für eine Strafverfolgung ist damit geschaffen und ein Teil der juristischen Hürden aus der Welt geschafft. Eine tragende Rolle in ­diesem Prozess spielt das 2005 gegründete Institut zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen in Rumänien.55 Aufgabe des Institutes ist die Erforschung der Verbrechen der kommunistischen Zeit in enger Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft. Erklärtes Ziel ist die Anstrengung von Strafverfahren. Seit nunmehr zehn Jahren leistet das Institut eine beacht­liche Aufklärungsarbeit. Es versucht durch seine Forschungen eine Grundlage für die Strafverfolgung durch die Strafverfolgungsbehörden zu schaffen. Dabei bedient es sich nicht nur den Mitteln der historischen Forschung wie Interviews mit Betroffenen im Sinne der Oral History, sondern betreibt auch aufwendige Ausgrabungen. Unter beacht­lichem Aufwand wird die Lage von Einzel- oder Massengräbern rekonstruiert. Ausgrabungsteams öffnen die Gräber und exhumieren die Leichen. Sie versuchen sodann, die Identität der Opfer festzustellen und damit Licht in ein düsteres Kapitel der rumänischen Geschichte zu bringen. Diese Arbeit bildet eine der Grundlagen für die Forschungen des Instituts.56 Auf diese Weise konnte in zwölf Fällen gegen mutmaß­liche Täter genügend Beweismaterial gesammelt und die Akte an die Staatsanwaltschaft weitergegeben werden. 2016 kam es zu einer ersten rechtskräftigen Verurteilung des ehemaligen Direktors des Gefängnisses Râmnicu Sărat, Alexandru Vişinescu. Unter

54 Die Änderung erfolgte durch Gesetz Nr. 27/2012, Monitorul Oficial al României, Partea I [Gesetzesblatt Rumäniens, Teil 1], Nr. 180, 20. 03. 2012. 55 Institutul de Investigare a Crimelor Comunismului si memoria Exilului Românesc [Institut zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen und der Erinnerung an das rumänische Exil]. 56 Zur Arbeit des Instituts und der tragenden Persön­lichkeit Marius Oprea siehe Guido Barella: In căutarea victimelor comunismului. Povestea lui Marius Oprea [Auf der Suche nach den Opfern des Kommunismus. Die Geschichte Marius Opreas]. Bukarest 2015.

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seinem Regime waren von 1956 bis 1963 politische Häftlinge gefoltert und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt worden. Vişinescu wurde zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und ist derzeit in Haft. Ein weiteres Verfahren gegen den Leiter der Arbeitskolonie Periprava, Ioan Ficior, ist noch anhängig. Das Institut betreibt seine Forschungen beständig weiter und sammelt Beweise.57 So ist es nicht ausgeschlossen, dass es in Zukunft weitere Strafverfahren und Verurteilungen für staatsgestütztes Unrecht in Rumänien geben wird. Obwohl schon über 25 Jahre seit dem Umbruch von 1989 vergangen sind, ist dieser Prozess noch längst nicht abgeschlossen. Aber vielleicht sind auch erst 25 Jahre vergangen, denn Aufarbeitungsprozesse brauchen Zeit.

57 Zum Stand der Ermittlungen siehe die Webseite des Instituts unter der URL: www.iiccr.ro, letzter Zugriff: 27. 01. 2017.

Ulrike Capdepón

Von Nürnberg nach Madrid? Transna­tionale Vergangenheitspolitik und universelle Gerichtsbarkeit – Zur juristischen Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur

Spanien nimmt im Rahmen der im vorliegenden Sammelband diskutierten Länderbeispiele in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmestellung ein. Bilden die strafrecht­liche Ahndung von schweren Menschenrechtsverletzungen und die Durchführung von Gerichtsverfahren gegen administrativ Verantwort­liche für Diktatur, Repression und Massengewalt die Kristallisa­tionspunkte vergangenheitspolitischer Instrumente, so hat es eine strafrecht­liche Aufarbeitung der Verbrechen des Spanischen Bürgerkrieges (1936 – 1939) und des Franco-­Regimes (1939 – 1975), soviel sei vorausgeschickt, bisher nicht gegeben. Die vor siebzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten Nürnberger Prozesse, mit denen die Alliierten den Holocaust und grausamste NS-Verbrechen vor einem interna­tionalen Tribunal juristisch aufzuarbeiten suchten, begründeten die Ausarbeitung und Unterzeichnung interna­tionaler Menschenrechtsabkommen als Grundlage des Völkerrechts. Die Anklage vor Sondergerichten erfolgte mit der Perspektive, ein interna­tionales Rechtssystem für schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu etablieren.1 Diesen Entwicklungen lag die Idee zugrunde, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ungestraft bleiben dürften, begründet mit der Charta der Menschenrechte, den Nürnberger Prinzipien und ferner der universellen Gerichtsbarkeit, der zufolge besonders gravierende Verbrechen unabhängig von der Na­tionalität des Täters und von dem Ort der Tat verfolgt und geahndet werden können. War dieser »Nuremberg Ethos« 2 in den folgenden Jahrzehnten interna­tional zunächst in den Hintergrund gerückt, so hat sich seit Ende des Ost-­West-­Konfliktes zunehmend ein in universelle Menschenrechtsdiskurse eingebetteter Aufarbeitungsimperativ ­etabliert, dem sich die spanische Justiz erfolgreich entzieht. 1 Vgl. Herbert A. Reginbogen/Christoph Safferling: Einführung. Die Lehren von Nürnberg. In: dies. (Hrsg.): Die Nürnberger Prozesse: Völkerstrafrecht seit1945. München 2006, S. 16. 2 Daniel Levy/Nathan Sznaider: Human Rights and Memory. Pennsylvania 2011, S. 98.

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Galt der spanische Transi­tionsprozess in der vergleichenden Politikwissenschaft lange als nachahmenswertes Erfolgsmodell, hatte er doch als eigener Forschungszweig die »Transitologie« begründet, so wird er spätestens seit der Jahrtausendwende erneut in Frage gestellt und ist nicht nur in der akademischen Beurteilung, sondern auch in öffent­lichen Debatten zunehmend in Misskredit geraten. Nach dem Tod Francisco Francos am 20. November 1975 setzte eine auf Elitenpakten basierende, von Konsens und Ausgleich getragene Transi­tion ein, die zwar in einer erfolgreichen Demokratiekonsolidierung mündete, allerdings um den Preis einer ausbleibenden Auseinandersetzung mit der franquistischen Repression. Die Strategie des öffent­lichen Nichterinnerns im Sinne eines offiziellen Ausblendens der Bürgerkriegs- und Diktaturvergangenheit war an das Amnestie­ gesetz geknüpft; die Straflosigkeit begangener Menschenrechtsverletzungen wurde zum integralen Bestandteil des Übergangs zur Demokratie. Vor d ­ iesem Hintergrund des von Stephanie Golob als »Spanish legal excep­ tionalism« 3 charakterisierten Zustandes einer »democracy without justice« 4 skizziert der vorliegende Beitrag die spät einsetzende Auseinandersetzung mit der Franco-­ Diktatur. Hat sich seit der Jahrtausendwende eine lokal geprägte Erinnerungsbewegung formiert, die sich, von global zirkulierenden Menschenrechtsparadigmen beeinflusst, für die Auseinandersetzung mit Franco-­Diktatur und Bürgerkrieg einsetzt, so steht die Frage im Vordergrund, inwiefern innergesellschaft­liche Faktoren mit interna­tionalen Dynamiken und Normbildungsprozessen zusammenwirken. Der vorliegende Beitrag umreißt zunächst die Spezifika des spanischen Transi­ tionsprozesses, in dem die Grundlage für die Amnestie und gesellschaft­liche Amnesie gelegt wurde. Daraufhin geht er auf die zivilgesellschaft­lichen Initiativen zur Aufarbeitung der Franco-­Diktatur ein, um sodann den gescheiterten Versuch einer juristischen Aufarbeitung, den »Fall Garzón«, zu skizzieren. Anschließend richtet sich der Blick auf die zunehmende Transna­tionalisierung und Judizialisierung der Aufarbeitungsforderungen, insbesondere bei der Suche nach den »verschwundenen« Bürgerkriegsopfern sowie die mit Bezug auf das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit eingereichte Klage zur Aufarbeitung franquistischer Verbrechen vor einem Gericht in Buenos Aires.5 3 Stephanie R. Golob: Locating Globalized Justice: Judge Garzón, the Caso Franquismo, and the End of Spanish Excep­tionalism. Unveröffent­lichtes Manuskript Istanbul 2014, S. 1 – 29, hier S. 5. 4 Omar G. Encarnacion: Democracy without Justice in Spain. The Politics of Forgetting. Philadelphia 2014. 5 Der folgende Beitrag steht im Zusammenhang einer umfassenderen Forschungsarbeit der Autorin. Teilergebnisse sind veröffent­lich in Ulrike Capdepon: Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und

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1. Die »paktierte Transi­tion«: Amnesie, Straflosigkeit und der »Fall Ruano« Der spanische Demokratisierungsprozess stand im ­Zeichen eines ausgehandelten Systemwechsels: Statt zu einem radikalen Bruch mit dem Franco-­Regime kam es – nach dem Tod des Diktators – zu einem paktierten Übergang ­zwischen reformwilligen Repräsentanten des Regimes und der gemäßigten demokratischen Opposi­tion. Die franquistische Vergangenheit wurde offiziell ausgeklammert. Mehrheit­lich blieb der franquistische Machtapparat unangetastet, die politischen Eliten verzichteten auf einen öffent­lich wahrnehmbaren Bruch mit dem Franco-­ Regime. Das Ausblenden der Diktatur im Sinne eines staat­lich legitimierten Vergessens wurde zum offiziellen Weg der Versöhnung, die franquistische Repression verschwiegen. Galt eine Amnestierung der politischen Häftlinge des Franco-­Regimes der antifranquistischen Opposi­tion bereits seit den 1960er Jahren als eine zentrale Forderung und unabdingbare Voraussetzung für die Demokratisierung,6 so sollte diese schließ­lich nicht nur die politischen Gefangenen des Franco-­Regimes aus den Gefängnissen befreien. Auch den franquistischen Sicherheitskräften, die an der staat­lichen Repression beteiligt waren, sicherte die Amnestierung langfristig Straffreiheit zu. Bei der Generalamnestie vom 15. Oktober 1977 handelte es sich um die erste verabschiedete vergangenheitspolitische Maßnahme des neu gewählten demokratischen Parlaments hinsicht­lich der Diktaturverbrechen, die in partei­ übergreifendem Konsens bei ledig­lich zwei Gegenstimmen und 18 Enthaltungen angenommen wurde. Gleichzeitig war die Amnestie an eine gesellschaft­liche Amnesie geknüpft. Auf eine Ermittlung der Straftaten der Täter wurde verzichtet, was die Integra­tion belasteter Personenkreise begünstigte. Da eine Thematisierung der persön­lichen Verstrickung der aus dem Franco-­Regime stammenden politischen Akteure den paktierten Übergang erschwert hätte, ließ auch ein Austausch belasteter Eliten auf sich warten. So wurden ledig­lich einige Generäle frühzeitig Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile, Bielefeld 2015; dies.: Die späte Auseinandersetzung mit der Franco-­Vergangenheit: Von der Transi­tion ohne transi­tional justice zum Kampf gegen die Straflosigkeit in Spanien. In: Anja Mihr/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hrsg.): Transi­tional Justice. Aufarbeitung von Unrecht, Rechtsstaat­lichkeit und Demokratie. Berlin/Heidelberg i. E. 6 Vgl. Paloma Aguilar Fernandez: La amnesia y la memoria: Las movilizaciones por la amnistía en la transición a la democracia [Amnesie und Erinnerung: Die Mobilisierungen für die Amnestie während der Transi­tion zur Demokratie]. In: Manuel Perez Ledesma/Rafael Cruz (Hrsg): Cultura y movilización en la España contemporánea [Kultur und Mobilisierung im gegenwärtigen Spanien]. Madrid 1997, S. 327 – 357, hier S. 332.

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pensioniert und eine Militärreform auf 1982 vertagt. Als Teile des franquistisch geprägten Militärs gewaltsam versuchten, die Entwicklung von der Diktatur zur Demokratie mit dem Putschversuch des Oberstleutnants Antonio Tejero am 23. Februar 1981 im spanischen Parlament zu beenden, führte dies nicht nur die Fragilität der transición drastisch vor Augen, sondern sollte auch zivilgesellschaft­ liche und kulturelle Initiativen zur Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur langfristig unterbinden. Dazu gehörten etwa erste Versuche einer Suche nach in Massengräbern verscharrten republikanischen Opfern aus dem Bürgerkrieg, die ohne jeg­liche institu­tionelle Unterstützung erfolgte,7 sowie Forderungen nach einer juristischen Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen. Dieser politischen Linie entsprechend hatte die Militärgerichtskammer des Obersten Gerichtshofs in den Jahren nach Ende des Franco-­Regimes die Anträge von Familienangehörigen auf Überprüfung von Urteilen gegen Opfer der franquistischen Repression unter Berufung auf das Amnestiegesetz regelmäßig abgelehnt. Und das, obgleich diese während der Diktatur gesprochenen Urteile aus Verfahren resultierten, die unter Missachtung jeg­licher rechtsstaat­licher Mindeststandards den Charakter von Schauprozessen aufgewiesen hatten. Der Fall des zwanzigjährigen, in der antifranquistischen Opposi­tion an der Madrider Complutense-­Universität aktiven Jurastudenten Enrique Ruano verdient besondere Beachtung, steht er doch symbo­lisch für den – letzt­lich erfolglosen – Versuch der Angehörigen, eine strafrecht­liche Aufarbeitung zu erreichen. Ruano war am 17. Januar 1969 von der Brigada Político Social (BPS), der franquistischen Geheimpolizei, verhaftet und gefoltert worden. Nach drei Tagen in Gefangenschaft war er zu Tode gekommen, woraufhin die Sicherheitsagenten einen Selbstmord vortäuschten. Der offiziellen Erklärung zufolge sei Ruano bei einem Fluchtversuch während des Verhörs angeb­lich aus dem Fenster des siebten Stockwerks gesprungen. Der zuständige Richter nahm diese Version der Todesumstände ungeprüft hin, und das spätfranquistische Regime verbreitete sie in einer propagandistischen Medienkampagne. Auf darauffolgende Studentenproteste schlossen sich verschärfte Repressionsmaßnahmen und die Verhängung des Ausnahmezustands an.8 Weit nach Ende der Franco-­Diktatur, einen Tag 7 Vgl. Francisco Ferrandiz: El pasado bajo tierra. Exhumaciones contemporáneas de la Guerra Civil [Die begrabene Vergangenheit. Zeitgenös­sische Exhumierungen aus dem Bürgerkrieg]. Barcelona 2014, S. 162 – 165. 8 Vgl. Ana Dominguez Rama: »A Enrique Ruano lo han asesinado. Un oscuro episodio de represión franquista nunca esclarecido« [Eine dunkle, nie aufgeklärte Episode der franquistischen Repression]. In: dies. (Hrsg.): Enrique Ruano. Memoria viva de la impunidad del franquismo [Enrique Ruano. Lebendige Erinnerung an die Straflosigkeit des Franquismus]. Madrid 2011, S. 33 – 58.

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vor Ablauf der formalen Verjährungsfrist im Januar 1989, reichte die Schwester gemeinsam mit der ­Mutter Ruanos eine Klage ein. Obgleich das Verbrechen formal unter das Amnestiegesetz fiel, entschied das zuständige Provinzialgericht, der Klage stattzugeben. Auch wenn zahlreiche Beweise im Vorfeld vernichtet worden waren, deckten die Ermittlungen nach einer erneuten Obduk­tion, mit der eine töd­liche Schussverletzung und Folter nachgewiesen werden konnten, eklatante Widersprüche im Tathergang auf, ­welche die Inkonsistenz der offiziellen Suizid­ version evident machte.9 Gegen die drei verantwort­lichen Polizisten wurde 1996 zwar ein Verfahren eröffnet, jedoch wurden sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Verfahren wurde schließ­lich mit der Begründung eingestellt, dass nicht rekonstruiert werden könne, wer den töd­lichen Schuss abgefeuert habe.10 Das einzige neu aufgenommene Verfahren im postfranquistischen Spanien – der »Fall Ruano« – hatte also weder zur vollständigen Aufklärung des Verbrechens noch zu einer strafrecht­lichen Verurteilung der Taten geführt. Das Amnestiegesetz bildet damit bis heute die wesent­liche Hürde, mit der sich die spanische Justiz der justiziellen Aufarbeitung der Franco-­Vergangenheit systematisch entzieht.

2. Das Ende des »Schweigepakts«: Von der Suche nach den desaparecidos zum Erinnerungsgesetz Nach einer Jahrzehnte andauernden Phase des öffent­lichen Beschweigens und Verdrängens – von ihren Kritikern als »Schweigepakt« (spanisch: pacto de silencio) gebrandmarkt – hat sich seit der Jahrtausendwende eine zivilgesellschaft­liche Erinnerungsbewegung formiert. Sie setzt sich für die Suche, Identifizierung und würdige Bestattung der geschätzten 130.00011 weiterhin in Massengräbern verscharrten republikanischen Verschwundenen (spanisch: desaparecidos) aus dem Bürgerkrieg ein. Mit der Übernahme der juristischen Figur des desaparecido, die ausgehend von der repressiven Praxis des erzwungenen Verschwindenlassens der 1970er Jahre während der argentinischen und chilenischen Militärdiktaturen geprägt worden 9 Vgl. José Manuel Gomez-­Benitez: »El caso Ruano: memoria histórica e historia de una infamia« [Der Fall Ruano: Historische Erinnerung und Geschichte einer Infamie]. In: Domingez Rama (Hrsg.): Enrique Ruano (wie Anm. 8), S. 273 – 287, hier S. 278 f. 10 Vgl. Josep M. Tamarit Sumulla: Historical Memory and Criminal Justice in Spain. A Case of Late Transi­tional Justice. Cambridge 2013, S. 107 f. 11 Siehe Rafael Escudero Alday/Carmen Perez Gonzalez (Hrsg.): Desapariciones forzadas, represión política y crímenes del franquismo [Erzwungenes Verschwindenlassen. Politische Repression und franquistische Verbrechen]. Madrid 2013, S. 9.

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Abb. 1  Aushebung eines Bürgerkriegsgrabes im nordspanischen Loma de Montija (Provinz Burgos) im April 2011, durchgeführt von der baskischen Vereinigung Asociación de Ciencias Aranzadi unter Beteiligung einer Gruppe USamerikanischer Studierender

war, sollen die republikanischen Toten aus dem auf Spanien begrenzten Zusammenhang in einen universellen Menschenrechtsdiskurs verortet werden.12 Der Begriff des desaparecido hat sich im zivilgesellschaft­lichen, medialen, politischen wie juristischen Diskurs sukzessiv für die in weiterhin klandestinen Massengräbern verschollenen Opfer der franquistischen Bürgerkriegsrepression durchgesetzt.13 Mit der transna­tionalen Aneignung des desaparecido-­Konzeptes und seiner diskursiven Verbreitung machen sich die lokalen Erinnerungsakteure das ihm inhärente 12 Gabriel Gatti: Surviving Forced Disappearance in Argentina and Uruguay. Identity and Meaning. Memory Politics and Transi­tional Justice. New York 2014, 155 ff.; Nina Elsemann: Umkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco. Frankfurt a. M. 2011; Ulrike Capdepon: Die Verschwundenen des Spanischen Bürgerkriegs: Zwischen globalen Normen und lokalen Erinnerungsdiskursen. In: WeltTrends. Zeitschrift für interna­tionale Politik 68 (2009), S. 13 – 18. 13 Vgl. Francisco Ferrandiz: De las fosas comunes a los derechos humanos: El descubrimiento de las desapariciones forzadas en la España contemporánea. [Von Massengräbern zu Menschenrechten: Die Entdeckung des erzwungenen Verschwindenlassens im gegenwärtigen Spanien]. In: Revista de Antropología Social 19 (2010), S. 161 – 189, hier S. 171.

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Mobilisierungspotential zunutze, indem die extrajustizielle Tötung fortan zu einem juristisch sank­tionierbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit umgedeutet wird.14 Seit der Jahrtausendwende wurden circa 8500 sterb­liche Überreste vornehm­lich von Zivilisten, die politisch motivierter Gewalt zum Opfer fielen, aus über 400 Massengräbern in unterschied­lichsten Landesteilen Spaniens exhumiert.15 Diese Ausgrabungen von Bürgerkriegsopfern haben die gesellschaft­liche Debatte über die Repression und den Modus des Transi­tionsprozesses neu entfacht. Dabei machten die geöffneten Bürgerkriegsgräber die bisher nicht aufgearbeitete Repression offensicht­lich. So bildete sich ein verändertes Geschichtsnarrativ über Diktatur und Transi­tion heraus, das sich mit einer interna­tionalen Menschenrechtsrhetorik verband und damit das lang als erfolgreich geltende spanische Transi­tionsmodell einer kritischen Neubewertung unterzog. Auch als politische Reak­tion auf die zivilgesellschaft­lichen Aufarbeitungsforderungen verabschiedete das spanische Parlament im Dezember 2007 das von der sozialistischen Regierung unter Ministerpräsident José Luis Rodríguez ­Zapatero eingebrachte sogenannte Erinnerungsgesetz.16 Das »Ley de memoria histórica« umfasst 22 Artikel, die vier unterschied­liche transi­tional ­justice-­Bereiche berühren: Neben erweiterten symbo­lischen und ökonomischen Entschädigungsmaßnahmen für die Opfer wird die Frage der Aushebung von Bürgerkriegsgräbern und die Identifika­tion der Verschwundenen erstmals in einem gesamtspanischen Gesetz geregelt. Zu ­diesem Zweck werden finanzielle Mittel für zivilgesellschaft­liche Organisa­tionen bereitgestellt. Zudem befasst sich das Gesetz mit dem künftigen Umgang mit franquistischer Symbolik im öffent­lichen Raum, hatte doch die franquistisch geprägte Erinnerungslandschaft in Form von Denkmälern, Straßennamen und Monumenten den Transi­tionsprozess weitestgehend überdauert. Überdies wird der Zugang zu Bürgerkriegsarchiven erleichtert, insbesondere zum zentralen Dokumenta­tionszentrum in Salamanca.

14 Vgl. Ferrandiz: El pasado bajo tierra (wie Anm. 7), S. 222 – 224. 15 Siehe Francisco Exteberria: »Hemos exhumado 400 fosas en 16 años y recuperado más de 8500 esqueletos« (Isabel Camacho) [Wir haben 400 Gräber in 16 Jahren und mehr als 8500 Skelette exhumiert]. In: Contexto y acción 61, 15. April 2016. URL: http://ctxt.es/es/20160420/ Politica/5495/–memoria-­historica-­fosas-­exhumaciones-­franquismo-­represion-­Lasa-­Zabala-­ GAL-PSOE-Felipe-­Gonzalez.htm, letzter Zugriff: 14. 07. 2016. 16 Siehe »Ley 52/2007, de 26 de diciembre, por la que se reconocen y amplían derechos y se establecen medidas en favor de quienes padecieron persecución o violencia durante la guerra civil y la dictadura« [Gesetz zur Anerkennung und Erweiterung der Rechte jener, die während des Bürgerkriegs und der Diktatur Verfolgung oder Gewalt erlitten haben]. Der Gesetzestext ist im spanischen Staatsanzeiger (Boletín Oficial del Estado, BOE) veröffent­licht worden. URL: http://www.boe.es/boe/dias/2007/12/27/index.php, letzter Zugriff: 20. 06. 2016.

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Liegt der Akzent des Erinnerungsgesetzes damit insgesamt auf der mora­ lischen Anerkennung und symbo­lischen Entschädigung der Opfer, so schließt es jedoch juristische Konsequenzen im Sinne strafrecht­licher Ermittlungen kategorisch aus. Die für den Kontext strafrecht­licher Vergangenheitspolitik wichtigste Maßnahme des Gesetzes, die hochkontrovers diskutiert wurde, betraf die franquistischen Gerichtsurteile. Im Sinne einer mora­lischen Anerkennung der Opfer werden die von franquistischen Standgerichten gesprochenen Strafurteile für »ungerecht« und »illegitim« erklärt (Artikel 2 – 3). Sie werden damit zwar mora­lisch verurteilt, nicht aber – wie von Erinnerungs- und Opferinitiativen gefordert – grundsätz­lich annulliert, denn sie gelten nicht als »illegal«.17 Der Terminus der Illegitimität, der im Interna­tionalen Recht keine Entsprechung findet, hebt die franquistischen Urteile nicht auf und verbleibt somit ohne juristische Konsequenzen. Der Weg zu einer strafrecht­lichen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen bleibt damit weiterhin verschlossen. Entsprechend unzufrieden zeigten sich die Erinnerungsorganisa­tionen, die das Gesetz als völlig unzureichend kritisierten, da es weder einen strukturellen Beitrag zur Aufklärung franquistischer Verbrechen leiste noch die grundlegende Situa­tion der Straflosigkeit verändere und damit den interna­tional verankerten Aufarbeitungsprinzipien von Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung nicht nachkomme. Da der spanische Staat zudem keine generelle Verpflichtung übernehme, die in klandestinen Massengräbern verscharrten Verschwundenen aufzufinden, kritisierten zivilgesellschaft­liche Erinnerungs- und Menschenrechtsinitiativen wiederholt die Nichteinhaltung der Interna­tionalen Konven­tion zum erzwungenen Verschwindenlassen, die Spanien ratifiziert hat.18

17 Eine umfassende Analyse des Gesetzes findet sich u. a. bei Rafael Escudero Alday/José Antonio Martin Pallin (Hrsg.): Derecho y memoria histórica [Recht und historische Erinnerung]. Madrid 2008. 18 So legten, stellvertretend für viele andere Ablehnungsbekundungen eineinhalb Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes 46, erinnerungspolitische Basisorganisa­tionen der spanischen Regierung ein gemeinsames Dokument vor, mit dem sie eine Modifika­tion des Gesetzestextes verlangten. Zu den unterzeichnenden Gruppierungen gehörten sowohl Organisa­tionen der ARMH (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica) [Verein zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung] als auch das Foro por la memoria [Erinnerungsforum], die zwei großen und rivalisierenden Dachverbände der Erinnerungsbewegung. URL : http://desaparecidosdelfranquismo.blogspot.de/, letzter Zugriff: 15. 07. 2016.

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3. Vom »Fall Garzón« zum »Kampf gegen die Straflosigkeit« Aus der verbreiteten Unzufriedenheit der zivilgesellschaft­lichen Erinnerungsakteure mit den in der spanischen Öffent­lichkeit polemisch diskutierten Maßnahmen des Erinnerungsgesetzes, das, wie sich abzeichnen sollte, weit hinter ihren Erwartungen zurückblieb, reichten erinnerungspolitische Angehörigenvereinigungen im Dezember 2006 Anträge vor dem Na­tionalen Gericht (spanisch: Audiencia Nacional) ein. Es war der spanische Ermittlungsrichter Baltasar Garzón, interna­ tional bekannt durch die Anwendung universeller Gerichtsbarkeit zur Ahndung der während der argentinischen und chilenischen Militärdiktaturen begangenen Verbrechen vor der spanischen Audiencia Nacional,19 die sich schließ­lich auch der Aufarbeitung des Franco-­Regimes zuwendete. Vor dem Hintergrund des »Falles Pinochet«, das gegen den chilenischen Exdiktator 1998 in Madrid eingeleitete Auslieferungsverfahren, kam auch die Frage nach den spanischen Diktaturverbrechen mittelbar auf die politische Agenda.20 Mit der Initiative zur Ahndung der Menschenrechtsverbrechen der chilenischen und argentinischen Militärdiktaturen war Garzón Ende der 1990er Jahre weltweit zu einer Referenzfigur für die Durchsetzung universeller Jurisdik­tion vor dem Gericht eines anderen Landes geworden. Während er sich für die Ahndung der Menschenrechtsverbrechen in Chile und Argentinien einsetzte, hatten ihm spanische Erinnerungsorganisa­ tionen immer wieder vorgeworfen, die juristische Aufarbeitung der spanischen Diktaturvergangenheit nicht in die Hand nehmen zu wollen. Daraufhin kündigte Garzón im Oktober 2008 an, Ermittlungen gegen die Verbrechen der Franco-­Diktatur einzuleiten, trotz des bestehenden Amnestiegesetzes, 19 In zahlreichen interna­tionalen Fällen hatte die Audiencia Nacional mit Bezug auf universelle Gerichtsbarkeit Ermittlungen eingeleitet: So waren Klagen zum Genozid in Guatemala, gegen Guantánamo-­Folterer aus den USA , gegen die Tibet-­Politik Chinas und die Außenpolitik Israels in Gaza bei der Audiencia Nacional eingereicht worden. Neben Ermittlungen in den Fällen »Pinochet« und »Scilingo« sowie gegen zahlreiche weitere argentinische Militärs hatten ehemalige republikanische Häftlinge im na­tionalsozialistischen Konzentra­ tionslager Mauthausen und deren Angehörige vor dem spanischen Gericht geklagt. Der »Fall Scilingo«, der Fall eines argentinischen Korvettenkapitäns, der für die sogenannten Todesflüge während der argentinischen Militärdiktatur verantwort­lich gemacht wurde, war der einzige, bei dem es zu einer Urteilsverkündung kam. War die spanische Regierung dadurch immer wieder in außenpolitische Bedrängnis geraten, so schränkte das spanische Parlament die universelle Jurisdik­tion in der Verfassung im Mai 2009 stark ein, um sie im Februar 2014 de facto abzuschaffen. 20 Siehe Capdepon: Vom Fall Pinochet (wie Anm. 5); Stephanie R. Golob: Volver: The Return of/to Transi­tional Justice in Spain. In: Journal of Spanish Cultural Studies 9 (2008) 2 (Sonderheft: The Politics of Memory in Contemporary Spain), S. 127 – 141.

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das bisher eine strafrecht­liche Ahndung der Taten verhindert hatte. Die von Garzón vorgelegte Verfügung hebt hervor, dass die Fälle des erzwungenen Verschwindenlassens und der extralegalen Ermordungen während des Bürgerkrieges und der Anfangsjahre der Franco-­Diktatur von 1936 bis 1952 bisher nicht juristisch verfolgt worden s­ eien. Vielmehr habe die Amnestierung von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, auf die eigent­lich völkerrecht­liche Prinzipien angewendet werden müssten, die Regel gebildet.21 Im Sinne der zivilgesellschaft­ lichen Erinnerungsorganisa­tionen appellierte er an die Verpflichtung des spanischen Staates, die Menschenrechte einzuhalten und die Opfer des Franquismus anzuerkennen. In der von Garzón vorgelegten Verfügung heißt es weiter, dass im Rahmen eines »vorgefassten Plans der systematischen Ausrottung des politischen Gegners« 22 die Verschwundenen Opfer von illegalen Entführungen durch Staatsorgane geworden s­ eien. Es habe sich um ein »System des erzwungenen Verschwindenlassens gehandelt mit dem Ziel, die Identifika­tion der Opfer langfristig unmög­lich zu machen«, um damit jeg­liche juristische Ahndung der Verbrechen zu verhindern.23 Dabei begreift die Verfügung Garzóns – der interna­ tionalen Konven­tion über das erzwungene Verschwindenlassen folgend – explizit auch die Angehörigen der Verschwundenen als Opfer. Das Verbrechen dauere laut Garzón so lange an, wie diese keine Klarheit über den Verbleib ihrer Angehörigen besäßen. Die Tatbestände s­ eien nicht nur von der Verjährbarkeit ausgenommen, sondern aufgrund ihres permanenten Charakters als Verstöße gegen das Interna­ tionale Recht zu interpretieren und daher auch nicht amnestierbar.24 Indem die franquistischen Verbrechen in einem interna­tionalen Rechtsrahmen verortet wurden, war die Straflosigkeit zum ersten Mal von höchster juristischer Instanz in Frage gestellt worden. Durch die Einschreibung der spanischen desaparecidos in einen universalen Menschenrechtsdiskurs wird dem Imperativ zur Aufklärung des Verbleibs der republikanischen Bürgerkriegsopfer verstärkt Nachdruck verliehen. In einem Prozess, den Francisco Ferrándiz als »legal download« charakterisiert,25 21 Baltasar Garzon: Auto. Deligencias Previas Proc. Abreviado 399/2006 V, Juzgado Central de Instrucción No. 005, Audiencia Nacional, Madrid, 16 de octubre [Verfügung. Einleitende Ermittlungen. Aktenzeichen 399/2006 V, Zentrales Ermittlungsgericht Nr. 005, Na­tionaler Gerichtshof, Madrid, 16. Oktober]. In: Diario Publico (Hrsg.): Garzón contra el Franquismo. Los autos íntegros del juez sobre los crímenes de la dictadura [Garzón gegen den Franquismus. Die gesamten Verfügungen des Richters bezüg­lich der Diktaturverbrechen]. Madrid 2008, S. 17 – 100, hier S. 23. 22 Ebd., S. 21. 23 Ebd., S. 24. 24 Ebd., S. 24, 31 ff. 25 Ferrandiz: De las fosas comunes a los derechos humanos (wie Anm. 13), S. 163.

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beziehen sich lokale Erinnerungsverbände und Menschenrechtsorganisa­tionen bei der Suche nach den Verschwundenen in Spanien seither systematisch auf globale Normierungsprozesse, wie die Kodifizierung des erzwungenen Verschwindenlassens im Interna­tionalen Recht. Darüber hinaus wenden sie sich an suprana­tionale Instanzen, wie die entsprechende UN-Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (WGEID), um auch durch interna­tionale Aufmerksamkeit ihre Aufarbeitungsforderungen durchzusetzen. Interessant ist hierbei vor allem das Zusammenspiel lokaler, transna­tionaler und interna­tionaler Faktoren: So greifen lokale Erinnerungsakteure in Spanien als Strategie argumentativ auf interna­tionale Menschenrechtsnormen und die Erfahrungen der Auseinandersetzung lateinamerikanischer Diktaturen zurück, um ihren Aufarbeitungsforderungen auf na­tionaler Ebene Nachdruck zu verleihen. In ihrem Ansinnen werden sie von transna­tional agierenden Menschenrechtsnetzwerken, wie Amnesty Interna­tional und Human Rights Watch unterstützt, deren Berichte den Forderungen immer wieder neue Dynamik verleihen. Die Auseinandersetzung mit der Franco-­Vergangenheit steht damit zunehmend in einem transna­tionalen Austausch- und Transferverhältnis. Insbesondere lateinamerikanische Impulse, die von interna­tionalen Normen und entsprechend zirkulierenden Menschrechtsdiskursen und juristischen Figuren, wie der des desaparecido gerahmt sind, wirken auf die spanischen Aufarbeitungsdiskurse zurück. Als sich das Na­tionale Gericht sechs Wochen, nachdem Garzón seine Verfügung vorgelegt hatte, jedoch für nicht zuständig erklärte, da die Verbrechen bereits verjährt und amnestiert worden s­ eien, war eine landesweite Lösung zur Aufklärung der Schicksale der Verschwundenen erneut in weite Ferne gerückt. Nachdem Garzón zum ersten Mal im postfranquistischen Spanien das spanische Amnestiegesetz in Frage gestellt hatte, wurde ihm wegen vermeint­licher Rechtsbeugung und Amtsmissbrauch selbst der Prozess gemacht: Neofranquistische Splittergruppen, wie die ehemalige franquistische Staatspartei Falange española und der ultrarechte Beamtenbund Manos Limpias (deutsch: Saubere Hände) verklagten den Richter. Die Justizaufsichtsbehörde ließ die Anklage mit der Begründung zu, Garzón habe wissent­lich das existierende Amnestiegesetz von 1977 ignoriert. Nach seiner Suspendierung im Mai 2010 folgte knapp zwei Jahre ­später die definitive Amtsenthebung Garzóns. Die im Februar 2012 geführten Verhandlungen im »Fall Franquismus« wurden, wie bereits nach seiner Suspendierung, von massiven Solidaritätsdemonstra­tionen und Mobilisierungen von Erinnerungsund Menschenrechtsorganisa­tionen begleitet. Der Oberste Gerichtshof (spanisch: Tribunal Supremo) hatte zum ersten Mal Zeugenaussagen von Opfern der franquistischen Repression angehört, auch einige

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Abb. 2  Proteste von Angehörigen und Erinnerungsaktivisten gegen das Amtsenthebungsverfahren von Ex-Ermittlungsrichter Baltasar Garzón im Februar 2012 vor dem Obersten Gericht in Madrid

Vertreter der Erinnerungsverbände sagten vor dem Gericht aus,26 obgleich paradoxerweise in einem Prozess gegen den Richter, der diese Verbrechen erstmals hatte aufklären wollen. Das schließ­lich gegen Garzón einstimmig verhängte elfjährige Berufsverbot offenbarte, dass der unbequeme Richter um jeden Preis langfristig von der spanischen Richterschaft ausgeschlossen werden sollte. Auch wenn er sich in zwei weiteren Fällen, in erster Linie wegen der Aufdeckung eines Korrup­tionsskandals der regierenden Volkspartei (spanisch: Partido Popular, PP), vor Gericht verantworten musste 27 – der Ermittlungsrichter, der es gewagt hatte, eine juristische Aufarbeitung der franquistischen Repression einzuleiten, sollte schließ­lich der Erste sein, der im Zusammenhang mit den Verbrechen der Franco-­Diktatur verurteilt wurde.

26 Siehe Francisco Espinosa-­M aestre: Shoot the Messenger? Spanish Democracy and the Crimes of Francoism. From the Pact of Silence to the Trial of Baltasar Garzón. Oregon 2013, S. 142 f. 27 Garzón war insgesamt in drei Fällen angeklagt: Infolge seiner Ermittlungen zu den franquistischen Verbrechen war nach seiner Suspendierung das bereits geschlossene Verfahren der angeb­ lichen Unterschlagung von Zuwendungen im Zusammenhang mit einer 2005 an der New York University gehaltenen Vortragsreihe Garzóns erneut aufgerollt worden. Schließ­lich waren es die Ermittlungsmethoden im Korrup­tionsskandal der PP, dem »Fall Gürtel«, in welchem ihm das illegale Abhören der Angeklagten vorgeworfen wurde, die das Gericht als ausschlaggebend für das verhängte Berufsverbot angab. Siehe dazu Julio M. Lazaro: Garzón dice adiós a la carrera judicial al ser condenado a 11 años de inhabilitación [Garzón verabschiedet sich von juristischer Karriere nach Verurteilung zu elf Jahren Berufsverbot]. In: El País, 10. Februar 2012.

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Für die nunmehr verstärkt eingebrachte Forderung, das Amnestiegesetz aufzuheben, sind das Interna­tionale Recht und die Erfahrungen der Menschenrechtsbewegung im Kampf gegen Straflosigkeit der lateinamerikanischen Militär­ diktaturen wichtige Referenzpunkte. Die lokale Aneignung zentraler Topoi und juristischer Figuren, wie die »Suche nach den Verschwundenen« sowie die »transi­tional ­justice-­Trias« von Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung, stellen die Forderungen der Erinnerungsakteure in den Kontext eines universellen Menschenrechts- und Erinnerungsimperativs. Insbesondere die juristischen Konzepte, wie die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Anwendung universeller Gerichtsbarkeit und die Forderung nach einem Ende der Straflosigkeit, zeigen an, dass entsprechende, sich aus den Nürnberger Prinzipien speisende, transna­tional zirkulierende Menschenrechtsnormen und -diskurse für die Erinnerungsorganisa­tionen zu einem wirkmächtigen Bezugsrahmen zur juristischen Auseinandersetzung mit den größtenteils bereits Jahrzehnte zurückliegenden franquistischen Verbrechen geworden sind.

4. Transna­tionalisierung und Judizialisierung: Die Klage in Argentinien Als Reak­tion auf die Suspendierung Garzóns reichten am 14. April 2010 – symbo­ lisch aufgeladen am Jahrestag der Ausrufung der Zweiten Republik – zwei Angehörige republikanischer Exilierter aus dem Spanischen Bürgerkrieg von Argentinien aus eine Klage in Buenos Aires ein. Angelehnt daran, wie über zehn Jahre zuvor die spanische Audiencia Nacional die chilenischen und argentinischen Amnestie­ gesetze für unwirksam erklärt hatte, um die Diktaturverbrechen zu ahnden, sollten daraufhin argentinische Gerichte mit Bezug auf die universelle Gerichtsbarkeit die spanischen Diktaturverbrechen juristisch aufarbeiten. Die Kläger verlangten die Aufnahme von Ermittlungen hinsicht­lich ihrer während des Bürgerkrieges verschwundenen Angehörigen und die Aufklärung der Todesumstände.28 Seither 28 Unterstützt wurden die Kläger von einer der ersten erinnerungspolitischen Vereinigungen, die sich für eine Suche nach den desaparecidos einsetzte: der ARMH. Bei den Klägern handelte es sich um Inés García Holgado und den 91-jährigen Darío Rivas Cando. Letzterer ist Sohn des republikanischen Bürgermeisters der galizischen Ortschaft Castro de Rei. Sein Vater wurde im Oktober 1936 von franquistischen Truppen verschleppt und erschossen und galt daraufhin als verschwunden. Seine sterb­lichen Überreste waren nach jahrelanger Suche seines Sohnes bei einer von der ARMH durchgeführten Exhumierung im Jahr 2005 in einem Massengrab in Portomarín identifiziert worden. Inés García Holgado ist die Großnichte eines Gewerkschaftsmitglieds der UGT (Unión General de Trabajadores) und republikanischen Provinzabgeordneten in

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werden sie von einem breiten, grenzüberschreitenden Netzwerk von Erinnerungsund Menschenrechtsorganisa­tionen unterstützt. Nachdem die Opfer franquistischer Repression mit den Klagen vor spanischen Gerichten abgewiesen wurden, schreitet die juristische Aufarbeitung vor dem Provinzialgericht Juzgado Nacional y Correcional Federal No. 1 in Buenos Aires voran.29 Die Anklageschrift greift explizit auf Passagen der Verfügung Garzóns vom Oktober 2008 zurück, mit der dieser vor der Audiencia Nacional gescheitert war. Wiederholt auf die Nürnberger Prinzipien zur Ahndung der na­tionalsozialistischen Verbrechen rekurrierend,30 hebt die eingereichte Klage hervor, dass es sich bei der franquistischen Repression um einen versuchten Genozid und um Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehandelt habe, die bisher straflos geblieben s­ eien. Im Gegensatz zur Verfügung Garzóns, die ledig­lich die Zeit der Bürgerkriegs- und Nachkriegsrepression bis 1952 aufnahm, weitet die Anklageschrift den betreffenden Zeitraum stark aus: Die Ermittlungen umfassen die gesamte Zeitspanne von Beginn des Bürgerkrieges bis zum Ende der Franco-­Diktatur. Diese reicht damit sogar bis über Francos Tod hinaus, näm­lich vom 17. Juli 1936 bis zum 15. Juli 1977. Indem sich der Zeitraum bis hin zu den ersten freien Wahlen erstreckt, schließt die Klage erstmals auch Verbrechen, die während des Spätfranquismus und zu Beginn der transición begangen worden waren, mit ein. Hatten die ersten Klagen sich auf die Suche nach den verschwundenen Opfern des Spanischen Bürgerkrieges konzentriert, so rücken unterdessen zunehmend die politische Repression der Franco-­Diktatur, die Folter politischer Gefangener und die Problematik der »geraubten Kinder« 31 in den Vordergrund.

Salamanca, der ebenfalls während des Bürgerkriegs im Mai 1937 von der falangistischen Armee hingerichtet worden war. Seine Familienangehörigen flohen daraufhin ins argentinische Exil. 29 Der Titel der Anklageschrift lautet: 4.591/2010› N. N. por genocidio y/o crímenes de lesa humanidad cometidos en España por la dictadura franquista entre el 17 de julio de 1936, entre el comienzo del golpe cívico militar y el 15 de junio 1977. [N. N. wegen Genozids und/oder Verbrechens gegen die Menschlichkeit, begangen in Spanien von der franquistischen Diktatur ­zwischen 17. Juli 1936 und 15. Juni 1977]. URL: http://imagenes.publico.es/resources/archivos/ 2010/4/14/1271262002312Argentina20Querella.pdf, letzter Zugriff: 15. 07. 2016. 30 Ebd. S. 38, 53. 31 Der Begriff der »geraubten Kinder« (span.: niños robados) geht auf die repressive, während der argentinischen Militärdiktatur systematisch angewendeten Praxis zurück und wurde in der spanischen Debatte adaptiert. In der spanischen Öffent­lichkeit hat sich, auch aufgrund der in Argentinien geführten Klage, die explizit Kindesraub als Menschenrechtsverbrechen aufnimmt, ab 2010 eine breite mediale Debatte zu der sich während der Franco-­Diktatur in Kliniken institu­tionalisierenden Praxis der Kindesentwendung entwickelt. Dabei wurde Frauen bereits im Krankenhaus, unmittelbar nach der Geburt ihr Neugeborenes weggenommen, indem ­dieses häufig für tot erklärt wurde. Zum Phänomen der »geraubten Kinder« des Bürgerkriegs,

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Der Sammelklage haben sich in den letzten sechs Jahren zahlreiche unterschied­ liche Kläger angeschlossen. Die Erinnerungsinitiativen haben sich einerseits gebündelt, andererseits ebenso stark ausdifferenziert. So gründeten spanische Erinnerungsverbände das Netzwerk zur Unterstützung der Klagen gegen die franquistischen Verbrechen, welches sich im Mai 2013 zur na­tionalen Koordi­ nierungsstelle CeAQUA (Coordinadora Estatal de Apoyo a la Querella contra Crímenes del Franquismo en Argentina) mit einigen regionalen Vertretungen in Spanien und einer Plattform in Argentinien ausweiten sollte. Derzeit liegen circa 600 Klagen vor, gestützt von einer breitgefächerten transna­tionalen Bewegung, bestehend aus circa 150 politischen und sozialen Organisa­tionen. Der Dachverband CeAQUA vereint unterschied­lichste Opfergruppen als Kläger: Neben den Angehörigen von in Bürgerkriegsgräbern liegenden desaparecidos befinden sich darunter unter anderem Angehörige von Menschen, die durch franquistische Standgerichte zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, Fälle von »geraubten Kindern« – eine Praxis, die sich beginnend im Bürgerkrieg über die gesamte Franco-­Diktatur und darüber hinaus hingezogen hatte –, Opfer von meist in Gefangenschaft verübter Folter, ehemalige Zwangsarbeiter und viele weitere.32 Unlängst, am 16. März 2016 hat sich die Frauenrechtsorganisa­tion Womens Link mit weiteren Anzeigen, die sich ausschließ­lich auf geschlechtsspezifische Repression gegen Frauen sowohl während des Bürgerkriegs als auch der Franco-­Diktatur richten, der Klage in Argentinien angeschlossen.33 Mit CeAQUA ist eine aktive erinnerungspolitische Bewegung entstanden, deren heterogene Akteure das Anliegen einer justiziellen Auseinandersetzung mit den franquistischen Verbrechen eint. Die zunehmende Sichtbarkeit von in der spanischen Öffent­lichkeit bisher kaum beachteten Repressionsformen der in Gefangenschaft geborenen und entwendeten Kinder republikanischer Mütter, die als Waisen in katho­lischen Umerziehungslagern mit einer neuen Identität aufwuchsen oder häufig zur Adop­tion an regimetreue Militärs freigegeben wurden siehe Ricard Vinyes Ribas: Las desapariciones infantiles durante el franquismo y sus consecuencias. [Das Verschwindenlassen von Kindern während des Franquismus und seine Konsequenzen]. In: Interna­tional Journal of Iberian Studies 19 (2006), S. 53 – 70. 32 Vgl. Ana Messuti: La querella argentina. La aplicación del principio de la justicia universal al caso de las deapariciones forzadas [Die argentinische Klage. Die Anwendung des Prinzips der universellen Gerichtsbarkeit auf Fälle des erzwungenen Verschwindenlassens]. In: Escudero Alday/Perez Gonzalez (Hrsg.): Desapariciones Forzadas (wie Anm. 12), S. 112 – 140, hier S. 129. 33 Vgl. Crímenes de género durante la Guerra Civil y el Franquismo [Geschlechterspezifische Verbrechen während des Bürgerkrieges und des Franquismus]. URL: http://www.womens linkworldwide.org/, letzter Zugriff: 15. 07. 2016.

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spiegelt auch die Entstehung neuer zivilgesellschaft­licher Organisa­tionen mit ihren unterschied­lichen Opferansprüchen im Ringen um Anerkennung wider. Hat sich die Zahl von Erinnerungsverbänden, die sich CeAQUA angeschlossen haben, seit der Gründung des Netzwerkes stetig erhöht, so gewinnt die Klage in Argentinien entsprechend an Bedeutung. Die erinnerungspolitischen Initiativen haben sich stark ausdifferenziert. Im Zuge der argentinischen Klage im Jahr 2011 gründete sich die Vereinigung baskischer Bürgerkriegs- und Diktaturopfer ­Goldatu. Ebenso formierte sich La Comuna, eine Gruppierung ehemaliger politischer Gefangener, die sich von Madrid aus 2012 der Klage in Argentinien anschloss. Aus Katalonien beteiligte sich etwa die Associació Catalana d’Expresos Politics (Katalanische Assozia­tion ehemaliger politischer Gefangener) an den Klagen. Dazu bildeten sich auch Verbände von Angehörigen der »geraubten Kinder«, die eine zentrale Rolle bei der Bildung von CeAQUA spielen sollten, darunter der Verband Todos los niños robados son también mis niños (Alle geraubten Kinder sind auch meine Kinder). Das Verhältnis z­ wischen den verschiedenen Gruppierungen und ihren unterschied­lichen Anliegen ist nicht immer konfliktfrei. Mit zunehmender öffent­licher Präsenz sind Opferkonkurrenzen, vor allem hinsicht­lich öffent­licher Aufmerksamkeit, spürbar geworden, wie die CeAQUAAktivisten, Chato Galante von La Comuna und Soledad Luque, Präsidentin von Todos los niños robados son también mis niños berichten.34

5. Neuer Fokus auf die Repression des Spätfranquismus Nachdem auch die Klagen von Angehörigen Verschwundener aus dem B ­ ürgerkrieg vor dem Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg abgewiesen worden waren,35 darunter die Klage der Angehörigen von Enrique Ruano (vgl. 1.), sehen Angehörige und Kläger die Ermittlungen in Buenos Aires nunmehr als die letzte Op­tion, um eine juristische Aufarbeitung der Franco-­Diktatur jenseits der spanischen Grenzen zu erreichen. Durch den Umweg über Argentinien erhoffen 34 Persön­liche Interviews mit Chato Galante (La Comuna) am 22. 12. 2015 in Madrid und Soledad Luque (Todos los niños robados son también mis niños) am 24. 03. 2016 in New York. 35 Siehe die Klage der spanischen Menschenrechtsorganisa­tion Rights Interna­tional Spain (RIS), die in einem weiteren Fall Fausto Canales Bermejo vor dem Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte vertrat. Sein Vater war während der ersten Bürgerkriegsmonate in Pajares de Adaja verschwunden. Seine sterb­liche Überreste waren vermut­lich 1959 in das Tal der Gefallenen, dem gigantischen Mausoleum Francos, in dem über 36.000 Bürgerkriegsopfer begraben sind, überführt worden. Vgl. URL: https://drive.google.com/file/d/0ByBM8_ x9YdxiUE5oUmZlNkxLQUE/view, letzter Zugriff 25. 07. 2016.

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sie sich einen »Bumerangeffekt«, um mittels interna­tionaler Aufmerksamkeit letzt­lich eine strafrecht­liche Verfolgung vor spanischen Gerichten anzustoßen und so das Amnestiegesetz auszuhebeln. Mit der nunmehr vermehrten Forderung der Erinnerungsinitiativen nach einem Ende der Straflosigkeit (spanisch: impunidad) und dem Rekurs auf Erfahrungen der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung setzt sich auch die zu beobachtende allmäh­liche Verschiebung des Fokus von den Opfern hin zu den Tätern fort, die zunehmend in den Mittelpunkt der öffent­lichen Debatten geraten. Nachdem im September 2013 das argentinische Gericht einen interna­tionalen Haftbefehl gegen ehemalige Mitglieder des franquistischen Repressionsapparates ausgestellt hatte, wurden sie im Dezember 2013 bei der Audiencia Nacional in Madrid vorstellig. Ihre Pässe wurden eingezogen, eine Ausreise aus Spanien war ihnen fortan nicht mög­lich.36 Bei den Angeklagten handelt es sich um Jesús Muñecas Aguilar, Angehöriger der Guardia Civil, und Juan Antonio González Pacheco (alias Billy el Niño), ein Agent der franquistischen Geheimpolizei BPS. Beide sind der Anwendung von Folter angeklagt und werden nun mit interna­ tionalem Haftbefehl per Interpol gesucht. Die juristisch geforderte Auslieferung an Argentinien erfolgte jedoch nicht. Die spanische Regierung und die Justiz lehnen eine Koopera­tion mit den argentinischen Sicherheitsbehörden mehrheit­ lich ab. Die Staatsanwaltschaft ließ mehrfach verlauten, das Auslieferungsgesuch mit Bezug auf das Amnestiegesetz ins Leere laufen zu lassen, da die Delikte bereits verjährt und amnestiert worden ­seien. Stand die zuständige argentinische Ermittlungsrichterin Maria Romilda ­Servini de Cubría dem Verfahren zunächst skeptisch gegenüber, besuchte sie im Mai 2014 nach einigen gescheiterten Anläufen erstmals verschiedene spanische Städte, um Zeugenaussagen von Opfern und Klägern entgegenzunehmen. Schließ­lich erreichte sie, dass zwei Frauen, die während des Bürgerkrieges in Gefangenschaft gefoltert worden waren, vor Ermittlungsrichter Fernando Andreu am spanischen Na­tionalen Gericht aussagten. Dabei handelte es sich um einen bisher einzigartiger Vorgang im postfranquistischen Spanien.37 Im Oktober 2014 ordnete die Richterin einen weiteren Auslieferungsbescheid gegen neunzehn ehemalige Angehörige des franquistischen Repressionsapparates an. Unter den Beschuldigten befanden sich drei franquistische Minister, 36 Vgl. Mario Amoros: Argentina contra Franco. El gran desafío a la impunidad de la dictadura, Madrid 2014. S. 9, 89 f. 37 Vgl. Los jueces Andreu y Servini interrogaran hoy a dos víctimas del Franquismo de más de 90 años [Die Richer Andreu und Servini werden heute zwei über neunzigjährige Opfer des Franquismus verhören]. In: El Diario, 29. Mai 2014.

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ein mutmaß­lich am Kinderraub beteiligter Arzt sowie Mitglieder der Polizei und Sicherheitskräfte. Maria Romilda Servini de Cubría erneuerte damit ihr Ziel, die Verbrechen der Franco-­Diktatur jenseits der spanischen Grenzen vor argentinischen Gerichten juristisch aufzuarbeiten, falls die spanische Justiz weiterhin untätig bleibe. Einer der prominentesten Angeklagten, gegen den ein Auslieferungsantrag vorliegt, ist José Utrera Molina, Generalsekretär der ehemaligen faschistischen Staatspartei Falange und Infrastrukturminister während des Spätfranquismus. Er hatte das Todesurteil von Salvador Puig Antich, einem 23-jährigen Anarchisten, der unter interna­tionalem Protest noch 1974 mit der Würgeschraube hingerichtet worden war, unterzeichnet. Eine der Klägerinnen ist seine Schwester Merçona Puig Antich. Ein weiterer prominenter Angeklagter ist der franquistische Exminis­ ter Rodolfo Martín Villa, der während der Diktatur zahlreiche Ämter bekleidet hatte, zuletzt von 1976 bis 1979 nach formalem Ende der Diktatur das Amt des Innenministers. Er wird für eines der dunkelsten Kapitel politischer Repression während der Transi­tion, näm­lich den unterdrückten Arbeiterstreik im baskischen Vitoria und die Anordnung des dortigen Massakers verantwort­lich gemacht. In ­diesem Zusammenhang waren am 2. März 1976 fünf Arbeiter erschossen und zahlreiche verletzt worden. Die aus Argentinien angestrengte Klage, die auch Menschenrechtsverbrechen der ersten Transi­tionsjahre umfasst, macht damit die Kontinuitäten mit dem franquistischen Repressionsapparat offensicht­lich. Vierzig Jahre nach dem Ende der Diktatur werden diese bisher öffent­lich kaum wahrgenommenen Episoden staat­licher Repression im Zuge der in Argentinien eingeleiteten Ermittlungen in der spanischen Gesellschaft breit diskutiert. Der von Menschenrechtsorganisa­tionen und UNO-Institu­tionen ausgeübte interna­tionale Druck auf die seit November 2011 amtierende Regierung nimmt indessen weiter zu: Die UN-Arbeitsgruppe über erzwungenes Verschwindenlassen entsandte im September 2013 eine Delega­tion nach Spanien. In einem kritischen Bericht nahm die UN-Delega­tion zur Situa­tion der staat­lichen Vergangenheitspolitik, insbesondere zum weiterhin bestehenden Amnestiegesetz und der Situa­ tion des Verschwindenlassens Stellung. Auch die Fälle von »geraubten Kindern« während der franquistischen Diktatur, die das Erinnerungsgesetz ebenso außer Acht gelassen hatte, werden erwähnt.38 Auf den Bericht der UN -Delega­tion 38 Der Bericht ist einzusehen unter Ariel Dulitzky/Jasminska Dzumhur: Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (WGEID). Observaciones preliminares del Grupo de Trabajo sobre las Desapariciones Forzadas o Involuntarias de la ONU al concluir su visita en Madrid [Vorläufige Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe über erzwungenes und unfreiwilliges Verschwindenlassen der UNO nach Vollendung ihres Besuchs in Madrid] 2013. URL: http://

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folgte der offizielle Besuch Pablo de Greiffs, des UN -Sonderberichterstatters »für die Durchsetzung von Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung und die Garantie der Nichtwiederholung« in Spanien im Januar 2014. Dieser wollte erreichen, den innenpolitischen Druck auf die untätige Regierung zu erhöhen, ihren interna­tionalen Verpflichtungen zur Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen nachzukommen.39 Vier regionale Parlamente, das baskische, katalanische, asturianische und andalu­sische Parlament haben unterdessen nichtgesetz­liche Erklärungen eingebracht, mit denen sie die Verfahren in Argentinien unterstützen. Die Lokalregierungen zahlreicher Stadtverwaltungen, darunter Vitoria, Tarragona, Zaragoza und Vaciamadrid, taten es ihnen gleich. Waren diese Initiativen regelmäßig nicht von der rechtskonservativen PP mitgetragen worden, so soll mit ­diesem Schritt, so betont es der argentinische Menschenrechtsanwalt Carlos Slepoy, langfristig die politische Basis geschaffen werden, um Verfahren vor spanischen Gerichten zu eröffnen.40

6. Schlusswort: Zwischen universellen Menschenrechtsdiskursen und na­tionalen Blockaden Die späte Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg und dem Franco-­Regime in der spanischen Öffent­lichkeit demonstriert auf eindrück­liche Weise, dass eine Konfronta­tion mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen eingefordert werden kann, auch wenn diese bereits Jahrzehnte zurückliegen. Nicht nur innenpolitische Faktoren in Spanien, wie der sich abzeichnende Genera­tionenwandel und die veränderten innergesellschaft­lichen Parteikonstella­tionen und Machtverhältnisse, haben nach einer langen Nichtthematisierung für eine Debatte über die Franco-­Diktatur gesorgt. Auch die Weiterentwicklungen im Interna­tionalen Recht und die zunehmende Diffusion von Menschenrechtsdiskursen, die der www.ohchr.org/SP/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=13800&LangID=S, letzter Zugriff: 15. 07. 2016. 39 Vgl. Pablo de Greiff: Observaciones preliminares del Relator Especial para la promoción de la verdad, la justicia, la reparación y las garantías de no repetición, Pablo de Greiff, al concluir su visita oficial a España [Vorläufige Betrachtungen des Sonderberichterstatters für die Förderung von Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und die Garantie der Nichtwiederholung nach Beendigung seines offiziellen Besuchs in Spanien] 2014. URL: http://www.ohchr.org/ EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=14216&LangID=E, letzter Zugriff: 15. 07. 2016. 40 Persön­liches Interview mit dem Menschenrechtsanwalt Carlos Slepoy am 18. 12. 2015 in Madrid.

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lokalen Erinnerungsbewegung einen wichtigen Bezugsrahmen liefern, haben den erinnerungspolitischen Forderungen Nachdruck verliehen und zur erhöhten Vehemenz der Aufarbeitungsdiskurse in der spanischen Öffent­lichkeit beigetragen. Die kreative Aneignung der juristischen Konzepte durch die lokalen Erin­ nerungsorganisa­tionen ist stark von den Begriffen und Strategien der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung geprägt und orientiert sich an ihren Aufarbeitungserfahrungen. Flankiert wird die Aneignung juristischer Konzepte von interna­tionalen und völkerrecht­lichen Bestimmungen, wie entsprechenden UN-Konven­tionen. Dies veranschau­licht eindring­lich die diskursive Verschränkung der juristischen Figur des desaparecido mit Forderungen nach einem Ende der Straflosigkeit und der Anwendung universeller Gerichtsbarkeit, die zunehmend eine justizielle Aufarbeitung des Franco-­Regimes in den Vordergrund rücken. Als ein zentraler Topos des Menschenrechtsdiskurses hat sich zudem der Kampf gegen die Straflosigkeit erwiesen. Im Kontext eines universalen Erinnerungsimperativs, der auf die Ideen der Nürnberger Prinzipien zurückgeht, hat eine zunehmende Transna­tionalisierung und Judizialisierung der Auseinandersetzung um die Franco-­Vergangenheit eingesetzt. Die Klage in Argentinien richtet den Fokus der öffent­lichen Debatte verstärkt auf bisher nur wenig beachtete Aspekte der Repression, die sich zunehmend auf den Spätfranquismus konzentriert, sind doch die Täter der letzten Diktaturjahre häufig noch persön­lich greifbar, ganz im Gegensatz zu den Bürgerkriegsverbrechen, für die die Verantwort­lichen kaum noch juristisch belangt werden können. Insgesamt erweist sich die in Argentinien eingereichte Klage als ein zentrales Instrument, um unterschied­lichste Erinnerungsinitiativen zu binden. Zudem verleiht die Klage vor argentinischen Gerichten den transna­tionalisierten Forderungen nach einer justiziellen Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen eine neue Dynamik und Schlagkraft. Insgesamt lässt die Blockadehaltung der spanischen Justiz und der politischen Eliten gegenüber der Initiative Garzóns, ausgehend von den desaparecidos eine juristische Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen voranzubringen und die Auslieferung der in Argentinien angeklagten Personen zu unterstützen, eine Infrage­stellung des spanischen Amnestiegesetzes in naher Zukunft eher unwahrschein­lich erscheinen. Dagegen haben sich die für den spanischen Aufarbeitungsprozess unterdessen kennzeichnenden transna­tionalen Interdependenzen und interna­tionalen Verflechtungsprozesse angesichts der politischen Blockaden auf na­tionaler Ebene weiterhin verdichtet. Zum achtzigsten Jahrestag des Militärputsches und Bürgerkriegsausbruchs im Juli 2016, dem gleichzeitigen Gedenkjahr an die Nürnberger Prozesse – die sich vor siebzig Jahren ereigneten – sowie dem »runden Gedenken« an das

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Ende der Franco-­Diktatur, das sich im November 2015 zum vierzigsten Mal jährte, wird die kollektive Erinnerung an die franquistische Repression in der spanischen Öffent­lichkeit breit debattiert und zunehmend in einem trans­ na­tionalen Diskursrahmen verhandelt. Richtet die Klage in Argentinien den Fokus auf die Straflosigkeit franquistischer Verbrechen, so gibt sie der lokalen Diskussion um damit einhergehende gesellschaft­liche Konsequenzen und Kontinuitäten mit der Franco-­Diktatur immer wieder neuen Auftrieb. Obgleich noch zu zeigen sein wird, ob die transna­tionale vergangenheitspolitische Initia­tive tatsäch­lich zur Anwendung universeller Gerichtsbarkeit im Sinne einer Auslieferung der Angeklagten oder zu Strafverfahren vor spanischen Gerichten führen wird: Was die Initiative offenbart, ist, dass die mit den Nürnberger Prinzipien vor siebzig Jahren etablierten juristischen Konzepte und Figuren zu einer Transna­tionalisierung von lokalen Erinnerungsprozessen und damit zur spät einsetzenden spanischen Auseinandersetzung mit der Franco-­Diktatur fundamental beigetragen haben.

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Adamantios Theodor Skordos

Die Juntadiktatur der Jahre 1967 – 1974 in der Vergangenheitspolitik Griechenlands

In der griechischen öffent­lichen Debatte zu der seit 2010 anhaltenden ökonomischen Krise hat das Wort »Junta« Konjunktur – es wird fast so häufig wie die deutschfeind­liche Konnota­tionen hervorrufenden Begriffe »Viertes Reich«, »Kolla­borateure«, »Quisling-­Regierungen« verwendet. Der Juntavergleich wird vorwiegend gegen Personen, Regierungen und Institu­tionen angewendet, die an der Umsetzung des Reform- und Sparprogramms der Euro-­Zone für Griechenland beteiligt sind. Mal sind es die interna­tionalen Geldgeber Griechenlands, die als Junta bezeichnet werden,1 mal die Athener Regierungen, die aufgrund ihrer unpopu­ lären Maßnahmen mit der Junta verg­lichen werden,2 mal die griechische Polizei, die angeb­lich mit »juntaähn­lichen Methoden« gegen Demonstranten vorgehe.3 Am Anfang der Krise wurden die Juntavergleiche hauptsäch­lich von Vertretern des linken politischen Spektrums zur Diffamierung ihrer konservativen und sozialdemokratischen Gegner eingesetzt, weil diese mit der verhassten »Troika« der Geldgeber kooperierten. Später schlossen sich ­diesem Diskurs Journalisten verschiedener politischer Couleur an, die »juntaähn­liche Zustände« im »Griechenland der Troika« brandmarkten und vor einer Abschaffung der Demokratie

1 Vgl. z. B. Katerina Bakogianni: I chounta tou DNT [Die Junta des Interna­tionalen Währungsfonds]. In: Protagon, 28. April 2010. URL: http://www.protagon.gr/epikairotita/ ellada/i-­xounta-­tou-­dnt-2068000000, letzter Zugriff: 09. 01. 2016. 2 Vgl. z. B. Rachil Makri: »Chounta oi elenchoi sti vouli, chounta kai i kyvernisi« [Das Parlament bedient sich juntaähn­licher Methoden, die Regierung fungiert wie eine Junta]. In: Ta Nea, 6. Juni 2013. URL: http://www.tanea.gr/news/politics/article/5022213/raxhl-­ makrh-­xoynta-­oi-­elegxoi-­sth-­boylh-­xoynta-­kai-­h-­kybernhsh/, letzter Zugriff: 09. 01. 2016; Kammenos: Chounta i nea kyvernisi [Kammenos: Die neue Regierung ist wie eine Junta]. In: News 24, 13. November 2011. URL: http://news247.gr/eidiseis/politiki/kammenos-­xounta-­ h-­nea-­kyvernhsh.1489617.html, letzter Zugriff: 09. 01. 2016. 3 Vgl. z. B. I kyvernisi synagonizetai se »dimokratikotita« ti chounta. »Den eimaste dolofonoi«, lene oi ergazomenoi sta MMM [Die Regierung ist genauso »demokratisch« wie die Junta. »Wir sind keine Mörder«, bekunden die Angestellten in den Medien]. In: Newsbeast, 25. Januar 2013. URL: http://www.newsbeast.gr/greece/arthro/479274/i-­kuvernisi-­sunagonizetai-­se-­ dimokratikotita-­ti-­houda, letzter Zugriff: 09. 01. 2016; I prasini chounta epanilthe [Die grüne Junta ist wieder hier]. In: Antinews, 9. Januar 2016. URL: http://www.antinews.gr/ac­tion.read/ politiki/i-­prasini-­xounta-­epanilthe/2.104108, letzter Zugriff: 09. 01. 2016.

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warnten. Mittlerweile wird sogar die linke Syriza 4-Regierung von Alexis Tsipras von ehemaligen Weggefährten mit der griechischen Militärdiktatur der Jahre 1967 – 1974 verg­lichen. So zog etwa die ehemalige Parlamentspräsidentin Zoi K ­ onstantopoulou, die sich im vergangenen Sommer nach dem Abschluss des neuen Hilfspakets für Griechenland von Syriza abwandte, Parallelen z­ wischen dem griechischen Premierminister und dem Juntadiktator Georgios Papadopoulos. Beide, also Tsipras und Papadopoulos, hätten Griechenland einen »Gipsverband« angelegt, der das Volk seiner Bewegungsfreiheit beraubt habe.5 Auch P ­ anagiotis Lafazanis, der sich wie Konstantopoulou von der Regierungspartei Tsipras’ abspaltete und eine neue Partei namens Volkseinheit gründete, beschuldigte seine früheren Syriza-­Mitstreiter, eine »Junta des Memorandums« in Griechenland zu unterstützen. »Memorandum« ist im griechischen Diskurs die Kurzformel für den Vertragstext z­ wischen Griechenland und den interna­tionalen Geldgebern, in dem die von Athen zu erfüllenden Reformen und Sparauflagen festgehalten sind. In einem im September d­ ieses Jahres gezogenen Vergleich z­ wischen der griechischen Junta und der Troika kam Lafazanis sogar zu dem Schluss, dass die »Troika weit schlimmer als die Junta« sei, da »sie auch die kleinsten Details« des Lebens der Griechen regele, zum Beispiel die Öffnungszeiten von Apotheken oder der Geschäfte an Sonntagen.6 Selbst Rechtspopulisten, wie der Koali­tionspartner in der Regierung Panos Kammenos, bedienten sich in den letzten Jahren mehrmals des Juntavergleichs. So bezeichnete etwa der heutige Verteidigungsminister die vorangegangene Koali­tionsregierung von Konservativen und Sozialdemokraten als die »Junta der Troika«.7 Die Aufzählung von Beispielen der Instrumentalisierung der griechischen Juntavergangenheit im heutigen Griechenland ließe sich unend­lich fortsetzen. Sie belegen, dass neben der deutschen Besatzungszeit die griechische Militärdiktatur der Jahre 1967 – 1974 der zweite emo­tional und symbo­lisch stark aufgeladene Erinnerungsort im aktuellen griechischen Krisendiskurs ist. Und genauso wie 4 Synaspismos Rizospastikis Aristeras [Allianz der Radikalen Linken] im Folgenden Syriza. 5 Zoi Konstantinopoulou: »O Tsipras mou thymise ton Papadopoulo« [Tsipras erinnert mich an Papadopoulos]. In: Parapolitika, 11. September 2015. URL: http://www.parapolitika. gr/article/318676/zoi-­konstantopoyloy-­o-­tsipras-­moy-­thymise-­ton-­papadopoylo, letzter Zugriff: 09. 01. 2015. 6 Lafazanis: I troika einai poly cheiroteri apo chounta [Lafazanis: Die Troika ist weit schlechter als die Junta]. In: Newsbeast, 4. September 2015. URL: http://www.newsbeast.gr/politiki/ arthro/1936087/lafazanis-­i-­troika-­ine-­poli-­chiroteri-­apo-­chounta, letzter Zugriff: 23. 01. 2016. 7 Vgl. z. B. Katapsifizei tin kyvernisi o Kammenos [Kammenos wird die Regierung abwählen]. In: New Post, 13. November 2011. URL: http://newpost.gr/politiki/85770/katapsifizei-­tin-­ kyvernisi-­o -­kammenos, letzter Zugriff: 01. 02. 2016.

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die kollektive Erinnerung an die deutsche Besatzung ist auch diese an die Junta äußerst negativ aufgeladen. Nur am ultrarechten Rand finden sich Nostalgiker der »Diktatur der Obristen«, die eine positive Erinnerung an diese Zeit pflegen. Der erinnerungskulturelle Rückgriff auf die Juntadiktatur ist im Wesent­lichen das Resultat einer postdiktatorischen Meistererzählung, in der die siebenjährige Obristenherrschaft als ein na­tional entfremdetes System und als ein vom Ausland Griechenland auferlegtes Leid dargestellt wird – ein passender Vergleichsfall für all diejenigen, w ­ elche die heutige Situa­tion in Griechenland als die Folge von Fremdeinwirkung und einer nachgiebigen, ja verräterischen Haltung weniger »verdorbener« Politiker im Inland betrachten. Dieser Beitrag widmet sich der justiziellen und erinnerungskulturellen Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit. Zunächst soll kurz die historische Entwicklung nachgezeichnet werden, die zur griechischen Militärdiktatur der Jahre 1967 – 1974 geführt hat. Anschließend werden die juristischen Aspekte der griechischen Transi­tion besprochen, wobei die strafrecht­liche Verfolgung von Verbrechen der griechischen Obristenjunta im Zentrum der Analyse steht. Der letzte Teil behandelt dann erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Aspekte.

1. Der Weg zur Diktatur Die Zeitgeschichte Griechenlands ist im Wesent­lichen stark durch den Bürgerkrieg ­zwischen dem prowest­lich-­bürger­lichen Lager und der moskautreuen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) während der zweiten Hälfte der 1940er Jahre geprägt.8 Nach dem Sieg des bürger­lichen Lagers 1949 ­etablierte sich im Griechenland der sich selbst als »na­tionalgesinnt« bezeichneten Bürgerkriegssieger ein politisches System, das nur in seiner äußeren Gestalt demokratisch war. Hinter der demokratischen Fassade existierte ein repressiver Staatsmechanismus, der einerseits die »na­tionalgesinnten« Griechen bevorzugte, andererseits die mit den Bürgerkriegsverlierern sympathisierenden Bürgerinnen und Bürger ökonomisch und sozial diskriminierte sowie politisch unterdrückte. Aufgrund dieser schwerwiegenden demokratischen Defizite bezeichnet man mittlerweile in der griechischen Geschichtsforschung diesen Zeitabschnitt als »kränkelnde Demokratie«.9 8 Siehe dazu ausführ­licher Adamantios Skordos: Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas 1945 – 1992. Göttingen 2012. 9 Siehe Hagen Fleischer: Authoritarian Rule in Greece and Its Heritage. In: Jerzy Borejsza/ Klaus Ziemer (Hrsg.): Totalitarian und Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and

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Die »asymmetrische« Industrialisierung Griechenlands, die Anfang der 1960er Jahre ihren Höhepunkt erreichte, führte trotz des allgemeinen Anstiegs des Volkseinkommens zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze, die wiederum in einer politischen Massenmobilisierung für mehr Demokratie, Gleichberechtigung und Stärkung des Parlamentarismus mündete. Zum großen Hoffnungsträger der reformwilligen Bevölkerungsteile entwickelte sich die liberale Partei Zentrumsunion (EK) von Georgios Papandreou. Dieser strebte im Wesent­lichen einen Kompromiss ­zwischen der Bewahrung der alten Machtstrukturen und einer sukzessiven Integra­tion der Bürgerkriegsverlierer an. Das Vorhaben Papandreous, das bei der Bevölkerung immer mehr Unterstützung fand, brachte zwangsläufig eine Stärkung des Parlamentarismus mit sich. Diese wurde von der politischen und ökonomischen Oligarchie, dem Königshaus und vor allem der Armee als eine Bedrohung gegen ihre vorherrschende Posi­tion innerhalb des Staates empfunden. In der Nacht vom 20. auf den 21. April 1967 war es eine Gruppe von vierzehn Obristen und einem Brigadier, die vor der »Gefahr« einer zu weitreichenden Demokratisierung des politischen Systems den König, das konservative Establishment und nicht zuletzt ihre militärischen Vorgesetzten übergingen und die Macht an sich rissen.10 Nachdem der junge König Konstantin II. im Dezember 1967 infolge eines gescheiterten Gegenputsches Griechenland verließ, schufen die »Aprilianer« im Sommer 1973 die parlamentarische Monarchie als Staatsform ab. Sie ersetzten diese durch eine nominelle präsidiale Republik. Juntachef Papadopoulos ernannte sich selbst zum Präsidenten der Republik. Das politische Ende des Diktators kam dennoch abrupt. Die von ihm wegen des zunehmenden ausländischen Druckes eingeleitete Liberalisierung des Regimes begünstigte im November 1973 im Athener Polytechnikum einen Studentenaufstand gegen die Junta. Bei seiner blutigen Lessons from the Twentieth Century. New York 2006, S. 237 – 273; David Close: The Legacy. In: ders. (Hrsg.): The Greek Civil War. 1943 – 1950. Studies of Polariza­tion. London u. a. 1993, S. 214 – 234; Ilias Nikolakopoulos: I kachektiki dimokratia. Kommata kai ekloges [Die kränkelnde Demokratie: Parteien und Wahlen] 1946 – 1967. Athen 2001. 10 Zu den Ursachen des Putsches vgl. u. a. Dimitris Charalampis: Stratos kai politiki exousia. I domi tis exousias stin metemfyliaki Ellada [Armee und politische Macht. Die Machtstruktur im Nachbürgerkriegsgriechenland]. Athen 1985, S. 104 f.; Thanasis Diamantopoulos: I elliniki politiki zoi: eikostos aionas. Apo tin provenizeliki sti metapapandreïki epochi [Griechische Politik im 20. Jahrhundert. Von der vorvenizelistischen Epoche zur nachpapandreouschen Zeit]. Athen 1997, S. 23 f.; Nikos Mouzelis: On the Rise of Postwar Military Dictatorships: Argentina, Chile, Greece. In: Comparative Studies in Society and History 28 (1986), Heft 1, S. 55 – 80; Spyros Sakellaropoulos: Ta aitia tou aprilianou praxikopimatos 1949 – 1967. To koinoniko plaisio pros ti diktatoria [Die Ursachen des April-­Putsches. Die gesellschaft­lichen Entwicklungen, die zur Militärdiktatur führten]. Athen 1998.

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Niederschlagung durch Polizei- und Militärtruppen in den frühen Morgenstunden des 17. November kamen mindestens 23 Menschen ums Leben. Daraufhin folgte die Absetzung von Papadopoulos durch den Hardliner Brigadier Dimitrios ­Ioannidis. Letzterer, der zum Zeitpunkt der Amtsenthebung von Papadopoulos Chef der Militärpolizei war, führte die nächsten sieben Monate die Regierungsgeschäfte hinter den Kulissen – deswegen auch »unsichtbarer Diktator« genannt –, bis der von ihm angeordnete Putsch gegen den zyprischen Staatspräsidenten Erzbischof Makarios zum türkischen Eingriff auf der Insel führte. Ziel von Ioannidis war es, in Nikosia eine juntafreund­liche Regierung zu installieren, die einer Vereinigung der Insel mit Griechenland positiv gegenüberstehen würde. Die türkische Entschlossenheit, auf den Putsch gegen Makarios mit einer militärischen Invasion zu reagieren, überraschten Ioannidis und die Führung der griechischen Streitkräfte. Aus unerklär­lichen Gründen hegte Athen die Hoffnung, dass Ankara den Putsch gegen Makarios und s­ päter sogar eine Vereinigung Zyperns mit Griechenland hinnehmen werde.11

2. Die griechische Transi­tion In der aussichtslosen Situa­tion, in der sich aufgrund der Machenschaften von Ioannidis Nikosia und Athen befanden, entschloss sich die Führung der griechischen Streitkräfte am 23. Juli 1974 für die Beendigung der Militärdiktatur und die Rückgabe der Macht an die vordiktatorische politische Klasse. Die Generäle und die Vertreter der politischen Klasse, die an den Krisenverhandlungen teilnahmen, legten sich auf die »Lösung Karamanlis« fest. Zum einen genoss der konservative Politiker Konstantinos Karamanlis aus seinen früheren Regierungsjahren (1955 – 1963) das Vertrauen des siegreichen antikommunistischen Bürgerkriegslagers, zum anderen schien er zu ­diesem Zeitpunkt als Einziger über die notwendige Autorität zu verfügen, um Griechenland aus dem zyprischen Desaster zu führen.12 11 Solon Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas, 1941 – 1974 [Geschichte des modernen Griechenland]. In: Diktatoria [Diktatur] 1967 – 1974. Bd. 3, Neuauflage Athen 2011 (Erstausgabe 1973), S. 829 – 900; Sotiris Rizas: Oi Inomenes Politeies, i diktatoria ton syntagmatarchon kai to kypriako zitima 1967 – 1974 [Die USA, die Diktatur der Obristen und die Zypern-­Frage]. Athen 22004, S. 139 – 178; ders.: I elliniki politiki meta ton emfylio. Koinovouleftismos kai dimokratia [Politische Entwicklungen nach Bürgerkriegsende. Parlamentarismus und Demokratie]. Athen 2008, S. 475 – 483. 12 Rizas: I elliniki politiki meta ton emfylio (wie Anm. 11), S. 484 – 489; Grigoriadis: Istoria tis synchronis Elladas (wie Anm. 11), S. 949 – 986; Stavros Psycharis: Ta paraskinia tis allagis [Die Hintergründe der Transi­tion]. Athen 2010 (Erstausgabe 1975), S. 89.

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Karamanlis stand an der Spitze eines provisorischen Kabinetts, das sich vorwiegend aus Vertretern des vordiktatorischen Establishments zusammensetzte. Der erfahrene Politiker und seine Regierung lenkten den Demokratisierungsprozess geschickt. Nachdem man in den ersten zwei Regierungsmonaten eine Säuberung der Schlüsselposi­tionen innerhalb der griechischen Armee von ioannidistreuen Offizieren vorgenommen hatte, wurde die Regierung der »Na­tionalen Einheit« mutiger. So legalisierte etwa am 23. September 1974 nach insgesamt 27 Jahren gerade der in früheren Zeiten überzeugte Antikommunist Karamanlis die KKE und kündigte anschließend Wahlen für den symbolhaften 17. November 1974 an, also den ersten Jahrestag der Niederschlagung des studentischen Aufstands auf dem Gelände der Polytechnischen Hochschule Athens. Gleichzeitig gründete er noch vor den Wahlen die Partei mit dem prägnanten Namen Neue Demokratie (ND), mit der er die Wahlen deut­lich für sich entscheiden konnte. Bereits drei Wochen nach dem Wahlsieg wurde ein Referendum zur zukünftigen Staatsform des Landes durchgeführt, in dem sich die Griechen mit einer großen Mehrheit von siebzig Prozent für die Republik und gegen eine Rückkehr des sich noch im Londoner Exil befindenden Königs entschieden.13

3. Die juristische Aufarbeitung Ein weiterer entscheidender Schritt in Richtung Demokratisierung wurde mit der strafrecht­lichen Verfolgung der Führungsspitze der griechischen Junta gemacht.14 Rechtsanwälte hatten im September und Oktober 1974 den Stein ins Rollen gebracht, als sie in Einzelverfahren gegen hochrangige Mitglieder des Juntaregimes wegen Freiheitsberaubung, Verletzung der demokratischen Grundrechte, Errichtung einer Militärdiktatur und anderen begangenen Straftaten geklagt hatten. Unter dem Druck der Öffent­lichkeit nahm daraufhin die Regierung ­Karamanlis eine Reihe von legislativen Eingriffen vor, die den Weg für eine Strafverfolgung der Putschisten des 21. April 1967 frei machten. Mit zwei Verordnungen 13 Adamantios Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 in der griechischen und interna­tionalen Historiographie. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Perspektive. Göttingen 2010, S. 122 – 204, hier S. 123 – 125. 14 Der folgende Abschnitt basiert auf Adamantios Skordos: Transi­tional Justice in Griechen­ land: Die juristische Aufarbeitung der Junta-­Diktatur der Jahre 1967 bis 1974. In: Anja Mihr/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hrsg.): Handbuch Transi­tional Justice. ­Wiesbaden 2015, Living Reference Work Entry. URL: http://link.springer.com/referenceworkentry/ 10.1007/978 – 3 – 658 – 02994 – 4_21 – 1, letzter Zugriff: 12. 08. 2016.

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wurden alle Amnestiegesetze, auf die sich die Juntamitglieder berufen könnten, aufgehoben. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bezichtigte die sogenannten Hauptverantwort­lichen a) des Hochverrats, b) der Teilnahme an darauf abzielenden Ak­tionen und c) der Revolte. Die mittlerweile inhaftierten Angeklagten erhoben gegen d­ ieses Verfahren beim Obersten Gerichtshof Einspruch. Dieser wurde jedoch abgelehnt, sodass sich die einst mächtige Juntatroika von ­Papadopoulos, Nikolaos Makarezos und Stylianos Pattakos sowie ihre engsten »Mitverschwörer« für den Staatsstreich des 21. April vor Gericht verantworten mussten. Sie selbst bezeichneten den Putsch als »Revolu­tion« und »Rettung Griechenlands vor dem Kommunismus«.15 Am 28. Juli 1975 begann in der von der Junta selbst ausgebauten Athener Haftanstalt von Korydallos das Gerichtsverfahren gegen die zwanzig »Hauptverant­ wort­lichen« für den Staatsstreich des 21. April 1967. Der Prozess erfreute sich großer medialer Aufmerksamkeit. Tagtäg­lich berichteten die Presse, das staat­liche Radio und das Fernsehen darüber.16 Die Strafen, die den Angeklagten nach einem einmonatigen Prozess am 28. August 1975 auferlegt wurden, reichten von zwei und vier Jahren Gefängnis für die weniger einflussreichen »Aprilianer« über langjährige und lebenslange Haft für acht der Verurteilten bis hin zur Todesstrafe für die drei den Putsch anführenden Offiziere Papadopoulos, Pattakos und ­Makarezos.17 Allerdings kam es nicht zu einer Vollstreckung des Todesurteils. Zum Ärger der Opposi­tion ebenso wie der öffent­lichen Meinung stellte die Regierung ­Karamanlis beim Staatspräsidenten einen Antrag auf Gnadenerlass für die zum Tode Verurteilten, dem stattgegeben wurde.18 Durch die Aufhebung des Todesurteils und

15 Periklis Rodakis (Hrsg.): Oi dikes tis chountas. Pliri praktika. Diki protai­tion 21. Apriliou 1967 [Die Prozesse gegen die Junta. Die vollständigen Protokolle. Der Prozess gegen die Hauptverantwort­lichen für den Putsch des 21. April 1967]. Bd. 4, Athen 1975, S. 1435 – 1460; Nikos Alivizatos: To syntagma kai oi echthroi tou sti neoelliniki istoria, 1800 – 2010 [Die Verfassung und ihre Gegner in der neugriechischen Geschichte]. Athen 2011, S. 496; S­ tylianos Pattakos: 21. Apriliou 1967. Poioi? Giati? Pos? [21. April 1967. Wer? Warum? Wie?]. Athen 1993, S. 223 f. 16 Emmanuil Georgoudakis: To Ethniko Optikoakoustiko Archeio [Das Na­tionale Audiovisuelle Archiv]. In: Archeitaxeio 13 (2011) 3, S. 146 – 150. 17 Rodakis (Hrsg.): Oi dikes tis chountas (wie Anm. 15), S. 1260 – 1266; To pentameles efeteio meta 24imeri diadikasia apofasise: thanato stous treis protodiktatores [Das fünfköpfige Berufungsgericht hat sein Urteil gefällt: Todesstrafe für die drei Hauptputschisten]. In: Rizospastis, 24. August 1975, S. 1, 11. 18 Valletai apo ola ta kommata tis antipolitefsis i kyvernitiki energeia. Pallaïki axiosi i ektelesi tis apofasis tou 5melous efeteiou gia tous protodiktatores [Alle Opposi­tionsparteien kritisieren die Entscheidung der Regierung. Das ganze Volk verlangt die Vollstreckung des Urteils des fünfköpfigen Berufungsgerichts]. In: Rizospastis, 26. August 1975, S. 1, 7.

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seine Umwandlung in eine lebenslange Haftstrafe verfolgte Premier Karamanlis zwei Ziele: Zum einen sollte der Gefahr einer mög­lichen Reaktivierung von Juntasympathisanten durch die Hinrichtung ihrer Anführer entgegengewirkt werden, zum anderen wurde damit dem westeuro­päischen Kurs, den Karamanlis für Griechenland einschlagen wollte, Rechnung getragen.19 In der zweiten Hälfte des Jahres 1975 wurden auch die Verantwort­lichen für die blutige Niederschlagung des Studentenaufstands vom November 1973 sowie mehrere Militärs und Polizisten wegen der Folterung politischer Gefangener zur Rechenschaft gezogen. Der »Prozess des Polytechnikums« zu den Ereignissen, die sich in den frühen Morgenstunden des 17. November 1973 inner- und außerhalb des Geländes der Polytechnischen Hochschule von Athen abgespielt hatten, stellt ein zentrales Ereignis der strafrecht­lichen Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit und einen der Grundpfeiler der postdiktatorischen historischen Meister­erzählung über den »Widerstand des griechischen Volkes« gegen die Junta dar. Der polizei­liche und militärische Eingriff zur Räumung des von protestierenden Studenten und Arbeitern besetzt gehaltenen Campus, der in einem Blutbad mit 23 Toten endete, wird bis heute noch als der Anfang des Endes der griechischen Junta betrachtet. Trotz (oder gerade wegen) der Passivität, die die große Mehrheit der griechischen Bevölkerung gegenüber dem Regime gezeigt hatte, war man im nachdiktatorischen Griechenland bemüht, einen Widerstandsmythos vom Volk, das durch seine Kämpfe die Demokratie im Land wiederhergestellt habe, aufzubauen. In Anbetracht der herausragenden geschichtspolitischen Bedeutung, die man dem Novemberaufstand von 1973 beimaß, wurde der Prozess zum Symbol des Sieges des demokratischen Willens des griechischen Volkes über ein despotisches, menschenverachtendes und – wegen seiner angeb­lichen Abhängigkeit von den USA – der griechischen Na­tion entfremdetes Regime.20 Im Gerichtsverfahren, das am 16. Oktober 1975 begann und am 30. Dezember desselben Jahres zum Abschluss kam, wurden 33 Personen zur Rechenschaft gezogen, darunter auch die Juntaanführer Papadopoulos und Ioannidis wegen Anstiftung zum Mord. Papadopoulos war zum Zeitpunkt der Niederschlagung des Aufstands frisch (selbst)ernannter Staatspräsident, Ioannidis Kommandeur der Militärpolizei. Vom Gericht wurden acht Angeklagten strenge Strafen auferlegt. Die mit Abstand höchste Strafe verhängte das Gericht gegen Ioannidis, der siebenfach zu lebensläng­lich und zu weiteren zusätz­lichen 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Dem Exdiktator Papadopoulos wurde aufgrund seiner Beteiligung an Mord

19 Richard Clogg: A Concise History of Greece. New York u. a. 22002, S. 170 f. 20 Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 (wie Anm. 13), S. 130 f., 177 – 191.

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Abb. 1  Athen November1973: Die Polizei in Bereitschaft vor dem Rektoratsgebäude der Universität Athen

und Totschlag eine Strafe von 25 Jahren Haft auferlegt. Dieselbe Strafe erhielten auch vier mitangeklagte Polizei- und Militäroffiziere, darunter unter anderem der Oberbefehlshaber der griechischen Streitkräfte zum Zeitpunkt des Aufstands sowie der derzeitige stellvertretende Polizeichef. Zwölf weitere Angeklagte kamen schließ­lich mit milderen Strafen davon, während dreizehn freigesprochen wurden.21 Die Urteilsverkündung wurde vom linken Teil des politischen Spektrums mit Enttäuschung aufgenommen, da man die Strafen entweder als zu mild einschätzte oder die Anzahl der Freisprüche für zu hoch hielt. Bereits der »Prozess der Hauptverantwort­lichen« hatte bei einem großen Teil der griechischen Öffent­ lichkeit aufgrund der Abmilderung der Todesstrafen für die drei Haupttäter Unzufriedenheit mit der justiziellen Aufarbeitung der Diktatur hervorgerufen. Nun hinterließ auch das Gerichtsverfahren zum »Massaker des Polytechnikums« einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits wurden für die 23 Toten und die vielen Verletzten während der Novemberereignisse von 1973 Schuldige gesucht, gefunden 21 I apofasi gia to makelleio sto polytechneio. 7 fores isovia o Ioannidis, 3 o Varnavas, 1 o D ­ ertilis [Das Urteil zum Massaker in der Polytechnischen Hochschule. Siebenmal lebenslang für Ioannidis, dreimal für Varnavas, einmal für Dertilis]. In: Makedonia, 31. Dezember 1975, S. 1, 5; Rodakis (Hrsg.): Oi dikes tis chountas (wie Anm. 15), S. 1509 – 1513.

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und bestraft, andererseits wollte die Opposi­tion den Versuch der konservativen Regierung Karamanlis erkannt haben, den Täterkreis auf mög­lichst wenige und hochrangige Juntamitglieder zu beschränken.22 Die Frage nach der Ausdehnung der strafrecht­lichen Verfolgung auch auf die mittleren und unteren Ebenen des Regimes war während der Transi­tionsphase ein Dauerthema. Gegen den Protest der Opposi­tionsparteien setzte die Regierung Karamanlis einen »selektiven« juristischen Aufarbeitungsprozess der diktatorischen Vergangenheit durch, der sich nur auf die Führungselite des Regimes sowie die prominentesten Fälle von Gewaltverbrechen bezog. Auch die Säuberung des Staatsapparats ging nicht in die Tiefe, sondern beschränkte sich auf einen engen Kreis von Vorsitzenden staat­licher Betriebe und Organisa­tionen, hochrangiger Beamter, Richter und Offiziere der Streit- und Sicherheitskräfte. Mehrere Regelungen verhinderten gezielt eine umfassende Vergangenheitspolitik auf allen Ebenen.23 Hätte man anders gehandelt, so die Begründung des derzeitigen Justiz­ministers Konstantinos Stefanakis, dann bestünde die Gefahr, dass sich die Strafverfolgung von politisch motivierten Verbrechen aus der Zeit der Junta endlos hingezogen hätte. Zahlreiche Staatsdiener wären davon betroffen gewesen, und Griechenland hätte sich für die nächsten zwanzig Jahre in einen »riesigen Gerichtshof« verwandelt – so die Argumenta­tion der Regierung Karamanlis für ihre Entscheidung, der strafrecht­lichen Aufarbeitung der Juntadiktatur keinen umfassenden Charakter zu verleihen.24 Große Aufregung und schwere Vorwürfe gegen die Regierung bewirkte auch das Urteil im ersten großen Gerichtsprozess gegen Polizisten und Militärpolizisten wegen Folterung politischer Gefangener. Dadurch wurden vierzehn Mitarbeiter der Staatssicherheit entweder freigesprochen oder nur sehr mild bestraft. Angesichts des furchterregenden Bildes, das man in der Öffent­lichkeit 22 Ebd., S. 1519 – 1521; I apofasi gia ti sfagi sto polytechneio. 7 fores isovia ston Ioannidi [Das Urteil zum Gemetzel in der Polytechnischen Hochschule. Siebenmal lebenslang für Ioannidis]. In: Rizospastis, 31. Dezember 1975, S. 1, 7. 23 Nikos Alivizatos: Oi politikoi thesmoi se krisi 1922 – 1974. Opseis tis ellinikis empeirias [Die politischen Institu­tionen in der Krise 1922 – 1974. Aspekte des griechischen Falles]. Athen 1986, S. 683 f. 24 »Opos apokalyptetai me ti syzitisi sti vouli apallagi kai ochi i timoria ton enochon tis eptaetias i ousia tou psifismatos. Den tha ikanopoiithei to panenthiko aitima gia pliri apochountopoiisi« [Aus der Parlamentsdebatte geht hervor, dass der Gesetzesentwurf die Entlastung und nicht die Bestrafung der Schuldigen für die siebenjährige Diktatur bewirken wird. Der Wunsch des Volkes nach einer kompleten Entjuntafizierung wurde nicht erfüllt]. In: Rizospastis, 15. Januar 1975, S. 1; I diexodiki syzitisi eis tin voulin dia to psifisma enan­tion tis chountas [Die ganze Parlamentsdebatte über den Gesetzesentwurf bezüg­lich der Junta]. In: Makedonia, 15. Januar 1975, S. 9.

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von diesen »Folterknechten der Junta« hatte, war ­dieses Urteil für viele Bürger ein großer Schock. In ihren Augen stellte es einen weiteren Beweis für die nachsichtige Politik der Regierung Karamanlis gegenüber den Anhängern der Junta dar.25 Die umstrittene Gerichtsentscheidung entwickelte sich insofern zu einem Instabilitätsfaktor für das postdiktatorische Griechenland, als sie zur Geburtsstunde des linksextremistischen Terrorismus wurde. Am 14. Dezember 1976 erschossen Mitglieder der neu gegründeten Terrorzelle »Revolu­tionäre Gruppe des 17. November« auf offener Straße den Polizisten Evangelos Mallios, einen der berüchtigtsten Folterer der Junta. Die Begründung der Terroristen für das Attentat gegen Mallios verwies auf das »staat­liche und justizielle Versagen«, die Verbrechen des Militärregimes entsprechend den Ansprüchen eines tatsäch­lich demokratischen Rechtsstaates aufzuarbeiten.26 Einen schweren Schatten auf den juristischen Aufarbeitungsprozess der Juntavergangenheit warf schließ­lich die Entscheidung der Regierung Karamanlis am 7. März 1975, die strafrecht­liche Verfolgung der Verantwort­lichen für den am 15. Juli 1974 gegen den zyprischen Präsidenten Makarios durchgeführten Putsch auf einen unbestimmten Zeitpunkt in die Zukunft zu verlegen. Der mit der Vorbereitung der Anklageschrift vertraute Staatsanwalt hatte die Regierung auf »na­ tionale Gefahren« hingewiesen, die einen Aufschub erforderten. Die »Zypern-­ Akte« blieb auch nach der Regierungsübernahme durch die Sozialdemokraten Andreas Papandreous 1981 geschlossen. Wie die Vorgängerregierung berief sich auch diese auf die weiterhin bestehende Notwendigkeit der »Wahrung na­tionaler Interessen«.27 Erst im Februar 1986 wurde auf der Grundlage eines parteiübergreifenden Beschlusses ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Öffnung der »Zypern-­Akte« einberufen. Die aufwendigen Recherchen der Parlamentarier bestätigten die Vermutung, dass der »unsichtbare Diktator« Ioannidis den 25 Meta tin apofasi tou dikastiriou tis Chalkidas gia tous vasanistes na bei fragmos stin politiki pou akolouthei i kyvernisi [Nach dem Urteil des Gerichts in Chalkida gegen die Folterknechte der Junta ist es notwendig, dieser Regierungspolitik ein Ende zu setzen]. In: Rizospastis, 2. Dezember 1975, S. 1, 7. 26 O laos apaitei apo tin kyvernisi na fotistei pliros i »ypothesi Malliou« [Das Volk verlangt von der Regierung, dass alle Einzelheiten des »Falles Mallios« durchleuchtet werden]. In: Rizospastis, 16. Dezember 1976, S. 1. 27 Anoigei o fakelos gia to praxikopima kata tis Kyprou me minysi pou ypevale o dimarchos Zografou k. Beis [Das Untersuchungsverfahren zum Putsch in Zypern wurde durch den entsprechenden Antrag des Bürgermeisters von Zografos, von Herrn Beis, eröffnet]. In: Rizospastis, 26. Oktober 1974, S. 1, 8; I kyvernisi anastellei ti dioxi ton ypefthinon gia to praxikopima stin Kypro [Die Regierung hat die Entscheidung getroffen, die Strafverfolgung der Verantwort­lichen für den Staatsstreich in Zypern zu vertagen]. In: Rizospastis, 8. März 1975, S. 1, 8.

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Umsturz von Makarios in Zypern initiiert hatte. Außerdem konnte festgestellt werden, dass die damalige politische und militärische Führung des Landes in die verschwörerischen Pläne von Ioannidis eingeweiht war. Diese Untersuchungsergebnisse des Parlamentsausschusses blieben für lange Zeit streng geheim – vor allem wegen der Befürchtung, Ankara könnte sie zur Rechtfertigung ihrer militä­ rischen Interven­tion auf Zypern instrumentalisieren. Sie erreichten erst 2010 über einen inoffiziellen Kanal die Öffent­lichkeit, während die »Zypern-­Akte« offiziell bis heute noch unter Geheimverschluss steht.28

4. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik Die strafrecht­liche Aufarbeitung der Juntaverbrechen, die in der Regierungszeit des konservativen Premierministers Konstantinos Karamanlis stattfand, zeigt, dass die Obristen trotz ihrer ideolo­gischen Nähe zum »na­tionalgesinnten« Bürgerkriegslager von ­diesem letztend­lich verneint und abgelehnt wurden. Papadopoulos und seine Komplizen hatten sich, wie bereits gesagt, am 21. April 1967 von den »bürger­lichen Machtstrukturen« der Nachkriegszeit losgelöst, dabei Hierarchien innerhalb des Militärs missachtet, das Königshaus erpresst und letztend­lich die Monarchie abgeschafft. Schließ­lich wurden nicht nur linke, sondern auch zentrumsnahe und rechte Politiker verhaftet und zum Teil phy­sisch oder psychisch misshandelt. Darüber hinaus, und dies war wohl der entscheidendste Faktor, hatten die Obristen die »Zypern-­Tragödie« zu verschulden. Das konservative Lager, in dem Karamanlis tonangebend war, hatte demzufolge allen Grund, sich von der Obristenjunta politisch, ideolo­gisch und auch in jeder anderen Hinsicht deut­lich zu distanzieren. Bezeichnend dafür ist, dass Karamanlis in seiner Wahlkampagne im November 1974 mit der Junta hart ins Gericht ging. Er beschuldigte diese, Griechenland »versklavt« zu haben und gemeinsam mit der Türkei für die »Zypern-­Tragödie« verantwort­lich zu sein.29 Mit seiner feind­lichen Haltung gegenüber der Obristendiktatur griff der griechische Premierminister die Stimmung in der Bevölkerung auf, die nach der blutigen Niederschlagung des Polytechnikumaufstands und dem zyprischen Desaster

28 Siehe Tasos Vournas: Istoria tis synchronis Elladas, 1967 – 1974. Chounta – Fakelos Kyprou [Geschichte des modernen Griechenland, 1967 – 1974. Junta – Akte »Zypern«]. Athen 1986, S. 291 – 373; Viktor Netas: Fakelos Kyprou: Ta aporrita dokoumenta [Die Zypern-­Akte. Die unveröffent­lichten Dokumente] (Reihe »Istorika« der Zeitung Eleftherotypia), Athen 2010. 29 Idryma Konstantinos Karamanlis (Hrsg.): Konstantinos Karamanlis. Archeio, gegonota kai keimena [Archiv, Ereignisse und Dokumente]. Bd. 8, Athen 2005, S. 190 – 219.

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sehr negativ über die Junta dachte. In der griechischen Öffent­lichkeit hatte sich ein grundlegender Wechsel vollzogen: Ab dem Tag der Wiederherstellung der Demokratie dominierten den öffent­lichen Raum nicht die Sieger des Bürgerkriegs beziehungsweise die politische Rechte, sondern dessen Verlierer beziehungsweise die Linke. Diese Linke – um sie der Parteienlandschaft grob zuzuordnen – erstreckte sich von der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Pasok) von Andreas Papandreou über die sich von der Kommunistischen Partei Griechenlands 1968 abgespaltenen Inlandskommunisten bis hin zu den weiterhin sowjettreuen Kommunisten. Es waren überwiegend Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und andere Akteure aus d­ iesem breiten ideolo­gischen Spektrum, die in den ersten Monaten und Jahren der Transi­tion die Öffent­lichkeit des Landes mit einer Flut von Büchern und Artikeln überschwemmten. Damit legten sie die Weichen für die Durchsetzung des linken Deutungsmusters als dominierende Geschichtsdarstellung im postdiktatorischen Griechenland, also für die Avancierung dieser Darstellung zu einer historischen »Meistererzählung«. Diese bezog sich nicht nur auf die Militärdiktatur, sondern auch auf die dreieinhalb Jahrzehnte ­zwischen dem deutschen Einfall in Griechenland und dem Ende der Militärdiktatur. Die den öffent­lichen Raum zunehmend dominierende linke Vergangenheitsdeutung sah in ihren Grundzügen folgendermaßen aus: Nachdem das von der linkspatriotischen Partisanenbewegung angeführte griechische Volk ­zwischen 1941 und 1944 gegen die deutsche Besatzungsmacht »heldenhaften Widerstand« geleistet habe, s­ eien die Widerstandskämpfer ab 1946 durch den »weißen Terror« der Rechten und ihrer »angloamerikanischen Verbündeten« zu einem neuen Partisanenkrieg gezwungen worden, der in einem dreijährigen Bürgerkrieg gegipfelt habe. Die zweieinhalb Jahrzehnte, die dem Bürgerkriegsende bis zur demokratischen Transi­tion von 1974 folgten, ­seien für Griechenland »versteinerte Jahre« gewesen, in denen sich das Land unter der »Besatzung der Amerikaner und ihrer na­tionalgesinnten Handlanger« befunden habe. Die Militärdiktatur, so die linke Meistererzählung weiter, sei dem griechischen Volk direkt von Washington auferlegt worden, um seine Forderungen nach mehr Demokratie zu unterdrücken und den Demokratisierungsprozess der 1960er Jahre aufzuhalten. Der durch die Junta herbeigeführte Sturz von Makarios in Zypern sei ebenso von den USA angeordnet worden, die damit die Teilung der Insel zur Verfolgung eigener geopolitischer Interessen bewirken wollten. Die Junta sei schlussend­lich durch den »ununterbrochenen Widerstand des griechischen Volkes« gegen seine inländischen ebenso wie fremden Unterdrücker in die Knie gezwungen worden. Wie gesagt erhielt ­dieses Deutungsmuster der jüngsten Vergangenheit nach dem Wahlsieg der Pasok-­Sozialisten von Andreas Papandreou 1981 den Status einer historischen »Meistererzählung« und übte fortan einen starken Einfluss auf

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die Geschichtspolitik des griechischen Staates aus. Dreh- und Angelpunkt dieser Erzählung ist die große ausländische Mitverantwort­lichkeit, insbesondere die US-amerikanische für alle Übel, die dem griechischen Volk ­zwischen 1940 und 1974 zustießen: also den Bürgerkrieg, die politische Unterdrückung in den Nachkriegsjahren, die Errichtung der Militärdiktatur und die blutige Teilung Zyperns.30 Eine herausragende Rolle bei der Entwicklung eines polemischen Antiamerikanismus im postdiktatorischen Griechenland spielte der besagte Andreas Papandreou, Minister und Parlamentsabgeordneter der vordiktatorischen Zentrumsunion, Gründer der PASOK-Partei 1974 und Ministerpräsident Griechenlands ­zwischen 1981 und 1989 sowie in den Jahren 1993 bis 1996. Nach einer ­kurzen Inhaftierung unmittelbar nach dem Putsch des 21. April wurde Papandreou auf Interven­tion der amerikanischen Botschaft freigelassen. Unmittelbar danach gewährte ihm Schweden politisches Asyl. Papandreou war mit einer US-amerikanischen Staatsbürgerin verheiratet und hatte vor seiner politischen eine beacht­liche wissenschaft­liche Karriere als Ökonomieprofessor in den USA hingelegt. Vom schwedischen Exil aus entwickelte der charismatische Politiker eine rege Tätigkeit gegen die Athener Junta, aber auch gegen seine ehemalige Wahlheimat, die USA.31 In dieser Zeit schrieb er ein Buch zur modernen politischen Geschichte Griechenlands und zu den Ursachen des Staatsstreichs des 21. April 1967. Darin betrachtete er die Errichtung der Militärdiktatur als die Folge der langjährigen politischen, ökonomischen und militärischen Präsenz der USA in Griechenland. Er machte diesen Einfluss an zahlreichen Eingriffen des amerikanischen Geheimdienstes CIA in das politische und wirtschaft­liche Leben Griechenlands seit den Bürgerkriegsjahren fest. In ­diesem Zusammenhang schilderte ­Papandreou auch die engen Beziehungen der für den Staatsstreich hauptverantwort­lichen Obristen zu US -amerikanischen Agenten. Die Schlussfolgerung seines in mehrere Sprachen übersetzten Buches lautete, dass der Obristenputsch vom CIA angeordnet worden sei, um die immer stärker werdende Forderung des griechischen Volkes nach mehr Demokratie zu zerschlagen, die Zypern-­Frage zugunsten der US-ameri­kanischen Interessen zu lösen und das Fortbestehen Griechenlands als einen wichtigen NATO-Stützpunkt zu sichern. Papandreou war der prominenteste, aber keineswegs der Einzige, der den Staatsstreich des 21. April als die direkte Folge

30 Vgl. dazu ausführ­licher Adamantios Skordos: Die Besatzungs- und Bürgerkriegsjahre 1941 – 1949 in der griechischen Erinnerungs- und Geschichtskultur – unter besonderer Berücksichtigung des griechischen »Historikerstreits«. In: Zeitgeschichte 41 (2014) 1, S. 19 – 38. 31 Vgl. dazu ausführ­licher Stefan A. Müller/David Schriffl/Adamantios Skordos: Heim­liche Freunde. Die Beziehungen Österreichs zu den Diktaturen Südeuropas nach 1945: Spanien, Portugal, Griechenland. Wien u. a. 2016, S. 246 – 253, 274 – 285.

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einer US-amerikanischen Interven­tion betrachtete.32 Man könnte an dieser Stelle zahlreiche andere Studien aufzählen, die nicht nur in Griechisch, sondern auch in anderen Sprachen erschienen sind, und sich desselben Argumenta­tionsmusters bedienten.33 Die in den 1970er und 1980er Jahren bezüg­lich der US-amerikanischen Schuld aufgestellte These basierte ausschließ­lich auf Vermutungen, nicht jedoch auf Beweismaterial. Bis jetzt konnten die Vertreter dieser These keinen einzigen Beweis dafür vorlegen, dass die politische Führung der USA oder die US-amerikanischen Geheimdienste an dem Staatsstreich des 21. April 1967 direkt oder indirekt beteiligt waren. Alle Indizien weisen darauf hin, dass die Obristengruppe um den Anführer Georgios Papadopoulos eigenmächtig handelte. Es ist zwar richtig, dass seit dem Bürgerkrieg die USA tatkräftig in die griechische Innenpolitik intervenierten, und dass griechische und US-amerikanische Geheimdienste eng kooperierten. Dennoch fand der Staatsstreich weder im Auftrag noch in Absprache mit den USA statt.34 Trotzdem ist eine, wenn auch immer geringer werdende Mehrheit der Griechinnen und Griechen bis heute noch von der Hauptverantwortung Washingtons für den Putsch überzeugt.35 Insbesondere in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der Militärdiktatur war der Antiamerikanismus das hervorstechende Merkmal von politischen und erinnerungskulturellen Veranstaltungen nicht nur der kommunistischen Linken, sondern auch des sozialdemokratischen Zentrums. Beispielhaft dafür ist der zweite Jahrestag der Niederschlagung des Studentenaufstands im Athener Polytechnikum, an dem die Griechen ihrem Unmut gegenüber den USA Luft machten. In einem großen Aufmarsch, der am 17. November 1975 an der Polytechnischen Hochschule seinen Anfang nahm und vor der US -amerikanischen Botschaft endete, wurde gegen die »imperialistische« Politik Washingtons protestiert und 32 Andreas Papandreou: Democracy at Gunpoint. The Greek Front. New York 1970; ders.: Griechische Tragödie. Wien u. a. 1971; ders.: I dimokratia sto apospasma [Die Demokratie an der Exeku­tionsmauer]. Athen 1974. 33 Vgl. z. B. Stephen Rousseas: Τhe Death of a Democracy: Greece and the Αmerican ­Conscien­ ce. New York 1967; ders.: O thanatos mias dimokratias. I Ellada kai i amerikaniki syneidisi [Der Tod einer Demokratie. Griechenland und die amerikanische Gewissensfrage]. Athen 1974; Giannis Katris: I gennisi tou neofasismou. Ellada 1960 – 1974 [Die Geburt des Neofaschismus. Griechenland 1960 – 1974]. Athen 1974; Periklis Rodakis: I diktatoria ton syntagmatarchon. Anodos kai ptosi [Die Diktatur der Obristen. Aufstieg und Niedergang]. Athen 1975; Marios Ploritis: Megiston mathima. Ap’ ti diktatoria sti dimokratia [Eine großartige Lek­tion. Von der Diktatur zur Demoktratie]. Athen 1975. 34 Sie dazu die aufschlussreiche Studie von Alexis Papachelas: O viasmos tis ellinikis dimokratias [Die Vergewaltigung der griechischen Demokratie]. Athen 1997, S. 237 f. 35 Siehe dazu ausführ­licher Skordos: Die Diktatur der Jahre 1967 bis 1974 (wie Anm. 13), S. 122 – 204.

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die Räumung der US-amerikanischen Stützpunkte in Athen und auf Kreta gefordert. Aus den Lautsprechern der Demonstranten dröhnten die Aufrufe: »Raus mit den Amerikanern«, »Raus mit der Nato«.36 Seitdem gibt es bis heute jedes Jahr am 17. November den sogenannten Marsch zur amerikanischen Botschaft, der immer wieder als Anlass gesehen wird, gegen aktuelle Probleme im In- und Ausland zu protestieren. War es in den 1970er und 1980er Jahren die ungelöste Zypern-­Frage, die den Antiamerikanismus der Demonstranten speiste, geriet in den 1990er Jahren die Politik Washingtons in der Jugoslawien-­Krise in den Mittelpunkt der Proteste, insbesondere nach der Bombardierung Serbiens durch die Nato. In den letzten Jahren dominierte die Wirtschaftskrise den »Marsch zur amerikanischen Botschaft«. Die Aufrufe richten sich hauptsäch­lich gegen den Interna­tionalen Währungsfonds, die EU-Institu­tionen und gegen die Griechenland vom Ausland auferlegte Austeritätspolitik. Auch wenn heutzutage das Feindbild einer durch Berlin kontrollierten »Troika« weitgehend das amerikanische verdrängt hat, verbrennen die Demonstranten weiterhin vor der Botschaft die US-amerikanische Fahne.37 Der »Tag des Polytechnikums«, der jähr­lich am 17. November gefeiert wird und in dessen Rahmen der besagte Protestlauf stattfindet, stellt den zentralen Erinnerungstag zur griechischen Militärdiktatur dar. Während der »Marsch zur amerikanischen Botschaft« eine inoffizielle Ak­tion ist, an der sich vorwiegend 36 Synglonismos apo ti chthesini ekdilosi. Ena ekatommyrio stin poreia gia to polytechneio [Erschütterung durch die gestrige Kundgebung. Eine Million Menschen nahmen an dem Marsch zur Erinnerung an die Ereignisse des Polytechnikums teil]. In: Rizospastis, 18. November 1975, S. 3. 37 Siehe z. B.: Sti chthesini epeteio tou xesikomou tou Polytechneiou. Antiimperialistikes diadiloseis se olokliri ti chora. Synglonistikes poreies sti Thessaloniki, Patra kai alles poleis [Bericht über die gestrige Jubiläumsfeier anläss­lich des Aufstands an der Polytechnischen Hochschule. Landesweit wurden antiimperialistische Veranstaltungen organisiert. Riesige Kundgebungen fanden in Thessaloniki, Patras und in anderen Städten statt]. In: Rizospastis, 18. 11. 1981, S. 1 – 3, 9; Megaleiodeis oi chthesines antiimperialistikes ekdiloseis. Minyma laïkis enotitas kai palis. Ekatontades chiliades stin poreia mechri tin presveia ton IPA [Die gestrigen antiimperialistischen Kundgebungen waren großartig. Es wurde dabei die Botschaft der Volkseinheit und des Volkskampfes verkündet. Hunderttausende nahmen an dem Marsch zur Botschaft der USA teil]. In: Rizospastis, 18. November 1982, S. 1; Me synglonistikes diadiloseis o laos apaitise chthes exo apo to NATO. Pallaïki katadiki tou imperialismou [Das Volk hat gestern bei Kundgebungen den Austritt Griechenlands aus der NATO gefordert. Das ganze Volk verurteilte den Imperialismus]. In: Rizospastis, 18. November 1983, S. 1, 10; Poreia gia tin 41. Epeteio tis exegersis tou Polytechneiou [Marsch aus Anlass der 41. Wiederkehr des Aufstands an der Polytechnischen Hochschule]. In: Naftemporiki, 17. November 2014. URL: http://www.naftemporiki. gr/­slideshows/881038/poreia-­gia-­tin-41i-­epeteio-­tis-­eksegersis-­tou-­polutexneiou/all, letzter Zugriff: 30. 01. 2016.

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die Linke beteiligt, nehmen an dem offiziellen Programm im Gelände der Polytechnischen Hochschule Vertreter von nahezu allen Parteien teil. Am 17. November 2015, als zum 42. Mal der »Tag des Polytechnikums« gefeiert wurde, legte Ministerpräsident Tsipras persön­lich einen Kranz am sogenannten Denkmal der gefallenen Helden des Polytechnikums nieder.38 In seiner Ansprache im Parlament zum Anlass des Jahrestages hob Tsipras die große Bedeutung des Studentenaufstands für das Ende der Militärdiktatur hervor. Zudem setzte er den »Aufstand des Polytechnikums« an das Ende einer Reihe von großartigen Kämpfen des griechischen Volkes für Demokratie und na­tionale Unabhängigkeit, an deren Anfang er den Befreiungskampf im Zweiten Weltkrieg stellte. Schließ­lich schlug er einen Bogen in die heutige Zeit: Die Forderungen der aufständischen Studenten von damals für Freiheit und Demokratie s­ eien auch heute noch im gegenwärtigen »Kampf des griechischen Volkes gegen die ­soziale Ungerechtigkeit und die ausländische Bedrohung des Neoliberalismus« aktuell.39 Während Tsipras in seiner Funk­tion des Ministerpräsidenten auf antiamerikanische Inhalte verzichtete, blieb seine Partei den früheren »Erinnerungskoordinaten« treu und erinnerte in ihrer Botschaft daran, dass es sich bei der Militärdiktatur, gegen die sich der »großartige Aufstand« des Polytechnikums richtete, um ein »amerikanisch gesteuertes« Regime gehandelt habe.40 Die konservative Opposi­tionspartei ND würdigte in einer eher nüchternen beziehungsweise emo­tionslosen Botschaft den »Aufstand der Jugend für bessere Bildungschancen, Freiheit und Demokratie«.41 38 Katethese stefani kai efyge trechontas o Tsipras apo to Polytechneio [Nachdem Tsipras einen Kranz niedergelegt hatte, musste er die Flucht ergreifen]. In: Protothema, 17. November 2015. URL: http://www.protothema.gr/politics/article/527974/katethese-­stefani-­kai-­efuge-­trehodas-­ o-­tsipras-­apo-­to-­polutehneio/, letzter Zugriff: 23. 01. 2016; Entasi sto Polytechneio kata tin katathesi stefanou apo ton Tsipra [Ausschreitungen bei der Kranzniederlegung von Tsipras], 17. November 2015. URL: http://www.tovima.gr/politics/article/?aid=754604, letzter Zugriff: 23. 01. 2016. – Das Denkmal war ursprüng­lich vom griechischen Bildhauer Memos Makris 1978 in Budapest für eine Ausstellung in Athen geschaffen worden. Eine Studentengruppe, die die Ausstellung besucht hatte, schlug dem Senat der Polytechnischen Hochschule vor, das Werk auf dem Gelände der Universität als Denkmal an den Novemberaufstand aufzustellen. Siehe hierzu: Synentefksi me ton M. Makri gia to ergo tou [Interview mit M. Makris über sein Werk]. In: Rizospastis, 16. 11. 1979, S. 3. 39 I vouli tima to Polytechneio [Das Parlament würdigt den Aufstand an der Polytechnischen Hochschule]. In: I Avgi, 17. November 2015. URL: http://www.avgi.gr/article/6031578/i-­ bouli-­tima-­to-­polutexneio-­video, letzter Zugriff: 23. 01. 2016. 40 42 chronia. Minyma tou Syriza gia to Polytechneio [42 Jahre nach dem Aufstand des Polytechnikums. Die Botschaft der Partei Syriza]. In: Ethnos, 15. November 2015. URL: http://www. ethnos.gr/article.asp?catid=22767&subid=2&pubid=64287781, letzter Zugriff: 23. 01. 2015. 41 To minyma tou Meïmaraki gia tin epeteio tou Polytechneiou [Die Botschaft von Meïmarakis anläss­lich des Polytechnikum-­Jubiläums]. In: Ethnos, 16. November 2015. URL: http://www.

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Abb. 2  Denkmal »Zur Ehre der Gefallenen« des Aufstands vom November 1973 auf dem Gelände der Polytechnischen Hochschule Athens, das am 17. November 1979 eingeweiht wurde

Die Unterschiede zur Geschichtsdeutung der linken Regierungspartei Syriza sind deut­lich zu erkennen. Die Konservativen räumen zwar dem Studentenaufstand eine wichtige Rolle im Prozess der demokratischen Orientierung des postdiktatorischen Griechenlands ein, dennoch ist ­dieses Ereignis in deren Erinnerungskultur weder zentral noch wird es mit antiamerikanischen oder anderen Feindbildern in Verbindung gebracht. Für die ND ist der »Tag der Wiederherstellung der Demokratie«, der jähr­ lich am 24. Juli gefeiert wird, von weit größerer geschichtspolitischer Bedeutung. Dieser steht für den erfolgreichen Übergang zu einem politischen System westeuro­ päischen Zuschnitts und für den Eintritt Griechenlands in die Euro­päische Wirtschaftsgemeinschaft 1980. Beides wird eng mit dem Gründer der Partei, besagtem Konstantinos Karamanlis assoziiert. Zu ­diesem Tag werden tradi­tionell die Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien zu einem Empfang beim Staatspräsidenten eingeladen. Bis zum Ausbruch der Krise wurden an ­diesem

enikos.gr/politics/352684,To-­mhnyma-­toy-­Meimarakh-­gia-­thn-­epeteio-­toy-­Polytexneioy. html, letzter Zugriff: 23. 01. 2015.

Die Juntadiktatur der Jahre 1967 – 1974  |

Tag die »großen Errungenschaften« der »Dritten Griechischen Demokratie« ab 1974 gewürdigt. Seit 2010 fallen die Ansprachen sowie die Feier­lichkeiten weit bescheidener aus: Neben den Errungenschaften werden mittlerweile auch die großen Versäumnisse der postdiktatorischen Epoche angesprochen, der glamouröse Empfang mit zahlreichen Gästen im Garten der Residenz des Präsidenten wurde durch einen ­kurzen Besuch der politischen Führungsspitze beim Staatspräsidenten ersetzt. Der Einzug der Neonazis der Goldenen Morgenröte ins Parlament 2012 bewirkte, dass die etablierten Parteien Versuche unternahmen, den Tag stärker in den Vordergrund zu rücken, ohne jedoch die Bürgerinnen und Bürger mit kostenaufwendigen Feier­lichkeiten zu provozieren. Diese Versuche zeigten allerdings nur geringe Wirkung. Der »Tag der Wiederherstellung der Demokratie« besaß schon immer im Vergleich zum »Tag des Polytechnikums« eine zweitranginge erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Bedeutung, zumal sich die Feier­ lichkeiten auf die politische Führungselite beschränkten und die einfachen Bürge­ rinnen und Bürger nicht einbezogen.42

5. Schluss 2014 wurde das vierzigjährige Jubiläum der Wiederherstellung der Demokratie in Griechenland gefeiert. Zu ­diesem Anlass organisierte das griechische Parlament eine Ausstellung zum Thema »Sieben dunkle Jahre 1967 – 1974: Die Diktatur der Obristen«. Der damalige konservative Parlamentspräsident Evangelos Meïmarakis eröffnete die Ausstellung mit folgenden Worten: Die Zeit der Obristen war eine dunkle Zeit, während der die Demokratie abgeschafft wurde, die Menschenrechte verletzt wurden und es zu einem mora­lischen Verfall und einer Zerstörung der Institu­tionen kam. Die siebenjährige Diktatur der Jahre 1967 – 1974 legte dem

42 Vgl. Eortasmos tis epeteiou ton 39 eton apo tin apokatastasi tis dimokratis [Die Feier­lichkeiten zum 39. Jubiläum der Wiederherstellung der Demokratie]. In: To Vima, 24. Juli 2013. URL: http://www.tovima.gr/politics/article/?aid=523553, letzter Zugriff: 23. 01. 2016; Imera istorikis mnimis. Politika minymata gia tin 41. epeteio apokatastasis tis dimokratias [Ein Tag der historischen Erinnerung. Die Botschaften der Politiker zum 41. Jubiläum der Wiederherstellung der Demokratie]. In: In.gr, 23. Juli 2015. URL: http://news.in.gr/greece/article/?aid=1500014670, letzter Zugriff: 23. 01. 2016; Xechasmenes istories apo tis dexioseis sto proedriko megaro. 38 chronia metapolitevsi [In Vergessenheit geratene Erzählungen aus der Geschichte der feier­ lichen Empfänge beim Staatspräsidenten. 38 Jahre Dritte Griechische Republik]. In: Protothema, 24. Juli 2012. URL: http://www.protothema.gr/politics/article/212520/38-xronia-­ metapoliteysh/, letzter Zugriff: 23. 01. 2016.

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Land und dem ganzen griechischen Volk einen Gipsverband an, errichtete ein Terrorregime, verdrängte die Sonne der Demokratie über dem griechischen Himmel und stürzte das Land in die Dunkelheit.43

Seine Schilderung der Obristenherrschaft entspricht dem Bild, den die überwiegende Mehrheit der Griechinnen und Griechen von der griechischen Junta hat. Die grundsätz­lich negative Bewertung der Militärdiktatur der Jahre 1967 – 1974 ruft in Griechenland großen Konsens hervor. Die postdiktatorische Meistererzählung, in der die Obristen und ihr Regime zu einem »Fremdkörper« stilisiert wurden und die von allen großen politischen Blöcken mitgetragen wurde, sowie die Gerichtsprozesse gegen die Führung der Militärdiktatur waren entscheidend dafür.

43 Lampros Stavropoulos: Anoixe tis pyles tis i ekthesi tis voulis gia tin skoteini eptaetia 1967 – 1974 [Die Parlamentsausstellung über die sieben dunklen Jahre der Militärdiktatur hat ihre Türen geöffnet]. In: To Vima, 20. November 2014. URL: http://www.tovima.gr/politics/ article/?aid=652461, letzter Zugriff: 23. 01. 2016.

Dokumentation der Abschlussdiskussion des 14. Internationalen Symposiums. Praktische Probleme bei der strafrechtlichen Ahndung von Diktaturverbrechen Jörg Ganzenmüller Sehr geehrte Damen und Herren, willkommen zum letzten Teil unseres Symposiums, der Podiumsdiskussion, die noch einmal die praktischen Probleme der strafrecht­lichen Aufarbeitung von Diktaturen beleuchten soll. Bislang haben wir in unseren Diskussionen gesehen, dass die strafrecht­liche Ahndung von Diktaturverbrechen in einem gesellschaft­lichen Kontext stattfindet und sich strafrecht­liche Verfahren und gesellschaft­liche Debatten gegenseitig beeinflussen. Wir haben auch erfahren, dass jede strafrecht­liche Ahndung von Diktaturverbrechen juristische Probleme aufwirft, mit denen man auf unterschied­liche Art und Weise umgehen kann. Frau Trappe hat darauf hingewiesen, dass Recht nicht Mathematik sei, das nach einer bestimmten automatischen Logik funk­ tioniert. In unserer Abschlussdiskussion geht es mir genau darum: Wie ist man mit diesen Problemen in der praktischen Arbeit, also in der Strafverfolgung und in der Rechtsprechung umgegangen? Ich freue mich sehr, mit drei ausgewiesenen Kennern dieser praktischen Probleme diskutieren zu können. Frau Professorin Jutta Limbach war von 1989 bis 1994 Senatorin für Justiz des Landes Berlin und in dieser Funk­tion ganz unmittelbar mit der Frage des Umgangs mit SED-Unrecht befasst. In erster Linie kennen wir Frau Limbach von ihrer Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht, dessen Präsi­ dentin sie von 1994 bis 2002 war. Als Vorsitzende des Zweiten Senats bereitete sie unter anderem die Entscheidung zur Strafbarkeit früherer DDR-Agenten und »Stasi«-Mitarbeiter vor. Seit 2003 ist Frau Limbach Vorsitzende der Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz. Das heißt, Frau Limbach ist auch mit Fragen von Restitu­tion gut vertraut und ist an leitender Stelle an der Aufarbeitung von NS-Unrecht beteiligt. Zur Rechten von Frau Limbach sitzt Herr Thomas Bardenhagen. Er ist Jurist, stammt aus Wuppertal und arbeitet seit 1991 in Schwerin. Zunächst war er Referent im Justizministerium von Mecklenburg-­Vorpommern. Seit 1992 ist er Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Schwerin. Dort war er z­ wischen 1992 und 2000 in der Schwerpunktabteilung für die Verfolgung von SED-Unrecht tätig. Er wird uns aus der Perspektive eines Staatsanwaltes von dieser Tätigkeit berichten.

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Und zu meiner Linken sitzt Herr Dr. Joachim Riedel, ebenfalls Jurist. Er hat in Tübingen promoviert. Vor der deutschen Wiedervereinigung war er als Strafrichter und Staatsanwalt an verschiedenen Gerichten und Staatsanwaltschaften in Baden-­Württemberg tätig. 1991 ließ er sich zur Arbeitsgruppe Regierungskriminalität der Staatsanwaltschaft Berlin abordnen und war in den folgenden Jahren unter anderem Leiter der Abteilung für die sogenannten Mauerschützenverfahren. Zudem wirkte er in der Strafsache gegen die Verantwort­lichen des Na­tionalen Verteidigungsrates der DDR mit, das heißt, kurz gesagt, am Verfahren gegen Erich Honecker, Erich Mielke und weitere Verantwort­liche der SED-Diktatur. 1999 wurde Herr Riedel dann zur Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung na­tionalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg abgeordnet, von der im Rahmen des Symposiums ja auch schon mehrfach die Rede war. Von 2000 bis zu seinem Ruhestand ab Ende 2009 war er ständiger Vertreter des Leiters der Zentralen Stelle. Das heißt, Herr Riedel hat unmittelbare Erfahrung sowohl mit der Aufarbeitung von SED-Unrecht als auch mit der Aufarbeitung na­tionalsozialistischer Verbrechen. Ich danke Ihnen allen dreien, dass Sie nach Weimar gekommen sind, und freue mich sehr, dass Sie für ­dieses Schlusspodium zur Verfügung stehen. Ich würde zunächst mit dem schon kurz erwähnten Honecker-­Prozess beginnen. Herr Riedel, Sie waren an der Vorbereitung und Durchführung des Prozesses beteiligt. Honecker wurde wegen der Toten an der innerdeutschen Grenze des Totschlags angeklagt. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt, nachdem das Berliner Verfassungsgericht einem Antrag Honeckers stattgab, dass ein Prozess gegen seine Menschenwürde verstoße, da der Angeklagte das Prozessende voraussicht­lich nicht mehr erleben werde. Honecker hatte Krebs, wie wir wissen. Wie haben Sie die damalige Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichts gesehen? Joachim Riedel Gestatten Sie mir bitte vorab eine kurze persön­liche Bemerkung: Ich freue mich sehr, dass bei unserer Tagung gleich zwei besonders prominente Repräsentanten und Zeitzeugen der strafrecht­lichen Aufarbeitung des SED-Unrechts zugegen sind, näm­lich außer Frau Professorin Limbach, der damaligen Berliner Justizsenatorin, auch der damalige Leiter der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität, Herr Generalstaatsanwalt Schaefgen, mein damaliger Behördenleiter. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts war für uns Staatsanwälte ein derber Schlag. Wir waren alle erst einmal geschockt von dieser Entscheidung, die vom Verfassungsgerichtshof quasi in einer Nacht- und Nebelak­tion in einem Hinterstübchen gefällt worden war. So hat es sich jedenfalls für uns dargestellt, aber ich möchte hier Frau Limbach nicht zu sehr auf die Füße treten. Ich möchte

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den Sachverhalt aus unserer Sicht darstellen. Uns erschien es so, als sei uns Herr Honecker aus der Etage der Politik mit nicht ganz sauberen Methoden entzogen worden. Aus juristischen Gesichtspunkten war die Entscheidung des Verfassungsgerichts näm­lich zumindest sehr kritisch zu sehen. Denn als Begründung gab der Verfassungsgerichtshof an, das Verfahren verstoße gegen Honeckers Menschenwürde, weil nicht abzusehen sei, dass er in halbwegs verhandlungsfähigem Zustand das Ende des Verfahrens, sprich das Urteil, noch erleben werde. Das Besondere daran war, dass die Berliner Verfassung keinen Satz zur Menschenwürde kennt. Die Argumenta­tion war mehr oder weniger manipuliert, zumindest aber ging sie in die Richtung einer absoluten Mindermeinung.1 Landesrecht könne aus dem Bundesrecht beziehungsweise aus der Bundesverfassung Sätze aufnehmen, ohne dass diese dort schrift­lich fixiert s­ eien. Die Begründung für die Beendigung des Verfahrens, also für die Anordnung, das Verfahren sofort einzustellen und Herrn Honecker aus der Haft zu entlassen, bediente sich einer Argumenta­ tions-»Krücke«. Das heißt, dass man hier auf allgemeine Rechtsnormen zurückgriff, obgleich die Rechtsnorm zur Menschenwürde in der Berliner Verfassung nicht festgelegt war. Diese Argumenta­tion war äußerst problematisch und bedenk­ lich. Am nächsten Tag war ich deshalb in der Freien Universität, wo gerade eine Vorlesung über Verfassungsprozessrecht gehalten wurde. Dort habe ich mit dem Dozenten über den Sachverhalt diskutiert. Er fand es gleichermaßen unmög­lich, was passiert war. Seiner Meinung nach gelte zwar eine Mindermeinung, die so argumentiere, doch »ganz sauber« sei die Sache nicht, zumal in ­diesem Falle. Obwohl ich das hier nicht ausreizen möchte, kann ich sagen, dass Dinge passiert sind, die eigent­lich gar nicht hätten passieren dürfen. Als morgens die Anweisung des Verfassungsgerichtshofes kam, schlotterten den drei Berufsrichtern die Knie. Im stillen Kämmerlein stellten sie nun sogleich das Verfahren ein, obwohl das mit Schöffen hätte geschehen müssen, in einer öffent­lichen Verhandlung. Das war der nächste Fehler. Wir haben daraufhin versucht, gegenzusteuern und Rechtsmittel einzulegen, um dadurch die Einstellung des Verfahrens aufzuhalten. Dazu mussten wir schnellstens beim Berliner Oberlandesgericht, also beim Kammer­ gericht, Beschwerde einlegen. Noch im Taxi wurden die letzten Sätze von den drei Kollegen fabriziert, die die Anklage verfasst hatten. Für mich persön­lich war das ein spannendes Erlebnis, das mich auch in den folgenden Monaten noch fesseln sollte. Als ich im September 1992 aus dem Urlaub zurückkehrte und mich beim Behördenleiter, also bei Herrn Schaefgen, zurückmeldete, eröffnete er mir 1 Als »Mindermeinung« wird in juristischen Streitfällen die juristische Meinung bezeichnet, die ledig­lich von einer Minderheit der Juristen geteilt wird und das Gegenstück zur »herrschenden Meinung« ist.

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zu meiner nicht gerade geringen Überraschung, dass ich ab sofort zusätz­lich zu den drei Anklageverfassern als weiterer Dezernent im Honecker-­Verfahren mitwirken solle. Jörg Ganzenmüller Sie haben ja Honecker auch noch kurz vor seiner Ausreise gesehen. Joachim Riedel Gesehen habe ich ihn zwar nicht, wohl aber eng mit ihm zu tun gehabt. Es war an einem für uns denkbar ungünstigen Tag, denn ausgerechnet an ­diesem Nachmittag war eine Veranstaltung der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität außerhalb des Dienstgebäudes vorgesehen. Aus ­diesem Grund war die Behörde praktisch leer. Ledig­lich der Kollege Brüner 2 aus München und ich waren noch anwesend. Gerade dann aber kam per Fax die Entscheidung des Kammergerichts, genauer gesagt, erst einmal vorab nur der Tenor des Beschlusses, dass der Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens stattgegeben wurde, weil die Entscheidung fehlerhaft sei. Der Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls konnte demgegenüber nicht in gleicher Weise Rechnung getragen werden. Das Haftrecht ist näm­lich so geregelt, dass eine Beschwerde keine aufschiebende Wirkung hat. Das heißt, Herr Honecker musste entlassen werden, auch auf die Gefahr hin, dass unserer Beschwerde in der Folge doch stattgegeben werden würde und er wieder eingesperrt werden müsste. Doch zunächst sollte er also auf freien Fuß gesetzt werden. Das war ein Festtag für die Presse, für die es in diesen Tagen fast überhaupt nur ein Thema gab, näm­lich die Auseinandersetzung mit Honeckers Gesundheitszustand und dem weiteren Verlauf der Hauptverhandlung. Die Haftanstalt Moabit direkt neben dem Kriminalgericht war umlagert von Pressevertretern: »Wann kommt der Erich raus, und wo?« Gekonnt gelang es der Justiz jedoch, die Trauben von Pressevertretern vor dem Haupttor in die Irre zu führen. Honecker wurde näm­lich unauffällig über einen Hinterausgang hinausgeschleust. Zunächst verließ ein Lastwagen das Gelände, dahinter die gepanzerte Limousine des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, in der unerkannt ein gewisser Herr Honecker saß und nach Schulzendorf gefahren wurde, wo er in der Polizeikaserne »geparkt« wurde. Doch alles das haben wir erst hinterher erfahren. Die Entscheidung des Kammergerichts erreichte uns, wie gesagt, nachmittags vorab per Fax. Und dann ging überall die Nachricht herum, dass Honecker noch

2 Franz-­Hermann Brüner (1945 – 2010) war von 1991 bis 1993 als Oberstaatsanwalt in der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität in Berlin tätig.

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am selben Tag nach Chile fliegen werde. Obwohl wir seine Ausreise nicht verhindern konnten, wollten wir ihm die Entscheidung des Kammergerichts unbedingt noch mit auf den Weg geben. Aus d­ iesem Grund haben wir zunächst mit seinen Verteidigern telefoniert. Aber die winkten ab und beteuerten, dass ihr Mandat beendet sei und sie keine Kenntnis darüber hätten, wo sich Honecker aufhalte. Da kam mir die Idee, bei der Flughafenpolizei anzurufen. Diese bat ich, Herrn Honecker vor seinem Abflug den Tenor der Kammergerichtsentscheidung gegen Unterschrift zu übergeben. Währenddessen spielte sich auf dem Flughafen Tegel eine aufgeregte Szenerie ab: Sobald jemand auf dem Abflugplan eine Maschine ausfindig machen konnte, die in Richtung Chile startete, hetzte der gesamte Pressepulk zum angegebenen Gate. Erwies sich die Meldung allerdings als falsch, ging es weiter zum nächsten Flugsteig, und das ein ums andere Mal. Wir verfolgten ­dieses Geschehen in der Behörde am Radio und warteten dort ebenfalls voller Ungeduld. Kurzzeitig beschlich mich die Angst, dass die Übermittlung der Nachricht durch den Polizeibeamten bei Honecker eventuell einen Herzinfarkt oder einen Kollaps auslösen könnte. Also habe ich erneut angerufen und die Beamten angewiesen, ganz sachte an Honecker heranzutreten, damit nichts passiert. Aus ­diesem Grund wurde der erfahrenste Beamte mit der Aufgabe betraut. Nach einer halben Stunde kam dann der erlösende Anruf, die Sache sei erledigt und die Unterschrift getätigt, Herr Honecker werde nun in Kürze abfliegen. Auf diese Weise habe ich die letzte dienst­liche Unterschrift Honeckers auf deutschem Boden erhalten, die jetzt bei den Akten liegt. Jörg Ganzenmüller Frau Limbach, war das eine politische Entscheidung Honecker zu d­ iesem Zeitpunkt ziehen zu lassen? Jutta Limbach Ich will die Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichts nicht im Einzelnen würdigen. Da bin ich leidenschaftslos und akzeptiere heute, dass so entschieden wurde. Viele der Beteiligten dachten sicher auch, dass es sich im Falle Honeckers um einen schönen Fall handele, mit dem end­lich gezeigt werden könne, dass es in Berlin eben auch ein Verfassungsgericht gibt. Wir jedenfalls waren überhaupt nicht betroffen. Mich erreichte ledig­lich der Bericht der Staatsanwaltschaft, wo sich Honecker gerade aufhielt und dass die Presse durch zwei Wagen gelinkt worden war. Die Presse glaubte, er säße in einem der Wagen, doch er saß in einem weiteren Fahrzeug. Viel mehr weiß ich davon nicht. Während der gesamten Zeit habe ich Herrn Honecker weder gesehen noch gesprochen. Doch eines kann ich Ihnen berichten. Zu der Zeit, als Honecker noch in der chilenischen Botschaft in

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Moskau saß, hatte Chile einen Sonderbotschafter. Dieser wollte von mir wissen, wie wir verfahren würden, wenn sich tatsäch­lich herausstellte, dass Honecker lebensgefähr­lich erkrankt ist, und der Leberkrebs dazu führen würde, dass er das Prozessende nicht mehr erlebt. Ich habe ihm darauf geantwortet, dass bei uns rechtsstaat­liche Vorschriften gelten. Wenn ein Angeklagter nicht mehr in der Lage ist, sich zu artikulieren, dann wird das Verfahren eingestellt. Mit dieser Aussage ist er dann gegangen. Und Sie wissen ja, dass die chilenische Botschaft die Türen für Erich Honecker geöffnet hat und er schließ­lich in der Untersuchungshaftanstalt in Moabit gelandet ist. Meine Erinnerung ist nur fragmentarisch, aber Herr Schaefgen, der damals der Leiter der Behörde war, wird wahrschein­lich mehr dazu sagen können. Um mein Verhalten in ­diesem Zusammenhang ein wenig darzustellen, kann ich sagen, dass ich darüber informiert war, dass bereits in der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität überlegt worden war, wie mit der Krankheit Honeckers umzugehen sei. Mich hat es geärgert, dass das Verfassungsgericht dieser Entscheidung gewissermaßen vorgegriffen hat, indem es bestimmt hat, dass Honecker auf freien Fuß gesetzt wurde, da er als gesundheit­lich gefährdet galt und das Ende des Prozesses, in den Augen der zuständigen Richter, ohnehin nicht mehr erleben würde. Letzt­lich ist ­dieses Ende ja tatsäch­lich so eingetreten. Er ist ja nicht mehr sehr alt geworden und in Chile an seinem Leberkrebs verstorben. Auf andere Art und Weise hätten wir wahrschein­lich auch ­dieses Ende erlebt. Jörg Ganzenmüller Worüber wir während unseres Symposiums ebenfalls diskutiert haben, sind die Mauerschützenprozesse. Auch in ­diesem Fall haben wir gehört, dass die meisten dieser Prozesse mit Bewährungsstrafen geendet haben. Herr Bardenhagen, warum ist das so, und sind Sie mit ­diesem Ergebnis zufrieden? Thomas Bardenhagen Was heißt zufrieden? Echte Mauerschützenprozesse haben wir in dieser Form gar nicht gehabt. Die Verfahren, die wir bearbeitet haben, betrafen die Verminung der Grenze, also die Ausstattung mit den sogenannten SM-70-Todesautomaten.3 Wie das bereits gestern in dem Referat von Herrn Sälter angeklungen ist, musste man eine gewisse Befehlskette nachvollziehen, um an die Täter ranzukommen. Dafür möchte ich ein bisschen weiter ausholen. Ich kann nur aus meiner Sichtweise, also 3 Bei den sogenannten SM-70 Todesautomaten handelte es sich um kegelförmige Splitterminen (SM), die an der innerdeutschen Grenze als Selbstschussanlagen funk­tionierten. Bis zu ihrem Abbau im Oktober 1983 waren an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik Tausende SM-70 im Einsatz.

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aus der ersten Instanz als »kleiner Staatsanwalt« berichten, der zu dieser Zeit sehr jung im Amt war. Unsere Behörde wurde im September 1992 als Schwerpunktstaatsanwaltschaft eingerichtet. Sowohl der Generalstaatsanwalt und das Justizministerium als auch mein Behördenleiter haben darauf bestanden, dass diese Behörde ausschließ­lich mit Juristen aus dem Westen besetzt wird. So sollte der Vorwurf entschärft werden, dass »die eine Krähe der anderen kein Auge aushackt«. In d ­ iesem Sinne waren wir eine Schwerpunktabteilung mit einem Oberstaatsanwalt als Abteilungsleiter. Und im Laufe der Zeit waren wir z­ wischen vier bis sechs Dezernenten. In dieser Zeit haben wir 4775 Verfahren bearbeitet. In 27 Verfahren haben wir Verurteilungen erreicht. Das entspricht 0,6 Prozent, bezogen auf sämt­liche Verfahren wegen Rechtsbeugung, Verfahren gegen Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit et cetera. Darüber hinaus gehörten dazu natür­lich auch die Verfahren gegen die Repräsentanten des Grenzregimes. Zunächst bestanden für uns rein technische Schwierigkeiten. Es war zu Beginn der 1990er Jahre überaus schwierig, überhaupt an schrift­liches Material heranzukommen. Die Behörde des Bundesbeauftragten beziehungsweise die Behörde des oder der Landesbeauftragten haben uns nur unzureichend mit Material versorgt. Zunächst bekamen wir nichts und dann bekamen wir Akten, die überwiegend geschwärzt waren. Erst auf Drängen unserer Behördenleitung haben wir dann tatsäch­lich mehr oder weniger vollständige Unterlagen bekommen, die uns in die Lage versetzten, erst einmal zu ermitteln, wer seinerzeit überhaupt als Verantwort­licher galt. Also, wer war als Kommandeur eines Grenzregiments eingesetzt? Sie waren unsere, ich will nicht sagen Ansprechpartner, aber in dem Moment unsere Kunden. Und zwar deshalb, weil sie die Verantwortung für die Ausstattung des jeweiligen Grenzabschnitts mit diesen Todesautomaten trugen. Da gingen dann schon einmal mindestens ein bis zwei Jahre ins Land, um diese Personen zu ermitteln. Neben dem Namen musste ja auch die Adresse herausgefunden werden. Für diese Zwecke haben wir beim Landeskriminalamt für den Bereich SED-Unrecht ein eigenes Dezernat gehabt, in dem siebzehn oder achtzehn Beamte tätig waren. Die schwärmten in alle Richtungen der ehemaligen DDR aus und versuchten diese Personen erst einmal ausfindig zu machen. Wir haben dann zunächst überlegt: Wie kriegen wir diese Personen juristisch überhaupt zu fassen? Denn sie beriefen sich auf den Grundsatz, der im Rahmen dieser Tagung bereits diskutiert worden ist und sinngemäß wie folgt lautete: »Wir hatten einen Befehl, der von oben, also von der Führung der Grenztruppen kam. Dementsprechend haben wir ledig­lich das ausgeführt, was uns befohlen worden ist, und haben dann, um eigenen Repressalien zu entgehen, auch tatsäch­lich so gehandelt.« Im ersten Prozess, in dem ich die Anklage vertreten habe, hat das Landgericht in Schwerin einen Grenzkommandeur vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Hier

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lautete der Tenor der Entscheidung etwa so: »Er musste so handeln, er konnte gar nicht anders.« Der Vorgang war gerechtfertigt. Wir haben dann selbstverständ­ lich Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof hat in d ­ iesem Falle das Urteil dann auch tatsäch­lich aufgehoben und zurückverwiesen. Letztend­lich ist es zu einer Verurteilung wegen Totschlags gekommen. Die Begründung hierfür war, dass man sich nicht auf den Befehlsnotstand berufen kann, wenn in eklatanter Weise offenkundig ist, dass die Menschenrechte schwerwiegend verletzt wurden. Vor dem Hintergrund ­dieses Grenzregimes, das hat der Bundesgerichtshof deut­ lich gemacht, kann sich der Angeklagte im Falle der Tötung eines menschlichen Lebens nicht darauf zurückziehen, dass auf Befehl gehandelt wurde. Was die verhängte Strafe angeht, ist eine Bewährungsstrafe in Bezug auf ein Tötungsdelikt sicher­lich nicht angemessen. Auf der anderen Seite sieht man sich vielfach mit dem Vorwurf der Siegerjustiz konfrontiert. Wie auch andere Landgerichte oder Staatsanwaltschaften in den neuen Bundesländern wollten wir d­ iesem Vorwurf natür­lich nicht neue Nahrung geben, indem wir drakonische Strafen beantragen. Im Wesent­lichen ging es uns darum, in diesen Fällen symbo­lisch festgestellt zu wissen, dass hier ein Mensch schuldhaft gehandelt hat und tatsäch­lich auch zur Rechenschaft gezogen wird, auch wenn er letzt­lich doch nicht in Haft muss. Dass diese Verfahren die Angehörigen der Opfer nicht zufriedenstellen konnten, das ist selbstverständ­lich und war uns bereits damals bewusst. Letzt­lich bleibt festzuhalten: Wenn man den zeit­lichen Ablauf, die Befehlslage, in der sich der Angeklagte seinerzeit befand, und das weitere Leben des Angeklagten miteinander abwägt, so muss allen diesen Punkten hinreichend Rechnung getragen werden. In d­ iesem Sinne kann es dann mit einer Bewährungsfreiheitsstrafe sein Bewenden haben. Aus der Sicht des kleinen Dezernenten stößt genau hier der Rechtsstaat an seine Grenzen. Befriedigen kann man die Angehörigen damit sicher­lich nicht. Aber immerhin, es ist hier zu einer Verurteilung gekommen, es ist Schuld festgestellt worden, wenn auch der Sühnegedanke dabei nicht hinreichend bedient worden ist. Jörg Ganzenmüller Frau Limbach, wie sehen Sie das mit den Bewährungsstrafen? Halten Sie das für richtig, dass vorwiegend Bewährungsstrafen verhängt wurden? Jutta Limbach Ich halte das für richtig. In der Berliner Justiz sind die Grenzsoldaten vorwiegend auf Bewährung verurteilt worden, während Mitglieder des Na­tionalen Verteidigungsrats durchaus Freiheitsstrafen bekommen haben, die nicht zur Bewährung ausgesetzt waren. Aber das ist natür­lich auch eine ganz andere Klientel. Ich habe das allerdings auch nur beobachtet, und ich möchte doch grundsätz­lich noch

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eine kleine Geschichte erzählen, damit Sie sehen, dass ich vielleicht gar nicht die Richtige hier oben bin, sondern dass Herr Schaefgen hier sitzen sollte. Als ich am 17. März 1989, also einen Tag, nachdem ich zur Justizsenatorin gewählt worden war, eine Abteilungsleitersitzung einberief, blieb die Abteilungsleiterin der Abteilung 1 zurück und gab mir eine Akte. Sie sagte mir, ich solle die Akte in aller Ruhe lesen, um zu verstehen, was ich überhaupt dürfe. Die Akte hieß: »Die Sieben Aufrechten«. Herr Schaefgen wird sich noch erinnern. Dabei ging es um den Versuch eines Staatssekretärs, eine bestimmte Strafverfolgung, die mit Korrup­ tion zu tun hatte, zu verhindern. Dagegen haben sich die Berliner Staatsanwälte gestemmt, da sie wussten, dass es konkrete Weisungen nicht gab. Und das habe ich mir wirk­lich zu Herzen genommen, dass man konkrete Weisungen nicht zu erteilen hatte. Selbst die Staatsanwaltschaft nicht, obwohl diese nicht die richter­ liche Unabhängigkeit genießt, auch wenn sie selbst anderer Meinung ist. Das heißt, als Politikerin kann man überhaupt nur allgemeine Weisungen erteilen. Ich kann also ledig­lich auf die Idee kommen, eine Arbeitsgruppe Regierungskriminalität einzusetzen und entscheiden, Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Das darf ich also. Aber ich darf nicht auf konkrete Fälle einwirken. So konnte ich also auch nicht auf den Fall »Honecker« einwirken und beispielsweise verlautbaren, ich wüsste, dass er wirk­lich schwer krank sei oder gar im Gegenteil sein Gesundheitszustand gar nicht so kritisch einzuschätzen sei. Das stand mir in meiner damaligen Funk­tion einfach gar nicht zu. Ich denke, auch alle anderen Justizminister und Justizsenatoren sind in d­ iesem Zusammenhang entsprechend hellhörig geworden, ohne dass ihnen die Akte der »Sieben Aufrechten« vorgelegt wurde. Jörg Ganzenmüller Herr Bardenhagen, wir haben ja heute auch schon gehört, dass man sich dazu entschieden hat, vor allem Tötungsdelikte vor Gericht zu bringen. Das hatte zur Folge, dass in erster Linie Teile der Staatsführung und die Grenzsoldaten vor Gericht standen. Das heißt, gegen weite Teile des SED-Regimes, nicht zuletzt gegen Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit gab es keine Prozesse. Als Sie angefangen haben, als Staatsanwalt in Schwerin zu arbeiten, was hatten Sie für Erwartungen, wie weit hier die Strafverfolgung gehen würde? Thomas Bardenhagen Man muss vielleicht ein bisschen differenzieren. Also, was die Masse der Verfahren anging, das waren 4775, handelte es sich um 3200 Verfahren der Rechtsbeugung. Wir waren jung, wir waren enthusiastisch, aber die tatsäch­lichen Gegebenheiten haben dann, ich will nicht sagen, zu einer Resigna­tion geführt, aber uns etwas den Enthusiasmus geraubt. Ich möchte auf ein anderes Thema zu sprechen kommen,

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weg von den Grenzsoldaten. Ein typischer Fall, der mit ausreisewilligen Bürgern der DDR zu tun hat. Ein Ehepaar geht zum Rat des Kreises beziehungsweise zum Rat der Stadt und stellt einen Ausreiseantrag. Dieser wird abgelehnt. Beide Antragsteller werden zu den zuständigen Offiziellen zitiert und darüber belehrt, dass eine Ausreise aus der DDR nicht vorgesehen ist. Auch der nächste Ausreiseantrag wird abgewiesen. Schließ­lich entscheiden sich die Antragsteller dazu, und das war eine typische Protestak­tion unter Ausreisewilligen, ihren Ausreisewunsch auch für Dritte zu dokumentieren. Sie wickeln aus einem Draht den Buchstaben A, stellen ein paar Kerzen oder Lampen darauf und legen diesen ins Fenster. Drei Stunden am Tag, drei, vier Tage hintereinander. Was passiert, ist Folgendes: Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit kommen und nehmen die beiden vorläufig fest. Sie werden über mehrere Tage verhört und es kommt zu einer Anklage wegen Verstoßes gegen § 214 Strafgesetzbuch der DDR – zu einer Anklage wegen der Beeinträchtigung staat­licher Tätigkeit. Und jetzt wird es spannend. Ich lese die Vorschrift mal vor. Sie lautet: Wer die Tätigkeit staat­licher Organe durch Gewalt oder Drohungen beeinträchtigt oder in einer, die öffent­liche Ordnung gefährdenden Weise eine Missachtung der Gesetzte bekundet oder zur Missachtung der Gesetze auffordert, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft.

In ­diesem Fall überlegt der Jurist, dass Strafnormen dem Bestimmtheitsgebot unterliegen. Das bedeutet, dass ein Mensch, der sich wie auch immer in der Gesellschaft verhält, wissen muss, unter ­welchen Grundsätzen er sich theoretisch strafbar macht. Also was wird als strafbares Verhalten sank­tioniert? Als Jurist schaue ich mir diesen Fall an und fange an zu subsummieren, das heißt, ich ordne den Sachverhalt einer recht­lichen Norm unter. Letzt­lich mussten wir mit Verweis auf die Rechtsnorm des Strafgesetzbuches der DDR feststellen, dass es sich in ­diesem Fall nicht um die Beeinträchtigung staat­licher Tätigkeit oder staat­licher Organe handelte. Letzt­lich hatten wir es hier mit Behörden zu tun, zu denen man hingeht und einen Antrag stellt. Wir konnten also weder Gewaltanwendung noch Drohungen erkennen. Ebenso wenig konnten wir eine Missachtung der Gesetze in einer »die öffent­liche Ordnung gefährdenden Weise« festmachen. Dieser Punkt wurde durch die Gerichte in der DDR besonders stark gemacht, um die Ausreisewilligen tatsäch­lich zu verurteilen. In unserem Fall ist das Ehepaar verurteilt worden. Dabei handelte es sich nur um einen von vielen derartigen Fällen. Die Frau wurde zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt, weil sie drei Kinder zu Hause hatte, die zu versorgen waren. Der Mann wiederum zu einem Jahr Haft ohne Bewährung. Und das alles für ein kleines »A« im Fenster und die

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»Beeinträchtigung staat­licher Tätigkeit«. Wir haben seinerzeit die zuständige Staatsanwältin und den zuständigen Richter angeklagt. Zunächst hat das zuständige Landgericht das Verfahren nicht eröffnet. Daraufhin haben wir sofortige Beschwerde gegen den Nichteröffnungsbeschluss eingelegt. Das Oberlandesgericht hat dann doch entschieden, dass der Fall zur Verhandlung kommt und das Verfahren eröffnet. Letztend­lich ist es dann tatsäch­lich Anfang der 1990er Jahre zu einer Verurteilung gekommen. Demnach sind der Richter und die Staatsanwältin zu Bewährungsfreiheitsstrafen von acht beziehungsweise neun Monaten verurteilt worden. Beide, also der Richter und die Staatsanwältin, sind daraufhin in Revision gegangen. Im Zuge dessen gelangte der Fall zum Bundesgerichtshof, der dann eine wegweisende Entscheidung zur Rechtsbeugung traf und diese an drei Kriterien festmachte: Erstens ist Rechtsbeugung im Hinblick auf damalige Justizangehörige der DDR immer dann anzunehmen, wenn Entscheidungen, bei denen Straftatbestände unter Überschreitung des Wortlautes des Gesetzes oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit derart überdehnt worden sind, dass eine Bestrafung als offensicht­liches Unrecht anzusehen ist. Zweitens ist Rechtsbeugung bei Entscheidungen anzunehmen, bei denen die verhängte Strafe in einem unerträg­lichen Missverhältnis zur Schuld und zu den Tatfolgen steht, wobei dies umso eher anzunehmen ist, wenn die angewandte Strafnorm nur bei weitestgehender Auslegung den zu beurteilenden Sachverhalt erfasst. Und drittens ist Rechtsbeugung bei schweren Menschenrechtsverletzungen durch die Art und Weise der Strafverfahren anzunehmen. Als Juristen erster Instanz dachten wir blauäugig, dass es sich im geschilderten Fall um Kriterium Nummer 1 handelte. Also um Entscheidungen, bei denen Straftatbestände unter Unterschreitung des Gesetzes oder des Wortlautes überdehnt worden sind. Eine derartige Norm kann also nicht jedes missliebige Verhalten fassen und so zu einer Sank­tionierung kommen. Auch das zweite Kriterium schien auf unseren Fall anwendbar zu sein: Die Strafe steht in einem unerträg­lichen Missverhältnis zur Schuld und zu den Tatfolgen. Denn die Frage stellte sich tatsäch­lich: Was war durch das Aufstellen des aus Draht gemachten »A« tatsäch­lich passiert? Es hatte keine Revolu­tion gegeben. Es waren ledig­lich abschlägige Bescheide erteilt worden. Doch der Bundesgerichtshof mahnte an, dass diese Urteile im Licht der damaligen Rechtsprechung gesehen werden müssten. So hätten die Gerichte die Wertvorstellungen zu berücksichtigen, denen die damaligen Juristen verhaftet gewesen waren. Aus ­diesem Grund traf keines der von mir zitierten Kriterien auf diesen Fall zu. Um es platt zu sagen, hatten wir es in ­diesem Moment echt satt. Bis heute kann ich es noch nicht nachvollziehen. Ich denke, man hätte auch in eine andere Richtung urteilen können. Woran es letztend­lich gelegen hat, weiß ich nicht. Vielleicht hatte man Angst, es könnte eine Welle von Verfahren auf die Justiz zukommen,

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die man gar nicht hätte stemmen können. Denn hierbei handelte es sich ja nicht um eine herkömm­liche Anklage, wie beispielsweise gegen einen Ladendieb oder gegen jemanden, der betrunken Auto fährt. Da steckt schon ein bisschen mehr Arbeit hinter, auch wenn das im Laufe der Zeit systematischer ablief. Aber wir fühlten uns durch diese Entscheidung vor den Kopf gestoßen. Uns hat es natür­ lich viel Arbeit abgenommen. 3200 Verfahren wegen Rechtsbeugung lagen vor und mit einer Standardverfügung wurden alle eingestellt. Doch bis heute verstehe ich diese Sache nicht. Auch vor dem Hintergrund, dass das Strafrecht und auch die Rechtsprechung nicht immer dazu beitragen können, tatsäch­lich begangenes Systemunrecht aufzuarbeiten. Jörg Ganzenmüller Wir haben ja vorhin diskutiert, dass man den Erfolg und Misserfolg von einer strafrecht­lichen Aufarbeitung nicht anhand der Urteile ermessen kann. Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass in ­diesem Fall die strafrecht­liche Aufarbeitung der SED-Diktatur gescheitert ist? Thomas Bardenhagen Klipp und klar: ja. Jörg Ganzenmüller Frau Limbach, wie sehen Sie das? Jutta Limbach Auch ich kann das nur bejahen. Denn Herr Bardenhagen hat ja berichtet, dass 3200 Verfahren eingestellt worden sind. Ich meine, wenn wir eine Sache spätestens im zweiten Semester lernen, dann dass im Strafrecht das Bestimmtheitsgebot gilt. Dass ich also als Bürger voraussehen muss, ob ich bestraft werde, wenn ich etwas tue oder nicht. Und d­ ieses Gebot ist hier verletzt worden. Das sehe ich genauso. Und es wundert mich, weil wir, gerade was den Volksgerichtshof anging, beim Bundesgerichtshof ganz andere Urteile erzielt haben. Aber auch die Richterschaft wechselt, vielleicht hat es damit zu tun. Ich weiß es nicht, ich kann es nicht beurteilen. Jörg Ganzenmüller Herr Riedel, Sie waren ja noch unmittelbar am Prozess gegen Erich Mielke beteiligt. Erich Mielke ist am Ende verurteilt worden wegen einer Straftat, die er in der Weimarer Republik begangen hat, also nicht wegen seiner Tätigkeit im Ministerium für Staatssicherheit. Auch das ist ja unbefriedigend. Wie würden Sie diese Tatsache beurteilen? Würden Sie hier auch von einem Scheitern sprechen?

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Joachim Riedel Ich möchte an das anknüpfen, was ich eben zu Herrn Honecker gesagt habe. Diese Entscheidung, das Verfahren gegen die Leitfigur so kaputtzumachen, hat uns alle ganz wesent­lich demotiviert. Ich selber war in Gedanken schon fahnenflüchtig. Mein Kollege Brüner, mit dem ich an besagtem Tag der Freilassung Honeckers zusammen gewesen war, wanderte nach Dresden ab und wollte mich nachholen. Am Ende habe ich dann aber doch dem Verbleib in Moabit den Vorzug gegeben. Aber dass das Verfahren gegen Honecker, als die zentrale Figur, eingestellt wurde, das hat sich ausgewirkt. Auch Erich Mielke, der zweite Mann, wurde ganz eigenartig behandelt. Auch ­dieses Verfahren war nicht sehr schlüssig und trug weiter zur Frustra­tion bei. In Bezug auf Mielke wurde ein Verfahren aus den 1930er Jahren wieder aufgenommen. Hierfür wurden Gestapo-­Protokolle mitverwertet. Das ging mir nicht in den Kopf. Formal war es keine Schwierigkeit, die Anklage wegen der Toten an der Grenze fallen zu lassen. Nach § 154 Strafprozessordnung kann ein Verfahren, das in der Entwicklung unabsehbar ist, fallen gelassen werden, wenn es zum Beispiel ein anderes Verfahren gibt, in dem schneller ein Urteil gefällt werden kann. Laut seinen Ärzten war Herr Mielke nur im Umfang von jeweils zweimal einer Stunde oder zweimal zwei Stunden pro Woche verhandlungsfähig. Also hätte sich ein Prozess in Bezug auf seine Rolle als Chef der Staatssicherheit bis zum jüngsten Tag hingezogen, wenn man das Programm der Anklage voll hätte durchziehen wollen. Formal war das Prozedere also stimmig, aber die Verurteilung wegen des Bülowplatz-­Mordes 4 war doch trotzdem nicht überzeugend zu vermitteln. Erst ab der Hierarchiestufe darunter liefen die Verfahren so, wie sie laut Lehrbuch hätten sein sollen. Ausgerechnet die Verfahren gegen die politische Spitze aber liefen aus dem Ruder. Für die Aufarbeitung des SED-Unrechts hat das ein erheb­liches Ungleichgewicht erzeugt. Daher kann ich insoweit nicht voll dahinterstehen, obwohl ich ansonsten erheb­lich mitbeteiligt war an der Aufarbeitung. Jörg Ganzenmüller Auf diesen Punkt wollte ich gerade zu sprechen kommen. Denn aus Ihrer Praxis kennen Sie ja beides, sowohl die Strafverfolgung von Unrecht des SED-Regimes als auch die Strafverfolgung von Verbrechen des Na­tionalsozialismus bei der Zentralen Stelle in Ludwigsburg. Wenn Sie vergleichen, ­welche Probleme beide Komplexe aufwerfen, wo würden Sie die Hauptunterschiede sehen? 4 Beim sogenannten Bülowplatzmord handelt es sich um den Mord an zwei Polizisten auf dem Berliner Bülowplatz, dem heutigen Rosa-­Luxemburg-­Platz, in Berlin im August 1931, an dem Erich Mielke als Mitglied des KPD-Parteiselbstschutzes beteiligt war. Einer Verhaftung und Verurteilung war er im Anschluss an die Tat durch seine Flucht in die Sowjetunion entgangen.

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Joachim Riedel Die zeit­lich spätere Aufarbeitung des SED-Unrechts war von vornherein dem Argwohn ausgesetzt, dass all das, was bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts – wie vom Bundesgerichtshof ausdrück­lich festgestellt und bekannt – versäumt oder fehlgeschlagen sei, nun bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts nachgeholt und ausgeg­lichen werden sollte. Die Aufarbeitung des NS-Unrechts zeichnete sich insbesondere dadurch aus, dass selbst bei scheuß­lichsten Massakern die unmittelbar am Geschehen beteiligten Akteure regelmäßig nur als Gehilfen eingestuft wurden, weil sie ledig­lich die Befehle der Haupttäter, wie etwa H ­ itlers, Himmlers, Heydrichs oder Görings, ausgeführt hätten. Das bedeutete, dass sie – im Verhältnis zur lebenslangen Strafe für Mord – nur zu relativ geringen Freiheitsstrafen von einigen Jahren verurteilt wurden. Frei nach dem makabren Motto: »Ein Toter, eine Sekunde Haft«. Ansonsten mussten allenfalls sogenannte Exzesstäter – bei entsprechendem Tatnachweis – mit deut­lich höheren Strafen rechnen, die über die generelle Befehlslage hinaus eigenmächtig Verbrechen begangen hatten. Nach DDR -Strafrecht hingegen, das wir der recht­lichen Bewertung von SED -Unrecht zunächst zugrunde zu legen hatten, bedeutete die eigenhändige Tatbegehung regelmäßig Täterschaft mit einer entsprechend höheren Strafdrohung. Das hätte zur Folge gehabt, dass etwa fast alle sogenannten Mauerschützen als Täter eines Mordes oder zumindest eines Totschlags – im Sinne des DDR Rechts – zu langjährigen Freiheitsstrafen hätten verurteilt werden müssen. In ­diesem Dilemma brachte der sogenannte Einigungsvertrag eine akzeptable Lösung in Form des obligatorischen Günstigervergleichs. Dieser besagte, dass das bundesdeutsche Strafrecht dann zugrunde gelegt werden muss, wenn es sich im Gesamtvergleich als günstiger erweist. Dies hatte zur Folge, dass – mit Ausnahme von nur etwa einer Handvoll von Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Strafaussetzung in besonders eklatanten Einzelfällen – nahezu alle angeklagten »Mauerschützen« ledig­lich zu einer Freiheitsstrafe bis zu maximal zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt wurden. Anfangs konnte ich als zuständiger Abteilungsleiter diese Abkehr von der Bewertung des DDR -Strafrechts für vorsätz­liche Verbrechen gegen das höchste Rechtsgut Leben nicht akzeptieren, ließ deshalb gegen einen solchen Urteilsspruch Strafmaßrevision einlegen und war dann betroffen, als der Bundesgerichtshof feststellte, so gehe das nicht, da doch alle Schützen mehr oder weniger ideolo­gisch »verbiestert« gewesen ­seien. Die Urteilsbegründung war natür­lich etwas ausführ­licher, aber das war der Kern, frei nach dem Motto: »Die können wir doch nicht alle einsperren.« Ich habe das schließ­lich akzeptiert. Und in der Rückschau, nachdem ich in der Zentralen Stelle in Ludwigsburg angefangen hatte und dort die geringfügigen »Discountpreise« für die Täter selbst von vorsätz­lichen Massentötungen

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erleben und studieren konnte, bin ich heute heilfroh, dass der Bundesgerichtshof so und nicht anders entschieden hat. Jörg Ganzenmüller Das hätte eine sehr merkwürdige und unglück­liche Unwucht gegeben, hier mit aller Härte gegen die Mauerschützen vorzugehen, während die Täter des Massenmords im öst­lichen Europa während der na­tionalsozialistischen Besatzung, wie sie sagen, mit sehr viel geringeren Strafen davongekommen waren. Ich würde die Diskussion gerne öffnen, um Ihnen die Mög­lichkeit zu geben, Fragen an unsere Podiumsteilnehmer zu stellen. Peter Maser (Emeritierter Professor für Kirchengeschichte und Christ­liche Archäologie an der Universität Münster, Vorsitzender des Wissenschaft­lichen Beirats der Stiftung Ettersberg) In der Debatte über die NS-Zeit und ihre Aufarbeitung spielt ja der Begriff des »Schreibtischtäters« eine große Rolle. War dieser Begriff bei der juristischen Aufarbeitung der SED-Diktatur in irgendeiner Weise relevant, oder ist es ein Begriff, an dem sich die Zeitgeschichte abarbeitet? Thomas Bardenhagen »Schreibtischtäter« hat es immer gegeben und wird es wahrschein­lich auch immer geben. Es ist sicher­lich eine Frage der Defini­tion. Wer ist ein »Schreibtischtäter«? Ein Täter, ist das nur derjenige, der unmittelbar agiert, oder auch der, der in seinem Büro sitzt. Nehmen wir einmal den Leiter der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, der ledig­lich Befehle und Direktiven ausgibt. Das kann man schlecht fassen ohne eine tragbare Defini­tion. Einen »Schreibtischtäter« im eigent­lichen Sinne kenne ich eigent­lich nicht. Entweder hat eine Person mit einer Strafsache zu tun und muss dafür Verantwortung tragen oder eben nicht. Den Begriff »Schreibtischtäter«, den kennt das Gesetz nicht. Selbst wenn der Täter am Schreibtisch sitzt und dafür Verantwortung trägt, dass Unrecht passiert, ist er im ureigent­lichen Sinne Täter. Joachim Riedel Der Begriff »Schreibtischtäter« beschränkt sich im Wesent­lichen wohl auf die Aufarbeitung des NS -Unrechts und betrifft in erster Linie die Angehörigen des Reichssicherheitshauptamtes als der »Mordzentrale« des NS -Regimes. Generell ist es besonders schwierig, die für ein arbeitsteiliges Verbrechen verantwort­lichen Hintermänner und Befehlsgeber, wenn überhaupt, dann auch noch sachgerecht

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zu erfassen, zumal dann, wenn sich die Befehlskette über mehrere Stufen erstreckt und die erteilten Befehle zur Spitze hin immer allgemeiner formuliert werden. Für den Fall des NS -Unrechts ist das Problem umso gravierender, da ausgerechnet die »Schreibtischtäter« insbesondere im Reichssicherheitshauptamt durch einen ganz üblen Trick im Gesetzgebungsverfahren von der anschließend drohenden Strafverfolgung ausgenommen worden sind. Im Rahmen des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz beschloss der Bundestag 1968 eine Änderung der Beihilfevorschriften des Strafgesetzbuches, die vermeint­lich völlig unproblematisch sein sollte, sich dann aber als heimtückischer Anschlag auf die Strafverfolgung des NS -Unrechts entpuppte. Mit einem Schlag wurden näm­lich weite Teile der Beihilfe von der Verjährungsfrist für die Haupttat ausgenommen und einer kürzeren Verjährungsfrist zugeordnet, sodass fast alle Verfahren gegen ehemalige Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes eingestellt werden mussten. Das müssen ein paar »Könner« gewesen sein, die dem Bundestag vorgemacht haben, bei der vorgeschlagenen Änderung der Beihilfevorschriften des Strafgesetzbuches handele es sich um eine völlig unbedenk­liche, partielle vorgezogene Änderung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches. In Wirk­lichkeit war es ein ganz schlimmer Trick, mit dem der Bundestag arglistig »über den Tisch gezogen« und ausgerechnet die ohnehin schon äußerst diffizile Verfolgung der Angehörigen exponierter Posi­tionen im NS -Regime mit einem Schlag weitgehend zu Fall gebracht wurde. Diese Regelung hat meines Erachtens der Aufarbeitung des NS -Unrechts den gravierendsten Schlag versetzt. Nun kurz auch noch zum SED -Unrecht: Der Begriff des »Schreibtischtäters« passt an sich auch dort auf ähn­liche Aspekte, ist aber meines Erachtens nicht so geläufig. Ich denke hier insbesondere an die militärischen Strukturen in der Befehlskette. Die sogenannten Jahresbefehle des Verteidigungsministeriums inklusive der jeweiligen Formulierungen des sogenannten Schießbefehls auf dem Hintergrund der Vorgaben des Na­tionalen Verteidigungsrates reichten über die militärischen Zwischenstufen bis hinab zu den Grenzregimentern und wurden von dort an die einzelnen Grenzkompanien weitergegeben. Diesem Stufensystem entsprechend hat die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität in Berlin versucht, die strafrecht­ liche Verantwortung der Angehörigen aller dieser Ebenen für die Todesfälle an der Grenze in mehreren ihrer Abteilungen zu überprüfen, angefangen beim Natio­nalen Verteidigungsrat und bis hinab zum einzelnen Postenpaar. Jörg Ganzenmüller Ihr Beispiel der Änderung der Beihilfevorschriften des Strafgesetzbuches von 1968 verweist noch einmal gut auf das, was wir heute auch schon diskutiert haben: Dort, wo die Elitenkontinuität hoch ist, wird mit harten politischen

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Bandagen gekämpft, um die Strafverfolgung auszuhebeln. Das ist ein ganz bekanntes Beispiel dafür. Gerhard Sälter Man muss, glaube ich, sehr betonen, dass die Justiz, und das gilt sowohl für die Staatsanwaltschaften als auch für die Gerichte, nicht nur bei den Mauerschützenprozessen, sondern überhaupt innerhalb des DDR -Unrechtskomplexes äußerst skrupulös gearbeitet hat. Sowohl was die Beweiswürdigung angeht als auch die juristische Bewertung. Justizpolitisch spielte hier sicher­lich die Überlegung eine Rolle, die Urteils- und die Anklagepraxis so zu modifizieren, dass man ­dieses Mal eben auch die »oben« drankriegt. Aber gerade ­dieses Skrupulöse hat ja zu diesen vielfachen Protestak­tionen, die Sie auch beschrieben haben, beigetragen. Sowohl bei den Staatsanwaltschaften als auch bei dem einen oder anderen Richter und ganz definitiv bei den Verwandten der Opfer. Ich fürchte, damit wird man einfach leben müssen. Der zweite Punkt ist noch gar nicht angesprochen worden, auch gestern nicht, und zwar der Aspekt von Sühne. Ich hatte den Eindruck, und der ist mir von verschiedenen, insbesondere auch von Staatsanwälten, bestätigt worden, dass gerade die einfachen Täter, also der einfache Grenzsoldat, der zum Mauerschützen geworden ist, zum Teil sehr erleichtert waren, vor Gericht gekommen zu sein. Ich selber kann das nicht beurteilen, aber so wurde es mir vermittelt. Es geht darum, dass diese Täter durchaus eine individuelle Schuld verspürt haben und eine Erleichterung empfunden haben, dass sie vor Gericht gekommen und abgeurteilt worden sind. Natür­lich waren sie auch erleichtert, dass wenige von ihnen ins Gefängnis mussten. Öffent­lich hat man das nicht so richtig wahrnehmen können, nicht zuletzt, da diese Menschen ja auch unter dem Einfluss von Anwälten standen und man so etwas nicht öffent­lich in den Zeitungen kundtut. Jutta Limbach Zur letzten Frage kann ich nichts sagen, also ob das tatsäch­lich als Sühne von den Grenzsoldaten begriffen worden ist und sie darum froh waren, dass sie angeklagt wurden. Aber was man auf alle Fälle sagen kann, ist, dass es in den neuen Bundesländern ein großes Verständnis für den Umgang der westdeutschen Justiz mit den Mauerschützen gab. Ganz persön­lich kann ich von der Zeit berichten, als die ersten vier Mauerschützen in Berlin in Untersuchungshaft genommen worden waren. Ich stellte fest, dass sie genau im Alter meiner Söhne waren. Und meine Söhne waren auch beide bei der Bundeswehr. Nun habe ich mich gefragt, und das, denke ich, hat vielfach eine Rolle gespielt: Wie hätten wir uns alle in der Situa­tion verhalten? Die Westdeutschen haben wohl begriffen, dass sie privi­ legiert waren, weil sie einfach mit den west­lichen Besatzungsmächten besser

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zurechtkamen und diese im Grunde genommen geholfen hatten, eine freie Presse zu schaffen und sehr viel zum Wirtschaftswunder beigetragen haben. Ganz im Gegensatz zum Umgang mit den na­tionalsozialistischen Verbrechen. Hier war ich selbst im Richterwahlausschuss, weil wir über den Elitenwechsel gesprochen haben. Berlin war sehr streng. Dort wurden nur dreizehn Richter übernommen und ganz wenige Staatsanwälte, ich glaube, einer oder zwei. Dieses Argument hat bei den Kollegen immer eine Rolle gespielt: Wie hätte ich mich in der Situa­tion verhalten? Konnte man ­dieses Ethos der richter­lichen Unabhängigkeit in einer Diktatur überhaupt entwickeln? Alle diese Fragen haben eine Rolle gespielt, und ich nehme an, sie sind auch durch die Köpfe der Staatsanwälte und der Gerichte gegangen. Und das erklärt zum Teil auch diese minderen Strafen gegenüber den Grenzsoldaten. Während ja bei den Mitgliedern des na­tionalen Verteidigungsrats, wenn ich das richtig im Kopf habe, keine Bewährungsstrafen ausgesprochen worden sind, sondern die Angeklagten vielfach in den offenen Vollzug gekommen sind. Obgleich schon das eine Erleichterung und ein Privileg war, da sie dann ins schöne Spandau oder nach Lichterfelde gekommen sind und am Tag immer frei waren, das zu tun, worauf sie gerade Lust hatten. Sie wissen, dass d­ ieses Verfahren bis hinauf zum Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangte und dass das Berliner Landgericht beginnend beim Bundesgerichtshof über das Bundesverfassungsgericht bis hin zum Euro­päischen Gerichtshof für Menschenrechte überall bestätigt worden ist. Bei den Angeklagten handelte es sich um eine wichtige Gruppe, die meines Erachtens, weil es ja gerade um die Schüsse an der Mauer ging, für das Gerechtigkeitsgefühl in den neuen Ländern viel zentraler war als Honecker und Mielke. Die wiederum wurden ja beide als Mitglieder der Geronto­ kratie betrachtet. Und Mielke hat wirk­lich mit großer Tüchtigkeit den Idioten gespielt. An ihm sah man, dass der Unterricht der Stasi vom Direktor selber gut internalisiert worden war. Der machte das so fabelhaft, dass da offenbar, ich habe das ja nur gesehen und durch die Zeitungsberichte erfahren, niemand herankam. Joachim von Puttkamer Herr Bardenhagen, Sie haben von dem großen Enthusiasmus gesprochen, mit dem Sie am Anfang an die Aufgabe herangegangen sind. Und mir geht bei den Dingen, die wir jetzt hier diskutieren, durch den Kopf: Hatten Sie überhaupt die Zeit, die gesellschaft­liche Funk­tion, die Sie als Ankläger hatten, so differenziert zu reflektieren, wie wir das jetzt hier machen? Und wenn ja, in welcher Form passierte das? Frau Limbach hat eben gesagt, und das wird Ihnen sicher­lich auch durch den Kopf gegangen sein, dass man eine bestimmte Verantwortung in die eine oder andere Richtung hat. Gerade mit Blick auf meine eigene historische Forschung würde mich etwas differenzierter interessieren, wo Sie die Verbindungen

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­zwischen gesellschaft­lich verankerten Moralvorstellungen, spezifischen Rollen­ vorstellungen von Anklägern und tatsäch­licher juristischer Praxis eigent­lich sehen. Wie funk­tioniert das? Thomas Bardenhagen Ich will die Frage vielleicht so beantworten: Wir waren alle jung. Wir waren Berufsanfänger und hatten es mit völligem Neuland zu tun. Man ist zwar juristisch ausgebildet worden, aber man muss sich plötz­lich inhalt­lich mit einem ganz anderen Rechtssystem beschäftigen, sprich mit den Strafnormen eines anderen Rechtssystems. Was kann man also daraus machen? Kommen wir zu einer gewissen Sank­tionspraxis oder nicht? Wir haben natür­lich im Hinterkopf gehabt, dass die strafrecht­liche Aufarbeitung des NS-Regimes gescheitert war. Und wir waren natür­lich bestrebt oder sind von dem Gedanken beseelt gewesen, dass das nicht noch einmal passieren sollte. Wir wollten hier mög­lichst nachvollziehbar, nach außen hin erkennbar sauber und objektiv ermitteln und zum Ausdruck bringen, dass derjenige, der Schuld auf sich geladen hat, auch tatsäch­lich bestraft wird. Das war der Gedanke, von dem wir beseelt waren. Wir haben in dieser Form eine gewisse gesellschaftspolitische Rolle gesehen, weil wir mit unserer Tätigkeit, mehr als es uns lieb war, im Fokus der Öffent­lichkeit standen, die uns sehr kritisch begleitet hat. Es gibt ja immer zwei Lager: die einen, die unsere Arbeit befürworteten, und die anderen, die sagten: »Um Gottes Willen, was macht ihr denn da, ihr Christenverfolger?« Dieser Aufgabe oder dieser Funk­tion waren wir uns durchaus bewusst. Auch wenn wir nicht jeden Tag darüber reflektieren konnten, ob denn das, was wir gerade in den Akten verfügen oder diktieren, einen entsprechenden Einfluss auf eine gewisse Meinungsbildung in der Gesellschaft hatte. Jutta Limbach Ich habe gestern mit Interesse gehört, dass immer wieder vom öffent­lichen Bewusstsein, von einer Akzeptanz die Rede war. Es ist natür­lich sehr schwierig, über die Verfolgung der Gewaltakte an der innerstaat­lichen Mauer zu sprechen. Sie und auch andere wurden von einem erheb­lichen Wechsel des Meinungsklimas beeinflusst. Auf einmal saßen mir Interviewpartner gegenüber, die stark an der Tätigkeit der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität zweifelten. Das waren die gleichen Leute, die vorher nicht herzhaft genug die Strafsachen verfolgen konnten. Wenn man von öffent­lichem Bewusstsein spricht, kann man eigent­lich nur von den Intellektuellen, die sich in Zeitungen äußern, sprechen. Das macht es sehr schwierig. Zumeist und vor allem zum Schluss war es tatsäch­lich so, dass die Linksintellektuellen der Meinung waren, dass wir etwas tun, was wir besser ließen. Denn schließ­lich ­seien ja auch viele Nazis nach 1955 vom Rechtsstaat integriert

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worden. Sie argumentierten also, warum sollte das Gleiche bei den Menschen aus der DDR nicht glücken? Diese Forderungen nach Akzeptanz, nach einem öffent­ lichen Bewusstsein oder nach gesellschaft­lichen Diskursen werden immer gerne gestellt, aber sie tatsäch­lich durchzuführen ist absolut schwierig. Ich hätte damals gerne gewusst, was die nicht links, nicht rechtsgerichtete, sondern die allgemeine Gesellschaft darüber denkt. Aber das habe ich nicht erfahren. Joachim Riedel Eben fiel der Ausspruch: »Die Aufarbeitung des NS-Unrechts ist gescheitert.« Ich möchte den Ausdruck des »Scheiterns« nicht auf die gesamte Aufarbeitung des NS-Unrechts ausweiten, das muss differenzierter gesehen werden, weil der Aufarbeitung eine ganze Reihe von Hindernissen entgegenstanden. Während einige ohne großen Aufwand hätten beseitigt werden können, hätte man auf andere Probleme unter großem Einsatz und großer Bereitschaft, wie etwa bei der Regelung zur Verjährung, einwirken können. Wieder andere Hindernisse, wie einige Vorbehalte seitens der Alliierten, waren allerdings erst einmal gar nicht zu lösen. Für die Aufarbeitung des SED-Unrechts stellten sich demgegenüber ja im Grunde mehr oder weniger ideale Ausgangsbedingungen. So lag die Tatzeit meist nur frisch zurück und nur wenige Archive waren geplündert worden. Bedenken Sie dagegen die tausend Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts. Zwar sind ungefähr achtzig Prozent der Verurteilungen in Bezug auf NS-Unrecht durch deutsche Gerichte bereits bis 1950 ergangen, aber ganz überwiegend wegen Verbrechen im lokalen Umfeld und im Nahbereich und kaum wegen der Massenverbrechen. Diese wurden erst Gegenstand der späteren Ermittlungen, insbesondere nach Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg im Jahr 1958. Aber das war dann, insgesamt gesehen, nur noch ein kläg­licher Rest. Betrachten wir die Zahlen, so ist es »mickrig«, was die westdeutsche Justiz in den Jahren von 1950 bis heute zustande gebracht hat. Noch heute wird gegen uralte Täter von damals immer weiter ermittelt. Ich habe zunehmend Skrupel, mich dafür auszusprechen. Bedenken Sie zudem die immer problematischere Beweislage. Mir ist niemand bekannt, der gesagt hat: »Jawohl, das habe ich getan. Ich habe alle Juden umgebracht, die mir vor die Augen kamen.« Alle haben versucht, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Bis heute sucht die Zentrale Stelle weltweit nach Dokumenten über NS-Verbrechen, die seinerzeit im und nach dem Krieg über alle Lande verstreut wurden. Ich selbst habe fünfmal in Archiven in der Ukraine und einmal in Moskau nach solchen Dokumenten recherchiert. Ein weiteres wichtiges Beweismittel sind Zeugen. Die einzigen Zeugen, die zu verschiedenen Fällen etwas sagen konnten, waren inzwischen nach Australien oder Südamerika ausgewandert. Die mussten erst ausfindig gemacht werden. Damals sind der Bundestag und die Bundesregierung

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auf die Idee gekommen, dass wir selbst diese Zeugen gar nicht ausfindig machen können. Deshalb sollten weltweit alle Instanzen angesprochen werden, Auskünfte über potentielle Zeugen zu beschaffen und an die deutsche Justiz zu melden. Das war 1964 im Zusammenhang mit der Verjährungsdebatte. Die Täter selbst waren teilweise untergetaucht, lebten inzwischen ebenfalls in Südamerika oder sonst wo. Besonders geschickt war die Vorgehensweise vieler Täter, sich von ihrer Frau für tot erklären zu lassen. Danach tauchten sie unter einem anderen Namen wieder auf und heirateten ihre Frau unter neuem Namen erneut. Bis auf wenige Ausnahmen haben die Täter in der Regel bis zum letzten Atemzug frei gelebt, ohne Strafverfolgung. Auch die Verjährung stand der Strafverfolgung – zunächst scheinbar felsenfest und unumkehrbar – entgegen. Erst nach Jahrzehnten war es nach ­harten politischen Auseinandersetzungen – und auch nur in tastenden Schritten – end­lich mög­lich, sich auf eine Änderung der Verjährungsregeln zu verständigen. Schließ­lich darf allerdings auch nicht verschwiegen werden, dass es daneben auch Schwierigkeiten gab, die man zumindest mit gutem Willen ohne weiteres hätte überwinden können. Dabei denke ich auch an die vorsätz­lich bereiteten Hindernisse in Form von Widerstand gegen Ermittlungen – gerade durch die Justiz und die Polizei – bis hin zu Boykott und Obstruk­tion, in besonders schlimmer Form erfolgt durch die vorhin bereits angesprochene Änderung der Beihilfevorschriften im Einführungsgesetz von 1968 zum Ordnungswidrigkeitengesetz. Christiane Kuller (Professorin für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik an der Universität Erfurt, Mitglied des Vorstands der Stiftung Ettersberg) Meine Frage betrifft das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Justiz. Hier auf der Tagung waren sowohl Juristen als auch Historiker vertreten. Gleichzeitig mit Ihnen haben sich Heerscharen von Historikern in die Archive begeben und ähn­liche Sachverhalte untersucht. Wie würden Sie das Verhältnis z­ wischen histo­ rischen und juristischen Ergebnissen einschätzen? Jutta Limbach Es besteht durchaus der Wunsch, dass die Rechtswissenschaft immer auch Kontakt zur Historie hält. Da gab es eine große beispielhafte Auseinandersetzung ­zwischen dem Bundesgerichtshof und dem Verfassungsgericht im Zusammenhang mit dem 131er Gesetz.5 Die alten Herren des Bundesgerichtshofes haben damals 5 Als »131er« werden umgangssprach­lich alle Staatsdiener bezeichnet, die infolge der Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges arbeitslos geworden waren und Anspruch auf Weiterbeschäftigung erhoben. Darunter fielen in erster Linie Staatsdiener, wie Beamte, Hochschullehrer oder

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gesagt, dass es überhaupt gar keine Rolle spielt, ob ein Richter in der Diktatur tätig ist oder in einer Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen dagegengehalten und gesagt, es spielt sehr wohl eine Rolle, ob diese Herren innerhalb einer Diktatur oder innerhalb einer Demokratie tätig sind. Das war beispielhaft für diese Auseinandersetzung. Aber ich gebe zu, dass wir weitgehend noch dabei sind, Werbung für eine engere Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft zu machen. Katharina Lenski Ich habe das Gefühl, dass wir uns ein bisschen im Kreis drehen und deshalb habe ich mich auch etwas ener­gischer gemeldet. Wenn ich Ihren Ausführungen folge, dann ist immer von ­diesem losen Ende, also dieser Ratlosigkeit die Rede, wie man Menschen, die entgegen der Menschlichkeit ihre Handlungsspielräume ausgenutzt haben, dazu bringen kann, ihr Handeln zu reflektieren. Sie sprechen davon, diese in die Gesellschaft zu integrieren. Mein Eindruck war aber vielmehr, dass diese Menschen, von denen wir sprechen, also die, die integriert werden sollen, bereits bestens in die Gesellschaft integriert waren und es auch heute noch sind. Diejenigen wiederum, die in der DDR oder auch in anderen Gesellschaften ausgeschlossen worden sind, also die stigmatisiert wurden, hätten wesent­lich mehr Chancen bekommen müssen, um wieder Fuß zu fassen und Zutrauen in diese Gesellschaft und in das politische System zu bekommen. Und damit bin ich bei der anderen Seite der Medaille bei der strafrecht­lichen Verfolgung der Täter, näm­lich bei der Rehabilitierung. Mir ist es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sehr oft begegnet, dass Menschen, die ganz offensicht­lich politisch verfolgt worden sind, beweisen mussten, dass es sich in ihrem Fall tatsäch­lich um eine politische Verfolgung gehandelt hat. Und damit war das noch lange nicht abgehakt und ist oft an den verschiedenen Wahrnehmungsebenen gescheitert; näm­lich, dass das, was sie erlebt haben, auch tatsäch­ lich wahrgenommen worden ist. Wenn man weiter denkt, wie man mit Diktaturen umgehen kann, dann sollte man den Schwerpunkt genau auf diese gesellschaft­lichen Personengruppen legen, die ausgegrenzt worden sind. Denn die ganze Zeit haben wir über Gruppen geredet, die innerhalb der DDR integriert gewesen sind. Thomas Bardenhagen Frau Lenski, vielleicht zu Ihrem letzten Punkt, was die Rehabilitierung von Betroffenen angeht: Ich kann natür­lich nur für die Staatsanwaltschaft Schwerin sprechen. Richter. Das 131er Gesetz besagt, dass alle öffent­lich Bediensteten, die beim Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, wieder eingestellt werden durften.

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Sämt­liche Menschen, die aufgrund des politischen Strafrechts der DDR verurteilt worden sind und die einen Antrag gestellt haben, sind ausnahmslos rehabilitiert worden. Das ist das eine. Ich habe nicht einen Fall kennengelernt, wo unser »Reha-­ Amt«, wie man so schön sagt, die Rehabilitierung versagt hat. Zum anderen Punkt, den sie angesprochen haben, dass die Täter in der Gesellschaft sozial integriert waren, während die Opfer stigmatisiert und ausgegrenzt wurden: Was Sie fordern beziehungsweise postulieren, kann die Strafjustiz nicht leisten. Wir verfolgen Straftäter, und wir sorgen natür­lich auch dafür, da gibt es inzwischen entsprechende Gesetze, dass Opfer entsprechend entschädigt werden. Aber was die ­soziale Integra­tion angeht, da sind wir, denke ich, überfordert. Franz-­Josef Schlichting, Schlusswort (Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen) Ich denke, wir stehen am Ende eines inhalt­lich, aber auch zeit­lich sehr umfangreichen Symposiums. Sowohl Ihr Interesse, Ihre zahlreiche Teilnahme, als auch die Intensität und das Niveau der Diskussion zeigen, dass wir ein wichtiges, richtiges und ein relevantes Thema ausgewählt haben. Zudem hat das Symposium gezeigt, dass es in einer Weise konzipiert und angegangen wurde, die es spannend, lehrreich, interessant und erkenntnisreich hat werden lassen. Es wäre jetzt sicher­lich ein Leichtes, das Diktum von Bärbel Bohley, was eingangs ausgeführt wurde und was sinngemäß etwa lautet: »Gerechtigkeit wollten wir haben und den Rechtsstaat haben wir bekommen«, zu bejahen und die Enttäuschung hier noch einmal aufzugreifen und zu perpetuieren. Aber genau das Gegenteil möchte ich tun. Die Aussage: »Wir haben den Rechtsstaat bekommen«, ist doch eigent­lich etwas Wunderbares. Dabei handelt es sich um eine frohe Botschaft, die ein hohes Gut berührt. Besonders der vergleichende Blick in die verschiedenen Länder Europas hat noch einmal deut­lich gemacht, dass der deutsche Rechtsstaat, den wir bekommen haben, ein großer Gewinn für d­ ieses Land, in dem wir uns gerade befinden und aufhalten, ist. Wir können den deutschen Rechtsstaat in seiner relativen Perfek­tion als großen Gewinn betrachten, auch im Hinblick auf die Geschwindigkeit, in der er installiert werden konnte. Und er ist auch ein Gewinn in Bezug auf den Elitenaustausch, der stattgefunden hat. Über den wir gehört haben, dass er zum einen einmalig war, und sich zum anderen als sehr wichtig für die Rechtsprechung und die Bearbeitung der Fälle erwiesen hat. Natür­lich haben wir gemerkt, und das ist ja eingangs bereits von Frau Limbach prognostiziert worden, dass die Mög­lichkeiten der strafrecht­lichen Aufarbeitung sehr begrenzt, sozusagen eng betoniert sind. Da hat es viele Enttäuschungen gegeben, es sind Erwartungen nicht erfüllt worden, die gar nicht erfüllt werden konnten. Und gerade weil das so ist, ist es, glaube ich, umso wichtiger, dass wir im Bereich der

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zeitgeschicht­lichen Forschung, der Erinnerungskultur, der politischen Bildung, der öffent­lichen Diskussion und der gesellschaft­lichen Diskurse, dass wir also in all diesen Bereichen, aus denen ja Vertreter heute hier vertreten sind, unsere Arbeit machen, um dem Thema gerecht zu werden. Auf dass wir uns durch das Symposium ermutigt und inspiriert fühlen, dort weiterzuarbeiten und an diesen ­Themen weiter dranzubleiben. Dazu will ich Sie auch im Namen der Veranstalter ermutigen und einladen.

Autorinnen und Autoren

Capdepón, Ulrike, geboren 1978 in Madrid, Dr. phil., promovierte 2011 in Politischer Wissenschaft an der Universität Hamburg und am Institut für Lateinamerika-­ Studien (ILAS) des German Institute of Global and Area Studies (GIGA). Sie war Marie-­Curie-­Fellow am Center for Human Science and Humanities (CCHS) des Spanish Na­tional Research Council (CSIC ) in Madrid und Postdoctoral Research Fellow an der Universität Konstanz an einem European Research Council (ERC)-Projekt zu »Narrativen des Terrors und des Verschwindenlassens«. Derzeit forscht sie am Institute for the Study of Human Rights (ISHR) der Columbia University in New York. Ihre Forschungsgebiete sind Menschenrechte, Diktaturund Gewaltforschung und die Auseinandersetzung mit belasteter Vergangenheit in Spanien und Lateinamerika. Publika­tionen (Auswahl): Die späte Auseinandersetzung mit der Franco-­ Vergangenheit: Von der Transi­tion ohne transi­tional justice zum Kampf gegen die Straflosigkeit in Spanien. In: Anja Mihr/Gert Pickel/Susanne Pickel (Hrsg.): Transi­tional Justice. Aufarbeitung von Unrecht. Rechtsstaat­lichkeit und Demokratie. Berlin/Heidelberg (i. E.); Vom Fall Pinochet zu den Verschwundenen des Spanischen Bürgerkrieges. Die Auseinandersetzung mit Diktatur und Menschenrechtsverletzungen in Spanien und Chile. Bielefeld 2015; Die Verschwun­ denen des Spanischen Bürgerkriegs: Zwischen globalen Normen und lokalen Erinnerungsdiskursen. In: WeltTrends. Zeitschrift für interna­tionale Politik 68 (2009), S. 13 – 18. Freimüller, Tobias, geboren 1973 in Herdecke, Dr. phil., studierte von 1994 bis 2001 Geschichte, Germanistik, Pädagogik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-­ Universität Bochum. 2007 wurde er mit einer Arbeit zu Alexander Mitscher­lich an der Universität Jena promoviert. Zwischen Winter 2010 und Frühjahr 2011 war er Heuss Lecturer und Assistant Professor an der New School for Social Research in New York. 2012 nahm er ein Fellowship am Franz Rosenzweig Minerva Center for German-­Jewish Literature and Cultural History an der Hebrew University Jerusalem an. Seit 2005 ist er Wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena. Publika­tionen (Auswahl): Wie eine Flaschenpost. Alexander ­Mitscherlichs Dokumenta­tion des Ärzteprozesses 1946/1947. In: Zeitgeschicht­liche Forschungen/ Studies in Contemporary History 7 (2010) 1, S. 145 – 151; Alexander ­Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler. Göttingen 2007;

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Mediziner: Opera­tion Volkskörper. In: Norbert Frei (Hrsg.): Karrieren im Zwie­licht. Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt am Main/New York 2001, S. 13 – 69 (22002); Taschenbuchausgabe: Hitlers Eliten nach 1945. München 2003, 32007. Ganzenmüller, Jörg, geboren 1969 in Augsburg, Dr. phil. habil., studierte z­ wischen 1992 und 1999 Neuere und Neueste Geschichte, Osteuro­päische Geschichte und Wissenschaft­liche Politik an der Albert-­Ludwigs-­Universität in Freiburg. Zwischen 2000 und 2001 und z­ wischen 2002 und 2004 war er Wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Osteuro­päische Geschichte an der Universität Freiburg. 2003 erfolgte seine Promo­tion an der Universität Freiburg mit einer Studie zum belagerten Leningrad. Von 2004 bis 2010 war er Wissenschaft­licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuro­päische Geschichte der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena. Von 2008 bis 2009 war er Stipendiat des Historischen Kollegs in München und habilitierte 2010 an der Universität Jena zum polnischen Adel in den west­lichen Provinzen des Rus­sischen Zarenreichs. Zwischen 2010 und 2014 war er Vertreter des Lehrstuhls für Osteuro­päische Geschichte an der Universität Jena. Seit 2014 ist Jörg Ganzenmüller Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar. Publika­tionen (Auswahl): gemeinsam mit Raphael Utz (Hrsg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten ­zwischen Mahnmal und Museum (Euro­päische Diktaturen und ihre Überwindung, 22). Köln/Weimar/Wien 2016; gemeinsam mit Raphael Utz (Hrsg.): Sowjetische Verbrechen und rus­sische Erinnerung. Orte – Akteure – Deutungen (Europas Osten im 20. Jahrhundert, 4). München 2014; Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern (Krieg in der Geschichte, 22). Paderborn u. a. 2005, 2., durchges. Aufl. 2007. Kiechle, Martin, M. A., geboren 1986 in Stollberg (Sachsen), studierte von 2006 bis 2012 Neuere Geschichte, Germanistik und Religionswissenschaft an der Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena. Seit 2013 ist er Doktorand am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena im Rahmen des Forschungsprojektes über »Die Jenaer Psychiatrie im 20. Jahrhundert«. Lenski, Katharina, geboren 1965, Dr. des., studierte von 1985 bis 1987 Human­ medizin und war nach ihrer politischen Exmatrikula­tion in der Berliner »Kirche von unten« aktiv. Seit 1991 baute sie das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« in Jena auf und leitete ­dieses bis 2011, das im selben Jahr mit dem Thüringer Archivpreis geehrt wurde. Nach ihrer beruf­lichen Rehabilitierung im Jahr 2001 studierte Katharina Lenski in Jena Neuere und Neueste Geschichte, Soziologie und Erziehungswissenschaft und schloss 2015 ihre Promo­tion zum

Autorinnen und Autoren  |

Thema »Kommunika­tionsräume. Die Staatssicherheit an der Universität Jena (1968 – 1989)« bei Prof. Dr. Lutz Niethammer mit Auszeichnung ab. Seit 2017 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg der Universität Jena »Die DDR und die europäischen Diktaturen nach 1945: Soziale Integration und politische Repression in vergleichender und verflechtungsgeschichtlicher Perspektive«. Publika­tionen (Auswahl): Kommunika­tionsraum Universität. Die Staatssicherheit an der FSU 1968 – 1989. Disserta­tion, Jena 2015 (i. E.); Uniwersytet i tajne służby w NRD i PRL pomiędzy budową a upadkiem muru. Wzajemne powiązania i porównanie na przykładzie uniwersytetu w Jenie [Universität und Geheimpolizei in der DDR und der VR Polen ­zwischen Mauerbau und Mauer­ fall. Fragen zu Verflechtung und Vergleich am Beispiel der Universität Jena]. In: Sebastiana Ligarskiego/Krzysztofa Ruchniewicza/Dariusza Wojtaszyna (Hrsg.): Ideologiczna współpraca. Władze wobec środowisk opiniotwórczych w PRL i NRD [Ideolo­gische Zusammenarbeit. Die Staatsorgane angesichts meinungsbildender Personengruppen in der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik]. Wrocław 2016, S. 110 – 126; Der zerbrochene Spiegel. Methodische Überlegungen zum Umgang mit Stasi-­Akten. In: Joachim von Puttkamer/Stefan Sienerth/Ulrich A. Wien (Hrsg.): Die Securitate in Siebenbürgen. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 116 – 136. Limbach, Jutta, geboren 1934 in Berlin, gestorben 2016 in Berlin, Dr. iur. habil., studierte ­zwischen 1958 und 1962 Rechtswissenschaft in Berlin und Freiburg. Von 1963 bis 1966 war sie Wissenschaft­liche Assistentin am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, wo sie 1966 promovierte. Von 1966 bis 1969 war sie Habilita­tionsstipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und habilitierte 1971 an der FU Berlin. Ab 1972 war sie Professorin für Bürger­liches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin. Zwischen 1989 und 1994 war sie Senatorin für Justiz des Landes Berlin und von 1994 bis 2002 die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Darüber hinaus war sie von 2002 bis 2008 Präsidentin des Goethe-­Instituts. Von 2005 bis 2006 gehörte sie der Groups of Wise Persons zur Entwicklung von Strategien zur langfristigen Wirksamkeit des Euro­päischen Gerichtshofs für Menschenrechte an und war von 2005 bis 2016 Vorsitzende der Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz. Publika­tionen (Auswahl): gemeinsam mit Joachim Gauck und Alexander Neville: Wahrheitspolitik in Deutschland und Südafrika. Drei Pfade zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Hannover 2001; »Im Namen des Volkes«. Macht und Verantwortung der Richter. Stuttgart 1999; Recht und Unrecht in der Justiz der DDR. In: ZRP (1992), S. 170 – 175.

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von Puttkamer, Joachim, geboren 1964 in München, Dr. phil. habil., studierte z­ wischen 1986 und 1994 Neuere und Osteuro­päischen Geschichte sowie VWL an den Universitäten Freiburg und London. Von 1994 bis 2002 war er Wissenschaft­ licher Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Osteuro­päische Geschichte an der Universität Freiburg, wo er 1994 promoviert und im Jahr 2000 habilitiert wurde. Seit 2002 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Osteuro­päische Geschichte an der Friedrich-­Schiller-­Universität Jena und seit 2010 Kodirektor des Imre-­Kertész-­ Kollegs »Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich« an der Universität Jena. Publika­tionen (Auswahl): Der Mythos vom »dicken Strich«. Der 24. August 1989 und der Anfang vom Ende der Staatssicherheit. In: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 7 (2013/2014), S. 34 – 66; Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010 (Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 38). Sälter, Gerhard, geboren 1962, Dr. phil., studierte ­zwischen 1984 und 1992 Geschichte, Philosophie und Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin, wo er 1999 promovierte. Von 1999 bis 2001 war er Freier Wissenschaft­licher Mitarbeiter der Gedenkstätte Bautzen und des Landesbeauftragten für die Stasi-­Unterlagen in Sachsen. Seit 2001 ist er Wissenschaft­licher Mitarbeiter der Gedenkstätte B ­ erliner Mauer. Publika­tionen (Auswahl): zusammen mit Tina Schaller (Hrsg.): Grenzund Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin. Begleitband zur Ausstellung im Nordbahnhof. Berlin 2013; Interne Schauprozesse. Über exemplarisches Strafen und seine politische Instrumentalisierung in der Strafjustiz der DDR in den fünfziger Jahren. In: Karl Härtel/Beatrice de Graaf (Hrsg.): Vom Majestätsver­ brechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei­ zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2012, S. 321 – 351; zusammen mit Jochen Maurer: The Double Task of the East German Border Guards: Policing the Border and Military Func­tions. In: German Politics and Society 29 (2011) 2, S. 23 – 39. Skordos, Adamantios Theodor, geboren 1978 in Bludenz/Österreich, Dr. phil., studierte von 1996 bis 2001 Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in Thessaloniki und Graz, bevor er z­ wischen 2001 und 2003 ein Aufbaustudium der Europastudien an der Universität Leipzig absolvierte. 2009 promovierte er an der Universität Leipzig mit einer Arbeit zum Einfluss des Griechischen Bürgerkriegs auf den makedonischen Namensstreit der frühen 1990er Jahre. Derzeit ist er Wissenschaft­licher Referent des Direktors des Geisteswissenschaft­lichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität

Autorinnen und Autoren  |

Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die moderne Geschichte Südost- und Ostmitteleuropas und die Völkerrechtsgeschichte. Er ist Preisträger der Research Academy Leipzig und der Südosteuropa-­Gesellschaft. Publika­tionen (Auswahl): Griechenland im Kontext des öst­lichen Europa. Geschichtsregionale, kulturelle und völkerrecht­liche Dimensionen (Transnatio­ nalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9). Leipzig 2016; zusammen mit Stefan A. Müller und David Schriffl: Heim­ liche Freunde. Die Beziehungen Österreichs zu den Diktaturen Südeuropas nach 1945: Spanien, Portugal, Griechenland (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-­historische Studien der Dr.-Wilfried-­Haslauer-­Bibliothek, 54). Wien/Köln/Weimar 2016; Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas, 1945 – 1992 (Moderne Euro­päische Geschichte, 2). Göttingen 2012. Trappe, Julie, geboren 1972 in Köln, Dr. iur., studierte Rechtswissenschaft und Sprachen in Würzburg, Freiburg, Coimbra und Bukarest. Nach ihrem Rechtsreferendariat in Freiburg arbeitete sie von 1999 bis 2005 am Max-­Planck-­Institut für ausländisches und interna­tionales Strafrecht in Freiburg. Von 2005 bis 2008 war sie am Historischen Seminar der Universität Heidelberg und promovierte 2008 an der Humboldt-­Universität zu Berlin zur strafrecht­lichen Vergangenheitsaufarbeitung in Rumänien. Von 2008 bis 2016 war sie bei der Deutschen Stiftung für interna­tionale recht­liche Zusammenarbeit in Bonn tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transi­tional Justice, Rechtsentwicklung in Osteuropa und der EU-Erweiterungsprozess. Publika­tionen (Auswahl): Verjährt, amnestiert, vergessen? Die rumänische Justiz und die strafrecht­liche Aufarbeitung. In: Thede Kahl/Larisa Schippel (Hrsg.): Kilometer Null. Politische Transforma­tion und gesellschaft­liche Entwicklungen in Rumänien seit 1989. Berlin 2010, S. 389 – 404; Rumäniens Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit. Eine Untersuchung aus strafrecht­licher Perspektive. Göttingen 2009; Verjährung, Rückwirkungsverbot und Menschenrechtsschutz – Standards strafrecht­licher Vergangenheitsaufarbeitung in Europa? In: Katrin Hammerstein/Ulrich Mählert/Julie Trappe/Edgar Wolfrum (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Göttingen 2009, S. 123 – 134. Troebst, Stefan, geboren 1955 in Heidelberg, Dr. phil. habil., studierte z­ wischen 1974 und 1984 Geschichte, Slawistik, Balkanologie und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin sowie an den Universitäten Tübingen, Sofia (Bulgarien),

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Skopje (Makedonien) und an der Indiana University in Bloomington (USA). 1984 folgte seine Promo­tion an der Freien Universität Berlin. Von 1984 bis 1992 war er als Wissenschaft­licher Mitarbeiter und Hochschulassistent für Osteuro­ päische Zeitgeschichte am Osteuropa-­Institut der Freien Universität Berlin tätig. Zwischen 1992 und 1995 war er Habilita­tionsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und im Auftrag des Auswärtigen Amtes deutsches Mitglied in den Langzeitmissionen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Makedonien und Moldawien. 1995 erfolgte seine Habilita­tion an der FU Berlin und 1996 seine Ernennung zum Gründungsdirektor des dänisch-­deutschen European Centre for Minority Issues (ECMI) in Flensburg. Seit 1999 ist Stefan Troebst Professor für Kulturgeschichte des öst­lichen Europa an der Universität Leipzig und Stellvertretender Direktor des Geisteswissenschaft­lichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), ebenfalls in Leipzig. Publika­tionen (Auswahl): Ethnona­tionale Homogenisierungspolitik ­zwischen Vertreibung und Zwangsassimilierung. Schweden und Bulgarien als euro­päische Prototypen. In: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 26 (2016) 1, S. 49 – 60; Bulgarien 1989: Gewaltarmer Regimewandel in gewaltträchtigem Umfeld. In: Martin Sabrow (Hrsg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen 2012, S. 356 – 383; Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust. In: Südosteuropa 59 (2011) 1, S. 97 – 127. Vollnhals, Clemens, geboren 1956 in München, Dr. phil., studierte Geschichte und Politische Wissenschaften an der Ludwig-­Maximilians-­Universität München, wo er 1986 promovierte. Von 1989 bis 1992 war er Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München und ­zwischen 1990 und 1991 Lehrbeauftragter an der TU München. Ab 1992 arbeitete er als Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Berlin. Seit 1998 ist er Stellvertretender Direktor am Hannah-­Arendt-­Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. Publika­tion (Auswahl): zusammen mit Günther Heydemann (Hrsg.): Nach den Diktaturen. Der Umgang mit den Opfern in Europa. Göttingen 2016; zusammen mit Jörg Osterloh (Hrsg.): NS-Prozesse und deutsche Öffent­lichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. Göttingen 2011; zusammen mit Roger Engelmann (Hrsg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1999 (22000).

Autorinnen und Autoren  |

Vormbaum, Moritz, geboren 1979 in Münster, Dr. iur. habil., studierte Rechtswissenschaft in Münster, wo er 2005 promoviert wurde. 2015 folgte seine Habilita­tion an der Humboldt-­Universität zu Berlin. Von 2008 bis 2016 war er Wissenschaft­ licher Mitarbeiter an der Humboldt-­Universität sowie Koordinator und Dozent am South African German Centre for Transna­tional Criminal Justice (Kapstadt/ Berlin). Seit 2016 ist er Gastprofessor an der Universität Hamburg. Publika­tionen (Auswahl): Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik. Tübingen 2015; Der Schutz der Rechtsgüter von EU -Staaten durch das deutsche Strafrecht. Münster 2005. Werle, Gerhard, geboren 1952 in Mannheim, Dr. iur. habil., studierte Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Tübingen. 1980 erfolgte seine Promo­tion an der Universität Heidelberg, wo er 1988 ebenfalls habilitiert wurde. Von 1989 bis 1993 war er Universitätsprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Erlangen-­Nürnberg und ist seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und interna­tionales Strafrecht, Strafprozessrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-­Universität zu Berlin. Darüber hinaus ist er Extraordinary Professor an der University of the Western Cape (Kapstadt/Südafrika) und dortiger Direktor des vom DAAD geförderten South African-­German Centre for Transna­tional Criminal Justice. Publika­tionen (Auswahl): Völkerstrafrecht. Tübingen 42016 (seit der 4. Auflage gemeinsam mit Florian Jeßberger, in mehrere Sprachen übersetzt); Strafjustiz und DDR-Unrecht. Eine Dokumenta­tion. 7 Bde. Berlin 2000 – 2009; gemeinsam mit Klaus Marxen (Hrsg.): Die strafrecht­liche Aufarbeitung von DDRUnrecht. Eine Bilanz. Berlin 1999; gemeinsam mit Klaus Marxen (Hrsg.): Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. München 1995; gemeinsam mit Thomas Wandres (Hrsg.): Justiz-­Strafrecht und polizei­ liche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin 1989.

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Abbildungsverzeichnis Tobias Freimüller: Erlösung oder Mord? Abb. 1 © Interfoto Abb. 2 © Der Spiegel 8/1964 Katharina Lenski: Im Schweigekreis Abb. 1 © Robert-­Havemann-­Gesellschaft, Fotograf: Hans-­Helmut Kurz; Signatur: RHG_Fo_HAB_10751 Abb. 2 © Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«, Sammlung: Renate ­Ellmenreich, Fotograf: Manfred Hildebrandt, Signatur: ThürAZ-P-ER-007 Julie Trappe: Staatsgestütztes Unrecht Abb. 1 © Julie Trappe Abb. 2 © Julie Trappe Ulrike Capdepón: Von Nürnberg nach Madrid Abb. 1 © Ulrike Capdepón Abb. 2 © Ulrike Capdepón Adamantios Theodor Skordos: Die Juntadiktatur Abb. 1 © Interfoto Abb. 2 © Χρήστης/Gepsimos, Wikipedia Commons, lizensiert unter CreativeCommons Attribu­tion-­ShareAlike 3.0-Lizenz (CC-by-­sa-3.0), URL: https://creativecommons.org/ licenses/by-­sa/3.0/, letzter Zugriff: 04. 11. 2016

Personenregister A Adenauer, Konrad  36 Albrecht, Hans  119 Albrecht, Rosemarie  83, 84, 87, 88, 89, 90 Aly, Götz Haydar  67, 79 Andreu, Fernando  247 Arendt, Hannah  25 Astel, Karl  81 Auerbach, Thomas  141, 151, 154 B Bahro, Rudolf  146 Barnes, Julian  195, 204 Bartoszcze, Piotr  177, 178 Bǎsescu, Traian  219, 224 Bauer, Fritz  13, 14, 25, 44, 51, 63, 64, 68 Baumgarten, Klaus-Dieter  119 Bednarkiewicz, Maciej  183 Behr, Uwe  141 Benndorf, Werner  157 Binding, Karl L.  60, 66 Bohley, Bärbel  11, 18, 297 Bohne, Gerhard  64, 65 Borisov, Bojko Metodiev  205 Borm, Kurt  66 Bouhler, Philipp  57 Brack, Viktor H.  57, 64 Brandt, Karl  57 Broder, Henryk M.  25 Brüner, Franz-Hermann  278, 286 Bunke, Heinrich F. K.  66, 68 C Canales Bermejo, Fausto  246 Catel, Werner J. E.  63 Ceauşescu, Elena  211

Ceauşescu, Nicolae  211, 212, 213, 214, 215 Chojnacki, Adolf  181 Ciastoń, Władysław  178, 188 Crăciun, Gheorghe  222 Cvetkov, Cvjatko  198 D Damm, Willi  196 Demjanjuk, John  14, 51, 69 Dimitrov, Ilčo  196 Disse, Manfred  136, 158, 160, 163, 166 Domaschk, Matthias  15, 19, 21, 131, 169 Dömel, Achim  141 Dönitz, Karl  35 Dörner, Klaus  67 Drăghici, Alexandru  222, 223 Drechsler, Erich  74, 75, 76, 81, 82, 84 Dzierżyński, Feliks  180 E Eichmann, Adolf  43 Ellmenreich, Renate (geb. Groß)  133, 134, 137, 140, 141, 142, 144 Ender, Gerhard  76 Endruweit, Klaus  66, 68 F Ferrándiz, Francisco  240 Ficior, Ioan  228 Fischer, Horst  48 Franco Bahamonde, Francisco  232 Frank, Hans  35 Friedel, Jochen-Anton  143 Fritsche, Hans  35 Fuchs, Jürgen  134, 139, 143, 148

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|  Personenregister

G Galante, Chato  246 García Holgado, Inés  243 Garzón, Baltasar  16, 239, 240, 241, 242, 243 Geremek, Bronisław  193 Gheorghiu-Dej, Gheorghe  221, 222 Giordano, Ralph  28 Girke, Jochen  139 Globke, Hans  47 Goerdeler, Carl  39 Golob, Stephanie  232 González Pacheco, Juan Antonio  247 Göring, Hermann  35 Graf, Kerstin  141 Grashoff, Udo  133 de Greiff, Pablo  249 Gröning, Oskar  14, 51 Grund, Thomas  141, 142 H Harlan, Veit  39 Haschke, Jürgen  89 Hebold, Otto  73 Hefelmann, Hans  64, 65 Hegener, Richard von  73 Hermann, Artur  148, 152, 154, 155, 156, 157, 161, 166 Heyde, Werner (Fritz Sawade)  63, 64, 65, 66 Hielscher, Margarete  76, 77, 82, 83, 86, 88 Hinkeldey, Wolfgang  140, 141 Hitler, Adolf  57, 60, 66, 77 Hoche, Alfred E.  60, 66 Honecker, Erich  23, 95, 104, 119, 276, 277, 278, 279, 280, 286, 292 Horn, Günter  140 Höß, Rudolf  36

I Ibrahim, Jussuf Murad Bey  89 Iliescu, Ion  219 Ioannidis, Dimitrios  257, 260, 263 J Jäckel, Eberhard  28 Jaruzelski, Wojciech  180, 190, 191, 192 K Kaczyński, Lech  193 Kallenbach, Gisela  200 Kammenos, Panos  254 Kania, Stanisław  192 Karakačanov, Krasimir Dončev  197 Karamanlis, Konstantinos  257, 260, 264, 270 Keller, Gert  143 Kempara, Eugenia  191 Kempner, Robert  61 Kerde, Christiane  163 Keßler, Heinz  119 Kirchner, Martin  142 Kirstein, Marian  141 Kiszczak, Czesław  173, 178, 179, 185, 186, 188, 191, 192 Klee, Ernst  67 Klingenberg, Reinhard  141 Kloos, Gerhard  74, 75, 76, 77, 81, 83 Köhler, Horst  142, 143, 144, 146, 153, 154, 155, 156, 157, 166 Konstantin II. von Griechenland  256 Konstantopoulou, Zoi  254 Kostov, Vladimir  200 Kot, Stanisław  182 Kowalczyk, Tadeusz  179, 182 Kowal, Paweł  190 Kozłowski, Krzysztof  187 Krenz, Egon  27, 95, 99, 104, 119 Kulisch, Uwe  133

Personenregister  |

Kuroń, Jacek  193 Kwaśniewski, Aleksander  193 L Lafazanis, Panagiotis  254 Lehmann, Gerd  141 Leibner, Lutz  140, 141, 142 Liebermann, Doris  141, 142 Lippoldt, Steffen  143 Lityński, Jan  183 Loukidis, Wolfgang  137 Luleva, Ana  195, 209 Luque, Soledad  246 M Macierewicz, Antoni  182, 192, 193 Mähler, Roland  136, 143 Majewski, Kazimierz  183 Makarezos, Nikolaos  259 Makarios III., Erzbischof  257, 263, 265 Mallios, Evangelos  263 Markov, Georgi Ivanov  200 Markowsky, Bernd  140, 141 Marszałek-Młyńczyk, Krystyna  191 Martín Villa, Rodolfo  248 Mazowiecki, Tadeusz  179, 193 McCloy, John Jay  36 Meier, Walfred  141 Meïmarakis, Evangelos  271 Mengele, Josef  55, 68 Mérétik, Gabriel  180 Metodiev, Momčil  201 Michnik, Adam  193 Mielke, Erich  85, 223, 276, 286, 287, 292 Mitscherlich, Alexander  63, 66 Müller, Werner  84 Muñecas Aguilar, Jesús  247

N Nenke, Siegfried  142, 155 Neubert, Ehrhart  137 O Oberländer, Theodor  47 P Papadopoulos, Georgios  254, 256, 259, 260, 264 Papandreou, Andreas  263, 265, 266 Papandreou, Georgios  256 von Papen, Franz Joseph Hermann Michael Maria  35 Pattakos, Stylianos  259 Peißker, Ronald  156, 165 Petzold, Karl-Heinz  151, 153, 161 Pietzsch, Henning  137, 154 Pitzler, Kurt  163 Płatek, Zenon  178, 188 Plevneliev, Rosen Asenov  201 Plötner, Peter  16, 76, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 90 Popiełuszko, Jerzy  173, 177, 178, 188 Prantl, Heribert  25 Preine, Gunter  160, 169 Przemyk, Grzegorz  176, 178, 187 Pudysz, Zbigniew  179 Puig Antich, Merçona  248 Puig Antich, Salvador  248 R Radbruch, Gustav  13, 29, 101, 102, 123, 125 Rathenow, Lutz  141, 142 Rehse, Hans-Joachim  46 Reiprich, Siegfried  140, 141, 142 Remer, Otto Ernst Fritz Adolf  25 Renner, Renate  86 Rivas Cando, Darío  243

309

310

|  Personenregister

Rochau, Lothar  160 Rodríguez Zapatero, José Luis  237 Rohner, Franziska  141 Rokita, Jan  179 Rommeiß, Sascha  158 Rösch, Peter  133, 138, 148, 149, 154, 155, 156, 157, 158, 160, 162, 165, 169 Rosenberg, Alfred Ernst  35 Rosenberg, Tina  194 Rossberg, Klaus  161 Ruano, Enrique  234, 246 Rublack, Angelika  141 S Šabatova, Anna  144 Sadowska, Barbara  176 Sakskoburggotski, Simeon Borisov (auch Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha)  197 Schacht, Hjalmar  35 Schaefgen, Christoph  276, 280, 282, 283 Schäfer, Hans  142, 151 Schenk, Johannes  76, 77, 82, 83, 88 Schilling, Walter  136, 156, 160, 161 von Schirach, Baldur Benedikt  35 Schlegelberger, Franz  64 Schlink, Bernhard  124, 128 Schmidt, Helmut  204 Schmidt, Henry  48 Schöne, Frank  144 Schottky, Johannes  72 Schrameyer, Klaus  195 Schreiber, Jürgen  61 Schumann, Horst  64, 65, 66 Schweizer-Martinschek, Petra  61 Seidel, Hans Joachim  156, 165 Seidel, Hans-Jürgen  161 Servini de Cubría, Maria Romilda  247, 248 Siwicki, Florian  191

Skóra, Tadeusz  191 Slepoy, Carlos  249 Solarewicz, Wojciech  183 Sonntag, Gerd  140 Spasov, Mirčo  205, 206 Speer, Albert  35 Stanescu, Michael  142 Stanišev, Sergej  200 Stefanakis, Konstantinos  262 Stephan, Walther  73 Stolze, Lothar  85 Strakerjahn, Dieter  156, 157 Streicher, Julius  35 Streletz, Fritz  119 Strzembosz, Adam  178 T Taylor, Jacek  182 Tejero, Antonio  234 Tillmann, Friedrich  64, 65 Trillhase, Uta  141, 142 Troebst, Stefan  196 Trojanow, Ilija  202, 209 Tsipras, Alexis  254, 269 Tuczapski, Tadeusz  191 U Uhl, Petr  144 Ullrich, Aquilin  66, 68 Ursu, Gheorghe  220 Utrera Molina, José  248 V Villinger, Werner  63 Vişinescu, Alexandru  227

Personenregister  |

W Wałęsa, Lech  192 von Weizsäcker, Richard Karl Freiherr  278 Włosik, Bogdan  183, 185 Wojciechowski, Ryszard  183 Wolf, Markus Johannes  196 Würbach, Herbert  142, 143, 148, 153, 154, 156 Wuttke-Groneberg, Walter  67

Z Zimmermann, Susanne  80 Živkov, Todor Christov  195, 203, 204, 205, 207, 208

311

EUROPÄISCHE DIK TATUREN UND IHRE ÜBERWINDUNG SCHRIF TEN DER STIF TUNG ET TERSBERG HERAUSGEGEBEN VON JÖRG GANZENMÜLLER, VOLKHARD KNIGGE, CHRISTIANE KULLER

EINE AUSWAHL BD. 19 | VOLKHARD KNIGGE (HG.) KOMMUNISMUSFORSCHUNG BD. 15 | HANS-JOACHIM VEEN, PETER

UND ERINNERUNGSKULTUREN IN

MÄRZ, FRANZ-JOSEF SCHLICHTING (HG.)

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