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German Pages [457] Year 2016
Neue Phänomenologie
Hilge Landweer Dirk Koppelberg (Hg.)
Recht und Emotion I Verkannte Zusammenhänge
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495818176
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B
NEUE PHÄNOMENOLOGIE
A
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Auf den ersten Blick scheinen die Bereiche von Recht und Emotionen wenig miteinander zu tun zu haben, ist doch die Auffassung weit verbreitet, dass die Sphäre des Rechts von Normen und Werten bestimmt wird, deren Entstehung und Geltung unabhängig von Emotionen sind und auch sein sollten. Das Ziel des vorliegenden Bandes besteht darin, diese etablierte Auffassung in Frage zu stellen und näher zu erkunden, wie der Bedeutung von Rechtsgefühl und für die Sphäre des Rechts einschlägigen Emotionen angemessen Rechnung zu tragen ist. Leitend ist dabei die Frage, welche Emotionen welche Rolle im Bereich des Rechts spielen und gegebenenfalls auch spielen sollten. Der vorliegende Band stellt dazu Antworten und Vorschläge aus Philosophie, Rechts-, Geschichts-, Literatur- und Filmwissenschaft sowie aus der Soziologie vor. Genauer analysiert werden in diesem Zusammenhang u. a. Empathie, Empörung, Rache, Reue, Scham, Schuld, Vergebung, Versöhnung und Zorn in rechtlichen Prozessen. Insgesamt bieten die Beiträge eine Einführung und Grundlegung des neuen interdisziplinären Forschungsbereichs »Recht und Emotion«, der in der angelsächsischen Welt seit ca. 15 Jahren intensiv bearbeitet und mit diesem Band erstmals für den deutschsprachigen Bereich erschlossen wird. Die Herausgeber: Hilge Landweer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Dirk Koppelberg ist Privatdozent für Philosophie an der Freien Universität Berlin.
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Hilge Landweer Dirk Koppelberg (Hg.)
Recht und Emotion I
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 26
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Walter Burger Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Hilge Landweer Prof. Dr. phil. Dr. h.c. mult. Hans Jürgen Wendel
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Hilge Landweer Dirk Koppelberg (Hg.)
Recht und Emotion I Verkannte Zusammenhänge
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48817-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81817-6
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Inhalt
I.
Einleitung
Hilge Landweer/Dirk Koppelberg Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion .
13
II. Rechtsgründung und Rechtsgeltung Hermann Schmitz Befreiung des Rechts aus der Introjektion . . . . . . . .
51
Rainer Schützeichel Zur Soziologie des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . .
65
III. Rechtsgefühle und rechtliche Institutionen Hilge Landweer Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl? . . . . . . . 103 Maria-Sibylla Lotter Schuld ohne Vorwerfbarkeit. Warum der moralische Schuldbegriff auf viele Schuldphänomene nicht passt . . . 136 Fabian Bernhardt Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
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Inhalt
Susanne Karstedt Emotions, Truth and Justice: Shared and Collective Emotions in Transitional Justice . . . . . . . . . . . . . . 194
IV. Rechtsprechung und Gefühle Julia Hänni Phänomenologie der juristischen Entscheidung
. . . . . 227
Lauren Ware Emotions in the Evaluation of Legal Risk . . . . . . . . . 249 Jeffrey Murphy Remorse, Apology, and Mercy . . . . . . . . . . . . . . . 278 Ute Frevert Vom Schutz religiöser Gefühle: Rechtspraxis und -theorie in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Dieter Birnbacher Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
V. Rechtsgefühle in Literatur, Gerichtsrede und Film Ingrid Kasten Recht und zorn im Rolandslied . . . . . . . . . . . . . . . 375 Marcel Humar Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede. Rhetorische Strategien der Sanktionierung durch Gefühle 401
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Inhalt
Matthias Grotkopp Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre. Rechtsgefühle und ambivalente Gewalt in Clint Eastwoods Unforgiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 451 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
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I. Einleitung
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Hilge Landweer und Dirk Koppelberg
Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
Was haben Recht und Emotion miteinander zu tun? Zwischen Recht und Emotion gibt es systematisch interessante und in hohem Maße aufklärungsbedürftige Zusammenhänge. Allerdings sind diese im Recht, in der Philosophie und in den Wissenschaften bisher weitgehend verkannt worden. In der angloamerikanischen Forschung wurde in den letzten fünfundzwanzig Jahren ein eigenständiger Forschungsbereich »Law and Emotion« mit den entsprechenden institutionellen Schwerpunkten und Zeitschriften aufgebaut. Dabei sind eine Reihe von Ergebnissen vorgelegt worden, die ein überraschendes Licht auf die Beziehung von Recht und Emotion werfen. In der deutschsprachigen Forschung hat demgegenüber die Rechtswissenschaft, ähnlich wie die Kriminologie und die Rechtssoziologie, bisher nur sporadisch Anschluss an die Emotionsforschung in den geistes-, sozial- und neurowissenschaftlichen Disziplinen gesucht. Erst in den letzten Jahren ist hier eine allmähliche Änderung festzustellen; zunehmend wird in der Forschung versucht, den lange verkannten Verbindungen zwischen Recht und Emotion angemessen Rechnung zu tragen. An diese Versuche, die historischen, kulturellen und systematischen Zusammenhänge zwischen Recht und Gefühl auch für die deutschsprachige Forschung zu erschließen, möchte der vorliegende Band anknüpfen und weitere Anregungen geben. Um den Bezug zum Forschungsschwerpunkt »Law and Emotion« zu betonen, haben wir uns entschlossen, im Titel ebenfalls von »Emotion« und nicht von »Gefühl« zu sprechen, obwohl Letzteres von der Sache her nähergelegen hätte. »Gefühl« ist der weitere Begriff, der alle affektiven Phänomene einschließt, während mit »Emotionen« zumeist auf bestimmte Gegenstände ge13 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Hilge Landweer und Dirk Koppelberg
richtete episodische Gefühle gemeint sind, d. h. solche, die akut gespürt werden. Dies schließt gewisse Phänomene aus wie etwa Gefühlsdispositionen und vor allem das, was in der deutschen Rechtstradition »Rechtsgefühl« genannt wird und einen Sinn für Gerechtigkeit, der auf das positive Recht bezogen ist, bezeichnet. Ganz abgesehen davon, dass die Frage, ob es sich beim Rechtsgefühl überhaupt um ein affektives Phänomen handelt, in der Forschung nicht einhellig bejaht wird, so handelt es sich beim Rechtsgefühl jedenfalls nicht um eine ›klassische‹ Emotion. Gerade am Gegenstand des Rechtsgefühls zeigt sich, dass die verschiedenen Rechtssysteme und ihre Geschichte nicht nur zu unterschiedlichen Institutionen und rechtlichen Verfahren, sondern auch zu unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten führen, denn »Rechtsgefühl« wird in der angelsächsischen Tradition kaum berücksichtigt. Zudem ist aufgrund der zeitlichen und systematischen Unterschiede zwischen der angelsächsischen und kontinentalen Forschung die Verbindung von »Recht« mit dem Thema »Emotion« hierzulande wesentlich stärker erläuterungsbedürftig. Das »und« im Titel dieses Bandes, »Recht und Emotion«, hat System – es handelt sich nicht um eine Verlegenheitslösung, bei der zwei heterogene Dinge, Recht und Emotion, versuchsweise oder gar beliebig miteinander verbunden werden und bei der noch völlig offen ist, ob sich eine solche Verbindung überhaupt als sinnvoll und fruchtbar herausstellen wird. Bereits die Etablierung des Forschungsbereichs »Law and Emotion«, der sich mit den vielfältigen Bezügen zwischen beiden Sachgebieten befasst, ist ja ein Indiz dafür, dass eine systematische Kombination beider Themenbereiche aufschlussreich und produktiv ist. Und nicht zuletzt stellt die phänomenologisch orientierte Rechtsphilosophie seit langem solche Bezüge her. Die Beziehungen zwischen Recht und Emotion sind komplex; ihre Verknüpfung ist auf verschiedenen Ebenen möglich, und sie ist zudem und vor allem sachlich geboten, wenn man einerseits das Recht, seine Geschichte, seine Theorie und Praxis, aber auch, wenn man andererseits bestimmte Emotionen wie Zorn, Scham oder Schuldgefühl verstehen will. Aus diesen Gründen handelt es 14 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
sich bei dem »und« in der Benennung dieses neuen Forschungsbereichs und im Titel dieses Bandes um ein anspruchsvolles Programm. Die Aufgabe des Forschungsschwerpunkts lässt sich systematisch mit folgenden Fragestellungen umreißen: Welche Arten der Verknüpfung von Recht und Emotion gibt es? Welche empirischen Bezüge lassen sich identifizieren und belegen? Welche Beziehungen bestehen zwischen den verschiedenen Ebenen der Verknüpfung von Recht und Emotion? Gibt es Kausalbeziehungen, begriffliche Beziehungen oder gar bestimmte Fundierungsverhältnisse zwischen ihnen? Selbstverständlich können die in diesem Band publizierten Texte diese Fragen nicht erschöpfend beantworten, doch sie tragen durch ihre unterschiedlichen Fallstudien und kontroversen Analysen zu ihrer Beantwortung bei. Bevor wir die verschiedenen Aspekte des Themas etwas genauer skizzieren, sei betont, dass der vorliegende Band sich als ein interdisziplinäres Projekt mit einem Schwerpunkt in der Philosophie versteht. Der philosophischen Perspektive verdankt dieser Band seine Entstehung, die gleich zwei Wurzeln hat: Die Initiative zu seiner Herausgabe geht einerseits zurück auf eine Tagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie (GNP) zum Thema »Recht, Gefühl, Gerechtigkeit«, die im Frühjahr 2014 in Rostock stattfand. Als phänomenologische Gesellschaft ist der GNP an der Theorie der Phänomenologie ebenso wie an deren Anwendung gelegen, an einer Verbindung von Theorie und Praxis also, die von der Sache her notwendig interdisziplinär vorgehen muss, dabei aber aus der Philosophie ihre Orientierung bezieht. Andererseits – und dies ist die zweite Wurzel – kann dieser Band auch als eine Art Spätfolge des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« (2007–2014) an der Freien Universität Berlin angesehen werden, in dessen Rahmen sich 2011/12 einige Initiativen zusammenfanden, die den Zusammenhang von Recht und Emotionen in der geplanten zweiten Phase des Projekts untersuchen wollten. Aus diesem interdisziplinären Forschungskontext kommen immerhin mindestens fünf der an diesem ersten Band beteiligten Autor_innen. 1 1
Dabei handelt es sich um Fabian Bernhardt, Matthias Grotkopp, Marcel
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Hilge Landweer und Dirk Koppelberg
Die im Folgenden skizzierten Forschungsfragen, die neben dem gleichlautenden Forschungsbereich auch das »und« in unserem Titel genauer umreißen, können (und wollen) zwar ihre philosophische Herkunft nicht verleugnen, öffnen aber, so hoffen wir, zugleich das Feld für interdisziplinäre Forschungen. In aller Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit lassen sich die folgenden elf Schwerpunkte unterscheiden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Rechtsentstehung und Emotionen Recht, Emotion und die Geltung von Normen Was sind rechtsrelevante Emotionen oder Rechtsgefühle? Zum Begriff des Rechtsgefühls Emotionen bei der angemessenen Anwendung von Normen Rechtliche Institutionen außerhalb des positiven Rechts Rechtlich institutionalisierte Emotionen Relationalität der rechtsrelevanten Emotionen Der Anteil der Künste an der Verknüpfung von Recht und Emotion 10. Emotionen und Recht in historischer Perspektive 11. Die normative Frage: Welche Rolle sollen Gefühle in der Rechtsprechung spielen? Wir werden diese Schwerpunkte im Folgenden skizzieren und ihnen die Beiträge in diesem Band zuordnen, wobei diese wegen des systematischen Zusammenhangs der elf Fragen zumeist zu verschiedenen Bereichen beitragen.
Humar, Ingrid Kasten und Hilge Landweer. Ute Frevert stand als Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und als Leiterin des Forschungsbereichs »Geschichte der Gefühle« in einer engen Kooperationsbeziehung zum Cluster »Languages of Emotion« und baute am Max-Planck-Institut einen eigenen historischen Schwerpunkt »Recht und Emotionen« auf.
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Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
Zu 1. Rechtsentstehung und Emotionen Bis heute ist die Frage umstritten, welche Quellen das Recht hat. Am wenigsten Zustimmung in der Forschung erfährt der rechtspositivistische Standpunkt, wonach das Recht deshalb in Geltung ist, weil es »gesetzt« ist (»Gesetz«), aus diesem Gesetztsein seine Autorität bezieht und seine Geltung deshalb keinerlei weiterer Erklärung und Begründung bedarf. Die geringe Akzeptanz dieser Position kann zumindest im deutschsprachigen Raum als eine Folge der ›legalen‹ Gesetzesänderungen durch den Nationalsozialismus angesehen werden, die den Rechtspositivismus desavouierte. Auch theologische Erklärungen und Begründungen, wonach Recht und Gesetz durch Gott gegeben und deshalb in Geltung sind, finden zunehmend weniger Anhänger. Erklärt man die Geltung von Recht und Gesetz schlicht mit »Gewohnheit« oder »Tradition«, so kann zwar eingeräumt werden, dass beide zweifellos eine wichtige Rolle in den allermeisten Rechtssystemen spielen – nicht zuletzt deshalb, weil jedes Recht auf ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität angewiesen ist. Dennoch vermag man damit keineswegs die Ursprünge des Rechts zu erklären, denn wie, so lautet die Frage, ist das Recht entstanden, wie konnten Rechtstraditionen ausgebildet werden? Die klassische gesellschaftstheoretische Antwort darauf lautet: durch Vertrag. Irgendwann zu einem heute nicht mehr durch Quellen zugänglichen Zeitpunkt der Geschichte erkennen die Menschen, dass sie ihre eigenen Interessen letztlich besser verfolgen können, wenn sie sich Normen geben, an die sich alle freiwillig binden, mit anderen Worten: denen sie sich unterwerfen, und zwar auch dann, wenn es ihrem unmittelbaren Eigeninteresse gerade nicht entspricht. Die Vertragstheorien von Hobbes bis Rawls verstehen sich mehr oder weniger als Gedankenexperimente, um Gesellschaftsgründung zu erklären. Sie setzen stets den Begriff eines mündigen Individuums voraus, das dem Vertrag zustimmen muss, sowie die Begriffe von Staat und Gesellschaft. Letztlich ist es danach die Einsicht, welche die Individuen dazu bewegt, dem Vertrag zuzustimmen und damit einen Teil ihrer Autonomie aufzugeben. Als Motiv kann zwar auch die Angst um die eigene 17 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Hilge Landweer und Dirk Koppelberg
Sicherheit eine Rolle spielen, wie etwa bei Hobbes, aber hinzukommen muss jedenfalls die Erkenntnis, dass die eigenen Partialinteressen besser aufgehoben sind in einem Staat, der die Gleichheit vor dem Recht gewährleistet, als in einem gesetzlich nicht-regulierten Raum, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Denn ohne diese Erkenntnis gibt es keinen Grund, sich dem Gesetz zu unterwerfen. 2 Unter den Theorien zur Gründung des Rechts ist die breite Tradition des Naturrechts wohl immer noch dominant. Sie umgeht die aufgeworfenen Fragen der Entstehung konkreter Rechtssysteme, indem sie ein angeborenes, universalistisches Recht unterstellt, das unabhängig von spezifischen Rechtssystemen gilt und das sie als Quelle für Infragestellungen und Neubegründungen von Recht ansieht. Die Konstruktion eines Naturrechts stützt sich auf die Intuition ebenso wie auf die Erfahrung, dass wir in der Lage sind, geltendes Recht zu kritisieren, indem wir Gerechtigkeit in Anspruch nehmen, und dass dies, so die Annahme, zu allen Zeiten und in allen Kulturen so war. Wie sollte dies möglich sein, so die Naturrechtslehren, wenn die Quelle des Rechts nicht von Natur aus jedem angeboren zur Verfügung stünde? Dagegen lässt sich einwenden, dass auch die Intuitionen über Gerechtigkeit einem historischen Wandel unterliegen. So reizvoll eine Diskussion der verschiedenen rechtstheoretischen Schulen an dieser Stelle auch wäre, wir müssen unsere Darstellung dessen, was in der Philosophie- und Rechtsgeschichte als jeweils unterschiedliche Quellen des Rechts angesehen wurde, 2
Gegen solche Positionen hat Walter Benjamin entschieden darauf bestanden, dass Rechtsetzung nicht anders denn als ein gewaltsamer Akt verstanden werden muss, dass also neues Recht nur in einem Akt, der selbst nicht auf Recht beruht, ins Recht gesetzt werden kann. Recht, so Benjamin, kommt nie durch friedliche Vertragsschließung zustande; ihm geht stets ein (gesellschaftlicher) Kampf voraus. – Der Zusammenhang von Rechtsetzung und Gewalt wird bis heute auf sehr populäre Weise in Filmen, und zwar vor allem im Genre des Western, inszeniert. Welche filmästhetischen Einsätze dabei Zuschauergefühle gestalten, untersucht Matthias Grotkopp in diesem Band in seinem Beitrag »Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre. Rechtsgefühle und ambivalente Gewalt in Clint Eastwoods Unforgiven«, den wir weiter unten, unter 9., vorstellen.
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Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
hier abbrechen, denn wir können in diesem Rahmen selbstverständlich nicht auf die Plausibilität, die argumentativen Vor- und Nachteile dieser verschiedenen und zwangsläufig spekulativen Theorien der Entstehung des Rechts eingehen. Wir haben Rechtspositivismus, Vertrags-, Naturrechts- und andere Theorien kursorisch genannt, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Gefühle in all diesen Konzeptionen entweder gar keine oder allenfalls eine motivierende Rolle spielen, wie etwa die Angst bei Hobbes. Eine der grundlegendsten Thesen über die Verbindung von Recht und Gefühl lautet dagegen, unser Verständnis von Recht und Unrecht gründe letztlich in Gefühlen. Eine differenzierte Position zu dieser These entwickelt Hermann Schmitz, die er in seinem Beitrag über die »Befreiung des Rechts aus der Introjektion« in diesem Band skizziert. Etwas vereinfacht kann Schmitz’ Überlegung dahingehend verstanden werden, ohne Gefühle sei kein Verständnis von Recht und Unrecht möglich. Schmitz geht in seinem Text von einem »Paradigmenwechsel« im 5. Jh. v. Chr. aus, der zu einer Spaltung der Welt in Innen- und Außenwelt und einer Spaltung des Menschen in Körper und Seele führte. Die so bewirkte Privatisierung des Erlebens schloss die Gefühle in einem für unzugänglich gehaltenen Innenraum, der Seele, ein (»Introjektion der Gefühle«). In diesem Zusammenhang sieht Schmitz auch die spätere Entstehung der Idee subjektiver Rechte, die das ursprünglich gemeinsame Recht gewissermaßen auf Individuen verteile. Auch Kant hat nach Schmitz an dieser Privatisierung, der »Introjektion« des Rechts, teil. Mit der Idee des subjektiven Rechts ist die Idee des Vertrages als Quelle von Recht und Gerechtigkeit verbunden; sie geht davon aus, dass die Vertragsschließenden ursprünglich eigene Rechte hatten, die sie an die gemeinschaftliche Instanz übertragen. Die Quelle des Rechts würde dann in den privaten Rechten liegen. Schmitz interpretiert den geschichtlichen Prozess der Rechtsentstehung genau andersherum: Ein gemeinsames Recht bildet sich in gemeinsamen Situationen aus, die er als »zuständlich« charakterisiert. In diesen Situationen habe das Recht seine Wurzeln, und zwar im Betroffensein von Scham und Zorn; es handelt sich dabei aber nicht um individuelle Emotionen, sondern um Gefühle, welche in der Gemein19 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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schaft geteilt werden. Für die Entstehung von Vorstellungen über Recht und Unrecht reiche es nicht aus, dass jemand zürne oder sich schäme, vielmehr müsse in einer Population ein Maß des unerträglich Empörenden oder Beschämenden gefunden werden. Zu 2. Recht, Emotion und die Geltung von Normen Die Frage, wie das Recht entstanden ist, verbindet sich eng mit der Frage, warum es in Geltung ist, in anderen Worten: warum Menschen sich an rechtlichen Normen orientieren. Erklärungsbedürftig ist dabei nicht die bloße Befolgung von Normen unter Zwang, sondern die freiwillige Anerkennung von rechtlichen und anderen Normen. Ohne eine eigene Bindung an die entsprechenden Normen könnte noch nicht einmal das Rechtssystem eines totalitären Staates in Geltung sein, denn anderenfalls würden die rechtlichen Normen unterlaufen, sobald sich eine Gelegenheit dazu böte. Ebenso wie jede Herrschaft der Akzeptanz bedarf, um aufrechterhalten werden zu können, so ist auch die Anerkennung von Normen gewissermaßen auf freiwillige Unterwerfung – weniger machttheoretisch formuliert: auf Selbstbindung – angewiesen, will sie nicht auf tönernen Füßen stehen. »Geltung« bedeutet hier die faktische Orientierung an Normen, nicht – wie in der kantischen und analytischen Tradition – die Begründung oder begründete Gültigkeit von Normen. Die Frage, die – nicht nur – die Phänomenologie aufwirft, ist die, ob die Selbstbindung an Normen ausschließlich auf rationaler Einsicht beruht. Die Auffassung, wonach die Selbstbindung an Normen der Gefühle als motivierende Kraft bedarf, vertreten zwei Beiträge in diesem Band. Die Frage der Bindung an Normen wird in der Rechtsphilosophie von Hermann Schmitz untersucht, in seinem Beitrag zu diesem Band aber nur am Rande berührt. An seine Analysen anschließend weist Hilge Landweer in ihrem Beitrag »Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?« auf den sanktionierenden Charakter der Gefühle Scham, Schuldgefühl, Zorn und Empörung hin. Während die ersten beiden Emotionen Übertretungen von Normen signalisieren, die der Fühlende selbst über20 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
schritten hat, an die er sich aber zumindest ambivalent gebunden fühlt, sanktionieren Zorn und Empörung die Normverstöße anderer. Dass es überhaupt zu einer Normenbindung kommt, ist nach Schmitz in der Autorität der genannten Rechtsgefühle begründet. Landweer betont, dass neben den sanktionierenden Rechtsgefühlen ein weiteres affektives Phänomen berücksichtigt werden muss, nämlich die positive Bindung an eine Rechtsgemeinschaft, da ohne solche Verbundenheit weder Entstehung noch Geltung eines gemeinsamen Rechts verstanden werden können, geht es doch letztlich darum, dass in einer Rechtsgemeinschaft ein »Maß des unerträglich Empörenden« (Schmitz) gefunden werden muss, und dies geschieht in gemeinsamen Situationen. Am Maß des unerträglich Empörenden, das sich in den geteilten emotionalen Haltungen in Bezug auf Unrecht zeigt, orientiert sich das gesetzte Recht, und in diesem Sinne ist nicht nur seine Entstehung, sondern auch seine Geltung auf Gefühle angewiesen. – Schmitz differenziert in seinem Beitrag zwischen Kernnormen und Randnormen des Rechts. Nur Erstere sind in Scham und Zorn gegründet, während Randnormen sich auf Probleme beziehen, die auf unterschiedlichen Wegen gelöst werden können, aber geregelt werden müssen, wie etwa die Regeln der Straßenverkehrsordnung. Diese Normen gelten dann lediglich kraft verbindlicher Setzung, während ihr spezifischer Inhalt rechtlich gleichgültig und deshalb in seiner Geltung nicht auf Gefühle angewiesen ist. Schmitz stellt einen engen sachlichen Zusammenhang von Fragen der Rechtsentstehung und -geltung (im Sinne seiner faktischen Anerkennung) über den Begriff der Autorität der Gefühle her. Auf dem Hintergrund dieser wie auch jeder anderen Rechtstheorie ist es sicherlich sinnvoll, die Frage der Begründung des Rechts gesondert zu behandeln. Dabei stehen, wie wir am Ende dieser Einleitung skizzieren, unterschiedliche Auffassungen von Rationalität zur Debatte.
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Zu 3. Was sind rechtsrelevante Emotionen oder Rechtsgefühle? Als Rechtsgefühle (im Plural) werden üblicherweise vor allem Zorn, Empörung, Schuldgefühl und bestimmte Formen von Scham verstanden, oft auch Reue und Achtung. Was genau macht sie zu Rechtsgefühlen, welche Rolle spielt jede einzelne dieser Emotionen im Recht oder für das Recht? Da die oben genannten Emotionen genau die Gruppe derjenigen Gefühle bezeichnen, die auch als »moralische« Gefühle aufgefasst werden und mit den Rechtsgefühlen deckungsgleich sind, sprechen manche etwas vorsichtiger von »rechtsrelevanten« Emotionen, um mit dem Begriff »Rechtsgefühle« nicht – möglicherweise irreführende – Vorstellungen bestimmter Rechtstheorien aufzurufen, aber auch, um nicht zu suggerieren, »Rechtsgefühle« seien etwas ganz anderes als moralische Gefühle. Dass moralische Gefühle dagegen »rechtsrelevant« sein können, scheint weniger problematisch. Die einzelnen Elemente der Kategorie, die als »rechtsrelevant« oder als »Rechts«-Gefühle bezeichnet werden, stimmen aber, soweit wir sehen, überein. In seinem Beitrag »Remorse, Apology, and Mercy« untersucht Jeffrie G. Murphy die Phänomene von Reue und moralischer Entschuldigung (apology), ihre Rolle bei der Charakterbewertung und insbesondere die Rolle, die eine solche Charakterbewertung für die Gewährung rechtlicher Gnade spielt. Dazu werden eine Reihe historischer Beispiele vorgestellt. Verschiedene Arten von Reue werden durch die Frage zu unterscheiden versucht, ob es in ihnen primär um den Ausdruck wahrhaftig empfundener Schuldgefühle oder aber vor allem um die reuevolle Übernahme der Verantwortung für die jeweiligen Unrechtstaten geht, die laut Murphy in Extremfällen wie Vergewaltigung und Mord die Frage aufwerfen, ob hier eine angemessene Form von Buße überhaupt zu tun und Versöhnung zu erreichen sei. Kritisch betrachtet wird in diesem Zusammenhang die Beziehung zwischen gehaltvoller Reue, die ihren Namen verdient, und der gegenwärtigen »neuen Entschuldigungskultur«. Detailliert untersucht werden Bedeutung und Funktion von Reue für drei wesentliche Rechtfertigungen rechtlicher Bestrafung – Abschreckung, Resozialisierung und Vergel22 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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tung. Dabei kommt Murphy insgesamt zu einem skeptischen Ergebnis, da insbesondere bei Gerichtsprozessen stets die Möglichkeit der Vortäuschung angeblicher Reue gegeben ist. Bei Begnadigungsentscheidungen ist die epistemische Situation nach Murphys Auffassung in der Regel besser, weil dort eine zuverlässigere Beurteilungsgrundlage durch die für sie einschlägigen Belege etwa in Form von psychologischen Gutachten vorhanden ist. Schließlich untersucht Murphy die Rolle von Entschuldigungen für richterliche Gnade, wobei seine Beurteilung ähnlich skeptisch ausfällt wie im Fall der Reue, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass ernstzunehmende Entschuldigungen nach Murphy aufrichtige Reue einschließen sollten. In ihrem Beitrag »Schuld ohne Vorwerfbarkeit. Warum der moralische Schuldbegriff auf viele Schuldphänomene nicht passt« geht es Maria-Sibylla Lotter um den Nachweis, dass es sowohl viele historisch bedeutsame als auch gegenwärtig wichtige Schuldphänomene gibt, die durch den modernen moralischen Schuldbegriff nicht angemessen erfasst werden, da dieser »Schuld« stets im Sinne von Vorwerfbarkeit versteht: Individuen können nur aufgrund von eigenem, selbstkontrollierten Tun und Lassen schuldig werden. Diese Auffassung ist juristisch zwar sinnvoll, aber moralisch wird durch sie ein erstaunlich weites Spektrum von Schuldphänomenen verdeckt, die sich nicht auf Vorwerfbarkeit reduzieren lassen, wie etwa Phänomene der »Privilegienschuld« oder »Kollektivschuld«. Die mit ihnen verbundenen Schuldgefühle können nur als »irrational« oder »unberechtigt« beschrieben werden, wenn der Begriff der Schuld nicht erweitert wird. Ziel einer solchen Begriffserweiterung ist es, angemessener auf diese Formen von Schuld reagieren und sie besser bewältigen zu können. Manche Opfer nationalsozialistischer Verbrechen betonen etwa, es sei für sie wichtig zu vergeben, weil sie selbst durch die Ungesühntheit der nationalsozialistischen Verbrechen ein Bedürfnis nach Reinigung und Heilung verspüren. Aber auch viele andere Formen von Schuldgefühlen, die keineswegs auf vorwerfbarer Schuld beruhen, gilt es nicht nur psychologisch, sondern auch moralisch und begrifflich ernst zu nehmen. Auffällig ist dabei, dass es sich dabei oft um Schuldformen handelt, die auf einem kollektiven 23 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Selbstverständnis beruhen und so eine Verbindung zu anderen ausdrücken, die nur sehr begrenzt der eigenen Kontrolle unterliegt (Familie, Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft etc.). Hier führt die Reduktion des Schuldbegriffs auf Vorwerfbarkeit zu einem latent schlechten Gewissen, das wegen seiner Latenz einer Aufarbeitung entgegensteht. Wie auch immer man die Gruppe der Rechtsgefühle bezeichnet und genauer charakterisiert, so wirft sie doch jedenfalls die Frage auf, ob die genannte Liste vollständig ist. Hilge Landweer schlägt in ihrem Beitrag »Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?« eine Erweiterung dieser Reihe vor. Gibt es gute Gründe, das Sich-gedemütigt-Fühlen überhaupt als eine eigens zu benennende, distinkte Emotion zu verstehen? Landweer geht davon aus, dass es sich dabei um ein Ohnmachtsgefühl handelt, das durch Demütigung ausgelöst wird, aber sich von dem, wie Ohnmacht bei anderen Anlässen erlebt wird, grundlegend unterscheidet. Sie beschreibt die spezifische Leiblichkeit dieses Gefühls als ein Changieren zwischen massiver Engung (durch die gespürte Erniedrigung) und vergeblichen Weitungsversuchen (die sich gegen das erlebte Unrecht richten), wodurch die Engung noch verstärkt wird, und grenzt das Sich-gedemütigt-Fühlen von Beschämung, Scham und Empörung ab. Ausgehend von einer Bestimmung der Rolle von Rechtsgefühlen, nämlich auf einen Ausgleich im Rechtsraum abzuzielen, der durch das Vergehen verletzt wurde, wird insbesondere die Rolle des Publikums für dieses hier neu beschriebene Rechtsgefühl hervorgehoben. 3 Zu 4. Zum Begriff des Rechtsgefühls In der Rechtsgeschichte spielt der Begriff des Rechtsgefühls vor allem im 19. und bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle, er wird aber – nachdem nach der Katastrophe des Nationalsozialismus lange Zeit eine eher rationalistische Ori3
Auf die damit angesprochene Relationalität von Rechtsgefühlen wird weiter unten unter Punkt 8 näher eingegangen.
24 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
entierung in der Rechtswissenschaft bestimmend war – neuerdings in der Rechtsphilosophie wiederentdeckt. Der Ausdruck wird in verschiedenen Bedeutungen verwendet: 1. wird er im Sinne des im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Plurals, der Rechtsgefühle, als Oberbegriff für die einzelnen Rechtsgefühle verwendet, welche für das Recht relevant sind: Schuldgefühl, Scham, Zorn, Empörung, Achtung, Reue wären in diesem Sinne jeweils ein Rechtsgefühl. 2. wird »Rechtsgefühl« als Oberbegriff für alle rechtlichen Vorgefühle, d. h. für Gefühle, die es ermöglichen, einer Störung des Rechtsraums vorzubeugen, verwendet, etwa für warnende Scham oder für Achtung vor dem Recht. Diese Verwendung findet sich bei Schmitz wie auch die hier skizzierte begriffliche Differenzierung. 3. wird der Ausdruck für ein spezifisches Rechtsgefühl verwendet, das eine allgemein verbreitete Fähigkeit zur Dosierung, zum Abwägen und zum Ausbalancieren meint, wenn es um »richtig« und »falsch« geht. In dieser Bedeutung ist der Begriff dem des Gerechtigkeitsgefühls verwandt, aber vielleicht direkter als dieses auf das Recht bezogen. 4 4. wird »Rechtsgefühl« auch für eine spezifische Fähigkeit von Jurist_innen und speziell Richter_innen verwendet, die es erlaubt, in der Rechtsanwendung die Fälle elegant mit den Vorgaben des positiven Rechts zu vereinbaren und in angemessener Weise zu behandeln. Dieses spezifisch professionell ausgebildete und kultivierte Rechtsgefühl wird auch »Judiz« genannt und dürfte eng mit der Kompetenz verwandt sein, die Philosoph_innen als »Expertenintuition« bezeichnen. Die Abfolge der verschiedenen Begriffsvarianten geht von einem sehr weiten Begriff (1.) bis hin zu einem sehr engen Verständnis (4.). Dabei ist der affektive Charakter des Rechtsgefühls 4
Radbruchs bekannte Bestimmung, als »Rechtsgefühl« sei die Befriedigung über die Verwirklichung und Durchsetzung des Rechts und Missstimmung oder Empörung über das Unrecht anzusehen, kommt dieser Auffassung, aber auch der 1. Bedeutungsvariante nahe, mit der sie sich aber auch nicht ganz deckt, weil Radbruch das Rechtsgefühl – wohl wegen der Befriedigung, die es seinem Träger verschafft – als »selbstbezügliches« Rechtsgefühl bezeichnet.
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im Sinne von 3 und 4 durchaus strittig; manche Autor_innen verwenden den Ausdruck synonym mit »Rechtsbewusstsein«. Das Rechtsgefühl im 3. und 4. Sinne wird zumeist als eine Art Sinn für Gerechtigkeit verstanden, als ein Gespür für Fragen von Recht und Gerechtigkeit, als eine Kompetenz, die das Rechtsgefühl in die Nähe einer intuitiven Urteilskraft oder einer bewährten Expertenintuition rückt. Zwar gestehen viele Autor_innen die affektive Wurzel des Sinns für Recht und Gerechtigkeit zu, doch scheint es auf der Hand zu liegen, dass es sich hier nicht um eine episodische Emotion handelt. Aber welche Bedeutung hat der Begriff dann? Und wie genau sind die »affektiven Wurzeln« zu rekonstruieren, von denen wir gerade sprachen? Aus rechtssoziologischer Perspektive behandelt Rainer Schützeichel in seinem Beitrag »Soziologie des Rechtsgefühls« die komplexen Zusammenhänge, in denen der Begriff steht. Dazu gibt er einen historischen Überblick über Aspekte und Dimensionen des Rechtsgefühls, wobei er mit der sogenannten konjunkten, der positivistischen und der konstruktivistischen Position drei maßgebliche rechtssoziologische Traditionslinien vorstellt. Schützeichel unterscheidet eine Reihe von unterschiedlichen Funktionen von Rechtsgefühlen. Zentrale rechtsphänomenologische Positionen u. a. von Husserl, Scheler und Schmitz werden vorgestellt, bevor Schützeichel seine eigenen soziologischen Thesen zur Funktion von Rechtsgefühlen entwickelt, die sich kritisch sowohl von der älteren Rechtssoziologie als auch von der Rechtsphänomenologie absetzen. Dieser Sicht zufolge bleibt zwar der konstitutive Entdeckungszusammenhang von Recht und Rechtsgefühlen gewahrt, nicht jedoch der Begründungszusammenhang. Im Gegensatz zur phänomenologischen Auffassung, wie sie sich bei Schmitz und Landweer findet, argumentiert Schützeichel dafür, dass die Verbindlichkeit und Geltung von Rechtsnormen nicht auf eine wie auch immer näher zu bestimmende Evidenz von Rechtsgefühlen gegründet werden können, sondern aus sich selbst heraus begründet werden müssen. Dass Rechtsgefühle dennoch auch ein notwendiges normatives Korrelat der Ausdifferenzierung des Rechts bilden, wird dabei von Schützeichel ausdrücklich anerkannt. 26 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Zu 5. Fragen der angemessenen Anwendung von Normen Die Frage nach der Angemessenheit von Normenanwendung, ein in der Rechtswissenschaft breit behandeltes Thema, betrifft unterschiedliche Teilfragen. Erstens geht es darum, wie man erkennen kann, ob ein gegebener Sachverhalt rechtlich überhaupt relevant ist und ob er unter eine bestimmte rechtliche Norm fällt oder nicht. Wie muss die Wahrnehmung beschaffen sein, um dies erkennen zu können? Welche Rolle spielen Gefühle bei der Bewertung von Situationen? Zweitens bezieht sich die Frage aber auch auf die Angemessenheit der logisch-rechtlichen Subsumtionsregeln für bestimmte lebensweltliche Probleme: Manches mag rechtens, aber trotzdem rechtlich unangemessen sein, etwa wenn die Mörderin ihres Ehemannes Witwenrente bezieht – so eines der Beispiele, die Julia Hänni in ihrem Beitrag »Phänomenologie der juristischen Entscheidung. Zur Bedeutung des Gefühls in der praktisch-juristischen Argumentation« behandelt. Auch hierbei gilt es zu klären, woher das bewertende Vermögen seine Sicherheit im Urteil bezieht. Und drittens steht in jedem einzelnen Strafprozess die Angemessenheit des Strafmaßes für das jeweilige Delikt zur Debatte. Nach Auffassung von Hermann Schmitz entwickelt, wie skizziert, jede Rechtsgemeinschaft ein »Maß des unerträglich Empörenden«, bei dessen Überschreitung ein Ausgleich im Rechtsraum durch die Strafe hergestellt werden soll. Deren Bemessung hat einen starken Bezug zum Maß der geteilten Empörung, so wie sie sich im Strafgesetzbuch niedergeschlagen hat, sie kann aber nicht auf die einzelnen Gefühle der Individuen einer Rechtsgemeinschaft zurückgeführt werden. Entscheidend bei der Anwendung von rechtlichen Normen ist die intuitive Urteilskraft. Dies zeigt Julia Hänni in ihrem rechtswissenschaftlichen Beitrag auf, der die Rechtstheorie mit Anwendungsfragen verbindet. Hänni untersucht, gestützt auf eine phänomenologische Sicht der Wahrnehmung, in ihrem Beitrag die Frage, inwieweit im rational-logischen System rechtlicher Entscheidungsfindung Emotionen eine Rolle spielen: Sind sie hilfreich oder gar unerlässlich für juristische Entscheidungen? Oder gefährden ganz im Gegenteil Gefühle in der Rechtsanwendung 27 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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die Objektivität einer Entscheidung? Damit sind zentrale normative Fragen 5 einer emotionstheoretisch aufgeklärten Rechtsphilosophie angesprochen. Hänni geht von der phänomenologisch gestützten Erkenntnis aus, wonach die Wahrnehmung selbst emotionale Erkenntnis- und Bewertungsvorgänge enthält, und erschließt mit dieser theoretischen Perspektive den Prozess der Einschätzung einer rechtsrelevanten Sachlage und der gerichtlichen Entscheidungsfindung anhand von konkreten Fällen. Gerade bei schwierigen Auslegungsfragen im Recht wird deutlich, dass die Kompetenz einer primär intuitiven Wertung die juristische Urteilskraft wesentlich prägt. Die phänomenologische Betrachtung der Rechtsanwendung macht, so Hänni, die Offenheit eines Rechtssystems für außerrechtliche Wertmaßstäbe deutlich und stellt zugleich die Wertungskompetenz der Rechtsanwender als Grundpfeiler der Normativität einer Rechtsordnung dar. Ob die juristische Urteilskraft oder die einschlägige juristische Expertenintuition tatsächlich als affektives Vermögen zu verstehen ist, bleibt nicht nur innerhalb der Rechtswissenschaft weiterhin umstritten. Oft wird dieses Vermögen mit dem Begriff des »Rechtsgefühls« oder »Rechtsbewusstseins« identifiziert, auf dessen unterschiedliche Bedeutungsvarianten wir oben unter 4. eingegangen sind. Zu 6. Rechtliche Institutionen außerhalb des positiven Rechts Außerrechtliche oder quasi-rechtliche Institutionen weisen oft in besonderer Weise auf den Zusammenhang von Recht und Emotionen hin. Dies gilt etwa für die Rache, aber auch für andere Institutionen im weitesten Sinne wie Vergebung und Versöhnung. Rache kommt in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten vor und bedarf deshalb einer differenzierten Bewertung. Während sie in manchen traditionalistischen Gesellschaften ohne verschriftetes Rechtssystem oft in einer Weise ritualisiert 5 Vgl. unten »Zu 11. Die normative Frage: Welche Rolle sollen (welche) Gefühle in der Rechtsprechung spielen?«.
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war, die zu einem tatsächlichen Ausgleich zwischen Täter und Opfer führte und so die rechtliche Aufgabe der Vergeltung erfüllte, 6 nimmt sie später in der Geschichte eine Rolle ein, die mit der Rechtsprechung der Zentralgewalten konkurriert. Dabei konkurrieren auch unterschiedliche Ordnungen von Rechtsgefühlen: Während – folgt man Schmitz – in den staatlich verankerten Rechtssystemen die Vergeltung als Strafe nicht unmittelbar Maß nimmt an Zorn und Scham, sondern an den zugehörigen Vorgefühlen, insbesondere am Rechtsgefühl im engeren Sinne, so ist die Vergeltung als Rache unmittelbar aus den rechtlichen Hauptgefühlen Scham und Zorn motiviert. Ohne die feine Austarierung durch das Rechtsgefühl steht die Rache in Gefahr, das Unheil fortzupflanzen oder sogar zu verschlimmern, wenn ein zweites, überbietendes Verbrechen erneuten Zorn weckt. 7 Doch auch in Gesellschaften mit staatlichem Recht ist die Ablehnung der Rache durch die Rechtsgemeinschaft keineswegs eindeutig; oft wird die Schwäche des bestehenden Rechtssystems als Legitimation für Akte der rächenden Selbstjustiz angeführt. Rache bestimmt bis heute das kulturelle Imaginäre und wirkt nicht nur in vielen Alltagsfantasien, sondern auch in privatem, nicht strafbarem Handeln in modernen Gesellschaften. Fabian Bernhardt möchte in seinem Beitrag »Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung« die Struktur der Rache zunächst unabhängig von ihrer normativen Bewertung beschreiben. Ausgehend von der Eindeutigkeit, mit der Achills Demütigung des Leichnams von Hektor ebenso wie die Erschießung des mutmaßlichen Mörders ihrer Tochter durch Marianne Bachmaier im Lübecker Schwurgericht 1981 gleichermaßen als Rache identifiziert werden können, entwickelt Bernhardt eine These zur allgemeinen Struktur der Rache. Er fasst Rache als eine Relation auf, die in der Polarität von Handeln und Erleiden gründet und durch 6
Die verschiedenen gesellschaftlichen Formen der Rache untersucht Marcel Hénaff: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009, S. 330–348. 7 Vgl. Hermann Schmitz: Der Rechtsraum (= System der Philosophie, Bd. III,3), 2. Aufl. Bonn 1983, § 191 b): Rache und Strafe, S. 401.
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Unversöhnlichkeit gekennzeichnet ist; als Vergeltung können keinerlei positive Kompensationen etwa durch materiellen Ausgleich dienen. Die polare Struktur ist durch eine charakteristische Dopplung in der Zeit gekennzeichnet: Während zuerst Subjekt X handelt und Subjekt Y erleidet, handelt nach einer gewissen zeitlichen Differenz, in der das Geschehen in der Erinnerung lebendig gehalten wird, nunmehr das Subjekt Y, während das Subjekt X diesen zweiten Akt erleidet. Handlungen, die Rache provozieren, sind durch eine besonders krasse Asymmetrie von Verletzen und Verletztwerden gekennzeichnet, die vom Opfer als ein unerträgliches Ungleichgewicht und Unrecht empfunden wird und nach Ausgleich verlangt. Was dabei als Unrecht wahrgenommen wird, ist von den Werten und Normen des historischkulturellen Umfeldes abhängig. Wegen der Verbindung des Unrechtsgefühls mit einem tief erlittenen, leiblich verankerten Schmerz ist die eigene subjektive Perspektive in der Rache absolut. Die Verletzungen, die sie motivieren, sind, so Bernhardt, durch eine affektive ebenso wie durch eine normative Dimension gekennzeichnet. Auf der Skala derjenigen Institutionen, die auf einen Ausgleich des durch ein Unrecht gestörten Rechtsraums abzielen, repräsentiert die Rache ein Extrem, während die Etablierung eines staatlichen Rechtssystems mit seinen Strafen gewissermaßen die Mitte bildet und neue quasi-rechtliche Institutionen im engeren Sinne wie etwa Wahrheits- oder Versöhnungstribunale ein milderes Extrem mit einer modifizierten Rolle von rechtsrelevanten Emotionen darstellen. Diese angesichts besonders schlimmer und politisch folgenreicher Verbrechen neugeschaffenen Institutionen sollen ein vorhersehbares Entstehen von neuem Unrecht und entsprechend erneuter Empörung verhindern, wie es etwa durch kollektive Racheakte geschehen könnte, besonders wenn eine angemessene Vergeltung etwa durch Strafe durch die Unermesslichkeit der Verbrechen kaum möglich erscheint. Hier geht es um schwer traumatisierte Opfer, die in vielen Fällen aber auch selbst Täter waren. Da die in diesen Tribunalen zur Rechtsprechung eingesetzten Personen als ausgebildete Jurist_innen zumeist von außen kommen und die Rechtskultur der Opfer zusammengebro30 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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chen ist, ohne dass sich bereits eine neue gebildet hätte (deshalb spricht man hier von transitional justice), treffen hier oft zwei verschiedene Rechtskulturen aufeinander. Bei den verhandelten Verbrechen wie Völkermord, Massenvergewaltigungen und Folter ist oft fraglich, ob es überhaupt zu einem Ausgleich der Emotionen und zu einer Befriedung des zerstörten Rechtsraumes kommen kann. Susanne Karstedt untersucht in ihrem Beitrag »Emotions, Truth and Justice: Shared and Collective Emotions in Transitional Justice« die Bedeutung und Wirkung verschiedener Emotionen von Opfern und Tätern bei einer Reihe von Prozessen und Praktiken, die darauf abzielen, schwere Verbrechen einer gewaltsamen und oft diktatorischen Vergangenheit eines Staates nach einem einschneidenden gesellschaftlichen Umbruch aufzuarbeiten und für eine neue Befriedung des Gemeinwesens nutzbar zu machen. Sehr unterschiedliche bekannte Beispiele dieser transitional justice sind die Nürnberger Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher (1945–49) und die sogenannten Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika (1994–98). Schwerpunkt von Karstedts Untersuchung ist die Emotionsdynamik von Verfahren einer transitional justice, vor allem der Mechanismen, die sowohl die Emotionen zwischen Individuen als auch die innerhalb von Kollektiven steuern. Dazu wird ein theoretischer Rahmen entwickelt, in dem das Teilen von Emotionen als eine Verknüpfung zwischen individuellen und kollektiven Prozessen fungiert. Karstedt gibt einen Überblick über einschlägige Untersuchungen, die den emotionalen Einfluss von Verfahren einer transitional justice auf individuelle und kollektive Emotionen belegen. Ihre Analyse auf der Grundlage des Teilens von Emotionen berücksichtigt insbesondere den spezifischen rechtlichen Rahmen und die Probleme, die aus geteilten Traumata und Schuld entstehen, aber ebenso die Aussichten auf emotionale Entlastung und Befriedung sowie auf das emotionale Klima in dem jeweiligen Gemeinwesen. Entgegen mancher Hoffnungen legen bisherige empirische Untersuchungen nicht nahe, dass Verfahren einer transitional justice dieses emotionale Klima in der im Aufbau befindlichen neuen Gesellschaft im Allgemeinen positiv beeinflussen können. 31 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Zu 7. Rechtlich institutionalisierte Emotionen Die Überlegungen Bernhardts zur Rache lassen sich mit einer weiteren emotionswissenschaftlichen Idee verbinden. Denkt man an die Form der Blutrache, die sich über mehrere Generationen fortsetzt und ganze Familienclans ausrotten kann, so stellt sich aus moderner Sicht die Frage, wie es möglich ist, Rachegefühle ohne eigene Betroffenheit von dem ursprünglichen Verbrechen über Generationen hinweg aufrechtzuerhalten. Während Bernhardt hier auf die zentrale Rolle von Narrationen und gesellschaftlichem Imaginären verweist, kann diese Erklärung mit der Idee verbunden werden, dass manche Gefühle einen durchaus institutionalisierten Charakter haben und keineswegs einfach spontan auftreten, sondern als Dispositionen aufrechterhalten und bei Bedarf aktualisiert werden können, oft aber auch durch institutionelle Arrangements sorgsam erzeugt werden. Verfestigte und verfestigende Elemente von Emotionen finden sich nicht nur in der Etablierung von Familienlegenden und Heldenepen über geschehenes und gerächtes oder vergoltenes Unrecht wie dem »Rolandslied«, das Ingrid Kasten in mediävistischer Perspektive in ihrem Beitrag zu diesem Band untersucht, sondern auch in Architekturen und sogar in Verfahrensordnungen: Die typischen Architekturen von Gerichtsgebäuden sollen einschüchtern und Angst, aber auch Achtung vor dem hohen Gericht bewirken. Verfahrensordnungen geben z. B. dem »letzten Wort« des Angeklagten in festgelegter Form Raum; dies ist die Stelle, wo Scham-, Schuld- und Reuebekenntnisse erwartet werden. Auch wenn man die Authentizität dieser Bekenntnisse aus guten Gründen bezweifeln kann, 8 so setzt ein Ausbleiben der entsprechenden Bekenntnisse doch jedenfalls ein interpretationsbedürftiges Zeichen. Allerdings bleibt noch zu untersuchen, welche Emotionen durch unterschiedliche Rechtssysteme mit ihren jeweiligen Verfahrensordnungen oder sonstigen Mitteln erzeugt werden und welchen Einfluss sie im Einzelnen auf die Rechtsprechung ausüben. Ob dabei tatsächlich bestimmte Emotionen quasi institutionell erzeugt werden, ließe 8
Vgl. dazu den Beitrag von Murphy in diesem Band.
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sich beispielsweise durch einen Vergleich der typischerweise im adversatorischen und im inquisitorischen Recht 9 erzeugten Emotionen untersuchen. Eine ganz andere Art von Kontrast, der ebenfalls den institutionalisierten Charakter mancher Emotionen verdeutlichen kann, ermöglichen historische Analysen. Dies zeigt Ingrid Kasten in ihrem Beitrag »Recht und zorn im Rolandslied«. Sie untersucht das Rolandslied, das etwa um 1170 entstanden ist, mit kritischem Blick auf Norbert Elias’ These von der zunehmenden Kontrolle von Emotionen im Zivilisationsprozess und macht am Beispiel des Herrscherzorns deutlich, dass es sich hierbei um eine sorgsam kalkulierte Inszenierung handelt. Während in der christlichen Religion der Zorn einerseits als Todsünde mit der Tugend der Demut kontrastiert und negativ bewertet wird, erscheint er andererseits als ›Zorn Gottes‹ gut und gerecht. Ihm ähnelt der Herrscherzorn, die ira regis, die wie der Zorn Gottes Konflikte zu regulieren vermag. Zorn wird im Rolandslied in einigen Szenen direkt angesprochen, und die Angemessenheit der Affektäußerung wird sogar zwischen dem König und seinen Vasallen ausdrücklich ausgehandelt. Dem blinden Kampfeszorn wird dabei der kontrollierte Herrscherzorn entgegengestellt, der situationsgerecht und strategisch wohl berechnet zu Zwecken der Stabilisierung der Macht und des Rechts vom Herrscher eingesetzt wird. Legitimiert durch den übergeordneten Maßstab der Religion wird der Herrscherzorn zum Anzeichen des (schriftlich fixierten) Gesetzes des Herrschers gegenüber dem überkommenen Gewohnheitsrecht der untergeordneten Vasallen; der Zorn des Herrschers wird damit selbst zu so etwas wie einem Rechtsinstitut. Eine andere Art der institutionellen Verankerung von Gefühlen findet sich direkt im Gesetz, so wenn einige wenige Emotionen in Rechtsprechung und Gesetz auch heute noch als schüt9
Das adversatorische Rechtssystem, das im angelsächsischen Raum in Geltung ist, wird dominiert von der Auseinandersetzung der streitenden Parteien, von Anklage und Angeklagten, während im inquisitorischen Rechtssystem, das in Deutschland gilt, die Verfahren stärker durch den Richter bestimmt sind, der z. B. die Zeugen benennt und befragt. Im adversatorischen Recht werden sie dagegen von den Parteien ausgewählt und primär von ihnen befragt.
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zenswertes Gut benannt werden. Dies galt bis vor kurzem etwa für religiöse Gefühle, deren umstrittene rechtliche Verankerung Ute Frevert in historischer Perspektive untersucht. 10 Aber auch negative Gefühle werden im Recht als ahndungswürdig fixiert, wenn ihre Provokation verboten ist und mit Strafe belegt wird. So wird etwa (moralische) »Anstößigkeit« rechtlich verfolgt, was Dieter Birnbacher in seinem Beitrag über das Verbot des Geschwisterinzests untersucht und begrifflich aufklärt. Zu 8. Relationalität der rechtsrelevanten Emotionen Die rechtsrelevanten Emotionen sind nicht zuletzt in ihren kausalen Konsequenzen und Wechselwirkungen untereinander stark verbunden; in diesem Sinne folgen sie einer Art ›Grammatik‹. Wechselwirkungen lassen sich in vier verschiedenen Hinsichten konstatieren: 1. im Sinne einer nicht-zufälligen Abfolge von bestimmten Emotionen in quasi-rechtlichen Institutionen wie etwa in der von Fabian Bernhardt in diesem Band beschriebenen Struktur von Handeln und Erleiden bzw. von Verletzen und Verletztwerden, bei der Rache. Ähnliches gilt für das Ritual der Entschuldigung: So kann eine Entschuldigung für einen Fehler einen Ausbruch von Zorn in seinem Ausmaß begrenzen oder gar ganz verhindern; nicht zuletzt aus diesem Grund nutzen Angeklagte die Möglichkeit zum »letzten Wort«, um mit einem Schambekenntnis ihre Richterin milde zu stimmen. 11 Auch eine überzeugende Demonstration von Reue kann die Empörung der Opfer und des Publikums über das begangene Unrecht erheblich dämpfen. Andererseits führt ein Auftreten der 10
Ihr Beitrag wird unten unter 10. vorgestellt. Vgl. Murphy über die heute in Gerichtsprozessen etablierte Praxis der Entschuldigung und Humars Erwähnung von Reuebekenntnissen in der Antike, beide in diesem Band, sowie Alexander Kozin/Hilge Landweer/Stefanie Rosenmüller: A phenomenological ethnography of shame in the context of German criminal law, in: Empedocles: European Journal for the Philosophy of Communication, 6: 1/2015, S. 57–75, bes. S. 66 f.
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Angeklagten vor Gericht, das dessen Regeln missachtet, etwa wenn sie den Richter_innen ins Wort fallen oder in anderer Hinsicht »unverschämt« sind, dazu, dass Beobachter_innen und Kläger_innen den Angeklagten eher die Verantwortung für die Straftat zutrauen. 2. Soziale Relationen, die für bestimmte Gefühlskonstellationen eine notwendige Bedingung bilden, kommen in den Blick, wenn Landweer die Struktur von Demütigung als eine vierstellige Relation (Täter – Opfer – anwesendes Publikum – Öffentlichkeit) beschreibt, die im Gefühl des Sich-gedemütigt-Fühlens vorausgesetzt werden muss. Auch die Rache setzt eine bestimmte Konstellation von Opfer und Täter voraus; Scham und Peinlichkeit können ebenfalls als vierstellige Relationen beschrieben werden. 12 3. Die Phänomenologie des Leibes bietet eine weitere Beschreibungshinsicht für den Zusammenhang und die Abfolge bestimmter Gefühle an. Danach sind die in einer Situation Anwesenden durch leibliche Interaktion miteinander verbunden, was ermöglicht, mit eigenen Gefühlen auf die Gefühle anderer zu reagieren. 13 Durch eine Analyse der leiblichen Interaktionen kann deutlich werden, worauf die in den ersten beiden Punkten skizzierten Zusammenhänge beruhen: die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gefühlen untereinander einerseits und andererseits die Relationen der sozialen Beziehungen, die für ein bestimmtes Gefühl vorausgesetzt werden müssen wie etwa die vierstellige Relation der Demütigung. Diese Konstellationen rufen bestimmte Gefühle wie eine Art sozialer ›Grammatik‹ hervor. Zugleich dynamisieren die Gefühle aber auch die sozialen Beziehungen. Hier öffnet sich ein weites Forschungsfeld, das auch in der Phänomenologie erst ansatzweise bearbeitet wird. 12
Vgl. dazu Gabriele Taylor: Pride, Shame and Guilt, Oxford 1985. Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011; Hilge Landweer: Leibliche Interaktionen und gemeinsame Absichten, in: Marta Ubiali/Maren Wehrle (Hg.): Feeling and Value, Willing and Action. Essays in the Context of a Phenomenological Psychology, Phaenomenologica 216, Heidelberg/New York 2015, S. 263–291.
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4. Schließlich lassen sich begriffliche Beziehungen zwischen den einzelnen Rechtsgefühlen untersuchen, etwa wenn die rechtlichen Hauptgefühle Scham, Schuldgefühl, Zorn und Empörung Überschreitungen von Normen anzeigen, die entweder der Fühlende selbst (Scham und Schuldgefühl) oder Andere (Zorn und Empörung) zu verantworten haben, und dies als begriffliche Struktur verstanden wird. Manche Autor_innen nutzen solche Zusammenhänge, um den Begriff der Moral im Unterschied zu dem des Rechts daran zu binden. So geht Landweer im Anschluss an Schmitz und Tugendhat davon aus, dass eine Norm für jemanden im moralischen Sinne gilt, wenn er oder sie sich bei deren Übertretung durch andere empört, bei entsprechenden eigenen Verstößen gegen diese Norm schämen und sich schuldig fühlen würde, sofern aus seinem Verhalten ein Schaden für andere entstanden wäre. Murphy etwa hält eine Entschuldigung eines Angeklagten nur dann für überzeugend, wenn er die Tat auch ernsthaft bereut, und deutet damit auf eine begriffliche Verbindung von ›echtem‹ Schuldeingeständnis und Reue hin. All diese Phänomene und Relationen weisen darauf hin, dass man Emotionen nicht einfach für sich allein hat, sondern dass man durch sie mit anderen verbunden ist. Welche Konsequenzen die Relationalität von Emotionen im Allgemeinen und von rechtsrelevanten Emotionen im Besonderen für die Theorie und Praxis der Rechtsprechung hat oder gar haben sollte, ist ein Forschungsfeld, das bislang kaum die ihm gebührende Beachtung gefunden hat. Zu 9. Der Anteil der Künste (Literatur, Theater, Film, Musik etc.) an der Verbindung von Recht und Emotion Gefühle sind nicht schlicht natürliche, universelle Phänomene. Beim Menschen sind Emotionen keine angeborenen Instinkte, sondern immer schon kulturell modelliert, nicht zuletzt deshalb, weil Menschen über Gefühle sprechen können und sie eine Be36 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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deutung haben, die sprachlich oder im weiteren Sinn symbolisch konstituiert ist. Dabei geht es nicht nur um die von unterschiedlichen Kontexten geprägten emotionalen Lexika, sondern ebenso um die emotionalen Codes, die insbesondere die großen Erzählungen über die entsprechend großen (und kleinen) Gefühle entwickeln, sich aber ebenso in allen anderen literarischen Genres einschließlich der Rhetorik vor Gericht, in Theater, Film und Musik auffinden lassen. Wenn bei der kritischen Untersuchung emotionaler Kodierungen auf die Normierung von Gefühlen abgehoben wird, so wird in der Forschung auch von »Gefühlsregimen« gesprochen. Alle symbolischen Formen, die Menschen ausgebildet haben, tragen dazu bei, Gefühle in jeweils spezifischer Weise zu gestalten und auszuformulieren. Dies gilt auch für die Rechtsgefühle, deren phänomenologisch beschreibbare Verlaufsgestalten medial aufgegriffen und mit künstlerischen Mitteln neu geformt werden. Dies ist der theoretische Hintergrund von Matthias Grotkopps filmwissenschaftlichem Beitrag »Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre. Rechtsgefühle und ambivalente Gewalt in Clint Eastwoods Unforgiven«. Er nimmt die ästhetischen Inszenierungen von Schuldgefühlen, die keineswegs mit den Emotionen der dargestellten Figuren identisch sein müssen, in den Blick. Das Westerngenre zeichnet sich dadurch aus, dass die Gründung einer Rechtsordnung und damit von Gemeinschaft als eine Überwindung von Unrecht und Gewalt durch nicht legitimierte, aber Legitimität hervorbringende Gewaltakte imaginiert wird. Gegenstand von Grotkopps Untersuchung ist die Beziehung von ästhetischer Erfahrung, Moral und Gemeinschaftsbindung. So bringen filmische Erfahrungs- und Ausdrucksmodalitäten Zusammenschlüsse hervor, die von den Zuschauern als eine geteilte Welt realisiert werden. Clint Eastwoods »Unforgiven« allerdings nagt am Mythos der rechtsetzenden Gewalt, die stets die Richtigen trifft. Dies zeigt Grotkopp durch seine Analyse des Schuldgefühls als einer bestimmten Modalität filmischer Expressivität und Rhythmisierungen durch Schnitte und Perspektiven, die er auf einem filmtheoretischen und leibphänomenologischen Hintergrund vornimmt. 37 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Marcel Humar bezieht sich in seinem Beitrag auf die antike Rhetorik. Er zeigt in seinem Text »Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede. Rhetorische Strategien der Sanktionierung durch Gefühle«, wie der Verweis auf Reue in Reden eingesetzt wird, um zu versuchen, die Urteilsfindung des Richtergremiums zu beeinflussen. Während die bisherige Forschung vor allem die Gefühle untersucht hat, die durch geschickte rhetorische Mittel bei den Richtern gegenüber dem Angeklagten oder den Anklägern erzeugt werden sollen, geht es in Humars Beitrag darum, die rhetorische Gestaltung eines Gefühls zu untersuchen, das den Richtern selbst gewissermaßen angedroht wird für den Fall, dass ihr Urteil sich nachträglich als falsch erweisen sollte. Auch Ingrid Kasten befasst sich in ihrem Beitrag über das »Rolandslied« mit den fein abgestimmten sprachlichen Mitteln, die im Text den Herrscherzorn ebenso wie andere, mit ihm zusammenhängende oder entgegengesetzte Gefühle gestalten. Ihr geht es dabei um die Kontextualisierung dieser alten Form des mittelhochdeutschen zorns, die wesentlich eine Art des (Zorn-)Handelns und weniger eine Emotion im heutigen Sinne des Wortes bezeichnete. Damit leistet sie auch einen Beitrag zur Geschichte ebenso wie zur historischen Semantik der Gefühle: Das, was wir heute als »Ärger« auffassen, hat mit dem mittelalterlichen zorn wenig gemein. Im Kontrast zum Mittelalter wird auch deutlich, wie wenig selbstverständlich die Geltung eines schriftlich fixierten Rechts ist und wie sich der Kampf darum in einer Stilisierung bestimmter, exakt beherrschter Emotionen zeigt. Zu 10. Emotionen und Recht in historischer Perspektive Die Geschichtswissenschaft analysiert ihre Gegenstände in ihrer Abhängigkeit von Raum und Zeit; sie historisiert sie. Welche Bedeutung kommt der Rechts- und Kulturgeschichte und der Geschichte überhaupt bei der Ausbildung und Modulierung von rechtsrelevanten Emotionen zu? Diese Frage setzt voraus, dass Gefühle eine Geschichte haben, dass sie kulturell geformt, gesellschaftlich normiert und erlernt werden. Aber auch umgekehrt ist 38 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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zu fragen: Welche Bedeutung haben Emotionen für historische und auch rechtsgeschichtliche Entwicklungen? Wenn sie in diesem Sinne »Geschichte machen«, in welchen einzelnen Prozessen oder Ereignissen zeigt sich die aktive Rolle von Emotionen für die Geschichte besonders deutlich? Diese äußerst umfassenden Fragen zu untersuchen ist Aufgabe der historischen Emotionsforschung. Dabei scheint es auf der Hand zu liegen, dass die Rechtsgefühle in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche eine zentrale Rolle spielen. Der Beitrag von Ute Frevert über religiöse Gefühle verdeutlicht, dass (manche) Gefühle als schützenswertes Gut Bestandteil des Rechts waren und bis heute sind und auch in Zeiten von Restauration und Stabilisierung eine zentrale Bedeutung für die Gesellschaft haben, die zumeist erst im Falle eines scheinbaren oder tatsächlichen Rechtsbruchs und in den entsprechend umstrittenen Rechtsprozessen zutage tritt. Frevert skizziert in ihrem Beitrag »Vom Schutz religiöser Gefühle: Rechtspraxis und Theorie in der Moderne« die Geschichte des Rechtsschutzes religiöser Gefühle im 19. und 20. Jahrhundert und zeigt dabei anhand verschiedener mehr oder weniger bekannter Rechtsfälle, wie unterschiedlich die systematische Frage, ob und wie religiöse Gefühle ein Rechtsgut darstellen, in diesem Zeitraum beantwortet worden ist. Dabei wird deutlich, dass die Probleme, die sich am Fall der Mohammed-Karikaturen 2005 in der dänischen Zeitung Jyllands Posten entzündeten und 2015 in der Ermordung der Pariser Karikaturisten von Charlie Hebdo gipfelten, keineswegs neu sind. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Freverts Diskussion der verschiedenen politischen und juristischen Stellungnahmen zur Aufführung des Stücks Mahomet von Henri de Bornier 1888 in der Pariser Comédie-Française wie auch der bekannte Fall George Grosz, der 1927 für die Aufführung des Braven Soldaten Schwejk auf der Berliner Piscator-Bühne eine Reihe von Zeichnungen geschaffen hatte, die ihm und seinem Verleger eine Anklage wegen Gotteslästerung eintrugen. Systematisch umstritten ist bei diesen und anderen Beispielen die Frage, ob tatsächlich eine rohe Beschimpfung der Religion vorliegt und diese angemessen an die Verletzung von begrifflich wenig geklärten religiösen Ge39 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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fühlen und Empfindungen zu binden ist. Die Strafvorschriften, die unter dem Titel »Störung des religiösen Friedens« als »Friedensschutztheorie« zusammengefasst werden können, benennen im § 166 des deutschen Strafrechts den öffentlichen Frieden und nicht die immer wieder als subjektiv verdächtigten religiösen Gefühle (»Gefühlsschutztheorie«) als Rechtsgut. Insgesamt scheint uns eine Auseinandersetzung mit der Rechtsgeschichte wie auch mit der Geschichte der Emotionen unverzichtbar, um moderne Rechtsentwicklungen verstehen, bewerten und gegebenenfalls auch kritisieren zu können. Und so wie vor ca. fünfzig Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Wissenschaftsgeschichte zu einschlägigen und folgenreichen Korrekturen einer normativen Wissenschaftstheorie geführt hat, so können vielleicht in vergleichbarer Weise auch von einer intensiven historischen Beschäftigung mit Recht und Emotionen neue Gesichtspunkte und Forschungsentwicklungen für systematische und nicht zuletzt normative Zusammenhänge zwischen Recht und Emotion erwartet werden. Zu 11. Die normative Frage: Welche Rolle sollen Gefühle in der Rechtsprechung spielen? Diese Frage scheint uns aus philosophischer Sicht die wichtigste Frage zu sein, die im Zusammenhang mit Recht und Emotion gestellt wird. Denn fast jeder, der mit dem Thema dieses Bandes in Berührung kommt, stellt sich intuitiv sofort die Frage, ob das Recht der Subjektivität der Gefühle ausgeliefert werden soll. Wir haben inzwischen einige Gründe, vor allem im Zusammenhang mit der Relationalität der Emotionen, genannt, mit denen gerade die Subjektivität der Emotionen bestritten und deren Intersubjektivität, insbesondere die der Rechtsgefühle, herausgestellt wird. Dennoch stellt die Frage nach der Normativität weiterhin eine große Herausforderung dar, da sie sich auch unter der Voraussetzung der Intersubjektivität von Gefühlen nicht pauschal beantworten lässt. Zumindest in Deutschland zielt die Ausbildung von Jurist_in40 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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nen darauf ab, eigene Gefühle nicht in die Beurteilung von Streitfällen einfließen zu lassen. Diese Auffassung ignoriert das Faktum, dass Emotionen bereits für die Wahrnehmung der rechtlichen Relevanz von Sachverhalten eine entscheidende Rolle spielen. In welcher Weise kann und soll mit Emotionen in der Rechtsprechung umgegangen werden, wenn sie generell eine wichtige Rolle für Bewertungen spielen? Und wie soll das in der Ausbildung von Jurist_innen berücksichtigt werden? Das weite Spektrum dieser Fragen wird in unserem Band gleich von drei Autor_innen aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen und bearbeitet. Julia Hänni schlägt in ihrem Beitrag vor, zwischen der rechtlichen Entscheidung, die als Bewertung auf Emotionen angewiesen ist, und ihrer Begründung, der Entscheiddarstellung, die der rechtlichen Logik folgen muss, zu unterscheiden. In ihrem Beitrag »Emotions in the Evaluation of Legal Risk« geht Lauren Ware davon aus, dass Risiken bei der rechtlichen Entscheidungsfindung nicht selten eine Frage von Leben und Tod sind. Sie vertritt dazu die These, dass die etablierte Art und Weise, wie Emotionen in diesen Entscheidungsprozess involviert sind, mangelhaft ist. Diese etablierte Art folge der standard-probabilistischen Theorie des Risikos. Akzeptieren wir demgegenüber eine modale Theorie des Risikos, so ändert dies nach Wares Auffassung die Art und Weise, wie eine ganze Reihe rechtlicher Akteure – etwa Angeklagte, Anwälte, Richter, Geschworene, Gesetzgeber und auch die Polizei – darüber denken sollte, wie Emotionen die rechtliche Entscheidungsfindung beeinflussen. Ein Schwerpunkt von Wares Beitrag besteht in der Untersuchung der Frage, was es für unser Verständnis von Emotionen bei der Bewertung rechtlichen Risikos, insbesondere des Risikos unrechtmäßiger Verurteilung, bedeuten würde, wenn wir eine modale Theorie des Risikos akzeptieren. Zum Schluss überlegt Ware, welche rechtlichen Praktiken und Strukturen verbessert oder aufgegeben werden sollten, um dadurch die Bedingungen zu verbessern, die eine angemessene Berücksichtigung der bewertenden Kraft einschlägiger Emotionen in rechtlicher Entscheidungsfindung gewährleisten. In seinem Beitrag »Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens« untersucht Dieter Birnbacher die allgemeine 41 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Frage, ob und wie weit eine Rechtfertigung von Strafnormen unter Bezug auf moralische Emotionen wie Empörung und Entrüstung überzeugen kann, anhand der Strafnorm des § 173 StGB, die den Inzest mit leiblichen Verwandten aufsteigender Linie unter Strafe stellt. Dazu wird der konkrete Fall eines volljährigen Mannes geschildert, der mit seiner getrennt von ihm aufgewachsenen Schwester in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenlebt und deswegen seit 2002 mehr als drei Jahre in Haft verbracht hat. Birnbacher erörtert die besondere Begründungsbedürftigkeit für strafrechtliche Verbote und formuliert Bedingungen für die Androhung und Verhängung zu Recht bestehender staatlicher Strafen, die ihrerseits Kriterien für die Strafgesetzgebung bereitstellen sollen. Die Vielfalt rechtsethischer Strategien der Rechtfertigung strafrechtlicher Sanktionen wird vorgestellt und kritisch diskutiert, wobei neben dem harm principle des extremen strafrechtlichen Liberalismus das zusätzlich akzeptierte offence principle eine entscheidende Rolle spielt. Das offence principle zeichnet sich dadurch aus, dass es auch die rechtsrelevante Emotion der Anstößigkeit im öffentlichen Verhalten (klassischer strafrechtlicher Liberalismus) oder auch im privaten Verhalten (utilitaristischer strafrechtlicher Liberalismus) als strafbegründend anerkennt. Die Pointe von Birnbachers Aufsatz besteht in seiner detaillierten Argumentation, dass selbst bei einer durch sinnvolle Kriterien spezifizierten Akzeptanz der rechtsrelevanten Emotion privater Anstößigkeit eine rechtsethische Begründung des Inzestverbots unter volljährigen Verwandten nicht überzeugend gegeben werden kann. Nach der Darstellung von elf Schwerpunkten zum systematischen Zusammenhang von Recht und Emotion, die in dem vorliegenden Band von Autor_innen aus unterschiedlichen Disziplinen aufgegriffen und kontrovers diskutiert werden, erscheint es uns abschließend notwendig, noch kurz einige Forschungsfragen anzusprechen, die bisher – vor allem in Deutschland, aber größtenteils auch international – nur wenig untersucht wurden und als besonders wichtige Desiderata anzusehen sind.
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Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
(1) Emotionen in Gerichtsprozessen. Methodische Probleme Eine intuitiv naheliegende Form, die tatsächliche Rolle von Emotionen in Gerichtsprozessen zu untersuchen, ist die empirische Erforschung der Gefühle der Kläger_innen, der Angeklagten, der Zeug_innen, der Anwält_innen, aber auch die des/der Richters/ Richterin und die des/der Staatsanwalts/Staatsanwältin. Welche Rolle spielen bei ihnen welche Emotionen, und lässt sich – im Sinne der 8. Fragestellung nach der Relationalität der Rechtsgefühle – eine bestimmte Abfolge oder Interaktion von Emotionen beobachten? Empirische Studien zur Rolle von Emotionen vor Gericht gibt es vor allem in den USA, da hier die Law Studies etabliert sind. Dies hängt damit zusammen, dass diese Studiengänge nicht in erster Linie der Ausbildung von Jurist_innen dienen, sondern Teil sozialwissenschaftlicher Disziplinen sind. Deshalb ist die angelsächsisch dominierte internationale Diskussion stark von rechtssoziologischen und rechtspsychologischen Perspektiven bestimmt. Wenn es um spezifische rechtliche Prozesse geht, so konzentrieren sich die Law Studies naturgemäß auf das adversatorische Rechtsmodell und damit auf die streitenden Parteien. 14 Dagegen stehen Untersuchungen zu den einschlägigen Gefühlen im inquisitorischen Rechtssystem hinsichtlich ihres kausalen und vielleicht gar normativen Einflusses in Gerichtsprozessen bisher noch weitgehend aus. Dass die streitenden Parteien oft durch starke Gefühle motiviert werden, dürfte unstrittig sein, da dies der Sachlage des geschehenen Unrechts geschuldet ist. Welche Rolle spielen aber die Gefühle eines Richters etwa in deutschen Gerichtsverfahren? Seine professionelle Ausbildung zielt über weite Strecken darauf ab, sich eines emotionalen Urteils zu enthalten und die Sachlage unparteilich zu prüfen. Andererseits bedarf auch der Richter einer wertenden Wahrnehmung, um Rechtslagen beurteilen zu können, wie wir bereits im 5. Punkt, der sich auf die angemessene Anwendung von Rechtsnormen bezieht, skizziert haben und Julia Hänni in ihrem Beitrag zu diesem Band ausgeführt hat. In diesem 14
Zum Unterschied der beiden Rechtssysteme vgl. oben Anm. 9.
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Zusammenhang steht es außer Zweifel, dass Emotionen in der wertenden Wahrnehmung besonders wirkmächtig sind und ihr kausaler und normativer Einfluss in Gerichtsprozessen genauer zu untersuchen ist. Es sei hier darauf hingewiesen, dass die empirische Untersuchung von Emotionen in Gerichtsverhandlungen auf verschiedene Schwierigkeiten stößt. So darf in deutschen Gerichten – anders als in den USA und Großbritannien – auch zu wissenschaftlichen Zwecken nichts auditiv oder visuell dokumentiert werden, so dass hier als Erhebungsmethoden nur die Prozessbeobachtung und empirische Befragungen vor oder nach dem Verfahren zur Verfügung stehen. Es wäre ein lohnendes Thema, sich eigens mit den methodischen Problemen der empirischen Beobachtung von Gerichtsverfahren und insbesondere mit den dabei wahrnehmbaren Emotionen zu befassen. Eine besondere methodologische Herausforderung stellt wie bei allen anderen Themen ein interdisziplinärer Zugang dar, der die unterschiedlichen ›Sprachen‹ der beteiligten Disziplinen erst einmal wechselseitig ›übersetzen‹ muss. Denn die Rechtswissenschaft allein kann weder sozialwissenschaftlich forschen noch ihre rechtsphilosophischen Grundlagen unabhängig von der Philosophie aufarbeiten. Umgekehrt bedürfen auch Philosophie und alle anderen Disziplinen einschließlich Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften in dem thematischen Feld, das durch den Titel »Recht und Emotion« abgesteckt ist, der Rechtswissenschaft, insofern sie für Gesetzgebung und Rechtsprechung Relevanz beanspruchen. Hier öffnet sich ein wahrlich weites Feld für weitere Forschungen. (2) In welchem Verhältnis stehen Rechtsgefühle zu moralischen Gefühlen? Aus philosophischer Sicht scheint eine begriffliche Klärung des Verhältnisses von Rechtsgefühlen zu moralischen Gefühlen besonders wichtig zu sein. Dass beide Gruppen von Gefühlen extensional äquivalent sind oder zumindest häufig so betrachtet wer44 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
den, erscheint dann wenig überraschend, wenn in unserer affektiven Betroffenheit die Quelle für jede Form von Bewertung und Normativität gesehen wird. Andererseits könnte die Pointe der unterschiedlichen Bezeichnungen darin liegen, dass sie sich auf verschiedene semantische Aspekte der entsprechenden Gefühle und somit auch auf unterschiedliche Begriffe beziehen. Dann wäre zu fragen: Sind Rechtsgefühle tatsächlich nichts anderes als moralische Gefühle? Und falls nicht: Wo genau liegt die spezifische Differenz? Gibt es theoretisch aufschlussreiche Überschneidungen zwischen Rechtsgefühlen und moralischen Gefühlen? Weist vielleicht gar die Unterscheidung von Recht und Moral eine bislang übersehene Beziehung zu Rechtsgefühlen und moralischen Gefühlen auf und spiegelt sich in diesen wider? Wenn ja, wie lässt sich unser besseres Verständnis der einen Unterscheidung für das Verständnis der anderen fruchtbar machen? Wie ist eine Unterscheidung zwischen rechtsrelevanten Gefühlen und moralischen Gefühlen zu explizieren? Könnte eine solche Explikation gar unser Verständnis der Unterscheidung von Recht und Moral weiter klären und vertiefen? (3) Zur Rationalität von rechtsrelevanten Emotionen Wenn es einen nicht bloß marginalen Zusammenhang zwischen Recht und Emotionen gibt, welche Bedeutung haben die hier vorgestellten verschiedenen systematischen Zusammenhänge für unser Verständnis von Rationalität? Geht man davon aus, dass primär oder ausschließlich Überzeugungen (theoretische Rationalität) und Handlungen (praktische Rationalität) als rational ausgezeichnet werden und Emotionen per se nicht rational sind, so wird man zwar vielleicht zugestehen, dass Gefühle im Recht faktisch eine Rolle spielen, aber normativ gerade für deren Ausschließung aus dem Recht argumentieren. Ist man dagegen der Auffassung, dass Gefühle nicht nur schlechte Gründe für das Recht liefern können, sondern auch gute, die aber auf genauere Klärung angewiesen sind, um Eingang in Begründungen für das Recht finden zu können, so scheint dem ein anderes Verständnis von 45 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Hilge Landweer und Dirk Koppelberg
Rationalität zugrunde zu liegen. Sind hier die Emotionen selbst rational oder lediglich ihre jeweilige Erläuterung unter Bezug auf einschlägige Werturteile? Wird dabei nur der Begriff der Rationalität weiter gefasst und auf Emotionen ausgedehnt? Dies versucht z. B. de Sousa, allerdings nicht im Zusammenhang mit Fragen des Rechts. 15 Ändert sich durch die Übertragung auf Emotionen wirklich der Rationalitätsbegriff oder lediglich der Bereich seiner Anwendung? Zweifellos gibt es gute Gründe dafür, dass Emotionen durchaus, wenn auch nicht immer, rational sein können. Es gibt auch gute Gründe dafür, dass sie durchaus, wenn auch nicht immer, für rationales Verhalten oder rationale Entscheidungen, (mit-)konstitutiv sind. All das mag man zugestehen. Aber in welchem Sinn ändert sich dadurch etwas am Verständnis von Rationalität? Ließen sich entsprechende Änderungen aufweisen, so läge darin eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für dasjenige Anliegen, das nicht wenige Philosoph_innen als zentral für ihre Disziplin erachten, nämlich die Konturen eines angemessenen Rationalitätsbegriffs zu zeichnen, der unserem Selbstverständnis sowohl empirisch wie auch normativ gerecht wird. In dieser Einleitung haben wir die wichtigsten Aspekte vorgestellt, die den Zusammenhang von Recht und Emotion deutlich machen, und zu den Beiträgen dieses Bandes in Beziehung gesetzt. In einem zweiten Band über »Recht und Emotion« wird dieses Programm weiter verfolgt werden. Literatur De Sousa, Ronald: The Rationality of Emotions, Cambridge, MA/London 1978. Hénaff, Marcel: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009. Kozin, Alexander/Landweer, Hilge/Rosenmüller, Stefanie: A phenomenological ethnography of shame in the context of German criminal law, in: Empedocles: European Journal for the Philosophy of Communication, 6: 1/2015, S. 57–75. 15
Vgl. Ronald de Sousa: The Rationality of Emotions, Cambridge, MA/London 1978.
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Der verkannte Zusammenhang von Recht und Emotion
Landweer, Hilge: Leibliche Interaktionen und gemeinsame Absichten, in: Marta Ubiali/Maren Wehrle (Hg.): Feeling and Value, Willing and Action. Essays in the Context of a Phenomenological Psychology, Phaenomenologica 216, Heidelberg/ New York 2015, S. 263–291. Schmitz, Hermann: Der Rechtsraum (= System der Philosophie, Bd. III,3), 2. Aufl. Bonn 1983. Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin 2011. Taylor, Gabriele: Pride, Shame and Guilt, Oxford 1985.
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II. Rechtsgründung und Rechtsgeltung
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Befreiung des Rechts aus der Introjektion
Ein Paradigmenwechsel im menschlichen Welt- und Selbstverständnis nach Art einer Wasserscheide war die Weltspaltung, die sich in Griechenland in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts durchsetzt und im folgenden 4. Jahrhundert von Platon und Aristoteles zu durchschlagendem Erfolg geführt wird; ihre prägende und bestimmende Kraft durchzieht die abendländische Tradition und wirkt bis heute. Das Motiv des Paradigmenwechsels war das Bedürfnis, die besonnene Person in der Rolle der Vernunft bei der Beherrschung ihrer unwillkürlichen Regungen – des Eros, des Phobos, des Zorns, der Lust usw. – zu unterstützen. Zu diesem Zweck wurde jedem Bewussthaber eine private Innenwelt (Seele, Psyché) zugewiesen, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wurde. Die zwischen den Seelen verbleibende empirische Außenwelt wurde von allen ergreifenden Mächten, die die unwillkürlichen Regungen infiltrieren könnten, gereinigt und bis auf wenige Merkmalsorten und deren erdachte Träger abgeschliffen. Diese Merkmalsorten waren so gut gewählt, dass sie noch heute den Datenvorrat bilden, an dem die Physik im Experiment ihre Hypothesen prüft, doch kam es damals noch nicht auf die Weltbemächtigung, sondern erst auf die Selbstbemächtigung an. Der Abfall der Abschleifung wurde teils absichtlich in den Seelen abgelegt, teils übersehen und dann doch irgendwie in die Seelen übernommen oder in einem Zwischenreich liegen gelassen. Das widerfuhr namentlich den Atmosphären und den Situationen. In derselben Weise wirkte die der Weltspaltung angehörige Menschspaltung. Der Spaltung der Welt in Innenwelten (Seelen) und Außenwelt entsprach die Spaltung des Menschen in Innenwelt (Seele) und Körper. Zwischen diesen beiden Menschteilen wurde 51 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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der spürbare Leib mit seiner eigentümlichen Ausdehnungsweise und Dynamik übersehen. Er ist nicht körperlich, weil flächenlos, und nicht seelisch, weil räumlich ausgedehnt in weitgehender (wenn auch nicht definitiver) Übereinstimmung mit dem Lokal des Körpers; auch nur an die Möglichkeit flächenloser Räume zu denken, fiel den Autoren der Welt- und Menschspaltung nicht ein. Mit dem Leib vergaßen sie selbstverständlich die leibliche Kommunikation, die Grundform aller Wahrnehmung und aller Kontakte. Das Erbe der Weltspaltung übernahmen später das Christentum und die Naturwissenschaft, wobei sich das Christentum auf die Innerlichkeit, die Seelen, konzentrierte, die Naturwissenschaft ab 1600 dagegen auf die in der Weltspaltung reduzierte Außenwelt zum Zweck der theoretischen und praktischen Weltbemächtigung. Die von der Weltspaltung unlösbar aufgeworfene Rätselfrage, wie der Bewussthaber aus seiner abgeschlossenen Innenwelt (ohne leibliche Kommunikation) herauskommen könne, übergab die Naturwissenschaft der physikalisch interpretierten Signalübertragung ins Gehirn und ließ sie damit offen an der Schwelle vom Gehirn zum Bewussthaber. Einer der Haupteffekte der Weltspaltung ist die totale Privatisierung des Erlebens, hauptsächlich durch Introjektion der Gefühle. Nach meiner vielfach vorgetragenen These sind Gefühle Atmosphären, die teils bloß wahrgenommen werden, teils leiblich spürbar in affektivem Betroffensein schleichend oder stürmisch die Person ergreifen und ihr dann nach einer Anfangsphase, in der sie ihren Impuls vom Gefühl gefangen nehmen lässt, Gelegenheit zur Stellungnahme in Preisgabe oder Widerstand und damit zur Entwicklung eines persönlichen Stils des Fühlens geben. So verstanden, können Gefühle ebenso individuell wie kollektiv sein, d. h. gefühlt werden. So wurden sie verstanden, ehe die Introjektion sich durchgesetzt hatte. Thukydides beschreibt den Aufbruch der Athener zur katastrophalen Expedition nach Sizilien so: »Eros zur Ausfahrt fuhr in alle gleichmäßig hinein.« 1 Vom Phobos, der aufscheuchenden Macht des Entsetzens, berichten Herodot und Thukydides, dass er oft plötzlich und ohne ersichtlichen Anlass in 1
Historien VI 24, 3.
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Befreiung des Rechts aus der Introjektion
große Heere einfällt und panische Flucht veranlasst, selbst wenn kein Kampf vorangegangen ist. 2 Später reduziert man Gefühle auf Lust und Unlust, die ihnen nach Aristoteles folgen, 3 während sie nach Kant selbst Lust und Unlust als bloß subjektive Zustände ohne objektivierende Leistung sind; 4 so hatte schon Spinoza Liebe als Lust, begleitet von der Vorstellung einer äußeren Ursache, definiert. Die meisten Psychologen denken so, während Brentano mit Phänomenologen wie Husserl und Scheler im Gefolge die Gefühle als Bewusstseinsakte in der dritten Klasse seiner Klassifikation psychischer Phänomene, derjenigen der Gefühls- und Willensakte, unterbringt und ihnen wenigstens einen Gegenstand gönnt, aber privat bleiben sie auch so. Nach meiner Meinung kann dasselbe Gefühl viele ergreifen, von denen jeder sein eigenes Fühlen als affektives Betroffensein vom Gefühl hat. Der Introjektion des Gefühls entspricht die Introjektion des Rechts durch Verteilung des gemeinsamen Rechts einer Population auf subjektive Rechte, die die einzelnen Angehörigen in ihrem Besitz haben. Diese Privatisierung des Rechts zum Recht von jemand tritt allerdings viel später als die Weltspaltung ein. Sie ist noch nicht antik. Aristoteles berichtet einen Ausspruch des Sophisten Lykophron, das Gesetz sei den Bürgern Bürge der gerechten Dinge im Verhältnis zu einander. 5 Wir würden erwarten: Das Gesetz verbürgt die gegenseitigen Rechte der Bürger. Aristoteles und Lykophron meinen dagegen: Das Gesetz als Verkörperung des einheitlichen Rechts sorgt dafür, dass es zwischen den Bürgern gerecht zugehen kann. Auch die Römer haben keinen Begriff vom subjektiven Recht. Das ius war ihnen ursprünglich ein Bereich der Geschütztheit vor dämonischen Mächten, 6 so etwas wie die fides, eine Atmosphäre, die Treugeber und Treunehmer umfasst. Später wird das ius von jemandem teils als Klageanspruch (actio), teils als anerkannte Machtstellung (potestas) 2 3 4 5 6
Herodot IV 203, 3; VII 10έ; Thukydides IV 125, 1; VII 80, 3; VIII 105, 3. Nikomachische Ethik 1105 b 21–23. Kritik der Urteilskraft § 3. Aristoteles, Politik 1280 b 11. Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg 2012, S. 79 f.
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verstanden, ohne einheitlichen Begriff. Dieser scheint eine Errungenschaft des mittelalterlichen Feudalismus zu sein. Die einheitlich dominierende Staatsgewalt, das imperium, zerfällt damals in Bündel von Privilegien und Regalien. Der Wahlspruch des anglofranzösischen Herrscherhauses der Plantagenet lautet: »Dieu et mon droit!« (»Gott und mein Recht!«) Der Mann verlangt sein subjektives Recht als seinen Privatbesitz, über dem nicht mehr ein gemeinsames irdisches Recht steht, sondern nur noch Gott mit seiner transzendenten Gesetzgebung. Den Höhepunkt erreicht diese Privatisierung des Rechts in der Rechtslehre von Kant, der das Recht auf die Garantie der individuellen, nur durch ein allgemeines Gesetz zur Sozialverträglichkeit gedämpften Willkür einschränkt; sein »Allgemeines Prinzip des Rechts« lautet: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« 7 Unmittelbar davor steht seine Definition, die sich von diesem Prinzip nur durch Verschiebung des Wortes »Freiheit« unterscheidet: »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.« Nun müsste man eigentlich nach einem Kriterium des Rechts oder Unrechts für den Inhalt eines solchen allgemeinen Gesetzes fragen, denn der kann natürlich sehr ungerecht ausfallen und müsste wenigstens einem an Hand eines weiteren Rechtsprinzips prüfenden Urteil ausgesetzt sein, aber dafür hat Kant nichts übrig. Ihm genügt irgendein allgemeines Gesetz, mag es auch von einem tyrannischen Usurpator noch so eigensüchtig festgesetzt sein. Daraus ergibt sich logisch seine radikale Ablehnung jedes Widerstandsrechts der Untertanen. »Der Grund der Pflicht des Volkes einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen liegt darin: dass ein Widerstand gegen die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung 7
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung, § C, Akademieausgabe Band VI, S. 220.
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Befreiung des Rechts aus der Introjektion
vernichtend gedacht werden muß.« 8 Strafbar ist nach Kant sogar, nach der Legitimation eines Tyrannen, der sich gewaltsam des Staates bemächtigt hat, zu fragen und sich ihm gegebenenfalls zu widersetzen, sofern sein Befehl »nicht dem inneren Moralischen widerstreitet« 9. Ein solcher Widerstand würde sich erdreisten, »Gewalt an die Stelle der alle Rechte zu oberst vorschreibenden Gesetzgebung zu setzen; welches einen sich selbst zerstörenden obersten Willen abgeben würde« 10. Man sieht, dass es Kant nur auf die Geltung eines allgemeinen Gesetzes, nicht auf dessen Inhalt, ankommt, weil ohne solches Gesetz bloße schrankenlose Privatwillkür bliebe; der Inhalt muss gleichgültig sein, weil die Zerlegung des Rechts in private Willkürrechte unter der bloßen Beschränkung auf Sozialverträglichkeit dafür keinen Maßstab hergibt. Diese krasse Lücke im Rechtsverständnis, von Kant selbst als »Paradoxie«9 eingeräumt, macht deutlich, dass die vollständige Zerlegung des Rechts in private Rechte unter einem bloß formalen Rahmen nicht durchführbar ist. In der Tat hat die spätere Rechtsentwicklung sich Kant nicht angeschlossen, aber doch so weit wie möglich subjektive Rechte aus der überindividuellen Rechtsordnung ausgefällt, namentlich durch die Hochkonjunktur der Menschen- und Bürgerrechte, die seit den amerikanischen Unabhängigkeitserklärungen zunehmend an die Spitze der Verfassungen oder auch an die des gesamten Rechts erhoben wurden. Tatsächlich ist aber das subjektive Recht ein überflüssiger Auswuchs der Eitelkeit des Individuums, das ein Stück des geltenden Rechts als sein Eigentum herausschneiden will. Das ergibt sich schnell, wenn man nachsieht, worin ein solches subjektives Recht besteht. Der Pandektist Windscheid erklärte es im 19. Jahrhundert als ein »von der Rechtsordnung verliehenes Wollendürfen« 11. Aber die Rechtsordnung grenzt das erlaubte Wollen und Tun nicht durch Verleihung subjektiver Rechte ab, sondern durch Ver8
Ebd. S. 320. Ebd. S. 371. 10 Ebd. S. 372. 11 Zitiert nach: Rudolf Schulz-Schäffer, Das subjekte Recht im Gebiet der unerlaubten Handlungen, Marburg 1915, S. 87. 9
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bote: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Das subjektive Recht besteht nicht in einer Ausstattung des Berechtigten, sondern im Rechtsbefehl an alle Anderen: Gelegenheiten zur Ausübung rechtlich zulässigen Verhaltens dem Berechtigten nicht zu verwehren, unter Umständen sogar zu gewähren. Gerade nur der Berechtigte erhält durch sein Recht keinerlei Ausstattung, wohl aber jeder andere Angehörige des Rechtsvolks, sofern er nicht nur passiv ist. Aus dem Missverständnis des Rechts als Wollendürfen ergibt sich der von Schiller mit seiner »Rechtsfrage« in den Xenien intendierte satirische Witz: Jahrelang schon bedien’ ich mich meiner Nase zum Riechen. Hab’ ich denn wirklich auf sie auch ein erweisliches Recht?
Das Lächerliche dieser Frage ergibt sich aus der verstiegenen Annahme, auf ein von der Rechtsordnung verliehenes subjektives Recht warten zu müssen, um riechen zu dürfen. Schillers Recht auf Riechen besteht vielmehr darin, dass niemand ihn beim normalen Riechen stören darf, indem er ihm etwa die Nase zuhielte oder ein Anästhetikum einspritzte. Nicht Schillers eigenes Tun und Lassen, sondern das Verhalten der Anderen ist der Inhalt seines Rechts. An die Stelle des Privatbesitzes subjektiver Rechte treten Rechtsnormen, die den Schutz oder die Wiederherstellung rechtlich erträglicher Verhältnisse vorschreiben. Bloß dafür muss gesorgt sein, dass die Rechtsgenossen sich darauf berufen können, um die Anwendung dieser Normen durchzusetzen. Das ist aber kein Vorrecht des jeweils Berechtigten. Es gibt viele Inhaber subjektiver Rechte, denen solche Berufung unmöglich ist, etwa Säuglinge oder auch Tiere gemäß dem heute schon legitimen, für Kant noch unmöglichen Sprechen von Rechten der Tiere, vielleicht gar von Pflanzen (würdiger alter Bäume) oder großer Kunstwerke, die eine eigene Würde haben. Es ist eine bloße Fiktion, solchen Wesen ein Recht, das sie nicht geltend machen können, als Besitz zuzuschreiben. Aber allerdings muss es genügend Rechtsnormen zu ihrem Schutz geben und genügend Rechtsgenossen, die sich darauf berufen können. Mit der Idee des subjektiven Rechts eng verbunden ist die Idee des Vertrages als der Quelle von Recht, Gerechtigkeit und staat56 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Befreiung des Rechts aus der Introjektion
lich-bürgerlicher Ordnung; sie zieht sich von Epikur (oder schon der Sophistenzeit) bis zu John Rawls durch die abendländische Geschichte mit Höhepunkt im Natur- und Menschenrechtsdenken der Neuzeit. 12 Ihr liegt die Vorstellung zu Grunde, dass die Rechts- und Staatsgenossen ursprünglich eigene Rechte hatten, die sie als vertragschließende Parteien an die gemeinschaftliche Instanz übertragen, die dann die Rechtsordnung besorgt. Das gemeinsame Recht hat hiernach die Quelle seiner Geltung in den privaten Rechten mündiger Personen. Beide Ideen, die vom subjektiven Recht und die von der Rechtsgründung durch Vertrag, beruhen auf der Voraussetzung einer Autarkie der Person in folgendem Sinn: Jeder Mensch hängt von den Bedingungen seiner natur- und tierhaften Existenz ab, und das gilt immer noch, wenn er sich als besonnen urteilende und wählerisch entscheidende Person noch so hoch über diese unwillkürliche Basis seines Lebens erhebt. Die These von der Autarkie meint, dass er sich dank solcher Abhebung bei erhaltener Abhängigkeit von dieser Basis mit seinem Urteil prinzipiell verselbständigen und mit eigener, selbst verantworteter Stellungnahme auf einem Standpunkt stabilisieren kann. Dank dieser Autarkie wird die Person rechtsmündig, so dass sie eigene Rechte verwalten und übertragen kann. Es ließe sich denken, dass sie mit sich allein auskommen könnte, wenn die empirischen Umstände gestatten würden, sich vom unwillkürlichen Gelebtwerden zu befreien. Diese Konzeption ist nicht ganz falsch, aber zu einfach und bedarf der Korrektur durch die Einsicht, dass die Person nur Person sein kann, wenn sie zugleich präpersonal existiert, eingetaucht ins leiblich-affektive Betroffensein. Um diese Einsicht zu wecken, ist zunächst eine Verständigung über den Begriff der Person erforderlich. Ich bestimme Person als Bewussthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, etwas, und zwar einen Fall mehrerer Gattungen, für sich selbst zu halten. Ich gebe ein Beispiel: Ein türkischer Schuster in Kreuzberg versteht sich als einen Mann, einen Türken, einen Berliner, einen Schuster, einen Moslem, einen Fa12
Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 11, Basel 2001, Spalten 962–983: Vertrag.
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milienvater usw., d. h. als einen Fall dieser Gattungen. Vermöge dieser Vielseitigkeit kann er in seinem Leben Akzente setzen, sich seinen Standpunkt mit einer gewissen Souveränität gegenüber dem bloßen Funktionieren in einer Rolle bestimmen, sich verantworten usw. Das macht ihn zur Person. Diese Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Selbstbewusstsein oder (besser) Sichbewussthaben. Diese Identifizierung hat zwei Dimensionen: eine sozusagen horizontale, die von Gattungsfall zu Gattungsfall, vom Mann zum Türken zum Berliner usw., fortschreitet, und eine sozusagen vertikale, in der dem Mann bewusst ist, dass es sich bei allen diesen Fällen um ihn selber handelt. Erst dadurch erhält die Selbstzuschreibung ein Relat, etwas, dem etwas zugeschrieben wird. Dieses Relat muss vor jeder Identifizierung dem Selbstzuschreiber bekannt sein. Sonst würden ihn alle Fortschritte der horizontalen Identifizierung nicht auf die Idee bringen können, dass es sich um ihn selbst handelt, denn ein Mann, ein Türke, ein Berliner usw. kann auch ein anderer sein. Die Selbstzuschreibung setzt also ein nicht-identifzierendes Sichbewussthaben anderer Art voraus. 13 Dieses besteht in den Tatsachen des affektiven Betroffenseins, dass jemandem etwas nahe geht, ihm zusetzt, zu schaffen macht. Das sind die einzigen Tatsachen, in denen er unvertretbar ist, d. h. nicht durch einen Gattungsfall der horizontalen Identifizierung in der Selbstzuschreibung ersetzt werden kann, mit der Folge, dass höchstens er diese für ihn subjektiven Tatsachen auszusagen vermag. Dazu muss er aber vor aller Identifizierung sich selber, für den sie subjektiv sind, finden, und dazu befähigt ihn allein die primitive Gegenwart, wenn der plötzliche Andrang des Neuen Dauer zerreißt und Gegenwart exponiert. Dann fallen in unspaltbarem Verhältnis absolute Identität, selbst zu sein, und Subjektivität, ich zu sein, so zum Ich-Dieses der Betroffenheit zusammen, dass es keiner Identifizierung bedarf, um zu spüren, dass es sich um mich – beispielsweise – handelt, und Identifizierung ist im plötzlichen Betroffensein nicht einmal möglich, weil sie mehrerer Gattungen bedürfte, die dann nicht verfüg13
Vgl. Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg 2010, S. 24–39: Identifizierendes und nicht identifizierendes Sichbewussthaben.
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Befreiung des Rechts aus der Introjektion
bar sind. Die Erinnerung oder das Vorgefühl dieses Sichfindens ohne Identifizierung geht aus der primitiven Gegenwart in die Engung im vitalen Antrieb über, der Achse leiblicher Dynamik, in der Engung als Spannung und Weitung als Schwellung antagonistisch verschränkt sind. Also beruht die Möglichkeit, Person zu sein, d. h. als Bewussthaber mit Möglichkeit zur Selbstzuschreibung für diese Selbstzuschreibung ein Relat zu finden, auf dem stets leiblichen affektiven Betroffensein und der leiblichen Dynamik, die die Person einschließlich der Erweiterung dieser Dynamik zur leiblichen Kommunikation mit den Tieren teilt. Die allzu einfache Vorstellung einer möglichen stabilen Autarkie der vom präpersonalen Untergrund zur Besonnenheit emanzipierten Person muss also revidiert werden. Eine Person ist nur möglich, indem sie in das präpersonale leibliche Leben mit unwillkürlichen Regungen eingetaucht ist und immer wieder eintaucht; ohnehin verweilt sie darin mit allen ihren unwillkürlichen routinierten Verrichtungen, wozu außer der flüssigen Körperbewegung sogar auch der Sprachgebrauch beim Sprechen gehört. So, wie wir beim Sprechen die Sprache gebrauchen, indem wir blind, aber treffsicher hineingreifen und ihr die genau passenden Muster für die Formulierung unserer Sprüche, die Sätze, entnehmen, so sind die Tiere in Situationen gefangen. Der personalen Emanzipation werden sie nicht teilhaft; wir als menschliche Personen erlangen diese nur in Einheit mit der gegenläufigen personalen Regression zurück ins Leben aus primitiver Gegenwart. Lachen und Weinen sind zwei naturgegebene Abläufe der Integration beider Tendenzen. Diese glückt aber nicht immer so lückenlos. Die Person ist, statt stabil, wesentlich labil und stabilisiert sich ersatzweise durch ihre Fassung, die sie auch verlieren kann. Diese präpersonale Grundschicht der nur als zugleich präpersonal personalen Person ist auch der Wurzelboden des Rechts. Es entsteht keineswegs aus einem Vertrag mündiger Personen, die ihre subjektiven Rechte auf Ausübung freier Willkür bis zur Sozialverträglichkeit an einander anpassen, und kann so wenig wie die unerreichbare ideale Gerechtigkeit aus der Fiktion eines solchen Vertrages konstruiert werden. Das Recht hat tiefere Wurzeln im elementaren leiblich-affektiven Betroffensein von Zorn und 59 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Hermann Schmitz
Scham, indem man anderen wegen ihres Unrechts gegen einen selbst oder andere oder anderes zürnt oder sich eigenen Unrechts schämt oder einen anderen als Beschämten anprangert. Zorn und Scham sind kathartische Erregungen, die aus ihrem Verankerungspunkt eintreten und dahin drängen, sich durch eine Reaktion gegen ihren Verdichtungsbereich wieder auszulassen. Beim Zorn ist Verankerungspunkt das, worüber man zürnt, und Verdichtungsbereich der, dem man zürnt. Bei der Scham ist Verankerungspunkt der beschämende Makel und Verdichtungsbereich der Beschämte, der sich aber nicht immer schämt, da viele sich unverschämt benehmen, wovon die Atmosphäre der Scham als Peinlichkeit auf die Anwesenden ausstrahlt. Entsprechend ist bei der Furcht der Verdichtungsbereich der Feind als potentieller Mörder, Verankerungspunkt der Tod. Freude an etwas betrifft den Verdichtungsbereich, Freude über etwas den Verankerungspunkt. Was Unrecht ist, geben ursprünglich Zorn und Scham mit Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich vor. Dafür genügt es aber nicht, dass irgendjemand zürnt oder sich schämt. Vielmehr muss in einer Population ein Maß des unerträglich Beschämenden und Empörenden gefunden werden. Das geschieht, indem sich aus Erfahrungen mit dem Unrecht und seiner Vermeidung in einer Population eine zuständliche gemeinsame Situation bildet, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit solche Maßstäbe eingeschrieben sind. Eine Situation umfasst Mannigfaltiges, das zur (mehr oder weniger) nach außen abgehobenen und in sich zusammenhängenden Ganzheit integriert ist durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle Bedeutungen (sehr oft keine) in ihr einzeln sind; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. 14 Situationen können aktuell oder zuständlich sein. Aktuell sind sie, wenn sich ihr Verlauf von Augenblick zu Augenblick verfolgen lässt, wie bei der Bewältigung einer Gefahr, z. B. im Sraßenverkehr, wenn die relevanten Sach14
Genaueres zum Begriff der Einzelheit bei Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg 2013, S. 28–30.
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Befreiung des Rechts aus der Introjektion
verhalte, die Probleme des drohenden Unfalls und der durch Reaktionen zu dessen Vermeidung eventuell hinzukommenden Gefahren und die Programme möglicher Rettung mit einem Schlage in binnendiffuser Bedeutsamkeit klar sein müssen, weil zur Analyse keine Zeit mehr ist. Zuständlich ist eine Situation, wenn sich nach ihrem Verlauf erst nach längeren Fristen sinnvoll fragen lässt, abgesehen etwa von Katastrophen plötzlichen Umschlags. Eine zuständliche Situation ist z. B. eine Sprache wie die deutsche. Sie besteht ganz nur in Programmen, nämlich Regeln; das sind die Sätze, nach denen der Könner der Sprache seine Sprüche formt, ohne diese Sätze einzeln zur Kenntnis zu nehmen und auszuwählen, wie der Koch die Kochrezepte. Die Sprache ist eine zuständliche Situation, an der deutlich wird, dass solche Situationen nicht auf räumliche und zeitliche Kontinuität ihrer Realisierung in aktuellen Situationen angewiesen sind. Eine Sprache hört nicht auf, wenn gerade einmal niemand sie spricht, und existiert unabhängig davon, wo die Sprecher gerade sind. Situationen sind meist mit Atmosphären des Gefühls beladen. Ein hervorstechendes Beispiel ist die Liebe, die ich (in metaphorischer Ausdrucksweise) als eine zuständliche Situation beschrieben habe, erfüllt von der Atmosphäre eines Gefühls wohlwollender Zuneigung, wobei aber dieses Gefühl nicht zu locker und nicht zu fest in der Situation aufgehängt sein darf. 15 Jeder Liebende verwaltet in seinem Lieben, dem affektiven Betroffensein von der Liebe und seiner persönlichen Stellungnahme in Preisgabe oder Widerstand dazu, die gemeinsame, von einem ergreifenden Gefühl erfüllte zuständliche Situation in aktuellen Situationen. Ein anderes Beispiel sind die mit Gefühl beladenen nationalen Mythen, z. B. von der Niederlage auf dem Amselfeld bei den Serben. Die davon ausgehende trotzige Trauer ist ein Gemeingefühl des serbischen Volkes, obwohl nicht einmal jeder Serbe so fühlt und jeder, der so fühlt, auf seine eigene Weise und auf Grund seiner Sozialisation so fühlt, aber er fühlt dieses Gefühl als eine gemeinsame, den Volksgeist prägende Atmosphäre. In diesem Sinne können Gefühle, wenn auch nicht das Ergriffensein und dessen per15
Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 80–84.
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Hermann Schmitz
sönliche Verarbeitung, gemeinsam sein wie Situationen, z. B. Sprachen, aber nicht wie ein Fluidum, das sich kontinuierlich in Raum und Zeit ausbreitet, sondern als Halbdinge. Gefühle sind Halbdinge wie die Stimme, wie das Licht, das Farben aufscheinen lässt und an ihnen spielt, wie der Wind, der einen trifft, der Schmerz, den man aushalten muss, die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und sich gerade noch fängt, Melodien usw. Halbdinge sind durch zwei Merkmale von Dingen im Vollsinn unterschieden: Ihre Dauer und ihr räumlicher Zusammenhang ist unterbrechbar, und ihre Wirksamkeit ist unmittelbar, d. h. ohne Unterscheidbarkeit von Ursache und Einwirkung auf den Effekt. Eine solche gemeinsame Situation, erfüllt und geleitet von einem gemeinsamen Vorgefühl für Zorn und Scham, ist die Rechtsüberzeugung einer Population, aus der ihr Recht hervorgeht. Das Vorgefühl bildet sich durch Erfahrungen an Recht und Unrecht und gibt ein Maß des Unerträglichen vor, nach dem das Recht dieser Population geformt ist. Dieses Maß kann nicht erklügelt werden; es wirkt im Licht rationaler Reflexion oft inkonsequent und irrational. Ich gebe ein Beispiel. Die herrschende Rechtsüberzeugung in der heutigen westlichen Zivilisation, z. B. in Deutschland, ist stark von Erfahrungen menschenverachtenden Unrechts in ideologischen Diktaturen bestimmt. Sie legt daher besonderen Wert auf Schutz elementarer Menschenrechte, nimmt aber ziemlich unbefangen in Kauf, dass Verletzungen, die denen der Menschenrechte genau entsprechen, den landwirtschaftlichen Haustieren angetan werden, obwohl diese eigene Interessen haben, die so gut wie die der Menschen geschädigt werden können. Aus den rechtlichen Vorgefühlen entwickelt sich eine rechtliche Sensibilität, die außer dem Rechtsgefühl im weitesten Sinn die Schamhaftigkeit als hemmendes Vorgefühl der Scham und den Geschmack mit Anstand und Höflichkeit umfasst, der eigentlich kein Gefühl ist, aber in Rechtskulturen der Scham wie den fernöstlichen und z. T. der altrömischen stark an der rechtlichen Sensibilität beteiligt ist. Die rechtliche Sensibilität nimmt den rechtlichen Urgefühlen, den nach Maßgabe der gemeinsamen Rechtsüberzeugung unerträglichen Ausbrüchen von Zorn und Scham in Reaktion auf das Empörende und Beschä62 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Befreiung des Rechts aus der Introjektion
mende, vorgreifend das Heft aus der Hand, indem sie diesen Ausbruch durch Beseitigung solcher Verankerungspunkte vermeidend abwendet oder, wenn das Unglück schon geschehen ist, die kathartische Reaktion der Urgefühle gegen ihren Verdichtungsbereich so steuert, dass neues Unrecht tunlichst vermieden wird. Auf diese Weise wird die Rache zur Strafe, und das Recht zerfällt in die beiden Hauptmassen des Sicherungsrechtes und des Strafrechts. Das Sicherungsrecht hat die Aufgabe, vorbeugend das unerträglich Empörende und Beschämende in klügerem Ausgleich von Konflikten abzuwenden, während das Strafrecht die Sanktion auf dessen nicht mehr abwendbares Geschehen so dosiert, dass die Katharsis von Zorn und Scham nicht wieder neues Unrecht schafft, das nach Maßgabe der herrschenden Rechtsüberzeugung unerträglich wäre. Mit der Entwicklung des Rechts aus dem unwillkürlichen Gefühlsleben im Zeichen von Gefühlen, die als Atmosphären in Situationen aus der Introjektion, die sie zur bloßen Privatsache machte, befreit sind, ist nun die Introjektion des Rechts phänomengerecht überwunden. Dies ist der einzige Weg dazu, eine Quelle zur verbindlichen Geltung fundamentaler Rechtsnormen zu finden, d. h. einer Geltung, der der Unterworfene nur noch zwiespältig die Bereitschaft zum Gehorsam versagen kann. Es gibt zwei Arten solcher verbindlicher Geltung von Normen: die der Evidenz entspringende Verbindlichkeit, harte Tatsachen dank der Autorität der Wirklichkeit anzuerkennen, und die Autorität von Gefühlen, die dem Ergriffenen keinen Raum dafür lassen, sich unbefangen abzuwenden. Alle anderen Vorschläge sind Fiktionen oder reichen nur für unverbindliche Geltung, wie die Durchsetzungsfähigkeit von Machthabern oder rationale Erwägungen der Zweckmäßigkeit. Das Recht beruht auf der Autorität von Zorn und Scham für die in einer Population von diesen Gefühlen Ergreifbaren, in deren Perspektive die Geltung der davon vorgezeichneten Kernnormen verbindlich ist. Diese Kerngruppe eines Rechtsvolks muss so zahlreich und einflussreich sein, dass sie die Anpasser mit sich zieht. Eine andere als perspektivische Geltung gibt es nicht, aber der Kreis der Adressaten einer Norm kann größer sein als der Kreis der Menschen, in deren Per63 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Hermann Schmitz
spektive sie gilt. Alle Menschen sind Adressaten der Norm, sich moralisch anständig zu verhalten, aber keineswegs gilt diese Norm in der Perspektive aller Menschen. Die Begründung des Rechts auf Zorn und Scham, die abgewendet oder in kluger Dosierung ausgelassen werden sollen, betrifft nur den Kern des Rechtsstoffes, an dem sich Juristen abarbeiten, indem sie von der Masse der staatlich verordneten Regelungen höchstens verstohlene oder nostalgische Blicke auf das Recht werfen, das Recht, wie es in diesem Sinn der Laie sucht, der sein Recht (das ihm zustehende) haben will und dem Juristenrecht verständnislos gegenübersteht. Grund dieser Aufblähung ist die Kontamination des Rechts durch unechte Rechtsnormen wegen der Einmischung des Staates. Dieser hat allerdings eine unentbehrliche Funktion für das Recht, das er im günstigsten Fall schützt. Darüber hinaus ist er dem Recht unentbehrlich als der Gesetzgeber für Randnormen. Das sind Rechtsnormen in Regelungsbereichen, in denen eine bestimmte Regel von Rechtswegen erforderlich ist, aber ein ganzes Spektrum gleich gut geeigneter Lösungen der Aufgabe zur Verfügung steht. Dann bedarf es einer willkürlichen Entscheidung und eines Machthabers, der sie durchsetzen kann. Das ist unter heutigen Bedingungen nur der Staat. Randnormen gelten also kraft Setzung verbindlich, während ihr besonderer Inhalt rechtlich gleichgültig ist. Daran knüpft der Staat an, indem er eine Masse unechter Rechtsnormen, die weder auf einer von Rechtswegen erforderlichen Setzung beruhen noch dem Inhalt nach Rechtsnormen sind, aber sich von Randnormen kaum unterscheiden lassen, in den Rechtsstoff aufnimmt. Das ist oft unbedenklich und zweckmäßig, doch können auf diese Weise auch rechtswidrige Normen in den Rechtsstoff der Juristen eindringen, wenn z. B. eine demokratische Regierungspartei, um ihre Klientel zu belohnen oder eine Wählergruppe für die Wiederwahl zu gewinnen, ein Gesetz erlässt, das andere Menschen erheblich und unbillig benachteiligt.
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Rainer Schützeichel
Soziologie des Rechtsgefühls 1
Kann man recht fühlen? Kann man Recht fühlen? Gibt es eine intrinsische Beziehung von Emotionalität und Normativität? Sind Gefühle eine Evidenzquelle des Rechts oder gefährden sie die rechtliche Neutralität und Sicherheit? Sind Rechtsgefühle eine Sache der Laien, die sich mit moralischer Verve, ihrem Gerechtigkeitsempfinden und ihrem »lebenden Recht« gegen die »logische« Rechtsdogmatik und Rechtspraxis der Juristen wenden? Oder auch: Gibt es rechtlich relevante Tatsachen, die nicht zugleich und sogar konstitutiv auch Gegenstand von Gefühlen sind? Und manifestiert sich die Legitimität oder Illegitimität von Recht nicht immer und sogar in erster Linie in Gefühlen? Dies sind nur einige der Fragen, die seit dem späten 18. Jahrhundert im Zentrum der Diskussionen und Dispute um den problematischen Titel der »Rechtsgefühle« stehen. Von vornherein wurden diese Diskussionen gleichsam im Singular und im Plural und damit mit unterschiedlicher Akzentsetzung geführt: Sind Recht und Gerechtigkeit auf ein spezifisches Sensorium, ein spezifisches Fühlen angewiesen, nämlich ein einheitliches Rechtsgefühl, oder sind bestimmte Gefühle in einer besonderen Weise rechtlich relevante Gefühlslagen? 1
Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, welcher von dem Verfasser im Rahmen des Symposions »Gefühl – Recht – Gerechtigkeit« der Gesellschaft für Neue Phänomenologie vom 11. bis 13. April 2014 in Rostock gehalten wurde. Der Vortragsstil wurde bei der Überarbeitung weitgehend beibehalten. Der Verfasser dankt allen Diskutanten für ihre kritischen Einwände. Insbesondere aber dankt er Herrn Prof. Hermann Schmitz für die Geduld, mit welcher er dem sicherlich nicht immer adäquaten Bemühen eines Soziologen mit der Rezeption seines wegweisenden Werkes begegnete.
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Rainer Schützeichel
Rechtsgefühle sind aber beileibe nicht nur eine wissenschaftliche Thematik. Nicht nur die Wissenschaften, sondern auch das Recht und die Rechtspraxis selbst haben nach Laster und O’Malley (1996) einen »emotional turn« vollzogen. Ihnen zufolge wird die prozedurale Rationalität des Rechts in den letzten Jahrzehnten durch eine stärkere Berücksichtigung affektiver Sachverhalte ergänzt. Sie gehen von einer Ko-Existenz eines legal-bürokratischen und eines emotionalen Diskurses aus und exemplifizieren dies am Beispiel strafrechtlicher Verfahren im australischen Rechtssystem, in denen das emotionale Wohlbefinden und die affektive Betroffenheit der Opfer von Gewaltverbrechen, insbesondere von Sexualverbrechen, eine erhebliche Relevanz in der Urteilsfindung spielt. Diese Diagnose wird von einer Vielzahl von anderen rechtssoziologischen, rechtswissenschaftlichen und kriminologischen Studien bestätigt (vgl. Deflem 2008; Karstedt 2006; Karstedt/Loader/Strang 2011). Und sie gilt auch für das deutsche Recht. So macht beispielsweise Krimphove (2012) eine »Verrechtlichung der Scham« in dem Sinne aus, dass der Gesetzgeber in einer intensiven Weise auf die Veränderung gesellschaftlicher Schamgrenzen reagiert, auf diese aber auch Einfluss nimmt. Verrechtlichung der Scham heißt aber nicht nur, dass Beschämungen rechtlich unterbunden werden sollen, sondern dass Beschämungen auch mehr und mehr als ein Mittel der rechtliche Sanktionierung eingesetzt werden und man sich verstärkt der Frage zuwendet, ob die Wirkung rechtlicher Sanktionierungen und Bestrafungen erst in den durch sie ausgelösten Beschämungen (der Täter wie dem dadurch evozierten Mit-Schämen von Angehörigen) ihre genuine Wirkung entfalten können. Beruht jede Strafkultur auf einer Schamkultur? In jüngeren Jahren haben der Begriff der Rechtsgefühle wie die Sache selbst also eine Renaissance erlebt (vgl. Bandes 1999). In den Rechtswissenschaften und auch der Rechtstheorie spricht man in Bezug auf das Verhältnis von Recht und Emotion sogar von einem »emergent field« (Maroney 2006). Wie in den letzten Dekaden in vielen Forschungsbereichen, so haben also auch in Bezug auf das Recht Gefühle und Emotionen eine – mitunter als »emotional turn« bezeichnete – besondere Berücksichtigung er66 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Soziologie des Rechtsgefühls
fahren (vgl. Hänni 2011). Dies gilt auch für viele soziologische Forschungsfelder. Allein, in der Rechtssoziologie werden Gefühle mit »spitzen Fingern« angefasst und – wie eine der wenigen Publikationen (vgl. Lampe 1985) lautet – als »sogenannte Rechtsgefühle« bezeichnet. Von daher kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass es gegenwärtig keine Soziologie der Rechtsgefühle gibt. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen scheint für den Mainstream der Soziologie wie der Rechtssoziologie das Recht eine gefühlsfreie Zone zu sein. Dies mag verschiedene Gründe haben. Anders als in den Rechtswissenschaften oder auch der Rechtsphilosophie scheint die Soziologie sich erstaunlicherweise an den Selbstbeschreibungen des Rechts als einer Sphäre orientieren zu wollen, in welcher zwar die Entstehung von rechtsrelevanten Ereignissen wie auch die Wirkung von rechtsförmigen Entscheidungen von Gefühlen begleitet werden, in welcher aber der harte Kern der juristischen Normsetzung wie der Rechtsprechung rein rechtlichen Logiken folgt. Rechtsetzungen und rechtliche Entscheidungen beruhen, so diese Ansicht, auf rein kognitiven Wertungen. Und in der Tat: Was könnte Gefühlen ferner liegen als die hoch formalisierten Prozeduren und die neutralen, objektiven Praktiken des Rechtswesens? Das Recht befasst sich zwar mit emotionsträchtigen und gefühlsgetragenen Phänomenen wie Konflikten, Gewalt und Verbrechen, aber es selbst scheint von Gefühlen und Emotionen unberührt. Recht betreibt, so die übliche Sichtweise, ein »emotional cooling out«. Und wie vermittelt auch immer: Recht hat es zwar, so die vorherrschende Meinung, mit der Regulierung und Sanktionierung von Verhalten zu tun und es provoziert dabei emotionale Regungen, aber es selbst verhält sich dabei affektneutral. Die Enthaltsamkeit gegenüber den Rechtsgefühlen hat aber nicht nur mit dem soziologischen Verständnis des Rechts, sondern auch etwas mit dem soziologischen Verständnis von Gefühlen zu tun. Dieses ist weitgehend der Vorstellung verpflichtet, dass es sich bei Gefühlen um private, individuelle, mentale Bewusstseinsepisoden handelt, um ein mitunter angenehmes, mitunter aber auch unangenehmes »arousal« im normalen Ablauf des Handelns und der sozialen Beziehung. Gefühle werden dementspre67 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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chend häufig als Epiphänomene begriffen. Wie aber sollen solchermaßen konzeptualisierte Phänomene einen Bezug auf Normen haben? Dass Gefühle intrinsisch oder extrinsisch auf ein normatives Sollen bezogen sind, wird in der soziologischen Forschung nur selten berücksichtigt. Eine Soziologie des Rechtsgefühls hat es also immer mit beiden Seiten zu tun, mit dem Recht und den Gefühlen. 2 Eine Soziologie des Rechtsgefühls aber darf darüber hinaus – und hierin unterscheidet sie sich von anderen rechtsrelevanten Disziplinen – niemals die gesellschaftliche Verfasstheit und die gesellschaftlichen Strukturen des Rechts wie die soziale Konstitution der Gefühle aus den Augen verlieren. Deshalb kann sie nicht nur wie beispielsweise die Rechtswissenschaften oder die Rechtsphilosophie von einfachen wechselseitigen Konstitutions- wie axiomatischen Begründungsverhältnissen von Emotionalität und legaler Normativität ausgehen, sondern sie muss in Rechnung stellen, dass beide nochmals über eine dritte Größe, eben die sozialen Kommunikations- und gesellschaftlichen Prozessstrukturen, miteinander vermittelt sind und dass es sich dabei gerade um solche Prozessstrukturen handeln könnte, die jede nicht-rechtliche Begründung und Evidenzsicherung von Recht problematisch werden lassen. Von daher möchte der vorliegende Aufsatz die Thematik der »Rechtsgefühle« aus soziologischer Sicht aufgreifen und ihre rechtssoziologische wie auch emotionstheoretische Relevanz diskutieren. Angesichts der Tiefe und Breite der hier zu behandelnden Problematik wird er sich aber auf einige thesen- und skizzenhafte Auseinandersetzungen beschränken müssen. Zunächst wird es darum gehen, die verschiedenen Dimensionen und Aspekte der Diskurse über Rechtsgefühle deutlich zu machen und die verschiedenen Theorietraditionen zu identifizieren. Dieser Aufgabe ist das erste Kapitel gewidmet. Anschließend werden wir uns in einem zweiten Kapitel mit den Funktionen befassen, die in diesen 2
Es wäre eigentlich erforderlich, viel deutlicher zwischen »Gefühlen« und »Emotionen« zu unterscheiden. Aus Platzgründen muss dies hier aber unterbleiben. Von daher benutzen wir diese Termini weitgehend synonym.
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Soziologie des Rechtsgefühls
Traditionen den Rechtsgefühlen zu gesprochen werden. Ein neuer Aspekt kommt ins Spiel, wenn der konstitutive Zusammenhang von Normativität und Emotionalität berücksichtigt wird. Hierin liegt die eigentliche Herausforderung für die Rechtssoziologie. Diesen theoretischen Ansätzen werden wir uns im dritten und vierten Kapitel zuwenden, um dann im fünften Kapitel einige Thesen über die soziologische Relevanz der Rechtsgefühle zu formulieren. Auf einen wichtigen Aspekt sei aber von vornherein verwiesen: Rechtsgefühlen können nicht nur unterschiedliche Funktionen im Aufbau einer Rechtsordnung zugewiesen werden, der Ausdruck »Rechtsgefühle« selbst weist in der Tradition auch beträchtliche Schwankungen auf. Mitunter wird er auf spezifische Gefühle wie Scham, Ekel, Zorn, Wut etc. bezogen, die eine Rechtsaffinität und einen starken Normbezug aufweisen. Diese Bedeutung steht auch hier im Vordergrund. Dann sprechen wir von »Rechtsgefühlen« im Plural. Der Ausdruck kann aber auch auf ein eine spezifische Sensibilität in der rechtlichen Entscheidung, auf intuitive und eher diffuse »Bauchentscheidungen« (Gigerenzer 2008) verweisen. Der Ausdruck verweist aber auch auf den engen Konnex von Gefühlen und Normen, von Emotionalität oder Affektivität einerseits und Normativität andererseits. In diesen Fällen wird der Ausdruck »Rechtsgefühl« meist im Singular benutzt. Beide Verwendungsweisen haben ihre Berechtigung. In diesem Beitrag werden wir sowohl auf den engen Zusammenhang von Normativität und Emotionalität im Sinne eines elementaren »Spürens« von Differenzen zwischen Erwartungen und Beschreibungen des Faktischen 3 verweisen wie auch auf die funktionale Bedeutung von spezifischen Gefühlslagen für die Genese und die Erhaltung von Rechtsnormen, aber wir werden einen unmittelbaren konstitutiven Zusammenhang zwischen Gefühlen und Recht in Abrede stellen. 3
Auch in rezenten Normtheorien – so beispielsweise in Möllers (2015) – werden Emotionalität und Affektivität als Voraussetzung und Bedingung für die Normativität und damit auch für die »Möglichkeit von Normen« immer noch unterschätzt.
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Rainer Schützeichel
1.
Aspekte und Dimensionen von Rechtsgefühlen
Der Topos des Rechtsgefühls hat eine sehr wechselhafte Karriere erlebt, da er im Kreuzungspunkt vieler wissenschaftlicher Kontroversen steht. Es geht um die Erkennbarkeit des Rechts, um Legitimität oder Illegitimität des Rechts, um das Verhältnis des Rechts zur Moral und den Sitten und Gebräuchen und um die Grenzen des Rechts in der Gesellschaft. Skizzieren wir zunächst einige Dimensionen und Aspekte. Nach ersten Erkundungen in Rousseaus »Emile« als »sentiment de la justice« oder in Humes »Treatise« als »sense of justice«, denen gewisse Vorbehalte etwa bei Fichte entgegenstehen, der in seinem »System der Sittenlehre« (Fichte 1798, § 15) vor der zu starken Bestimmung des Rechtsgefühls als eines Gefühls warnte, nimmt die Karriere dieses Ausdrucks eigentlich seinen rechtsphilosophischen Ausgangspunkt erst bei Johann Paul Anselm von Feuerbach, der das Recht als Gegenstand des Rechtsgefühls und das Rechtsgefühl als Grundlage des Rechts betrachtete. Literarisch ist natürlich Heinrich von Kleist von großer symptomatischer Bedeutung: Michael Kohlhaas ist derjenige, der sich vielleicht zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit auf sein Rechtsgefühl beruft: »Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder« oder »Sein Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich, wankte noch« – so schreibt Heinrich von Kleist über Kohlhaas. Hier wird durch den Vergleich mit der Goldwaage nahegelegt, dass das Rechtsgefühl ein feines, kaum fehlbares Sensorium darstellt. Das Rechtsgefühl kann eigentlich nicht irren. Wie Rückert (1988) herausstellt, liegt hier eine Vorstellung eines »Rechtsgefühls« im Sinne eines Sinns für das moralische Richtige und sittlich Gebotene, für das Richtige vor, und nicht die Vorstellung eines »Rechtgefühls«, also eine Gefühls für das Recht. Solche Rechtsgefühle stellen eine moralische Stellungnahme für oder gegen das rechtlich Fixierte dar. Gustav Rümelin setzte 1871 in seiner Tübinger Kanzlerrede mit dem Titel »Über das Rechtsgefühl« das Rechtsgefühl als Grundlage des Rechts und der Rechtsordnung ein (vgl. Rümelin 1875). Das Rechtsgefühl wird als das ursprünglich gegebene rechtliche Empfinden und rechtliche Bewusstsein von Gruppen 70 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Soziologie des Rechtsgefühls
und Gemeinschaften begriffen. Es stellt neben dem Gewissen den sittlichen Ordnungstrieb schlechthin dar. Beides wurde unter den historischen Umständen der Gründerjahre von Rümelin mit einem gehörigen nationalen Pathos ausgeschmückt. Eine Gegenposition nahm Rudolf von Ihering ein, der der sogenannten nativistischen Position von Rümelin eine institutionalistische oder historistische Position entgegenstellte. Das Rechtsgefühl entsteht von Ihering zufolge in der Auseinandersetzung mit bestehendem Recht und bestehenden Rechtsverhältnissen. Es ist also nicht dem positiven Recht vorgegeben, sondern entsteht in Reaktion auf dieses. »Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.« (Ihering 1877: XIII; vgl. auch ders. S. 1884) Für die Entwicklung des Rechts sind von Ihering zufolge insbesondere die Rechtsvirtuosen, Rechtsgenies oder, wie er dies nennt, die Rechts-Pfadfinder von besonderer Bedeutung, bei denen das Rechtsgefühl in ausgezeichneter Weise ausgebildet ist und als Mittel für die Erkenntnis allgemeiner Rechtsprinzipien gelten kann. Das Rechtsgefühl der Virtuosen ist von allgemeinen, überindividuellen Prinzipien geleitet, das Rechtsgefühl der juristischen Laien hingegen ist nun wirklich reines »Gefühl« und Affekt und muss von daher aus der Rechtsfindung und Rechtsetzung möglichst ausgeschlossen werden. Von großer theoriegeschichtlicher Bedeutung für das Schicksal der Rechtsgefühle in der Rechtssoziologie ist natürlich ihr eigentlicher Begründer, nämlich Eugen Ehrlich (1913). Dieser wendet sich gegen das Verständnis des Rechts und der Rechtswissenschaft als einer Begriffsjurisprudenz, wie sie beispielsweise durch seinen großen Antipoden Hans Kelsen vertreten wurde. Nach Ehrlich gilt es, die Rechtswirklichkeit zu betrachten oder, wie er dies formulierte, das »lebende Recht«. Gerade seine Beobachtungen zur Rechtswirklichkeit in der kulturell sehr unterschiedlich geprägten Bukowina veranlassen ihn, sich stärker dem »lebenden Recht« zu widmen. Da laut Ehrlich das positive Recht das »lebende« Recht nicht vollends ersetzen und den Rechtsgefühlen nicht entsprechen kann, muss sich nach Ehrlich der Fokus zunehmend auf die Person des Richters verschieben, welcher, relativ unter Berufung auf 71 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Rainer Schützeichel
sein Rechtsgefühl, nicht Recht findet, sondern Recht selbst schafft und somit dem Rechtsgefühl Geltung verschaffen kann. Eine stärker inhaltliche Spezifizierung der Funktion von Rechtsgefühlen findet man erstmals 1923 in dem Werk von Erwin Riezler. Riezler differenziert stärker zwischen drei Formen: (a) das Rechtsgefühl des Juristen bei der Rechtsanwendung. Hier hat das Rechtsgefühl eine Funktion in der Abwägung von Urteilen und Rechtsentscheidungen. (b) Das Rechtsgefühl manifestiert sich aber auch in einem Rechtswillen, also dem Willen, ein bestimmtes Recht verwirklicht zu sehen. (c) Und schließlich kann sich in einem Rechtsgefühl ein bestimmtes Rechtsideal dokumentieren. Da in diesen rechtswissenschaftlichen und rechtssoziologischen Traditionen der Begriff der »Gefühle« selbst nicht theoretisch untermauert und in einem eher diffusen Sinn verwendet wurde und wird, kann er stellvertretend einen breiten semantischen Raum abdecken. Und so steht der Ausdruck »Rechtsgefühl« für eine erhebliche Breite verschiedener Phänomene: Rechtsempfinden, Rechtsbewusstsein, Rechtssinn, Rechtsgewissen, Rechtstrieb, Rechtsüberzeugung, Rechtsdenken oder Rechtsanschauung. So bizarr und diffus diese Liste von Phänomenen, die in den Diskursen mit dem Ausdruck »Rechtsgefühl« verbunden wird, auch sein mag, so lässt sich doch historisch-semantisch eine gewisse Schlussfolgerung ziehen: Der Ausdruck »Rechtsgefühl« und seine semantischen Derivate stehen für solche Phänomene, die auf gewisse affektive, epistemische und evaluative Eigenschaften von Rechtssubjekten verweisen und einen engen Konnex zwischen solchen Eigenschaften und dem Recht oder den verschiedenen Formen des Rechts postulieren. Dieser Konnex kann drei Dimensionen aufweisen. Mit dem Ausdruck »Rechtsgefühl« kann im Sinne einer »Rechtstreue« sowohl ein Legitimitätsglaube gemeint sein, also die Haltung, dass es sich bei einer rechtlichen Entscheidung oder einem Rechtsprinzip um ein legitimes handelt, er kann sich aber auch im Sinne eines »Rechtswissens« auf ein Wissen darüber beziehen, was in einer jeweiligen Ordnung rechtens ist. Und der Ausdruck wird schließlich auch in einer normativen Weise verwendet für das, 72 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Soziologie des Rechtsgefühls
was denn rechtens sein sollte (vgl. Rehbinder 1972). Theodor Geiger (1970) unterschied schließlich zwischen primärer und sekundärer Bewertung. Das Rechtsgefühl kann eine spontane und rein gefühlsmäßige persönliche Stellungnahme in Bezug auf eine rechtliche Entscheidung oder einen rechtlichen Sachverhalt sein. Als eine solche spontane Affektion herrscht es vornehmlich bei einem von vielerlei sozialen Umständen beeindruckten juristischen Laien vor. Relevant aber wird ein solches Gefühl erst dann, wenn es in einem sekundären Akt mit einem Werturteil verbunden wird, einem Werturteil, welches den Affekt zu rationalisieren und in ein »intellektuelles Gefühl« (Rehbinder 1985: 179) zu transformieren in der Lage ist, welches den Rechtskundigen auszeichnet. Dieser von Geiger (1970) und später auch von Rehbinder vertretenen Auffassung liegt offenkundig die heute kaum noch zu rechtfertigende Differenz zwischen einer emotionalen und einer intelligiblen Sphäre vor. Das Recht wird aber, so Rehbinder (a. a. O.: 175 f.), weder auf das Werturteil noch das »authentische« Rechtsgefühl verzichten können, wenn es im Rahmen der Normschöpfung wie im Rahmen der Normanwendung und -durchsetzung einen Bezug zur lebensweltlichen Realität wahren will. Von daher können Rechtsgefühle durchaus auch als Sedimentierungen und Auseinandersetzungen mit einer rechtlichen Ordnung verstanden werden. Sie gehen nicht dem Recht voraus, sondern stellen die Gewohnheiten und Haltungen dar, die sich in Bezug auf Rechtsnormen entwickeln. In dieser Tradition – nennen wir sie die »konjunkte« Position – steht das »Rechtsgefühl« also gleichsam für die verschiedenen Probleme der lebensweltlichen Fundierung von Recht. Rechtsgefühle werden aber auch als real wirksame Kontroll- und Fundierungsinstanzen des Rechts begriffen. Rechtsgefühle schalten sich als Reaktionen auf rechtliche Entscheidungen ein (vgl. Obermayer 1986), als Reaktionen, in denen ein ursprünglicheres Rechts- oder Gerechtigkeitsempfinden evoziert und gegen rechtliche Normen und juristische Entscheidungen in Stellung gebracht wird. Ob nun als Fundierungs- oder als Kontrollinstanz, so will diese Tradition einen Zusammenhang festhalten, der mit der Institutionalisierung und Ausdifferenzierung des Rechts und der verschiedenen 73 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Rainer Schützeichel
Rechtsformen aus den normativen Institutionen lebensweltlicher Horizonte bedroht ist. Aus diesem Grunde wird hier ein enger Konnex zwischen Rechtsgefühl und Moral bzw. Gerechtigkeitsvorstellungen behauptet, wenn auch ein Konnex, der sich eher intuitiv, »primär«, ungefiltert, aber eben gleichsam »authentisch« einstellt und nicht auf individuellen Vorstellungen und Empfindungen, sondern auf gemeinschaftlichen und kollektiven beruht und von daher eine »volonté general« oder eine »conscience collective« im Sinne der frühen französischen Soziologie repräsentiert. Dieser konjunkten Tradition stehen von soziologischer Seite zwei Positionen entgegen. Die diesbezüglich positivistische Rechtssoziologie von Theodor Geiger (1970) betrachtet »Gefühle« weder als einen juridischen noch als einen rechtsrelevanten Begriff. Alle rechtlichen Akte und Rechtsetzungen werden von Bewusstseins- und Gefühlsakten begleitet, aber sie stellen als innere Akte kein Datum dar, mit dem man von Seiten der Soziologie wie der Rechtswissenschaften etwas anfangen kann. Gegenstand dieser Wissenschaften können nur »äußere« Handlungen oder Sprechakte sein. Schließlich ist eine »konstruktive« These zu nennen. »Rechtsgefühle« werden dieser Position zufolge erst dann entdeckt, wenn sich ihre Klammer zum geltenden Recht gelöst hat und die Differenz von praktiziertem Recht und Normvorstellungen evident wird. Der Rekurs auf Rechtsgefühle stellt eine Reaktion auf den Verlust der rechtlichen Bedeutung von Rechtsgefühlen dar. Dementsprechend betrachtet Franz-Xaver Kaufmann (1985: 185) Rechtsgefühle als ein »Konstrukt von Juristen«. Seines Erachtens haben diese Konstrukte keine mentale oder kommunikative Wirklichkeit, sondern nur eine Funktion innerhalb des Rechtssystems selbst, nämlich eine solche der Verweisung auf das doch immer nur intransparente, nicht-kontrollierbare, diffuse psychische und moralische Leben von aktiv oder passiv dem Recht unterworfenen Subjekten. »Rechtsgefühle« stellen also einen Zurechnungsschematismus auf diffuse vorrechtliche normative Instanzen und moralische Überzeugungen dar. Nach Kaufmann ist das Rechtsgefühl zwar ein Konstrukt von Juristen, aber ein notwendiges in74 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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sofern, als ein solches Konstrukt bei rechtlichen Entscheidungen stets in Rechnung gestellt werden muss. Aber auch seines Erachtens ist es völlig verfehlt, losgelöst von diesem Rechtsbezug von einem Rechtsgefühl zu sprechen und dieses zum Objekt von psychologischer Forschung zu machen, denn der Ort des Rechtsgefühls ist nicht das Individuum, sondern das Verhältnis von Individuen und Recht. Von daher steht das Konstrukt des Rechtsgefühls für die breite Dimension der Einstellungen, die die Legitimität des Rechts betreffen. In den Umkreis einer solch konstruktiven Position würde auch die von Kaufmann nicht berücksichtigte Frage gehören, wie die Rechtsordnung, aber mehr noch die rechtliche Praxis selbst bestimmte emotionale Akte als Rechtsakte gelten lässt. Wie wird ein bestimmtes emotionales Verhalten vor Gericht beurteilt? Wie fließt es in ein Urteil ein? Wie wird vor Gericht beurteilt, ob ein bestimmtes Verhalten als authentisch und glaubhaft eingestuft werden kann oder nicht? Und wie wirken sich die für normative Beziehungen bedeutsamen moralisch-emotionalen Akte des Verzeihens vor Gericht aus? Was heißt es, dass das Verzeihen als »vorrechtlicher Sachverhalt« (Husserl 1925: 56) als eine Rechtshandlung oder eine rechtlich relevante Gefühlsäußerung gewertet wird? Mit der konjunkten, der positivistischen und der konstruktiven Position sind drei maßgebliche rechtssoziologische Traditionslinien in der Befassung mit Rechtsgefühlen benannt. Kommen wir nun auf die rezente Forschung über Rechtsgefühle zu sprechen. Diese wird weitgehend abseits der Soziologie in den Rechtswissenschaften und der Psychologie geführt und hat sich mittlerweile zu einem markanten Forschungsfeld entwickelt. 4 In ihr wird ein gleichsam empiristisches Verständnis von Emotionen vorausgesetzt. Ihr zufolge stellen sich keine Fundierungsfragen, sondern sie untersucht rechtliche Handlungen auf die von ihnen ausgelösten oder die sie begleitenden Emotionen. Wie und inwie4
Siehe beispielsweise Abrams/Keren 1997; Arkush 2008; Blumenthal 2010; Bornstein/Wiener 2010; Little 2001; Maroney 2006; Wiener/Bornstein/Voss 2006).
75 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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fern trüben Emotionen die Rechtsprechung? Wie wirken sich Emotionen auf Zeugenaussagen oder die Urteile von Geschworenen aus (Bright/Goodman-Delahunty 2006; Kerr 2010)? Wie lassen sich durch die Evokation von Gefühle rechtliche Entscheidungen beeinflussen und durchsetzen? Wie sind die Entscheidungen und Verfahren in Gerichtsprozessen von Emotionen beeinflusst und wie werden Emotionen in den gerichtlichen Interaktionen reguliert? Man kann diese Forschungen zu »law and emotions« in Parallelität mit Entwicklungen in der Ökonomie setzen. Hier fand in den letzten Jahren in Gestalt der Verhaltensökonomie eine interne Korrektur und Empirisierung klassischer modelltheoretischer Annahmen über den homo oeconomicus statt, die ebenfalls mit der – weitgehend psychologistisch und neurobiologisch fundierten – Einarbeitung von Emotionen in die Theorien über das Verhalten ökonomischer Akteure verbunden war. Eine ähnliche nachholende Bewegung findet sich nun im Bereich des Rechts als Kritik an gewissen rationalistischen Modellannahmen eines »homo juridicus«. Dies wird unter dem Titel eines »Behavioral Law« diskutiert, vornehmlich unter dem Aspekt, wie viel Rationalität man diesem homo juridicus noch zusprechen kann (vgl. Jolls/Sunstein/Thaler 1998; Sunstein 1999; Posner 1999; Posner 2001). Eine weitere Variante findet man in den Diskussionen und Forschungen über die Möglichkeit, Gefühle als Mechanismus der Verhaltenssteuerung durch rechtliche Entscheidungen einzusetzen. 5 Insbesondere die in manchen Rechtssystemen praktizierte Form der Bestrafung durch öffentliche Beschämungs- und Demütigungspraktiken haben hierzu den Anlass geliefert. Rechtsgefühle sind also hier nicht lebensweltliches Fundament oder Kontrolle von rechtlichen Entscheidungen, sondern eine Form der rechtlichen Sanktionierung und Bestrafung, ja, mehr noch, eine Form der Intensivierung und – insofern auch das soziale Umfeld der Beschuldigten betroffen ist – der Extensivierung der Rechtsgeltung. Und schließlich sei noch auf eine weitere, aber 5
Siehe Braithwaite 1989; Freiberg 2008; Karstedt 2008; Krimphove 2012; Massaro 1997.
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sicherlich gleichsam klassische Bedeutung von »Rechtsgefühlen« verwiesen, nämlich die Funktionen des Rechts in der Vermeidung von negativen und der Evokation von positiven Gefühlen. Dabei werden die verschiedenen Möglichkeiten des Rechts, ein Angstmanagement zu betreiben, analysiert (vgl. insbes. Sunstein 2004, 2007). 2.
Funktionen von Rechtsgefühlen
Bevor wir uns mit weiteren Fragen näher auseinandersetzen, sollten die verschiedenen Funktionen, die Rechtsgefühlen zugesprochen werden, differenziert betrachtet werden. Der Diskurs über Rechtsgefühle bezieht sich zum einen auf das Problem der Geltung von Recht, und zwar vornehmlich auf das Problem der ethischen Geltungsbegründung, also der Entsprechung des Rechts mit grundlegenden Postulaten einer gelebten Moralität und ihren Gerechtigkeitsmaximen, wie der soziologischen Geltungsbegründung, also der Frage der Rechtsdurchsetzung. Die juristische Geltungsbegründung im Sinne der Einhaltung formaler Verfahren der Rechtserzeugung und Rechtsprechung ist hingegen weniger berührt. Aber darüber hinaus betrifft das Problem der Rechtsgefühle noch eine weitere Problematik, nämlich diejenige des »Wertes« und damit die Begründung von Normativität und der Auszeichnung von Sätzen als Sätzen über ein Sollen. Nicht die Verhaltens- oder Handlungsweisen von Individuen oder Gruppen als solche können, so die These, moralisch oder rechtlich qualifiziert werden. Voraussetzung hierfür ist eine Wertordnung, die erst bestimmte Eigenschaften als moralisch oder rechtlich relevante ausweist. a.) Die rechtskreative Funktion der Rechtsgefühle: Rechtsgefühle stellen Rechtsquellen dar. Sie bilden, wie dies Erik Wolf (1964: 160) einmal bezeichnete, einen »Ersatz für naturrechtlich objektive Werte« dar. Daraus erwächst die Rechtsgefühlen zugesprochene rechtskreative Funktion. Sie stellen »die Umschaltstation (die Brücke) vom Sein zum Sollen« (Rehbinder 2014: 124) dar. Ins77 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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besondere dann, wenn die Rechtsgefühle als gemeinschaftliche betrachtet werden, stellen sie als ursprünglicher Wille eines Rechtssubjekts in Analogie zu einer »volonté generale« das Fundament des Rechts dar. Diese Funktionszuschreibung wird dem Rechtsgefühl zunächst in der Zeit der Romantik und dem Rechtshistorismus zugesprochen und dann in der beginnenden Rechtssoziologie wie auch in bestimmten Fraktionen der Rechtsphänomenologie aufgenommen und fortgeführt. b.) Rechtsgefühle als Rechtsnorm und Rechtskorrektiv: Den Rechtsgefühlen wird aber auch in Verlängerung ihrer rechtskreativen Funktion die Funktion als Rechtsnorm, Rechtskorrektiv und Rechtsideal des positiven Rechts zugesprochen. Diesbezüglich wird das Argument vorgebracht, dass das positive Recht sich oft nicht in Übereinstimmung mit dem Rechtsgefühl befinde und entsprechend zu korrigieren sei. Das gesellschaftliche Leben wird zwar durch positives Recht reguliert, dieses aber findet seine normative Korrekturinstanz in dem Rechtsempfinden einer Gemeinschaft. Auch diese Position wird im Rahmen rechtsphänomenologischer Untersuchungen vertreten. Das Rechtsgefühl könne, so Heinemann (1972: 79) in seiner an Heidegger und Erik Wolf (1964) orientierten Sichtweise, zwar nicht die eigentliche Rechtsvernunft darstellen, aber es präsentiere und repräsentiere solche »Weisungen«, die Gesetz und Norm werden müssen. Diese Position findet sich auch in jüngeren Jahren bei Martin Kriele (1985). Eine Rechtsordnung, die eine legitime und keine Willkürordnung sein will, setze voraus, dass mindestens diejenigen, die mit der Anwendung und der Fortentwicklung des Rechts befasst sind, eine Übereinstimmung mit den vorliegenden Rechtsgefühlen herzustellen beauftragt seien. Damit verbunden ist eine weitere Position: c.) Rechtsgefühle als Rechtsdurchsetzungsinstanz: Die Durchsetzung von Rechtsnormen ist darauf angewiesen, in einem bestimmten positiven Adäquanzverhältnis zu den Rechtsgefühlen zu stehen. Von daher werden den Rechtsgefühlen eine entscheidende Kraft 78 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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und ein entscheidender Einfluss auf die praktische Chance der Rechtsverwirklichung zugesprochen. d.) Rechtsgefühl als Judiz bzw. als rechtliche Urteilskraft: Rechtsgefühle werden als eine Form (vorreflexiver) rechtlicher Urteilskraft verstanden. Dabei werden unterschiedliche Kontexte angeführt, nämlich in Bezug auf die Urteilskraft des Richters oder der Juristen, in Bezug auf die eben meist irrationale, der Urteilskraft der Juristen und dem rationalen Rechtsetzungsprozedere des Rechtswesens entgegengesetzte, irrationale, rein emotionale Rechtsbeurteilung des Laien, aber drittens auch in Form eines kollektiven lebendigen Rechts als Fundament, als Normkontrolle oder als Durchsetzungskraft des positiven Rechts. Als Judiz bezeichnet man bekanntlich die Urteilskraft eines Juristen oder einer mit Rechtsfragen betrauten und vertrauten Person, also die Fähigkeit oder das Gespür, möglichst schnell oder gar intuitiv entscheidungserhebliche Tatsachen zu erkennen oder einen Rechtsfall richtig zu bewerten. Die methodische Subsumtionslogik eines Richters ist auf Ermessensspielräume angewiesen, die – so das Argument – durch »Rechtsgefühle« gefüllt werden (vgl. Engisch 1974). Diese Problematik findet sich auch in dem Selbstverständnis von Richtern. Einer Untersuchung von Thorsten Berndt (2011) zufolge lassen sich in den Selbstbeschreibungen von Richtern drei Muster unterscheiden: – Eine Gruppe von Richtern sieht sich als »Richtigkeitstechniker« an. Diese Gruppe hat einen starken Gesetzes- und Methodenbezug und lehnt jede Bezugnahme auf ein übergesetzliches Recht oder eine übergesetzliche Gerechtigkeit ab. Sie betrachten sich als Subsumtionsautomaten. – Eine zweite Gruppe versteht sich als »Radbruchianer«. Sie sieht die Konflikte zwischen dem Gesetz und einer übergesetzlichen Gerechtigkeit und versucht, diese Konflikte mal zur einen, mal zu anderen Seite hin auszuloten. – Eine dritte Gruppe reklamiert für sich die Position als »Richterkönig«. Sie ist in ihrem Selbstverständnis einer übergesetzlichen Gerechtigkeit und damit einem individuellen oder kollektiven Rechtsgefühl verpflichtet. 79 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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e.) Rechtsgefühl als Rechtserfahrung und Legitimitätsglaube: Mitunter spricht man auch die Erfahrung im Umgang mit Rechtsträgern oder Rechtsverfahren als »Rechtsgefühl« an. Das Rechtsgefühl bezieht sich hier nicht auf inhaltliche, sondern formale Gerechtigkeitsprinzipien. Wann betrachten Menschen ein Rechtsverfahren als recht oder gerecht? Oft halten Menschen das Verfahren selbst für wichtiger als das Urteil. Aus manchen Untersuchungen geht ebenso hervor, dass Betroffene (Zeugen oder Angeklagte) ein Gerichtsverfahren dann als gerecht begreifen, wenn sie von dem Gericht Anerkennung erfahren. Dies weist auf eine eigenständige Bedeutung der affektiven Dimension hin: Das Rechtsgefühl im Sinne der personalen Anerkennung ist eine eigene Dimension gegenüber der kognitiven Beurteilung des Rechtssujets. Als »Rechtsgefühl« kann in einem umfänglicheren Sinne auch die Einstellung oder das Vertrauen zum Rechtswesen wie zur Rechtsprechung verstanden werden (vgl. Blankenburg 1994) und damit in den Legitimitätsglauben einfließen bzw. sich in der Aberkennung von Legitimität manifestieren. 3.
Rechtsphänomenologische Positionen
Die bisher angeführten Positionen, die meist der Rechtssoziologie wie der Rechtswissenschaft angehören, setzen ein Verständnis von Gefühlen respektive Rechtsgefühlen als inneren, privaten Zuständen voraus, mitunter auch als eine rein affektuelle Reaktion. Emotionen und Gefühle, so eine häufig vertretene Ansicht, sind, Widerfahrnissen gleich, innere Zustände, die uns überkommen, die aber keine intrinsische Beziehungen zu unseren Bewertungen und Werten haben. Zu anderen Konzeptionen und Funktionszuschreibungen von Rechtsgefühlen wird man gelangen, wenn man nun eben auch an der zweiten »Stellschraube« dreht, den Gefühlen. Die Funktion wie die Relevanz von Rechtsgefühlen hängt eben nicht nur von dem Recht und dem Rechtssystem ab, sondern auch von der »Form«, die man Gefühlen zuspricht. In der (Rechts-)Phänomenologie wird ihre Intentionalität als die essentielle Eigenschaft von Gefühlen ausgewiesen. Dies eröffnet die 80 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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theoretische Option, Gefühle in einem konstitutiven Sinne auf Werte, Normen und Recht zu beziehen. Deshalb kommen wir nun auf eine Tradition zu sprechen, die das Rechtsgefühl als einen »sensus iuridicus«, als ein Erkenntnisund Wertungsvermögen beschreibt und von einem wechselseitig konstitutiven Zusammenhang von Normativität und Emotionalität ausgeht. Wechselseitig konstitutiv heißt: Ohne die Anerkennung bestimmter (Rechts-)Normen wird das Subjekt nicht von bestimmten Gefühlen affiziert, und ohne die Affektion durch bestimmte Gefühle ist keine normative Anerkennung von Regeln als verbindlichen gegeben. Diese Auffassung findet sich vornehmlich in den facettenreichen Strömungen der älteren und jüngeren Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik ist für eine Rechtssoziologie zentral, die sich nicht mit einer Faktizität von Normen begnügt, sondern sich mit dem Problem der sozialen Konstitution, der Begründung wie der Geltung von Normen im Allgemeinen und von Normen als Rechtsnormen im Besonderen konfrontiert sieht und somit auch rechtstheoretische Ansprüche erheben will. Diese Problematik wird unter dem Begriff des »Wertes« geführt. Im 19. Jahrhundert beginnt mit dem Neukantianismus und dann mit der Brentano-Schule und der frühen Phänomenologie eine Bewegung, die Werte als konstitutiv für die Begründung wie die Evidenz von Normen und Rechten betrachtet und sie in der Gestalt eines Wert- oder Rechtsgefühls als ein originäres Erkenntnisorgan ausweist. Solche Gefühle wie Scham, Empörung und Zorn verweisen dementsprechend auf die Evidenz von Normen als legitimationsfähigen Rechtstatsachen. Auf die evaluative Dimension von Gefühlen wie auf ihre erkenntnisförmige Funktion macht schon Lotze aufmerksam. Er konstatiert, dass »in dem Gefühl für die Werte der Dinge unsere Vernunft eine ebenso ernst gemeinte Offenbarung besitzt, wie sie in den Grundsätzen der verstandesmäßigen Forschung ein unentbehrliches Werkzeug der Erfahrung hat« (Lotze 1923, Bd. 1: 275). Werte werden dabei meist nicht als subjektive Werte verstanden, nicht als Projektionen von subjektiven Wertempfindungen, sondern als objektive Werte, die ein besonderes Erkenntnisvermögen ein81 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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fordern. Werte werden häufig im Sinne eines starken Wertrealismus als entweder von einem Beobachter unabhängige Entitäten oder im Sinne eines schwachen, dispositionalen Realismus als objektive, aber dennoch durch einen Beobachter erschließbare Entitäten aufgefasst (vgl. zu dieser Unterscheidung: Demmerling 2013). Aber auch rechtsphänomenologische Positionen tun sich mitunter schwer mit dem Rechtsgefühl. So hält Gerhart Husserl (1964), der Sohn von Edmund Husserl, apodiktisch fest, dass es keine Rechtsgefühle geben könne. Rechtliche Dinge können nicht Gegenstand eines Fühlens sein, denn das Recht verdanke sich dem Rechtswillen einer Gemeinschaft. Und wenn denn von Rechtsgefühl die Rede sei, dann sei damit der rechtlich eigentlich belanglose Sinn für das Gerechte gemeint, welcher vornehmlich Laien eigen sei. Gerhart Husserl steht diesbezüglich der Tradition des eigentlichen Begründers der Rechtsphänomenologie nahe, nämlich Adolf Reinach (1913). Reinach hält in seiner Phänomenologie des Rechts als dem Entwurf zu einer apriorischen Rechtslehre fest, dass man zwar oft von dem natürlichen Rechtsgefühl als einem natürlichen Gefühl für das Gerechte rede, aber es sei doch oft so, dass dies bei der Rechtsfindung keine große Rolle spielen könne und dürfe. Das Recht sei eine Sphäre des rein Rechtlichen und daher wie die Gesetze der Mathematik unabhängig von unserem Erfassen ihrer wie von einem Fühlen. 6 Edmund Husserl selbst wies nun immer auf Reinachs materiale Rechtsphänomenologie als beispielhaft hin, aber er betonte auch, dass dieser Rechtsphänomenologie ein Unterbau in Gestalt einer Phänomenologie des Rechtsbewusstseins fehle (vgl. Schuhmann 1987: 249). Aber auch die wenigen Ausführungen von Husserl zur Rechtsphänomenologie selbst geben keinen Aufschluss über diesen Unterbau (vgl. Loidolt 2010; Schuhmann 1987). Es ist jedoch mit guten Gründen zu vermuten, dass eine solche Fundierung in seinen Analysen 6
Reinach stellt nicht, wie andere Phänomenologen, das Erleben, sondern das Sprechen oder, präziser, den Sprechakt in das Zentrum seiner rechtsphilosophischen Überlegungen. Diese werden derzeit im Rahmen einer Theorie der performativen Rechtserzeugung (Müller-Mall 2012) wieder aufgenommen.
82 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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zur Wertethik und zur Werterfahrung zu finden ist. Hier spielt die Erfahrung des Wertfühlens eine zentrale Rolle (vgl. jüngst Merz 2015). »Ich kann nichts begehren und nichts wollen, ohne dazu durch etwas bestimmt zu sein […] bestimmt durch ein vorausgehendes Werten […]« (Husserl 2004: 81 f.). Dementsprechend hätte eine phänomenologische Untersuchung im Sinne einer genetischen Reduktion die Rückführung eines Werturteils auf ein vorprädikatives Wertfühlen oder, wie Husserl dies auch nennt, auf ein »Wertnehmen« vorzunehmen, eines Wertfühlens, welches konstitutionslogisch sowohl dem Wollen wie dem Handeln vorangeht. Und im Gegenzug wäre dann zu klären, wie von einem solchen vorprädikativen Wertfühlen als »erstem Stück« der phänomenologischen Urteilstheorie ein Aufstieg hin zu den höherstufigen Evidenzen des moralischen und rechtlichen Urteilens möglich wäre (vgl. Husserl 1948: 21). Eine fundierende Funktion des Gefühls findet sich nun bei Max Scheler in seiner Formalismus-Schrift (Scheler 2000). Als der maßgebliche Vertreter einer materialen Wertethik grenzt er sich gegen die formale Wertethik ab, die Werten nur eine ideale Seinsweise zusprechen und ihre Erkennbarkeit somit auf kognitive Geltungsreflexionen zurückführen kann. Die materiale Wertethik hingegen vertritt demgegenüber einen wertrealistischen Standpunkt. Werte werden durch ein Wertfühlen wahrgenommen. Das Rechtsgefühl selbst wird als eine Weise des Wertfühlens verstanden und bildet damit eine materiale Basis von Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft einerseits, der Rechtspraxis und dem Rechtsleben andererseits. Jegliches Recht, so Scheler, hat den Tatsachen der menschlichen Natur und damit dem Rechtsgefühl Rechnung zu tragen. Werte werden der materialen Wertethik Schelers zufolge weder im Verstand noch in der sinnlichen Wahrnehmung erfasst, sondern in einem spezifischen Erkenntnismodus, dem Wertfühlen, welches nun nicht als eine genuin affektive Reaktion begriffen werden soll, sondern als eine auf objektive Werte gerichtete Komponente intentionaler Anschauung. Werte sind wahrnehmungsgegebene Qualitäten von Wertträgern, Wertqualitäten sind »unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung« (Scheler 2000: 270). Werte erschließen sich somit 83 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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schon in einer vorpropositionalen, vorreflexiven Anschauung. Das aber heißt in der phänomenologischen Tradition eben nicht, dass Werte auf einen Bewertungsakt reduziert werden können. Bewertungsakte selbst sind kontextsensitiv, Werte hingegen objektiv. Diese Differenz zwischen individuellen Bewertungsakten und der objektiven Einheit der Werte generiert nun zahlreiche Konflikte in der moralischen wie rechtlichen Sphäre. Dennoch gäbe es eben diese Sphären nicht ohne die Annahme der Objektivität von Werten. Nach Scheler – und Tomoo Otaka (1932), der die Gültigkeit von Rechtsnormen auf die gemeinschaftlichen Rechtsgefühle zurückführt, auf dessen »Lehre vom sozialen Verband« wir hier aber nicht weiter eingehen können – ist die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz ein bedeutender Versuch einer Fundierung des Rechts in Gefühlen. Gefühle stellen die maßgebliche Evidenzquelle des Rechts dar. Mit der Analyse von Gefühlen legt man die Wurzeln des Rechts »diesseits der Willkür menschlicher Setzung« (Schmitz 2005: 25) frei. Gegen den Rechtspositivismus und den mit diesem verbundenen »Soziologismus« (von Ihering über Kelsen bis in die Gegenwart), der sich auf die Faktizität eines entsprechend ausgerüsteten Rechts beruft, aber auch gegen die Diskurstheorien des Rechts wie gegen die materiale Wertethik von Scheler und Hartmann führt Schmitz an, dass nur die Autorität der Gefühle die Autorität des Rechten im Sinne seiner verbindlichen Geltung begründen könne. Der Grund für das Scheitern der Wertethik nach Scheler sei »das Fehlen ergreifender Macht der Werte« (Schmitz 2012: 44). Gefühle sind aber nicht nur die Evidenzquelle des Rechts schlechthin. Ihnen wird noch eine weitere Funktion zugesprochen. Sie verleihen einer Rechtsordnung Legitimität und Geltung. Eine Rechtsordnung, so Schmitz (2005: 20 f.), kann nicht allein aufgrund ihrer idealen Werte und Normen Gültigkeit und Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Sie muss auf normativ setzende Mächte zurückgreifen. Sie kann sich diesbezüglich aber nicht, so könnte man Schmitz verstehen, auf externe Quellen verlassen, also nicht auf politische Macht oder die sittliche Kraft der Moral, sondern sie muss auf die Grundlagen zurückgreifen, in denen Recht und Un84 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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recht in einem primordialen Sinne evident werden, und dies sind die Gefühle des Rechts, vornehmlich Zorn und Scham. Sie bilden, so Schmitz (2005: 24) die »Gefühlsbasis der phänomenologisch wichtigen Evidenzen über Recht und Unrecht«, dabei auf eine phänomenologische Beschreibung der Gefühle zurückgreifend, die Gefühlen eben nicht als innerlichen, subjektiven Erlebnissen gewahr wird, sondern als überpersönlichen, räumlich ergossenen, aber flächenlosen Atmosphären, von denen man affektiv betroffen ist. Gefühle als so genannte »Halbdinge« stellen dieser phänomenologischen Deskription nach ein Erkenntnismittel über ein normatives Sollen dar. Sie bilden – wenn man Schmitz’ Überlegungen zum Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt der Gefühle auf die Rechtsordnung selbst übertragen möchte – Verankerungspunkte bezüglich der Unterscheidung von Recht und Unrecht. Von daher kann Schmitz (1983: 22; Hervorh. weggel.) seine zentrale These formulieren: »Evidenzen des Gefühlslebens sind sowohl notwendige als auch zureichende Bedingungen für Evidenzen über Recht und Unrecht.« Dass Rechtsgefühle in der bisherigen Tradition nicht als Erkenntnis- oder als Wirkmittel des Rechts betrachtet wurden, liegt dementsprechend daran, dass Gefühlen ein privates, innerliches, subjektives Dasein unterstellt wird. Das hat dazu geführt, dass Gefühle als wirkmächtige Atmosphären mit dem affektiven Betroffensein durch sie verwechselt wurden. Nach Schmitz sind die Unrechtsgefühle wie Scham und Zorn die ursprünglichen Rechtsgefühle, also solche Gefühle, die auf ein erlittenes Unrecht verweisen, ein Unrecht, welches den Verankerungspunkt dieser Gefühle bildet. Rechtliche Vorgefühle, Rechtsgefühle im weitesten und im weiteren Sinne – die wir hier nicht näher untersuchen können (vgl. hierzu insbes. Schmitz 2005: § 175) – konstituieren nun die verschiedenen Formen von gemeinsamen kollektiven, in ihrem Zurechnungs- und Geltungskreis aber sozial sehr variablen Rechtszuständen oder Rechtsordnungen, beginnend mit gewohnheitsrechtlichen Zuständen und verbindlichen Normen bis hin zu solchen Ordnungen, die durch echte Rechtsnormen, also solche mit einer unbedingten Verbindlichkeit gekennzeichnet sind. Das 85 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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»Subjekt« von Rechtsgefühlen als Atmosphären ist dementsprechend ein jeweiliges Rechtsvolk. 4.
Aristotelische Rechtsgefühle
Kommen wir nun abschließend mit den Arbeiten von Martha Nussbaum (1998, 1999, 2004; Kahan/Nussbaum 1996) in aller Kürze noch auf einen weiteren Ansatz zu sprechen, der ebenfalls einen engen Bezug von Gefühlen und Werten herstellt, dies jedoch nicht vor einem phänomenologischen, sondern einem aristotelischen Hintergrund mit starken Berührungspunkten zur Stoa. Im Rahmen einer kognitivistischen Emotionstheorie vertritt Nussbaum die Ansicht, dass Gefühle uns auf die normativen und rechtlichen Prinzipien eines »guten Lebens« verweisen. Sie machen uns nicht nur unsere (rechtlichen) Normen evident, sondern sie bilden das Grundprinzip (»rationale«, Nussbaum 2004: 6) unserer rechtlichen Praktiken und verbinden damit unsere rechtlichen Prinzipien mit unserer Humanität. »More deeply, it is hard to understand the rationale for many of our legal practices unless we do take emotions into account. Without appeal to a roughly shared conception of what violations are outrageous, what losses give rise to a profound grief, what vulnerable human beings have reason to fear – it is very hard to understand why we devote the attention we do, in law, to certain types of harm and damage« (Nussbaum 2004: 6). Aber es gilt eben auch umgekehrt, dass sich unsere Gefühle verändern in Abhängigkeit von den Werten, die wir den Dingen und Ereignissen beimessen. Auch Robert C. Solomon (1990, 1999) rückt den intrinsischen Zusammenhang von Recht, Gerechtigkeit und Emotionen in den Vordergrund, konzeptualisiert aber strikter noch als Nussbaum Emotionen durch kognitive Bewertungen. »No one, not even a saint, can have a sense of justice without the capacity for anger and outrage, even the ability to hate« (Solomon 1990: 242). Als Individuationsbasis von Emotionen gelten die kognitiven Bewertungen, durch die sie sich realisieren. Von daher liegt in diesen kognitivistischen Theorien der Weg von den Emotionen als Be86 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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wertungen hin zu moralischen und rechtlichen Wertungen besonders nahe. 5.
Zur Funktion von Rechtsgefühlen – soziologische Thesen
Nach dieser eher skizzenhaften Erhebung der vielfältigen Funktionen, die den Rechtsgefühlen in verschiedenen Traditionen zugesprochen wurden und werden, möchte ich nun in dem kommenden Kapitel mich in einer thesenartigen Form mit verschiedenen rechts- wie emotionssoziologischen Dimensionen dieser Problematik auseinandersetzen. Zunächst scheint es mir geboten, den folgenden Punkt nochmals deutlich zu machen: 5.1 Rechtsgefühle als Korrelat der Ausdifferenzierung des Rechtssystems? Die Bezugnahme auf ein Rechtsgefühl ist ein notwendiges Korrelat eines Rechtssystems, welches weitestgehend positiviert ist und welches sich als ein sich selbst-konditionierendes und selbst-programmierendes Funktionssystem ausdifferenziert hat. Mit anderen – soziologischen – Worten: Im Zuge der Ausdifferenzierung des Rechtssystems und der damit einhergehenden Positivierung des Rechts im Sinne einer Entkopplung des fungiblen Rechts von nicht-rechtlichen Begründungsformen wird zugleich die Positivierung des Rechts als gesellschaftliches und rechtliches Problem ausdifferenziert und zum Gegenstand von politischen, ethischen und lebensweltlichen Begründungsdiskursen gemacht. Einer dieser Diskurse ist derjenige über die Rechtsgefühle, der manchmal weiter im Sinne einer jeglichen Referenz auf vorrechtliche Begründungs- und Legitimierungsinstanzen des Rechts geführt, manchmal aber auch enger an die Gefühle als den zentralen Umschlagplatz von Sein und Sollen (vgl. Rehbinder 2014: 124) geführt wird. Ausdifferenzierung von Recht heißt Kontingenz von Recht (Luhmann) und seine Abänderbarkeit, es heißt aber auch Ausdifferenzierung der Differenz von Recht im juristischen wie 87 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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in einem ethischen Sinn. Die Selbstreferentialität des positiven Rechts 7 evoziert und provoziert Verweisungen auf ihre Geltung und damit ihrer Normativität. Oder anders formuliert: Sie verschärft das Problem von »Faktizität und Geltung« (Habermas 1992). Mit der Kontingenz der Geltung des positiven Rechts werden aber die – wie auch immer ausfallenden – Begründungen für die Geltung des Rechts kontingent. Es besteht also ein semantischer und rechtslogischer Zusammenhang zwischen der Positivität des Rechts und dem Rechtsgefühl. Das Rechtsgefühl mag zwar ein juridisches Konstrukt sein, aber es ist ein notwendiges Konstrukt, welches durch die Entwicklung des Rechtssystems forciert wird. Die Positivierung des Rechts stößt auf eine immanente Paradoxie, denn dann, wenn es begründen will, was Recht oder Unrecht ist, kann es immer nur auf sich selbst und seine Verfahren verweisen. Aber was ist beispielsweise mit der Unterscheidung von Recht oder Unrecht – ist sie selbst rechtsförmig? Braucht das Recht nicht den Bezug auf eine außerrechtliche Instanz, um sich begründen, ableiten, entparadoxieren zu können? Hierzu dient eben seit dem 19. Jahrhundert neben dem Naturrecht insbesondere die psychologistische Variante in Gestalt des Bezugs auf Rechtsgefühle. Der Bezug auf Rechtsgefühle ist also ein Korrelat der Positivierung des Rechts in einer historistischen und psychologistischen Kultur und, mehr noch, sie ist ein Korrelat der Ausdifferenzierung eines Rechtssystems, welches sich nur selbst konditionieren und programmieren kann. Die Berufung auf Rechtsgefühle oder subjektive Rechtsquellen dient dann dem Recht dazu, sich selbst zu kontrollieren und zu reflektieren. Daraus ergibt sich auch, dass das, was der Ausdruck Rechtsgefühl eigentlich meint, völlig diffus ausfallen kann. Es muss nicht näher bestimmt werden, denn es reicht ja der Hinweis auf diese Instanz. Es gibt in soziologischer Hinsicht aber noch einen weiteren Zusammenhang, nämlich den der Inklusion – Inklusion hier im soziologischen Sinne, als Ausdruck für die Art und Weise, wie in 7
»Geltungsgrund einer Norm kann nur die Geltung einer anderen Norm sein« (Kelsen 2000: 196).
88 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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welcher Weise Menschen einem Funktionsbereich zugeordnet werden. Der Rekurs auf Rechtsgefühle dient hier dazu, das Verhältnis von Rechtssystem und Rechtsbetroffenen oder Rechtsunterworfenen zu thematisieren. Insbesondere geht es um die Frage nach der Legitimität des Rechts und der Zustimmung zu rechtlichen Verfahren und Entscheidungen. Der Ausdruck des Rechtsgefühls steht dann, wie beispielsweise bei Franz Xaver Kaufmann, als Abbreviatur für all diejenigen Haltungen und Motive, die sich im Hinblick auf die Legititimität und die Zufriedenheit mit dem gegebenen Recht entwickeln. 5.2 Wandel der Rechtsgefühle? Was kann man zu dem Wandel des Rechts und des Rechtsgefühls sagen? Auch hier gibt es kaum irgendwelche empirischen Befunde. Wenn man Rechtswissenschaftler oder Soziologen fragt, wie sich die Entwicklung des Rechts in der modernen Gesellschaft vollzieht, so wird sehr häufig die These von der Expansion des Rechts oder der Verrechtlichung vertreten. Immer mehr lebensweltliche Bereiche werden als Rechtssachverhalte betrachtet – eine Entwicklung, vor der schon im 19. Jahrhundert gewarnt wurde. Im Jahre 2005 gab es allein auf Bundesebene in Deutschland 2100 Gesetze mit 46000 Einzelvorschriften und über 3100 Rechtsverordnungen. Der Verrechtlichungstrend geht im Zuge des Ausbaus des Rechtssystem weniger auf die klassischen Bereiche des Straf- und des Privatrechts zurück, sondern stärker auf das Verwaltungsrecht, also die Verrechtlichung des Umgangs der Bürger mit dem Staat, was damit zu tun hat, dass der Staat eben nur über das Recht und in Grenzen über das Medium des Geldes verfügt, um das Verhalten seiner Bürger zu beeinflussen. Ob dadurch das »lebendige Recht«, um mit Ehrlich zu sprechen, oder die tradierten Sitten oder Bräuche tangiert werden, ob es zu einer immer stärkeren Entgegensetzung von Moral und Recht kommt, mag dahingestellt sein. Sicherlich wird man auch zwischen Vergesetzlichung, Justizialisierung und Bürokratisierung unterscheiden müssen. Aber welchen Einfluss hat dies auf Rechtskultur und 89 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Rainer Schützeichel
Rechtsgefühl? Viel wichtiger als die abstrakte Verrechtlichung scheint der damit einhergehende Prozess der Spezialisierung des Rechts zu sein. Das jeweilige Recht wird zu der exklusiven Sache von einigen wenigen Spezialisten, welches nicht von der Gesamtheit der Juristen und erst recht nicht von den Laien in irgendeiner Weise noch kontrolliert oder verfolgt werden kann. Dies führt aber, wie Kaufmann (1985) betont, dazu, dass das Rechtsgefühl oder das Rechtsbewusstsein immer weniger berücksichtigt werden kann. Wenn es jemals ein Fundament gewesen ist, so nun sicherlich nicht mehr, sondern das Fundament ist das Recht selbst. Aber ist damit nicht die Gefahr gegeben, dass das Rechtsgefühl selbst ins Leere läuft – bleibt es nicht bei einem allgemeinen Moralisieren? Treten Legalität und Moralität nicht noch stärker auseinander? Sind Rechtsgefühle dann Rechtsgefühle oder allgemeine Moralgefühle? Und es stellt sich eine weitere Frage: Wird damit das Recht für viele kontingent und damit etwas, was man dem Recht eigentlich nicht wünscht? Löst sich die Sicherheit gegenüber dem Recht nicht auf, weil es als wandelbar und intransparent erlebt wird? 5.3 Werte und Emotionen? Über die Rechtsgefühle im engeren Sinne ist für die Soziologie der von verschiedenen Traditionen behauptete intrinsische oder konstitutive Zusammenhang von Normativität und Emotionalität bzw. von Werten und Gefühlen von erheblicher Bedeutung, wie er im Neukantianismus, in der Brentano-Schule und bei Alexius Meinong 8, in der Phänomenologie, aber auch in gegenwärtigen Fortsetzungen dieser Traditionen ausführlich begründet wird (vgl. Vendrell Ferran 2008), wird doch dadurch die meist noch »vorintentionale« Auffassung von Gefühlen korrigiert. Gefühle bezie8
Alexius Meinong kann als der maßgebliche Begründer der kognitiven BeliefDesire-Theorie der Emotionen angesehen werden (vgl. Reisenzein 2009 u. 2010). Für eine soziologische Anwendung der Belief-Desire-Theorie siehe Schützeichel 2012 u. 2014.
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hen sich dementsprechend intentional auf Qualitäten von Dingen und Ereignissen in der Welt, also auf »Werte«. Gefühle machen präsent, welche Zustände gewünscht oder gesollt oder eben vermieden werden sollen. Mit ihnen verbindet und in ihnen dokumentieren sich normative Ansprüche in ihren unterschiedlichen Verbindlichkeitsgraden. Gleichzeitig wird man behaupten müssen, dass die Werte von der menschlichen Affektivität abhängen, weshalb weder eine strikte wertrealistische noch eine strikt wertidealistische oder –subjektivistische Position diesem Verhältnis gerecht werden können. Man wird phänomenologisch die Objektivität von Werten, die nicht auf eine Objektivität der Dinge zu reduzieren ist, mit Angemessenheitsbedingungen affektuellen Erlebens gleichermaßen behaupten müssen und also eine spezifische Form von dispositionalistischen Theorieansätzen vertreten müssen. 9 Werte sind also eine relationale Kategorie. Sie bilden eine eigene intentionale Sphäre, die weder auf die Subjekte noch auf die Gegenstände allein zurückgeführt werden kann. Damit wird die Soziologie nicht nur auf eine von ihr bisher kaum beachtete Gefühlstheorie aufmerksam, sondern sie kann eine stärkere grundbegriffliche Integration von Fühlen und Werten, Wünschen, Wahrnehmen und Handeln in Aussicht stellen (vgl. Schützeichel 2012). Zudem wird es ihr möglich sein, eine bisher doch weitgehend in ihren Dimensionen nur ungenügend analysierte, aber in sozialer und damit auch soziologischer Hinsicht außerordentlich bedeutsame Welt der Werte diesseits und jenseits einer Welt der Fakten (so der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler 1938) zu analysieren. 5.4 Werte und Recht? Werte als intentionale Objekte von Gefühlen, welche sich auch nur in einem Fühlen erschließen, bilden also eine Brücke vom Sein zum Sollen, denn Werte verweisen auf Zustände, Ereignisse 9
Siehe zu dieser Diskussion insbesondere: Landweer 2009 u. 2011; Mulligan 2009; Steinfath 2001 u. 2002; Vendrell Ferran 2013.
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und Situationen, die realisiert oder vermieden werden sollen. Aber bilden sie auch eine Brücke zu Normen und damit zum Recht? In den skizzierten Theorietraditionen wird zum einen sehr schnell auf die Kongruenz, die »Kollektivität« oder die »Gemeinsamkeit« eines bestimmten Rechtsfühlens geschlossen, es wird zum anderen aber auch das funktionale Problem in den Vordergrund gerückt, wie die Geltung von Normen (als Rechtsnormen) erklärt werden kann. Dementsprechend wird anhand der »Macht der Gefühle« ein kontinuierlicher Stufenaufbau von Gewohnheiten, Sitten, Bräuchen, dem »lebendigen« Recht bis hin zu dem gesetzten Recht postuliert. Die Soziologie aber geht in ihren Analysen von einem anderen funktionalen Bezugsproblem aus. 10 Im Unterschied zu den betrachteten Ansätzen, die Konsens und Gemeinsamkeit, Wertwie Gefühlskongruenz voraussetzen, wird man Recht wohl vor dem Hintergrund einer Problematik begründen müssen, die Konsens wie Dissens, Erwartungserfüllung und Erwartungsenttäuschung voraussetzt. Für die Soziologie steht das Problem der Kontingenz des sozialen Handelns und damit die Erzeugung von (niemals enttäuschungsfester) Erwartungssicherheit durch sachlich, sozial und temporal generalisierte Normen im Vordergrund, einer Kontingenz, die eine soziale ist, weil sie erst in sozialen Konstellationen auftritt. Die Kontingenz ist also keine Eigenschaft der Handlungen, sondern der sozialen Konstellationen dieser Handlungen. Normen werden also auf die Kontingenzen sozialen Handelns und sozialer Beziehungen zurückgeführt. 11 Und um einen analyti10
Die Ausführungen orientieren sich im Folgenden an der Systemtheorie des Rechts oder, wie man wohl präziser formulieren müsste, an der Kontingenztheorie des Rechts, wie sie in den frühen Arbeiten von Luhmann entwickelt wurde (vgl. die 2013 aus dem Nachlass veröffentlichte Schrift über »Kontingenz und Recht«). 11 An dieser Stelle können wir nur darauf hinweisen, dass die Systemtheorie zwar richtigerweise Normen als Voraussetzung dafür begreift, dass ein Verhalten oder Handeln als konform oder abweichend bezeichnet werden kann. Aber sie versteht Normen als Eigenstrukturen in sozialen Systemen, als Institutionalisierung von normativen Erwartungen, ohne den Umschlagpunkt vom Sein zum Sollen an-
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schen Rahmen zu erhalten, der im Unterschied zu vorrechtlichen Normen auch die Geltung von rechtlichen Normen thematisieren kann, wird des Weiteren – hier gehen wir über die Systemtheorie hinaus – ein Übergang von dyadischen hin zu triadischen Konstellationen vonnöten sein. Lebendiges Recht spielt sich auf der Ebene von Gewohnheiten ein, aber die rechtliche Geltung von Normen erfordert einen Übergang hin zur Position eines Dritten, der dieses Recht zu garantieren und zu stabilisieren vermag. Recht beruht auf der Institutionalisierung und Generalisierung von normativen Erwartungen. Aber gerade solche Generalisierungen führen dazu, dass das Recht sich eine große Unabhängigkeit von dem faktischen Fühlen, Erleben und Bewerten der Rechtssubjekte erarbeiten muss. Mit anderen Worten: Das Rechtssystem orientiert seine Entscheidungen an eigenen Entscheidungen, es stellt sich in der Moderne auf Selbstreferentialität um und wird dadurch kontingent und wandelbar, also ein Zustand, der in der Nachfolge des Naturrechts die Diskurse über die Rechtsgefühle herausgefordert hat. Gegen die ältere Rechtssoziologie von Ehrlich, aber auch die Rechtsphänomenologie, die, ausgehend von einem gewohnheitsrechtlichen Boden, einen graduellen Aufbau des Normen- und Rechtssystems annehmen, wird man also von einem qualitativen Bruch zwischen vorrechtlichen Normen und dem modernen Rechtssystem ausgehen müssen. Dass in jeder rechtlichen Entscheidung ein Gebrauch von Werten gemacht wird, die sich – von einem Rechtsstab wie auch immer »bearbeitet« – entsprechend in Gefühlen manifestieren, muss als faktischer Umstand betrachtet werden. Werte stellen von daher gewisse, wie man in der Systemtheorie formuliert, »strukturelle Kopplungen« zwischen dem Rechtssystem und seinen gesellschaftlichen Umwelten dar. Über Werte ist das Recht mit seiner Gesellschaft verbunden. Zugleich aber weist das Rechtssystem eine hohe Autonomie gegenüber der Gesellschaft und von daher gegenüber spezifischen
gemessen analysieren zu können. Auch an dieser Stelle könnten »Werte« und das mit ihnen verbundene »Wertfühlen« ihren theoriestrategischen Platz erhalten.
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Werten auf. Das Recht ist wertbezogen, aber es entscheidet eben rechtlich über die Selektion und Kombination dieser Werte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob man in Bezug auf Werte rechtliche Entscheidungen auch hinreichend begründen kann. Vieles spricht dagegen – der fehlende Konsens über Wertehierarchien, die Intransitivität der Werte, ihre fehlende Bestimmtheit, ihre Anfälligkeit für Konflikte, ihre mangelnde Kontextsensibilität. Sie liefern wenig »Ordnung«. »Gerade die fundierende Stellung der Werte im sozialen System erfordert, daß sie eine nur sehr schwache Ordnungsleistung erbringen« (Luhmann 2013: 324). Und in Bezug auf die Rechtsgefühle heißt das: Sie werden – wie Kaufmann (1985) dies beschrieben hat – aufgrund der Selbstbezüglichkeit des Rechts juristische Konstrukte, Gefühle des Rechts. Von daher stellt sich die Forschungsfrage, wie das Recht Gefühle »konstruiert«, systemspezifisch generiert und bewertet. 6.
Rechtsgefühle?
Ziehen wir eine kurze Quintessenz: Das Recht ist keine gefühlsfreie Zone, sondern, im Gegenteil, das Recht ist konstitutiv auf Gefühle angewiesen. Erst durch rechtliche Sensibilitäten und Gefühle werden die Werte zur Beurteilung von Tatbeständen erzeugt, auf die das Recht reagiert. Dies ist eines der Ergebnisse, zu denen wir in der Diskussion der Rechtsgefühle gekommen sind. Hiermit schließen wir uns solchen Positionen an, die einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Werten und Emotionen einerseits, Werten und Recht andererseits behaupten. Aber dennoch weichen wir von solchen Positionen an dem Punkt ab, wo diese von der Wertbasierung des Rechts auf die Einheit des Rechts- als eines Wertsystems schließen. Aus soziologischen Gründen wird man nicht die Verhaltenssteuerung wie das Wertfühlen des Rechts in den Vordergrund rücken können, sondern als funktionalen Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des Rechts die kontingenzerzeugte und kontingenzerzeugende Herstellung von Erwartungssicherheit durch rechtliche Normen betrachten. Erwartungssicherheit in sozialen Konstellationen geht 94 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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mit der Generalisierung von Werten einher und damit mit der Abstraktion von partialen Wertsetzungen. Die Verbindlichkeit und Geltung von Rechtsnormen kann damit nicht mehr auf Evidenz von Rechtsgefühlen gegründet werden, sondern sie müssen sich aus sich selbst begründen. Somit bleibt zwar der konstitutive Entdeckungszusammenhang von Recht und Rechtsgefühlen gewahrt, aber nicht mehr ihr Begründungszusammenhang. Dem Recht muss eine triadische und nicht eine dyadische Konstellationsbasis unterstellt werden. Rechtsgefühle werden aber zugleich auch als ein notwendiges normatives Korrelat der weitgehenden Ausdifferenzierung des Rechts bestimmt, der Ausbildung zu einer Eigenlogik, die den Bezug zu Werten und damit zu Rechtsgefühlen zu einer Entscheidung des Rechts macht. Rechtsgefühle symbolisieren damit die Ausdifferenzierung eines sich selbst programmierenden Funktionsbereichs des Rechts. Literatur Abrams, Kathryn/Keren, Hila (1997): Who’s Afraid of Law and the Emotions? In: Minnesota Law Review 94: 1997–2047. Arkush, David J. (2008): Situation Emotion: A Critical Realist View of Emotion and Nonconscious Cognitive Processes for Law and Legal Theory. In: Brigham Young University Law Review 2008, 1275. Bandes, Susan A. (Hg.) (1999): The Passions of Law. New York/London: New York University Press. Berndt, Thorsten (2011): Richterbilder – Dimensionen richterlicher Selbsttypisierungen. Wiesbaden: VS. Blankenburg, Erhard (1994): Empirisch meßbare Dimensionen von Rechtsgefühl, Rechtsbewußtsein und Vertrauen in Recht. In: H. Hof/H. Kummer/ Peter Weingart (Hg.): Recht und Verhalten – Verhaltensgrundlagen des Rechts – zum Beispiel »Vertrauen«. Baden-Baden: Nomos, S. 83–110. Blumenthal, Jeremy A. (2010): A Moody View of the Law: Looking Back and Looking Ahead at Law and the Emotions. In: Brian H. Bornstein/Richard L. Wiener (Hg.): Emotion and the Law. New York: Springer, S. 185–210. Bornstein, Brian H./Wiener, Richard L. (2010): Emotion and the Law: A Field Whose Time Has Come. In: dies. (Hg.): Emotion and the Law. New York: Springer, S. 1–12. Braithwaite, John (1989): Crime, Shame and Reintegration. Cambridge: Cambridge University Press.
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III. Rechtsgefühle und rechtliche Institutionen
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Hilge Landweer
Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl? 1
1.
Einleitung
Das Problem, mit dem ich mich im Folgenden auseinandersetzen möchte, beginnt mit einem Wortungetüm: dem Sich-gedemütigtFühlen. Offensichtlich haben wir – zumindest im Deutschen – keine klare Bezeichnung für das Gefühl, um das es mir im Folgenden geht, keinen Namen wie »Furcht«, »Angst«, »Scham«, »Schuldgefühl«, »Zorn« oder »Empörung«. Der Ausdruck »Demütigung« trifft das hier Gemeinte nicht, weil dieser Ausdruck den Akt bezeichnet, der das Gefühl auslöst, nicht aber die entsprechende Emotion. »Demut« wiederum als eine religiös konnotierte Haltung hat außer einigen Buchstaben (und der Etymologie) der Sache nach nichts mit dem Sich-gedemütigt-Fühlen zu tun. Zwar folgt die Alltagssprache selbstverständlich nicht immer dem Bedürfnis, philosophisch eindeutige Kategorien zu bilden, doch sollte es uns nicht misstrauisch machen, wenn es gar keine Bezeichnung für ein bestimmtes Phänomen gibt? Betrachten wir allerdings die erwähnte Liste beliebiger Gefühle genauer, so fällt auf, dass zwei Begriffe, die für die Rechts- und Moralphilosophie von zentraler Bedeutung sind, nämlich »Scham« und »Schuldgefühl«, in der Alltagssprache nicht so eindeutig Emotionen bezeichnen, wie es sich Philosoph_innen vielleicht wünschen (im Falle der Scham), bzw. bemerkenswerte Besonderheiten aufweisen 1
Ich danke Gudrun Altfeld und allen anderen Teilnehmer_innen für inspirierende Diskussionen des Sich-gedemütigt-fühlens im Rahmen meiner Vorlesung über »Krise, Recht und Moral« im WS 2013/14, Fabian Bernhardt und Dirk Koppelberg für kritische Fragen und präzise Kommentare zur Schriftfassung.
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Hilge Landweer
(im Falle des Schuldgefühls): Der Ausdruck »Scham« kann anstatt eines episodischen Gefühls auch eine Disposition bezeichnen wie etwa im Ausdruck »Schamgefühl«, mit dem man sich trotz des zweiten Teils des Kompositums gerade nicht auf ein aktuelles (»episodisches«) Gefühl bezieht; das »Schuldgefühl« dagegen bedarf der Hinzufügung seiner zweiten Hälfte, um das Gemeinte von der rechtlichen Schuld abzugrenzen, der das subjektive Gefühl der Schuld nicht notwendig entsprechen muss. In kultureller und historischer Perspektive zeigt sich, dass Namen für Gefühle nicht schlicht (vermeintlich überkulturelle) Phänomene repräsentieren. Dies wird deutlich bei Fragen der Übersetzung: Ist »embarrassment« tatsächlich dasselbe wie »Peinlichkeit«? Eher nicht. Und verstehen wir heute wirklich noch, welche Gefühlsqualitäten mit Ausdrücken wie »Melancholie«, »Erbarmen«, »Kleinmut«, »gerechtem Unwillen«, »Ehrgefühl« oder dem griechischem Wort »nemesis« verbunden waren oder sind? Wenn zumindest manche Gefühle auch historische Phänomene sind, deren Bezeichnungen sich im Laufe der Geschichte verändern oder gar verschwinden, dann scheint es auch möglich, dass es gefühlsmäßige Phänomene gibt, für die wir über keine klare Benennung verfügen. Diese Beispiele mögen genügen, um die Untersuchung der Frage zu legitimieren, wie es sich mit dem Sich-gedemütigt-Fühlen verhält: Gibt es gute Gründe, es überhaupt als eine eigens zu benennende, distinkte Emotion zu verstehen – und wenn ja, wie lässt sich dieses Gefühl beschreiben? Offensichtlich ist die Emotion, die durch eine Demütigung ausgelöst wird, ein Ohnmachtsgefühl, aber eines, das sich von dem, wie Ohnmacht bei anderen Anlässen (etwa aufgrund eines Schicksalsschlages) erlebt wird, grundlegend unterscheidet. Die Frage, wie das bei einer Demütigung erfahrene Gefühl beschrieben werden kann, werde ich im folgenden zweiten Abschnitt untersuchen. Der dritte grenzt es von Beschämung, Scham und Empörung ab, um es präziser zu fassen. Im vierten Abschnitt wird der Akt der Demütigung als eine vierstellige Relation beschrieben, in der dem anwesenden Publikum eine besondere Rolle zukommt. Der fünfte Abschnitt bereitet die Frage vor, ob Sich-gedemütigt-Fühlen als ein Rechts104 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
gefühl zu verstehen ist, indem er den Begriff des Rechtsgefühls erläutert. Der sechste und letzte Abschnitt schließlich versucht die titelgebende Frage, auf die von Beginn an Teilantworten gegeben werden, zusammenfassend zu beantworten. 2.
Zu Phänomen und Begriff der Demütigung und des Sich-gedemütigt-Fühlens
Im Vorangegangenen habe ich in meinen Formulierungen gelegentlich zwischen dem Ausdruck »Gefühl« und dem der Emotion gewechselt. Mit »Emotion« ist hier ein auf einen Gegenstand gerichtetes (»intentionales«) Gefühl gemeint. Der Begriff des »Gefühls« schließt in meinem Wortgebrauch Stimmungen und emotionale Dispositionen ein, meint also nicht ausschließlich episodische Gefühle wie der Ausdruck »Emotion«, der damit als Spezialfall von »Gefühl« aufzufassen wäre. Diese Unterscheidung kann aber in den meisten der hier verhandelten Zusammenhänge vernachlässigt werden, da es mir um das Sich-gedemütigt-Fühlen als ein episodisches Gefühl geht: Gemeint ist das subjektive Empfinden, das sich einstellt, wenn man, wie meine Bezeichnung es ausdrückt, sich für gedemütigt hält. Damit ist das Gefühl eng an den Akt der Demütigung gebunden und kann nicht unabhängig davon bestimmt werden. Wenn jemand gedemütigt wird, ist das für ihn oder sie jedenfalls eine affektive Erfahrung und nicht bloß eine ›kühle‹ Überzeugung. Damit man sich gedemütigt fühlen kann, muss die Situation bereits in einer bestimmten Komplexität wahrgenommen worden sein, zu der zweifellos bestimmte Sachverhalte gehören, doch diese Sachverhalte sind nicht affektiv neutral. Mir geht es deshalb um beides: um das, was als Akt der Demütigung bezeichnet werden kann, und um das Gefühl des Opfers. Der Ausdruck »Demütigung« bezeichnet ein ganzes Spektrum von Verhaltensweisen, die von Folter und Vergewaltigung bis hin zu kleinen Schikanen reichen können. Man kann sich durch Handlungen, aber auch durch bestimmte Verhältnisse oder Strukturen gedemütigt fühlen, die nicht ohne Weiteres einem oder 105 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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mehreren Verursachern zuzuschreiben sind. 2 Allerdings setzt der Begriff voraus, dass dabei dasjenige, was in seiner Struktur als demütigend empfunden wird, auf menschliches Handeln zurückgeführt werden kann. Ich gehe zunächst davon aus, dass der Begriff der absichtlichen Demütigung, bei der ein oder mehrere Täter identifizierbar sind, den Kern des Begriffs der Demütigung ausmacht und die Idee von demütigenden Strukturen – verkörpert etwa von bestimmten Institutionen wie dem Sozialamt oder der Ausländerbehörde – davon abgeleitet ist. 3 Als »Demütigung« wird die erzwungene Erniedrigung eines Menschen oder einer Gruppe bezeichnet. Sie weist auf eine Machtrelation hin, da sie Unterwerfung erzwingt, ein Prozess, der den Stolz, die Ehre oder die Würde 4 der Opfer verletzt und sie ihnen möglicherweise sogar vollständig zu nehmen droht. Gedemütigt zu werden bedeutet, in eine Situation gebracht zu werden, aus der es zumindest zunächst kein Entrinnen gibt und in der dem erniedrigenden Akt nicht ausgewichen werden kann. Demütigung ist deshalb immer mit Zwang verbunden, der zumeist auf dem Ausnutzen einer Machtposition gegenüber dem Gedemütigten beruht und als ein Ausdruck gezielter Aggression, oft auch als Provokation aufgefasst werden kann, die Antworten herausfor2
Bekanntlich leistet Margalit mit seinem Werk »Politik der Würde« eine Kritik demütigender Institutionen. Die Abwesenheit demütigender Institutionen sieht Margalit als eine wesentliche Voraussetzung für eine ›anständige‹ Gesellschaft an. Avishai Margalit: The Decent Society, Cambridge, Mass. 1996; translated by Naomi Goldblum, deutsch: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt a. M. 1999. 3 Ob die Idee demütigender Strukturen sich wirklich derivativ zum Begriff demütigender Handlungen verhält, ist eine Forschungsfrage, die noch bearbeitet werden muss und hier nicht gelöst werden kann. Bieri vertritt einen etwas engeren Begriff der Demütigung, wenn er sie als demonstrierte Ohnmacht bestimmt, als ein Vorführen der Ohnmacht des Gedemütigten, die vom Demütigenden genossen wird (Bieri: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013, S. 34 f.). Den Genuss des Demütigers am demütigenden Akt halte ich nicht für einen notwendigen Bestandteil des Begriffs, auch wenn die von Bieri angedeutete sadistische Freude zweifellos viele demütigende Akte begleitet. 4 Ehre und Würde sind zweifellos komplexe Gebilde, die genauer zu erläutern wären. Das kann ich hier nicht leisten.
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dern will, die wiederum Anlass für weitere Demütigungen bieten. Wer demütigen will, kann Drohungen, Gewalt und Folter für seine Zwecke einsetzen. Der Kern des Begriffs der Demütigung ist aber die Herabsetzung, nicht die Mittel, durch die sie geschieht. Deshalb können sprachliche oder andere Formen symbolischer Gewalt 5 durchaus demütigend sein, etwa herabsetzende Personenbezeichnungen, aber auch kleine oder größere Schikanen. Das erniedrigende Verhalten im Akt der Demütigung ist vom ›normalen‹ Machtverhalten innerhalb einer Hierarchie, etwa in einer hierarchischen Institution, dadurch zu unterscheiden, dass es etablierte Grenzen und Erwartungen überschreitet; es geht bei Demütigung nicht einfach um Befehl und Gehorsam. Als demütigend werden allerdings z. B. unsinnige oder überflüssige Befehle erlebt, die lediglich dazu dienen, Abhängigkeit zu demonstrieren. Bezeichnend ist, dass Demütigungen völlig willkürlich geschehen und deshalb zumeist unerwartet. Dass der Gedemütigte die Provokation nicht antizipieren kann, stellt ein wesentliches, wenn auch kein notwendiges Element des Aktes dar; in Extremfällen wie etwa in Konzentrationslagern konnten beispielsweise bei Fluchtversuchen die übrigen Häftlinge erneute Demütigungen voraussehen. Dennoch ist die Willkür Bestandteil jeder Demütigung: So kann der Gedemütigte beispielsweise nicht damit rechnen, dass es ihn trifft, und auch die Art der Demütigung, ihr symbolischer Gehalt, ist fast immer unvorhersehbar. Jedenfalls aber ist es für das Opfer so gut wie ausgeschlossen, Gegenstrategien zu entwickeln, zumal die Situation von vornherein durch das Ausgeliefertsein an den Demütiger gekennzeichnet ist. Dies gilt auch für kleinere Schikanen, zumindest im Erleben des Gedemütigten. Die Beschreibung der Struktur von demütigenden Akten kann 5
Vgl. etwa Steffen K. Herrmann/Sybille Krämer/Hannes Kuch (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007; Hannes Kuch: Sprachliche Gewalt und symbolische Macht, in: Ders.: Herr und Knecht. Anerkennung und symbolisch Macht im Anschluss an Hegel, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 131–138 sowie Hannes Kuch: The Rituality of Humiliation: Exploring Symbolic Vulnerability, in: Kaufmann/Kuch/Neuhäuser/Webster: Humiliation, Degradation, Dehumanization, Dodrecht 2011, S. 37–56.
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dazu dienen, den intentionalen Gehalt des dadurch ausgelösten Gefühls zu bestimmen. Zu einer Emotion gehört neben dem Gegenstandsbezug aber auch ein spezifisches leibliches Spüren, die Qualität oder das subjektive Erleben des jeweiligen Gefühls, das mit dem intentionalen Gehalt eng verbunden ist. 6 Dabei bezeichnet der Ausdruck »Leib« den gespürten Körper; »Körper« dagegen meint den objektivierten, aus der Perspektive einer 3. Person wahrnehmbaren Leib.7 Die Qualität des Fühlens ist nicht leicht beschreibbar; kulturell haben wir für leibliche Erfahrungen nur ein völlig unzureichendes Vokabular entwickelt; die Beschreibung des Gegenstandsbezugs eines Gefühls ist weniger schwierig, da es sich um die Struktur von Situationen, um einen Zusammenhang von eindeutigen Sachverhalten, handelt. Gerade bei dem hier in Frage stehenden Phänomen, bei dem die Zuordnung zur Kategorie der Gefühle wegen der fehlenden Bezeichnung strittig sein könnte, ist es umso wichtiger, nicht willkürlich beliebige intentionale Gehalte für eine Emotion auszugeben. Denn nicht dass Akte der Demütigung, deren intentionale Gehalte rekonstruierbar sind, erfahren werden können, ist strittig, sondern ob die Reaktion auf diese Akte möglicherweise ein Gefühl ist, das sich von bekannteren Emotionen wie Angst, Scham oder Zorn unterscheidet. Deshalb wäre es für mein Argumentationsziel hilfreich, wenn nicht nur im Gehalt die Differenz zu diesen anderen Gefühlen herausgearbeitet, sondern auch in der Qualität des Fühlens, im leiblichen Erleben, aufgefunden werden könnte. Dabei kann ich an meine anfängliche Skizzierung des Sich-gedemütigt-Fühlens als einer besonderen Art eines Ohnmachtsgefühls anknüpfen, denn Ohnmacht wird leiblich als massive Engung erlebt – im Gegensatz zu Machtgefühlen, die aufseiten des Täters mit dem Akt der Demütigung verbunden sein können und wie alle Macht- und Aggressionsgefühle leiblich als Weitung ge6
Vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, Einleitung, S. 1–34. 7 Die Formulierung, der Ausdruck »Leib« bezeichne den gespürten Körper, ist vereinfachend, denn der Leib ist anders als der Körper nicht räumlich abgegrenzt: Während der Körper in der Haut eingeschlossen ist, geht der Leib etwa im Blick über diese Grenze hinaus.
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spürt werden. 8 Mit »Engung« und »Weitung« sind zwei wichtige phänomenologische Grundkategorien leiblichen Spürens genannt; 9 für die Beschreibung von Gefühlen sind aber weitere leibliche Richtungen wichtig. Dies zeigt sich auch beim Sich-gedemütigt-Fühlen, denn ganz im Sinne der nicht-metaphorischen Bedeutung von »Erniedrigung« gehören zur Demütigung leiblich und symbolisch nicht nur eine (oft auch körperliche 10) Einengung des Opfers, sondern auch das Nach-unten-Drücken und UntenHalten. Entsprechend gehört zum Sich-gedemütigt-Fühlen, dass man sich herabgesetzt, eingeengt, in eine aussichtslose Situation gezwungen, kurz: ohnmächtig fühlt. Nicht umsonst arbeitet Demütigung oft mit körperlicher Erniedrigung, die stets eine symbolische Bedeutung hat. 11 Charakteristisch ist, dass das Opfer symbolisch und leiblich (in Fällen von Freiheitsberaubung, vor allem bei Fesselung, und anderen Formen von Gewalt zudem auch körperlich) in eine Situation absoluter Hilflosigkeit und Passivität hineingezwungen wird, und zwar von jemandem, der das gezielt macht. Sich-gedemütigt-Fühlen hat aber auch einen gewissen normativen Gehalt. Meine These ist: Sich-gedemütigt-Fühlen ist eine Emotion, die einen Sinn für die Verletzung des eigenen Platzes in der Gesellschaft, in konkreten Akten einen Sinn für die Verletzung von Ansprüchen, die man an die Situation stellen kann, anzeigt. Nicht bei jeder kleineren Schikane muss es im Gefühl gleich allgemein um den Platz in der Gesellschaft gehen – das ist eher bei den extremen Demütigungen wie Vergewaltigung und anderen Formen der Folter der Fall. Wohl aber fühlt der von diesem Gefühl Betroffene sich in einer herabsetzenden Weise behandelt, und das heißt: in den Erwartungen erniedrigt, die jemand wie er oder sie an die Beteiligten in dieser Situation berechtigterweise stellen 8
Vgl. Demmerling/Landweer: Zorn und andere Aggressionsaffekte, in: Dies.: Philosophie der Gefühle. 9 Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib (= System der Philosophi, Bd. II,1), 2. Aufl. Bonn 1982, §§ 48 und 49, S. 73–97. 10 Etwa durch das Zufügen von Schmerzen und Gewalt sowie durch Freiheitsberaubung durch Festhalten, Fesseln etc. 11 Wie Anm. 5.
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kann. Das Gefühl weist damit auf Unrecht hin, wie das »berechtigterweise« signalisiert, auf die Überschreitung einer Norm. Anders als die Empörung, die sich auch dann regt, wenn andere Personen Unrecht erleiden, ist das Sich-gedemütigt-Fühlen immer auf die eigene Person bezogen; im Zentrum des Gefühls steht die durch den Normverstoß des Anderen ausgelöste eigene Handlungsunfähigkeit. Es ist damit auf das Unrecht fokussiert, das in der eigenen Erniedrigung besteht: Mir geschieht dadurch Unrecht, dass ich herabgesetzt werde. Hermann Schmitz bietet zur Differenzierung der Beschreibung von Gefühlen als Atmosphären die Unterscheidung von »Verdichtungsbereich« und »Verankerungspunkt« an, die mir auf die Terminologie der intentionalen Gehalte übertragbar und vor allem als sehr hilfreich für die Untersuchung des Sich-gedemütigtFühlens erscheint. Allgemein kann der Verankerungspunkt verstanden werden als der Anlass, aufgrund dessen das Gefühl entsteht, während der Verdichtungsbereich jene Aspekte der Situation bezeichnet, in denen sich das Gefühl anschaulich ›sammelt‹. 12 Schmitz’ Standardbeispiel ist die Angst vor dem Zahnarzt. 13 Während die Angst davor, dass einem Schmerzen zugefügt werden könnten, der Verankerungspunkt dieser Angst ist, kann als Verdichtungsbereich der sich mit dem Bohrer nähernde Zahnarzt angesehen werden. Bei der Scham, so möchte ich vorgreifend auf den nächsten Abschnitt sagen, ist der Verankerungspunkt der eigene Normverstoß, während der Verdichtungsbereich die eigene Nichtswürdigkeit, der eigene Fehler oder Makel ist. Beim Zorn ist der Verankerungspunkt die Normüberschreitung eines Anderen, der Verdichtungsbereich ist dessen Person. Das Sich-gedemütigtFühlen verstehe ich so, dass als Verankerungspunkt der demütigende Akt des Anderen, in dem eine Normüberschreitung liegt, 12
Schmitz übernimmt diese Unterscheidung aus der Gestalttheorie. Danach ist der Verankerungspunkt beispielsweise beim Blatt einer Pflanze jener Teil des Blattes, an dem sich das Blatt aus dem Stiel aufbaut, während als Verdichtungsbereich der Umriss des Blattes angesehen werden kann. Vgl. Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie III,2), Bonn 2. Aufl. 1981, § 156, S. 306– 330, bes. S. 317. 13 Vgl. z. B. Schmitz: Der Gefühlsraum, S. 317.
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angesehen werden muss, während sich das Gefühl anschaulich in der eigenen Ohnmacht sammelt (Verdichtungsbereich). Damit zieht sich dieses Gefühl gewissermaßen in der Hilflosigkeit der eigenen Person zusammen und ist im Erleben deshalb weniger auf den Täter und das vom ihm begangene Unrecht konzentriert, das aber notwendiger Anlass des Gefühls ist. Sofern im Gefühl noch Platz für Gedanken ist, können diese zwar durchaus auch um den Täter kreisen, etwa in der Art: warum tut X mir das an? 14, aber dies zeigt faktisch bereits eine gewisse Distanzierung vom Gefühl der eigenen Ohnmacht und des eigenen Ausgeliefertseins an. Je mehr Konzentration auf den Täter möglich ist, umso weniger aktuell erlebt ist das Gefühl der Demütigung, umso eher kann das Gefühl in andere Befindlichkeiten übergehen wie in Angst, Enttäuschung oder Verlustgefühle, aber auch in Zorn auf den Demütiger. Bezieht sich der Akt der Demütigung auf eine ganze Gruppe, so kann bei den Opfern ein kollektives Gefühl entstehen, das sich mit Empörung verbinden und in dieser Mischung zu einem allgemeineren Unrechtsgefühl entwickeln kann. Unmittelbar in der Situation der Demütigung ist aufgrund der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins Empörung aber nicht möglich. Das Gefühl, gedemütigt zu werden, hat als Objekt die eigene Person bzw. die eigene gedemütigte Gruppe. Das ist bei der Empörung nicht so, da in ihrem Verankerungspunkt das Überschreiten einer Norm und in ihrem Verdichtungsbereich wie beim Zorn die für das Unrecht verantwortliche Person steht, weniger die oder der dadurch Geschädigte. 15 Im Vergleich zu Empörung ist das Sich-gedemütigt-Fühlen eher ein Gefühl für die eigene Position im sozialen Gefüge, das anzeigt, dass mir der Platz streitig gemacht wird, von dem ich meinte, ihn selbstverständlich auszufüllen, und der meinen Anspruch auf eine respektvolle Behandlung begründet. 14
Ich danke Dirk Koppelberg für dieses Beispiel und den damit verbundenen Einwand. 15 Vgl. Hilge Landweer: Exkurs: Zur kulturellen Relativität von Emotionsbegriffen, in: dies.: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999, S. 28–34, bes. S. 29 f.
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Wenn diese Analyse zutrifft, dann wäre zu vermuten, dass die Verhaltensweisen, die als Demütigung erlebt werden, vom Kontext abhängig sind und damit vielleicht auch einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen sein könnten. Im Akt der Demütigung geht es dem Demütiger darum, den Gedemütigten von seinem sozialen Ort zu verweisen. Dabei verändert sich im Laufe der Geschichte, welche Art des Behandeltwerdens und des Handelns für welche Personen als legitim angesehen werden, und entsprechend wird auch die soziale Wahrnehmung modifiziert: Manche Verhaltensweisen beispielsweise von römischen Sklavenhalter_innen, die heute zweifellos als Demütigung angesehen würden, mögen im Rahmen der damaligen Rechtsordnung auch von den Sklaven selbst noch als hinzunehmen und in diesem Sinne als ›legitim‹ angesehen worden sein, während gewisse andere Verhaltensweisen gegenüber Sklaven sicherlich auch schon in Rom als willkürliche Demütigungen aufgefasst wurden. Es bedürfte aufwändiger Untersuchungen historischer Quellen, um diese Hypothese zu prüfen. Jedenfalls aber scheint die Struktur des Sich-gedemütigtFühlens in der skizzierten Weise mit der Unterscheidung von Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt allgemein beschreibbar zu sein, auch wenn die konkreten Anlässe für dieses Gefühl, das, was jeweils als illegitimer, ohnmächtig machender Übergriff angesehen wird, in kultureller und historischer Perspektive wandelbar sein mag. Meine Überlegung zur historischen Modifikation von Demütigung wirft mindestens zwei Fragen auf: erstens, ob das Gefühl immer »Recht« hat (in dem Sinne, dass die Subjektivität des Gefühls darüber entscheidet, ob eine Demütigung stattgefunden hat oder nicht), 16 und zweitens, wie überhaupt in einer kulturellen Entwicklung bestimmt wird, was als Demütigung gilt. Beide Fra16
Die allgemeine komplexe Frage, ob man sich über eigene Gefühle täuschen kann, kann ich hier nicht diskutieren. Nur so viel: Niemand ist davor gefeit, eigene Gefühle falsch zu interpretieren, z. B. Angst mit Scham zu verwechseln o. Ä. Im Fall des Sich-gedemütigt-fühlens kann der Gedemütigte sich auch dann, wenn er sein Gefühl richtig benennen kann, dennoch darüber täuschen, dass ihn die als demütigend wahrgenommene Person tatsächlich von seinem Platz verweisen will, dass also eine Absicht zu demütigen vorliegt. Dann täuscht er sich
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gen sind verbunden durch das Problem, ob unbeteiligte Dritte, etwa Philosoph_innen in ihrem Diskurs oder Richter_innen in ihren Urteilen, die richtige Instanz sind, um festzustellen, ob es sich bei einem bestimmten Akt um eine Demütigung handelt oder nicht. Die zweite Frage zielt darauf ab, ob es objektivierbare Kriterien für Akte der Demütigung gibt und welche das sein könnten. Ich werde darauf zurückkommen und im vierten Abschnitt über die relationale Struktur von Demütigung zeigen, dass diese Frage eng mit der nach der Rolle der (Inter-)Subjektivität des Gefühls zusammenhängt. Hier zunächst zur ersten Frage. Selbstverständlich ist es nicht so, dass dem Gefühl, gedemütigt worden zu sein, tatsächlich immer ein Akt der Demütigung entspricht – in dem Sinne, dass unbeteiligte Dritte ebenfalls von »Demütigung« sprechen würden. Und umgekehrt: Jemand kann sehr gute Gründe haben, sich gedemütigt zu fühlen, während sein Umfeld kein Verständnis dafür hat. Wie alle Gefühle, Eindrücke und Überzeugungen, so kann auch das Sich-gedemütigt-Fühlen auf bestimmten, in der Geschichte der Person wurzelnden Empfindlichkeiten beruhen: Jemand mag ein besonderes Gespür für Formen der Herabsetzung ausgebildet haben, die aus der Perspektive anderer vielleicht als geringfügige Missachtungen oder Kränkungen, nicht aber als wirkliche Demütigung erscheinen. 17 In solchen Fällen dürften nicht in seinem Gefühl, wohl aber darin, dass es sich bei der Handlung um Demütigung handelt, da die Absicht zur Erniedrigung fehlt. 17 Birnbacher diskutiert im Kontext seiner Auseinandersetzung um Demütigung und Menschenwürde das Gefühl der verletzten Selbstachtung, das – weitgehend identisch mit dem hier erörterten Sich-gedemütigt-fühlen – nicht eo ipso hinreichend für das Vorliegen einer Verletzung von Menschenwürde sei. Er weist darauf hin, dass beispielsweise schwer Depressive zu chronischen Gefühlen der Verletztheit, Herabwürdigung und Scham neigen. Narzissten »tendieren dazu, sich auch ohne intersubjektiv nachweisbare Anlässe ›gemobbt‹ zu fühlen, solange sie nicht das Maß von Anerkennung und positiver Resonanz finden, das sie für ihre psychische Balance brauchen« (Dieter Birnbacher: Schutz vor Demütigung als Grundrecht?, in: Eric Hilgendorf (Hg.): Menschenwürde und Demütigung. Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, Baden-Baden 2013, S. 63–79, hier S. 71). Zudem kann eine frühe Traumatisierung für Verletzlichkeit sensibilisieren, »auch wenn diese objektiv nicht besonders gravierend scheinen und von an-
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die fraglichen Akte, die die betroffene Person als Demütigung wahrnimmt, aus der Perspektive anderer möglicherweise noch als kleine Schikanen zu verstehen, aber dennoch außerhalb des Spektrums ernsthafter Demütigungen angesiedelt sein. Nehmen wir an, ein Kollege, der mich gut kennt, begegnet mir in einer öffentlichen Situation und übersieht mich geflissentlich, als ich ihn grüßen möchte. Dies ist zweifellos ein klassischer Fall von Missachtung: Mir wird die mir zustehende Achtung verweigert, ich werde ignoriert. Aber handelt es sich hier auch um eine Demütigung, und mit welchem Gefühl reagiere ich? Vielleicht ließe sich sagen, durch das willentliche Übersehen wird mir mein Status als Person aberkannt, und damit werde ich herabgesetzt. In diesem Beispiel fehlen aber der Zwang und die Ausweglosigkeit aus der Situation, die für Demütigungen typisch sind. Ich könnte meinerseits das Übersehenwerden ignorieren, auf die andere Person zugehen und damit das Übersehen spielerisch oder ernsthaft als unabsichtlich interpretieren etc. – ich habe verschiedene Möglichkeiten zu reagieren, nicht bloß eine. 18 Ich muss mich aber jederen nicht als würdetangierend gesehen werden« (ebd. S. 72). Aber auch eine »nicht-pathologische und nicht-erfahrungsabhängige Verletzlichkeit« kann als ein Persönlichkeitsmerkmal dazu führen, »dass sich jemand auch bereits durch objektiv als trivial erscheinende negative Reaktionen auf seine Person in seiner Selbstachtung schwerwiegend beeinträchtigt empfindet« (ebd.). 18 Mit einem Beispiel für ein Ausweichen aus einer extrem demütigenden Situation durch Lachen eröffnet Prütting sein gelehrtes Werk über das Lachen. »Bei dem frühesten dieser irritierenden Lacherlebnisse dürfte ich knapp sieben Jahre alt gewesen sein, als eines Tages ein uns entfernt bekanntes Ehepaar kam und meine Mutter fragte, ob es meinen jüngeren Bruder adoptieren könne, worauf meine Mutter empört rief, ihren Jüngsten könne und wolle sie nie hergeben. Dann schloß sie ihn fest in die Arme, packte mich an der Schulter und stieß mich vor: ›Da, den könnt ihr haben!‹ Ich stolperte auf das Ehepaar zu und schaute beide erwartungsvoll an, denn ich wäre sofort mitgegangen, doch die schüttelten bloß mit dem Kopf und meinten, ich sei ihnen wohl doch etwas zu alt. Und so stand ich denn dumm und orientierungslos da wie ein unverkäufliches Sonderangebot auf dem Sklavenmarkt. Die eigene Mutter wollte mich loswerden, die andere wollte mich nicht haben, und obwohl mir zum Heulen war, fing ich an zu lachen. Dieses grelle Gelächter war wohl die einzige Möglichkeit zur Flucht aus dieser demütigenden Situation.« (Lenz Prütting: Home ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. In drei Bänden,
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denfalls nicht unterwerfen, wie es im Akt einer Demütigung zumindest äußerlich erzwungen wird und damit das Gefühl absoluter, verzweifelter Ohnmacht auslöst. Die Emotion dagegen, mit der man auf solche Formen von Missachtung wie das Nicht-gegrüßt-Werden reagiert, mag ein Minderwertigkeitsgefühl (vielleicht bin ich wirklich so unwichtig?) oder, ganz am anderen Ende des Gefühlsspektrums, Ärger, Empörung oder ein Gefühl der Distanz zu dem Kollegen sein, vielleicht sogar ein Gefühl der moralischen Überlegenheit (für wen hält er sich?) – aber sollte ich mich gedemütigt fühlen, so wäre das zumindest unverständlich und für andere erläuterungsbedürftig. 3.
Abgrenzung zu Beschämung, Scham und Empörung
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass Situationen, die als Missachtung oder Kränkung erlebt werden, zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit Demütigung aufweisen, aber dass die für Demütigung typische erzwungene Unterwerfung fehlt. Aber wie lässt sich das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, von Scham und Beschämung unterscheiden? Ich habe anderenorts 19 dafür argumentiert, dass man sich schämt, wenn man eine Norm übertreten hat, die man eigentlich einzuhalten wünscht. Es ist möglich, sich für geringfügige ›Verstöße‹, etwa für eine Zahnlücke, aber auch für schlimme moralische Verfehlungen zu schämen. Das Gefühl zeigt an, dass man jemand ist, der die übertretene Norm anerkennt – trotz der gerade geschehenen Überschreitung. Es ist auch möglich, zu der Norm, um die es geht, ein ambivalentes Verhältnis zu haben, etwa wenn sich jemand für seine Körperlichkeit vor schlankeren, jüngeren, durchtrainierteren Personen schämt, obwohl er oder sie die entsprechende Jungendlichkeits- und Fitness-Norm eigentlich abBd. 1, Freiburg/München 2013, S. 33 f.). – Man kann natürlich kritisch fragen, ob die Mutter hier in demütigender Absicht handelte. Ich denke, davon kann ausgegangen werden, denn dass sie die Demütigung, die im Akt des Vorführens besteht, nicht gewollt haben sollte und sie ihr quasi ›versehentlich‹ unterlief, ist eigentlich kaum vorstellbar. 19 Vgl. Landweer: Scham und Macht, S. 125.
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lehnt. Dann indiziert die Scham, dass die Person doch noch nicht diese Norm überwunden hat; sie hat sich über ihre Unabhängigkeit von Körpernormen getäuscht. Scham ist der Empörung entgegengesetzt und weist unter Umständen darauf hin, dass eine bestimmte Norm im moralischen Sinn für einen selbst gilt: Moralisch ist die Scham dann, wenn man sich selbst empören würde, beginge jemand anderes denselben Normverstoß. 20 Dann handelt es sich bei der Scham um ein Unrechtsgefühl 21: Wenn der andere den Normverstoß begeht, reagiere ich mit Zorn oder Empörung, wenn ich es bin, dann mit Scham. Während Scham leiblich ein Engungsgefühl ist – man möchte am liebsten im Boden versinken bzw. aus der Situation entfliehen, ohne dass dies möglich ist –, wirken Zorn und Empörung leiblich entgegengesetzt, nämlich weitend; ihre zentrifugalen leiblichen Richtungen »sprühen« buchstäblich »nach allen Seiten«. Außer Scham ist auch Angst ein leiblich engendes Gefühl. 22 Das Sich-gedemütigt-Fühlen ist leiblich zweifellos mit Angst und Scham verwandt, denn auch hierbei handelt es sich um ein massives Engungsgefühl. Im Unterschied zur Scham aber wird im Sich-gedemütigt-Fühlen nicht unterstellt, man selbst habe gegen eine Norm verstoßen – ganz im Gegenteil; denn im Unrecht ist gerade derjenige, von dem der Akt der Demütigung ausgeht, und 20
Auf die Komplementarität von Scham und Zorn bzw. Empörung weist, soweit ich sehe, zuerst Schmitz hin (Hermann Schmitz: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie [= System der Philosophie, Bd. III,3], 2. Aufl. Bonn 1983, zuerst 1973, § 172d, S. 44–47). Tugendhat bestimmt moralische Scham darüber, dass sie mit der Empörung eines potentiellen Beobachters korreliert (vgl. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 59). Ich habe diesen Gedanken in der oben skizzierten Weise modifiziert und zusammen mit drei weiteren Kritierien einen emotionstheoretisch fundierten Begriff der Moral entwickelt (Hilge Landweer: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–78, bes. S. 62 ff.). 21 Die Klärung des Begriffs »Rechtsgefühl« folgt im übernächsten Abschnitt. 22 Zur leiblichen Seite der Angst vgl. Demmering/Landweer: Philosophie der Gefühle, S. 64–69.
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zwar nicht nur »objektiv«, sondern auch und insbesondere aus der Perspektive des Opfers, weil es das Unrecht im wahrsten Sinne des Wortes an und in seinem Leib erfährt. Deshalb scheint Sich-gedemütigt-Fühlen auch eine Gemeinsamkeit mit Zorn und Empörung aufzuweisen, denn alle diese Gefühle zeigen an, dass jemand anderes einem selbst (bei Empörung: ggf. auch anderen 23) Unrecht zufügt. Wie verträgt sich diese ›Verwandtschaft‹ im Gehalt mit der entgegengesetzten, nach außen gerichteten Leiblichkeit bei Zorn und Empörung? Diese Frage ist allerdings phänomenologisch herausfordernd, denn Sich-gedemütigt-Fühlen scheint – trotz des dominierenden Ohnmachterlebens – auch eine aggressive Seite zu haben, die weitend wäre, wenn sie denn zum Zuge käme, deren Ausbruch aber durch die zugrundeliegende Angst und erzwungene Bannung in die Situation verhindert wird. Spürbar ist diese aggressive Seite in der Explosivität der Ohnmacht, im nicht agierbaren Impuls, um sich zu schlagen, ein Gefühl, das mit Macht aus der leiblichen Enge zu streben scheint, aber sie nicht zu überwinden vermag. Denn Akte der Demütigung finden gerade dann statt, wenn das Opfer sich nicht wehren kann und zur Unterwerfung unter den Willen eines anderen gezwungen wird; Gegenwehr ist bedrohlich für das Opfer, weil sie zu einer Steigerung von Demütigung und Gewalt führen könnte. Ich denke, diese Struktur der Hinderung durch Gefahr und Angst findet sich auch in symbolischen, nicht offen gewalttätigen Akten von Demütigung, etwa wenn die Demütigung als Scherz deklariert wird: Dann soll das Opfer mitlachen, anderenfalls gilt es als Spielverderberin und humorlos. Ohne hier eine vollständige phänomenologische Untersuchung des Sich-gedemütigt-Fühlens vorlegen zu können, möchte ich doch eine These zur leiblichen Dynamik bei dem Sich-gedemütigt-Fühlen wagen, da im intentionalen Gehalt dieses Gefühls das Unrecht des Täters eine zentrale Rolle spielt, nämlich als Verankerungspunkt, und sich auf die Leiblichkeit so aus23
Zur Unterscheidung von Wut, Zorn und Empörung vgl. Demmerling/Landweer: Zorn und andere Aggressionsaffekte, in: dies.: Philosophie der Gefühle, S. 287–310.
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wirken muss, dass sie von derjenigen der Scham unterscheidbar sein sollte, wenn denn meine These stimmt – trotz der Ähnlichkeit im unentrinnbaren leiblichen Engungsgefühl. Ich denke, die aggressive Seite des Sich-gedemütigt-Fühlens ist wegen des erlittenen Unrechts mächtig, aber wird von der Ohnmacht in der Situation leiblich gewissermaßen in Schach gehalten. In der leiblichen Dynamik führt dies zu einem wechselseitigen Aufschaukeln der einander widerstrebenden Richtungen von Engung und Weitung, was aber wegen des Zwangs zur Unterwerfung letztlich nur die Engung verdichtet – etwa so, wie wenn man heftig am Ende eines verschlungenen Fadens zieht und damit den Knoten nur noch enger zurrt. Aus genau dieser leiblichen Dynamik resultiert die Dramatik des Gefühls, gedemütigt zu werden. Auch wenn sich das Gefühl an der eigenen Ohnmacht verdichtet, so steht hinter dieser doch das Unrecht, das mit der Übermacht des Peinigers so eng zusammenfällt, dass Widerstand sinnlos erscheint; die erzwungene Unterwerfung wird nicht nur als willkürlich, sondern eben auch als ungerecht wahrgenommen, wobei, wie skizziert, im Verdichtungsbereich des Gefühls die eigene Erniedrigung steht. Das ist bei einer gelungenen Beschämung anders: Wenn durch eine Beschämung erreicht wird, dass sich der Adressat oder die Adressatin tatsächlich schämt, so stimmt diese_r damit im Gefühl gewissermaßen zu, eine Norm übertreten zu haben, die er oder sie eigentlich anerkennt. Allerdings wird auf eine gezielte Beschämung zumeist gar nicht mit Scham, sondern gewissermaßen im Gegenteil mit Empörung reagiert, weil oft aus verschiedenen Gründen demjenigen, der einem anderen einen Normverstoß vorwirft, das Recht abgesprochen wird, dies zu tun – sei es, dass die beschämende Person selbst nicht besonders vorbildlich ist, sei es, dass sie sich aus anderen Gründen nicht in der Position befindet, anderen die entsprechende Norm vorzuhalten. Und nicht zuletzt ist an Nietzsches Diktum zu denken, schlecht sei derjenige zu nennen, der immer beschämen will, und das Menschlichste sei: anderen Scham zu ersparen. 24 Wird Nietzsches Sicht geteilt, so wäre jemand, der gezielt eine_n andere_n beschämen will, von 24
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismen 273 und 274
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Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
vornherein im Unrecht und würde deshalb leicht Zorn und Empörung auf sich ziehen. Zwar dürften Akte der Demütigung wegen ihres symbolischen Gehalts oft mit Beschämungsversuchen verbunden sein und manchmal vielleicht auch tatsächlich Scham beim Opfer auslösen, aber diese Scham ist aus den oben skizzierten Gründen dennoch von dem Sich-gedemütigt-Fühlen selbst zu unterscheiden. Letzteres wäre dann nur dasjenige Gefühl, das u. a. auch bei einem scheiternden Beschämungsversuch entstehen kann und eine durch die Umstände erzwungene Unterdrückung von Zorn und Empörung bei gleichzeitiger absoluter Handlungsunfähigkeit, d. h. Ohnmacht, beinhaltet. Meine bisherigen Beschreibungen könnten den Einwand provozieren, beim Sich-gedemütigt-Fühlen handele es sich möglicherweise um eine explosive Gefühlsmischung aus Scham, Angst und Empörung, aber doch nicht um ein eigenes, isolierbares Phänomen. Dem möchte ich widersprechen, weil es sich bei diesem Gefühl nicht um eine Abfolge einander widersprechender Gefühle handelt und stattdessen hier das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, direkt mit der Ohnmacht verknüpft ist: In der Ohnmacht wird schreiendes Unrecht gefühlt – anders als bei einer Ohnmachtserfahrung aufgrund einer unvermeidlichen Katastrophe oder aufgrund des Todes oder Sterbens eines nahen Angehörigen. Solange Empörung und Zorn eindeutig erlebt werden, ist die Demütigung noch nicht vollständig ›gelungen‹, da diese Unrechtsgefühle voraussetzen, dass die Enge des Leibes noch überwunden und die leiblichen Richtungen umgewendet werden können. So können etwa die inzwischen mehrfach erwähnten kleineren Schikanen und symbolischen Herabsetzungen durchaus als Demütigung erfahren werden, ohne dass das von mir beschriebene unentrinnbare Ohnmachtsgefühl auftreten muss; tatsächlich kann die Empörung über den Akt überwiegen, selbst wenn man nicht in der Lage ist, offensiv die Demütigung zurückzuweisen. In (Aphorismus »273: Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will. 274: Was ist dir das menschlichste? – Jemandem Scham ersparen«).
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dem von mir gemeinten Ohnmachtsgefühl dagegen wechseln nicht Empörung und Ohnmacht einander ab, sondern im Zentrum der erlebten Ohnmacht steht das an einem selbst vollzogene Handeln, dem man wehrlos ausgeliefert ist. Dessen Unausweichlichkeit lässt die Herabsetzung und Erniedrigung immer tiefer in den Leib eindringen und ihn immer engender zuschnüren. Bei Folter, besonders bei Vergewaltigung, 25 und anderen Gewalterfahrungen kommt der ebenfalls leiblich engende Schmerz noch hinzu, dem ebenso wie dem symbolischen Akt der Demütigung selbst nicht ausgewichen werden kann. 26 Zweifellos ist Demütigung zudem oft mit Angst verbunden – ein Wechsel zwischen Scham, Sich-gedemütigt-Fühlen und Angst, und das heißt im aktualen Erleben: ein Übergang von einem zum anderen Gefühl, die in der Situation schwer unterscheidbar sind, ist aufgrund der Ausweglosigkeit der Situation und der entsprechenden, diesen Gefühlen gemeinsamen leiblichen Engung leichter als ein Wechsel zu Empörung. Aber dass ein Unrechtsgefühl mit dem Sich-gedemütigt-Fühlen verbunden ist, lässt sich daran beobachten, dass erlebte Demütigung dann, wenn die Opfer (oder deren Angehörige) wieder in der Lage sind zu handeln, oft zu Hass, 27 zu grausamer Rache, 28 zumindest aber zur Forderung nach Bestrafung 25
Dass Vergewaltigung in jedem Fall als Folter anzusehen ist, zeigt Ivana Radacic: Does International Human Rights Law Adequately Protect the Dignity of Women?, in: Kaufmann/Kuch/Neuhäuser/Webster: Humiliation. – Mari Mikkola argumentiert dafür, dass Vergewaltigung einen entmenschlichenden Akt darstellt (Mari Mikkola: Der Begriff der Entmenschlichung und seine Rolle in der feministischen Philosophie, in: Hilge Landweer/Catherine Newmark/Christine Kley/Simone Miller (Hg.): Philosophie und die Potenziale der Gender Studies. Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie, Bielefeld 2012, S. 87–115. 26 Zur Beschreibung von Schmerzerfahrungen vgl. Hermann Schmitz: Die Gegenwart (= System der Philosophie, Bd. I), 2. Aufl. Bonn 1981, § 20, S. 183–192 und Elaine Scarry: The Body in Pain: The Making and Unmaking of the World, Oxford 1985. 27 Prütting erzählt die Geschichte einer äußerst demütigenden Zurückweisung, verbunden mit Auslachen, durch seinen Großvater und schließt seinen Bericht mit den Worten: »Von diesem Tag an habe ich diesen Großvater gehaßt, mit einer Inbrunst gehaßt, wie nur ein wehrloses gedemütigtes Kind hassen kann« (Prütting: Homo ridens, S. 35). 28 Zur Begriffsbestimmung von Rache vgl. Fabian Bernhardt in diesem Band.
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des oder der Täter_innen führt; nirgendwo sonst lässt sich der Wunsch nach Vergeltung so wenig modifizieren wie bei Traumatisierungen aufgrund von gewaltsamer Demütigung. 29 Dass das Ohnmachtsgefühl erlebter Demütigung die Kette der Gewalt oft verlängert, weist darauf hin, dass es mit einem Gefühl unerträglichen Unrechts verbunden ist, das – so die Wahrnehmung der Opfer und ihrer Angehörigen – nur durch erneute Gewalt gesühnt oder vergolten werden kann. 30 Ich hoffe, im Vorangegangenen gezeigt zu haben, dass das Sich-gedemütigt-Fühlen tatsächlich als eine von anderen ähnlichen Phänomenen unterscheidbare Emotion anzusehen ist. Im Folgenden möchte ich einen Vorschlag machen, wie die Struktur von Demütigung objektiviert werden könnte. 4.
Eine relationale Emotion. Zur Struktur von Demütigung
Die komplexe Struktur der Situation, in der Demütigung geschieht, kann als eine vierstellige Relation verstanden werden: als eine Relation zwischen 1. dem Demütiger, d. h. dem Täter, 2. dem Gedemütigten, d. h. dem Opfer, 3. einem in der Situation anwesenden Publikum und 4. der in der Situation selbst nicht unmittelbar anwesenden Öffentlichkeit. Mit dieser vierten Position ist der Bereich des Diskurses über Demütigung angesprochen; es handelt sich um eine nicht-involvierte Beobachtungsposition. Dennoch ist sie nicht notwendigerweise neutral; je eindeutiger und symbolisch oder körperlich 31 gewaltsamer die Demütigung ist, umso eher wird aus dieser Position heraus Partei für das Opfer ergriffen. Diese 4. Position muss als wesentlicher Teil der Struktur von Akten der Demütigung in Betracht gezogen werden, um den Vorwurf einer bloß subjektiven Bewertung der Demütigung 29
Vgl. Karstedts Text über Versöhnungs- und Wahrheitskommissionen in diesem Band. 30 Diesen Aspekt werde ich im sechsten Abschnitt wieder aufnehmen. 31 Kuch macht darauf aufmerksam, dass absichtliche körperliche Verletzungen immer auch eine symbolische Dimension haben. Vgl. Kuch: Sprachliche Gewalt und Kuch: Rituality.
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durch das Opfer relativieren zu können; sie ermöglicht eine Triangulation zwischen Täter, Opfer und der Figur des abwesenden Dritten, eine zusätzliche Perspektive, die anders als das anwesende Publikum nicht direkt in die Situation involviert ist. Was die 3. Position, das unmittelbar anwesende Publikum angeht, so kann diese Position selbstverständlich auch unbesetzt bleiben (warum sie dennoch als konstitutiv verstanden werden kann, darauf komme ich gleich zurück); zweifellos gibt es eine ganze Reihe von Demütigungen, die nicht vor Publikum erfolgen und von denen auch nie jemand etwas erfährt, wenn die Opfer und/oder Täter 32 nach der Tat darüber schweigen. Dennoch scheint mir die 4. Position für alle Fälle von Demütigung mitgedacht werden zu müssen, weil unser Verständnis von Demütigung grundsätzlich von einer Sprachgemeinschaft und damit von einer verallgemeinerten Beobachterperspektive abhängt und so jede Situation erschließt, die als Demütigung erlebt wird; andernfalls kann kein Begriff der Demütigung und das entsprechend aufgefasste Gefühl entstehen. So kann der »Normalfall« von Demütigung sicherlich darin gesehen werden, dass jemand eine_n andere_n demütigen will, diese Person sich tatsächlich gedemütigt fühlt und das anwesende Publikum ebenso wie alle denkbaren nicht-anwesenden Beobachter_innen ebenfalls einen Akt der Demütigung wahrnehmen. Die Häufigkeit dieser Konstellation ermöglicht, das absolute Ohnmachtsgefühl, das daraus resultiert, absichtlich erniedrigt zu werden, mit dem Begriff der Demütigung zu verbinden. Die 4. Position ist demnach bei jedem Akt und bei jeder Thematisierung von Demütigung besetzt. Dass dem anwesenden Publikum, der 3. Position, in der Bestimmung der Struktur eine eigene Position eingeräumt werden muss, obwohl sie nicht immer besetzt zu sein braucht, ist darin begründet, dass Demütigende zwar das gepeinigte Opfer erniedrigen wollen, sich dabei zugleich oft aber auch unmittelbar an das anwesende Publikum richten: Entweder soll dessen Beifall gesucht oder es im Gegenteil gerade eingeschüchtert werden durch 32
Die Täter_innen schweigen zwar in den allermeisten Fällen, aber es kommt auch vor, dass sie sich mit ihrer Tat brüsten und dadurch entdeckt werden.
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die Angst der Einzelnen, ihnen könne Ähnliches drohen. Diese Adressierung gehört in solchen Fällen unmittelbar zur Struktur der Demütigung; sie wäre nicht vollständig beschreibbar, fiele dieser Aspekt weg. Manche demütigenden Akte, etwa die einer jugendlichen Peergroup, die jemand ›Außenstehendes‹ mobbt und ihn so aus der Gemeinschaft ausschließt, erfüllen zugleich mit dem Beifall des Publikums auch die Funktion einer unausgesprochenen Warnung: Wer nicht mittut, dem könnte dasselbe Schicksal drohen wie dem oder der Gemobbten. Die Botschaft ist: Nur wer selbst zum Täter wird, kann sicher sein, nicht zu den Opfern zu gehören. In abgemilderter Form gilt dies auch für den Bereich »kleinerer« Schikanen wie etwa jemanden lächerlich zu machen oder sprachlich herabzusetzen: Wer nicht mitlacht über den »Scherz« und damit den Geschädigten auslacht, 33 könnte selbst das nächste Opfer sein. Ein typisches Beispiel für jene Demütigungen, die auf das Publikum zugeschnitten sind, ist das zumindest früher übliche ›Vorführen‹ von Schülern im Unterricht, so etwa, wenn jemand, der sportlich unbegabt ist, gezwungen wird buchstäblich vorzuturnen oder wenn bei der Rückgabe von Aufsätzen besonders entgleiste Formulierungen vor der ganzen Klasse vorgelesen und die betroffenen Schüler_innen der Lächerlichkeit preisgegeben werden. 34 Diese Akte der pseudo-pädagogischen Demütigung würden ohne Publikum entweder gar nicht entstehen oder ganz anders ausfallen; sie sind, ähnlich wie bei der mobbenden Peergroup, adressiert an den Rest der Klasse, die sich anstrengen soll, um nicht in eine vergleichbare Situation zu geraten. Möglichst die gesamte Gruppe soll sich mit dem Lehrer gegen die ›schwächeren‹ Schüler verbünden. Es wäre zweifellos aufschlussreich, anhand der vierstelligen Relation der Demütigung verschiedene Fälle systematisch durchzugehen und dabei die Haltungen und Auffassungen der Positionen 1 bis 4 zu variieren, je nachdem, wer die Handlung als Demütigung ansieht, wer aus welchen Gründen die Demütigung 33
Prütting unterscheidet verschiedene Arten des Verlachens. Vgl. Prütting: Homo ridens, Bd. III, S. 1870–1878. 34 Aus Universitätsseminaren ist leider Ähnliches bekannt.
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nicht wahrnimmt, ob die agierende Person tatsächlich demütigen will etc. Das ist in diesem Rahmen leider nicht möglich. Ich möchte nur auf einige signifikante Konstellationen hinweisen, die mir für die Struktur der Demütigung und für politisch-rechtliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen besonders aufschlussreich erscheinen und ohne die Annahme einer solchen vierstelligen Relation nur unzureichend beschrieben werden können. So sind beispielsweise für den historischen Wandel der Anlässe des Sich-gedemütigt-Fühlens Situationen symptomatisch, in denen der Täter tatsächlich demütigen will und das Opfer das auch entsprechend erlebt, aber es dennoch keinen öffentlichen Diskurs darüber gibt, dass hier Demütigungen vorliegen. 35 So war beispielsweise das Recht des Gutsherrn auf die erste Nacht (ius primae noctis) lange Zeit rechtlich unbestritten, obwohl es sich bei dessen Inanspruchnahme aus heutiger Sicht um nichts anderes als um Vergewaltigungen gehandelt haben dürfte. Der Wandel der Rechtsauffassung machte diese Frauen als Opfer überhaupt erst sichtbar. Auch Vergewaltigungen im Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen wurden bis vor wenigen Jahrzehnten als ›natürliches‹ Recht der Sieger betrachtet, nicht als ein zu ahndendes Verbrechen. Vergewaltigungen aber sind, von heute aus betrachtet, grundsätzlich traumatisierende Demütigungen und werden rechtlich verfolgt oder sollten es zumindest. Geändert hat sich in beiden Fällen mindestens die Sicht der Öffentlichkeit, wahrscheinlich aber auch das Erleben und die Situationswahrnehmung des Demütigers wie auch seines Opfers. Eine andere heikle Konstellation liegt vor, wenn sich das Opfer zwar zunächst gedemütigt fühlt, aber diese Deutung nachträglich revidiert. Dies ist manchmal bei familiärer Gewalt gegen Frauen der Fall, etwa wenn die Demütigung durch das Opfer selbst nachträglich als »eigentlich aus Liebe« erfolgt oder als »berechtigt« uminterpretiert wird. Noch häufiger verbittet sich das Opfer – aus Angst oder irgendwelchen anderen Gründen – jegliche Ein35
Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass dem Opfer oft nicht geglaubt oder seine Erfahrung in anderer Weise übergangen wird. Vgl. Miranda Fricker: Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford 2007.
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mischung von außen. Es deklariert die Demütigung damit als einen »privaten« oder zumindest »internen« Konflikt, der nicht von öffentlichem Interesse sei. Dies kann politisch sogar von internationaler Brisanz sein, wenn eine bestimmte kulturelle Praktik umstritten ist und von der Öffentlichkeit anderer Nationen als demütigend bezeichnet wird, die selbst als ehemalige Kolonialmächte für viele andere Formen der Demütigung verantwortlich sind. In solchen Situationen wird die innerkulturelle kritische Öffentlichkeit oft von denjenigen, die die umstrittene Praxis befürworten, als ›auslandshörige‹ Kritik diffamiert; ich denke etwa an die Praxis der Klitorisbeschneidung. Hier handelt es sich um Konflikte zwischen verschiedenen Foren von Öffentlichkeit und um die Frage, wer legitimiert ist, für die Frauen zu sprechen. Ob es sich ›wirklich‹ um Demütigungen handelt, wird im öffentlichen Diskurs verhandelt – und dort auch politisch-rechtlich entschieden. Im Extremfall kann es in den entsprechenden Situationen zu einem Schulterschluss zwischen einem Teil der Opfer und den Täter_innen kommen, weil die Einmischung von außen aufgrund der Kolonialgeschichte mindestens als paternalistisch, von manchen sogar selbst als demütigend empfunden wird. Zumindest wird in solchen Fällen strategisch von den Befürworter_innen der Praxis das alte Kolonialgefühl des Gedemütigtwerdens instrumentalisiert. Die Aufmerksamkeit auf die Vierstelligkeit der Struktur demütigender Akte und besonders auf die Öffentlichkeiten verschiedener Kontexte erlaubt es, solche Konflikte etwas sachlicher zu beurteilen, als wenn lediglich darum gestritten wird, ob Klitorisbeschneidungen demütigend sind oder nicht. Nur so kann die eigene Parteilichkeit gegen diese Praxis an den richtigen Stellen und in der richtigen, d. h. erfolgversprechenden Weise zur Geltung gebracht werden. 36 36
Sicherlich lassen sich alle auf andere Personen bezogenen Gefühle als mehrstellige Relationen beschreiben, etwa Neid, Eifersucht, Liebe und Achtung. Die Unterscheidung zwischen einem unmittelbar anwesenden Publikum und einer mehr oder weniger anonymen, nicht unmittelbar anwesenden Öffentlichkeit scheint mir aber lediglich für Scham und Sich-gedemütigt-fühlen signifikant zu sein. Auf die Frage, wie sich die Rolle, die das anwesende Publikum spielt, bei beiden Gefühlen unterscheidet, kann ich hier nicht weiter eingehen. Die Rolle des Pu-
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5.
Was ist ein Rechtsgefühl?
Nicht nur der Begriff des Rechtsgefühls (im Singular), auch der Begriff der Rechtsgefühle (im Plural), der eine andere Bedeutung hat – er ist eine Sammelbezeichnung für eine bestimmte Gruppe verschiedener Gefühle –, 37 wird zumeist so verstanden, als enthielte er eine These über die Quellen des Rechts und zugleich über dessen Geltung. Ich möchte hier nicht die komplexe Frage nach den Gründen für die Entstehung von Recht aufwerfen, sondern lediglich eine These zu dessen Geltung vorstellen – die aber möglicherweise doch auch einige Hinweise auf die wahrscheinlichen Quellen des Rechts im Sinne seiner Entstehung enthält. Ich habe im Vorangegangenen mehrfach davon gesprochen, beim Sich-gedemütigt-Fühlen handele es sich um ein Unrechtsgefühl und damit zunächst nur angedeutet, dass im Gefühl das Unrecht, das in der demütigenden Handlung liegt, gespürt wird. Wenn ich im Folgenden von »Rechtsgefühlen« spreche, so ist damit nicht notwendigerweise ein Bezug auf positives Recht gemeint, sondern auf Gerechtigkeit allgemein und damit auf Moralität. 38 Ich gehe davon aus, dass moralische oder Rechtsgefühle nicht ausschließlich individuell sind, sondern – bei allen Differenzen im Detail – in einer Rechtskultur weitgehend geteilt werden. Dieses Teilen der Einstellungen und Gefühle in Bezug auf bestimmte Inhalte ist der Grund dafür, dass es überhaupt so etwas wie Normen im weitesten Sinne (Konventionen, Rechtsnormen, Normen, die in einem moralischen Sinne für jemanden gelten etc.) ›gibt‹. Vor allem im Recht sind Normen zumeist schriftlich verfasst (auch das nicht in allen Rechtskulturen); der sehr viel gröblikums bei Peinlichkeit und Scham hat Gabriele Taylor präzise untersucht (Gabriele Taxylor: Pride, Shame and Guilt, Oxford 1985). Ich habe mich in Scham und Macht (S. 112–120) ebenfalls mit der Beobachterperspektive bei Scham und Peinlichkeit auseinandergesetzt. 37 Vgl. unsere Einleitung zu und Schützeichel in diesem Band. 38 Der naheliegenden Frage, ob sich das Verhältnis von Recht und Moral auch in irgendeiner Weise in unseren Gefühlen findet, kann in diesem Zusammenhang nicht nachgegangen werden. Zur Bestimmung von Moral durch Gefühle vgl. Landweer: Angemessenheit.
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ßere Bereich der sozialen Normen, die faktisch meistens von allen befolgt werden, ist größtenteils nicht verschriftet, kaum artikuliert und trotzdem in Geltung. Dies scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass das, was wir Normen nennen, zwar in Befehlssätzen zum Ausdruck gebracht werden kann, aber dass das soziale Sein einer Norm nicht an der sprachlichen Form hängt und die Norm ihre Geltung, genauer: ihre Autorität, anderswoher beziehen muss. Warum, so lautet die Frage, erkennen wir bestimmte Normen an und unterwerfen uns ihnen, zum nicht unerheblichen Teil, nämlich im großen Bereich sozialer Praktiken, sogar ohne sie zu kennen und ohne es zu merken? Das als Erklärungsgrund vielfältig in Anspruch genommene Eigeninteresse 39 als Motiv für die Akzeptanz einer Norm kann kaum ein hinreichender Grund dafür sein, da in einigen Situationen manche rechtliche und moralische Normen dem unmittelbaren Eigeninteresse widersprechen und viele der faktisch befolgten sozialen Normen dem oder der Handelnden gar nicht bekannt sind, obwohl er oder sie sich habituell daran orientiert. Überzeugungen allein, etwa sogenannte »Wertvorstellungen«, reichen als motivierende Kraft gegen das eigene Interesse nicht aus, und nicht bemerkte (!) Überzeugungen lassen sich gar nicht oder nur sehr künstlich konstruieren. Um uns zum Handeln zu bewegen, bedarf es stärkerer Bindungen als bloßer Überzeugungen, zumal diese Bindung auch dann bestehen sollte, wenn die Übertretung der Norm von niemandem, der dies sanktionieren könnte, bemerkt wird. Denn es wäre sozial äußerst aufwändig, das Befolgen von rechtlichen und moralischen Nor39
Die in der neueren Philosophie übliche Unterscheidung von »unmittelbarem« und »aufgeklärtem« Eigeninteresse scheint mir das Problem nicht zu lösen, denn das aufgeklärte Eigeninteresse höherer Stufe kann zwar dafür verantwortlich sein, die Verfolgung unmittelbarer Eigeninteressen zu begrenzen, aber dann ist erklärungsbedürftig, warum wir zu dieser Begrenzung auch dann motiviert sind, wenn sie uns keinen unmittelbaren Vorteil schafft, etwa wenn wir uns an moralische Prinzipien halten, auch wenn niemand zugegen ist, der deren Übertretung bemerken könnte. – Aber diese Debatte kann hier nicht geführt, sondern meine Position dazu lediglich angedeutet werden. Vgl. Hilge Landweer: Normativität, Moral und Gefühle, in: dies. (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007, S. 237–254.
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men ständig zu kontrollieren. Notwendig ist deshalb eine Selbstbindung an Normen, und sie beruht, so meine These, auf Gefühlen, da nur sie die Kraft haben, zum Handeln zu motivieren. 40 Dass die Vernunft allein dazu nicht in der Lage ist, wird von vielen Philosoph_innen anerkannt; so stimmt sogar Kant darin bekanntlich David Hume zu, auch wenn er dessen deutlich weitergehende These, Moral beruhe letztlich auf Gefühlen, ablehnt. 41 Welche Gefühle sind für die Selbstbindung an Normen notwendig? Ich denke, dabei ist in zwei Richtungen zu denken: Einmal muss es in den Gefühlen einen Bezug auf Andere geben, ein Gefühl einer gewissen Zugehörigkeit und Verbundenheit; anderenfalls wäre weder der Wunsch, dass auch andere meine Normen teilen sollen, noch die in vielen Fällen gegebene Gewissheit, mit anderen faktisch in normativer Übereinstimmung zu sein, verständlich. Andererseits sanktionieren wir die Übertretung von Normen, die wir anerkennen, mit unseren Gefühlen – mit Scham, wenn wir selbst gegen eine Norm verstoßen haben, die wir eigentlich anerkennen, mit Zorn und Empörung, wenn andere das tun. Schuldgefühl entsteht, wenn jemand einem Anderen beim Überschreiten einer Norm Schaden zufügt. Insofern können Scham, Schuldgefühl, Zorn und Empörung als emotionale Sanktionen angesehen werden. Allerdings kann unser Motiv, bestimmte Normen einzuhalten, nicht nur in der Angst davor, mit eigenen (Scham und Schuldgefühl) oder fremden Gefühlen (Zorn und Empörung) sanktioniert zu werden, bestehen, sondern es muss auch einen positiven Grund haben – eben den Wunsch, mit Anderen verbunden zu sein, in40
Diese These habe ich anderenorts ausführlicher begründet. Vgl. Landweer: Normativität, S. 242 ff. – Ich stelle mich mit meiner These zur Motivationakraft der Gefühle, ohne das hier weiter begründen zu können, in die Tradition von Aristoteles, Spinoza, David Hume und Martin Heidegger. – Vgl. auch K. A. Appiah, der in Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt (2011) eine ähnliche These vertritt. 41 Deshalb ist für Kants Moralphilosophie das Gefühl der Achtung von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Er argumentiert bekanntlich, Achtung könne durch die bloße Einsicht in den Kategorischen Imperativ entstehen und werde insofern durch die Vernunft bewirkt.
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dem Gefühle und Normen mit ihnen geteilt werden. 42 Faktisch handelt es sich bei dieser gefühlsmäßigen Übereinstimmung mit Anderen keinesfalls um einen Automatismus; die Gewissens- und Gerechtigkeitsgefühle ermöglichen gerade Distanzierungen vom Mainstream. Dennoch ist ohne einen normativen Bezug auf Andere keine positive Orientierung an moralisch-rechtlichen Normen denkbar, aber eben auch nicht ohne eine Freiheit zur Abstandnahme von deren Normen, wenn sie einer eigenen Prüfung im Gefühl nicht oder nicht mehr standhalten. Diese Freiheit ist unbedingt erforderlich, um eine gewisse Beweglichkeit für den Umgang mit neuen moralischen Konflikten ausbilden zu können; ohne sie könnte es keine Veränderung der moralischen Kultur geben. Eine Rechtskultur, so lässt sich jetzt sagen, wird vor allem durch den großen Bereich der selbstverständlich geteilten rechtlich-moralischen Gefühle zusammengehalten, auch wenn es in Bezug auf viele einzelne Rechtsfragen höchst unterschiedliche Gefühlsevidenzen und entsprechend verschiedene, mehr oder weniger individuelle Normen geben mag. Eine Norm gilt dann, wenn sie von jemandem in dem Sinne anerkannt wird, dass er oder sie sich an die Norm gebunden fühlt. Ohne Selbstbindung kann keine Norm in Geltung sein, sondern allenfalls kann ihre Befolgung durch massiven äußeren Zwang aufrechterhalten werden. Pointiert formuliert: Normen wären nicht in Geltung, wenn wir ihre Überschreitung nicht im Gefühl registrieren und das heißt: wenn wir uns nicht schämen und uns nicht empören würden. Die Gefühle der Scham und der Empörung drängen darauf, den durch die Normübertretung gestörten Rechtsfrieden wieder herzustel-
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An dieser Stelle könnte Humes Prinzip der sympathy den sozialen Mechanismus erklären, durch den der Wunsch nach Übereinkunft mit anderen in den Gefühlen realisiert wird. Vgl. Hilge Landweer: David Humes ›Grammatik‹ der Gefühle. Sympathy, Vergleich und Moral Sense, in: Emotionen, Wissen und Aufklärung. Gefühlskulturen im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, zus.-gest. von Birgit Neumann und Barbara Schmidt-Haberkamp (= Das achtzehnte Jahrhundert. Zs. der Dt. Ges. für die Erforschg. des 18. Jh., Jg. 39, Heft 2), Wolfenbüttel 2015, S. 160–175.
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len: die Scham, indem sie signalisiert, dass der Sich-Schämende die betreffende Norm prinzipiell anerkennt, obwohl er sie gerade übertreten hat, Zorn und Empörung, indem sie Maß nehmen an der Übertretung anderer und indem sie mit dem durch sie motivierten Handeln auf eine entsprechende Bestrafung oder Vergeltung abzielen. Dieses Bestreben, den durch ein Unrecht gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen, kennzeichnet die Rechtsgefühle, zu denen traditionell Scham, Schuldgefühl, Zorn und Empörung gezählt werden. 6.
Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
Sich-gedemütigt-Fühlen ist verankert in einem Unrecht, das dem Gedemütigten widerfährt, und verdichtet sich um die eigene Erniedrigung, der man (zunächst) ohnmächtig ausgeliefert ist. Eindeutig wird dabei nicht wie in der Scham unterstellt, der oder die Fühlende selbst habe eine Norm übertreten, die er oder sie eigentlich anerkennt; vielmehr hat die demütigende Person ihm oder ihr jegliche Freiheit genommen, auf den demütigenden Akt – der stets einen Rechts- oder Moralbruch im weitesten Sinne darstellt – mit einem Rest an Autonomie zu reagieren; in anderen Worten: Das Quäntchen Freiheit, das für Zorn und Empörung konstitutiv ist, fehlt. Aufschlussreich für die Art, wie im Sich-gedemütigtFühlen das Unrecht aufgefasst wird, scheint mir ein Spezialfall einer nicht-gewaltförmigen Art von Demütigung zu sein, bei der die demütigende Person unterstellt, ihr Opfer habe gegen eine Norm verstoßen, die es anerkennen müsse, und sich dadurch legitimiert fühlt, ihre überlegene Position auszunutzen, wie im Falle der Pädagog_innen, die sich gegenüber – in ihren Augen – unwilligen Schüler_innen demütigend verhalten. Ungerechte Behandlung, gegen die man sich unmittelbar nicht wehren kann, wird oft als Demütigung erlebt – Scham als Reaktion ist ausgeschlossen, weil es den vom Demütiger unterstellten Normbruch nicht gegeben hat. Die Zumutung liegt bei dieser Form der Demütigung gewissermaßen darin, dass die Übertretung der Norm fälschlich unterstellt wird und der Gedemütigte keine Gelegenheit hat, das 130 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
überzeugend richtigzustellen. In diesem Fall beruht das Gefühl eindeutig auf Ungerechtigkeit und zeigt dies auch an. Doch nicht nur in diesem Spezialfall wird das Unrecht vom Gedemütigten gefühlt. Es ist, wie skizziert, das Ohnmachtsgefühl, das im Sich-gedemütigt-Fühlen dominant ist. Die Ohnmacht selbst macht das geschehene Unrecht aus: Akte der Demütigung nutzen bestehende Abhängigkeiten aus, um ihr Opfer handlungsunfähig zu machen und ihm jegliche Autonomie und Freiheit zumindest in der Situation zu nehmen. Gelingt dies situationsübergreifend, so unterhöhlt das die Selbstachtung der Opfer grundlegend und traumatisiert sie in einer nur schwer korrigierbaren Weise. In demütigenden Akten wird damit gleich gegen mehrere moralische Normen verstoßen: mindestens gegen das Gebot der Achtung, die jeder Person zukommt, und gegen die Norm der Gleichbehandlung, insofern es sich um willkürliche Akte handelt. Zudem wird die Freiheit des Gedemütigten eingeschränkt, zumindest muss er es so erleben. Vor allem aber wird eine Unterwerfung erzwungen – entweder durch Gewalt oder durch die Kontrolle der Umstände in der Situation, die dem Gedemütigten keine adäquate Beantwortung der Zumutung erlauben. Insofern sind diese Akte immer mit einem Missbrauch von Macht verbunden. Was rechtfertigt es, von einem Rechtsgefühl zu sprechen, wenn doch die Gedemütigten gerade bei extremen Formen zumeist anschließend gar nicht ihr Recht beanspruchen und oft völlig handlungsunfähig, häufig sogar dauerhaft traumatisiert sind? Wo ist der Impuls zur Wiederherstellung des Rechts, der doch für ein Rechtsgefühl nach der obigen Bestimmung konstitutiv sein sollte? Nun, ich denke, das wird deutlicher, wenn man Ohnmachtsgefühle aufgrund einer Naturkatastrophe mit denen vergleicht, die bei Demütigung entstehen. Bei Naturkatastrophen mag es sich um verschiedene Sorten von Entsetzen, um Trauer, Verzweiflung, Lähmungs- und Ohnmachtsgefühle handeln – was nicht entstehen wird, ist das gänzlich ausweglose Engungsgefühl des Gedemütigten, der sich vollkommen ausgeliefert und deshalb ungerecht behandelt fühlt: Er wurde nicht als Person behandelt, 131 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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nicht als gleichberechtigt anerkannt, nicht so, wie er es bis dahin für selbstverständlich hielt. Es ist als Gefühl, erniedrigt zu werden, ein Gefühl für den Verlust seiner bis dahin selbstverständlichen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kontext oder allgemeiner seines Platzes in der Gesellschaft. Das Sich-gedemütigt-Fühlen reagiert in seinem Gehalt auf Exklusion – bei harmloseren Schikanen auf den Ausschluss aus der Gruppe von Menschen, die in dem gegebenen Kontext auf eine respektvolle Behandlung Anspruch hat, bei extremen Formen wie Folter handelt es sich um Formen der Entmenschlichung, d. h. um eine Exklusion aus dem Bereich der Hominität. 43 Der Platz in der Gesellschaft ist etwas, auf das wir, wie uns das Gefühl zeigt, das durch Demütigungen ausgelöst wird, einen Rechtsanspruch (im weitesten Sinne) zu haben meinen. Dies gilt auch für stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften, etwa für das indische Kastensystem oder die Feudalgesellschaften im europäischen Mittelalter. Im dritten Abschnitt habe ich bereits darauf hingewiesen, dass im Sich-gedemütigt-Fühlen ein Quäntchen Empörung enthalten ist, das sich wegen der erlittenen Ohnmacht nicht Bahn brechen kann. Doch wenn die Situation vorüber ist, kann dieses eindeutige Rechtsgefühl durchaus entstehen. Insofern könnte man davon sprechen, dass die aggressive Seite des Sich-gedemütigt-Fühlens, die in der Situation selbst die leibliche Engung eher festigt, weil sie nicht zum Zuge kommen kann, zu einer (auch) leiblichen Disposition zu nach außen gerichteten und in diesem Sinne »aggressiven« Gefühlen führt. 44 Bezeichnend ist auch, dass bei schwerwiegenden Demütigungen dem Demütiger kaum verziehen werden kann, denn das skizzierte »Folge«-Gefühl (Zorn oder Empörung) verlangt Vergeltung, ist aber oft kompromissloser als bei anderen Anlässen. Die erlittene extreme Ohnmacht wird als extremes Unrecht erlebt, dem auch nur extreme Formen von Vergel43
Wobei dieses Etikett vielleicht irreführend ist: Nur Menschen können gedemütigt werden, Tiere ›nur‹ gequält, weil sie – nach allem, was wir wissen – keine Rechtsgefühle entwickeln können. Zudem ist dem Demütiger zumeist daran gelegen, sein Opfer leiden zu sehen – gerade in seiner Menschlichkeit. 44 Ich danke Dirk Koppelberg für diesen Hinweis.
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Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
tung entsprechen können – nur so kann die Schmach der Demütigung aus der Welt geräumt werden. Gerade diese Dynamik zeigt, dass es sich hier um ein Rechtsgefühl handelt. Darauf weist aber auch die Dynamik zwischen den Zeugen einer Demütigung, dem Publikum, und dem Demütiger hin. Wenn der Akt auch sie einschüchtern soll und es sich um eine extrem gewaltförmige Form der Demütigung handelt, so übernehmen die dabei Anwesenden später, sobald sie sich aus der Situation befreien konnten, oft die Rache für die Gedemütigten, die das selbst aufgrund ihrer Traumatisierung nicht mehr können. Es ist bekannt, dass Kriegsvergewaltigungen oft in Anwesenheit der Männer und Kinder vollzogen werden, und zwar deshalb, um auch sie zu demütigen, indem die Frauen zerstört werden. Der oft nicht zu stillende Hass und das Rachebedürfnis, die aus solchen Situationen entstehen und damit die Kriegsgefahr immer weiter schüren, sind ein weiterer indirekter Hinweis darauf, dass es sich bei Demütigung nicht nur um ein Unrecht, sondern beim Sich-gedemütigt-Fühlen um ein besonders intensives Unrechtsgefühl handelt. An dieser Stelle wird deutlich, dass Gefühle nicht nur Einzelnen ›gehören‹, sondern relationalen Charakter haben und in einem sozialen Raum aufgespannt sind. So wie bei der Scham die Blicke der Anderen leiblich wie aggressive Vektoren auf den Sich-Schämenden wirken und zu dem bekannten Impuls führen, im Boden versinken zu wollen, ohne dass dies möglich wäre, so führt die unentrinnbare Gewalt der Demütigung aufgrund der unterdrückten aggressiven Impulse zu deren Inkorporierung: Die Aggressionen können entweder nach einer Abstandnahme aus der Situation eigenes aktives Handeln freisetzen oder aber, im Falle von tiefen Traumatisierungen, ist es möglich, dass die zentripetalen Richtungen der erlittenen Gewalt leiblich nicht mehr umgekehrt werden können und der Gedemütigte an dieser Einkapselung der Gewalt zugrunde geht. Beim Sich-gedemütigt-Fühlen liegt, so lässt sich zusammenfassend sagen, das Unrecht darin, von seinem Platz verwiesen zu werden, den man für gesichert hielt. Sollte meine Analyse zutreffen, so muss die Reihe der Rechtsgefühle, zu denen zumeist nur Scham, Schuldgefühl, Zorn, Empörung und vielleicht noch Reue 133 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Hilge Landweer
gezählt werden, um das Sich-gedemütigt-Fühlen erweitert werden. Die Rechtsgefühle sind – wie die Gefühle überhaupt – durch eine Art Grammatik verbunden, die, sobald sie erkannt ist, es unmöglich macht, das Auftreten dieser (und anderer) Emotionen in rationalistischer Tradition weiterhin ausschließlich dem Bereich des Subjektiv-Zufälligen zuzuweisen. Gerade bei den Rechtsgefühlen scheint es mir äußerst lohnend für weitere Forschungen, die sozialen Relationen zu untersuchen, in denen Gefühle und Haltungen geteilt werden, aufeinander antworten, Kontraste bilden oder sich gegenseitig verstärken. Literatur Appiah, Kwame Anthony: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München 2011. Bieri, Peter: Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013. Birnbacher, Dieter: Schutz vor Demütigung als Grundrecht?, in: Eric Hilgendorf (Hg.): Menschenwürde und Demütigung. Die Menschenwürdekonzeption Avishai Margalits, Baden-Baden 2013, S. 63–79. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. Fricker, Miranda: Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford 2007. Herrmann, Steffen K./Krämer, Sybille/Kuch, Hannes (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007. Kaufmann, Paulus/Kuch, Hannes/Neuhäuser, Christian/Webster, Élaine (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated, Dodrecht 2011. Kuch, Hannes: Sprachliche Gewalt und symbolische Macht, in: ders.: Herr und Knecht. Anerkennung und symbolisch Macht im Anschluss an Hegel, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 131–138. Kuch, Hannes: The Rituality of Humiliation: Exploring Symbolic Vulnerability, in: Kaufmann/Kuch/Neuhäuser/Webster: Humiliation, Degradation, Dehumanization, Dodrecht 2011, S. 37–56. Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999. Landweer, Hilge: Normativität, Moral und Gefühle, in: dies. (Hg.): Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007, S. 237–254.
134 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Ist Sich-gedemütigt-Fühlen ein Rechtsgefühl?
Landweer, Hilge: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–78. Landweer, Hilge: David Humes ›Grammatik‹ der Gefühle. Sympathy, Vergleich und Moral Sense, in: Emotionen, Wissen und Aufklärung. Gefühlskulturen im Großbritannien des 18. Jahrhunderts, zus.-gest. von Birgit Neumann und Barbara Schmidt-Haberkamp (= Das achtzehnte Jahrhundert. Zs. der Dt. Ges. für die Erforschg. des 18. Jh., Jg. 39, Heft 2), Wolfenbüttel 2015, S. 160–175. Margalit, Avishai: The Decent Society, Cambridge, Mass. 1996; translated by Naomi Goldblum, deutsch: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt a. M. 1999. Mikkola, Mari: Der Begriff der Entmenschlichung und seine Rolle in der feministischen Philosophie, in: Hilge Landweer/Catherine Newmark/Christine Kley/Simone Miller (Hg.): Philosophie und die Potenziale der Gender Studies. Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie, Bielefeld 2012, S. 87–115. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA Bd. III, Neuausgabe Berlin/New York 1999. Prütting, Lenz: Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens. In drei Bänden, Freiburg/München 2013. Radacic, Ivana: Does International Human Rights Law Adequately Protect the Dignity of Women?, in: Kaufmann/Kuch/Neuhäuser/Webster (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated, Dodrecht 2011. Scarry, Elaine: The Body in Pain: The Making and Unmaking of the World, Oxford 1985. Schmitz, Hermann: Die Gegenwart (= System der Philosophie, Bd. I), 2. Aufl. Bonn 1981. Schmitz, Hermann: Der Leib (= System der Philosophie, Bd. II,1), 2. Aufl. Bonn 1982. Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum (= System der Philosophie III,2), 2. Aufl. Bonn 1981. Schmitz, Hermann: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie (= System der Philosophie, Bd. III,3), 2. Aufl. Bonn 1983. Taylor, Gabriele: Pride, Shame and Guilt, Oxford 1985. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993.
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Maria Sibylla Lotter
Schuld ohne Vorwerfbarkeit. Warum der moralische Schuldbegriff auf viele Schuldphänomene nicht passt
1.
Zur Diskrepanz zwischen Schuldgefühlen und moralischer und rechtlicher Schuldzuschreibung
Schuld ist ein moralischer und rechtlicher Begriff, dessen Bedeutung sich aus unserer Rechtspraxis, aus der politischen Praxis und aus der Grammatik der moralischen Gefühle und Zuschreibungen ergibt, mit denen wir auf fremdes und eigenes Handeln reagieren. Die Philosophie kann niemandem vorschreiben, wie der Schuldbegriff zu verwenden ist, jedoch versuchen, die Schwierigkeiten und Inkohärenzen zu verdeutlichen, die mit gängigen Interpretationen und Reaktionen auf Schuld verbunden sind. Tatsächlich gibt es erhebliche Divergenzen zwischen Schuldgefühlen, aber auch politischen Schuldbekenntnissen (etwa in Erklärungen des Bundestags zu Kriegsverbrechen) und den Standards rechtlicher und moralischer Schuldzuschreibung aus der Perspektive der dritten Person. Wenn Schuld aus der Perspektive der dritten Person zugeschrieben wird, dann wird nicht nur ein menschengemachtes Übel konstatiert, sondern ein Vorwurf gegen eine Person erhoben: Es wird behauptet, sie hätte das Übel erzeugt (oder nicht verhindert), indem sie etwas falsch gemacht, eine Regel verletzt hat. Das setzt voraus, dass sie frei gehandelt hat – Vorwürfe machen nur Sinn, wenn der Betreffende hätte anders handeln können und sollen. Das heißt, eine Person kann (im Sinne dieses Typs von Schuldzuschreibungen) nur an dem schuld sein, was sie selbst getan oder unterlassen hat, und auch nur in dem Maße, indem sie wusste, was sie tat, freiwillig 136 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Schuld ohne Vorwerfbarkeit
und nicht etwa gezwungen handelte und das Geschehen unter Kontrolle hatte. 1 Menschen entwickeln jedoch bei weitem nicht nur in solchen Fällen Schuldgefühle. Sie fühlen sich oft irgendwie schuldig, ohne dass gegen sie ein moralischer oder rechtlicher Vorwurf erhoben werden könnte. Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen leiden mitunter an starken Schuldgefühlen, weil sie glauben, ihre Kameraden in einer Gefechtssituation im Stich gelassen zu haben, auch wenn sie aufgrund einer Gefechtsstress-Reaktion gar nicht handlungsfähig waren oder die Gefechtslage so unübersichtlich war, dass ihnen kein Fehlverhalten vorzuwerfen ist. 2 Nicht selten empfinden aber auch Menschen Schuldgefühle, die selbst Opfer von Verbrechen werden, weil sie glauben, die Tat mit herbeigeführt zu haben. Andere fühlen sich schuldig, ohne zu glauben, etwas getan oder auf vorwerfbare Weise unterlassen zu haben: Todesfälle lösen oft bei den nahen Angehörigen Schuldgefühle aus, auch wenn sie den Tod weder herbeigeführt noch gewünscht hatten, und sogar dann, wenn sie sich überhaupt nichts Konkretes vorzuwerfen haben wie etwa eine Vernachlässigung zu den Lebzeiten des Verstorbenen. Beispiele für Schuldgefühle, die auf besonders extreme Weise dem Gedanken zuwiderlaufen, dass man sich nur durch eigenes, selbst kontrolliertes Handeln verschulden kann, sind die Schuldgefühle mancher Überlebender aus den Konzentrationslagern gegenüber den Toten, das sogenannte Überlebendensyndrom. 3 Die Überlebenden entwickeln nicht selten Schuldgefühle, weil sie überlebt haben, zumal sie oft mit dem Verdacht konfrontiert wurden, mit den Nazis kollaboriert zu haben; ihre Nachkommen wiederum fühlen sich oft schuldig, weil sie das Leid ihrer Eltern nicht lindern und ihre Hoffnungen auf unbelastete Normalität nicht erfüllen können. 1
Zum Prinzip der Kontrolle vgl. Thomas Nagel, Moral Luck, in: ders., Mortal Questions, Cambridge 1976, S. 24–38. 2 Zu Schuldgefühlen im Zusammenhang von Kriegstraumata vgl. José Brunner, Die Politik des Traumas. Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland, und im Israel/Palästina-Konflikt, Berlin 2014, S. 216–222. 3 Zum Überlebendensyndrom vgl. William G. Niederland: Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom, Seelenmord, Frankfurt a. M. 2002.
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Maria Sibylla Lotter
Man könnte versucht sein, die Diskrepanz zwischen Schuldgefühlen und Schuldzuschreibungen aus der Perspektive der dritten Person als Differenz zwischen bloß eingebildeter und objektiver Schuld wegzuerklären. Dass man sich mit Blick auf Schuldzuschreibungen irren kann, steht wohl außer Frage. Nicht jeder, der sich schuldig fühlt, ist es auch. Und umgekehrt fühlt sich nicht jeder schuldig, der es ist. Ein Teil dieser nach dem individualistischen Modell »unpassenden« Schuldgefühle lässt sich auf Fehleinschätzungen mit Blick auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten zurückführen, zumal es in vielen Situationen unklar ist, ob man sich hätte anders verhalten können. Bei anderen lässt sich die Diskrepanz zwischen den individualistischen Standards der Schuldzuschreibung, die uns rational evident erscheinen, und der Wirklichkeit der Schuldgefühle, aber auch mit der Differenz zwischen den allgemeinen Normen der Schuldzuschreibung und den in der je konkreten Situation vorliegenden normativen Erwartungen der Beteiligten erklären. Rechtliche Schuldzuschreibungen ergeben sich aus der Anwendung allgemeiner Rechtsnormen, moralische Schuldzuschreibungen aus der Anwendung intersubjektiv verankerter Standards. Schuldgefühle hingegen sind durch die Dynamik der je individuellen Psyche bedingt, zu der die von Individuum zu Individuum variierenden normativen Ansprüche an die eigene Person sowie die normativen Erwartungen anderer Individuen gehören. Anders als Schamgefühle, die durch die gefühlte Diskrepanz zwischen dem, was man ist, und dem, was man sein möchte, ausgelöst werden, setzen Schuldgefühle zudem eine gewisse Empathiefähigkeit voraus, die nicht jeder im gleichen Maße aufweist. Wer sich schuldig fühlt, glaubt durch sein Handeln, Unterlassen, seine schiere Existenz oder seine Unfähigkeiten schuld am Leiden anderer zu sein. Gerade besonders empathiefähige Menschen werden daher nicht selten Opfer der Manipulation egozentrischer Personen, die bei ihnen durch theatralische Demonstrationen eigenen, angeblich durch ihr Versagen bereiteten Leidens ein »schlechtes Gewissen« erzeugen. Sie können aber auch Opfer eigener normativer Ansprüche oder unrealistischer Machtphantasien werden, die ihnen vorspiegeln, sie seien an etwas schuld, woran sie gar keinen Anteil haben. Daher 138 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Schuld ohne Vorwerfbarkeit
stellt sich nicht nur in der Theorie, sondern auch im Alltags- und Familienleben durchaus die Frage nach der Adäquatheit von Schuldgefühlen. Schuldgefühle können irrig oder unberechtigt sein. Irrig sind Schuldgefühle, wenn sie auf Täuschungen über den eigenen Anteil am vorgeblichen Leid der anderen zurückgehen; unberechtigt sind sie, wenn der normative Anspruch, dessen mangelnde Einlösung Schuldgefühle hervorruft, selbst gar nicht berechtigt ist. Im Folgenden geht es mir jedoch nicht um Schuldgefühle, die Menschen irrigerweise oder zu Unrecht entwickeln, weil sie die Situation und ihre Handlungsmöglichkeiten falsch einschätzen, ihrem eigenen Machtrausch oder überzogenen Selbst-Idealen zum Opfer fallen oder von anderen psychologisch manipuliert werden. Ein Schuldgefühl als irrtümlich oder unberechtigt zu beurteilen, scheint mir nur in dem Fall möglich, dass eine falsche Überzeugung zugrunde liegt, also dann, wenn sich jemand schuldig fühlt, weil er glaubt, etwas falsch gemacht zu haben, obgleich er gar nichts falsch gemacht hat oder es gar nicht in seiner Macht stand, sich anders zu verhalten. Es sind jedoch gar nicht alle Schuldgefühle mit der (richtigen oder falschen) Überzeugung verbunden, selbst etwas falsch gemacht zu haben. Man kann auch Schuldgefühle aufgrund der Zugehörigkeit zu Kollektiven entwickeln, etwa als Deutscher für Nazi-Verbrechen oder als Amerikaner mit Blick auf das Massaker von My Lai, aber auch als Fußballfan angesichts der Information, dass eine Gruppe von Fans des eigenen Vereins beim letzten Spiel unprovoziert gewalttätig geworden ist. Solche kollektiven Schuldgefühle mögen demjenigen unsinnig erscheinen, der das idealisierte moderne Bild vom Menschen als einem unabhängigen und autonomen Individuum, das frei »ohne Vorbelastung aus reiner Unschuld heraus handelt« 4, mit der vollen Realität gleichsetzt. Mit Blick auf die soziale Realität sind sie aber alles andere als erstaunlich, denn wir identifizieren uns im wirklichen Leben nicht nur mit eigenem Tun, sondern auch mit unseren sozialen Beziehungen – auch solchen, die wir in 4 Stephan Grätzel, Dasein ohne Schuld. Dimensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive, Göttingen 2004, S. XXX.
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Maria Sibylla Lotter
der Regel nicht gewählt haben wie die Zugehörigkeit zu einer Familie, einer Religion oder Nationalität. Und wir wissen, dass wir auch von anderen Mitmenschen als Mitglieder von solchen Gruppen und Kollektiven wahrgenommen werden. Auch wenn das philosophische Verständnis von moralischer Verantwortung und Schuld auf dem individualistischen Menschenbild aufbaut, entspringen viele Schuldgefühle – ebenso wie der politische Umgang mit dem Schuldbegriff – einem kollektiven Selbstverständnis. Und da es wenig Sinn macht, die Zugehörigkeit zu Kollektiven selbst zu einem Irrtum zu erklären, ist auch die hieraus resultierende Differenz zwischen dem individualistischen Verständnis von Schuld als vorwerfbarer Täterschuld und den real auftretenden Schuldgefühlen nicht nur auf Irrtümer unmoralischer oder übertrieben skrupulöser Charaktere zurückzuführen. Es scheint mir offenkundig, dass die individualistische Reduktion von Schuld auf eigenes Handeln der sozialen Logik der Schuld und den Praktiken ihrer Bewältigung nicht hinreichend gerecht wird. 5 Schuldgefühle drücken eine Verbindung zu anderen aus, die nur begrenzt der eigenen Kontrolle unterliegt und insofern auch mit dem moralischen Individualismus in Konflikt geraten kann. Man kann sich mit-schuldig fühlen, nicht nur in dem Sinn, dass man gemeinsam etwas begangen hat, sondern auch in dem Sinne, dass man an vergangenem Unrecht aufgrund einer Verbindung zu den Tätern und Opfern teilhat. Dieses Schuldbewusstsein kann, muss aber nicht, mit der Selbstzuschreibung eines moralischen Versagens verknüpft sein (wenn etwa die Belastung der Nachkommen von Opfern die Gestalt des Selbstvorwurfs annimmt, den Eltern nicht helfen zu können). Um nicht missverstanden zu werden: Ich möchte hier nicht die widersinnige These vertreten, es könne sinnvoll und berechtigt sein, Menschen die vergangenen oder gegenwärtigen Handlungen anderer Menschen vorzuwerfen, auf die sie keinen Einfluss haben und für die sie also nichts können. Schuld im Sinne moralischer und rechtlicher Vorwerfbarkeit kann es in der Tat nur mit 5
Das hat vor allem Karl Jaspers in seiner berühmten Studie Die Schuldfrage (Heidelberg 1946) deutlich gemacht. Vgl. auch Grätzel 2004, S. 26.
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Schuld ohne Vorwerfbarkeit
Blick auf eigenes, selbstkontrolliertes Tun und Lassen geben. Reale Schuldphänomene sind jedoch mehr oder weniger von moralischem Zufall durchzogen, wie Thomas Nagel gezeigt hat. Allein schon deswegen bedarf es eines differenzierten Verständnisses von Schuld, das Schuld nicht auf moralische Vorwerfbarkeit reduziert. Es sprechen jedoch auch normative Gründe dafür, die Verstrickung von Menschen in Schuldzusammenhänge, die ihnen nur teilweise oder gar nicht vorwerfbar sind, durch eine Reduktion auf Täterschuld auszublenden. Und diese Gründe betreffen die Frage einer angemessenen Reaktion und Aufarbeitung von Schuld. Die Aufarbeitung menschengemachten Übels erfordert eine Kultivierung von Gesten, die einen Ausgleich schaffen und heilende Funktion übernehmen können. Wenn Schuld nur als vorwerfbare Täterschuld verstanden werden kann, dann können wir uns als Reaktion auf Schuld aber nur Sanktionen vorstellen. Vorwürfe und Sanktionen sind jedoch nur begrenzt geeignet, die Belastungen und Probleme aufzuarbeiten, die sich aus menschengemachtem Übel ergeben. Im Folgenden möchte ich zunächst an einem Beispiel illustrieren, dass etwa Schuld mit Blick auf historisches Unrecht nicht auf die moralische und juristische Schuldzuschreibung und Sanktionierung von Tätern oder Mittätern reduziert werden kann. Schuld im Sinne einer in der Vergangenheit begründeten Belastung und Verpflichtung geht nicht nur von den Tätern auf die kollektiven Nachkommen, sondern auch von den Opfern auf ihre Nachkommen über. Anschließend möchte ich verschiedene Schuldphänomene aufführen, auf die der heutige moralische Begriff der Schuld als Vorwerfbarkeit nicht passt. Und zum Schluss möchte ich zum Thema der Verantwortung für historisches Unrecht zurückkommen und am Beispiel von Jaspers’ Begriff der metaphysischen Schuld zeigen, dass wir einen anderen als den moralischen Schuldbegriff benötigen, wenn es um Phänomene wie die Schuld geht, die Menschen aufgrund ihrer Verbindungen zu menschengemachtem Übel tragen, an dem sie selbst nicht oder zumindest nicht vorwerfbar beteiligt waren.
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Maria Sibylla Lotter
2.
Der Fall Gröning
2015 fand vor dem Landgericht Lüneburg ein Strafprozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning statt, der von 1942–44 im Konzentrationslager Auschwitz tätig gewesen war. Dieser Prozess stand für einen Wandel der Justiz, der lange Zeit vorgeworfen worden war, die Täter und Mittäter an den Naziverbrechen zu schonen. Obgleich Gröning sich weder an der Planung noch der Ausführung der Tötungsaktionen beteiligt hatte, sondern vor allem mit der Sortierung der den Häftlingen geraubten Wertgegenstände befasst gewesen war, wurde gegen ihn wegen Beihilfe zum Mord ermittelt. Mit Blick auf dieses Delikt hatte sich die Rechtsprechung erst seit 2011 geändert, insofern der Nachweis einer unmittelbaren Beteiligung an einem Tötungsdelikt heute nicht mehr erforderlich ist, um jemanden wegen Beihilfe zum Mord anzuklagen. Jede Beschäftigung in einem Vernichtungslager kann seitdem für die Anklage ausreichend sein, da man davon ausgeht, dass sie dazu diente, die Tötungsmaschinerie in Betrieb zu halten. Dadurch wurde es möglich, nach einer langen, für die Opfer frustrierenden Periode der untätigen Justiz die wenigen noch lebenden Mittäter vor Gericht zu stellen. Während des Prozesses wurde aber auch deutlich, dass es weder dem Angeklagten noch den Nebenklägern allein um die Frage ging, ob er strafrechtlich schuldig gesprochen wird und welches Strafmaß verhängt wird. (Aufgrund des hohen Alters und des Gesundheitszustands des Angeklagten schien es ohnehin eher unwahrscheinlich, dass er eine Verurteilung zur Haft würde antreten müssen.) Verschiedene Nebenkläger begrüßten die Anklageerhebung und Zeugenbefragung als einen wichtigen symbolischen Akt der Anerkennung historischen Unrechts, während die Verurteilung zu vier Jahren Haft für sie eher nebensächlich war. Gröning selbst bekannte sich schon zu Beginn des Prozesses moralisch verantwortlich und bekundete Reue. Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor vergab ihm schon während des Prozesses mit einer aufsehenerregenden öffentlichen Geste, für die sie von anderen Überlebenden teils heftig kritisiert wurde. Im Gegensatz hierzu richteten sich die Erwartungen einiger Nachkommen der Opfer 142 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Schuld ohne Vorwerfbarkeit
auf eine hohe Strafe, und sie fanden die mit dem strafrechtlichen Delikt verbundene Strafe der Schuld überhaupt nicht angemessen. Sie legten über den Rechtsanwalt Andreas Schulz Revision ein und forderten eine Verurteilung wegen Mordes, obgleich dies nach deutschem Recht (wegen mangelnder Beteiligung an den Tötungsaktionen oder ihrer Planung) gar nicht möglich gewesen wäre. Schon die vorausgehende Revision der Rechtsprechung, aber auch die Reaktionen im Prozess gegen Gröning machen deutlich, welche Schwierigkeiten auftreten können, wenn Großverbrechen wie die Mordmaschine der Konzentrationslager durch strafrechtliche Schuldzuschreibungen aufgearbeitet werden müssen. Die Schwierigkeit entsteht dadurch, dass das historische Unrecht, das Gröning damals als ein kleines Rädchen an der Mordmaschine mit am Laufen hielt, sich nur begrenzt als strafrechtliche Vorwerfbarkeit zurechnen lässt, zumal die Schuld an besonders monströsen Großverbrechen wie dem Holocaust sich nicht ohne Weiteres in eine Summe von individueller Täterschuld übersetzen lässt. Auch wenn man nicht nur kleine Rädchen wie Gröning, sondern die eigentlichen Planer der Mordmaschinerie vor Gericht stellen könnte, ließe sich die Schuld nicht auf die Summe der individuell zurechenbaren und durch Sanktionen abgeltbaren Schuld von Hitler und allen anderen Tätern und Mittätern reduzieren. Schon die erforderliche Revision der Rechtsprechung, die die Anklage gegen Gröning überhaupt erst ermöglichte, verdeutlicht die Schwierigkeit, die historische Schuld in individuelle Vorwerfbarkeit zu übersetzen. Auch in den erwähnten Reaktionen der Opfer und ihrer Anwälte auf den Prozess und das Urteil spiegelt sich diese Diskrepanz: Die von Schulz vertretenen Nebenkläger können sich angesichts der Monströsität der Verbrechen nur eine Mordanklage vorstellen, obgleich dies das geltende Recht sprengen würde, das auf dem individualistischen Schuldprinzip aufbaut. Auf eine andere Weise demonstrierte die Auschwitz-Überlebende Eva Kor, wie wenig die Belastung für die Opfer durch strafrechtliche Schuldzurechnung und Sanktionierung der Täter bewältigt werden kann. Sie erläuterte ihre öffentliche Vergebung als einen Akt der Selbstreinigung und Selbstentlastung, den sie sich 143 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Maria Sibylla Lotter
selbst schulde, und argumentierte auch mit Blick auf andere Täter, sie habe ihnen »verziehen«, »nicht weil sie es verdienen, sondern weil ich es verdiene«. Ein Opfer habe das Recht, irgendwann frei zu sein, und man könne nicht frei sein von dem, was einem angetan wurde, wenn man diese »tägliche Last aus Schmerz und Wut« nicht abschüttelt. 6 Während die von Schulz vertretenen Nebenkläger allem Anschein nach einer absoluten Strafauffassung gefolgt waren, die hier jedoch an ihre Grenzen stößt, kritisierte Kor unter konsequentialistischen Gesichtspunkten die Verurteilung zur Haft als eine falsche, da nutzlose Weise des Umgangs mit Schuld; sinnvoller wäre ihr nach eigener Auskunft eine Verpflichtung zum aufklärerischen Sozialdienst in Neonazi-Kontexten erschienen. 7 Auch Thomas Walther, der Vertreter einer anderen Gruppe von Nachkommen der Opfer, machte deutlich, dass es ihm und seinen Klienten nicht auf das Strafmaß ankam. Ihr Anliegen war, die Verbrechen, die die Folgegenerationen der Opfer weiter belasten, vor Gericht zu bringen und den Opfern durch ihre Vertreter eine Stimme zu verschaffen. Auch in seinen Augen wäre es daher sinnvoller gewesen, Gröning zur Aufklärung (etwa in Schulen) zu verpflichten, als ihn zur Haft zu verurteilen. 8 Kurz, wenn ich Kor und Walther richtig verstehe, dann liegt für sie die angemessene Aufarbeitung und Möglichkeit einer Befreiung von der Schuld nicht primär in der Bestrafung der Einzeltäter, sondern in der Anerkennung des Unrechts, der Erinnerung an die Opfer und einer verantwortungsbewussten Aufklärung der gegenwärtigen Generation über die Ursachen. Diese Auffassung von Schuld weicht stark von dem moralischen Begriff von Schuld im Sinne der moralischen Vorwerfbarkeit eines Fehlverhaltens einzelner Täter ab, die durch Sanktionen zu ahnden ist. Sie bezieht sich überhaupt weniger auf den Täter als die Tat und die von ihr ausgehenden Wirkungen, die von den 6
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/holocaust-ueberlebende-eva-kor-sie -nannten-mich-eine-verraeterin-13557291.html. 7 Vgl. http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe /Auschwitz-Prozess-Vier-Jahre-sind-zu-wenig,auschwitz452.html. 8 Vgl. http://www.heute.de/auschwitz-prozess-gegen-oskar-groening-beginnt-inlueneburg-wegen-morden-im-dritten-reich-38108914.html.
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Schuld ohne Vorwerfbarkeit
Opfern als eine (wie Walther betonte) ihnen durch die Vergangenheit auferlegte, nie abwerfbare Bürde empfunden werden. Noch mehr als die Nachkommen der Täter scheinen die der Opfer aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Verbindung von dieser Schuld belastet zu sein. Denn die Verbrechen an ihrer Familie, für die sie nichts können, erlegen ihnen gleichwohl Verpflichtungen auf, die sie nur schwer erfüllen, denen sie sich aber auch nicht entziehen können. Da es sich hier offenkundig nicht um eine moralische Schuld handelt (auch wenn sie, etwa als Gefühl gegenüber den Eltern versagt zu haben, bisweilen so empfunden wird), spricht man mit Blick auf die besagten Einstellungen oft eher von Verantwortung im Sinne einer Sorge um die Gegenwart als von Schuld. Das macht durchaus Sinn, aber der Begriff einer sorgenden Verantwortung greift gleichwohl zu kurz. Die »Last aus Schmerz und Wut«, von der Eva Kor spricht, ist ja weitaus mehr als ein Bewusstsein der sorgenden Verantwortung für die Gegenwart aufgrund des Wissens um die Geschichte; sie beruht auf einer emotionalen Belastung durch Gefühle, die als Makel und Befleckung empfunden werden, als eine Einschränkung der eigenen Lebens- und Handlungsmöglichkeiten durch ein vergangenes Übel. Diese Belastung löst nicht nur den Wunsch aus, sich in der Welt nützlich zu machen, sondern ist mit dem Verlangen nach Reinigung und Versöhnung verbunden. 9 Heute ist es in säkularen Kontexten schwierig, diesen Zusammenhang von Unrecht, ererbter Belastung und Wunsch nach Reinigung und Versöhnung überhaupt als einen Schuldzusammenhang zu begreifen, da er nicht zu dem modernen normativen Verständnis einer allein auf der menschlichen Autonomie grün9
Paul Ricœur hat mit einem Seitenblick auf die Doppelfunktion des antiken Gottes Apollo – ein Gott, »der abwäscht«, aber auch die schlichte Wahrheit sagt (Kratylos 404 e – 406 a) – vermutet, dass Wahrhaftigkeit im menschlichen Seelenleben eine solche reinigende Funktion haben kann. Vgl. Paul Ricœur, Die Symbolik des Bösen, Freiburg 1988, S. 56. Die Erwartungen, die sich in Ländern wie Südafrika und Argentinien an die Wahrheitskommissionen gerichtet haben, die nicht der Sanktionierung der Täter, sondern der Aufarbeitung und Anerkennung historischen Unrechts widmen, zeigen, dass diese Vorstellung, die vermutlich der Psychoanalyse entstammt, verbreitet ist.
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denden moralischen Schuld passt. Allein die Idee, durch eine Schuld belastet zu sein, die man sich nicht durch vorwerfbares Verhalten aufgebürdet hat, erscheint im Lichte des modernen Schuldbegriffes wie ein hölzernes Eisen. Wer der Auffassung ist, dass etwa heutige Generationen von Deutschen Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit zu übernehmen haben, bezeichnet diese Verantwortung daher in der Regel nicht als Schuld, sondern als eine schuldfreie Form von Haftung bzw. Wiedergutmachung. 10 Wenn man sich die verschiedenen Bedeutungen des deutschen Begriffes Schuld und ihre Zusammenhänge vor Augen führt, scheint es gleichwohl nicht abwegig, von einer Schuld ohne Vorwerfbarkeit zu sprechen. 3.
Schuld ohne Vorwerfbarkeit
3.1 Kausale Schuld, Vorwerfbarkeit und Bringschuld Was den Schuldbegriff von dem der Verantwortung unterscheidet, ist die negative Besetzung: Schuld bindet eine Person oder Gruppe an ein geschehenes Übel oder eine die Gegenwart belastende Verpflichtung aufgrund von Vergangenem. X ist schuld an y kann erstens bedeuten, x ist der Verursacher des Übels y (αἴτιος, auctor, author, auteur). X ist schuld an y kann zweitens aber auch besagen, x hat mit der Verursachung von y eine (rechtliche oder moralische) Norm verletzt; in diesem Fall schließt Schuld auch Vorwerfbarkeit ein (ἁμαρτία, culpa, blame, guilt, faute, culpabilité). Im Deutschen wird der Schuldbegriff aber auch in einem weiteren Sinne verwendet, nämlich im dritten Sinne einer Verpflichtung oder Bringschuld, etwa der Verpflichtung, eine empfangene Gabe zurückzuzahlen (das entspricht den Begriffen ὀφείλω, debere, debt, dette). In diesem Sinne spricht man davon, dass x es jemandem schuldig ist/schuldet, y zu tun. Diese Schuld kann sich 10
So z. B. Christian Neuhäuser, Staatsbürgerschaft und Verantwortung für die Vergangenheit: Der Fall des nationalsozialistischen Deutschlands, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 99, Heft 3, 2013, S. 310.
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aus eigenem, aber auch fremdem Handeln und Lassen ergeben. Die drei Bedeutungen der kausalen Schuld, der Vorwerfbarkeit und der Bringschuld können im Einzelfall miteinander zusammenhängen, sind aber nicht notwendig verbunden. Ich kann schuldig im Sinne von Vorwerfbarkeit sein, weil ich fahrlässig oder vorsätzlich etwas Übles getan habe; und daraus ergibt sich eine Bringschuld, den Schaden oder die Verletzung wieder gutzumachen. Ich kann jedoch auch schuldig im Sinne von Vorwerfbarkeit sein, ohne die mir vorwerfbaren Übel selbst verursacht zu haben, etwa, indem ich als Verantwortliche über die Schlampereien in meiner Abteilung hinweggesehen oder sie gedeckt habe. Und ich kann eine Bringschuld haben – etwa die sittliche Verpflichtung, gewisse Schulden meiner verstorbenen Eltern zurückzuzahlen –, ohne mir diese Schuld durch eigenes Tun und Lassen zugezogen zu haben; aus der Nichterfüllung dieser Bringschuld kann moralische Schuld/Vorwerfbarkeit entspringen. 3.2 Seinsschuld, tragische Schuld und Erbsünde Die dritte Form der Schuld wird in vielen Religionen als die ursprüngliche verstanden, die auch der durch eigenes Tun erzeugten Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit zugrunde liegt. Sie bezieht sich in besonderem Maße auf die heteronome Seite der menschlichen Existenz: Man geht davon aus, dass die Menschen ihre Existenz nicht selbst erzeugt haben, sondern sie ihnen von den Göttern verliehen wurde. 11 So beginnt die menschliche Schuld in der augustinisch-christlichen Tradition mit dem Verschuldetsein gegenüber dem Schöpfergott, der uns die Existenz und die Fähigkeit verliehen hat, angemessen auf ihn zu reagieren. Die Begriffe Sünde (peccatum) und moralische Schuld (culpa) stehen für die Verwerflichkeit und Vorwerfbarkeit von Handlungen und Willensregungen, mit denen Gesetze Gottes übertreten werden. Eine solche Übertretung ist
11
David Graeber, Debt. The First 5.000 Years, New York 2011, S. 56.
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jedoch nur vorwerfbar vor dem Hintergrund der vorgängigen Verschuldung, in der das Geschöpf gegenüber dem Schöpfer steht: Niemand aber schuldet etwas, das er nicht empfangen hat. Doch wer etwas schuldet, wem schuldet er’s? Doch nur dem, von dem er es empfing, wodurch er Schuldner ward […] Nun, so frage, was die sündige Kreatur schuldet, und du wirst finden: Die gute Tat. […] Zahlt sie nicht durch Erfüllung der Gerechtigkeit, so zahlt sie durch Erleiden des Elends. In beiden Fällen kommt der Schuldbegriff zu seinem Recht … 12
Diese Schuld ist nicht mit Täterschuld zu verwechseln. Sie ist mit der menschlichen Existenz verknüpft, insofern Menschen keine selbstgeschaffenen Wesen sind, sondern gottgeschaffen – nennen wir sie daher Seinsschuld. Aus der Seinsschuld ergeben sich Verpflichtungen gegenüber den Vorfahren und Göttern, etwa als Pflicht zum Opfer und zur Einhaltung der Gesetze. Erst aus der Verletzung dieser Verpflichtungen kann dann überhaupt Schuld im Sinne eines auch individuell zurechenbaren Fehlverhaltens entspringen. Aber auch mit Blick auf individuelles Fehlverhalten haben sich in der Antike und dem christlichen Mittelalter komplexe Schuldauffassungen wie die »tragische« Schuld und die »Erbsünde« entwickelt, die nicht auf Vorwerfbarkeit reduzierbar sind. Bei den Tragödien des fünften Jahrhunderts v. Chr. entwickelt sich die individuelle Schuldung stets in Schuldzusammenhängen, die nicht in der Macht des individuellen Täters stehen, wie in Sophokles’ Ödipus Rex. Zwar stellt sich mit Blick auf das Schicksal von Ödipus durchaus die Frage nach der individuellen Schuld, jedoch in einem Kontext, in dem die Schuld eine weit über die vorwerfbare Täterschuld hinausgehende Bedeutung haben und die gesamte Gemeinschaft einbeziehen kann. Ödipus ist gleichzeitig derjenige, der durch ein dem eigenen Charakter entspringendes Handeln einen Totschlag begeht, und derjenige, der (mit Blick darauf, dass es sein Vater ist) unwissend handelt, dem subjektiv daher kein 12
Augustinus, De Libero Arbitrio, Buch 3, Theologische Frühschriften vom freien Willen und von der wahren Religion, übers. u. hg. v. Wilhelm Thimme, Zürich/Stuttgart 1962, S. 303.
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Vatermord vorzuwerfen ist, auch wenn er sich hätte besonnener verhalten können. 13 Hier stellt sich daher nicht die Frage nach der Bestrafung vorwerfbaren Verhaltens, sondern nach der Reinigung der Gemeinschaft von den Folgen des Verbrechens. Nach der Erbsündelehre wurde der Mensch ursprünglich als freies Wesen ohne Unvollkommenheit erschaffen. Aufgrund der Ursünde (peccatum originale) Adams wurden seine Erkenntnisfähigkeiten und seine Fähigkeit, sich gegen die niederen Begierden durchzusetzen, jedoch so beschädigt, dass er nicht mehr fähig ist, das Gute selbständig zu verwirklichen, sondern dazu neigt, sich immer weiter in Schuld zu verstricken. Aufgrund dieser Schwäche treten andere Reaktionen auf Schuld in den Vordergrund als die Bestrafung, die angesichts der sündhaften menschlichen Natur ohnehin keine nachhaltige Wirkung haben kann. Der Erbschuldgedanke ist nicht auf Bestrafung als angemessene Reaktion bezogen, sondern auf Verzeihung und Gnade. Eine Analyse dieser Konzepte würde in diesem Rahmen freilich zu weit führen, zumal uns im Lichte des modernen Konzepts die tragische Schuld des Ödipus ebenso inkohärent und widersprüchlich anmutet wie der Gedanke einer aus Adams Ursünde herrührenden Erbschuld. Wie kann ein Mensch Schuld tragen für etwas, auf das er keinen Einfluss nehmen konnte? Herbert Schnädelbach hat diesem modernen Verständnis dramatischen Ausdruck verliehen, als er in einem ZEIT-Artikel um die Jahrtausendwende das christlich-augustinische Verständnis einer durch die Verbindung zu Adam ererbten Schuld als Aberglauben, Unsinn und »menschenunwürdig« bezeichnete. 14 In der Tat kann man den Erbschuldgedanken nur als groteske Zumutung empfinden, wenn man vom Bild des einzelnen Menschen als eines Wesens ohne kollektive Vergangenheit ausgeht, dessen moralische
13
Vgl. hierzu die Ausführungen zu Ödipus bei Arbogast Schmitt, Wesenszüge der griechischen Tragödie: Schicksal, Schuld, Tragik, in: Tragödie. Idee und Transformation, hg. von Helmut Flashar, Stuttgart 1997, S. 24–39. 14 Schnädelbach, Herbert, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren, DIE ZEIT No 20/2000 11. Mai 2000.
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Identität allein selbst gemacht ist, und Schuld mit persönlicher (moralischer oder rechtlicher) Vorwerfbarkeit gleichsetzt. Der Zugewinn an Präzision, den der Schuldbegriff hierdurch gewinnt, wird jedoch dadurch erkauft, dass viele der aus unserer ja faktisch durchaus nicht voraussetzungslosen Existenz entspringenden Schuldgefühle und Schuldzuschreibungen unverständlich werden bzw. wie irrtümliche Schuldgefühle behandelt werden. Denn schließlich entwickelt sich auch in der modernen Welt menschliches Tun und Lassen aus einer Vorgeschichte und Zugehörigkeit zu Kollektiven, denen wir unsere Weltanschauungen, Wünsche, Gewohnheiten und Einstellungen verdanken, ob wir dies wollen oder nicht; damit sind wir faktisch aber auch immer schon irgendwie in Schuldzusammenhänge verstrickt. 3.3 Agent-Regret In der Praxis gehen wir heute wohl nicht anders als in der Antike davon aus, dass wir nicht nur an dem »schuld« sind, was wir selbst vorsätzlich oder fahrlässig herbeiführen, sondern auch an vielem, was wir ungewollt verursachen oder als Schulden (aus familiären und nationalen Zusammenhängen) erben. So entwickeln wir im Alltagsleben nicht selten Schuldgefühle, auch wenn uns eigentlich nichts vorgeworfen werden kann, weil wir in unserem Handeln keine Pflicht verletzt haben. Dabei treten unterschiedliche Typen nicht vorwerfbarer Formen von Schuld auf, die schlecht in das Schema moralischer Schuld passen, aber auch keine Irrtümer darstellen. Oft geht es um Leid, das wir ungewollt erzeugt haben. So werden Schuldgefühle nicht selten dadurch ausgelöst, dass man im kausalen Sinne »schuld an« einem schlimmen Ereignis ist, ohne dass einem vorgehalten werden könnte, man hätte sich anderes verhalten müssen. Ein Beispiel, das der englische Moralphilosoph Bernard Williams als einen Fall von Moral Luck diskutiert hat: Wir würden es zwar für unangebracht halten, einen Lastwagenfahrer zu tadeln, der ein Kind überfährt, das unerwartet auf die Straße springt. Es wäre uns jedoch alles andere als unverständlich, wenn er sich schuldig fühlt, auch wenn ihm keine Fahr150 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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lässigkeit vorzuwerfen ist. Bernard Williams spricht hier von agent-regret, einem Schuldgefühl, das nicht mit Selbstvorwürfen verbunden ist, aber an das Bewusstsein gebunden ist, dass man selbst durch eigenes Handeln ein Übel herbeigeführt hat. 15 Dieses Schuldbewusstsein ist nicht mit bloßer Traurigkeit oder Entsetzen über den Unfall zu verwechseln, denn es bezieht sich ja auf die eigene kausale Rolle: Der Täter fühlt sich schuldig an dem Tod des Kindes, obgleich er ihn weder wollte noch fahrlässig in Kauf genommen hat. Wie Williams argumentiert, würden wir unserer Alltagsethik nicht gerecht werden, wenn wir uns Agent-Regret als ein »irrtümliches« Schuldgefühl wegerklären würden, so als beruhten solche Schuldgefühle auf dem Missverständnis, man habe etwas falsch gemacht, obgleich man tatsächlich nichts falsch gemacht hat. Wir würden es umgekehrt als ein moralisches Defizit betrachten, wenn der Lastwagenfahrer in unserem Beispiel jegliche Art von Schuldgefühl vermissen ließe. Hier stößt der moderne moralische Schuldbegriff offenkundig an seine Grenzen. Mit Blick auf das Alltagsleben eignet er sich generell schlecht, solche Formen der Verschuldung ohne Vorwerfbarkeit zu begreifen. Zudem haben wir auch keine Grundlage mehr, um anders als anklagend und bestrafend auf Schuld zu reagieren. 16 Das führt dazu, dass wir in Fällen, wo solche Reaktionen inadäquat wären, Schuld bestreiten müssen, obwohl wir sie andererseits in unseren sozialen Erwartungen und Reaktionen (auf die Schuldgefühle des Lastwagenfahrers) praktisch durchaus anerkennen. 3.4 Schuld im Sinne moralischer Haftung Es gibt aber auch Schuldphänomene – nämlich Lasten und Verpflichtungen gegenüber anderen – die sich aus eigenem Tun ergeben, das weder vorwerfbar ist noch beim Handelnden mit Gefühlen wie Reue und Bedauern verbunden ist. Auch für diese Art
15 16
Bernard Williams: Moral Luck, in: ders., Moral Luck, Cambridge 1981, S. 28. Vgl. Grätzel 2004, S. 10.
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von Schuld verfügen wir über keinen Begriff, um sie von Schuld im moralischen Sinne zu unterscheiden. Am ehesten bietet sich der Begriff moralische Haftung dafür an. Darunter verstehe ich ein Festhängen oder Festkleben an den Auswirkungen oder Nebenwirkungen unseres Lebens im Sinne von Verpflichtungen gegenüber anderen, die sich daraus ergeben. Schuld im Sinne moralischer Haftung bemisst sich auch nicht nur an dem, was jemand getan hat, sondern an den Konsequenzen, die dieses Tun für die davon Betroffenen hat. Wenn Sie in den Bergen in ein lebensgefährliches Unwetter geraten und in ein unbewohntes Ferienhaus einbrechen, um sich zu schützen, ist ihnen das nicht vorwerfbar. Es wäre auch ethisch falsch, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nur um eine relativ belanglose Schädigung fremden Eigentums zu vermeiden. 17 Mit Ihrem Verhalten verschulden Sie sich aber gleichwohl gegenüber der Person des Eigentümers, woraus sich die Verpflichtung ergibt, sich ihr gegenüber zu erklären, zu entschuldigen und sie materiell zu entschädigen. Auch wenn wir keinen etablierten Begriff für dieses Schuldphänomen haben, ist die Praxis der moralischen Haftung durchaus in unseren Intuitionen, Gefühlen und sozialen Reaktionen verwurzelt. Damit meine ich: Wir fühlen uns oft moralisch verpflichtet, Verletzungen oder Missachtungen wieder gutzumachen, an denen wir »schuld sind«, auch wenn sich unser Handeln entschuldigen oder sogar rechtfertigen lässt und wir keinerlei Reue oder Bedauern empfinden. Und in welcher Form eine Person für welche Handlungen, Unterlassungen oder auch nur lose mit ihrer Existenz verbundenen Vorgänge moralisch haftbar ist, hängt im heutigen Leben nicht anders als im archaischen von den jeweils betroffenen sozialen Beziehungen ab. Hier handelt es sich weniger um festgelegte Pflichten, die sich auf allgemeine Handlungstypen beziehen. Oft ergibt sich die moralische Haftbarkeit erst aus der individuellen Eigenart der Betroffenen und ihrer individuellen Geschichte, etwa aus der besonderen Empfindlichkeit oder Ver-
17
Diesen Fall entlehne ich Peter Cane; vgl. ders., Responsibility in Law and Morality, Oxford 2002, S. 107.
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letzbarkeit einer individuellen Person; wir fühlen uns schuldig, weil wir wissen, welche Auswirkungen unser Handeln (etwa die Absage einer Verabredung aus gutem Grund) bei einer bestimmten Person von einer bestimmten Empfindlichkeit hat, auch wenn es uns als Handlungstyp nicht vorwerfbar ist. 3.5 Das Gefühl der Korrumpiertheit Es können aber auch Schuldgefühle auftreten, die sich nicht auf eigene Handlungen, sondern auf unsere Existenz oder Lebensform beziehen, auch wenn sie nicht in unserer Macht steht. Menschen, die in einer Gesellschaft leben, deren Strukturen sie als ungerecht empfinden, ohne dass sie wüssten, was sie daran ändern könnten, entwickeln oft Gefühle der Mitschuld oder Korrumpiertheit, insbesondere wenn sie als Mitglied einer privilegierten Schicht ungewollt von der Ungerechtigkeit profitieren. Dieses Phänomen hat mehr mit der antiken Vorstellung von Schuld im Sinne einer objektiven Befleckung als mit dem modernen Gedanken der moralischen Schuld gemein. Auch das Gefühl des Korrumpiertseins ist nicht notwendig mit Selbstvorwürfen bezüglich eigener falscher Entscheidungen verbunden; gleichwohl ist es das Bewusstsein eines Makels. Wer sich so befleckt fühlt, dessen Leben ist in einem wichtigen Aspekt missraten, ohne dass dieses Missraten der Person selbst vorwerfbar wäre. Insofern der Einzelne hier gerade nicht glaubt, voraussetzungsfrei sein eigenes Leben bestimmen zu können, sondern eher das Gefühl hat, in einem Schuldgeflecht verfangen zu sein, das die eigene Fähigkeit trübt, andere Möglichkeiten wahrnehmen und wollen zu können, scheint auf solche Lebenssituationen eher das Konzept der Erbsünde zu passen als das moderne der moralischen Schuld. Nicht dass ich empfehlen wollte, es ohne Weiteres wieder anzuwenden; das wäre nur möglich, wenn wir diesem Konzept einen säkularen Sinn geben könnten.
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3.6 Schuld im Kontext von Großverbrechen Während wir mit dem Gedanken der Erbschuld heute wenig anfangen können, betrachten wir uns im Alltagsleben durchaus nicht als voraussetzungslose Autoren unseres Lebens, die unschuldig geboren werden und ihre Schuld allein selbst erzeugen. Wir werden nicht unbelastet von der Vergangenheit geboren, sondern nehmen uns beispielsweise als Deutsche mit einer nationalen Vergangenheit wahr, die sich belastend auf unsere Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten auswirkt und deren Last wir weder ohne Weiteres abschütteln noch ignorieren können. Auch die eigene Familiengeschichte kann schuldbeladen sein. Die Schuldgefühle, die auch nachfolgende Generationen der Tätergeneration hier entwickeln, entspringen möglicherweise dem Gefühl, seine eigene Identität gar nicht von der Kultur oder dem Kollektiv ablösen zu können, die diese Verbrechen ermöglicht hat – also einer Art historischen Erbsündevorstellung. Manche Schuldgefühle, durch die Unbeteiligte und auch noch nachfolgende Generationen belastet sind, entspringen dem Bewusstsein der kulturellen und sozialen Verbindung mit der vergangenen sozialen Welt und dem Bewusstsein einer Verbindung mit problematischen Denkmustern, durch die ja auch die eigene Identität geprägt ist. Die Erbschuld besteht darin, dass beispielsweise »typisch deutsche« Verhaltensweisen nicht als »unschuldig« wahrgenommen werden, sondern bei geringstem Grund zum Misstrauen als etwas potentiell Sinisteres in den Blick genommen werden können. Wer sich »als Deutscher« oder als »ehemals überzeugter Kommunist« schuldig fühlt, nimmt die Kultur, die Gesellschaft oder die politische Bewegung, an der man teilhatte – und nicht etwa nur einzelne Individuen in der Rolle der »Verbrecher« –, als etwas Übel Erzeugendes wahr. Das bedeutet nicht zu bestreiten, dass Hitler, Stalin und ihre Mittäter als verantwortliche Individuen schwere Verbrechen begangen haben. Gegen die Reduktion der Schuld auf rechtliche und moralische Zurechnungen zu Individuen spricht jedoch, dass diese Verbrechen nicht von ihnen als letzten Urhebern ihrer Ideen und Taten ex nihilo erfunden wurden, sondern in einer bestimmten kulturellen Situation mit zugleich aggressiven 154 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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und messianischen Erwartungen möglich geworden sind, in der beispielsweise der Begriff des Führers schon eine Weile, bevor Hitler ihn dann für sich übernahm, große Wertschätzung erfuhr oder in der die bürgerliche Moral verachtet wurde. Vermutlich wäre ein Großteil der Täter in einem anderen kulturellen und historischen Kontext nie durch Verbrechen welcher Art auch immer aufgefallen. Die Schuld, die von Großverbrechen wie einem organisierten Völkermord auf nachfolgende Generationen übergeht, hat nichts mit Vorwerfbarkeit zu tun, wird aber mangels eines differenzierten Schuldverständnisses oft so empfunden. Das hieraus entstehende latent schlechte Gewissen ist einer freien und nüchternen Aufarbeitung der Schuld nicht förderlich. Die Verwechslung von Schuld mit vorwerfbaren Handlungen kann ebenso zur Schuldverdrängung wie umgekehrt zu irrationalen Praktiken der präventiven Schuldzuschreibung an das eigene Kollektiv führen, etwa wenn alles, was in Afrika an Übeln geschieht, auf frühere Kolonialuntaten zurückgeführt wird oder man sich ständig von deutschen Charakterzügen distanzieren zu müssen meint. Das sind Reaktionen, die sich eigentlich nur aus der Sorge erklären lassen, möglichen Vorwürfen oder negativen Einschätzungen durch präventive Schuldbekenntnisse oder Distanzierungen zuvorkommen zu müssen, auch wenn einem gar nichts vorzuwerfen ist. Aus gutem Grund hat sich Jaspers gegen kollektive Schuldzuschreibungen (im Sinne von Vorwerfbarkeit) für die Verbrechen anderer gewandt, was umso mehr für die Verbrechen früherer Generationen gilt. Im Lichte des modernen Schuldbegriffes ist es jedoch unklar – und schwerlich erklärbar –, wie die ererbte Schuld überhaupt zu begreifen ist, wenn nicht als Vorwerfbarkeit. Ausgehend vom modernen Schuldverständnis kann man Schuldgefühle aufgrund der Zugehörigkeit zu Kollektiven eigentlich nur als Irrtum, als Verwechslung von Schuld mit anderen Gefühlen betrachten, wie es Michael Schefczyk konsequenterweise vorschlägt: Das Gefühl der moralischen Kollektivschuld von Personen, die keine Pflichten verletzt haben, wäre […] in Wahrheit a) ein Gefühl von
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Trauer oder Entsetzen über ein historisches Ereignis, verbunden b) mit der Überzeugung, daß das Wissen über dieses Ereignis die Art prägt, in der Mitglieder des betreffenden Kollektivs von Anderen wahrgenommen und behandelt werden. 18
In der Tat folgt aus dem bloßen Faktum, dass der Holocaust und die deutschen Kriegsverbrechen auf diffuse Weise aufgrund ihrer Nationalzugehörigkeit auch als moralische Kollektivschuld Personen zugeschrieben werden, die nicht selbst direkt oder indirekt an Verbrechen beteiligt waren und als Nachkommen dies auch gar nicht hätten sein können, noch nicht, dass solche Zuschreibungen auch berechtigt sind. So wie Sophokles seine Figur Ödipus in Ödipus auf Kolonos die moralischen Vorwürfe Kreons zurückweisen lässt, der mit der Moralisierung der Schuld seine eigenen politischen Pläne verfolgt, so haben Deutsche späterer Generationen guten Grund, moralische Vorhaltungen für Taten, die ihnen nicht persönlich zuzurechnen sind, als Kategorienfehler und unzulässige Erpressungsmanöver zurückzuweisen. Gleichwohl wäre es unangemessen, die Schuldgefühle derjenigen, die nicht selbst aktiv an Verbrechen teilgenommen haben, für irrational zu erklären. Schuldgefühle späterer Generationen für vergangene Großverbrechen sind m. E. nicht auf das Gefühl von Trauer oder Entsetzen über ein historisches Ereignis reduzierbar, verbunden mit der Befürchtung, ungünstig wahrgenommen zu werden; sie beruhen ja auf dem erschrockenen Bewusstsein, sich als Nachkommen der Täter zwar von den Taten und den Wertvorstellungen der Täter distanzieren zu können, aber gleichwohl auf eine Weise mitbetroffen zu sein, der man sich nicht durch eine freie Entscheidung entziehen kann. In seiner berühmten Schrift Die Schuldfrage hat Karl Jaspers schon 1946 versucht, die Diskrepanz zwischen dem modernen moralischen Schuldbegriff und den Schuldzuschreibungen im historischen Kontext der historischen Wirklichkeit mit Blick auf die Angehörigen der Tätergeneration zu überbrücken. Jaspers unterscheidet zwischen krimineller, politischer, moralischer und me18
Michael Schefczyk, Verantwortung für historisches Unrecht. Eine philosophische Untersuchung, Göttingen 2012, S. 177.
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taphysischer Schuld. Während der Einzelne kriminelle oder moralische Schuld nur für eigene Taten trägt, haftet er politisch auch für die Folgen staatlicher Handlungen. 19 Dass diese Schuldbegriffe unzureichend sind, die Schuldgefühle von Personen zu erfassen, die nicht selbst an Verbrechen beteiligt waren, erkennt Jaspers an, indem er eine Form von Schuld beschreibt – die sogenannte metaphysische Schuld –, die mit der Natur des Menschen als eines unvollkommenen Wesens verbunden ist. Wenn ich ihn richtig verstehe, ergibt sie sich nicht aus der vorwerfbaren Verletzung einer moralischen Regel, sondern aus dem Bewusstsein eines menschlichen Makels, das sich angesichts von Verbrechen und überhaupt von menschengemachtem Übel einstellt, auch wenn die Verhinderung dieser Verbrechen und Übel nicht in der eigenen Macht liegt. Dazu schreibt er: Metaphysische Schuld: Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabei gestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich. 20
Gemeint ist hier nicht eine moralische Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit; metaphysische Schuld entspringt nicht einer moralisch vorwerfbaren Unterlassung. Nach Jaspers kann sie beispielsweise in Gestalt des Bewusstseins auftreten, dass man es versäumt hat, Solidarität mit den Opfern von Verbrechen zu zeigen, auch wenn dies den Opfern nichts genützt und einen selbst in Lebensgefahr gebracht hätte. Obgleich ein solches Versäumnis gar nicht als Verletzung einer moralischen Pflicht verstanden werden kann, bewertet Jaspers solche Schuldgefühle nicht als irrational. Er führt 19 20
Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 32. Jaspers 1946, S. 31.
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diese Schuldgefühle auf ein in der Natur des Menschen verankertes Gefühl zurück, nämlich auf eine gefühlte Verpflichtung zur Solidarität zwischen Menschen als Menschen. Jaspers Behauptung, diese Solidarität mache »einen jeden mitverantwortlich […] für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt«, wäre überzogen, würde er »mitverantwortlich« im Sinne einer moralischen Vorwerfbarkeit denken. Sowohl empirische als auch normative Gründe sprechen jedoch für Jaspers Annahme. In empirischer Hinsicht scheint es mir evident, dass wir tatsächlich anders auf die Nachricht von Verbrechen reagieren, die wir als Einzelne nicht hätten verhindern können – sagen wir, den Völkermord an den Tutsi –, als auf die Nachricht, dass es Tote bei einem Erdbeben gab. Im Falle des Völkermordes ist es m. E. nicht nur Traurigkeit, was man spürt, sondern durchaus eine Art von Schuld – ohne dass man dabei irrtümlicherweise glauben müsste, es hätte in der eigenen (individuellen) Macht gestanden, die Verbrechen zu verhindern. Menschengemachte Übel rufen ein Schuldgefühl, ein spezielles, auch das eigene Selbstbewusstsein tangierendes Unbehagen unabhängig von Vorwerfbarkeit hervor. Ob wir uns überhaupt betroffen fühlen, hängt natürlich auch davon ab, ob es sich nur um eine knappe Information über Todeszahlen handelt, die eher selten Mitgefühl auslöst, oder um ein Narrativ, das uns verdeutlicht, wie es durch menschliches Handeln und Unterlassen dazu kam. Zudem variieren entsprechende Schuldgefühle in ihrer Intensität stark mit der Nähe oder Distanz zu Tätern und Opfern. Michael Schefcyk hat daher gegen Jaspers Herleitung der metaphysischen Schuld aus einer universalen Verpflichtung zur Solidarität eingewendet, sie sei insofern nicht überzeugend, als sie einem Deutschen um 1946 keinen Grund liefern würde, sich eher schuldig am Tod seines jüdischen Nachbarn zu fühlen als an dem beliebiger Menschen auf diesem Planeten, denen Unrecht geschieht. 21 Die Feststellung, dass wir uns nicht allen Menschen gleichermaßen verpflichtet fühlen, unabhängig von der räumlichen Distanz und den wechselseitigen Beziehungen,
21
Vgl. Schefczyk 2012, S. 107.
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spricht jedoch nicht gegen Jaspers’ Überlegung. Die psychologische Intensität von Schuldgefühlen variiert zweifellos mit der Fähigkeit, uns die Situation der Opfer vorzustellen; sie ist nicht nur durch die räumliche und soziale Distanz bedingt, sondern durch die Formen narrativer Veranschaulichung, die Empathie ermöglichen. Wenn ich Jaspers richtig verstehe, geht es bei der metaphysischen Schuld jedoch um ein Bewusstsein von Unvollkommenheit, das ein Bewusstsein menschengemachter Übel von dem Bewusstsein unterscheidet, dass Menschen beispielsweise Opfer von Naturkatastrophen geworden sind. Der Begriff metaphysische Schuld steht für ein großes Spektrum unterschiedlicher Schuldgefühle, die sich auf entfernte und nahe Personen und Gruppen beziehen. Was hier gleichwohl die Verwendung des Schuldbegriffs rechtfertigt, ist das Mitbetroffensein als Mensch unter Menschen. Dabei verfolgt Jaspers auch ein normatives Anliegen. Er versteht die Anerkennung dieser (und anderer Formen von) Schuld als notwendige Voraussetzung dafür, dass die Kultur, in der das geschehen konnte, sich erneuert. 22 Auf eine andere Weise, die letztlich den Unterschied zwischen metaphysischer und moralischer Schuld wieder verwischt, hat der amerikanische Rechtsphilosoph Larry May den Gedanken der metaphysischen Schuld neu interpretiert. May geht von dem Phänomen aus, dass die Zugehörigkeit zu Gruppen, die an üblen Aktivitäten teilnehmen, bei den Mitgliedern oft Schuldgefühle hervorruft. Diese Schuld, die er in expliziter Anlehnung an Jaspers als »metaphysische« bezeichnet, bezieht sich nach May nicht direkt auf eigene Handlungen oder Unterlassungen, sondern auf die eigene Identität, z. B. als Deutscher. 23 22
Es spricht allerdings einiges gegen die Annahme, dass die bewusste Auseinandersetzung mit historischen Verbrechen auch kulturell zu einer Reinigung führt, wie es sich die Psychoanalyse für die Aufarbeitung individueller Traumata erhofft hat. Kollektive Formen der Erneuerung funktionieren vermutlich nicht über Momente der Katharsis, sondern eher über langwierige Prozesse des Wandels. Vgl. hierzu die Kritik von Margalit an den überzogenen Hoffnungen, allein durch die Wahrheit eine Reinigung herbeizuführen: Avishai Margalit, The Ethics of Memory, Cambridge 2002, S. 6. 23 Larry May, Metaphysical Guilt and Moral Taint, in: Collective Responsibility.
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May interpretiert jedoch, anders als Jaspers, die Schuld aufgrund kollektiver Zugehörigkeiten moralisch, insofern er sie aus den individuellen Entscheidungen autonomer Wesen herleitet, wenn auch nicht aus Entscheidungen zu eigenen Handlungen. In Anlehnung an den existentialistischen Ansatz Sartres führt May die mit der Identität verbundene Schuld auf Einstellungen gegenüber der Gruppe zurück, die sich die Gruppenmitglieder als freie Entscheidungen selbst zuschreiben müssen: Wer mit anderen gewisse Einstellungen wie Rassismus teilt, fühlt sich zu Recht mitverantwortlich für Gewaltakte, die von anderen Personen aufgrund dieser Einstellungen begangen werden. Und das ist nach May nicht nur berechtigt, weil man sich leicht vorstellen kann, dass man selbst diese Gewaltakte hätte begehen können, sondern vor allem deswegen, weil man sich die Einstellungen, die bei anderen zur Gewalt geführt haben, selbst zuschreiben muss: »Metaphysical guilt is based not on a narrow construal of what one does, but rather on the wider concept of who one chooses to be«. 24 Auf diese Weise werden kollektive Schuld und moralische Befleckung auch mit modernen Paradigmen beschreibbar, aber um den Preis, dass man sie letztlich doch auf moralische Vorwerfbarkeit reduziert. Das hat die Konsequenz, dass sich auch als Umgang mit Schuld letztlich nur moralische Kritik oder Selbstkritik anbietet. Der existentialistische Versuch, Schuld nicht nur als moralische Täterschuld zu denken, sondern auf die eigene Identität und Mitgliedschaft in Kollektiven zurückzuführen, bleibt dem modernen Schema verpflichtet und steigert es noch. In dem Maße, in dem die moderne Ethik Schuld nur als moralische Vorwerfbarkeit denken kann, bieten sich auch als Reaktion auf Schuld nur Selbstkritik und eine Steigerung des Gedankens der eigenen Kontrolle an. Die Möglichkeit einer Reinigung oder Kultivierung von Schuld durch Gesten der Trauer, der Gnade und Versöhnung, die für das antike Schuldverständnis und das christliche prägend waren, bleibt diesem Schuldverständnis verschlossen. Five Decades of Debates in Theoretical and Applied Ethics, Hrsg. Larry May und Stacey Hoffmann, Lanham 1991, S. 239–254, S. 240. 24 May 1991, S. 241.
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Schuld ohne Vorwerfbarkeit
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Fabian Bernhardt
Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung 1
1.
Achilles und Marianne
Beginnen möchte ich mit zwei Geschichten. Die erste ist weithin bekannt. Sie handelt von Achilles, dem vielleicht größten Zornigen der abendländischen Heldengeschichte. Erzählt bzw. besungen wird sie in der homerischen Ilias, die als das erste Epos unserer Überlieferung gilt. Und am Anfang der Ilias steht, ganz buchstäblich, der Zorn 2 (gr. μῆνις): »Den Zorn singe, Göttin, des PeleusSohns Achilleus …« 3 Was hat den Zorn des Achilles erregt? Genau genommen sind es zwei Kränkungen. Die erste geschieht Achilles durch Agamemnon, den Anführer des achaiischen Heeres. Er nimmt Achilles die Sklavin Briseïs weg, die ihm zuvor rechtmäßig als Ehrengeschenk zugeteilt worden war: ein symbolischer Akt der Herabsetzung, der einzig darauf abzielt, öffentlich zu demonstrieren, wer im Rang höher steht. Was Achilles schließlich auf das Schlachtfeld treibt, ist jedoch nicht die Kränkung, die Agamemnon ihm zugefügt hat, sondern, wie der Althistoriker Hans-Joachim Gehrke schreibt, »ein anderer Zorn, ein größerer, gepaart mit Rachedurst, ein un1
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, der bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurde; vgl. Fabian Bernhardt: Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung, in: Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich (Hg.), Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters (= Aventiuren, Bd. 8), Göttingen 2014, S. 49–71. 2 Vgl. dazu auch Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a. M. 2006, S. 9–22 (Abs. »Europas erstes Wort«). 3 Homer: Ilias, I, 1 (Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt).
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Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung
versöhnlicher« 4 – er entzündet sich in jenem Augenblick, in dem Achilles vom Tod seines geliebten Freundes Patroklos erfährt. Untröstlich über den Verlust des Freundes, der von dem Troerprinzen Hektor im Kampf getötet wurde, gerät Achilles in einen Furor, der ebenso unerbittlich wie maßlos ist. Zahllose troische Krieger fallen seinem Zorn zum Opfer, schließlich Hektor selbst, dessen Leichnam Achilles auf grausame Weise schändet – unversöhnlich, noch über den Tod hinaus. Die zweite Geschichte handelt von einer Frau: Marianne Bachmeier. Sie steht im Mittelpunkt eines der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der Bundesrepublik. 5 Marianne Bachmeiers Tochter Anna ist sieben Jahre alt, als sie tot aufgefunden wird, erdrosselt und nachlässig in einer Erdmulde verscharrt. Als mutmaßlicher Täter wird Klaus Grabowski verhaftet, der wegen Sexualdelikten an Kindern mehrfach vorbestraft ist. Am 6. März 1981 erscheint Bachmeier im Lübecker Schwurgericht und schießt auf Grabowski, insgesamt acht Mal. Sechs Schüsse treffen. Der Angeklagte – er hatte im Laufe der Vernehmungen gestanden, das Kind mit einer Strumpfhose erdrosselt zu haben – stirbt noch im Gerichtssaal. Eine unkontrollierte Affekthandlung oder vorsätzlicher Mord? Diese Frage steht im Zentrum des darauf folgenden Prozesses gegen Bachmeier, der von einem gewaltigen Medienrummel begleitet wird. Das Gericht folgt weitgehend der Argumentation der Verteidigung und verurteilt Marianne Bachmeier am 2. März 1983 wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes zu sechs Jahren Haft. Aus juristischer Sicht eine Fehleinschätzung, wie wir heute wissen: So erzählt eine Freundin Jahre später, dass Marianne vor ihrer Tat im Keller Schießübungen gemacht habe. Und Bachmeier selbst erklärt 1995 live in einer Talk4
Hans-Joachim Gehrke: Die Griechen und die Rache. Ein Versuch in historischer Psychologie, in: Saeculum 38 (1987), S. 121–149, hier S. 139. 5 Im Internet finden sich zahlreiche Berichte über Marianne Bachmeier. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich auf folgende Quellen: Irene Altenmüller: Vor 30 Jahren: Marianne Bachmeier verurteilt, http://www.ndr.de/kultur/ geschichte/chronologie/mariannebachmeier101.html vom 27. 02. 2013 sowie die TV-Dokumentation Die Rache der Marianne Bachmeier (Regie: Michael Gramberg, Westdeutscher Rundfunk 2006).
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Fabian Bernhardt
show, dass es ihr darum gegangen sei, Grabowski daran zu hindern, vor Gericht weiter Unwahrheiten über Anna zu verbreiten und deren Ansehen öffentlich in den Schmutz zu ziehen. Achilles und Marianne – hier das antike Griechenland und der mythenumwobene Krieg um Troja, dort die zivile Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre; auf der einen Seite das agonale, um den Begriff der Ehre zentrierte Ethos der alten Griechen, denen Tapferkeit als wichtige Tugend galt und der Verzicht auf Rache mithin als Signum der Schande, auf der anderen Seite die auf maximale Gewaltreduzierung abgestellte Moral der spätbürgerlichen Moderne, die sich (unter anderem) in einer ausgeklügelten Affektkontrolle und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit manifestiert. Die historische und kulturelle Kluft zwischen beiden Kontexten könnte kaum größer sein. Hinzu kommt, dass wir es bei der Ilias mit einem Werk der Dichtkunst zu tun haben, im Fall Marianne Bachmeier hingegen mit Ereignissen, die tatsächlich passiert sind. Welchen Grund kann es also geben, diese beiden Erzählungen so unvermittelt nebeneinander zu stellen? Den folgenden: Trotz der extremen Distanz, die die homerische Welt von der heutigen Wirklichkeit trennt, zögert man keinen Augenblick, im einen wie im anderen Fall vorbehaltlos von Rache zu sprechen. Ohne jede Schwierigkeit nehmen wir zwischen der Geschichte des Achilles und der Geschichte von Marianne Bachmeier eine grundlegende Verwandtschaft wahr, eine semantische Nähe, die es uns ermöglicht, beide Erzählungen unmittelbar als Rachegeschichten zu identifizieren. Diese Nähe ist umso erstaunlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, wie unterschiedlich der Stellenwert ist, der der Rache innerhalb der sozialen und politischen Rahmenbedingungen in beiden Fällen jeweils zugeschrieben wird. Das griechische Denken und Empfinden war von einem spezifischen »Ethos der Rache« 6 geprägt. Das heißt freilich nicht, dass den Griechen – zumal denen des klassischen Zeitalters – der Rechtsgedanke völlig fremd gewesen wäre; im Gegenteil. 7 Anders als in der bürgerlichen Mo6 7
Gehrke: Die Griechen und die Rache, S. 143. »Ja das Ringen um Gerechtigkeit, um eine Regelung der sozialen Beziehungen
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derne wurde das Verhältnis zwischen Recht und Rache in der griechischen Vorstellungswelt jedoch nicht zwingend als Opposition gedacht. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass im Wortschatz des Altgriechischen zwischen privater ›Rache‹ und gesetzlicher ›Strafe‹ nicht terminologisch unterschieden wurde. 8 Im Denken der Moderne hingegen schließen sich die Begriffe Rache und Recht wechselseitig weitgehend aus. Die Leidenschaften der Individuen stehen gegen das Recht der Gemeinschaft. 9 Unter dem Zeichen des modernen Rechtsstaates wird Rache eindeutig mit einem negativen Index versehen; sie ist dasjenige, was nicht sein soll, da sie das staatliche Monopol der Gewaltausübung und Bestrafung in Frage stellt und zu unterwandern droht. 10 Die Verschiedenartigkeit der gesellschaftlichen Kontexte ermahnt dazu, nicht vorschnell Äquivalenzen zu sehen. Zudem zeigt sie, wie wichtig es ist, die Phänomenologie der Rache von der Frage ihrer normativen Bewertung zu trennen. Ob Rachenehmen als recht oder unrecht, als tugendhaft oder als moralisch verwerflich angesehen wird, ist historisch und kulturell variabel. Diese Unterschiede verflüchtigen sich jedoch, wenn es um die Frage geht, was Rache in ihrem Kern ausmacht. Ebendies zeigt die Leichtigkeit, mit der wir in der Lage sind, zwischen den Taten und Leiden von Achilles und Marianne Bachmeier eine generische Verwandtschaft zu erkennen, ihre Geschichten als Geschichten desselben Typs zu identifizieren. Aufgrund welcher Merkmale? Anhand welcher Strukturen? Was verleiht dem Begriff der Rache – einem Begriff, der offenkundig in der Lage ist, Phäno-
auf der Basis von Recht und Gesetz, ist geradezu ein Signum griechischer Geistigkeit«, schreibt Gehrke ebd. S. 140. 8 Vgl. Walter Burkert: ›Vergeltung‹ zwischen Ethologie und Ethik. Reflexe und Reflexionen in Texten und Mythologien des Altertums (= Carl Friedrich von Siemens Stiftung: Themen, Bd. 55), München 1994, S. 15–18. 9 Vgl. Marcel Hénaff: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. 2009, S. 331; sowie insgesamt zu dieser Thematik S. 330–348 (Abs. »Rächende Gerechtigkeit und schiedsrichterliche Gerechtigkeit«). 10 Vgl. dazu Christoph Menke: Recht und Gewalt, Berlin 2011, insbes. S. 15–40.
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mene aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen in sich zu versammeln – seine semantische Kohärenz? Was also ist Rache? Man sieht nun, weshalb die titelgebende Frage dieses Aufsatzes in dieser einfachen Form gehalten ist: Was ist Rache? Nach einer Antwort auf diese Frage suchen heißt nach den Konturen eines Begriffs fragen, der die bemerkenswerte Eigenschaft besitzt, zugleich semantisch überdeterminiert und systematisch unterbestimmt zu sein. Semantisch überdeterminiert, insofern ›Rache‹ zu jenen affektiv hochgradig aufgeladenen Begriffen zählt, bei denen oftmals der bloße Klang genügt, um eine Vielzahl von Vorstellungen, Bildern und Empfindungen wachzurufen; Assoziationen, die meist von starken normativen Wertungen und Emotionen begleitet sind. Fast jedem, der das Wort Rache hört, fällt dazu etwas ein. Und fast immer hat dieser Einfall die Form einer Geschichte, was (wie sich bald zeigen wird) keineswegs zufällig ist. Systematisch unterbestimmt, insofern bislang erstaunlich wenig philosophische und allgemein theoretische Aufmerksamkeit darauf verwendet wurde, Rache begrifflich zu klären und unser Verständnis der mit diesem Ausdruck assoziierten Phänomene zu vertiefen und zu erhellen. 11 Zwar lassen sich in der Geschichte der Philosophie durchaus Autoren namhaft machen, die sich zur Rache geäußert haben, 12 doch bleibt es in der Regel bei marginalen Bemerkungen. Sofern Rache überhaupt philosophisch thematisiert wurde, geschah dies zudem meist in theoretischen Zusammenhängen, die auf normativen Voraussetzungen gründen, welche einen unvoreingenommenen Blick auf die Rache von vornherein erschweren, 11
Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt das vierbändige, von dem französischen Ethnologen Raymond Verdier und seinen Mitarbeitern herausgegebene Dossier La vengeance. Études d’ethnologie, d’histoire et de philosophie (Paris 1980–1984) dar, das multidisziplinäre Studien zur Rache versammelt. – Zu dem Thema empfehlenswert sind zudem der überwiegend sozial- und rechtswissenschaftlich ausgerichtete Sammelband Vergeltung. Eine interdisziplinäre Betrachtung der Rechtfertigung und Regulation von Gewalt (hg. v. Günther Schlee u. Bertram Turner, Frankfurt a. M. 2008) sowie das von der amerikanischen Journalistin Susan Jacoby verfasste Buch Wild Justice. The Evolution of Revenge (New York 1983). 12 Vgl. hierzu als Überblick Peter Probst/Gerhard Sprenger: Rache, in: Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971–2004. Bd. 8 (1992), Sp. 1–6.
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wie etwa in der Rechts-, Staats- oder Moralphilosophie. Wenn es darum geht, Rache so zu begreifen, wie sie sich in ihren konkreten Erscheinungsformen zeigt, kann man also nur auf wenige Vorarbeiten zurückgreifen. Diese Bemerkungen erlauben es, das Programm der nachfolgenden Untersuchung genauer zu umreißen. Das übergeordnete Ziel meiner Überlegungen besteht darin, die allgemeinen Strukturen zu explizieren, die dem Rachebegriff seine semantische Kohärenz verleihen. Die größte Schwierigkeit dabei besteht darin, analytische Kategorien ausfindig zu machen, die der doppelten Anforderung genügen, einerseits hinreichend allgemein zu sein, um der Universalität des Rachephänomens Rechnung zu tragen, und andererseits hinreichend flexibel, um sich den jeweiligen historischen und kulturellen Besonderheiten sensibel anpassen zu können. Die Frage lautet also, welche Begriffe in der Lage sind, den Abstand zwischen den beiden eingangs genannten Fällen – Achilles und Marianne – zu überbrücken und gleichzeitig ihrer Spezifik gerecht zu werden. Es liegt auf der Hand, dass hierfür nur solche Begriffe in Frage kommen, die möglichst keine normativen Vorannahmen in die Untersuchung einfließen lassen. Methodisch geht damit die Forderung einher, die habituellen Wertungen und Urteile, mit denen man der Rache sonst begegnet, für die Dauer der Untersuchung einzuklammern. Um es ganz deutlich zu sagen: die Frage, ob und unter welchen Umständen Rache als moralisch gerechtfertigt angesehen werden kann, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Nicht, weil dieser Frage keine Relevanz zukäme, sondern weil sie – wie jede normative Frage – eine genaue Untersuchung und Kenntnis desjenigen Gegenstands voraussetzt, über den es begründet ein Urteil zu fällen gilt. 2.
Die Polarität von Handeln und Erleiden
Was also ist Rache? Wie lässt sich der zentrale Gehalt dieses Begriffs bestimmen? Schlägt man in wissenschaftlichen Wörterbüchern und Lexika nach, so finden sich dort in der Regel Bestimmungen, die darauf hinauslaufen, Rache entweder als Akt oder als 167 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Motiv zu definieren. Diese Bestimmungen scheinen jedoch zu kurz gegriffen. Zum einen ist auffällig, dass im deutschen Wort Rache – und ebenso in den entsprechenden Wörtern vieler anderer Sprachen – die Unterscheidung zwischen Akt und Motiv in der Schwebe gehalten ist. ›Rache‹ kann prinzipiell beides meinen: das Verlangen, Rache zu üben, aber ebenso auch den Akt, der dieses Verlangen realisiert. Welche Bedeutung dominiert, erschließt sich jeweils erst anhand des Kontextes. Zum anderen scheint eine wesentliche Eigenschaft des Ausdrucks Rache gerade darin zu liegen, dass er in seinem faktischen Gebrauch bereits wie die Überschrift zu einer Erzählung fungiert. Wie eingangs bemerkt, verbindet sich Rache in unserer Vorstellung oftmals mit Geschichten. Unzählige Namen stehen dafür ein: Achilles und Marianne Bachmeier, aber ebenso auch Kriemhild und Michael Kohlhaas, Orest und Elektra, der Graf von Monte Christo, Medea, Kapitän Ahab …, die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Die Beobachtung, dass Rache in Form von Erzählungen auftritt, betrifft nicht bloß ein pittoreskes Detail von allenfalls literaturwissenschaftlichem Interesse, sondern verweist auf einen Zusammenhang, der in die Konstitution des Rachebegriffs selbst hineinspielt. 13 Weit davon entfernt, lediglich eine isolierte Handlung zu bezeichnen oder ein bestimmtes Handlungsmotiv, impliziert die Verwendung des Ausdrucks Rache vielmehr ein bestimmtes Schema oder Verknüpfungsprinzip, das es ermöglicht, eine Vielzahl von Ereignissen, von Handlungen, von Umständen und Absichten, gewollten und ungewollten Konsequenzen in eine sinn13
In der Forschung wird zwar regelmäßig darauf hingewiesen, dass Rache in literarischen Erzählungen – und allgemein in künstlerischen Darstellungen – einen breiten Niederschlag findet, diesem Hinweis wird jedoch nirgends systematisch Rechnung getragen. Exemplarisch dafür folgendes Zitat von Bertram Turner und Günther Schlee: »Es versteht sich von selbst, dass ein solches Thema [Vergeltung] mit dem entsprechenden dramatischen Potenzial in ausgiebigster Art und Weise in den Künsten gewürdigt wurde, in bildlicher Darstellung, Musik und Literatur. Hier kann nicht genauer darauf eingegangen werden, auch wenn sich aus der künstlerischen Verarbeitung des Themas einige Rückschlüsse auf Vorstellungswelten und soziale Praktiken gewinnen lassen.« Dies.: Einleitung: Wirkungskontexte des Vergeltungsprinzips in der Konfliktregulierung, in: dies., Vergeltung, S. 7–47, hier S. 16.
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Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung
hafte Ordnung zu rücken und ihnen eine semantische Einheit zu verleihen. Erinnern wir uns an die Schüsse, die Marianne Bachmeier abgefeuert hat: Ihren vollen Sinn und ihre Bedeutung als Racheakt erhalten diese Schüsse erst, wenn man sie in Beziehung setzt zu den Handlungen und Ereignissen, die ihnen vorausgegangen sind: namentlich der Ermordung von Marianne Bachmeiers Tochter, den besonderen Umständen dieser Tat, den Absichten, die dazu geführt haben, usw. Ebenso verhält es sich mit Achilles: Das Ungestüme seiner Taten, die Unerbittlichkeit, mit der er sich noch an Hektors Leichnam vergeht, erhalten ihre Bedeutung erst vor dem Hintergrund derjenigen Ereignisse, die seinen eigenen Handlungen vorausliegen. Was Rache heißt, würden wir also gar nicht verstehen, wenn wir mit diesem Ausdruck nicht zugleich eine bestimmte »Konfiguration« (im Sinne Paul Ricœurs) 14, ein bestimmtes Geflecht von Ereignissen, Handlungen, Motiven etc. assoziieren würden. Ebendiese Verknüpfung vollzieht sich im Modus der Narration. Einer der Gründe dafür, dass im kulturellen Imaginären so viele Geschichten über Rache kursieren, besteht darin, dass die Verwendung des Begriffs Rache in sich bereits eine bestimmte Erzählung impliziert. In anderen Worten: Die Erzählbarkeit der Rache rührt daher, dass das Wort selbst bereits als eine Art Narrativ fungiert. Diese Funktion ist unabhängig davon, ob es sich dabei um eine historische Erzählung handelt (wie im Fall Marianne Bachmeier) oder um eine fiktionale Erzählung (wie im Fall von Achilles). Ob eine Geschichte von Ereignissen handelt, die tatsächlich geschehen sind oder nicht, hat auf das Grundmuster der Erzählung, die spezifische Weise ihrer Verknüpfung, keinen Einfluss. 15 14
Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. I, übers. v. Rainer Rochlitz, 2. Auflage München 2007, insbes. S. 87–135. 15 Dies zeigt sich im Übrigen auch daran, dass wir keine Schwierigkeiten haben, die Wörter ›Fall‹ und ›Geschichte‹ in diesem Zusammenhang synonym zu gebrauchen. Um den ›Fall Marianne Bachmeier‹ (oder jeden anderen Fall von Rache) zu verstehen, kommt man nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen. Dem, was alltagssprachlich oder vor Gericht ein ›Fall‹ genannt wird, liegt tatsächlich immer eine Erzählung zugrunde. – Diese Einsicht bildet den Grundgedanken,
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Aus diesen Überlegungen folgt zweierlei: zum einen eine gewisse Skepsis und Zurückhaltung gegenüber begrifflichen Festlegungen, die der Rache ausschließlich den Status einer Handlung oder eines Motivs zuschreiben, da diese leicht Gefahr laufen, den Blick auf die Rache vorschnell zu verengen. Stattdessen möchte ich eine Konzeption vorschlagen, die Rache als eine spezifische Konfiguration von Ereignissen, d. h. als eine relationale Gesamtheit, zu begreifen sucht. Daraus ergibt sich der zweite Punkt: die Frage nämlich, mittels welcher Begriffe diese relationale Struktur genauer beschrieben und inhaltlich bestimmt werden kann. Meine diesbezüglichen Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der These, dass Rache als eine Relation aufzufassen ist, die auf der Polarität von Handeln und Erleiden gründet. Die Semantik der Rache ist eine Semantik des Handelns und Erleidens. Diese These gilt es im Folgenden zu begründen und genauer zu explizieren. Halten wir dafür zunächst zwei Merkmale fest, die der Rache notwendig zukommen, d. h. unabhängig davon, in welchen Vorstellungen und Praktiken sie sich in einer bestimmten Kultur oder Epoche konkretisiert. Das erste Merkmal betrifft die zeitliche Struktur der Rache. Rache ist notwendig auf Vergangenes bezogen. In der Ordnung der Ereignisse, die sich zu einer Rachegeschichte zusammenschließen, steht der Racheakt selbst nie am Anfang. Er ist immer eine »zweite Tat« 16, eine Replik oder Antwort, die mit einem gewissen zeitlichen Abstand auf eine erste Tat folgt. Von diesem ersten Akt her bestimmt sich die Rache und auf ihn hin bleibt sie notwendig bezogen. Dieser Bezug – dessen regulative Idee sich in der Formel ausdrückt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten – ist immer auch eine Verbindung, die über die Zeit von dem aus Wilhelm Schapp, der zugleich Philosoph und Jurist war, seine ›Philosophie der Geschichten‹ entwickelt hat. In seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt »ging ihm auf, daß die Gegebenheits- und Präsentationsweise rechtserheblicher ›Fälle‹ stets Geschichten sind, passierte und dann erzählte Geschichten, und daß überdies, in Anklage und Verteidigung oder zum bloßen Zwecke ihrer Identifizierung, auch Personen über Geschichten vorgestellt werden«, schreibt Hermann Lübbe im Vorwort zu Schapps Hauptwerk In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (4. Auflage Frankfurt a. M. 2004, S. V-VII, hier S. VII). 16 Menke: Recht und Gewalt, S. 16.
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reicht. Der zeitliche Abstand zwischen der ersten Tat und der zweiten stellt ein wesentliches Kriterium dar, um letztere als Rachehandlung zu qualifizieren. Vor Gericht etwa entscheidet sich unter anderem daran, ob eine bestimmte Handlung als legitimer Akt der ›Notwehr‹ oder als illegitimer Akt der ›Selbstjustiz‹ angesehen wird. Folgende Implikation erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Wenn Rache notwendig auf Vergangenes bezogen ist, dann hängt sie auch notwendig davon ab, dass dieses Vergangene beständig in Erinnerung gehalten wird. Zur Rache fähig ist nur, wer über ein aktives Gedächtnis verfügt. So gesehen, stellt das Vergessen gleichsam die größte Bedrohung für jedes Rachevorhaben dar. 17 Davon zeugt indirekt die politische Institution der Amnestie: ein von höherer Stelle verordnetes Vergessen, das noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als probates Mittel angesehen wurde, um nach gewaltförmigen Konflikten (insbesondere Bürgerkriegen) dem Wiederaufkeimen alter Rachebedürfnisse entgegenzuwirken. 18 17
Friedrich Nietzsche, der große Theoretiker des Ressentiments, erkennt in diesem Zusammenhang sogar eine der Quellen des menschlichen Gedächtnisvermögens überhaupt. Nietzsche zufolge bildet sich das Gedächtnis als aktives »Gegenvermögen« heraus, »mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, […] so dass zwischen das ursprüngliche ›ich will‹ ›ich werde thun‹ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen Akt, unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt.« Letztere Beschreibung gibt ein zutreffendes Bild von der volitiven Struktur der Rache. Diese setzt ihrerseits voraus, dass das Vergangene dem Gedächtnis hinreichend tief eingeprägt worden ist: »›Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis‹ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten […] Psychologie auf Erden.« Ders: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Werke (Kritische Gesamtausgabe), hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1968, 6. Abt., 2. Bd., S. 258– 430, hier S. 308 u. 311. 18 Der Althistoriker Christian Meier entwirft in seiner Schrift Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit (2. Auflage München 2010) die Grundlinien für eine Geschichte der Amnestie; vgl. zur Amnestie ferner (aus literaturwissenschaftlicher Sicht) Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, insbes. S. 216–244, sowie (aus philosophischer Sicht) Paul Ricœur: Gedächtnis,
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Kommen wir nun zum zweiten Merkmal, das der Rache notwendig zukommt. Rache ist durch Unversöhnlichkeit gekennzeichnet. Von anderen Formen der Vergeltung unterscheidet sie sich darin, dass sie keine positive Kompensation duldet (etwa in Form materieller Ausgleichsleistungen), sondern explizit darauf abzielt, jemandem – das kann eine bestimmte Person sein oder auch eine bestimmte Gruppe – einen Schaden oder Schmerz zuzufügen. 19 In anderen Worten: Das Streben nach Rache impliziert unweigerlich den Willen, weh zu tun. In diesem Sinn kann Rache als ›negativ‹ bezeichnet werden (sofern man mit dieser Bezeichnung keine normative Wertung konnotiert). Sie ist negativ, insofern sie ein vergangenes Vergehen – eine ›gestörte Bilanz‹ oder ›offene Rechnung‹ – dadurch auszugleichen sucht, dass sie dem Minus auf der einen Seite ein Minus auf der anderen entgegensetzt. Die Absicht, weh zu tun, schließt nicht aus, dass zu dem Rachestreben noch andere Motive hinzutreten. Gerade in gewaltförmigen politischen Konflikten geschieht es häufig, dass sich Rache mit anderen Motiven mischt oder, im Extremfall, sogar lediglich als Vorwand dient, um anders gelagerte Absichten – Hans-Joachim Gehrke spricht von der »Verbrämung realer Machtabsichten« 20 – rhetorisch zu verschleiern. Als rhetorische Legitimationsfigur herhalten kann Rache jedoch gerade nur deshalb, weil sie Menschen dazu treibt, anderen Menschen Schlimmes anzutun. Geschichte, Vergessen, übers. v. Hans-Dieter Gondek u. a., München 2004, S. 690–696. 19 Jeder Racheakt stellt auch einen Akt der Vergeltung dar, aber umgekehrt lässt sich nicht jeder Vergeltungsakt auch als Racheakt bezeichnen. Der Begriff der Vergeltung ist umfassender. – Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig 1854– 1961, Bd. 12, I. Abt. [1956], Sp. 407–411) wird die Grundbedeutung von ›vergelten‹ mit »zurückerstatten, zurückzahlen« angegeben (Sp. 408); je nachdem, ob es sich bei dem Empfangenen um etwas Gutes oder etwas Schlechtes handelt, kann ›vergelten‹ die Bedeutung von ›strafen‹ oder ›rächen‹ (»als ersatz für übelthaten« [Sp. 410]) oder die – im heutigen Sprachgebrauch weitgehend verschüttete – Bedeutung von ›belohnen‹ (»als ersatz für wolthaten« [Sp. 409]) annehmen. 20 Gehrke: Die Griechen und die Rache, S. 123.
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Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung
Ebenso wie der Verweis auf Rache dazu dienen kann, gewaltförmige Handlungen zu legitimieren, wird er auch umgekehrt dazu verwendet, um bestimmten Handlungen ihre Legitimität abzusprechen. Die politische Rhetorik macht sich hier eine Ambivalenz zunutze, die daraus resultiert, dass der moralische Status der Rache und ihr Verhältnis zu Recht und Unrecht nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaften, sondern häufig auch innerhalb ein und derselben Gesellschaft auf unterschiedliche Weise aufgefasst werden kann. 21 Der Hinweis, dass die Bezeichnung bestimmter Gewalttaten als ›Racheakte‹ in vielen Diskursen mit Strategien der Legitimierung bzw. Delegitimierung zusammenhängt, ist deshalb wichtig, weil er das Problem und die Frage aufwirft, anhand welcher Kriterien zwischen denjenigen Fällen unterschieden werden kann, in denen Rache tatsächlich das bestimmende Motiv für eine Handlung darstellt, und denjenigen Fällen, in denen dies aus strategischen Gründen bloß behauptet wird. Einfacher gesagt: Nicht überall dort, wo von ›Rache‹ gesprochen wird, liegt tatsächlich auch Rache vor. Wie also unterscheiden? Meine Konzeption trägt diesem Problem dadurch Rechnung, dass sie sich konsequent von der Einsicht leiten lässt, dass es bei Rache nicht allein darum geht, was Menschen tun, sondern vor allem darum, was Menschen einander antun. Daher die zentrale 21
Ein gutes Beispiel dafür sind die Diskussionen, die im Mai 2011 nach der Tötung des Terroristenführers Osama bin Laden durch US-amerikanische Spezialkräfte geführt wurden. Sie entzündeten sich insbesondere an der Formulierung Barack Obamas, dass mit dieser Aktion »der Gerechtigkeit genüge Getan« worden sei, wobei sich der US-Präsident mit diesen Worten explizit an die Familien der Opfer von 9/11 richtete (»on nights like this one, we can say to those families who have lost loved ones to Al Qaeda’s terror, justice has been done«). Während die Legitimität der Tötung bin Ladens für viele völlig außer Zweifel stand (die Bilder der Menschen, die nach Obamas Ansprache den Tod des Terroristenführers ausgelassen auf den Straßen feierten, sind eine eindrückliche Erinnerung), ist sie von anderen scharf kritisiert worden. Dabei nahmen beide Lager für ihre Position jeweils als zentrales Argument in Anspruch, dass es sich bei dieser Tat um einen Akt der Rache bzw. Vergeltung handele. Vgl. dazu Marcel Hénaff: Terror und Rache. Politische Gewalt, Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit, übers. v. Markus Sedlaczek, in: Lettre International 94 (Herbst 2011), S. 11–23.
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These, dass Rache als eine Relation aufzufassen ist, die auf der Polarität von Handeln und Erleiden gründet. Die beiden Merkmale der Rache – dass sie zum einen, in den Worten Christoph Menkes, »nicht eine erste, grundlose, sondern die zweite Tat [ist]« 22 und dass sie zum anderen ausdrücklich darauf abzielt, jemandem ein Leid zuzufügen – erlauben es, dieser These nun einen präziseren Sinn zu verleihen. Das Verlangen nach Rache entspringt dort, wo sich Handeln und Erleiden überkreuzen, d. h. dort, wo eine Handlung von jemandem erlitten wird. Dieser Schnittpunkt wird in der vorliegenden Konzeption durch den Begriff der Verletzung markiert. Dem Handlungsvermögen auf der Seite des Handelnden entspricht auf der Seite des Erleidenden die Verletzlichkeit; beide Begriffe sind als strikte Korrelate zu behandeln. Mit diesen Bestimmungen ist zugleich ein Kriterium gegeben, das es ermöglicht, zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Fällen von Rache eine klare Scheidelinie zu etablieren: Tatsächlich durch Rache motiviert ist eine Handlung nur dann, wenn sie sich auf eine vergangene Verletzung bezieht, d. h., wenn sie auf eine frühere Handlung antwortet, die das rächende Subjekt direkt oder indirekt 23 erlitten hat, durch die es negativ affiziert und in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Bezugnahme auf eine vergangene Verletzung ist notwendig im Begriff der Rache impliziert. Die Aussage »ich räche mich« wäre in der Tat sinnlos, wenn der Sprecher nicht in der Lage wäre anzugeben, an wem und wofür er sich rächt – wobei die Antwort auf die Frage »An wem?« den Urheber der erlittenen Handlung 22
Menke: Recht und Gewalt, S. 16. Die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Verletzungen ist keine graduelle, sondern eine des Angriffspunktes. Indem Klaus Grabowski der siebenjährigen Anna das Leben nahm, hat er Marianne Bachmeier an einem Punkt getroffen, an dem sie vermutlich verletzlicher war als an allen anderen. Dies gilt mutatis mutandis auch für Hektor und Achilles: Die tiefe Trauer und der maßlose Zorn, mit denen Achilles auf die Nachricht vom Tod des Patroklos reagiert, zeigen, dass es nicht notwendig die Ferse ist oder irgendeine andere Stelle des Körpers, an denen sich ein Mensch – und sei er selbst halbgöttlichen Ursprungs – am verwundbarsten zeigt. Wie schwer man durch eine Handlung verletzt oder in Mitleidenschaft gezogen wird, ist nicht primär eine Frage der Physis, sondern eine der Affektion. Ich werde im nächsten Abschnitt darauf zurückkommen.
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bezeichnet und die Antwort auf die Frage »Wofür?« die erlittene Handlung selbst. Der Nexus dieser beiden Fragen ermöglicht es, ein Vermögen zu identifizieren, das zu den bereits genannten Vermögen (Handeln-können, Erleiden-können, Sich-erinnern-können) hinzutreten muss, damit es so etwas wie Rache überhaupt geben kann. Dieses Vermögen knüpft sich an die Begriffe der Zurechenbarkeit und der Schuld. Es kann nämlich nur dort Rache geben, wo man jemanden für schuldig halten oder erklären kann. Und beschuldigen kann man nur für Akte, die sich einem Handelnden eindeutig zurechnen lassen. Paul Ricœur definiert die Zurechenbarkeit als »jene Fähigkeit, aufgrund deren Handlungen jemandem in Rechnung gestellt werden können« 24. Die hier anklingende Metapher ist uns bereits begegnet: in Gestalt der ›offenen Rechnung‹, welche die Rache mit der Vorstellung einer nicht beglichenen Schuld verknüpft. »Die Schuld« aber, so Ricœur weiter, ist im Bereich der Zurechenbarkeit zu suchen. Dies ist der Bereich der Verbindung der Handlung mit dem Handelnden, des ›Was‹ der Handlungen mit dem ›Wer‹ des Handlungsvermögens – der agency. 25
Ebendiese Verbindung ist in der Grundstruktur der Rache notwendig impliziert. Rache zielt nicht einfach auf irgendwen ab, sondern auf diejenige Person oder Gruppe, die man für den wahren Urheber derjenigen Handlungen hält, die man selbst (oder eine Person, die einem nahesteht) erlitten hat. Worin genau die erlittene Handlung besteht, die zu einem Racheakt veranlasst, kann naturgemäß sehr unterschiedlich sein. Hier öffnet sich ein breites Spektrum, das alle Abschattungen von Beleidigung über Verrat und Vergewaltigung bis hin zu Mord umfasst. Alle diese Anlässe haben jedoch gemeinsam, dass sie sich als Verletzungen auffassen bzw. unter diesem Oberbegriff subsumieren lassen. Die Grundstruktur der Verletzung lässt sich in der Formel ausdrücken: Jemand tut jemandem etwas an. 26 Diese 24 25 26
Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 703. Ebd. Vgl. Bernhard Waldenfels: Aporien der Gewalt, in: Mihran Dabag u. a. (Hg.),
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Formel findet eine genaue Entsprechung in der Grundstruktur der Rache: Jemand rächt sich an jemandem für etwas. Jede Racheerzählung stellt eine Verkettung von Ereignissen dar, die sich auf die Sequenz dieser beiden Formeln reduzieren lässt: 1. Jemand 27 (Subjekt X) tut jemandem (Subjekt Y) etwas (Handlung Z) an. 2. Jemand (Subjekt Y) rächt sich an jemandem (Subjekt X) für etwas (Handlung Z).
Beide Formeln lassen jeweils einen Handelnden und einen Erleidenden in Erscheinung treten. Was sich jedoch ändert, ist die Position der beteiligten Subjekte. Der Urheber der Verletzung wird zu demjenigen, an dem die Rache vollzogen wird; umgekehrt wird derjenige, der verletzt worden ist, zum Urheber der Rache. Rache impliziert also eine Umkehr des Richtungsvektors von Handeln und Erleiden. Darin liegt die offenkundige Ähnlichkeit zwischen den beiden eingangs exemplifizierten Fällen: Indem Klaus Grabowski ihrer Tochter das Leben genommen hat, hat er Marianne Bachmeier etwas Schlimmes angetan; Marianne Bachmeier rächt sich dafür, indem sie Grabowski erschießt. Entsprechendes gilt für Hektor und Achilles. Drei weitere Beispiele (zur Probe aufs Exempel): Moby Dick reißt Kapitän Ahab ein Bein ab; Ahab sucht den weißen Wal dafür zur Strecke zu bringen. 28 Iason hintergeht Medea; Medea bereitet ihm dafür den Untergang. 29 Der brave Edmond Dantès wird von drei Widersachern schmählich verraten; Jahrzehnte später kehrt er als geheimnisvoller Graf von Monte Christo Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen (= Genozid und Gedächtnis, Bd. 1), München 2000, S. 9–24, hier S. 13. 27 Der Ausdruck ›jemand‹ bzw. ›Subjekt‹ bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht allein Einzelpersonen, sondern umfasst alle möglichen Antworten auf die Frage »Wer?« (Wer hat das getan? Wer hat das erlitten?) – das können sowohl Einzelpersonen sein (Hektor, Patroklos etc.) als auch Kollektive (die Achaier, die Troer etc.). 28 Vgl. Herman Melville: Moby-Dick or, the whale, hg. v. Luther Mansfield u. Howard Vincent, New York 1962. 29 Vgl. Euripides: Medea, hg. u. übers. v. Paul Dräger, Stuttgart 2011.
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wieder, um sie für ihren Verrat büßen zu lassen. 30 Egal wann und egal wo: Jeder Erzählung von Rache liegt diese Konfiguration zugrunde, als deren grundlegender Operator die Polarität von Handeln und Erleiden fungiert. Man sieht nun wesentlich besser, worin der Vorzug einer Konzeption besteht, die Rache nicht primär als Akt oder Motiv zu bestimmen sucht, sondern als eine relationale Struktur, deren innerer Zusammenhang nur dann zutage tritt, wenn man derjenigen Dimension der Rache, die mit dem Erleiden zusammenhängt, im selben Maße Rechnung trägt wie derjenigen Dimension, in der sie sich von ihrer handlungsmäßigen Seite zeigt. »Thema aller Erzählungen«, hat Paul Ricœur einmal gesagt, »ist letztlich das Handeln und das Leiden.« 31 Dieser Ausspruch trifft umso mehr auf diejenigen Erzählungen zu, die von Rache handeln. Dass die Dimension des Erleidens leicht im Schatten einer einseitig auf das Handeln fokussierten Optik zu verschwinden droht, lässt sich an einer sprachhistorischen Beobachtung festmachen, die ein weiteres Argument für die Wahl des Begriffspaars Handeln und Erleiden liefert. Jean Starobinski hat eine in dieser Hinsicht sehr aufschlussreiche begriffsgeschichtliche Studie verfasst. 32 Ihr Gegenstand ist nicht das Begriffspaar Handeln und Erleiden, sondern ein anderes, im heutigen Sprachgebrauch weitaus geläufigeres, nämlich das von Aktion und Reaktion. Das Aktions-Reaktions-Schema wird in zahlreichen Bereichen (Medizin, Psychologie, Physik etc.) herangezogen, wenn es darum geht, den Zusammenhang bestimmter Abläufe oder Prozesse zu erklären. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Wörter Aktion und Reaktion paarweise verwendet und als spiegelsymmetrisch aufgefasst werden, täuscht jedoch leicht darüber hinweg, dass sie unterschiedlichen Alters und verschiedenartigen Ursprungs sind. Das Wort Aktion bzw. Akt geht etymologisch auf das lateinische Verb agere, ago zurück, dessen Grundbedeutung mit »treiben, tun« an30
Vgl. Alexandre Dumas: Le Comte de Monte-Cristo, Paris 1962. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. I, S. 92. 32 Vgl. Jean Starobinski: Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars, übers. v. Horst Günther, Frankfurt a. M. 2003. 31
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gegeben wird. Das entsprechende Substantiv actio war im alten Latein ein gängiger Ausdruck. Wie steht es nun um das Wort reactio? Starobinski erteilt diesbezüglich eine klare Auskunft: Die Geschichte erlaubt es uns nicht, in ihr [der reactio] das genaue Pendant zu actio zu sehen. Es ist eine sehr viel spätere Zusammensetzung gelehrten Ursprungs, die geprägt wurde, um eher in der begrifflichen Abstraktion als im Leben ein Paar zu bilden. In der Tat gehören reactio, reagere nicht zum alten Wortschatz der lateinischen Sprache. Sie sind in keinem Text der Antike belegt. […] Der Gegenbegriff zu agere ist im klassischen Latein pati (dulden, leiden), der Gegenbegriff zu actio ist passio. Aktion und Passion bilden ein sehr viel solider begründetes Paar begrifflicher Gegensätze. Dieses Paar war in der griechischen philosophischen Sprache gegenwärtig (poiein/paschein). 33
Mit dem wesentlich jüngeren Ausdruck reactio zu einem Paar zusammengefügt wurde die actio erst in der mittelalterlichen Scholastik. 34 Die reactio trat damit an diejenige Stelle, die ehedem dem lateinischen Ausdruck passio vorbehalten war, der seinerseits auf das Altgriechische πάθος verweist. Πάθος bezeichnet allgemein dasjenige, was ohne eigenes Zutun an einem geschieht, was man als Folge einer äußeren Einwirkung erleidet: Das kann das Missgeschick sein, das einem unerwartet zustößt, aber ebenso auch das Leiden, das Andere über einen bringen. Von diesem alten Sinn klingt in dem jüngeren und deutlich aktiver anmutenden Begriff der reactio (und den entsprechenden Lehnwörtern wie ›Reaktion‹ und ›reagieren‹, die in unserer Alltagssprache mittlerweile einen festen Platz einnehmen) kaum etwas nach. Aus diesem Grund habe ich es in der bisherigen Analyse vermieden, Rache als ›Reaktion‹ zu bezeichnen. Nicht, dass diese Bezeichnung falsch wäre – aber sie ist eben auch nicht sonderlich spezifisch, da sie dahin tendiert, den Unterschied zwischen Handeln und Erleiden semantisch einzuebnen. Wie die Untersuchung gezeigt hat, ist es jedoch gerade diese Differenz – deren Wechselspiel ich als Polarität von Handeln und Erleiden bezeichne –, die es 33 34
Ebd. S. 20. Vgl. ebd. S. 14.
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ermöglicht, den wesentlichen Kern der Rache zu erfassen. Rache drückt sich nicht in beliebigen Handlungen aus, sondern in solchen, deren Spezifikum darin liegt, dass sie von einem oder mehreren Anderen erlitten werden. Und Rache antwortet auch nicht auf beliebige Aktionen, sondern auf solche, deren Besonderheit darin besteht, dass sie von jemandem erlitten wurden. Tatsächlich genügt es, die begriffsgeschichtliche Ersetzung von passio durch reactio rückgängig zu machen und das Aktions-Reaktions-Schema systematisch auf die Dimension des Erleidens hin auszubuchstabieren, um ein formales Schema zu gewinnen, das eine wesentlich präzisere Darstellung der Rache ermöglicht: I. Rache auf der Grundlage von Aktion und Reaktion: actio → reactio Subjekt X Subjekt Y (handelt) (reagiert) II. Rache auf der Grundlage der Polarität von Handeln und Erleiden: actio/passio → actio/passio Subjekt X Subjekt Y Subjekt Y Subjekt X (handelt) (erleidet) (handelt) (erleidet) Das zweite Schema: actio/passio → actio/passio stellt die allgemeine Relation dar, die jedem möglichen Fall von Rache als Muster zugrunde liegt. Die vier Vermögen (Handeln-Können, ErleidenKönnen, Sich-und-anderen-Handlungen-zurechnen-Können, Sich-erinnern-Können), die als Grundvoraussetzungen der Rache identifiziert wurden, sind in das Schema inskribiert: das Handeln und Erleiden ganz offensichtlich; die Zurechenbarkeit in der Konstellation der formal als Subjekt X bzw. Subjekt Y bezeichneten Akteure; und das Erinnerungsvermögen, am wenigsten offensichtlich, in Form des Pfeils, der die notwendige zeitliche Erstreckung zwischen der ersten Tat und der zweiten Tat, also dem Racheakt, markiert. Das Schema – das in der vorliegenden Arbeit an die Stelle einer Definition tritt – liefert nicht nur eine formalisierte Darstel179 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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lung der Grundstruktur der Rache, sondern eignet sich auch als Analyse- und Vergleichsinstrument. Indem es das Gemeinsame und Allgemeine an der Rache fasst, lässt es zugleich auch deutlicher sehen, worin das Spezifische und die Unterschiede zwischen bestimmten Fällen bzw. Erzählungen von Rache liegen. 3.
Verletzung und Verletzlichkeit
Wie wir gesehen haben, lässt sich die formale Struktur der Rache als eine Relation beschreiben, die aus der Polarität von Handeln und Erleiden hervorgeht. Das Streben nach Rache hat dort seinen Ursprung, wo eine Handlung von jemandem erlitten wird, d. h. dort, wo jemand von jemand anderem verletzt wird. Nun liegt auf der Hand, dass nicht der gesamte Bereich dessen, was wir alltagssprachlich als Verletzung bezeichnen, als möglicher Racheanlass in Frage kommt. Um Rache angemessen verstehen zu können, ist es also notwendig, die Analyse der Polarität von Handeln und Erleiden durch eine Reflexion auf den Begriff der Verletzung zu ergänzen. Worin liegt das Spezifische derjenigen Verletzungen, aus denen das Verlangen nach Rache hervorgeht? Gibt es auch hier ein formales Merkmal, das eine kulturübergreifende Gültigkeit besitzt? Halten wir zunächst fest, an welcher Stelle der Begriff der Verletzung ins Spiel kommt. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, bezeichnet die Verletzung den Ort, an dem sich Handeln und Erleiden überkreuzen. Der Begriff ist insofern mit Bedacht gewählt, als sich actio und passio, das handlungsartige und das widerfahrnishafte Moment der Rache, in ihm die Waage halten. Der Begriff der Verletzung hält sich genau in der Mitte zwischen Verletzen und Verletztwerden. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Unterscheidung zwischen Verletzen und Verletztwerden, die auf linguistischer Ebene durch einen einfachen Wechsel der Diathese bewerkstelligt wird, auf der phänomenalen Ebene eine Differenz entspricht, die unter Umständen buchstäblich über Leben und Tod entscheidet. In einfachen Worten: In der Praxis besteht ein 180 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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fundamentaler Unterschied zwischen Verletzen und Verletztwerden. Es gibt Situationen, in denen sich zwischen der Erfahrung derjenigen Person, die verletzt, und der Erfahrung derjenigen Person, die verletzt wird, eine unüberbrückbare Kluft auftut. Dies trifft insbesondere auf solche Verletzungen zu, in denen sich der Erleidende in besonderem Maße als hilflos erfährt oder seines Handlungsvermögens sogar komplett beraubt wird. Man denke etwa an Vergehen wie Vergewaltigung und Folter. In Jenseits von Schuld und Sühne spricht Jean Améry – dessen Ausführungen sich auf seine eigenen Erfahrungen als Überlebender des nationalsozialistischen Terrors stützen – davon, dass der Folterer zu einem »Gegenmenschen« wird, den man »wehrlos an sich erleidet« 35. Die Polarität von Handeln und Erleiden nimmt hier die Gestalt einer asymmetrischen Beziehung an. Paul Ricœur zufolge resultiert diese Asymmetrie daraus, dass handeln für einen Handelnden bedeutet, Macht über einen anderen Handelnden auszuüben. […] Zu dieser grundlegenden Asymmetrie der Handlung kommen all die Perversionen des Handelns hinzu, die darin kulminieren, daß jemand zum Opfer wird […]. 36
Jemanden zum Opfer machen heißt, sich symbolisch über ihn stellen. In alltagssprachlichen Ausdrücken wie Erniedrigung, Herablassung, Unterlegenheit etc. klingt die vertikale Asymmetrie an, die in die Beziehung zwischen Handeln und Erleiden eingeschrieben ist. Eine paradigmatische Szene dieser Asymmetrie ist das Bild des Opfers, das verletzt am Boden liegt, während der Täter über ihm steht und triumphiert. 37 Dieses Bild kehrt regelmäßig in Racheerzählungen wieder, wobei es bezeichnenderweise meist zweimal auftaucht: einmal am Anfang und – nach erfolgter Umkehrung des Richtungsvektors von Handeln und Erleiden – einmal 35
Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, 6. Auflage Stuttgart 2008, S. 56. 36 Paul Ricœur: Annäherungen an die Person (1990), in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), hg. u. übers. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, S. 227–249, hier S. 243 (Hervorhebung im Original). 37 Vgl. dazu Elias Canetti: Masse und Macht, 30. Auflage Frankfurt a. M. 2006, S. 267.
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am Ende. Achilles beugt sich triumphierend über den niedergestreckten Hektor, so wie dieser sich zuvor über den toten Patroklos gebeugt und diesen verhöhnt hat. 38 Mit dieser grundlegenden Asymmetrie kommt zugleich die Vorstellung eines unerträglichen Ungleichgewichts ins Spiel, einer Störung der Balance und Ordnung, auf deren Ausgleich die Rache abzielt. Die erfahrungsmäßige Ungleichartigkeit von Handeln und Erleiden bzw. Verletzen und Verletztwerden ist insofern bedeutsam, als sie auf den grundlegend perspektivischen Charakter der Rache verweist. Aus der Sicht desjenigen, der nach Rache strebt, ist weniger entscheidend, was der oder die Anderen getan haben, sondern was er selbst oder eine ihm nahestehende Person erlitten hat. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass dies doch das Gleiche sei. Es ist auch das Gleiche – allerdings nur aus der Perspektive eines unbeteiligten Dritten. Für den Rächer oder die Rächerin jedoch ist Rache keine Frage widerstreitender Ansprüche oder Interessen, über die man verhandeln und ein neutrales Urteil fällen könnte, sondern die eigene Perspektive gilt ihm bzw. ihr absolut. Das rächende Subjekt steht sozusagen ganz im Bannkreis seiner eigenen Erfahrung, die sich umso mehr auf das eigene Verletztwordensein konzentriert, je größer die Asymmetrie zwischen Handeln und Erleiden war. Die zum Verständnis der Rache relevante Frage lautet dementsprechend weniger, was es heißt zu verletzen, sondern vielmehr, was es heißt, verletzt zu werden. Nehmen wir also die eingangs genannte Frage wieder auf: Wie muss eine Verletzung genau beschaffen sein, um zu einem möglichen Racheakt zu motivieren? Offenkundig motivieren nicht alle Verletzungen zu einem möglichen Racheakt. Wenn sich jemand beim Wandern den Fuß verstaucht oder bei dem Versuch, ein Bild an seiner Wand anzubringen, mit dem Hammer auf den Finger haut, dann liegt zwar eine Verletzung vor, aber die betreffende Person wird anschließend kaum darauf sinnen, Rache zu üben. Der Grund dafür ist einfach: Der verstauchte Fuß oder der gebrochene Finger tun zwar weh, aber es ist niemand da (außer 38
Vgl. Homer: Ilias, XVI, 827–842 (Tod des Patroklos); XXII, 326–354 (Tod des Hektor).
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einem selbst natürlich), dem sich diese Verletzung zurechnen ließe, den man für den Schmerz im Fuß oder im Finger verantwortlich machen kann. Wie bereits gezeigt wurde, stellt die Möglichkeit, jemandem eine Handlung in Rechnung zu stellen, eine Grundvoraussetzung der Rache dar. Die bloße Präsenz Anderer und die Möglichkeit der Zurechnung allein reichen jedoch nicht aus, um zu erklären, weshalb bestimmte Verletzungen zu Rache motivieren. Die Zurechenbarkeit definiert lediglich eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Stellen wir uns etwa einen Boxkampf vor. 39 Wenn der Kampf vorüber ist, sind die Körper der beiden Boxer von zahlreichen Blessuren übersät. Die Schläge, die ein Boxer im Laufe eines Kampfes einstecken muss, tun zweifellos weh und lassen sich ebenso zweifellos einem Anderen zurechnen. Solange der Kampf jedoch fair und regelkonform abläuft, ist kaum davon auszugehen, dass sich einer der beiden Kontrahenten für die erlittenen Verletzungen an dem anderen rächen wird. Wiederum ist der Grund relativ einfach zu benennen: Wer boxt, weiß, dass er dabei mitunter eine gesprungene Lippe oder ein zugeschwollenes Auge riskiert. Schläge einzustecken gehört zum Boxen dazu. Was außerhalb des Boxrings verboten ist, jemandem mit der Faust auf die Nase oder in die Rippen zu hauen, ist im Ring nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Ein Boxer, der nur ausweicht, ohne die Schläge seines Kontrahenten zu erwidern, riskiert mithin, wegen Passivität disqualifiziert zu werden. Auch wenn es von außen nicht so erscheinen mag: Der Boxring ist keineswegs ein Ort ungeregelter Gewalt. Es gibt ein Regelwerk, das vorschreibt, welche Aktionen erlaubt und welche verboten sind. Dieses Regelwerk ist für beide Kämpfer gleich; beide kennen es und beide vertrauen darauf, dass sich ihr Gegenüber im Großen und Ganzen daran hält. Solange keine Regel willentlich missachtet wird, wäre es un39
Das nachfolgende Beispiel ist angelehnt an ein Beispiel, das Jan Philipp Reemtsma verwendet, um die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen erlaubter, verbotener und gebotener Gewalt zu veranschaulichen; vgl. ders.: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, München 2009, S. 189–195.
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sinnig bzw. würde es von einem grundlegenden Missverständnis zeugen, wenn ein Boxer es dem anderen übelnehmen würde, dass dieser auf ihn einschlägt. Die faktisch gegebene Zurechenbarkeit begründet unter diesen Umständen noch keine moralische Schuld. Die Frage der Schuld – und damit auch die Frage der Rache – stellt sich erst dann, wenn eine Regel missachtet wird, zum Beispiel, wenn sich einer der Kämpfer durch einen unerlaubten und vom Ringrichter nicht bemerkten Tiefschlag einen taktischen Vorteil verschafft, der ihm letzten Endes zum Sieg verhilft. Dieses Beispiel lässt sich verallgemeinern, da es in jeder Gesellschaft (unabhängig davon, wie ›primitiv‹ oder ›fortschrittlich‹ sie von außen erscheinen mag) bestimmte Regeln und Normen gibt, die den sozialen Umgang regulieren und dabei eine Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Handlungen treffen. Ob diese Normen in kodifizierter schriftlicher Form vorliegen oder auf andere Weise festgehalten und tradiert werden, ist in dem gegebenen Zusammenhang von minderer Relevanz. Entscheidend ist, dass sie von den Mitgliedern einer Gruppe oder Gemeinschaft als verbindlich anerkannt werden. Rache setzt das Vorhandensein und die faktische Geltung solcher Normen voraus. Damit eine Person tatsächlich den Weg von der erlittenen Verletzung bis zur Rache durchläuft, ist es notwendig, dass diese Verletzung nicht nur als etwas Schmerzhaftes, sondern zugleich auch als etwas Unrechtmäßiges empfunden wird. Dieser Bezug auf Recht und Unrecht ist für die Rache konstitutiv. Wie die Rache aus dem Schmerz ihre Energie bezieht, so bezieht sie aus dem erlittenen Unrecht ihre intrinsische Legitimation: Wer auf Rache sinnt, fühlt sich im Recht, weil vorher ein Unrecht an ihm verübt wurde. Welche Handlungen als unrechtmäßig und besonders verletzend angesehen werden, ist abhängig davon, welche Normen und Werte in einer bestimmten Gemeinschaft oder historischen Epoche als geltend anerkannt und sozial geteilt werden; Ehrverletzungen beispielsweise spielen in der heutigen Zivilgesellschaft eine ganz andere Rolle als im Preußen des 19. Jahrhunderts. 40 Was sich jedoch verallgemeinern lässt, ist der 40
Vgl. Ludgera Vogt/Arnold Zingerle: Zur Aktualität des Themas Ehre und zu
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Umstand, dass Rache aus Verletzungen hervorgeht, in denen notwendigerweise zwei Aspekte zusammentreffen: Zu dem empfundenen Schmerz muss ein Bewusstsein hinzutreten, das diesen Schmerz als Unrecht qualifiziert und der erlittenen Verletzung damit den Stempel des Unzulässigen aufdrückt. Maßgeblich für dieses Bewusstsein ist die Überzeugung, dass die Verletzung, die einem zugefügt wurde, gegen die bestehende Ordnung verstößt, dass sie das Ergebnis einer Übertretung ist, mit der zugleich eine bestimmte Norm verletzt wurde, die darüber bestimmt, was ein Mensch einem anderen antun darf und was nicht. Die Kombination aus Schmerz und Unrecht stellt gleichsam die Keimzelle jeder Rachehandlung dar; trifft sie auf einen entsprechenden gesellschaftlichen Boden – der sich etwa durch die Nichtakzeptanz oder das Fehlen funktionierender Appellations- und Sanktionsinstanzen auszeichnet – steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Keim früher oder später seine giftigen Blüten austreibt. Kurzum: Verletzungen, die zu Rache motivieren, lassen sich formal dadurch kennzeichnen, dass sie sowohl eine affektive als auch eine normative Seite aufweisen. Wenn ich von der affektiven Seite der Verletzung spreche, so nehme ich damit vor allem darauf Bezug, wie uns Verletzungen primär gegeben sind: Wenn wir verletzt werden, dann fühlen wir das. Weit davon entfernt, eine bloße Wahrnehmung oder ein neutrales Urteil zu sein, ist uns die Verletzung unmittelbar als Gefühl gegeben. Ein Schlag ins Gesicht oder eine beleidigende Äußerung werden nicht bloß wahrgenommen und sachlich registriert, sondern direkt und unvermittelt als Verletzung empfunden. Unabhängig davon, ob eine Verletzung primär auf den Körper des Anderen oder auf seine Psyche abzielt, handelt es sich beim Verletztwerden immer um einen genuin affektiven Vorgang. Konstitutiv für das Gefühl des Verletztseins ist der Schmerz. Es gibt keine Verletzung, die nicht weh tut, die nicht, wissenschaftlicher gesprochen, eine negative Valenz aufweist. Die Wahrheit der Verletzung – d. h. die Antwort auf die Frage, ob und in welchem Ausseinem Stellenwert in der Theorie, in: dies. (Hg.), Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a. M. 1994, S. 9–34.
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maß jemand durch eine bestimmte Handlung tatsächlich verletzt worden ist – ist primär nur dem Verletzten selbst zugänglich. Der empfundene Schmerz verleiht dem Verletztwerden seine negative Grundqualität. Zugleich stellt er den affektiven Rohstoff dar, aus dem die Emotionen sind, mit denen wir auf Verletzungen reagieren: Scham, Trauer, Empörung, Wut, Zorn, Hass etc. Zu welcher dieser Emotionen sich der Schmerz verdichtet und konturiert, welches Gefühl am Ende überwiegt, hängt davon ab, wie die Verletzung gedeutet und normativ bewertet wird. Von den genannten Emotionen am ehesten zur Rache führt der Zorn, der zu den »klassischen Unrechtsaffekte[n]« 41 gezählt wird. Im Zorn finden die affektive und die normative Dimension der Verletzung ihren emotionalen Konvergenzpunkt. Exemplarischen Ausdruck gefunden hat der Konnex von Zorn und Rache in der Affektenlehre des Aristoteles. »Man ist erzürnt«, schreibt Aristoteles, »wenn man Leid erfährt. Denn der Leidende verlangt nach etwas.« 42 Wonach der Leidende verlangt, steht außer Frage: das »Trachten nach offenkundiger Vergeltung [gr. τιμωρία]« bildet das Zentrum der aristotelischen Zorndefinition. 43 Dieses Streben speist sich aus dem Schmerz und gewinnt am Unrecht seine motivationale Richtung. Die affektive Dimension der Verletzung ist leiblich fundiert. Dies ist der Grund, weshalb Dinge (ein Fahrrad zum Beispiel oder ein Kühlschrank) zwar beschädigt, aber nicht verletzt werden können. Die Verletzung hingegen setzt, in den Worten von Bernhard Waldenfels, »eine bestimmte Form von Selbstbezüglichkeit und eine mögliche Integrität voraus«. 44 In anderen Worten: Die Verletzung trifft immer ein leiblich verfasstes Selbst. Der nüchterne Ausdruck ›Integrität‹ steht dabei für eine Reihe von Konzepten ein, die von der leiblichen Unversehrtheit über die im deutschen Grundgesetz verankerte Unantastbarkeit der menschlichen Wür41
Christoph Demmerling/Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar 2007, S. 299. 42 Aristoteles: Rhetorik, II 2, 1379a 10 (Übersetzung von Gernot Krapinger). 43 Ebd. II 2, 1378a 31–33. 44 Waldenfels: Aporien der Gewalt, in: Dabag u. a., Gewalt, S. 13 (Hervorhebung im Original).
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de bis zu dem teils in Vergessenheit, teils in Verruf geratenen Begriff der Ehre reichen. Mit welchen spezifischen Bedeutungen diese Begriffe angereichert sind, ist historisch variabel (die τιμή der alten Griechen, ein Ausdruck, der gewöhnlich mit ›Ehre‹ übersetzt wird, ist sicher nicht identisch mit dem, was Schnitzlers Leutnant Gustl 45 unter seiner Ehre versteht). Gleichwohl ist diesen Konzepten gemeinsam, dass sie etwas bezeichnen, das aufgrund seiner Verletzlichkeit für schützenswert gehalten wird. Die Erfahrung der Verletzlichkeit jedoch ist konstitutiv an den Leib gebunden, und zwar insofern als der Leib, d. h. der Körper, der ich jeweils bin, die Schnittstelle zwischen Selbst und Welt darstellt. »Der Leib des Menschen ist nackt und anfällig; in seiner Weichheit jedem Zugriff ausgesetzt.« 46 In seiner Leiblichkeit ist der Mensch exponiert; er kann von anderen gesehen, berührt und angesprochen werden. Ebendarin liegt jedoch auch die Möglichkeit seiner Gefährdung: Wer sichtbar ist, den kann man verfolgen; wer berührbar ist, den kann man angreifen; wen man ansprechen kann, den kann man auch mit Worten verletzen. Der Leib, der uns auf die Welt hin öffnet, bietet sich der Welt potentiell immer auch als Angriffsfläche dar. Selbstbezug und Weltverhältnis hängen gleichermaßen von der leiblichen Konstitution ab. Wird der Leib gravierend verletzt, so hat dies, im Extremfall, nicht nur für die Integrität der betreffenden Person, sondern auch für ihren Weltbezug irreparable Folgen. Jean Améry hat diesen Zusammenhang in eindringlichen Worten formuliert. »Es ist nur wenig ausgesagt«, heißt es in Amérys Bericht über die Folter, wenn irgendein Ungeprügelter die ethisch-pathetische Feststellung trifft, daß mit dem ersten Schlag der Inhaftierte seine Menschenwürde verliere. Ich muß gestehen, daß ich nicht genau weiß, was das ist: die Menschenwürde. […] Doch bin ich sicher, daß er [der von Polizeileuten Geprügelte] schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. Weltvertrauen. Dazu gehört vielerlei: der irrationale und logisch nicht zu rechtfertigende Glaube an unverbrüchliche 45 46
Vgl. Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, Frankfurt a. M. 2001. Canetti: Masse und Macht, S. 268.
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Kausalität etwa oder die gleichfalls blinde Überzeugung von der Gültigkeit des Induktionsschlusses. Wichtiger aber – und in unserem Zusammenhang allein relevant – ist als Element des Weltvertrauens die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert. Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen. 47
Die Verletzung der leiblichen Integrität und die irreversible Störung des Weltbezugs fallen in der von Améry beschriebenen Erfahrung in eins. Dass die Möglichkeit, verletzt zu werden, leiblich fundiert ist, heißt jedoch nicht, dass sie sich ausschließlich auf sogenannte ›Körperverletzungen‹ beschränkt oder notwendig an diese gebunden wäre. Um Marianne Bachmeier tiefgreifend zu verletzen, musste Klaus Grabowski ihren Körper nicht anrühren. Auch die beiden Verletzungen des Achilles – die Demütigung durch Agamemnon und der Tod seines Freundes Patroklos – waren nicht körperlicher Art. Wie diese Beispiele zeigen, reicht die Sphäre der Verletzlichkeit über den Leib im engeren Sinne hinaus. Sie umfasst alles, was das Selbst in konstitutiver Weise als ihm zugehörig empfindet, alles, was seine persönliche Integrität ausmacht. Das kann unter anderem eine bestimmte Identität sein (als Mutter, als bester Freund etc.), ein bestimmter Status (als Offizier, als Lehnsmann etc.) oder bestimmte Objekte, die Identität oder Status symbolisch substituieren (Flaggen, Wappen, Besitztümer etc.). 48 Kurzum: Die Verletzlichkeit umgreift das Selbst in seinem gesam47
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 56 (Hervorhebung im Original). Für Hans Blumenberg gehört es gar »zu den erstaunlichsten anthropologischen Konstanten, daß der Mensch ein Wesen ist, welches beleidigt werden kann. Er kann betroffen werden, ohne daß seine Physis betroffen ist. Es ist die Kehrseite der actio per distans […]: man kann verwundet werden noch durch das Symbol.« Ders.: Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2006, S. 634.
48
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Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung
ten Dasein, das sich, insofern es ein soziales ist, über die Grenzen des physischen Körpers hinaus in die Welt fortsetzt. Daraus erhellt zugleich, weshalb es bei der Rache so häufig um Angelegenheiten von eminent persönlicher Art und existentiellem Gewicht geht: Man rächt sich nicht für Dinge, die einem nicht wichtig sind, oder für Menschen, mit denen man nichts zu schaffen hat. Was Aurel Kolnai über den Hass geschrieben hat – »Was der Haß verlangt und verheißt, ist […] eine Art Entscheidung über das Schicksal der Welt« 49 –, gilt in gewisser Weise auch für die Rache. Die Bereitschaft, in der Rache seine gesamte Existenz aufs Spiel zu setzen, verliert an Befremdlichkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es Verletzungen gibt, die sich für denjenigen, der sie erleidet, mit dem Gefühl verbinden, um einen zentralen Aspekt oder gar die Grundlage seiner affektiven Verankerung in der Welt gebracht worden zu sein. Aus dem Bisherigen dürfte hinreichend deutlich geworden sein, was unter der affektiven und der normativen Dimension der Verletzung jeweils zu verstehen ist, was beide voraussetzen und jeweils implizieren. Ein analytischer Vorteil dieser Unterscheidung liegt darin, dass sie es ermöglicht, das Gefühl des Verletztseins und die Frage nach der jeweils verletzten Norm voneinander zu entkoppeln. In normativer Hinsicht ist eine Verletzung grundsätzlich ebenso begrenzt wie die Regel, die sie verletzt. Die verletzte Norm bzw. Regel kann benannt werden; ihre Geltung beruht auf der intersubjektiven Verständigung der Mitglieder einer bestimmten Gruppe oder Gemeinschaft. Insofern Normen sozial geteilt werden, ist es also niemals das Gefühl des Verletzten allein, das über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der erlittenen Handlung entscheidet. Anders verhält es sich mit der affektiven Dimension: In affektiver Hinsicht sind die Auswirkungen einer Verletzung (in Form des dem Verletzten zugefügten Leids) potentiell unbegrenzt. Wie die Untersuchung gezeigt hat, setzt Rache beides voraus: den Bezug auf Recht und Unrecht sowie die konkrete Affektion durch eine bestimmte Handlung. 49
Aurel Kolnai: Versuch über den Haß, in: ders., Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt a. M. 2007, S. 100–142, hier S. 133.
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Fabian Bernhardt
Sowenig allein das Gefühl über die verletzte Norm Auskunft zu geben vermag, sowenig sagt allein die Norm etwas darüber aus, wie es sich für den Verletzten anfühlt, ein bestimmtes Unrecht zu erleiden. In dem Verlangen nach Rache treten beide Seiten zusammen. Tatsächlich scheint der Ausdruck ›zusammentreten‹ noch zu schwach; man muss sich das Verhältnis zwischen der affektiven und der normativen Seite der Verletzung nicht bloß als komplementär, sondern vielmehr als eine inwendige Verschränkung vorstellen. Die Semantik der Verletzung jedenfalls weist in diese Richtung: So sprechen wir ebenso davon, dass eine Person verletzt wird, ihre Würde oder Achtung, wie wir davon sprechen, dass eine Regel, ein Gesetz oder eine Norm verletzt wird. Je nachdem, ob der affektive oder der normative Aspekt überwiegt, lassen sich die Objekte, auf die das Verb ›verletzen‹ bezogen wird, zu zwei Reihen anordnen. In der ersten Reihe finden wir im Übrigen nicht nur menschliche Personen, sondern sämtliche Entitäten, denen eine rudimentäre Form von Selbstbezüglichkeit (und sei es auch nur metaphorisch) zugeschrieben wird: auch ein Hund, eine Ente oder die Rinde eines Baums kann verletzt werden. Bei dieser Doppelung handelt es sich um eine Besonderheit der deutschen Sprache, die nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden kann (im Englischen etwa würde man zwischen to injure und to violate unterscheiden). Nichtsdestotrotz scheint zwischen den beiden Verwendungsweisen eine untergründige Verbindung zu bestehen: Neigen wir nicht dazu, jede Verletzung, gleich welchen Ursprungs, als etwas zu betrachten, das besser nicht sein sollte, das also eine, wenn auch schwache, normative Valenz besitzt? Und verweist umgekehrt die Verletzung einer bestimmten Norm, ob moralisch oder rechtlich, an einem bestimmten Punkt nicht immer auch auf jemandem, der diese erleidet? Liegt das Gemeinsame zwischen Achilles und Marianne Bachmeier – um ein letztes Mal die beiden Charaktere aufzurufen, unter deren Ägide die Frage nach dem semantischen Kern der Rache gestellt wurde – nicht darin, dass sie in ihrem Handeln von etwas angetrieben wurden, das für sie ebenso schmerzhaft wie unrecht war? Was eine bestimmte Gesellschaft oder historische Epoche im 190 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung
Einzelnen als Recht und Unrecht definiert, welche Institutionen sie mit der Pflege und Durchsetzung des Rechts betraut und welche Sanktionsformen sie kultiviert, ist äußerst vielfältig und kann auf unterschiedliche Weise erklärt werden. Plausibler jedoch als die für das moderne Selbstverständnis so wichtig gewordene Mär vom Leviathan, der den Krieg aller gegen alle beendet, indem er den Staat als Garanten des Rechts einsetzt, 50 erscheint mir eine Auffassung, die die Genese des Rechtsgefühls und den Entstehungsgrund der Rache aus ein- und demselben Ursprung heraus erklärt: dem Bewusstsein der menschlichen Verletzlichkeit. »The primitive sense of the just«, schreibt die Philosophin Martha Nussbaum, remarkably constant from several ancient cultures to modern institutions […] – starts from the notion that a human life […] is a vulnerable thing, a thing that can be invaded, wounded, violated by another’s act in many ways. For this penetration, the only remedy that seems appropriate is a counterinvasion, equally deliberate, equally grave. 51
Literatur [Ohne Autor:] vergelten, in: Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig 1854– 1961, Bd. 12, I. Abt. (1956), Sp. 407–411. Altenmüller, Irene: Vor 30 Jahren: Marianne Bachmeier verurteilt, http://www. ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/mariannebachmeier101.html vom 27.02. 2013. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, 6. Auflage Stuttgart 2008. Aristoteles: Rhetorik, hg. u. übers. v. Gernot Krapinger, Stuttgart 2007. Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2006.
50
Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan, hg. u. mit einer Einführung versehen v. Hermann Klenner, übers. v. Jutta Schlösser, Hamburg 1996. 51 Martha Nussbaum: Equity and Mercy, in: dies., Sex & Social Justice, New York/Oxford 1999, S. 154–183, hier S. 157 (Hervorhebung F. B.).
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Fabian Bernhardt
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Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung
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Susanne Karstedt
Emotions, Truth and Justice: Shared and Collective Emotions in Transitional Justice
1.
The Emotional Salience of Transitional Justice
Contemporary reports from the courtrooms of international tribunals and from truth commissions provide compelling examples of how both victims and perpetrators perceive Transitional Justice (TJ) procedures as spaces to express and share emotions. They address audiences within the courtroom as well as the wider public, their own as well as the group of the other. A woman who testified before the South African Truth and Reconciliation Commission (TRC) knowing that this would be broadcast stated: »I wanted the world to see my tears«. 1 At the International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY), a woman wanted to confront her neighbours: »I wanted to see (them) … and ask them why they did it«. 2 Jeffery provides a haunting report of the expression of anger from the trial of prison commander Duch at the Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC), when the brother of a victim and one of the civil parties to the trial addressed the defendant directly: »I have wanted to smash you …« 3 It caused uproar, when Biljana Plavšić, the former Pre1
Quoted in Minow, Martha: Between Vengeance and Forgiveness: South Africa’s Truth and Reconciliation Commission, in: Negotiation Journal 14 (1998), p. 319–355, at p. 331. 2 Quoted in Stover, Eric: Witnesses and the promise of justice in The Hague, in: Eric Stover/Harvey Weinstein (Eds.) My Neighbour, My Enemy. Justice and Community in the Aftermath of Mass Atrocity, Cambridge 2004, p. 104–120, at p. 106. 3 Jeffery, Renée: The forgiveness dilemma: emotions and justice at the Khmer Rouge tribunal, in: Australian Journal of International Affairs 69 (2014), p. 35– 52, at p. 45.
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Shared and Collective Emotions in Transitional Justice
sident of the Republika Srpska, who had been sentenced for crimes against humanity, later publicly retracted her expression of remorse and apology that she had given in court; it was seen as playing games with the emotions of victims. 4 At a recent trial of a former guard and accountant in Auschwitz in Germany, one of the victims and civil parties present reached out to the defendant in a gesture of reconciliation, and offered forgiveness. 5 Numerous reports from the International Military Tribunal (IMT) at Nuremberg, and later follow-up trials equally testify to the salience of emotions in these trials, perhaps best epitomised by US journalists like Martha Gellhorn, who covered the IMT at Nuremberg; she felt »shame as a human being« when she saw footage from liberated concentration camps. 6 There can be little doubt about the salience of emotions in transitional justice. The events and crimes elicit moral outrage. 7 Victims express their experiences of trauma; individual emotions of victims and defendants during and as part of procedures include sadness, anger and hatred on the part of victims, and shame, guilt and remorse among the perpetrators. 8 The change of status for formerly powerful perpetrators, who find themselves now in the dock, might elicit emotions of anger, shame and fear among them 4
Subotić, Jelena: The cruelty of false remorse: Biljana Plavšić at The Hague, in: Southeastern Europe 36 (2012), p. 39–59. 5 Huth, Peter/Jasch, Hans-Christian: Die letzten Zeugen. Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg 2015: Eine Dokumentation. München 2015, p. 19. 6 Weckel, Ulrike: Nachsitzen im Kino. Anglo-amerikanische KZ-Filme und deutsche Reaktionen 1945/46 – über Versuche kollektiver Beschämung, in: Berliner Debatte Initial 17 (2006), 1/2 p. 84–99, at p. 85. 7 Martin, Brian: Managing Outrage over Genocide: Case Study Rwanda, in: Global Change, Peace & Security 21 (2009), p. 275–290; Muldoon, Paul: The Legitimacy of Anger, in: European Journal of Social Theory 11 (2008), p. 299–314. 8 For South Africa: Gobodo-Madikizela, Pumla: Remorse, Forgiveness, and Rehumanization: Stories from South Africa, in: Journal of Humanistic Psychology 42 (2002), p. 7–32; Lu, Catherine: Shame, Guilt and Reconciliation after War, in: European Journal of Social Theory 11 (2008), p. 367–383; Weckel, Ulrike: Disappointed Hopes for Spontaneous Mass Conversions: German Responses to Allied Atrocity Film Screenings, 1945–46, in: Bulletin of the German Historical Institute (2012), p. 39–53.
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Susanne Karstedt
and their group. The emotions of judges, lawyers and audiences present at these procedures, 9 and of »sympathetic witnesses« and »listeners« add to the emotional dynamics of transitional justice procedures. 10 Forgiveness as an »emotional practice« is part of contemporary transitional justice procedures, in criminal trials as well as in Truth and Reconciliation Commissions (TRCs). 11 Finally, broadcasts and documentaries of procedures like »A long night’s journey into day« on the South African TRC transport emotional images and content to the general public. During the Nuremberg IMT, documentaries of the mass atrocities and genocide committed in their name were used to legitimize the Tribunal among the German population, and to elicit collective emotions of guilt and shame. 12 Since the Nuremberg Trials the emotional salience and appeal of TJ procedures has been recognized. In his opening speech on 21 November 1945, Chief Justice Jackson famously declared: »That four great nations, flushed with victory and stung with injury stay the hand of vengeance and voluntarily submit their captive enemies to the judgement of law is one of the most significant tributes that Power has ever paid to Reason«. 13 With this statement he established a triangle of emotion (vengeance), reason (law), and power (victors and vanquished), that reflected the inbuilt tensions of the Nuremberg Tribunal. In contrast, rather than being seen as a conflict between reason and emotion, contempor9
Judges in Belgium: Elster, Jon: Closing the Books. Transitional Justice in Historical Perspective, Cambridge 2004, p. 216. 10 Minow, Martha: Between Vengeance and Forgiveness, at p. 335. 11 Jeffery, Renée: To forgive the unforgivable? Evil and the ethics of forgiveness in international relations, in: Renée Jeffery (ed.) Confronting Evil in International Relations, New York 2008, p. 179–212; Jeffery: Forgiveness Dilemma; Minow: Between Vengeance and Forgiveness; Allan, Alfred/Allan, Maria/Kaminer, Debra/Stein, Dan: Exploration of the Association between Apology and Forgiveness amongst Victims of Human Rights Violations, in: Behavioural Sciences and the Law 24 (2006), p. 87–102. 12 Weckel: Disappointed Hopes; Weckel: Nachsitzen im Kino; Weckel, Ulrike: Beschämende Bilder, Stuttgart 2012. 13 International Military Tribunal: Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal. Vol. 2. Nuremberg 1947.
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Shared and Collective Emotions in Transitional Justice
ary transitional justice has been cast as a juxtaposition of two diverging emotions and the tensions »Between Vengeance and Forgiveness«, thus the title of Martha Minow’s influential book on the South African Truth and Reconciliation Commission. 14 As the examples above demonstrate, sharing and communicating emotions take place in all types of TJ settings. Contemporary TJ procedures encourage the expression of emotions more than its predecessors in the wake of World War II not the least because of the presence of victim-witnesses and the explicit aim of providing justice for victims. 15 Notwithstanding the considerable differences between contemporary TJ procedures, whether they are international, hybrid or national procedures, whether they are criminal procedures proper or truth and reconciliation commissions, or whether they are more formal or informal procedures, all give space to the expression of emotions, the open display of emotions, and to often highly emotional statements by victims and perpetrators. Since their inception at the IMT at Nuremberg TJ procedures are tasked with shaping individual emotions as well as collective emotions and the emotional climate in the wider transitional and post-conflict society. Contemporary TJ procedures are thus confronted with extraordinary expectations as to 14
Minow, Martha: Between Vengeance and Forgiveness. Facing History after Genocide and Mass Violence, Boston 1998. 15 The Nuremberg Trials were nearly exclusively based on evidence from documents and testimony from other perpetrators, and in hindsight they are criticised for the exclusion of victims. These criticisms often ignore the reason for this decision by the prosecution, and the constraining conditions under which the Nuremberg Trials took place. First, the Nuremberg Trials were trials of the elites of the Nazi state, who mostly had not directly participated in mass atrocities; the paper trail of orders and reports and the evidence from lower level perpetrators was thus decisive. Second, at the time of the trial immediately after the war the vast majority of survivors wanted to return to their home countries and not to the country of the perpetrators. Victims were and are present as civil parties in all major trials of Holocaust perpetrators in Germany since the 1950s, most prominently in the Auschwitz and Majdanek trials in the 1960ies and 1970ies. For a detailed analysis see Karstedt, Susanne: From Absence to Presence, from Silence to Voice: Victims in Transitional Justice since the Nuremberg Trials, in: International Review of Victimology 17 (2010), p. 9–30.
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what they should achieve when dealing with individual as well as collective emotions. This contribution will examine the emotion dynamics of TJ procedures, and the mechanisms of emotion sharing between individuals within TJ settings, and within collectives. This will help to enhance our understanding of the emotion dynamics in TJ. It might also shift debates away from a search for the »most victim friendly form« of TJ towards a detailed assessment of the particular features of different settings and procedures. 16 To this purpose I propose a framework of »emotion sharing«. 17 The social sharing of emotions functions as »an interface between individual and collective processes«. 18 The framework thus captures both the supposed emotional effects of post-conflict and transitional justice on individual victims (and perpetrators), as well as on post-conflict societies. Such an approach implies a perspective on TJ procedures as settings, spaces and rituals with a diversity of emotion sharing processes: between victims and perpetrators, with »sympathetic« witnesses and listeners, with lawyers, judges and professionals in the (court) room, with the communities of victims and perpetrators, or with society beyond the confined space where the procedure takes place. Evidence from a range of different TJ settings and procedures will be used, including the Nuremberg and Tokyo Trials, international and national criminal trials and tribunals, truth commissions and informal community procedures like the gacaca courts
16
Mendeloff, David: Trauma and vengeance: Assessing the psychological and emotional effects of post-conflict justice, in: Human Rights Quarterly 31 (2009) p. 592–623, at p. 616; such a perspective is particularly pronounced in Flam, Helena: The transnational movement for Truth, Justice and Reconciliation as an emotional (rule) regime?, in: Journal of Political Power 6 (2013), p. 363–383. 17 Overview in Rimé, Bernard: Emotion Elicits the Social Sharing of Emotion: Theory and Empirical Review, in: Emotion Review 1 (2009), p. 60–85. 18 Rimé, Bernard: The social sharing of emotions as an interface between individual and collective processes in the construction of emotional climates, in: Journal of Social Issues, 63 (2007), p. 307–322; von Scheve, Christian/Ismer, Sven: Towards a Theory of Collective Emotions, in: Emotion Review 5 (2013), p. 406–413.
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in Rwanda. 19 All TJ procedures have in common that they are legal procedures, are based on law and proceed according to legal rules. Besides criminal procedures before national, hybrid, and international tribunals and courts, this applies to civil procedures to claim damages for victims, lustration, amnesties, and truth and reconciliation commissions. The United Nations Report of the Secretary General on Transitional Justice of 2004 confirms this legal character when it defines TJ as »the full range of processes and mechanisms associated with a society’s attempts to come to terms with the legacy of large-scale past abuses, in order to ensure accountability, serve justice and achieve reconciliation«. 20 If they are not outright court procedures, TJ settings in many ways emulate court procedures as e. g. truth and reconciliation commissions. I will first give an overview over the evidence of the emotional impact of TJ procedures on individual and collective emotions, and then proceed with an analysis through the lens of emotion sharing mechanisms. This will be done with a focus on a) the legal setting as enabling and limiting emotion sharing; b) the problems arising from sharing trauma and guilt; c) emotional relief and recovery; and finally d) the impact on collective emotions and emotional climates. 2.
Great Expectations and Continuous Disappointment
While »emotional and psychological healing did not figure largely« in the responses to the Holocaust, 21 the supposed and ex19
Gacaca courts were installed after the genocide in Rwanda to deal with lower level and less serious perpetrators in their /their victims’ communities, and based on a template of indigenous justice; Knust, Nandor: Strafrecht und Gacaca: Die Entwicklung eines pluralistischen Rechtsmodells am Beispiel des ruandischen Völkermordes, Berlin 2013. 20 United Nations Security Council: The Rule of Law and Transitional Justice in Conflict and Post-conflict Societies. Report of the Secretary-General to the Security Council, 23 August 2004, S/2004/616, p. 4. 21 Minow: Vengeance and Forgivenness South Africa, p. 328.
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pected impact of emotions on healing, reconciliation and forgiveness in contemporary transitional justice procedures can hardly be overstated. This includes claims as to the »social and political influence« of emotions, 22 or expectations for »catalys(ing) the emergence of a democratic emotional culture«. 23 Drumbl sees shame as a »particularly effective device in the close-knit living patterns of dualist post-genocidal societies« like Rwanda. 24 Positive expectations regarding the beneficial emotional impact and potential of TJ are juxtaposed with warnings of potential negative consequences when emotions raised during procedures might fuel further violence. 25 Moreover, TJ procedures—whether international courts or tribunals, truth commissions, domestic courts or other more informal mechanisms—are cast in terms of healing rather than justice, as Minow had observed early on. 26 Truth telling, accountability and justice are seen as mechanisms that are supposed to lead on to the emotional recovery of individuals as well as of victim groups. 27 Further, these mechanisms should initiate a change of the emotional climate and processes of healing in post-conflict societies as these emerge from a history of mass atrocities and human rights abuses. 28 As the language of healing crowded out the terminology of justice, the legal setting and constraints of TJ procedures were increasingly deemed to be detrimental to the expression and sharing 22
Hutchison, Emma/Bleiker, Roland: Emotional Reconciliation: Reconstituting Identity and Community after Trauma, in: European Journal of Social Theory 11 (2008), p. 385–403, at p. 386. 23 Mihai, Mihaela: Socializing Negative Emotions: Transitional Justice Trials in the Service of Democracy, in: Oxford Journal of Legal Studies 31 (2011), p. 111– 131, at p. 113. 24 Drumbl, Mark: Punishment, Postgenocide: From Guilt to Shame to Civis in Rwanda, in: New York University Law Review 75 (2000), p. 1221–1236, at p. 1232. 25 Lu, Catherine: Shame, Guilt and Reconciliation after War. 26 Minow: Vengeance and Forgivenness South Africa, p. 327. 27 Doak, Jonathan: The therapeutic dimension of transitional justice: Emotional repair and victim satisfaction in international trials and truth commissions, in: International Criminal Law Review 11 (2011), p. 263–298. 28 Mendeloff: Trauma and Vengeance, p. 598.
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Shared and Collective Emotions in Transitional Justice
of emotions, and thus to the emotional recovery of victims and victim groups. While Justice Jackson at the Nuremberg Trials subjected emotions (as well as power) to the authority of law and thus to »reason«, contemporary authors see legal procedures in international courts and tribunals as well as in truth commissions as an undue constraint on the expression of emotions and trauma; legal procedures it seems thus thwart the potentially healing impact of transitional justice procedures, and stand in the way of emotional recovery. The widely observed lack of such emotional impact indeed seems to evidence the shortcomings of the legal context and its characteristic formalities in giving space to and acknowledging emotions. 29 However, the claims to emotional recovery have turned out to be mostly »article(s) of faith«, 30 and based on anecdotal rather than on robust evidence. Notwithstanding a growing body of research, there is currently little empirical data that suggests that such outcomes can actually be delivered by TJ procedures of all types. Having conducted one of the most comprehensive reviews of empirical studies on the topic Doak states: »Precisely, how (italics in original) the truth acts to transform negative emotions is still unknown«. 31 Starting with the first studies of victim-witnesses at the ICTY the results give little unambiguous support to the impact of truth-telling, accountability and justice on the emotional healing of victims. 32 Similar results are obtained for the South African TRC. 33 For most victims, giving evidence and 29
Minow: Vengeance and Forgivenness South Africa, p. 327; Mihai: Socializing Negative Emotions; Flam: Transnational movement. 30 Minow: Vengeance and Forgivenness South Africa, p. 329. 31 Doak: Therapeutic dimension, p. 275. 32 Biro, Miklos/Adjukovic, Dean/Coralko, Dinka/Djipa, Dino/Milin, Petar/ Weinstein, Harvey: Attitudes toward justice and social reconstruction in Bosnia and Herzegovina and Croatia, in: Stover/Weinstein (Eds.) My Neighbour, My Enemy, p. 183–205; Stover: Witnesses and the promise of justice. 33 Kaminer, Debra/Stein, Dan/Mbanga, Irene/Zungu-Dirwayi, Nompumelelo: The Truth and Reconciliation Commission in South Africa: relation to psychiatric status and forgiveness among survivors of human rights abuses, in: British Journal of Psychiatry 178 (2001), p. 373–377; overview Mendeloff: Trauma and Vengeance.
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truth-telling is experienced as involving considerable emotional pain; this applies to participants in the South African TRC 34 as well as to those in local gacaca courts that dealt with the genocide in Rwanda. 35 Brounéus reports a particularly negative impact on the emotional and overall well-being of women who testified at the local gacaca courts that dealt with the genocide in their community. 36 Corroborating findings were obtained by Byrne for the South African TRC: 80% found that the process involved »considerable emotional pain«, and only 20% felt that they had »benefited from … shared reactions«. 37 The impact of participation in the gacaca courts differed for survivors and perpetrators; while the emotional and psychological wellbeing of the former clearly decreased, signs of enhancement were observed for the perpetrator group. 38 Victims in Guatemala, who had testified at a military tribunal against those who had participated in a massacre in their communities reported higher levels of negative emotions like loneliness, anger and fear. 39 The most positive results are reported for victims, who acted as civil party in the trial of Duch, the governor of the notorious S21 detention centre, at the ECCC. Several factors might have contributed to the outcome, including the recognition as civil party, the size of the victim group at the court, and finally the time that had passed since the events took place in 1975 to 1979. 40 34
Byrne, Catherine: Benefit or burden: victims’ reflections on TRC participation, in: Peace and Conflict. Journal of Peace Psychology 10 (2004), p. 237–256. 35 Brounéus, Karen: Truth-telling as a talking cure? Insecurity and retraumatization in the Rwandan Gacaca courts, in: Security Dialogue 39 (2008), p. 55–76; Rimé, Bernard/Kanyangara, Patrick/Yzerbyt, Vincent/Paez, Dario: The impact of Gacaca tribunals in Rwanda: Psychosocial effects of participation in a truth and reconciliation process after genocide, in: European Journal of Social Psychology 41 (2011), p. 695–706. 36 Brounéus: Truth-telling. 37 Byrne: Benefit or burden, p. 243. 38 Rimé et al: Impact of Gacaca tribunals, at p. 703. 39 Lykes, Brinton/Beristain, Carlos/Cabrera Pérez-Arminan, Maria-Louisa: Political Violence, Impunity, and Emotional Climate in Maya Communities, in: Journal of Social Issues 63 (2007), p. 369–385. 40 Stover, Eric/Balthazard, Mychelle/Koenig, Alexa: Confronting Duch: Civil
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O’Connell focussed on criminal trials and prosecution, and canvassed forensic psychological studies, interviews with therapists who counselled survivors and the scant evidence from TJ fora. He found conflicting and contradictory evidence for the psychological and emotional well-being of victims of severe human rights abuses (mostly torture) who were involved in criminal and civil claims against perpetrators, with some studies reporting initial relief, and also positive feelings like hope, in contrast to others which mainly found no or even a negative emotional impact. 41 Mendeloff conducted the most extensive study using »direct evidence« from South Africa and former Yugoslavia. He concludes that the results show little impact on victims’ emotional wellbeing. Given that victims of massive human rights abuses suffer from multiple traumas, it is likely »that post-conflict truth-telling mechanisms … have even less of a beneficial impact … (and) psychological benefit«. 42 In a similar vein, claims as to a positive and healing impact of TJ on collective emotions and the emotional climate of post-conflict societies get mixed support. The majority of survivors in former Yugoslavia were dissatisfied with the TJ process; however, their emotional responses to perceived impunity of the perpetrators were only weakly related to psychological and emotional wellbeing. 43 Two related studies of the local gacaca courts in Rwanda show that both the victim-witnesses/survivors and the perpetrators who were charged with sexual and other violence, and property crimes like looting rated the emotional climate in their communities as more negative, which was most marked among the party participation in Case 001 at the Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, in: International Review of the Red Cross 93 (2011), p. 503–546. 41 O’Connell, Jamie: Gambling with the psyche: Does prosecuting human rights violators console their victims?, in: Harvard International Law Journal, 46 (2005), p. 295–345. 42 Mendeloff: Trauma and Vengeance, at p. 596 and 614. 43 Başoğlu, Metin/Livanou, Maria/Crnobarić, Cvetana/Frančišković, Tanja/ Suljić, Erin/Durić, Dijana/Vranešić, Melin: Psychiatric and Cognitive Effects of War in Former Yugoslavia, in: Journal of the American Medical Association 294 (2005), p. 580–592.
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victim-survivor group. However, notwithstanding such negative perceptions, both groups participating in the trials developed a more individualised and personalised perspective and less prejudiced view of each other after they had attended the gacaca courts in their communities. 44 In post-conflict Chile, both direct and indirect victims as well as non-affected members of the public mainly agreed that forgiveness could not be achieved for the violence that had haunted the country during the years of the Pinochet regime. 45 TJ procedures address both victims and perpetrators with different messages and appeals to emotions. In particular the Nuremberg Tribunal was cast in terms of sending a message to the German people; it aimed at instilling »collective guilt« and shame among the Germans for the crimes that had been committed in their names, in their faces and with their support and involvement. 46 Collective guilt was never accepted by a majority during and after the trials. 47 The screening of documentaries of the atrocities to the German public did not elicit the collective reactions of guilt and shame that the Western Allies had hoped for. 48 In particular the Americans saw the »mobilization of feelings of 44
Rimé et al: Impact of Gacaca tribunals; Kanyangara, Patrick/Rimé, Bernard/ Philippot, Pierre/Yzerbyt, Vincent: Collective Rituals, Emotional Climate and Intergroup Perception: Participation in “Gacaca” Tribunals and Assimilation of the Rwandan Genocide, in: Journal of Social Issues 63 (2007), p. 387–403. 45 Cardenas, Manuel/Paez, Dario/Rimé, Bernard/Bilbao, Angeles: Personal emotions, emotional climate, social sharing, beliefs and values among people affected and unaffected by past political violence, in: Peace and Conflict. Journal of Peace Psychology 20 (2014), p. 452–464. 46 Karstedt, Susanne: Die doppelte Vergangenheitsbewältigung der Deutschen: Die Verfahren im Urteil der Öffentlichkeit nach 1945 und 1989, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 17 (1996), p. 58–104. Knowledge about the Holocaust: Bajohr, Frank/Pohl, Dieter: Massenmord und schlechtes Gewissen. Reinbek b. Hamburg 2008. 47 Karstedt, Susanne: The Nuremberg Tribunal and German Society: International Justice and Local Judgment in Post-Conflict Reconstruction, in: David Blumenthal/Timothy McCormack (Eds.), The Legacy of Nuremberg. Civilising Influence or Institutionalised Vengeance? Leiden: Koninklijke Brill 2008, p. 13–35. 48 Weckel: Nachsitzen im Kino; Weckel: Disappointed Hopes; Weckel: Beschämende Bilder.
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guilt« as decisive for the impact of the films, and they sent out observers, took photos of the public when they left the cinemas, and conducted surveys. Notwithstanding individual and open reactions of shock and shame, the overall result was disappointing. »Almost nowhere can one find any individual acceptance of guilt«, nor did most of the attendants show visible shock. 49 This equally applies to the screenings and the actual visits of the concentration camps. This failure was seen as indicative of a lack of insight among the German population into the crimes and outrageous wrongs that had been committed, and of the futility of reeducation. For the Tokyo Trial, Dower suggests a »kaleidoscope (of ) such responses« rather than uniform emotional responses in the public to which these procedures were addressed. 50 These results are surprisingly consistent across different TJ procedures: whether international or domestic trials, whether criminal trials or truth commissions, whether past or contemporary procedures, they do not seem to achieve what they are tasked and claimed to do, neither for individual victims and perpetrators, nor for the post-conflict society as a whole. 51 The analyses point toward underlying processes and uniform mechanisms that are functional in generating the consistent and overall disappointing results. Getting a better and more systematic understanding of the emotion dynamics in these processes might give a firmer foundation to address and amend the problems of emotions in TJ procedures. Which expectations of TJ procedures are realistic, which emotional reactions can be expected and from whom? Where is the promise of emotional healing plausible and where not, and under what circumstances?
49
Quoted in Weckel: Beschämende Bilder, p. 444; Weckel: Nachsitzen im Kino. Dower, John: Embracing Defeat. Japan in the Wake of World War II. New York 1999. 51 Mendeloff: Trauma and Vengeance, p. 616; Stover, Eric: The Witnesses: War Crimes and the Promise of Justice. Philadelphia 2005, p. 15. 50
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3.
Transitional Justice: Through the Lens of Emotion Sharing
3.1 Emotion Sharing: Theoretical Approaches and Empirical Results The field of »emotion sharing« provides a theoretically rich and empirically promising framework for understanding these processes as they emerge within the spaces of tribunals and court rooms, and reach beyond these. 52 Emotions have long-lasting cognitive and social consequences in individuals, and TJ procedures are confronted with these. 53 TJ procedures are thus one of the many spaces and situations where people share emotions: the social sharing of emotion is a natural condition of social life. People share emotions independent of age and gender, education, status, and cultural practices. Emotion sharing is initiated early after an episode, however the need for sharing lasts as long as the memory of the emotion maintains its impact. Emotions are mainly shared within close social circles, but spread beyond their origin as people share. Sharing affects the individual who experienced the emotion and those who are the recipients (»targets«) of the shared emotion. Individuals share all types of emotions, both positive and negative emotions. Negative emotions are elicited by loss, threats and other negative experiences, and include anger, fear, sadness, but also shame and guilt; anxiety, and depression are also in this category. 54 Sadness, vengeance, and anger are shared as much as happiness and joy; further, the experience of sharing even very 52
Overview: Rimé, Bernard: Emotion Elicits Social Sharing, p. 60–85; one of the rare applications to TJ settings (Argentina): Stockwell, Jill: Reframing the Transitional Justice Paradigm. Women’s Affective Memories in Post-Dictatorial Argentine, Heidelberg 2014; application to cases of serious violence in domestic court: Lens, Kim/Pemberton, Anthony/Brans, Karen/Braeken, Johan/Bogaerts, Stefan/Lahla, Esmah: Delivering a victim impact statement: Emotionally effective or counterproductive? in: European Journal of Criminology 12 (2015), p. 17–34. 53 Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 62. 54 Plutchik, Robert: The Psychology and Biology of Emotions. New York 1994, p. 109.
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negative emotions is not perceived as uncomfortable or painful by a majority of subjects; consequently, traumatic emotional experiences are frequently shared, and victims also express a need to do so. 55 The social sharing of emotions links an individual’s closer and more distant social circles, and leads on to emotional reactions among the listeners, the »targets« of sharing. 56 Two types of reactions from listeners are observed. »Socio-affective« reactions are often non-verbal, and offer emotional support like comfort, consolation, empathy and bonding; they convey a sense of recognition and validation of the suffering and emotional experience. Emotion sharing initially favours socio-affective responses, and the expectations of the person sharing and the responses of the listeners converge. 57 Listeners respond with more socio-affective reactions the more intense the related episode and emotions are, in particular with non-verbal responses. »Cognitive responses« in contrast aim at helping the narrator to understand their emotional experience. This includes a (re-)framing and (re-)appraisal of the episode which ultimately should lead the narrator to adapt expectations, goals and actions in the process of coping with the emotion. They thus elicit cognitive responses to the emotional distress in the narrator: efforts to cope with and address the situation, and to regain control over the emotions and the situation. 58 In particular the initial socio-affective responses to shared emotions have an immediate impact as they generate stronger bonds between the narrator and the listeners; they thus convey a sense of belonging, and can enhance a person’s social integration into groups and wider social circles. People thus feel spontaneously relieved after sharing their emotions, and generally benefit from sharing, as feelings of insecurity, loneliness, and helpless-
55
Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 67. Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 71–74. 57 Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 62, p. 75–76. 58 Lepore, Stephen/Fernandez-Berrocal, Pablo/Ragan, Jennifer/Ramos, Natalia: It’s not that bad: Social challenges to emotional disclosure enhance adjustment to stress, in: Anxiety, Stress and Coping 17 (2004), p. 341–361. 56
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ness are alleviated. 59 Sharing thus has the potential to reduce distress caused by emotions through both socio-affective and cognitive responses from the targets of sharing: it addresses immediate needs of the person experiencing (negative) emotions for comfort and consolation, validates negative emotions, enhances the understanding of and adaptation to emotional experiences, and thus protects individuals from the emotional impact of situations and can promote long-term recovery. 60 Application of this general model of emotion sharing focusses on issues of critical importance for TJ settings: the type of emotions and traumatic experiences shared between victims, perpetrators and audiences; the mode of reaction—whether socio-affective or cognitive; and the impact of TJ procedures and settings on emotional recovery and healing. 3.2 The Legal Setting: Limiting or Supporting? In principle, the framework of emotion sharing largely supports the role that contemporary TJ assigns to the presence of victims, their statements, and their expressions of emotions. The examples given above, from the courtrooms of international tribunals as well as from truth commissions provide compelling insights into how victims or perpetrators perceive TJ procedures as a space to share emotions, and actively engage in the process. They demonstrate how victims are motivated by the search for emotional support like meaning, recognition and validation. The mostly negative emotions shared in TJ procedures nonetheless instigate social interaction by story-telling and conversation. 61 The legal setting of a criminal trial is not by default inimical to the recognition and validation of victims’ suffering; to the contrary it actually legiti59
Zech, Emmanuelle/Rimé, Bernard: Is talking about an emotional experience helpful? Effects on emotional recovery and perceived benefits, in: Clinical Psychology and Psychotherapy 12 (2005), p. 270–287. 60 Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 75. 61 Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 62, p. 75
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mizes such suffering within an institutional and authoritative context and thus for the affected communities. The framework of emotion sharing generally corroborates the initially high hopes and optimism of victims who look forward to sharing their stories in courts as well as in truth commissions, and accounts for their reports of initial relief, as Gobodo-Madikizela found for the South African TRC. 62 The social-integrative function of emotion sharing might instigate a change in mutual perceptions between victim and perpetrator groups, with a more individualised rather than group-based perspective, as was observed for participants at the community gacaca courts in Rwanda. 63 However, the legal setting constrains socio-affective modes of responses, and thus disappoints victims’ expectations. In all courts, but even in truth commissions, judges, chairs, and other legal personnel are restricted with regard to the expression of emotions. 64 Victims who testified in international courts and tribunals mostly felt that their initially high hopes had been thwarted, and sharing their emotions was not met with appropriate responses or fell on deaf ears. 65 Often their testimonies and stories are only vaguely related to the case. Transcripts of victim-witnesses’ testimonies at the ICTY include incongruous reactions from judges, which even if obviously well-meant as a socio-affective response failed to recognise the suffering. 66 TJ fora ostensibly differ with regard to the space and encouragement they give to emotion sharing. Thus, the South African TRC was exemplary in encouraging the sharing of emotions, partially facilitated by the fact that an amnesty could only be granted 62
Gobodo-Madikizela: Remorse, Forgiveness. Kanyangara et al: Collective Rituals, emotional climate. 64 Maroney, Terry/Gross, James: The ideal of the dispassionate judge: An emotion regulation perspective, in: Emotion Review 6 (2014), p. 142–151. 65 Human Rights Center: Bearing Witness at the International Criminal Court. Berkeley: UC Berkeley School of Law 2014; Stover, Eric: Witnesses and justice. 66 The judge responded to a victim, whose father presumably had been killed: »I hope your father will come back.« Dembour, Marie-Benedicte/Haslam, Emily: Silencing Hearings? Victim-witnesses at War Crimes Trials, in: European Journal of International Law 15 (2004), p. 151–177. 63
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if the victims were willing to grant forgiveness, and the offender willing to come forward and acknowledge the wrongdoing. Documentaries provide evidence of emotional reactions from all present. This might account for victims’ reports of initial relief, and feelings of being recognized. Likewise, the presence and involvement of a large group of victims, as at the ECCC in Cambodia, seem to provide an environment where socio-affective responses can flourish, not only in court but also within the group of victims present at the trial, which might account for higher levels of satisfaction among victims. In contrast, the audiences in the gacaca courts represented divided communities, with non-sympathetic and inimical listeners from the perpetrator group creating a situation in which the sharing of emotions became a negative emotional experience for the victim. Women who testified in local gacaca courts were utterly distressed, angered and scared by negative and stigmatizing reactions from the audience, and the denial of recognition of their plight. The women reported: »The most difficult is that they sabotage the testimonies. When we give testimony, they do not listen.« Others spoke of harassment during the gacaca, and the ensuing psychological crisis: »When I gave testimony, the other survivors with the same problems supported me. … but the génocidaires, they are still angry. … They said derogatory remarks of women.« 67 3.3 Disjunctions: Emotion Sharing between Victims and Perpetrators In TJ settings, perpetrators who committed horrific crimes and were involved in massive abuse and atrocities, meet and encounter victims who suffer from multiple traumatic experiences. Victims come with anger, sadness and memories of traumatic emotional experiences, while perpetrators feel anger, shame and guilt. TJ fora are defined by the extremely negative emotions and distres67
Brounéus: Truth-telling, p. 69.
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sing emotional experiences that are shared between members of antagonistic groups, and with equally divided audiences. What are the specific qualifications and limitations for sharing intense traumatic experiences and guilt and shame in TJ fora? Research on emotion sharing confirms that traumatic emotions are frequently shared, and there are no differences in sharing between those who have experienced intense trauma and those who have not. 68 However, those with the most intensive symptoms of Post-Traumatic Stress Disorder (PTSD) were more reluctant about sharing all emotional aspects of their experience, and in particular did not want to share the most distressing ones. Consequently, victims feel unable to express their extraordinary experience, and »they fear not being understood, or not being believed and validated by the people they talk to«. 69 These sentiments are echoed in the interviews with women who testified at gacaca courts, or by members of a Maya community in Guatemala attending a trial of the soldiers who had committed mass atrocities in their communities. 70 Direct victims of political violence in Chile thus felt more inhibited to express their emotional distress and trauma experienced during the period of violence. 71 These sentiments reflect what actually can be expected from listeners to such distressing events. The socio-affective mode of response is suspended for such situations. When listeners are confronted with extreme trauma, atrocious events or severe illness, they tend to react with less empathy and even attempt to constrain the victim in the expression of emotions. Bystanders and non-victims severely underestimate the victim’s situation, react with anxiety and respond with simplistic interventions that cannot do justice to the complex consequences of the negative emo-
68
Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 68. Victims of political violence in Chile: Cardenas et al: Personal emotions, emotional climate, p. 461. 70 Gacaca courts: Brounéus: Truth-telling, p. 69–71; Guatemala: Lykes et al: Political Violence. 71 Cardenas et al: Personal emotions, emotional climate, p. 461. 69
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tional experience. 72 Experiences of Holocaust survivors and victim-witnesses at courts and truth commissions are representative of these processes. As both Hondius and Danieli report for Holocaust survivors, survivors experience this as a »conspiracy of silence« that extends to all realms of society, and even includes mental health, justice and other professionals. 73 Survivors in Guatemala report that in their small community they received little support and empathy even from their own group. 74 Brounéus reports several cases of women who, after having given highly emotional testimony of their trauma in gacaca courts, were neither visited nor looked after by their neighbours or other community members who had been present. 75 This general mechanism of emotion sharing might also account for the incongruous response of a judge at the ICTY. Perpetrators are even more restrained in sharing their emotions of shame and guilt. Both emotions are defined as »self-conscious emotions«, based on the observation that they make individuals wish to hide and disappear. 76 Individuals tend not to share events that elicit feelings of shame and guilt, and in particular they keep those experiences secret that involve a greater responsibility for the event. Perpetrators therefore should be inhibited to actually share these emotions and be very reticent in expressing them. 77 These limitations of sharing traumatic and self-conscious emotions on both sides of the divide between victims and perpetrators seemingly account for the general and widespread disappoint-
72
Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 76. Hondius, Dienke: Return. Holocaust Survivors and Dutch Anti-Semitism. Westport US 2003; Danieli, Yael: Massive trauma and the healing role of reparative justice, in: Journal of Traumatic Stress 22 (2009), p. 351–357. 74 Lykes et al: Political Violence, p. 378. 75 Brounéus: Truth-telling, p. 70 76 Lewis, Michael: The emergence of human emotions, in: Michael Lewis/Jeanette Haviland-Jones/Lisa Feldman Barrett (Eds.), Handbook of Emotions, New York 2010, p. 304–319. 77 Finkenauer, Catrin/Rimé, Bernard: Socially shared emotional experiences vs. emotional experiences kept secret: Differential characteristics and consequences, in: Journal of Social and Clinical Psychology, 17 (1998), p. 295–318. 73
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ment among victims and survivors, whether participating in TJ fora or not. The overall lack of socio-affective responses might drive the strong and nearly universal feelings of anger and disappointment with which many victim-witnesses walk away. 78 For victims who suffer from high levels of trauma, feelings of anger, loneliness and loss often prevail. 79 Victims might be particular disappointed at the perpetrator’s reluctance to show or share emotions of shame and guilt; they interpret the invisibility as a lack of such emotions, even if perpetrators experience them. Such disappointment might also translate into the widely reported perceptions of leniency and impunity for the perpetrator, which for victims in a way and in hindsight corroborate the lack of validation and recognition of their traumatic experiences by TJ. 80 These discrepancies and disjunction in the sharing of emotions between victims and perpetrators are the root causes of what Jeffery describes as the »forgiveness dilemma«. 81 When victims are reticent to give voice to the most distressing traumatic experiences, and perpetrators withhold expressions of shame and guilt, forgiveness is difficult to achieve. Victims demand that expressions of guilt, remorse and shame are authentic and represent true emotions. Rituals of apologies are rejected, 82 as are purely instrumental apologies. 83 Victims of gross human rights violations in South Africa, whether they had participated in the TRC proceedings or not, and whether they had given public or closed testimony to a TRC investigator, were not willing to forgive when only guilt was admitted, or an apology made by the perpetrator. They requested to see signs of »true sorriness« from the perpetrator. 84 Those who had given public testimony and had been pre78
Mendeloff: Trauma and Vengeance, p. 605. Başoğlu et al: Effects of War. 80 Başoğlu et al: Effects of War; Stover: Witnesses and justice. 81 Jeffery: Forgiveness dilemma. 82 Jeffery, Renée: When is an apology not an apology? Contrition chic and Japan’s (un)apologetic politics, in: Australian Journal of International Affairs, 65 (2011), p. 607–617. 83 Subotić: The cruelty of false remorse. 84 Allan et al: Apology and Forgiveness, p. 95–97. 79
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sent at the TRC proceedings, were most divided, and tended to be either very forgiving or very unforgiving. Even if those with little intention to forgive also suffered from the highest levels of trauma, 85 it is highly probable that these divergent reactions were related to different levels of expressions of guilt and remorse by the perpetrators that victims saw during the proceedings. Even though the Truth Commission of Chile and its outcomes were uniformly rated as positive by victims and perpetrators, all groups with no discernible differences between them also agreed that forgiveness could not be achieved. Victims in particular rejected apologies from institutions (like e. g. the police) or political leaders as »less sincere and effective«, 86 presumably because they lacked the interpersonal quality of emotion sharing. Similarly, a Holocaust survivor was only willing to accept redress and reparation payments from Germany after she had met and received a very emotional reaction and apology from the then Federal President in the 1990s. 87 At a recent trial of a former guard and accountant at Auschwitz in Germany, his recognition of guilt, if only a »moral guilt« did not meet with unanimously positive responses. Many victims and victim organizations argued that this was too late to be deemed genuine; the lawyer who represented the victims in court as well as one of the victim-witnesses expressed these feelings when they deplored the lack of any expression of »being sorry« by the defendant. 88 The gap between perpetrators, who will hardly fully share their emotions of guilt and shame, and traumatized victims, who are unable to share the full amount of their emotional distress, constitutes a built-in dilemma for TJ that in particular impacts on the quest for forgiveness.
85 86 87 88
Kaminer et al: Psychiatric status and forgiveness. Cardenas et al: Personal emotions, emotional climate, p. 461–462. Slyomovics, Susan: How to Accept German Reparations. Philadelphia 2014. Huth/Jasch: Die letzten Zeugen, p. 168–169, 170.
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3.4 Emotional Relief and Recovery: Can It Be Achieved? As has been outlined above the claim that participation in TJ procedures, truth telling, and testimony, i. e. the sharing of traumatic emotional experiences, leads to emotional relief, long-term emotional recovery and ›healing‹ of victims has found little empirical support. In light of theory and research on emotion sharing such claims indeed turn out to be unsustainable. Research within this framework provides consistent evidence that merely talking about or sharing an emotional experience does not resolve it or lead to emotional recovery. 89 Narrators expect and initially feel relief when sharing emotions. 90 Notwithstanding a sense of spontaneous relief, there is no evidence that initial sharing starts a process of recovery or healing nor does repetitive sharing. A longitudinal study showed that actually the »prolongation of sharing of emotions is a maladaptive outcome and a poor recovery is a direct consequence of self-perpetuating sharing«. 91 It is therefore highly unlikely that truth telling and testimony can contribute to the long-term emotional recovery of victims. This applies to those who participated in TJ procedures as well as to survivors in post-conflict societies generally, as evidence from the ICTY demonstrates. 92 Further, the emotional reactivation of the episode might elicit negative emotions in participants. Fear, sadness and anxiety considerably increased for both perpetrators and victims after they had participated in a gacaca court trial in their community. For victims, a sharp increase in symptoms of trauma rather than recovery was observed. 93 In sum, there is no foundation for the assumption that a »single-shot expression of
89
Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 77–79. Zech/Rimé: Is talking helpful? 91 Curci, Antonietta/Rimé, Bernard: The temporal evolution of social sharing of emotions and its consequences on emotional recovery: A longitudinal study. Emotion 12 (2012), p. 1404–1414, at 1411. 92 Mendeloff: Trauma and Vengeance, p. 605. 93 Rimé et al: Impact of Gacaca tribunals. 90
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emotions« can contribute to the diminishing of emotional trauma, neither in a legal setting nor elsewhere. 94 Importantly it is the mode of response, rather than the mere expression of emotions, that is decisive for emotional recovery. 95 Besides socio-affective responses, narrators also expect cognitive responses that help them to re-frame and re-appraise the emotional event, in particular if it has been distressful, and can set them on the road towards emotional recovery. A comparison of socio-affective and cognitive modes of responses found that »sharing situations which prompt cognitive responses can produce the recovery effect« that mere social sharing by the narrator and a predominantly socio-affective response by listeners fail to generate. 96 Emotional recovery can best be achieved by a sequence of responses that starts with socio-affective responses followed by cognitive responses. Victims of human rights abuses who participate in TJ procedures express a demand for »understanding« the violent events, often in highly emotional language. The witness at the ICTY wanted to understand why their neighbours, with whom they had lived in peace, did this to them. Most of the victim-witnesses at a military tribunal in Guatemala wanted to understand the causes of the massacre that had taken place in their community, and the motivation of the perpetrators. Expectations are directed toward the legal setting to provide such responses of explanation and framing, which could hardly be obtained otherwise, at least not without the cachet and authority of legal and quasi-legal procedures. The legal setting and the language of justice create a unique environment that is capable of delivering the cognitive responses that victims strive for. Procedural justice, i. e. the extent to which victims have a voice and are recognized in courts, tribunals and truth commissions, facilitates the validation of suffering that victims expect as socio-affective responses, and thus might also fulfil these needs. 97 94 95 96 97
Lens et al: Victim impact statement, p. 29. Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 79–80. Rimé: Emotion Elicits Social Sharing, p. 80. Perceptions of procedural justice were found to reduce anger and anxiety
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3.5 Collective Emotions: Moral Outrage, Collective Shaming and Guilt Contemporary TJ procedures are tasked to reach out to their audiences and initiate change in the collective emotions and climate in transitional and post-conflict societies: restraining vengeance among the victim groups, promoting reconciliation and forgiveness, and thus contributing to the »healing« of whole societies. The notions of establishing a sense of collective guilt and instilling a sense of collectively felt shame in groups of perpetrators and bystanders seem to be less important today than they were for the Nuremberg Trials after World War II. Nonetheless, criminal trials in particular convey strong messages and powerful images to the public when perpetrators—whether formerly high-ranking members of powerful groups or lower ranks who collectively committed violence—appear before courts and have to account for their deeds. The previously powerful emerge as the »defeated«, whilst the formerly powerless victims are now the »defended« group. 98 Such change of status elicits strong emotions of anger, shame and fear in those who are now »defeated«, and sends messages with high emotional content to both groups. 99 Social sharing of emotions propagates beyond initial targets, as these start sharing their emotions about an episode with others, and emotions thus »expand broadly in time and space«, and beyond the social relationship where they were initially shared. Waves of propagation confer to the emotional episode a particular salience, and thus in the long-term create an »emotional climate« that affects how people see the state of their group or wider society. 100 Emotional climate and collective emotions are thus atamong victims of serious violence who gave a statement in a domestic court; Lens et al: Victim impact statement, p. 29. 98 Hagan, John/Kutnjak Ivković, Sanja: War Crimes, Democracy and the Rule of Law in Belgrade, the Former Yugoslavia and Beyond, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 605 (2006), p. 130–151. 99 Turner, Jonathan/Stets, Jan: The Sociology of Emotions, Cambridge 2005, p. 215–227. 100 Rimé, Bernard: Social sharing of emotions.
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tuned to a collective’s situation and reflect divisions between groups and intergroup emotions. Contemporary post-conflict and transitional societies are deeply divided; victims and perpetrator groups widely differ in their emotional memory and their collective emotions; intergroup emotions are dominated by anger, hatred, and fear. TJ procedures, in particular courts, tribunals and truth commissions aim at providing »collective rituals« that are capable of achieving changes both within the victim and perpetrator group and thus of creating a more positive emotional climate throughout society. 101 However there is little evidence that this actually can be achieved by TJ procedures. Rimé and his colleagues probed into changes of the emotional climate and intergroup emotions within a community after a local gacaca court had taken place. They found that the »social ritual … elicits an emotional communion« between all participants, however, the overall level of negative emotions increased considerably among both the victim and perpetrator group, as trust and solidarity between the groups declined after procedures, most markedly among the survivor group. However, as participation was also associated to positive changes in intergroup emotional climate, the increase of negative emotions seems to be an important mechanism in TJ that does not by default inhibit more positive developments. 102 Since both guilt and shame are significantly less shared than other emotions, and presumably even less in public, the emergence of collective emotions of guilt and shame seems to be highly improbable. In contrast, moral outrage at the crimes committed —expressed as contempt, anger, and disgust—seems to be widespread and highly visible. 103 The failure of the efforts of the Allies to instil a sense of collective guilt and shame in the German population after World War II can thus be attributed to the very 101
Kanyangara et al: Collective rituals, emotional climate. Kanyangara et al: Collective rituals, emotional climate, p. 398; Rimé et al: Impact of Gacaca tribunals. 103 Haidt, Jonathan: The Moral Emotions, in: Davidson, Richard/Scherer, Klaus/Goldsmith, Hill (Eds.), Handbook of Affective Sciences, Oxford 2003, p. 852–870. 102
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Shared and Collective Emotions in Transitional Justice
nature of these emotions as more hidden and secret ones. There is little indication that emotions of guilt and shame were actually shared among social circles, and ostensibly not in public. To the contrary, being »doubly shamed« by being observed after visiting the screenings of atrocity films elicited angry reactions among the Germans. As this opened up routes for defiance and rejection of guilt, it might actually have been counterproductive. 104 4.
Lessons for TJ Fora: Complex Processes and Achievable Aims
The framework of emotion sharing has proven to be highly relevant to understanding the emotion dynamics in TJ fora. From an emotion-sharing perspective, strong claims as to the impact of participation, truth telling and testimony on emotional relief and healing for victims cannot be sustained. For the process of sharing emotional trauma, shame and guilt between victims, perpetrators and audiences, disjunctions in mutual sharing were found to account for the widespread feelings of anger and disappointment among victims in all TJ fora, and to be an obstacle on the road to forgiveness. Responses from legal professionals, bystanders and non-victims hardly do justice to the complex trauma of victims and thus add to their feelings of loneliness and rejection. Here, universal processes of emotion sharing shape the outcomes of TJ procedures, and they need to be acknowledged and carefully navigated in such fora. The justifications, objectives and promises of TJ need to become more realistic. In contrast to prevalent assumptions, it would be wrong to hold the justice model responsible for the absence of palpable success in the recovery of victims. The framework of emotion sharing lends support to the importance of the legal setting and features of TJ proceedings, and thus more generally to the validity of the justice model in transitions. The framework supports the presence
104
Weckel: Beschämende Bilder, p. 445.
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and participation of victims, and the encouragement of expressing emotions. The unique features of the legal setting, such as testifying, giving evidence, and examination of perpetrators, address victims’ cognitive needs for re-framing and re-appraisal of traumatic events. The rules of procedural justice as realized in TJ fora and the authority of the law give recognition and validation to the victims’ suffering and thus address their socio-affective needs. Taken together the legal setting has a potential for generating the very response modes that might foster emotional recovery; this potential needs to be better harnessed and developed. The emotion-sharing framework allows for identifying those TJ settings that have comparative advantages for sharing emotions. Criminal trials and truth commissions do not differ significantly; rather specific features are important. The presence, space and size of victims’ groups seems to be critical for victims’ satisfaction. Sharing of emotions seems to have particularly detrimental effects in local and ›grass-roots‹ community settings with a divided and partially hostile audience. Here the framework lends support to the often castigated model of higher level and even international TJ proceedings. In a paradoxical way, seeing TJ through the lens of emotion sharing salvages its justice model. Acknowledgments I am grateful to Dagmar Ellerbrock, University of Dresden, and Sylvia Kesper-Biermann, LMU Munich, for an invitation to the »Workshop Recht und Gefühl«, Munich 2014. I thank Johanna Schönhöfer, University of Leeds for research support. This article is based in part on Karstedt, Susanne: The Emotion Dynamics of Transitional Justice: An Emotion Sharing Perspective, in: Emotion Review 8 (2016), p. 50–55.
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IV. Rechtsprechung und Gefühle
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Julia Hänni
Phänomenologie der juristischen Entscheidung Zur Bedeutung des Gefühls in der praktisch-juristischen Argumentation 1 1.
Einleitung
Die Rechtsfindung wird üblicherweise als ein rationales, logisch aufgebautes System umschrieben: Mittels Unterordnung des Sachverhaltes unter die Voraussetzungen einer Norm werden Rechtsfolgen logisch abgeleitet; man spricht in diesem Zusammenhang von einem Justiz-Syllogismus. 2 In der kürzesten Form lautet dieser hfalls (p1) zutrifft, so folgt (c)i; beispielsweise: – Prämisse (p 1): Wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmäßig zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft; – Sachverhalt (s 1): Individuum D hat X ein Fahrrad zur Aneignung weggenommen, um sich damit unrechtmäßig zu bereichern; – Conclusion (c): Individuum D wird mit Geldstrafe bestraft (vgl. die Grundlage in Art. 139 des Schweizerischen Strafgesetzbuches [StGB]). 3
1
Der vorliegende Text basiert auf Julia Hänni, Vom Gefühl als Grund der Rechtsfindung, Diss., Berlin 2011; dies., Gefühl und juristisches Urteil, in: Carsten Bäcker/Sascha Ziemann (Hg.), Junge Rechtsphilosophie, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie – Beihefte 135, Stuttgart 2012, S. 77–88. Wiedergegeben ist die persönliche Meinung der Autorin, nicht diejenige des Schweizerischen Bundesgerichts. 2 Vgl. statt vieler Gröschner, S. 203 ff.; Bäcker, S. 404 ff. 3 Vgl. zur Kritik an der juristischen Subsumtion und weiteren Beispielen Gröschner, S. 203 ff.
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Julia Hänni
Kann indessen die Logik der Justiz-Syllogismen – die logische Form des In-Beziehung-Setzens eines Lebenssachverhalts unter die Voraussetzungen der Norm (Subsumtion) – eine juristische Entscheidung erklären? Gestützt auf eine phänomenologische Betrachtung der Wahrnehmung möchte ich hier der Frage nachgehen, inwieweit in diesem rational-logischen System emotionale Erkenntnisgrundlagen Platz finden: Inwieweit sind emotionale Erkenntnisakte hilfreich oder gar unerlässlich für juristische Entscheidungen? Oder gefährden Gefühle in der Rechtsanwendung nicht einfach die Objektivität einer jeden Entscheidung? Die Besonderheit der vorzunehmenden phänomenologischen Betrachtung liegt in der Analyse der Erkenntnisleistung von Wahrnehmungsakten: Die Wahrnehmung selbst beinhaltet emotionale Erkenntnis- und Bewertungsvorgänge. 4 Diese sollen – in Anlehnung an die kantische Erkenntnistheorie, jedoch ergänzt um eine phänomenologische Theorie des primären emotionalen Erkenntnisvermögens – dargestellt und anhand von Beispielen für den juristischen Kontext erschlossen werden. Gerade bei schwierigen Auslegungsfragen im Recht zeigt sich, dass die Kompetenz einer primären intuitiven Wertung die juristische Urteilskraft wesentlich prägt. Die phänomenologische Betrachtung der Rechtsanwendung wird – gestützt auf diese primäre Wertung – die Offenheit eines Rechtssystems für außerrechtliche Wertmaßstäbe aufzeigen und gleichermaßen die Wertungskompetenz der Rechtsanwender als Grundpfeiler der Normativität einer Rechtsordnung darstellen. 2.
Phänomenologie des emotionalen Differenzierungsvermögens
Unser Einstieg in die Frage nach der Erkenntniskraft von Gefühlen im Recht beginnt mit der Überwindung eines Vorurteils, nämlich der strikten Trennung von Vernunft und Gefühl. Denn alles, was nicht ohne Weiteres der Vernunft zugerechnet werden 4
Vgl. Audi, S. 2 f.
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Phänomenologie der juristischen Entscheidung
kann, dem bloß Affekthaften und Sinnlichen zuzuschreiben, ist für den menschlichen Geist und auch für eine adäquate Darstellung unserer juristischen Wahrnehmung unangemessen. 5 Zur Verdeutlichung dieser Unzulänglichkeit ist die phänomenologische Betrachtungsweise heranzuziehen, die uns eine geordnete Struktur des Emotionalen aufzuzeigen vermag: Es gibt ungerichtete, d. h. nicht auf einen spezifischen Gegenstand bezogene Gefühle im weiten Sinne wie Stimmungen und Gemütszustände; andere Gefühle sind auf die Welt, auf Sachverhalte oder auf Gegenstände gerichtet, 6 die sich in unserem Bewusstsein zeigen. Stets wohnt der Wahrnehmung von Gefühlen ein aktives Vermögen, ein Bewussthaben der Gefühle, inne. Phänomenologen weisen denn auch auf die Leitfunktion der Gefühle im täglichen Handeln im Sinne einer Orientierungsfunktion hin: In der Wahrnehmung von Gefühlen zeigt sich dem Menschen ein unmittelbares Verstehen; eine ursprüngliche Art von Gewissheit: 7 Niemand wird Liebe mit Hass, Sympathie mit Ressentiment oder Ehrfurcht mit Zorn verwechseln. 8 Wir können weiter festhalten, dass dieses gefühlsgeleitete Differenzierungsvermögen, das wir besitzen, auf qualitative Phänomene – ich nenne es hier Werte – gerichtet ist, und attestieren ihm eine gewisse Apriorität. Ein Beispiel mag in einer ersten Annäherung verdeutlichen, dass die Wahrnehmung von Sachverhalten in diesem Sinne nicht nur eine empirische, sondern auch eine apriorische Seite hat: Damit man eine Handlung als ungerecht beurteilen kann, ist ein Vorwissen vorausgesetzt, was denn Ungerechtigkeit bedeutet. Dieses Vorwissen – ein oft prärationales Wissen – dient als Maßstab für die Bewertung der konkreten Erfahrung. Das Vorwissen enthält somit eine Fähigkeit zur Bewertung, die beachtet oder ignoriert werden kann. Gestützt auf dieses
5
Vgl. Schmitz, Reich der Normen, S. 141 f.; Scheler, Formalismus, S. 266. Gegenstände sind im weitesten Sinne zu verstehen als Objekte der Wahrnehmung. Unter den Begriff fallen so empirische Objekte aber auch Wertverhalte. Vgl. hierzu auch Schmitz, Unerschöpflicher Gegenstand, S. 194, 297. 7 Vgl. bereits Hubmann, S. 320. 8 Vgl. Good, S. 21. 6
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Julia Hänni
gefühlsgeleitete Vorwissen, das Wertentscheidungen ermöglicht, kann sich der juristische Entscheidungsprozess erst aufbauen. 9 – Doch wie können wir diese emotionale Vorbedingung des Verstehens genauer fassen? Die phänomenologische Betrachtungsweise umschreibt ein Konzept der Wahrnehmung, das sich aus apriorischen und empirischen Fähigkeiten des Menschen zusammensetzt 10 und sich (oft implizit und teils explizit) an die kantische Epistemologie anlehnt. 11 Kant stößt durch seine differenzierte Stellungnahme zum Grundsatz der Empiristen, wonach alle Erkenntnis mit Erfahrung anfängt, bekanntlich darauf, dass das, was wir »Erfahrung« nennen, bereits ein Zusammengesetztes ist: zum einen bestehend aus den von außen kommenden – und a posteriori durch die Sinne wahrgenommenen – Eindrücken, zum anderen besteht sie aber auch aus einer Erkenntnis a priori, die wir aller Erfahrung vorausliegend von vornherein besitzen und die die Möglichkeit der Erfahrung als Gesetzlichkeit des anschauenden Bewusstseins erst bedingt. 12 Dies lässt sich am Beispiel des Raums verdeutlichen: Raum ist die Form, in der uns alle sinnlichen Erscheinungen, beispielsweise 9
»Jemand, der nicht in irgendeiner Weise affektiv ansprechbar ist, muss vollkommen gleichgültig gegen alles bleiben; nichts würde ihm nahe gehen; nichts wäre ihm wichtig. Ein Billigen oder Missbilligen von Normen setzt daher eine Stellungnahme in Bezug auf die zu bewertende Sache voraus« (Landweer, Normativität, Moral und Gefühle, S. 243). In diesem Sinne wirken Gefühle als Motivation für das eigene Handeln; Hume, S. 151; Landweer, a. a. O.; die Achtung vor dem Gesetz ist nach Kant ein durch den Vernunftbegriff selbst bewirktes Gefühl, dessen Gegenstand das Gesetz ist; sie ist Motivationsinstanz; Kant, MdS, BA 16, S. 27 f. 10 Vgl. etwa die Darstellung bei Audi, S. 7 ff., 121. 11 Vgl. Landweer, Kognitivismus, S. 468. Zum Bezug auf die Leitfragen der kantischen Philosophie vgl. Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 11. Gleichzeitig grenzt sich die Phänomenologie von den kantischen Grundlagen ab, indem die Vernunft den Gefühlen nicht mit eigener Gesetzgebung »überlegen entgegentreten« könne; vgl. Schmitz, Reich der Normen, S. 141; zur Kritik der Verlegung der Gegenstände in die »Innenwelt« bei Kant vgl. Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 42 f. Nach der hier vertretenen Meinung sind die Gefühle integraler Bestandteil der Vernunft. 12 Kant, KrV, Einl., B 5, S. 47 f.
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Phänomenologie der juristischen Entscheidung
ein Baum, gegeben sind. 13 Erst die Idee des Raums im anschauenden Bewusstsein ermöglicht uns indessen eine äußere räumliche Anschauung; die Gesetzlichkeit der räumlichen Anschauung ist in diesem Sinne Bedingung der Möglichkeit aller räumlichen Erscheinungen. 14 Diese Feststellung des Mitbedingens der Wirklichkeit – sie wurde bereits in der Scholastik thematisiert 15 – führt Kant zur Formulierung des erkenntnistheoretischen Grundsatzes, wonach nicht unsere Erkenntnis sich nach den Gegenständen richtet; vielmehr richtet sich die Wahrnehmung der Gegenstände nach unserer Erkenntnis: Alle Objekte der Erfahrung konstituieren sich nach in uns apriorisch vorausgesetzten Regeln, 16 die uns im Wahrnehmungsvollzug bereits gegeben sind. Die Phänomenologie übernimmt von Kant die Konzeption apriorischer Regeln des Erkennens. Sie begreift sie jedoch als apriorische Fähigkeit des Bewusstseins zu ursprünglichen emotionalen Akten im Wahrnehmungsvollzug. 17 Auch in der Phänome13
Um sich einen Gegenstand vorstellen zu können, muss die Idee »Raum« bereits a priori im Erkenntnisvermögen sein; Kant, KrV, Einl., B 6, S. 48. 14 Ebensolche Kategorien sind nach Kant Zeit und Kausalität; Kant, KrV, Tr. Ästh., B 46 ff., S. 78 ff. 15 Alles Physische erscheint nur aufgrund seiner Gegebenheit im Psychischen; diesem allein kommt außer der intentionalen auch eine »reelle«, in der Evidenz des Bewusstseins unbezweifelbar gegebene Existenz zu; Husserl, Bd. 2, S. 12; Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 109; Coriando, S. 67; Vendrell Ferran, S. 51. Gestützt auf diese Erkenntnis verweist Brentano auf die bereits in der Scholastik thematisierte »objektive Inexistenz« eines Gegenstandes, S. 603, d. h. etwa auf die thomistische Unterscheidung zwischen esse naturale bzw. reale und esse intentionale; dazu Spiegelberg, S. 189 ff. 16 Kant, KrV, Vorr. zur 2. Aufl., B XVI ff., S. 25 f. 17 Scheler wählt eine Begriffsbestimmung des Apriori, die sich klar von derjenigen Kants unterscheidet. Schelers Apriori ist mit der unmittelbaren Anschauung verknüpft: Als Apriori bezeichnet Scheler »alle jene […] Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der […] denkenden Subjekte und […] durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zu Selbstgegebenheit kommen«; Scheler, Formalismus, S. 67. Die Anschauung ist Erlebnisweise, ein Gerichtetsein auf ein Objekt, das einer Person unmittelbar gegenwärtig ist; hierin stimmen Kant und die Phänomenologen überein. Allerdings ist diese Anschauung bei Scheler eine spezifische Erfahrung; Scheler; Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 433. Kant grenzt seinen Begriff des Apriori dagegen streng vom
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nologie ist alle Einsicht selbstgesetzlich; 18 neben den Apriorismus des Denkens und Urteilens, der nicht bestritten wird, tritt ein Apriorismus des Emotionalen, 19 der als Vorbedingung des Verstehens das Erschließen der Außenwelt prägt. 20 Dieser Apriorismus des Emotionalen ist eine Vorwertung durch eine gefühlsgeleitete Stellungnahme, die im Wahrnehmungsvollzug bereits gegeben ist: 21 eine Fähigkeit, welche die Dinge der Welt positiv und negativ differenziert und durch die Verleihung von Wertprädikaten erst erfahrbar macht. 22 In Empfindungsqualitäten wird ein Sachverhalt demnach überhaupt erfasst – und erst in einem neuen Akt der Reflexion kann das Erfasste (ein Zusammengesetztes also aus Welt und wertender Wahrnehmung) betrachtet und analysiert werden. Von der Neuen Phänomenologie wird insbesondere der »Widerfahrnis«-Charakter der Empfindungsqualitäten bzw. Gefühle betont und darin die zentrale Rolle für die Handlungsfähigkeit einer Person fundiert. 23 Die Phänomenologen beschreiben so eine primär gemütshafte Eröffnung von Welt und von Sachverhalten und die Priorität des gefühlsbedingten Erfassens vor der Tätigkeit des rationalen Verstandes. 24 Der so beschriebene intentionale Zugang zur Welt ist Begriff der Erfahrung ab als ihr vorangehend, von ihr unabhängig und nicht auf ihr beruhend; Kant, KrV, Vorr. zur 1. Aufl., AXVII, S. 16. 18 Pohlmann, S. 712. 19 Vgl. auch Hartmann, S. 117. Zu emotionalen Aspekten der kantischen Ethik selbst vgl. Hänni, Rechtsfindung, S. 157 ff., 159 f.; Lege, S. 447 ff. 20 Vgl. auch Landweer, Normativität, S. 242. 21 Dies ergibt sich bereits bei Brentano; vgl. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 361 f. Dieser Weltbezug zeichnet sich dadurch aus, dass ihm »die Distanz fehlt«; Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 361 f.; vgl. auch Coriando, S. 264; Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 165 f. 22 Vgl. Solomon, S. 148 ff.; Scheler, Formalismus, S. 272; P. Kaufmann, S. 90 ff. 23 Vgl. Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 29 f.; Landweer, Kognitivismus, S. 473; vgl. auch Nussbaum, S. 26 f. 24 Vgl. Scheler, Nachlass, S. 356, S. 348; Scheler, Wissensformen, S. 109 f. Die Priorität des gefühlsbedingten Erfassens vor der Tätigkeit des rationalen Verstandes ist im Übrigen auch empirisch nachgewiesen worden: Vgl. dazu die Forschungsarbeiten Joseph LeDoux’, Emotional Memory Systems in the Brain, Behavioural Brain Research 58, 1993, und die Zusammentragung bei Goleman,
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ein ursprüngliches emotionales Involviertsein in die Welt und ihre Geschehnisse 25 im Sinne eines präreflektiven Betroffenseins: 26 Im Akt der Wahrnehmung ist eine Wertqualität der Welt und von Sachverhalten und damit auch eine gefühlsgeleitete Wichtigkeitsbesetzung für uns bereits vollzogen. 27 Gestützt auf die phänomenologische Betrachtungsweise ist demnach das, was in der Reflexion als das Primäre gilt, nämlich die Erfahrung, dem emotionalen und wertenden Erleben gegenüber sekundär. 28 Die These der Priorität der emotionalen Erkenntnis besagt nun in keiner Weise, dass durch diese Basis alles Erkennen »bloß subjektiv« und willkürlich wäre. Vielmehr ist eine gewisse ordnende und wertende Stellungnahme im Erfassen einer gegebenen Sachlage bereits enthalten; jede Wahrnehmung ist schon durchsetzt mit eigener Wertung. 29 Diese Eigenschaft der Wahrnehmung fundiert so gleichermaßen die eigene Wertungskompetenz: Sie setzt das eigene Erleben als Grundmaß der Bewertung und damit als Basis von Ethik. Die Fähigkeit zu einer gefühlsgeleiteten Unterscheidung ist für die Phänomenologen demnach Grundpfeiler der Erkenntnisfähigkeit des Menschen, und erst auf dieser Konstitution können Verhaltensweisen erlernt und aufgebaut werden. Die so umschriebene Unterscheidungsfähigkeit spielt eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung von Situationen und anderen Personen. 30 In jedem beliebigen kulturellen Kontext S. 19 ff., 35 ff., 38. Das Gewicht der emotionalen Wichtigkeitsbesetzung zeigt empirisch auch die Lernpsychologie auf: Ein emotionaler Bezug zum Lernstoff muss vorhanden sein, damit er überhaupt gespeichert werden kann; vgl. dazu statt vieler de Sousa, S. 125. 25 Solomon, S. 148 ff. 26 Vgl. Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 29 ff.; Landweer, Kognitivismus, S. 485. 27 Nach Scheler verdeutlicht sich dieser unmittelbare emotionale Wahrnehmungsbezug bereits beim Sprachgebrauch: Typische emotionale Wendungen wie »etwas lieben und hassen« werden stets direkt (transitiv) gebraucht (nicht »über« etwas lieben etc., was eine reflexive Distanz ausdrücken würde); Scheler, Formalismus, S. 266. 28 Vgl. Vetter, S. 138. 29 Vgl. Hartmann, S. 116. 30 Vgl. Landweer, Normativität, S. 244.
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kommen demnach Normverstöße vor, auf die mit Gefühlen reagiert wird. 31 Gleichermaßen ist die gefühlsgeleitete Unterscheidungsfähigkeit auch Grundlage der Kommunikation: Der ursprüngliche Zusammenhang von Sachverhalten und emotionaler Antwortreaktion ist Grundvoraussetzung sowohl für das zwischenmenschliche Verstehen als auch für das Verstehen unserer eigenen Erlebnisse und insofern auch Teil einer Universalgrammatik. 32 Das gefühlsgeleitete Differenzierungsvermögen erschöpft sich somit nicht in einem individuellen Orientierungssinn, sondern wird durch einen großen Bereich von geteilten gefühlsgeleiteten Stellungnahmen zusammengehalten 33 – und ist insofern intersubjektiv. 3.
Phänomenologie der juristischen Urteilskraft
Aus juristischer Sicht stellt sich nun die Frage, in welcher Weise emotionale Erkenntnisakte als Grundlage für die Rechtsfindung verstanden werden können. Wie genau kann das Gefühl mit der Rechtswirklichkeit, mit dem juristischen Entscheidungskontext in Verbindung gebracht werden? Die Implikation des eingangs umschriebenen Fühlens ergibt sich mit Bezug auf die sogenannte praktische juristische Vernunft, die für die Rechtsfindung erforderlich ist und z. B. bei der Auslegung zum Tragen kommt. Es ist demnach zu untersuchen, inwiefern der praktischen juristischen Argumentation auch eine primäre gefühlsgeleitete Stellungnahme zugrunde liegt, die man als primäres Rechtsgefühl oder als intuitive juristische Urteilskraft bezeichnen kann. Legt man der praktischen juristischen Vernunft die fühlende Wahrnehmung zugrunde, so hat sie die Funktion des ordnenden Differenzierungsvermögens im Sinne der dargelegten apriorisch31
Vgl. Landweer, Normativität, S. 246. Gefühle spielen insofern eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung von Situationen und anderen Personen, vgl. Landweer, Normativität, S. 244, 246. Siehe auch Scheler, Phänomenologie, S. 7. 33 Vgl. Landweer, Normativität, S. 244, 246. 32
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Phänomenologie der juristischen Entscheidung
intuitiven Wertung mit dem umschriebenen Widerfahrnischarakter. 34 Besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung ist der intuitiven juristischen Urteilskraft dahingehend zuzusprechen, als sie auf die für die Rechtsfindung konstitutiven Wertungserfordernisse gerichtet ist. 35 Die intuitive juristische Urteilskraft steht nach diesem Verständnis in einer unmittelbaren Beziehung zu den für die Rechtsordnung konstitutiven Rechtswerten. 36 Um ihr Wirken beschreiben zu können, ist daher zunächst zu fragen, in welchem Verhältnis das Recht zu Wertungserfordernissen steht bzw. wie außerrechtliche Werte die Rechtsordnung prägen. Gestützt darauf ist sodann anhand von Beispielen zu untersuchen, in welchen Konstellationen sich ein auf außerrechtliche Werte gerichtetes Gefühl im Recht zeigen kann. Das Verhältnis von Recht und Wert ist oft negativ bestimmt: Die Rechtsordnung kann materiell nicht sagen, was recht ist; die Orientierung an ethischen Werten konkretisiert das Recht typischerweise nur in negativer Bestimmung. 37 Befasst sich das Recht mit ethischen Werten, sind die Rechtssätze oftmals als Abwehrrechte konzipiert (z. B. bei den Freiheitsrechten); auch außerhalb der Freiheitsrechte fehlt vielfach ein materielles Bestimmungskriterium für diese Wertung, das den Fall abschließend regeln würde. Dies lässt sich anhand eines Beispiels nachvollziehen: Gemäß der Rechtsprechung zum Gleichheitsgebot nach Art. 8 der schweizerischen Bundesverfassung ist Gleiches nach Maßgabe seiner Gleichheit gleich zu behandeln. 38 Ein abschließendes Differenzierungskriterium, das für den konkreten Fall zu nutzen wäre, fehlt; entsprechend muss hier bei der Rechtsauslegung eine Wertung erfolgen. 39 Ansatzpunkte, um im geltenden Recht außerrechtliche Werte in die Rechtsordnung einfließen zu lassen, ergeben sich
34
Vgl. oben S. 232. Matz, S. 124. 36 So bereits Hubmann, S. 323. 37 Schmitz, Reich der Normen, S. 60 f.; Scheler, Formalismus, S. 216; Eley, S. 155. 38 Zum Beispiel BGE 105 V 280, 281; 117 Ia 257, 259; 123 II 9, 11. 39 Vgl. Gächter, S. 380. 35
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auch bei der Interessenabwägung, 40 über unbestimmte Rechtsbegriffe 41 oder über Generalklauseln. 42 Ein wesentliches Bindeglied zwischen Rechtsordnung und außerrechtlichen Wertmaßstäben bilden auch die Rechts- und Verfassungsgrundsätze. 43 Die so umschriebenen Wertungserfordernisse beschränken sich nicht auf die materielle Prüfung der Rechtsfrage. Auch hinsichtlich der Zulassungsvoraussetzungen einer Beschwerde sind Wertungen erforderlich. Dies etwa hinsichtlich der Frage, ob ein Anspruch einer ausländischen Person auf weiteren Aufenthalt im Land hinreichend dargetan ist 44 oder ob die Legitimation von Anwohnern von Kernkraftwerken, behördliche Sicherheitsvorkehrungen zu verlangen, in Konkretisierung der grundrechtlichen Schutzpflichten des Rechts auf Leben und der persönlichen Freiheit, 45 aber auch die Risikovorsorge 46 – nach der Erfahrung von Fukushima – weiter zu fassen ist. 47 Ein Rechtssystem hat so sowohl in materiell-rechtlicher als auch in prozeduraler Hinsicht eine Offenheit für außerrechtliche Wertmaßstäbe. Die Rechtssätze auf einen Streitfall hin zu konkretisieren, erfordert ebenfalls oft eine Wertung, 48 die sich bereits aus einer sprachlichen Ungenauigkeit des Gesetzestextes ergeben kann. Aber auch bei adäquater sprachlicher Umsetzung ist die Bedeutungsinterpretation von Texten zu begrenzen, d. h., es müssen 40
Vgl. z. B. Art. 36 Abs. 2 und 3 der Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 41 Beispielsweise die »Guten Sitten«; § 138 BGB; Art. 20 des Schweizerischen Obligationenrechts. 42 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln; Art. 2 Abs. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. 43 Beispielsweise die praktische Konkordanz; BGE 139 I 16 ff.; vgl. auch Gächter, S. 400. 44 Art. 83 lit. c Ziff. 2 des Schweizerischen Bundesgerichtsgesetzes. 45 Art. 10 Abs. 1 und 2 der Schweizerischen Bundesverfassung. 46 Art. 4 des Schweizerischen Kernenergiegesetzes. 47 So z. B. BGE 140 II 315 E. 4 zum »streitlagenspezifischen Rechtsschutzinteresse«. 48 Nach Venzlaff sind sogar die allermeisten Rechtsbegriffe unbestimmt und bedürfen der Auslegung; vgl. Venzlaff, S. 32.
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Maßstäbe mit einbezogen werden, an denen sich die Sprache selbst orientiert. 49 Auch dies kann anhand von Beispielen veranschaulicht werden: Wenn in der ehemaligen schweizerischen Bundesverfassung von 1874 geschrieben stand, »jeder Schweizer ist abstimmungsberechtigt«, so verstanden die rechtsanwendenden Behörden unter dem Begriff »Schweizer« zunächst ausschließlich männliche Bürger – und obwohl der Wortlaut der Norm unverändert blieb, änderte sich die Interpretation des Begriffs durch die rechtsanwendenden Behörden vor dem Hintergrund einer sozialen Entwicklung, so dass unter denselben Begriff 1971 auch Schweizerinnen subsumiert wurden. Aus dem in der Verfassung verwendeten Begriff »Schweizer« allein ließ sich somit das normativ Gesollte für die Gerichte nicht ableiten. Gewisse Wertungserfordernisse ergeben sich demnach – dies machen sowohl die Hermeneutik und auch die moderne analytische Sprachphilosophie deutlich – schon aus der Sprache selbst. Maßstäbe ergeben sich nach der Konzeption Wittgensteins etwa aus dem Gebrauch von Begriffen im sprachlich-sozialen Kontext einer Gesellschaft: Erst dadurch, dass wir wissen, wie ein Begriff von der Gesellschaft verwendet wird – beispielsweise »gute Sitten« 50 –, kennen wir auch seine Bedeutung. 51 Entsprechend wird der Rechtsanwender auf das sprachlich-soziale Verhalten der Gesellschaft für die Interpretation von Rechtsregeln wertend Bezug nehmen. 52 Ein wertender Sinnbezug für die juristische Interpretation ist daher unumgänglich, da der sprachliche Ausdruck des Gesetzes den Sinn des Normativen noch nicht genügend bestimmt. 49
Da die Interpretation der Sprache vom gesellschaftlichen Kontext mit geprägt wird, impliziert sie eine Wandelbarkeit der Begriffe; Hänni, Wittgenstein, S. 209 ff. Vgl. auch Brandom, der festhält: »Es [ist] nicht möglich, überhaupt irgendwelche Begriffe zu haben, wenn man nicht viele hat«; Brandom, S. 28. 50 Art. 20 Abs. 1 OR; § 138 Abs. 1 BGB; vgl. auch die weiteren Beispiele bei Hänni, Hermeneutik, S. 82 ff. 51 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil 1, Nr. 43; Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 3.328. 52 Ob etwa ein Verstoß gegen die »guten Sitten« gegeben oder nicht gegeben ist, wird – trotz gleichbleibenden Normtextes – bei verschiedensten Sachverhalten heute völlig anders beurteilt als vor dreißig Jahren.
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Entsprechend wird der Rechtsanwender auf ein Vorverständnis und eine Vorwertung für die Interpretation von Rechtsregeln Bezug nehmen. Die wenigen Beispiele und Schnittstellen – es gibt davon wesentlich mehr – zeigen demnach auf, dass ein Rechtssystem eine Offenheit hat für sinnerschließende Wertmaßstäbe. Juristische Entscheidungen sind also immer wieder Entscheidungen zwischen Wertungsalternativen. 53 Die Wahl soll dann »richtig«, »vernünftig« und »sachgerecht« getroffen werden. 54 Damit stellt sich für die Rechtsfindung immer die Frage nach Orientierungshilfen, welche die Wertung bzw. die Entscheidung mittragen. 55 Genau an den Ansatzpunkten, wo das Rechtssystem eine Offenheit aufweist für Wertungen, gewinnt eine gefühlsgeleitete juristische Urteilskraft als eröffnendes, mitbestimmendes Kriterium für die Urteilsbildung seine Bedeutung, und zwar im Sinne eines Vorwissens bzw. Vorwertens. 56 Auf ein gewisses Vorwissen stützt sich denn auch die Rechtsprechung. Dazu ein Beispiel: Setzt eine Anwältin oder ein Anwalt das Honorar so fest, dass es außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses steht und in krasser Weise gegen das Gerechtigkeitsgefühl verstößt, kann es nach Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts wegen Verletzung des Willkürverbots aufgehoben werden, dies gestützt auf Art. 9 BV. 57 Die bundesgerichtliche Rechtsprechung setzt somit voraus, dass bekannt ist, was eine klare Verletzung des Gerechtigkeitsgefühls bedeutet. Um die staatliche Legitimität zu gewährleisten, muss das Rechtsgefühl auf Vorwissen zurückgreifen können, das erst ermöglicht zu ermessen, wie die konkrete Wertung erfolgen soll. 58 Diese Vorwertung beschränkt sich nicht auf die Subsumtion von Begriffen, sie kann sich auch hinsichtlich des Sachverhalts er53
Vgl. dazu z. B. Alexy, Theorie, S. 23. Meier, Rechtsgefühl, S. 57. 55 Zippelius, Recht, S. 72; Bihler, Rechtsgefühl, S. 19. 56 vgl. Eley, Rechtsgefühl, S. 136, 146. Für Hubmann kommt das Rechtsgefühl vor allem bei Interessensabwägungen zum Tragen; Hubmann, S. 323. 57 BGr. 1P.624/2003, Urteil vom 1. 4. 2004 beim Beizug eines Pflichtverteidigers. 58 Hinweise zu den denkerischen Ursprüngen der »Vorbekanntheit« in der griechischen Philosophie finden sich bei Eley, S. 150. 54
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geben: Bei der Rechtsanwendung erfolgt oftmals ein spontanes gefühlsmäßiges Erfassen der rechtlich relevanten Elemente des Falles nach wertbezogenen Gesichtspunkten, es zeigt sich das in der Literatur umschriebene Phänomen des prärationalen Verständnisses in einer Entscheidlage. 59 Etwa in Fällen von Rechtsmissbrauch zeigt sich solches Verstehen ergebnisorientiert, und zwar dann, wenn die aus der einschlägigen Norm abzuleitenden Rechtsfolgen dem Richtigkeitsempfinden zuwiderlaufen: Ein Vorwissen für die kritische Hinterfragung des Ergebnisses ist dort unerlässlich, wo eine einschlägige Bestimmung in ihrer Anwendung auf einen konkreten Sachverhalt eine unbefriedigende, ungerechte Lösung vorsieht: zum Beispiel in dem Fall, bei dem das Gesetz eine allgemeine Witwenrente vorsah, auch für eine Frau, die ihren Mann umgebracht hatte. 60 In solchen Fällen löst ein ungutes Gefühl, ein Missbehagen, eine Gesetzeskorrektur, d. h. eine Korrektur durch die richterliche Eigenwertung, aus. 61 So lässt sich sagen, dass eine emotionale juristische Urteilskraft in vielerlei Hinsicht, wenn auch meist unausgesprochen, für die Rechtsfindung von signifikanter Bedeutung ist 62 und ein Impuls für die Weiterentwicklung der Praxis oder für eine Gesetzeskorrektur sein kann. 63 Die Funktionen außerrechtlicher Wertmaßstäbe und des an außerrechtlichen Wertmaßstäben sich orientierenden Gefühls sind so von erheblicher faktischer Bedeutung, da sie die Rechtsfindung und allenfalls auch die kritische Hinterfragung eines Ergebnisses leiten. 64 Damit ist das Gefühl de facto eines unserer primären Richtigkeitskriterien: Um die staatliche Legitimität zu gewährleisten und um zu garantieren, dass eine Ent59
Meier, S. 28, 114, 147; Weimar, Ordnungsbedürfnis, S. 165; Weimar, Strukturen, S. 110; Kriele, S. 24. 60 EVGE 1951 Nr. 44 S. 207 ff. 61 Für das schweizerische Recht Art. 2 Abs. 2 des Zivilgesetzbuches (ZGB), gerichtliche Gesetzesberichtigung bzw. Rechtsfindung »contra legem«. 62 Gächter, Rechtsmissbrauch, S. 394; Meier, Rechtsgefühl, S. 133 f. 63 Rhinow, Rechtsetzung, 106 ff.; Blankenburg, Rechtsgefühl, 85 ff.; Kaufmann, Rechtsgefühl, S. 367, S. 371 ff. 64 Kaufmann, Rechtsgefühl, S. 367, 372; Meier, Rechtsgefühl, S. 133 f.; Gächter, Rechtsmissbrauch, S. 400.
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scheidung nicht willkürlich getroffen wurde, setzt die Rechtsprechung auf das Gefühl. Demnach erweist sich das Gefühl, das zu Unrecht im Verdacht steht, subjektiv-willkürlich zu sein und die Logik des Rechts in Gefahr zu bringen, als Anker und Korrektiv für die Richtigkeitsentscheidung. 4.
Methodologische Einordnung
Nun sollten wir uns aber den Bereich, in dem dieses Gefühl im Recht zum Tragen kommen soll, sowie dessen Stellenwert methodologisch kurz vergegenwärtigen. Die intuitive Urteilskraft ist wie die rationale Erschließung der Entscheidungsvoraussetzungen in die juristische Auslegungskunst zu integrieren. Die Berufung auf das Gefühl darf dabei nicht überstrapaziert werden und etwa den Weg bereiten für eine politische Instrumentalisierung des Rechts; das eigentliche Vermögen des intuitiv-wertenden Erkenntnisaktes mit Bezug auf die Wertungs- und Entscheidungserfordernisse im Rechtssystem würde sich dann selbst entfremdet. Auch gibt es im geltenden Recht Bestimmungen, die Sachverhalte abschließend regeln, etwa gestützt auf empirische Messungen, wie dies bei technisch-konkretisierenden Verordnungen der Fall ist, so bei Lärmvorschriften, um ein klares Beispiel zu nennen. 65 Ebenfalls darf das wertende Rechtsgefühl nicht missbraucht werden, um einen Freiraum zu schaffen für Gesetzesumdeutungen. 66 Es lohnt sich also, gefühlsgeleitete Erkenntnisakte methodologisch etwas genauer zu fassen. Um emotionale Erkenntnisakte rechtstheoretisch besser einordnen zu können, ist es hilfreich, auf den Gegensatz von Entscheidung und Entscheiddarstellung einzugehen. 67 Das Phänomen der spontanen juristischen Entscheidung durch intuitives 65
Eine Lärmverordnung enthält die Anforderungen an die Grenzwerte von Lärmimmissionen in Dezibel, beispielsweise für die Schalldämpfung von Fenstern; vgl. Anhang I der Lärmschutzverordnung (SR 814.41). 66 Gächter, Rechtsmissbrauch, S. 398 f. 67 Vgl. in diesem Sinne auch Schmitz, Unerschöpflicher Gegenstand, S. 387.
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Erfassen der Rechtslage ist zu unterscheiden von der nachfolgenden Begründung des Entscheids durch rationale Argumentation. 68 Denn weder die spontane Neigung zu einer bestimmten Falllösung noch die subjektive Evidenz einer Norm vermögen einen Entscheid zu rechtfertigen. 69 Ein pauschaler Hinweis auf offensichtliche Ungerechtigkeit vermag den Anforderungen an eine juristische Begründung nicht zu genügen. 70 Die Erkenntnis, dass die Beurteilung eines Falles oft durch eine vom Wertgefühl geleitete Stellungnahme mit bestimmt wird und damit durch einen subjektiven Faktor, soll demnach die argumentative Erschließung eines Urteils in keiner Weise einschränken. 71 Durch die phänomenologische Betrachtung werden vielmehr emotionale Faktoren deutlich, welche die Entscheidbildung prägen; diese werden der argumentativen Erschließung einer Entscheidung zeitlich vorhergehen, ihr jedoch nicht entgegenstehen. Phänomenologisch aufgezeigt wird durch diese Faktoren aber auch eine gewisse moralische Kompetenz, die in die Urteilsbildung einzufließen vermag. Diese Kompetenz zur wertenden Stellungnahme ist bei verschiedenen Rechtssätzen geradezu verlangt; 72 sie wird im Sinne einer Sachgerechtigkeit oftmals vom Gesetzgeber vorausgesetzt, z. B. in Fällen, die Treu und Glauben betreffen. 73 Mithin stützt sich die Rechtsordnung auf die Fähigkeit des Rechtsanwenders, nach Gesichtspunkten der eigenen in68
Vgl. Weimar, Ordnungsbedürfnis, S. 164; Meier, S. 57. Die Bezugnahme auf das Erleben des Wertgefühls eignet sich so nicht zur Begründung juristischer Entscheidungen. Dazu sind rationale Gründe erforderlich; vgl. bereits Hubmann, S. 328 f. 70 Gächter, S. 400. 71 Venzlaff, S. 59. In keiner Weise wird damit die Pflicht der Begründung juristischer Entscheidungen – die unbestrittenermaßen zugänglich und nachvollziehbar sein müssen – in Frage gestellt. 72 Ein subjektiver Faktor also, der nicht auszuschalten ist und an den auch im Sinne eines Richtigkeitsempfindens appelliert wird. Nach Venzlaff können die zur Verfügung stehenden Auslegehilfen erst angemessen gebraucht werden, wenn sich der Rechtsanwender darüber im Klaren ist, dass seine persönliche Haltung bei einer Rechtsfrage eine entscheidende Rolle spielt; Venzlaff, S. 59. Vgl. dazu auch Wiprächtiger, S. 145. 73 Gächter, S. 397. 69
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tuitiven Wertung eine Sachgerechtigkeit und den aktuellen Normsinn zu erschließen. Gleichzeitig wird diese emotionale Stellungnahme einer Kontrolle im Sinne des Konsenses über gemeinsame Ordnungsregeln und damit den demokratischen Grundlagen einer Rechtsordnung unterworfen: Die Richterin oder der Richter muss darauf achten, den Kontakt mit der Umwelt, mit den kulturellen Anschauungen einer Rechtsgemeinschaft, mit bewährter Lehre und Rechtsprechung nicht zu verlieren, um daran das eigene wertende Rechtsgefühl immer wieder zu überprüfen. 74 Abweichungen von der bisherigen Praxis erfolgen immer in Auseinandersetzung mit dieser; und die eigenen Wertungen sind vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-kulturellen Vorgegebenheiten zu rechtfertigen – die juristische Urteilskraft und das intentionale Rechtsgefühl erhalten damit eine Normierung durch die Gemeinschaft der Rechtsunterworfenen. Wenn die moralische Kompetenz des Einzelnen Grundlage der wertenden Stellungnahme ist, so heißt das auch, dass jeder eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz ist. Für den Bereich des Staates und des Rechts führt die Vorstellung von der Gleichberechtigung der moralischen Kompetenzen aller zum demokratischen Anspruch auf Mitentscheidung. 75 In demokratischen Gesellschaften müssen daher Verfahren vorgesehen sein, um subjektive Wertvorstellungen überprüfbar zu machen im Sinne von Schranken, um den notwendigen Konsens über gemeinsame Ordnungsregeln herzustellen. 76 Strukturelle und gerichtsorganisatorische Schranken können zum Beispiel das Kollegialsystem – die gemeinsame Beschlussfassung von Richterinnen und Richtern nach einer Mehrheit –, der Instanzenzug – eine gesetzlich vorgesehene Behördenfolge zur Überprüfung von Rechtsstreitigkeiten – sowie ein geeignetes System für die Wahl der Richterinnen und Richter und der Verwaltungsbehörden sein. 77 Innerhalb dieser Schranken kommt das gefühlsgeleitete 74 75 76 77
Venzlaff, S. 59. Zippelius, Rechtsgefühl, S. 13. Meier, S. 58; Zippelius, Recht, S. 74. Riemer, § 4, Rz. 185; Wiprächtiger, S. 150.
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Differenzierungsvermögen im Recht zum Tragen: Es ist somit ein primäres Wertungsvermögen, das sich an der Gemeinschaft orientiert. 78 5.
Würdigung
Weshalb ist es essentiell, eine emotionale juristische Urteilskraft aufzudecken und sie im Rahmen der juristischen Auslegungskunst nachzuvollziehen? Weshalb soll intuitiven Wertungsvorgängen ein maßgebliches Gewicht für die Rechtsfindung eingeräumt werden? Ich denke, dass sich diese Fragen vor dem erörterten Hintergrund nun unter drei wesentlichen Gesichtspunkten beantworten lassen: Erstens ist für eine realistische normative Theorie der Rechtsgewinnung ein besseres Verständnis der Funktionen intuitiver Informationsverarbeitungsprozesse erforderlich. Die Rechtsfindung wird wie jeder andere Zugang zur Welt durch Bewusstseinsakte eröffnet, denen eine primäre gefühlsgeleitete Stellungnahme inhärent ist. Diese schöpft Bedeutung und Nachvollziehbarkeit. Sie erst ermöglicht Orientierung und Struktur für das In-BeziehungSetzen eines Lebenssachverhaltes zu einer spezifischen Norm (d. h. der Subsumtion). 79 Gleichermaßen schafft sie eine Grundlage für Evidenz und damit Teilbarkeit der vorgeschlagenen Auslegung für die mitbeteiligten Richterinnen und Richter. Die phänomenologische Betrachtung verdeutlicht damit die für jeden Rechtsanwender erforderliche eigene Stellungnahme in Bewusstseinsakten als Grundlage der Rechtsfindung, die mit Blick auf den konkret zu beurteilenden Einzelfall die erforderliche kritische Haltung zu einer etablierten Praxis, zu einem etablierten System (oder zu einem Unrechts-System) erst ermöglicht. Eine begreifen-
78
Vgl. zur an dieser Stelle nicht weiter zu vertiefenden Bedeutung von Emotionen im gesellschaftlichen Anerkennungsprozess Landweer, Normativität, S. 244 f., 248. 79 Vgl. oben S. 227 f.
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de Sensibilität 80 ist daher sowohl für die Aufsichtsfunktion höherer Gerichte als auch für die Würdigung des Einzelfalls im Rahmen der Rechtsanwendung unerlässlich. In der Rechtsanwendung werden Gefühle zum Kriterium für Richtigkeit, etwa wenn sie als Anzeichen für eine Umgehung des Gesetzes angerufen werden und so eine Interpretation contra legem hervorrufen. 81 Die Annahme, durch das Aufdecken gefühlsgeleiteter Kategorien im Recht werde nur die Subjektivität oder gar Willkür von Entscheidungen offengelegt, greift daher wesentlich zu kurz. Die Darstellung des intuitiv-wertenden Momentes in der Rechtsfindung wird zweitens klarer, wenn in methodologischer Hinsicht in Anlehnung an die Phänomenologen zwischen Entscheidung einerseits und andererseits Entscheiddarstellung (Begründung) unterschieden wird. Die Entscheidung selbst stützt sich typischerweise auf intuitiv-wertende Erkenntniselemente; erst bei der Entscheiddarstellung, d. h. bei der Begründung und Substanziierung der Entscheidung, wird dieses Element rational erschlossen und argumentativ belegt. 82 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die klassische Rechtstheorie nur einen Ausschnitt einer juristischen Entscheidung darzustellen vermag. Die phänomenologische Betrachtung der juristischen Entscheidung zeigt drittens auf, dass der Zugang zu ethischen Prinzipien nicht allein über den Aufbau rational-argumentativer Begründungsverfahren und auch nicht nur im Anschluss an faktisch vorliegende Überzeugungstatbestände zu gewinnen ist. Denn Begründungsverfahren setzen einen Erlebniszusammenhang voraus, der von – ausschließlich – rational-argumentativen Theorien des Rechts selbst nicht zureichend erfasst werden kann. 83 In der phänomenologischen Betrachtung hat ein Rechtssystem demgegenüber eine grundlegende Offenheit im Verstehen dessen, was ihm begegnet, 84 und entsprechend findet sich der ge80 81 82 83 84
Schmitz, Der Weg der Europäischen Philosophie, S. 720. Vgl. oben S. 239. Meier, Rechtsgefühl, S. 62; vgl. auch Eley, S. 142; Wiprächtiger, S. 148 f. Vgl. Sander, S. 75. Vgl. Seibert, S. 514.
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Phänomenologie der juristischen Entscheidung
suchte Ursprung von Normativität auf einer sehr grundsätzlichen Ebene: Er stützt sich auf die wertende Stellungnahme und Wichtigkeitsbesetzung, die sich auch für die juristische Sachverhaltserfassung bereits im Wahrnehmungsvollzug zeigt. 85 Auf dieser Stufe des Fühlens gibt es Einschätzungen und Bewertungen, denen eine Sicherheit eigen ist, die sich paradoxerweise in der rationalen Reflexion allein nicht mit der gleichen Überzeugungswirkung herstellen ließe. 86 Eine sehr ursprüngliche Art des Denkens im Sinne von prärationalen Akten ordnet und bestimmt die Sachverhaltserfassung und bildet so die Grundlage für die in der Rechtsanwendung erforderlichen Wertungen, zum Beispiel bei der Interessenabwägung, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder bei Fragen, die Treu und Glauben betreffen. 87 Gefühlsgeleitete Wahrnehmungsakte erweisen sich demnach nicht nur als Ausgangspunkt der Normerkenntnis, 88 sondern auch als eine Voraussetzung aller deduktiv-rationalen juristischen Argumentation. 89
85
Siehe oben S. 238 f. Vgl. Audi, S. 168 f.; Landweer, Normativität, Moral und Gefühle, S. 240, 242 ff.; Landweer spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer »eher theoretischen Zustimmung«, die durch die rationale Erkenntnis vermittelt wird, und immer in Relation zu geteilten Hintergrundannahmen steht; diese »grundsätzliche Zustimmung« (ebd. S. 242) ist für das Einstehen für ein Ergebnis und Vertreten desselben im Richtergremium nicht dezisiv. In diesem Sinne greift der Rechtsanwender stets zurück auf die unwillkürliche Lebenserfahrung als letzte Instanz für alle Rechtfertigung; vgl. Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 7, 13. 87 Vgl. die Beispiele oben S. 235 f., 239. Das ist gleichzeitig eine Freilegung der »unwillkürlichen Lebenserfahrung« im Bereich des Rechts; vgl. zum Begriff Schmitz, Neue Phänomenologie, S. 7. 88 Vgl. oben S. 232. Vgl. in diesem Sinne auch Landweer, Normativität, Moral und Gefühle, S. 242. 89 Vgl. im gleichen Sinne Landweer, Kognitivismus, S. 468. Dies stimmt in gewisser Weise überein mit dem postmodernen philosophischen Verständnis einer unabdingbaren Gefühlskomponente der Vernunft; vgl. Scheer, S. 630. 86
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Julia Hänni
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Lauren Ware
Emotions in the Evaluation of Legal Risk
ABSTRACT. The risks taken into account in legal decision-making are, often, matters of life and death, but the way we think about risk is flawed. This is a problem. The dominant account of how emotions are involved in risky decision-making follows the standard probabilistic account of risk. If we entertain a modal account of risk, however, this changes the way in which a host of legal actors—members of the jury, judges, defendants, lawyers, legislators, regulators, and police—ought to think about how emotions impact risk evaluation. In what follows, I examine what taking a modal account of risk would mean for the way we understand emotions in the evaluation of legal risk: specifically, the risk of wrongful conviction. The present chapter draws on contemporary research in the epistemology of risk to examine how emotions can influence the evaluation of legal risk. I first review a distinction between two understandings of risk—the probabilistic account and the modal account—and demonstrate how the probabilistic account is incomplete. Next, I highlight how emotion can be seen to mediate decision-making in a series of empirical studies on the assessment of gruesome photographic evidence. I then analyse the standard accounts of how emotions play a role in risk assessment, which build upon a probabilistic account of risk. A modal account of risk and emotion is then offered, demonstrating the ways in which emotions can contribute to the evaluation of risk understood modally. Finally, I consider what legal practices and structures need to be refined or abandoned in order to facilitate the conditions most conducive to harnessing the evaluative power of emotions in legal decision-making. 249 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Lauren Ware
Introduction When we imagine a criminal trial, we can picture various displays of emotion: an impassioned lawyer, a nervous defendant, an angry jury. The vibrant field of law and emotion aims to identify how emotions matter for legal theory and practice. This is a fundamentally interdisciplinary endeavour, taking insight from advances across the sciences, social sciences, and humanities. Emotions— as I will attempt to show—are dynamic processes that play a critical role in decision-making, especially collective decision-making in which multiple agents interact to form a decision. A pressing avenue of consideration is therefore the place of the emotions in group and institutional settings, including the justice system. There exists a »persistent cultural script« 1 that insists upon a traditional demarcation between the two seemingly unbridgeable realms of reason and emotion. This script yields a number of serious concerns for the study and practice of law in particular, and is increasingly challenged by what we learn from psychology, neurobiology, the cognitive sciences, and other fields, including philosophy. We now see a move away from this dichotomy with the acknowledgement that the emotions do play an inescapable role in the law. This has led to a very exciting and a very new subfield of law and emotion as an interdisciplinary area of inquiry: with a focus less on demonstrating the pervasiveness of emotions within the law, but rather on the utility of analysing the emotions in responding to tangible legal concerns. This chapter examines the concern of legal risks. We can identify at least three pressing areas of legal theory where risk plays a role: 1. the case of the ruthless risk taker (that is, »the killer whose conduct, whilst not directly designed to kill, nevertheless manifests such a callous disregard for human life as to merit the label of a murderer« 2); 1
Terry Maroney, »The Persistent Cultural Script of Judicial Dispassion«, California Law Review 99 (2011): 629–682. 2 John E. Stannard, »Murder and the Ruthless Risk-Taker«, Oxford University
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Emotions in the Evaluation of Legal Risk
2. the risk of false acquittals; and 3. the risk of wrongful conviction. For the purposes of this chapter, I will focus only on the last of these. Any change in how we understand risk will, of course, impact how we think about risk in the other cases, and so are live issues worthy of focus in their own right. What the present chapter will do is look at contemporary research on the epistemology of risk to frame a discussion on how emotions can impact the evaluation of legal risk. In the first two sections, I review a distinction between two accounts of risk—the probabilistic account and the modal account—and argue that the probabilistic account is incomplete. Section 3 takes us into the courtroom, with a case study of empirical data on how emotion can be seen to mediate decision-making in the evaluation of gruesome photographic evidence. In section 4, I analyse the standard account of how emotions can be understood to play a role in risk assessment and evaluation, which has naturally built upon the standard probabilistic account of risk. In section 5, I present a modal account of risk and emotion. I draw out the relevant factors of how emotion might contribute to the cognitive process of evaluating risk along these modal lines. In the final section, I demonstrate how—if we accept the modal account of risk, and its resultant impact on how emotions may affect risky decision-making— emotion could best be reflected in the norms of legal decisionmaking practice. 1.
The Probalistic Account of Risk
The received approach to thinking about risk is set in terms of probabilities. The degree of risk is calculated by ascertaining how high a probability it is that the unwanted outcome of the risky situation will occur. In evaluating the risk of wrongful conviction, Commonwealth Law Journal, (Winter 2008): 137–157. See also Law Commission, »Murder, Manslaughter and Infanticide« (Law Commission No 304, 2006) [2.19]. In Scots law, this disregard is termed »wicked recklessness«.
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Lauren Ware
we settle on a threshold of acceptability and try to make sure that the criminal justice system does not pass that threshold. If, given the evidence, the probability that a defendant might be wrongfully convicted or executed is low enough, we can accept that level of risk. This is the account of risk that is employed almost exclusively in the legal theory literature, and also across engineering, safety science, biomedical ethics, and philosophy generally. 3 I want to suggest that this account of risk fails to capture fully what we do when we engage in risk evaluation. In suggesting this, I follow Pritchard, and will use an example he gives to draw out the problem. The problem is: we can easily think of cases in which the probabilities of a risk event occurring are identical, yet one case is intuitively much more risky. The cases he gives are these: CASE 1: An evil scientist has rigged up a large bomb, which he has hidden in a populated area. If the bomb explodes, many people will die. There is no way of discovering the bomb before the time it is set to detonate. The bomb will only detonate, however, if a certain set of numbers comes up on the next national lottery draw. The odds of these numbers appearing is 14 million-to-one. It is not possible to interfere with this lottery draw. CASE 2: An evil scientist has rigged up a large bomb, which he has hidden in a populated area. If the bomb explodes, many people will die. There is no way of discovering the bomb before the time it is set to detonate. The bomb will only detonate, however, if a series of three highly unlikely events obtain. First, the weakest horse in the field at the Grand National, Lucky Loser, must win the race by at least ten furlongs. Second, the worse team remaining in the FA Cup draw, Accrington Stanley, must beat the best team remaining, Manchester United, by at least ten goals. Finally, third, the Queen of Eng3
Alfons Bora, »Risk, risk society, risk behavior, and social problems«, in Blackwell Encyclopedia of Sociology, ed. G. Ritzer (Oxford: Blackwell, 2007); Sabine Roeser, »The role of emotions in judging the moral acceptability of risks«, Safety Science 44 (2006): 690; Duncan Pritchard, »Risk«, Metaphilosophy 46:3 (2015): 436–461. See S. O. Hansson, »Philosophical Perspectives on Risk«, Techne: Research in Philosophy and Technology 8 (2004): 10–35, and »Risk«, Stanford Encyclopedia of Philosophy, ed. E. N. Zalta (2014) for two surveys of the philosophical literature on risk, demonstrating the dominance of probabilistic accounts of risk.
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land must spontaneously choose to speak a complete sentence of Polish during her next public speech. The odds of this chain of events occurring is 14 million-to-one. It is not possible to interfere with the outcomes of any of the events in this chain. 4
The probability of the bomb exploding is identical—we created the cases to be that way—so, on a probabilistic account of risk, they should be treated the same. But something’s not right here. What that is, is that even though the probabilities are the same, it at least appears that it would require a significant amount to change in the world for Case 2 to occur. All that would have to happen for the bomb to explode in Case 1 is just a few coloured balls twisting in the air and landing just so; whereas in Case 2 a lot more is required to bring that situation into being. Either Lucky Loser must run faster than she’s ever ran before, or the other horses must underperform, or perhaps there’s an accident on the racetrack and Lucky Loser (being so far behind, as usual) manages to avoid the incident and become the only horse to finish the race, winning. Something even more complicated must change about the world for Accrington Stanley to win, given the number of players involved; and then, of course, the Queen must learn Polish. The fact that more must change about the world from the way it is now for the conditions in Case 2 to occur can be understood as making it more difficult for that series of events to occur than for the lottery case to occur. It would be more difficult for someone to thwart the evil scientist’s plans in Case 2 because she would have to actually do more to stop the risk event from occuring. Put another way, the relevant conditions for the Case 1 risk event to occur make that explosion something that could more easily occur. What this captures is an important distinction to be made between the probability of an event occurring, and the possibility of it occurring. To examine this distinction, and its relevance for evaluations of risk, we must enter the realm of possible worlds.
4
Pritchard, 2015, 441.
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2.
The Modal Account of Risk
In considering possibilities, as distinct from probabilities, the relevant standard is modal closeness. What this entails is a recognition that we intuitively order possible worlds in relation to how much they are similar to our world, the actual world. By ordering worlds in this way, we also order the possible events that obtain in those worlds according to the same standard. Similarity here is governed by how much would need to change in our world in order to make this world the possible world where the imagined event occurs. Close-by worlds are those that do not require a great deal of change; far-off worlds are those that do. 5 Where probabilities measure odds, possibilities measure modal closeness. In examining Pritchard’s example above, it could be objected that the cases are so bizarre that they outstrip our ability to entertain the relevant probabilities. To overcome this objection, Whittington provides a more clear thought experiment that demonstrates how probabilisitic accounts come apart from modal accounts, and thus how probabilities differ from possibilities. Consider: ROULETTE: Take a roulette wheel with 38 pockets. The player places a bet on pocket number 37. The wheel spins and the ball lands in pocket number 38. The player remarks that they have been unlucky to lose. 6
Understood in terms of probabilities, all pockets besides the winning one are equally losing pockets. Landing close to the winning pocket does not change those probabilities: the risk of losing, on a
5
For the seminal discussion of possible worlds see David Lewis, Counterfactuals (Oxford: Blackwell, 1973); and On the Plurality of Worlds (Oxford: Blackwell, 1987). Particular discussion on easy possibilities can be found in R. M. Sainsbury, »Easy Possibilities«, Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997): 907– 919. 6 Lee John Whittington, The Metaphysics of Luck (Ph.D. thesis, University of Edinburgh, 2015), 52. Whittington’s modal account regards luck, rather than risk specifically. However, the account of luck he builds can be mapped onto risk.
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probabilisitic account, is always 37/38. However, as Whittington explains, »the close proximity of pocket 37 to pocket 38 means that, holding certain conditions fixed, there would not have been widespread violations of the actual world for the ball to have landed in the nearby pocket 37, making the roulette player a winner. Given that the ball did land in pocket 38, it could easily have been the case the ball could have landed in pocket 37.« 7 Building from this model, we can offer a modal account of risk: where the level of risk is measured not by probabilities or statistical likelihood, but by how much would need to change about the world for it to be the case that the risk event occurs. When we consider legal risks, in particular the risk of wrongful conviction, it is this modal account that I want to entertain. What this will mean is that, in some cases, we can judge there to be a high risk of wrongful conviction, even though the statistical probabilities say otherwise. This shouldn’t be too incredible. Our inability to make reliable inferences involving probabilities is welldocumented, 8 but we are really good imaginers. As Norris and Epstein have demonstrated in a series of experiments, it is the less cognitively-demanding »experiential« thinking style that is more successful at performing creative-associative tasks than the »rational« style employed in probabilistic reasoning. Such creative tasks assessed included: listing as many ways as possible how certain everyday items can be used; interpreting ambiguous drawings; and imagining the consequences of unprecendented counterfactuals, such as humans no longer needing sleep. 9 Creative imagination of this kind lends itself to thinking about possible worlds and judging their similarity to our own. In fact, the empirical literature on the psychology of risk perception, risk criteria, and risk evaluation converge in noting that our decisions about
7
Whittington, 2015, 52. Daniel Kahneman, et al., Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases (Cambridge: Cambridge University Press, 1982). 9 Paul Norris and Seymour Epstein, »An Experiential Thinking Style: Its Facets and Relations with Objective and Subjective Criterion Measures«, Journal of Personality 79:5 (2011): 1058. 8
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risk are more (even primarily) responsive to the modal closeness of an event, and not to its probability. 10 Now, there are many interesting questions to be put to a modal account of risk, and, in this chapter, I’m not going to defend it any further than this. 11 My aim here is simply to argue: if the modal account of risk has any traction in the evaluation of legal risk, it will require a radical change in the way we think about how emotions are involved in risk evaluation. The primary motivation for considering a modal account of risk is therefore the acknowledgement of the different roles emotions can be seen to play as cognitive tools in probabilistic reasoning tasks, as opposed to the role they play as cognitive tools in the creative task of imagining and ordering possible worlds—including those that explain the conditions under which a defendant is innocent. 3.
Anger and Gruesome Evidence
Keeping this modal account of risk in mind, we can now begin to look at the relevant factors of what emotions might contribute to the cognitive process of evaluating risk along these modal lines. As a case study, I will examine a particular emotion (anger), and the eliciting condition of gruesome photographic evidence presented in court. In this context, the options involved in a decision would be the conviction and sentencing options available to the jury group. 10
Kahneman and C. A. Varey, »Propensities and Counterfactuals: The Loser That Almost Won«, Journal of Personality and Social Psychology 59 (1990): 1101–1110; K. H. Teigan, »Luck: The Art of a Near Miss«, Scandinavian Journal of Philosophy 37 (1996): 156–171. 11 For more detailed defences of modal accounts of luck and risk, see Teigen, »When a small difference makes a big difference: counterfactual thinking and luck«, in The Psychology of Counterfactual Thinking, eds. David R. Mandel, Denis J. Hilton, and Patrizia Catellani (London, Routledge: 2005): 129–146; Whittington, 2015; and Pritchard, »Epistemic Luck«, Journal of Philosophical Research 29 (2004): 193–222; and »The Modal Account of Luck«, Metaphilosophy 45:4–5 (2015): 494–619.
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In the United States and the Commonwealth, trial courts standardly admit visually presented gruesome evidence, including verbal accounts, videos, and photographs. The decision to admit gruesome evidence generally follows from an estimation that the probative value of the evidence—that is, its quality of affording proof—outweighs any potential prejudicial impact on the decision-maker. 12 Judges have long assumed that gruesome evidence can influence juror verdicts. 13 Until relatively recently, however, little was known about the precise manner in which gruesome evidence affects juror decision-making. It has only been in the last several years that dedicated studies have been carried out to test the hypothesis that verbally and/or visually presented evidence influences juror evaluation of evidence, estimations of guilt, and their overall verdict. I will briefly describe one of these studies, by Bright and Goodman-Delahunty, which is fairly paradigmatic. First, mock jurors are assigned to one of two verbal evidence conditions: gruesome or non-gruesome. 14 The evidence differed in the amount of detail that was presented regarding wounds to the victim. Second, participants were further assigned to one of the three visual evidence conditions: no photographs, twenty neutral photographs, or twenty gruesome photographs. In the neutral conditions, photographs were of, for example, an internal door with damage to the outer panel; in the gruesome conditions, photographs depicted the victim postmortem, displaying deep wounds to the victim from different angles. In this study, gruesome verbal evidence had no influence on mock juror verdicts. What we do see is that when gruesome visual evidence was presented, it led to significantly higher rates for each of the following: 12
David A. Bright and Jane Goodman-Delahunty, »Gruesome Evidence and Emotion: Anger, Blame, and Jury Decision-Making«, Law and Human Behavior 30 (2010): 183–202. 13 Susan Bandes and Jessica Salerno, »Emotion, proof and prejudice: The cognitive science of gruesome photos and victim impact statements«, Arizona State Law Journal 46 (2014): 1003–1056. 14 Evidence is that from R. v. Valevski, 2000.
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1. Conviction rate 2. Evaluation of the sufficiency of prosecution evidence 3. Evaluation of the inculpatory weight of prosecution evidence 4. Severity of punishment awarded This leads the authors to conclude, »The increase in convictions in response to gruesome photographs confirmed the hypothesis that jurors are more prone to convict a defendant when gruesome photographic evidence is led in evidence, compared with the equivalent case in which no such gruesome evidence is submitted, or where such evidence is excluded by the judge«. 15 What is really interesting here are results two and three: that mean ratings of the sufficiency and inculpatory weight of the prosecution evidence were significantly greater than those who saw no photographs. This is striking because it demonstrates the impact of these images on the actual evaluation of the evidence, the cognitive process of forming an evaluation. Where do emotions come in? Mock jurors who saw gruesome postmortem photographs of the victim reported experiencing significantly more intense emotional responses than did mock jurors who saw no photographs. They also reported higher levels of anger (specifically) directed at the defendant compared with those who didn’t see any photographs, saw neutral photographs, or were presented with either condition of verbal evidence. Another factor that has been demonstrated in dozens of these studies is the finding that specific negatively valenced emotions (anger and disgust, mainly) were induced by gruesome photographs, which suggests that rather than impacting on negative affect in general, or producing a generally negative mood, gruesome visual evidence influences specific emotions. 16 What we see here is that mock juror anger toward the defendant mediated the influence of the gruesome photographs in the ways detailed above: in increasing the
15
Bright and Goodman-Delahunty, 2010, 197. Aaron Ben-Ze’ev, »The Thing Called Emotion«, in The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, ed. Peter Goldie (Oxford: Oxford University Press, 2010): 41–61.
16
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likelihood of conviction, in enhancing the perceived sufficiency and weight of the evidence, and in increasing the severity of punishment. What is of concern here is the extent to which the emotion mediates the influence of external information on the decisionmaking process itself. By connecting up research on information processing from the behavioural sciences with the gaps identified in the law and emotion literature, the hypothesis indicates that emotions may influence legal judgements in the following ways: 1. Affecting the depth of information processing strategies: Anger but not sadness leads to less systematic processing strategies, as well as a greater reliance on heuristics or stereotypes. 2. Biasing perception, recall, and interpretation of information in the direction of the emotions: Jurors experiencing the broadly negatively valenced emotions tend to interpret ambiguous information more negatively, to recall more negative information about a situation, to suppose a greater probability for angering events to occur in future, and to notice more negative information in one’s environment. 3. Providing informational cues to judgement: Taking one’s own emotional state to be directly informative of the events or environment at hand. 4. Affecting how confident decision-makers are of their judgement: Anger is shown in many studies to be associated with high levels of certainty. 17 So, we’ve got a problem here. Information presented in court elicits an emotion that results in increases across the board for conviction, sufficiency, inculpatory weight, and severity of punishment, but these results may be arrived at by faulty information processing strategies. If it can be demonstrated that anger impacts probabilistic reasoning in one way (e. g., by leading the decisionmaker to predict a greater probability for negatively valenced
17
Neal Feigenson, »Emotional Influence on Judgments of Legal Blame«, in Emotion and the Law, eds. B. H. Bornstein and R. L. Wiener (New York: Springer, 2010): 45–96.
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events to happen in the future 18), but modal reasoning in another (e. g., by leading her to judge the modal closeness of a counterfactual scenario as more certain, or to perceive less risk to new situations 19) then it really matters which account of risk we are taking. If we are convinced by the modal account of risk, then our understanding of what anger contributes—positively or negatively—will impact whether the kinds of evidence that heighten anger ought to be admitted in court. 4.
Competing Accounts of Emotion in Risk Evaluation
In recent years, we have witnessed an increasing interest in the role of emotion in decision-making under uncertainty. Empirical research has shown that people consistently rely on emotions in making judgements concerning risks. 20 Slovic and his colleagues generated a theory about the so-called ›affect-heuristic‹, according to which if a decision-maker has a positive attitude towards a risk event, they judge its risk as low and its benefits as high; if they have a negative attitude towards the risk event, they judge in the opposite way. 21 On Slovic’s view, this affect-heuristic can mislead us. Sunstein goes even further, demonstrating how emotion is a major source of flaws in our thinking about uncertainty and risk 18
David DeSteno, et al., »Beyond Valence in the Perception of Likelihood: The Role of Emotion Specificity«, Journal of Personality and Social Psychology 78:3 (2000): 397–416. 19 Feigenson, 2010, 47–48; Jennifer S. Lerner and Dacher Keltner, »Beyond valence: Toward a model of emotion-specific influences on judgement and choice«, Cognition and Emotion 14:4 (2000): 478. 20 M. Finucane, et al., »The affect heuristic in judgments of risks and benefits«, Journal of Behavioral Decision Making 13 (2000): 1–17; Paul Slovic, »Trust, emotion, sex, politics, and science: surveying the risk-assessment battlefield«, Risk Analysis 19 (1999): 689–701. 21 Finucane, et al., 2000; Slovic, et al. »The affect heuristic«, in Intuitive Judgment: Heuristics and Biases, eds. T. Gilovich, D. Griffin, and D. Kahneman (Cambridge: Cambridge University Press, 2002): 397–420; »Risk as analysis and risk as feelings: Some thoughts about affect, reason, risk, and rationality«, Risk Analysis 24 (2004): 311–322.
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in particular. 22 If it is the case, and people do rely on emotions in evaluating situations of risk as Kahneman and Varey and Teigan have argued, 23 how do we deal? Two views have developed on this score, which will set the stage for how we can come to see the role of emotions under the modal account of risk. The dominant view in risk perception and evaluation research holds that reason and emotion are distinct faculties. This view stems from the groundswell of research under the umbrella of the Dual Process Theory (DPT), a theoretical framework that has been developed in cognitive psychology and empirical decision theory. 24 In brief, according to the DPT framework, our mind works via two distinct systems. System 1 is evolutionarily prior; it is fast and intuitive, but unreliable. It is the ›quick and dirty‹ method that gets you in the ballpark, but doesn’t let you chose your seat. System 2 developed later in our evolution; it is rational, analytic, reflective, and more reliable, but also slower and more demanding of effort and attention. It’s the ›slow and steady‹ winner in the race to the truth. Proponents of the various versions 22
Cass Sunstein, Laws of Fear (Cambridge: Cambridge University Press, 2005). Kahneman and C. A. Varey, »Propensities and Counterfactuals: The Loser That Almost Won«, Journal of Personality and Social Psychology 59 (1990): 1101–1110; K. H. Teigan, »Luck: The Art of a Near Miss«, Scandinavian Journal of Philosophy 37 (1996): 156–171. 24 S. Epstein, »Integration of the Cognitive and the Psychodynamic Unconscious«, American Psychologist 49:8 (1994): 709; J. Greene and J. Haidt, »How (and Where) Does Moral Judgment Work?«, Trends in Cognitive Sciences 6 (2002): 517–523; Haidt and J. Graham, »When Morality Opposes Justice: Conservatives Have Moral Intuitions that Liberals May Not Recognize«, Social Justice Research 20:1 (2007): 98–116; S. A. Sloman, »The Empirical Case for Two Systems of Reasoning«, Psychological Bulletin 119:1 (1996): 3, »Two Systems of Reasoning«, in Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment (2002): 379–396; K. E. Stanovich and R. F. West, »Individual Differences in Rational Thought«, Journal of Experimental Psychology: General 127:2 (1998): 161; F. Strack and R. Deutsche, »Reflective and impulsive determinants of social behavior«, Personality and Social Psychology Review 8:3 (2004): 220–227; and see Kahneman, Thinking Fast and Slow (New York: Macmillan, 2011) for a popularised overview of his own scholarly work on the subject. K. E. Stanovich, The Robot’s Rebellion: Finding Meaning in the Age of Darwin (Chicago: University of Chicago Press, 2004) cites some two dozen variants of the DPT model. 23
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of the DPT hold that emotions are part of at least System 1, and that analytic rationality takes place via System 2. Accordingly, if sound reasoning is a product of System 2 processes, then when evaluating risk, it follows that we should rely on System 2. An outcome of this dichotomous view is that one System might impede, stifle, or overshadow the other. From this, we get the first of two competing conceptions of emotions in risk evaluation. This is the view that emotions get in the way of sound reasoning, and if they get in the way of sound reasoning, they will certainly get in the way of reasoning about risks. Proponents of this view aim to demonstrate that emotions both blur our understanding of quantitative information about risk, 25 and bias us in our judgement of the evaluative aspects of risk. 26 In particular, emotions contribute to what Sunstein calls »probability neglect« and what Slovic calls »availability«. 27 Here’s Sunstein: Probability neglect is especially large when people focus on the worst possible case or otherwise are subject to strong emotions. When such emotions are at work, people do not give sufficient consideration to the likelihood that the worst case will occur. 28
A second way emotions distort our quantitative reasoning is »framing«, that is, the phenomenon that the way information about risk is presented significantly determines evaluations about that information, for experts and laypeople alike. Tversky and Kahneman’s well-known framing experiment allowed doctors to judge whether they would recommend a particular cancer treatment to a patient. The results: One group of doctors got the information about the effectiveness of the treatment in terms of probabilities of survival, the other group in terms of probability of death, where the information was statistically equivalent. Representation in terms of probability of survival led to
25
Slovic, 2004; G. F. Loewenstein, et al., »Risk as Feelings«, Psychological Bulletin 127 (2001): 267–286, at 271. 26 Finucane, et al., 2000, 7; but see Roeser, 2006, 694 ff. 27 Slovic, 2002, esp. 414, 410. 28 Sunstein, 2005, 68.
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significantly more positive evaluations of the treatment than representation in terms of probability of death. 29
A final distortion is »proportion dominance«, which in various gambling tasks results in gamblers determining the attractiveness of a gamble much more strongly by probabilities of winning and losing than by the monetary outcomes involved. 30 Given these ways the emotions affect our reasoning about risk for the worse, the dominant response has been to say that risk-related emotions ought to be corrected by rational and scientific methods. 31 However, there is reason to question this persistent script regarding the opposition of reason and emotion. If it is emotion that impedes our ability to reliably and appropriately evaluate risk, then surely finding ways to turn off the emotions would make us excellent decision-makers when it comes to risk. However, as has been demonstrated in a famous series of studies by Damasio, those with damage to the areas of the brain associated with emotion tend to be even worse at evaluating risk. 32 Research continuing on Damasio’s work also demonstrates that those who lack the somatic markers of emotion »not only have difficulty making risky decisions, but they also choose in ways that turn their personal and professional lives to shambles.« 33 A competing conception of the role of emotion in risk perception and evaluation holds that there might be a positive place for emotion—or, at least, that emotion might not be the only problem. Most of the proponents of a positive view of emotions in risk evaluation would identify as part of the cognitivist theory of emotion. Emotional cognitivists allow, first of all, that emotions are intentional: that they have intentional objects, whereas other affective states such as feelings or moods do not. 34 This under29
A. Tversky and Kahneman, »Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases«, Science 185 (1974): 1124–1131. 30 Slovic, et al., 2004, 317. 31 Ronald de Sousa, »Here’s How I Feel: Don’t Trust Your Feelings!«, in Emotions and Risky Technologies, ed. Sabine Roeser (Delft: Springer, 2010): 17–35. 32 Antonio Damasio, Descartes’ Error (New York: Putnam, 1994). 33 Loewenstein, et al., 2001, 274. 34 Ben-Ze’ev, 2010.
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standing of emotional intentionality goes back to Plato, and is employed by cognitivists about emotion to demonstrate that emotions have critical potential. 35 Second, the cognitivist theory of emotion takes emotions to be evaluative. Working at the intersection of emotion, decision-making, and technological ethics, Roeser challenges Slovic to argue that emotions can play an important role in risk assessment, and in particular in judging the ethical and evaluative aspects of technological risks. Further, she argues that moral emotions can contribute to moral understanding, via imagination, empathy, and sympathy. For it does remain a crucial part of virtually all risk theories that risk is not only a quantitative notion but also an evaluative notion. 36 Some components of what makes a risk risky are evaluative aspects: risk events are »unwanted« events, and a risk is a risk to something that is valued. 37 Both of these two competing conceptions of emotion and risk evaluation, however, follow a squarely probabilistic understanding of risk. To see emotions as heuristic substitutes for sound rational thinking, is to assert that individuals lack the capacity to process information that maximises their expected utility. These heuristic shortcuts »invariably cause individuals’ evaluations of risks to err
35
de Sousa, »Moral Emotions«, Ethical Theory and Moral Practice 4 (2001): 109– 126; Michael Lacewing, »Emotional self-awareness and ethical deliberation«, Ratio 18 (2005): 65–81. For the identification of emotional intentionality in Plato, see Lauren Ware, »Erotic Virtue«, Res Philosophica 92 : 4 (2015): 2–3. 36 Roeser, »Emotional Reflection About Risks«, in Emotions and Risky Technologies (2010): 238. On the role (and, often, requirement) of emotions for moral knowledge, see also Damasio, 1994; de Sousa, The Rationality of Emotions (Cambridge, MA: MIT Press, 1987); Haidt, 2001; M. O. Lettie, »Seeing and caring: the role of affect in feminist moral epistemology«, Hypatia 10 (1995): 117–137; Martha Nussbaum, Upheavals of Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 2001); Roeser, Ethical Intuitions and Emotions: A Philosophical Study, (Ph. D. diss., Free University, Amsterdam, 2002); Robert Solomon, The Passions: Emotions and the Meaning of Life (Indianapolis, IN: Hackett, 1993); K. Schrader-Frechette, Risk and Rationality (Berkeley: UC Berkeley Press, 1991), 30. Nussbaum, 2001, argues specifically that emotions are judgments of value. 37 Pritchard, 2005, 1–2.
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in substantial and recurring ways.« 38 Even if we accept that emotions function as heuristics in one way or another, the heuristic model is itself based on economic modelling of probabilities in the first place. 39 Both sides of the emotion and risk debate are still part of that probabilistic statistical framework. 5.
Emotion and Risk on the Modal Account
When we think about how emotions are or can be involved in decision-making and evaluation, we can judge them on the basis of what they contribute to the cognitive task at hand. Whether a cognitive tool—like an emotion—steers us wrong depends on the purpose it is meant to serve. As we’ve seen, both the general literature on risk and its evaluation, and the more specific literature on emotions and risk take a probabilistic understanding of risk. It follows, then, that emotions are assessed as helpful or not with regard to how they impact reasoning about probabilities: weighing up and calculating about statistical likelihoods. It’s no surprise, then, that there persists such a script regarding Reason v. Emotion: when rely on emotions we yet judge risk probabilities badly. However, if we entertain the possibility that risk can be understood along modal lines, rather than probabilistic lines, it will change that role that emotion has in the decision-making and evaluating processes. In this section, I will examine what a
38
Dan M. Kahan, »Two Conceptions of Emotion in Risk Regulation«, University of Pennsylvania Law Review 156 (2008): 746; Christine Jolls, et al., »A Behavioral Approach to Law and Economics«, Stanford Law Review 50 (1998): 1471, 1477–1478. 39 Susan Bandes, »Emotions, Values, and the Construction of Risk«, Pennsylvania Law Review 156 (2008): 15–16; Thomas Gilovich and Dale Griffin, »Introduction: Heuristics and Biases: Then and Now«, in Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment (2002), at 103; Steven A. Sloman, »Two Systems of Reasoning«, in Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment, at 379–396; and Keith E. Stanovich and Richard F. West, »Individual Differences in Reasoning: Implications for the Rationality Debate?«, in Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment, at 421–440.
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modal account of risk might mean for how we understand emotion’s role in the evaluation of that risk. We can see why the data from the gruesome evidence cases can be problematic if we take that purpose to be ascertaining probabilities: anger consistently gets probabilities wrong. But what can emotions offer in evaluations of modal proximity? If what is involved in judgements of modal proximity is considering how much needs to change about the world for it to be the case that the defendant is guilty, we need to shift the dialogue of the debate from how emotions impact calculations, predictions, and odds, to how they impact the cognitive tasks involved in ordering possible worlds. Here’s the speculation: at least some part of this is a distinctly creative and imaginative task; of considering degrees of similarity, and envisioning close alternatives that—even if statistically unlikely—are close and easy and could explain the nearby conditions under which a defendant is innocent. What we need to look at now is the role of emotions as cognitive tools in these evaluativeimaginative tasks. In what follows, I sketch four dimensions along which emotions as tools in evaluations of modal proximity can be investigated. First, the significant body of research on emotions and creative problem-solving can be harnessed with specific reference to modal creative thinking. Empirical studies in psychology and cognitive science consistently demonstrate that »positive« emotions make positive outcomes appear more likely, whereas negative emotions make negative outcomes appear more likely. 40 Further, we can see that emotions create different mental sets that are more or less useful for solving certain kinds of problems. For example, happiness facilitates a mental set useful in creative tasks in which one must think flexibly, 41 intuitively, or expansively, in order to make 40
E. Johnson and A. Tversky, »Affect, generalization and the perception of risk«, Journal of Personality and Social Psychology 45 (1983): 20–31; J. D. Mayer, Y. N. Gaschke, D. L. Braverman, and T. W. Evans, »Mood-congruent judgment is a general effect«, Journal of Personality and Social Psychology 63 (1992): 119–132. 41 K. Fieldler, »Affective states trigger processes of assimilation and accommodation«, in Theories of mood and cognition: A user’s guidebook, eds. L. L. Martin and G. L. Clore (Mahwah, NJ: Erlbaum, 2001): 85–98.
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novel associations. Whereas sadness better conduces to the mental set in which problems are solved more slowly, with particular attention to detail, and through deliberate and more focussed strategies. 42 Palfai and Salovey have argued that these two different styles of processing fit themselves to different kinds of problem solving: positive emotions making one better at inductive problems such as analogical reasoning, and negative emotions making one better at deductive logical tasks. 43 What might be most promising for assessing the role of emotions in modal imagining, however, is the work by Isen and her colleagues and the debates that ensued from this work. Two findings have become so robust they are now sometimes used as affect checks in other studies: first, that people in whom positive affect is induced are found »to give unusual (but reasonable) first associates, and have a more diverse set of associates, to neutral words«, and to produce artistic creations that are judged as more creative. 44 An understanding of how emotions—anger, or compassion, for example—induced in court affect counterfactual reasoning, can be the starting point for structuring legal environments so as to bring about the conditions which best facilitate creative imagining of possible worlds. 45
42
Alice Isen, K. A. Daubman, and G. P. Nowicki, »Positive affect facilitates creative problem-solving«, Journal of Personality and Social Psychology 52 (1987): 1122–1131. 43 T. P. Palfai and P. Salovey, »The influence of depressed and elated mood on deductive and inductive reasoning«, Imagination, Cognition, and Personality 13 (1993): 57–71. 44 A. Isen, M. M. S. Johnson, E. Mertz, and G. F. Robinson, »The influence of positive affect on the unusualness of word associations«, Journal of Personality and Social Psychology 48 (1985): 1413–1426; E. R. Hirt, R. J. Melton, H. E. McDonald, and J. M. Harackiewicz, »Processing goals, task interest, and the mood-performance relationship: A meditational analysis«, Journal of Personality and Social Psychology 71 (1996): 245–261. See Isen, »Positive affect and creativity«, in Affect, creative experience, and psychological adjustment, ed. S. Russ (Philadelphia: Bruner/Mazel, 1999): 3–17 for a thorough discussion of these topics. 45 I consider the conditions in which the emotion of compassion can operate as a good heuristic guide in legal judgment in »Compassion in the Courtroom«, in The Moral Psychology of Compassion, eds. Justin Caouette and Carolyn Price (Rowman & Littlefield, forthcoming).
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A second way in which emotions can play a role in the evaluation of modal risk is described in the research on emotion and attention: emotion aids in information-gathering, to the extent that motivationally-relevant objects receive greater attention. 46 This could provide an explanation as to why the angry juror judges anger-inducing events as more likely to happen in the future, and why she notices more anger-inducing events that are actually present to her. What we have here is an alternative explanation for the results of Bright and Goodman-Delahunty in the gruesome images cases. They judged the risk of wrongful conviction as lower, because they can imagine more acutely the risk of the killer going free due to the emotion itself making the angerinducing possibilities appear more close-by. Now, we can see that a consequence of introducing rules of modality might make it possible for emotion to skew both ways. What it does offer though—which has not yet been explored in the literature on legal risk—is an explanation of the affective underpinnings of this outcome. Third, we can consider what emotions contribute in perceptions of similarity. In the modal cases, we want to focus on perceptions of similarity between possible worlds. One common theme in the recent literature has been an appeal to perception as a useful model for understanding how emotions operate. 47 Perceptual emotion theories emphasise three aspects of emotion that can offer marked contributions to the kind of imaginative reasoning evaluation regarding modal proximity requires: the cognitive components of these emotions; 48 their world-directed intention46
P. J. Lang and M. Davis, »Emotion, motivation, and the brain: reflect foundations in animal and human research«, Progress in Brain Research 156 (2006): 3– 29. 47 For two independently useful overviews of perceptual theories of emotion, see Julien A. Deonna and Fabrice Teroni, »Perceptual theories of the emotions«, in The Emotions: A Philosophical Introduction (London: Routledge, 2012): 63–75; and Mikko Salmela, »Can emotion be modelled on perception?«, Dialectica: International Journal of Philosophy of Knowledge 65 (2011): 1–29. 48 Robert C. Roberts, Emotions: An Essay in Aid of Moral Psychology (Cambridge: Cambridge University Press, 2003).
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ality; 49 and the proposed similarities between »the epistemic roles of perception and emotion—the former in justifying sensory knowledge of the world, the latter in justifying evaluative knowledge.« 50 Fourth, emotions are an important mechanism by which we are able to take multiple perspectives. This affords a dynamic role for emotions in imagining possible worlds. Nussbaum has argued persuasively for transforming public institutions to bring about these emotions for exactly this reason: so that we can picture the world from the perspective of other members of society. On her view, emotions such as sympathy and compassion can broaden our »circle of concern«. 51 In her recent Political Emotions, Nussbaum builds a case for cultivating the emotions in educational curricula, in public art and ceremonies, and in political activity for their imaginative capacities. 52 Harnessing »positional imagination« in a way that includes difference—taking the place, imaginatively, of stigmatised groups, dissenters, and the varied other— may generate a genuine commitment to considering possible worlds before counting on the security of a statistical model that privileges heuristics and stereotypes. 6.
Scaffolding for a Creative Courtroom
Within the framework of the justice system, what structures can we put in place to facilitate the creative and imaginative thinking 49
Ben-Ze’ev, 2010; Sabine Döring, »Explaining action by emotion«, The Philosophical Quarterly 53 (2003): 214–230; Thomas Reid, Essays on the Active Powers of the Human Mind (London: Thomas Tegg, Cheapside: 1843 [1788]). 50 Cain Todd, »Emotion and Value«, in Emotion and Value, eds. Sabine Roeser and Cain Todd (Oxford: Oxford University Press, 2014), 3. See also Michael Tye, »The experience of emotion: An intentionalist theory«, Revue Internationale de Philosophie 62 (2008): 25–50, for the hypothesis that evaluative qualities are directly afforded to us via our perceptual experiences. 51 Nussbaum, 2001, and Political Emotions: Why Love Matters for Justice (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2013), 11. 52 Nussbaum, 2013, esp. 61–62, 189–191, and 251–252.
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about risk called for if one accepts a modal account of risk? Further, what practices need to be refined or abandoned for such facilitation? One pressing area is in how this might alter our evidentiary standards. In the U.K. and U.S. legal systems, civil proceedings are governed by the Preponderance of the Evidence standard. A proposition satisfies this standard just in case that proposition’s conditional probability, given the available and admissible evidence, is greater than .5. 53 If all we were concerned about in assessing the legal risk of a wrongful conviction is to ensure that risk remains below the 50% threshold of likelihood, then we could countenance evidence that—while very unlikely to generate a wrongful conviction—may yet make it an easy possibility that the risk event does occur. If we take a modal account of risk, our standard of evidence must change. For example, we might then require independent corroborating evidence of a kind that satisfies the safety conditions regarded for existing epistemic theories as necessary for knowledge. 54 A further consequence of these conditions might impact also the standard of reasonable doubt acceptable. Second, if what we want from our emotions is for them to serve the cognitive aim of suitably tracking modal proximity via the imaginative lateral thinking best conduced by a positive affect, then a case can be made for sensitivity to otherwise overlooked
53
Michael Blome-Tillmann, »Sensitivity, Causality, and Statistical Evidence in Courts of Law«, Thought: A Journal of Philosophy 4 : 2 (2015): 102–112. 54 These kinds of safety conditions are defended in Ernest Sosa, »How to Defeat Opposition to Moore«, Philosophical Perspectives 13 (1999): 141–154; Timothy Williamson, Knowledge and its Limits (Oxford: Oxford University Press, 2001); Pritchard, Epistemic Luck (Oxford: Oxford University Press, 2005), »Anti-Luck Epistemology«, Synthese 158 (2007): 277–297, »Anti-Luck Virtue Epistemology«, Journal of Philosophy 109 (2012): 247–279; and Martin Smith, »Justification, Normalcy and Evidential Probability«, M. S., http://philpapers.org/rec/ SMIJNA-2. But see David Enoch, L. Spectre, and T. Fisher, »Statistical Evidence, Sensitivity, and the Legal Value of Knowledge«, Philosophy & Public Affairs 40 (2012): 197–224, for a different modal constraint on legal evidence, which draws on the sensitivity condition of Robert Nozick, Philosophical Explanations (Oxford: Oxford University Press, 1981).
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institutional welfare conditions of the variety of legal actors involved. This could range from monitoring fear and insecurity about wage loss in serving on a jury, to advocating for healthier and more enriching lunches, to taking on board the research that consistently demonstrates that we reason better and employ fewer biases when we have more sanitary deliberation space. 55 Third, this research might motivate legal regulators to reassess the order of proceedings. Perhaps, prior to the visual evidence that may spark emotions that stifle creative thinking, a dedicated period be instituted to engage in possibility deliberations. However, as we have seen, while emotions can be an important source of moral insight, they are no guarantee for success. An important part of these deliberations ought therefore to include a critical examination of those very emotions, and engaging in what Jäger and Bartsch term »meta-emotions«—emotional reflection about experienced emotion. 56 Lacewing also advocates with regard to »second-order emotions«, that is, how we feel about our emotions, that they can aid in deliberating about our first-order emotions. 57 One model legal theorists and practitioners may be able to exploit in creating conditions conducive to modal reasoning about risk is the recent work being done with regard to Participatory Risk Assessment (PRA) strategies. The aim of these projects is to widen the circle of debate regarding institutional risk to include not only experts, but those impacted by, among other things, risky technologies. 58 Two considerations championed in PRA strategies can be
55
Simone Schnall, et al., »Disgust as Embodied Moral Judgment«, Personality and Social Psychology Bulletin 34 (2008): 1096–1109; Jonathan Haidt, »The Emotional Dog and its Rational Tail: A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment«, Psychological Review 108 (2001): 814–834; Thalia Wheatley and Jonathan Haidt, »Hypnotic Disgust Makes Moral Judgments More Severe«, Psychological Science 16 : 10 (2005): 780–784; Jesse Prinz, »The Emotional Basis of Moral Judgments«, Philosophical Explorations 9 : 1 (2006): 29–43. 56 Christoph Jäger and Anne Bartsch, »Meta-Emotions«, Grazer Philosophische Studien 73 (2006): 179–204. 57 Lacewing, 2005, 80. 58 Sabine Roeser and Udo Pesch, »An Emotional Deliberation Approach to Risk«, Science, Technology, & Human Values, online first (July 2015).
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effectively coopted to better integrate emotional deliberation in creating a legal environment more conducive to the kind of creative reasoning successful risk assessment requires on the modal account. First, by creating symmetric setups of deliberation that afford a positive role for expert testimony, but also and intentionally allow for all participants to deliberate in a spirit of »equality and empowerment« 59. Second—and this is a strategy which should please philosophers—by creating a space to ask questions: in actively asking lay members of a community consultation group considering the risks of a proposed nuclear energy proposal, »Under what conditions would you be less worried?«, decision-makers become immediately engaged in modal thinking about risk. 60 A legal framework that could facilitate these kinds of participatory deliberation may harness the creative power of emotions within a just and ordered courtroom. Conclusion Evaluating legal risk in accordance with the modal account opens up a new direction of study for law and emotion research. Of particular public importance is how we might structure legal and political institutions such that they not only reflect what purpose emotions serve, but also appraise, channel, and educate the emotions, with an eye toward creating the conditions for a deliberative and creative justice system. What’s exciting as well is the potential for this examination of the role of emotions in risk and decisionmaking to shed light on areas outside the courtroom in which risk features prominently: for example, in crisis intervention, in security risk analysis, and in the assessment of medical risks. Emotions offer a uniquely powerful insight into what is at stake—for the
59
Ibid., 13–14. J. Nihlén Fahlquist and Sabine Roeser, »Nuclear Energy, Responsible Risk Communication and Moral Emotions: A Three Level Framework«, Journal of Risk Research 18:3 (2014): 333–346.
60
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individual and for social groups—in these debates. The possible ways in which we can harness this insight remain open. 61 References Bandes, Susan and Jessica Salerno. »Emotion, proof and prejudice: The cognitive science of gruesome photos and victim impact statements.« Arizona State Law Journal 46 (2014): 1003–1056. Bandes, Susan. »Emotions, Values, and the Construction of Risk.« Pennsylvania Law Review 156 (2008): 1–29. Ben-Ze’ev, Aaron. »The Thing Called Emotion.« In The Oxford Handbook of Philosophy of Emotion, ed. Peter Goldie. Oxford: Oxford University Press, 2010: 41–61. Blome-Tillmann, Michael. »Sensitivity, Causality, and Statistical Evidence in Courts of Law.« Thought: A Journal of Philosophy 4 : 2 (2015): 102–112. Bora, Alfons. »Risk, risk society, risk behavior, and social problems.« In Blackwell Encyclopedia of Sociology, ed. G. Ritzer. Oxford: Blackwell, 2007. Bright, David A. and Jane Goodman-Delahunty. »Gruesome Evidence and Emotion: Anger, Blame, and Jury Decision-Making.« Law and Human Behavior 30 (2010): 183–202. Damasio, Antonio. Descartes’ Error. New York: Putnam, 1994. Deonna, Julien A. and Fabrice Teroni. »Perceptual theories of the emotions.« In The Emotions: A Philosophical Introduction. London: Routledge, 2012: 63–75. DeSteno, David, Richard E. Petty, Duane T. Wegener, and Derek D. Rucker. »Beyond Valence in the Perception of Likelihood: The Role of Emotion Specificity.« Journal of Personality and Social Psychology 78:3 (2000): 397–416. De Sousa, Ronald. »Here’s How I Feel: Don’t Trust Your Feelings!« In Emotions and Risky Technologies, ed. Sabine Roeser. Delft: Springer, 2010: 17–35. _____. »Moral Emotions.« Ethical Theory and Moral Practice 4 (2001): 109–126. _____. The Rationality of Emotions. Cambridge, MA: MIT Press, 1987. Döring, Sabine. »Explaining action by emotion.« The Philosophical Quarterly 53 (2003): 214–230. Enoch, David, Levi Spectre, and Talia Fisher. »Statistical Evidence, Sensitivity, and the Legal Value of Knowledge.« Philosophy & Public Affairs 40 (2012): 197–224.
An earlier version of this paper was presented at the 2nd annual conference of the European Philosophical Society for the Study of Emotions, held at the University of Edinburgh in July 2015. I am grateful to the conference participants for their very helpful comments; and to Lee John Whittington and Alfred Archer for further discussion of the topics in this chapter.
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Jeffrie G. Murphy 1
Remorse, Apology, and Mercy*
It is commonly believed that legal mercy for those guilty of serious crimes is most appropriately bestowed upon those criminals who exhibit sincere remorse and repentance over what they have done—a remorse and repentance often represented by apologies to victims, survivors, and the community as a whole. As the public interest in the Karla Faye Tucker case demonstrated, many people find these displays of remorse particularly compelling if they are presented as a consequence of religious conversion. In contrast, the word »remorseless« is often used to describe those criminals who are viewed as the worst of the worst and thus as least deserving of legal mercy. This essay—a modification of some of the author’s earlier work— explores the nature of remorse, its relation to religion, the role it plays in the assessment of moral character, and the role that such a character assessment might play in decisions to grant legal mercy—in particular, decisions of judges at the time of sentencing or decisions of executives with the power to grant clemency. The complex relationship that acts of apology bear to the kind of remorse that, at least in the minds of many, makes a criminal a legitimate candidate for legal mercy is also examined. The author, exploring both moral and epistemic issues, will express considerable skepticism toward relying on judgments about offender remorse at the time of sentencing, but less skepticism
1
I thank Stephanos Bibas, Richard Dagger, Antony Duff, Stephen Garvey, Alan Michaels, Herbert Morris, Mary Sigler, Eleonore Stump, Margaret Walker, James Weinstein, and students in my jurisprudence seminar for their comments on an earlier draft of this essay. I am particularly grateful to my colleague Michael White, whose comments forced me to think more carefully about my use of J. L. Austin’s theory of speech acts, and to my wife Ellen Canacakos for the insights she has provided from her practice as a psychotherapist. * First published in: Ohio State Journal of Criminal Law 4 (2007/2), 423–453.
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Remorse, Apology, and Mercy
about relying on such judgments at the time of an executive decision to grant clemency. [One] night later merciless Grendel Struck again with more gruesome murders. Malignant by nature, he never showed remorse. Beowulf Seamus Heaney translation On this third planet form the sun, among the signs of bestiality A clear conscience is Number One. »In Praise of Feeling Bad About Yourself« Wislawa Szymborska
I.
Introduction
It is commonly even if not universally believed that the very worst of evildoers are those who are utterly without remorse for the evil that they have done—an absence often understandably inferred form their unwillingness to express remorse by apologizing or begging forgiveness or by their not engaging in appropriate nonverbal expressive behavior—seeking out punishment, for example. Such absence of remorse may, in the words of Wislawa Szymborska, be a »sign of bestiality« or, in the phrase of Seamus Heaney, reveal them as »malignant by nature.« In the legal world, such judgments can be found at various points in the criminal process —where absence of remorse may be cited as an aggravating factor that legitimately should incline us to greater harshness and certainly not to greater compassion or mercy. Here are a few examples—one from a clemency decision, one from a prosecuting attorney’s argument at the sentencing stage of a criminal trial, one from a trial judge justifying a sentence, one from a distinguished legal scholar, and one from a United States Supreme Court decision:
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Jeffrie G. Murphy
Is Williams’ [claimed] redemption complete and sincere, or is it just a hollow promise? Stanley Williams insists [against overwhelming evidence to the contrary] that he is innocent, and that he will not and should not apologize or otherwise atone for the murders of the four victims in this case. Without an apology and atonement for these senseless and brutal killings there can be no redemption. In this case, the one thing that would be the clearest indication of complete remorse and full redemption is the one thing Williams will not do. 2 Have you observed any repentance by Mr. McCleskey? Has he exhibited to you any sorrow? Have you seen any tears in his eyes for this act that he has done? 3 The vicious acts you committed on December 7, 1993, were the acts of a coward. What could be more cowardly than entering a train filled with unsuspecting, homebound commuters and systematically shooting them at point-blank range? … What is even more remarkable is your total lack of remorse. 4 It is true that all of us are guilty of some immoralities, probably on a daily basis. Yet for most [of us] … the immoralities in question are things like manipulating others unfairly; not caring deeply enough about another’s suffering; not being charitable for the limitations of others; convenient lies; and so forth … Few of us have raped and murdered a woman, drowned her three small children, and felt no remorse about it. 5 2
Statement of Decision, Request for Clemency by Stanley Williams (Dec. 12, 2005) (corrected version), available at http://www.governor.ca.gov/govsite/pdf/ press_release_2005/Williams_Clemency_Decision.pdf, signed by California Governor Arnold Schwarzenegger. Governor Schwarzenegger denied Crips founder Stanley »Tookie« Williams executive clemency for his death sentence. 3 These rhetorical questions were raised in 1978 by Atlanta District Attorney Richard Parker as he argued before the jury that Warren G. McCleskey, convicted of murdering a police officer, should be shown no mercy but should be sentenced to death. (He was sentenced to death.) The quoted passage is from the transcript of the 1978 trial. 4 Judge Donald E. Belfi, remarks at the sentencing of Colin Ferguson (March 22, 1995). These remarks were offered by Nassau County Court Judge Donald E. Belfi as he defended the sentence of two hundred years that he imposed on Colin Ferguson, a man convicted on six counts of murder and nineteen counts of attempted murder in an attack on commuters on a Long Island Railroad train. 5 Professor Michael S. Moore here uses the example of remorseless killer Steven
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[S]erious prejudice could result if medication inhibits the defendant’s capacity … to demonstrate remorse or compassion … In [capital cases] assessments of character and remorse may carry great weight and, perhaps, be determinative of whether the offender lives or dies. 6
Not everyone, it should be noted, agrees with the common view that the remorseless wrongdoer is worse in the sense of deserving more punishment than the wrongdoer who feels remorse or with the related view that the remorseful wrongdoer should to some degree gain our sympathy as a ground for mercy. After all, if remorseless wrongdoers really are »bestial« or »malignant by nature,« they may be seen as standing outside the moral domain in which such concepts as desert or guilt or punishment make clear sense. These creatures seem to be, if not—in fairness to beasts— literally beasts, then, as psychopaths or sociopaths, possessing a trait that Kant called »moral death«—an absence of moral feeling so pervasive as to render them not fully human from the moral point of view. Perhaps, like mad dogs, they are—at least in principle—more candidates for extermination than for punishment. 7 The writer Cynthia Ozick, for example, was asked by Simon Wiesenthal to consider if the claimed remorseful repentance and plea for forgiveness from Karl, a young dying Nazi SS soldier who had participated in the cruel murder of a great many Jews, should be a ground for forgiving the young soldier or at least thinking Judy as grounds for rejecting Jesus’ famous »He that is without sin … let him first cast a stone« remark as an objection to retribution and characterizing such a use as »pretty clumsy moral philosophy.« Michael S. Moore, The Moral Worth of Retribution, in Responsibility, Character and the Emotions 188 (Ferdinand Schoeman ed., 1987). 6 Riggins v. Nevada, 504 U.S. 127, 143–44 (1992) (Kennedy, J., concurring). Realizing that sentencing agents will naturally think that a criminal lacking in remorse is particularly deserving of the death penalty, Justice Kennedy wants to make sure that an offender’s failure to express remorse is truly a function of his actual character and not medication. 7 For an exploration of the Kantian concept of »moral death« and its implications for responsibility, see Jeffrie G. Murphy, Moral Death: A Kantian Essay on Psychopathy, 82 Ethics 284 (1972), reprinted in Ethics and Personality 207 (John Deigh ed., 1992). I no longer endorse all the claims made in this essay, but I would like to think that it still contains some insights.
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better of him. Even on the assumption that the claimed remorse was sincere, Ozick did not consider it a valid ground for softening our judgment of the soldier. Indeed, she thought his repentance was an aggravating factor rather than a mitigating one, a factor that made him worse than an unrepentant murderer. The unrepentant murderer, she speculated, is likely to be simply a thoughtless and ignorant thug or perhaps a sociopath—malignant by bestial nature rather than by choice and thus not fully responsible. The remorseful murderer, however, reveals in his very remorse that he had at the time of his act a moral conscience and knew that he was doing evil. Thus, in order to do the evil, he had to suppress that moral conscience; and this, in Ozick’s judgment, makes him worse than the mere thug and thus worthy of the most severe punishment. Should we then forgive or show mercy to him on the basis of his remorse? Certainly not, says Ozick, and on the contrary says this of the dying SS soldier: We condemn the intelligent man of conscience because … though at heart not a savage, he allowed himself to become one, he did not resist. It was not that he lacked conscience; he smothered it. It was not that he lacked sensibility; he coarsened it. It was not that he lacked humanity; he deadened it. The brute runs to feed Moloch because to him Moloch is not a false god, but a Delightful True Lord, the Master who brings him exaltation. In exaltation he shovels in the babies … The intelligent man of conscience also shovels in the babies, and it does not matter that he does it without exaltation. Conscience, education, insight—nothing stops him. He goes on shoveling. He knows what wickedness is … He is a morally sensitive man, and he shovels babies to glut the iron stomach of the idol … A virtuous future as a model of remorse lies ahead of him; he shovels. He shovels and shovels, all the while possessed of a refined and meticulous moral temperament—so refined and so meticulous that it knows the holy power of forgiveness and knows to ask for it … Let the SS man die unshriven. Let him go to hell. Sooner the fly to God than he. 8 8
Simon Wiesenthal, The Sunflower 209–10 (rev. & expanded ed., 1997). In this book Wiesenthal recounts his experience of a dying SS soldier who asked him for forgiveness. Wiesenthal shared that story with various people (writers, theolo-
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These are powerful words that should pull us up short and provide an opportunity for deep reflection. However, although I think that Ozick is on to something, her observation strikes me as insufficiently nuanced to capture the whole story. Consider the »opportunistic« cooperater in evil. Wilhelm Furtwängler, the eminent conductor of the Berlin Philharmonic during much of the Nazi period, might be an example here. Suppose, as some people have claimed, he remained in Nazi Germany in considerable awareness of the evil of the Nazi regime, knew that his remaining allowed the Nazis to use him as a powerful symbol, and remained there mainly out of ambition and vanity—the fear that, if he left, someone else, the one he contemptuously called »little K« for example, might replace him as the leading star of German orchestral music. 9 Or consider Adolf Eichmann as a much more dramatic example. Suppose that, as Hannah Arendt suggested, he assisted in the Holocaust, not out of much genuine conviction, but mainly as a method of career advancement—thereby illustrating what she famously called »the banality of evil.« 10 With respect to people of this nature, I am inclined to sympathize with Ozick and, at least as my first thought, think that had they offered any apologies, expressions of remorse, or pleas for forgiveness (they in fact gians, philosophers, etc.) and asked them to write brief essays in order to answer the question of what, in their view, Wiesenthal’s response should have been. 9 Furtwängler, although perhaps the greatest conductor of his generation, had a petty streak that made it difficult for him to express admiration for any other conductor. (His expressed opinions of Toscanini, for example, were outrageous.) He particularly feared being moved aside by younger German conductors—particularly by Herbert von Karajan, whom Furtwängler contemptuously referred to as »little K« (Furtwängler was quite tall, von Karajan rather short). The Nazis could sometimes get Furtwängler to conduct on occasions with a dramatic Nazi presence (occasions he seemed to want to avoid) by telling him that if he would not conduct, then the authorities would engage von Karajan. A very entertaining way to learn a few basic things about the controversies concerning the degree of Furtwängler’s cooperation with the Nazi government is to be found in the play Taking Sides by Ronald Harwood. Much of the dialogue of this play (made into a fairly decent film, by the way) is drawn from transcripts of Furtwängler’s denazification hearings. 10 Hannah Arendt, Eichmann in Jeursalem: A Report on the Banality of Evil (1963).
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Jeffrie G. Murphy
did not) this might well be regarded, as the saying goes, as »a day late and a dollar short.« Why? Because they surely knew full well the nature of the evil enterprise in which they were complicitous and either did not care or culpably deceived themselves about it simply in order to advance their self-interest. Karl’s story strikes me as perhaps a story of a very different sort, however. Given his youth and the susceptibility of youth to peer pressure, given the fact that he came to his adolescence at a time when most people in Germany were being charmed by National Socialism, and given that membership in the Hitler Youth was at that time almost socially mandatory for young German males, it is at least possible that Karl was not fully aware at the time he acted that he was advancing evil but did, at a later time and on more mature reflection, lose his »innocence,« come to see the evil of what he had done, and become genuinely remorseful. It is not at all clear, at least to me, that he performed his evil actions with full knowledge and out of self-interest. Rather it seems that he may have been acting out of principles—evil principles, to be sure, but ones that he perhaps could not see as evil until he actually saw and participated in unspeakable acts that he had only before thought of in abstract terms. Perhaps, in the moral realm, knowledge by description must sometimes be supplemented by knowledge by acquaintance. Thus I am reluctant to lump him in with Furtwängler and Eichmann and simply assume that any remorse he expressed must be morally irrelevant to our ultimate assessment of his character and desert. So, unlike Ozick, I would not so quickly put the fly in front of Karl on the road to God. 11 11
Actually, I am increasingly reluctant to endorse any judgments about the final worthlessnessof any human being—even the Eichmanns of the world.This is why, in discussing Furtwängler and Eichmann, I said that my first (but not necessarily my last) thought was to apply Ozick’s dismissive analysis to them. For some of the reasons behind the softening of retributive views I have previously defended in such matters, see my Legal Moralism and Retribution Revisited, in 1 Criminal Law and Philosophy 5 (2007).This was my 2006 Presidential Address to the American Philosophical Association, Pacific Division, and has also appeared in 80 Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 45 (2006). For rich discussions of how we might come to see precious
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Most people would, I suspect, defend—for the reasons given above or for other reasons—a view directly opposed to Ozick’s— would argue indeed that repentance and remorse, at least with respect to some individuals, are among the best reasons one could have for granting mercy. Sister Helen Prejean, for example, was highly critical of George W. Bush’s decision (when he was governor of Texas) not to grant clemency to Karla Faye Tucker—a death row inmate who had converted to Christianity and who seemed to be genuinely repentant and to exhibit remorse for what she had done. Suspecting that Bush’s decision in this case revealed that his claim to be a Christian was either ignorant or insincere, she has this to say about him and his decision: Here was Karla Faye, a woman who had transformed her life and would have been a source of healing love to guards and prisoners for as long as she lived, yet the iron protocol of retributive justice demanded that she be put to death … I already knew the substance of Bush’s position toward Karla Faye, but [when I heard him say] »May God bless Karla Faye Tucker and may God bless her victims and their families« … my anger at George W. Bush turned to outage … I had to struggle to keep a vow I made to reverence every person, even those with whom I disagree most vehemently. Inside my soul I raged at Bush’s hypocrisy … [I tried] to reign myself in, I took a deep breath, said a fierce prayer, looked into the camera and said »It’s interesting to see that Governor Bush is now invoking God, asking God to bless Karla Faye Tucker, when he certainly didn’t use the power in his own hands to bless her. He just had her killed.« 12 humanity even in those who have performed acts of great evil—discussions to some degree inspired by Simone Weil—see Raimond Gaita, Good and Evil: An Absolute Conception (2d ed. 2004), and Raimond Gaita, A Common Humanity: Thinking About Love and Truth and Justice (2000). For a rich essay exploring the way in which a »stain on the soul« can remain even on a repentant wrongdoer, see Eleonore Stump, Personal Relations and Moral Residue, in History of the Human Sciences: Theorizing From the Holocaust— What is to be Learned? 33 (Paul Roth & Mark S. Peacock eds., 2004). 12 Sister Helen Prejean, Death in Texas, N.Y. Rev. Books, Jan. 13, 2005, available at http://www.nybooks.com/articles/17670 (Sister Helen Prejean describing, in a 2005 essay, her earlier futile struggles to save the life of Karla Faye Tucker). I would not presume to speculate on the sincerity of President Bush’s claimed com-
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Earlier in the same essay, Sister Prejean summarizes the case she had made in favor of merciful clemency for Karla Faye Tucker: Yes, [she was] guilty of a horrible crime—she killed two helpless people with a pickax—but she seems genuinely remorseful for her crime; she seems to have undergone a genuine life-changing religious conversion. Even the warden and corrections officers attest that for fourteen years she’s been a model prisoner. Couldn’t she spend the rest of her life helping other prisoners to change their lives? Is a strict »eye for an eye« always called for? 13
In this essay, I propose to examine the concepts of apology and remorse, explore some of their moral and epistemic dimensions, and finally discuss whether they have any legitimate role to play in showing mercy. I have previously written about remorse and apology in connection with criminal sentencing, and I will here revisit some of the ideas I presented in those writings—will even steal most of the text from one of them—but will substantially modify (even abandon) some of those ideas and extend some of them into other areas of criminal law where mercy may be thought appropriate—in particular, the area of executive clemency. 14 I will argue that the moral issues raised by apology and mitment to Christianity. It is worth pointing out, however, that Sister Prejean is confused here. One cannot legitimately infer from the fact that a person believes that a criminal deserves the secular death penalty the conclusion that this person cannot consistently hope for the salvation of the soul of the criminal who is executed—the meaning surely of »may God bless« in this context. Were all judges who closed their sentences of death with »and may God have mercy on your soul« being confused or hypocritical? I think not. 13 Id. 14 The essay (a transcript of a public lecture) on which I a.M.ly drawing is Well Excuse Me!—Remorse, Apology, and Criminal Sentencing, 38 Ariz. St. L.J. 371 (2006). It is an occasion of some embarrassment to me that in the present essay I am correcting a major mistake in an essay that appeared so recently. I am not sure why my insight into the need for a correction did not come earlier, but I am inclined to blame Michael White for not noticing the mistake when he read the earlier essay—a mistake for which he has, of course, to some degree atoned by catching it this time around. (The mistake, to be discussed in detail later, concerns the issue of the degree to which apologies are performative utterances.) In the present essay I have also drawn on my Repentance, Punishment, and Mercy, in
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remorse are roughly the same in both sentencing and clemency decisions, but that the epistemic situation in the two areas may differ substantially. II.
A Preliminary Digression
Prior to my primary discussion, there are two points I would like briefly to discuss: (1) an ambiguity in the concept of remorse and (2) the difference, not always appreciated, between religious conversion and remorse. A. Two Kinds of Remorse In an earlier essay, understanding remorse simply to be feelings of guilt over wrongdoing, I characterized repentance in the following way: Repentance is the remorseful acceptance of responsibility for one’s wrongful and harmful actions, the repudiation of the aspects of one’s character that generated the actions, the resolve to do one’s best to extirpate those aspects of one’s character, and the resolve to atone or make amends for the harm that one has done. 15
I still think that this analysis of repentance is generally in the right ballpark, but I have now come to realize that the concept of remorse involves a complexity I had not previously appreciated, a complexity that shows that in at least one of its forms it should
Repentance: A Comparative Perspective 143 (Amitai Etzioni & David E. Carney eds.,1997) [hereinafter Murphy, Repentance, Punishment, and Mercy]. 15 Murphy, Repentance, Punishment, and Mercy, supra note 131 at 147. Purely for the sake of simplicity, I will sometimes in the text use »remorse« and »repentance« interchangeably. Speaking strictly, however, it should be noted that—as indicated here—remorse is only one component (though in my view the most important one) of full repentance. I believe that the resolve to reform oneself and to make amends are also important components of full repentance.
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not simply be identified with guilt. In other words, I will note a way in which the word »remorse« is ambiguous. Consider the unjustified and unexcused breaking of a reasonably important promise—one of significance to the person to whom the promise has been made, but not one the breaking of which will cause irrevocable harm to that person. In such a case, some non-trivial guilt feelings would surely be expected of a morally serious person, but many would be reluctant to use the word »remorse« to capture these feelings—preferring to reserve the word »remorse« to capture those extremely powerful guilt feelings that are appropriately attached only to grave wrongs and harms. Indeed, for a person to feel and express remorse over wrongs or harms that are less than grave might well strike many, not as a sign of moral seriousness, but simply as neurotic—non-neurotic remorse involving great and powerful guilt only in cases where this is proportional to what has been done. The difference between some cases of remorse and other instances of guilt is not simply a matter of degree, however. This is because I have come to think that a kind of hopelessness is essential to the inconsolable bite of conscience—what some medievals called the agenbite of inwit—that is the essence of one kind of remorse. This kind of remorse, although having powerful guilt feelings as a component, seems to involve more than guilt—seems to involve the idea that the wrong one has done is so deep, has involved such a wanton assault on the very meaning of a person’s human life, that one can in no sense ever make it right again— such a possibility being permanently lost. Breaking a promise is typically not a wrong of this nature. Blinding a person is—as is murdering a person or that person’s beloved child. Rape and torture also come to mind as other examples. In these cases one has inflicted such a moral horror on one’s victim that he or she may never again have a secure grasp of their place in the world or of the meaning of their lives. 16
16
The concept of »moral horror« has been richly explored by Robert Merrihew Adams in his book Finite and Infinite Goods (2003), and the related concept
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And what would atonement look like in such extreme cases? Certainly not compensation in the sense of a tort law remedy— e. g., financial sacrifice in the payment of damages—since the very idea of making the victims whole again, returning them to status quo ante, may be so obviously impossible that the very suggestion seems obscene. In these cases, the best that one might be able to do in the way of atonement would be an extreme form of penance —e. g., Stavrogin’s suicide (in Dostoevsky’s novel The Devils) or Father Sergius’ cutting off his finger with an axe (in Tolstoy’s story »Father Sergius«). 17 Even then, however, even if one tried to impose on oneself some »eye for an eye« suffering as intense as the suffering one has caused, could one ever put the wrong fully behind one and honestly say, »Now I have made it up, can forget about it, and simply get on with my own life«? Probably not. This may be in part because whatever suffering one imposes on oneself is a result of one’s own choices—something that victims cannot say of themselves with respect to the suffering imposed on them. Even in extreme self-imposed penance, penance of great suffering, one still retains an autonomy that one has denied to one’s victims. Thus, no matter what one might do, one could never fully get right with victims of this nature. 18 (Whether one could ever get right with God after such atrocities is a different matter.) 19 of »horrendous evil« has been richly explored by Marilyn McCord Adams in her book Horrendous Evil and the Goodness of God (1999). 17 I do not mean to suggest that the sole explanation of Stavrogin’s suicide is an expression of remorse and an attempt at penance. Some competing Nietzschean fantasies of heroic will are also at work in this complex and troubled character. I am grateful to Stephanos Bibas for discussion of this novel. 18 »[I]n the case of remorse, ›there are no set ways to remedy evil.‹ One has destroyed an object of value and this destruction may be, precisely, irremediable.« Alan Thomas, Remorse and Reparation: A Philosophical Analysis, in Remorse and Reparation 127, 130 (Murray Cox ed., 1999). Thomas is quoting from John Deigh’s important essay »Love, Guilt, and the Sense of Justice« from Deigh’s essay collection The Sources of Moral Agency: Essays in Moral Psychology and Freudian Theory (1996). 19 Our secular concepts of repentance and remorse no doubt have at least part of their origin in religion, but the secular meaning of those concepts can differ substantially from at least some religious meanings. From a purely secular perspec-
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The points I want to make in the main body of this essay will rarely require my distinguishing between the two kinds of remorse that I have highlighted, and—unless otherwise noted—I will generally use the word »remorse« in such a way as to elide the distinction. When there is an ambiguity in our language, however, as I have suggested there is with the word »remorse,« this sometimes points to a difference in concepts. Thus the distinction between two kinds of remorse seems to me worth making if only in the interest of total conceptual clarity. Even if the distinction will not do much work in the present context, it might do considerable work in another and will thus be useful to keep at least in the back of one’s mind. B. Religious Conversion, Repentance, and Remorse It is very commonly thought that religious conversion is closely linked to remorse over and repentance of criminal wrongdoing —perhaps even a necessary condition for the latter two or even equivalent to them. This way of thinking is mistaken. A genuine religious conversion would surely lead to remorse over and repentance of one’s sins, but this does not entail that the concept of sin involved will be equivalent to criminal wrongdoing. Suppose someone of a totally secular frame of mind becomes a terrorist engaged in the criminal killing of innocent people as a way of supporting Palestinian liberation—a cause he supports for purely secular political reasons. Further suppose that at some later time he converts to radical Islamic fundamentalism. It is likely that, rather than retive, it does indeed seem odd to think that remorse might legitimately attach to both trivial wrongs and serious wrongs. From some religious perspectives, however, all sins might be viewed as affronts to God and thus equally serious and demanding the same level of remorse. Also God’s ability to forgive may be infinite in a way that it would be unreasonable to think likely for mere human beings. So even if getting right with my neighbor may sometimes be impossible, no matter how much remorse I feel, getting right with God may still be regarded as possible. Indeed, to believe otherwise is often regarded as the unforgivable sin of despair.
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penting of his acts of terrorism and feeling remorse over them, he will be even more convinced than before that he has been engaged in a righteous cause—a cause now viewed as righteous on both secular and religious grounds. This example should show that the concepts of religious conversion and repentance/remorse, although sometimes and perhaps even often causally linked, are not equivalent. Nor is one a necessary or sufficient condition for the other. Sincerely religious people can be utterly unrepentant for (at least some of ) their crimes, and some sincerely repentant people can be totally non-religious or even anti-religious. A related point I will here state simply as a guess since I am not sufficiently studied in evangelical Christianity to have an expert opinion on the matter: Many evangelical Christians speak of their conversion experiences as being »born again« and describe themselves as starting with a clean slate, as »beginning again.« On one interpretation of this way of talking, it seems to me that one might be encouraged not to spend much time looking to or thinking about the past (and remorse involves rather consuming thinking about the past) because, having now been saved by perceiving the direct intervention of Jesus into one’s life, one is now in some sense a »new person«—not the same person who committed those terrible past criminal acts. Indeed, an excessive brooding over one’s past sins, particularly if it results in the kind of hopeless and inconsolable remorse I discussed above, may approach the sin of despair, the sin of believing that God’s forgiveness and love are forever lost. This sin, very likely the one exhibited by Judas when he hanged himself, is the one sin that is often regarded as unforgivable. But perhaps all my example shows is the mysteriousness—even incoherence—of »new person« talk if such talk is taken at all literally. Now that these two preliminary points are out of the way, let me move to the primary question of my essay: What legitimate role, if any, should remorse or apology on the part of the wrongdoer play in the administration of legal punishment and legal mercy? 291 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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III. Remorse and the Culture of Apology Must successful apology always be linked with remorse? Surely not. For small wrongs, the mere verbal formulae »I apologize« or »I am sorry« or »Forgive me« or »Excuse me« are generally adequate since their only function is to keep oiled the wheels of civility and good manners. What works for small wrongs is likely to be quite unacceptable for wrongs of greater magnitude, however. For grave wrongs, we—both victims and spectators—normally expect more than a verbal formula—perhaps nothing as extreme as Stavrogin’s suicide or Father Sergius’ cutting off his finger with an axe, but we expect something more than mere apology as a formality. Here we normally expect such things as repentance, remorse (in at least one of its forms), and atonement; and we are interested in apologies only to the degree that we believe that they are sincere external signs of repentance and remorse and reliable external signs of future atonement. One of the things I intend to do in this essay is to explore the relationship between apology and these others states. Herbert Morris once published a wonderful essay with the title »The Decline of Guilt« 20 and an alternative title for my essay could have been »The Decline of Remorse«—a decline that I believe is revealed, paradoxically enough, in the increasing prevalence and even celebration of public apology that we find in early twentyfirst century America. We now live in what has been called the »new culture of apology« 21—a cultural movement so pervasive that at least one novelist, Jay Rayner, has found it worthwhile to write a satirical novel (Eating Crow) about it—a novel that begins with an apology for the book itself: I am sorry you bought this book. If it was given to you as a gift, then technically I am not required—or even entitled—to apologize to you.
20 Herbert Morris, The Decline of Guilt, 99 Ethics 62 (1988), reprinted in Ethics and Personality, supra note 6, at 117. 21 Nicholas Mills, The New Culture of Apology, Dissent, Fall 2001, at 113.
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My apology should go to the original purchaser and they, in turn, should say sorry. 22
Some people, of course, find the growing culture of apology a very good thing, whereas others—and I count myself among them— fear that it may be little more than a sign of what theologians have called »cheap grace.« Those who defend the development will typically see it as advancing general social utility and progress, goals that will be retarded if we remain stuck in the past. »Let bygones be bygones, says Werner von Braun« as the old Tom Lehrer song has it. Bad people, it should be noted, are often quick studies of social trends that can be used to their advantage, and so it is now not uncommon to find such phrases as »it is time to get this all behind us and move forward« or, more recently, »let’s not play the blame game« shamelessly and almost instantly on the lips of wrongdoers —often those in high political office. And those who speak this way—or buy it from others who speak this way—either do not notice or do not care that this way of responding to wrongdoing gives no weight at all to such values as truth or justice or genuine character reformation. Indeed, the more that people lap up this sort of thing, the more are wrongdoers tempted to celebrate their own corruption. Mindful of the old proverb, »It is hard to beg forgiveness, but not as hard as asking permission,« these wrongdoers may even take delight in their opportunity to apologize—as revealed in this New Yorker cartoon (cf. p. 294) 23 Such a celebration of form over substance is not always defended merely on grounds of progress and general utility, however. It may also be defended on moral or religious grounds or on grounds of mental health. Here, for example, is a piece of idiocy about apology—one that deprives it of any useful meaning—cloaked in the language 22
Jay Raynor, Eating Crow 1 (2004). © The New Yorker Collection 2000 Charles Barsotti from cartoonbank.com, published in The New Yorker on Oct. 16, 2000. All Rights Reserved. Used by Permission.
23
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»Hi, hon. Guess who’s going to be on national television apologizing to the American public.«
of idiotic theology. I quote it from the magazine The Living Church, self described as »An independent weekly serving Episcopalians.« In a column devoted to »Advent Preparation,« this theological gem occurs in what is supposed to be a commentary on the readings for the first Sunday in Advent: We’re prepared to meet the Lord to the extent that we live out his kingdom’s values here and now. We’re to honor and respect one another without qualification. We’re to apologize when we offend the sensibilities of our sisters and brothers, even when they know we haven’t done wrong. 24
Surely we should ask a few skeptical questions before pledging our allegiance to this piece of treacle. If I have done nothing wrong, then what exactly am I supposed to be apologizing for? »Offending their sensibilities,« it would seem. But what if they are wrongly sensitive, being offended by what is simply honest criticism—as (for example) poor students often are, desperately wanting some explanation other than their own lack of ability or preparation for their failures? I should be apologizing to them? I think not. The suggestion that I should is simply some mixture of mushy sentimentality and political correctness masquerading as theology and morality. I am reminded here of the way that The Living Bible, 24
The Living Church, Nov. 28, 2004, at 4.
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often an unintended source of theological humor, renders »Judge not that ye be not judged« at Matthew 7:1 as »Don’t criticize, and then you won’t be criticized.« Added to arguments of social utility and theology are, as we might expect in our present therapeutic culture, arguments grounded in trendy notions of mental health where such gems of psychobabble as »closure« and »a time for healing« are the order of the day. So sloppy, indeed, is the current state of theology and morality that these shibboleths of pop psychology sometimes simply pass as theology and morality. Even Bishop Desmond Tutu, generally a man of wisdom and charm, frequently heaps praise on the spiritual and mental health he sees exhibited by those who accept the »reconciliation« offered by the South African Truth and Reconciliation Commission—perhaps without realizing that this seems to suggest, at least by implication, that those who do not wish to reconcile with those who victimized them may suffer from some kind of moral and psychological failing. And this is not even a failure on their part to accept an apology, since the guards and jailers who appeared before the Commission were not required to apologize as a condition of amnesty for their atrocities—for example, the torture and murder of those imprisoned by the apartheid government. My reader can certainly see by now that I am inclined to throw something of a wet blanket over the hasty and undue celebration of apology that is current in our culture, and in what follows I will attempt to develop, to the degree that topic and space limitations allow, a more careful and nuanced discussion of what I have so far merely sketched. IV. Remorse, Repentance, and Punishment Since this is a symposium that is focused on the possible roles of mercy in the criminal law, I will obviously not be able to explore all the current important cultural issues with respect to apology and remorse. I will not, for example, explore the odd fact—called to my attention by both Herbert Morris and Margaret Walker— 295 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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that the mania for public apology in legal and other institutional settings coexists with a frequent unwillingness of people to apologize in the setting of intimate personal relationships. I will not even explore all the current important legal issues—many of which emerge in tort law 25—and some involving the very complex matter of groups apologizing and expressing remorse to other groups. I will confine myself to criminal law and even here my discussion will be limited in the main to remorse and apology with respect to serious felonies. I have no hope of settling anything in a brief essay, but I will offer a few observations in the hope that they might stimulate productive thought and conversation. A detailed argument in defense of an expanded role for apology in all aspects of criminal law can be found in a recent essay by Stephanos Bibas and Richard A. Bierschbach, 26 and I have—earlier in this essay—cited some real-world examples in which apology or remorse (or their absence) have had legal relevance in the criminal law, either as arguing for mercy or arguing against mercy. I will begin my discussion here, however, by taking an example from a work of fiction. David Lurie, the central character in J. M. Coetzee’s novel Disgrace, has admitted sexual harassment of a student but could save his job if he simply apologized and expressed the kind of repentance and remorse demanded of him by the university disciplinary board that has punitive authority over him. In refusing to give them what they went, he says the following: [W]e went through the repentance business yesterday. I told you what I thought. I won’t do it. I appeared before an officially constituted tribunal, before a branch of the law. Before that secular tribunal I pleaded guilty, a secular plea. That plea should suffice. Repentance is neither here nor there. Repentance belongs to another world, to 25
Lee Taft, Apology Subverted: The Commodification of Apology, 109 Yale L.J. 1135 (2000). Taft’s skepticism about apology in tort law inspired me to turn my own skeptical eye to apology in criminal law. 26 Stephanos Bibas & Richard A. Bierschbach, Integrating Apology and Remorse into Criminal Procedure, 114 Yale L.J. 85 (2004). This is the most detailed and persuasive case for an expanded role for apology in criminal law that I have encountered.
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another universe of discourse … [What you are asking] reminds me too much of Mao’s China. Recantation, self-criticism, public apology. I’m old fashioned, I would prefer simply to be put against a wall and shot. 27
What I find most interesting in this passage is Lurie’s identification of the mechanism of legal or quasi-legal punishment as secular and his claim that talk of repentance, remorse, and apology has no business in such a secular context. His point, presumably, is that these concepts—particularly the concepts of remorse and repentance—are at their core religious concepts and that their introduction into a secular context is radically misplaced. Why might one think this? One possibility is the belief that repentance and remorse are conditions of one’s very soul and that the secular state acts wrongly—perhaps even impiously—in presuming to inquire into such private matters and to make secular punishment depend on secular guesses about when these states of character or soul are present. These are, one might think, private religious or spiritual matters between a person and one’s God, matters that might be corrupted if the outcome of legal proceedings could depend on them. Indeed, desires for legal leniency might tempt one into sin—into confusing genuine repentance with soul damaging fakery, hypocrisy, and self-deception. So concerned was ancient Jewish law to avoid such temptations to sin, indeed, that even confessions, and not just apologies and expressions of remorse, were inadmissible in criminal proceedings. 28 It has also been argued that our own constitutional protections against self-incrimination may have some similar religious foundations. 29 Another related consideration here is that issues of deep character are matters about which the state is probably incompetent to judge—it cannot even deliver the mail very efficiently, after all— 27
J. M. Coetzee, Disgrace 58, 66 (1999). Cheryl G. Bader, ›Forgive M eVictim for I Have Sinned‹ : Why Repentance and the Criminal Justice System Do Not Mix—A Lesson From Jewish Law, 31 Fordham Urb. L.J. 69, 70 (2003). 29 Rebert S. Gerstein, Privacy and Self-Incrimination, 80 Ethics 87 (1970). 28
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and which, for that reason and others, might well be regarded as simply none of the state’s business. On one fairly traditional understanding of the liberal state, for example, it is legitimately concerned with prohibiting acts that are not in conformity with its public rules but treads on dangerous ground if it seeks to inquire too deeply into the private attitudes that offenders have when they manifest non-conformity. The liberal state might legitimately explore such mens rea conditions as intention, since these define the prohibited act itself; but inquiring into deep character, perhaps even motive on some understandings of that concept, may be viewed as going into matters beyond its legitimate scope. It is not just liberals and secularists, however, who worry about the issues raised above. Queen Elizabeth I, for example—hardly a liberal and hardly a secularist—surely had some of these concerns in mind when, in imposing the Religious Settlement that stabilized the Church of England, she said, »I would not open windows into men’s souls.« Elizabeth’s primary worry was no doubt prudential—her realization of how speculations about the interior lives of various of her subjects could easily become hostage to disruptive political factionalism. Her worries might have been religious as well, however, since deeply religious people who place great weight on the religious significance of repentance and remorse or other inner states of character might oppose blending such matters with criminal law not because they do not value them but rather because they value them so very much—so much that they do not want to risk having them tainted by secular legal mechanisms. Such blending might work out splendidly in Dostoevsky novels but work far less splendidly in the messy real world of actual criminal law, a world in which what passes for justice is administered by always fallible, often fearful, and sometimes cruel and corrupt human beings. You will not, I suspect, find very many contemporary American criminal prosecutors who, like Dostoevsky’s Porfiry Petrovich, have a deep, honest, and informed concern with the spiritual reclamation of the criminals whom they must pursue, arrest, and bring to trial; and I am not at all sure that our society would or should welcome anyone who would presume to be such a prosecutor. 298 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Let us grant, then, that Coetzee has, through his character of David Lurie, revealed some spiritual and even political dangers that can be present when religious concepts of remorse and repentance are brought into secular tribunals. To the degree that he is suggesting that all concepts of remorse and repentance are religious in nature, however, then it seems to me that he is simply mistaken. Remorse (as bad conscience) is, as I have argued elsewhere, often best understood as the painful combination of guilt and shame that arises in a person when that person accepts that he has been responsible for seriously wronging another human being—guilt over the wrong itself, and shame over being forced to see himself as a flawed and defective human being who, through his wrongdoing, has fallen far below his own ego ideal. 30 Shame should provoke repentance—the resolve to become a new and better person—and guilt should (where this is possible) provoke atonement—embracing whatever personal sacrifice may be required to restore the moral balance that one’s wrongdoing has upset and to vindicate the worth of one’s victim, a worth that one’s wrongdoing has symbolically denied. This may be a sacrifice of liberty or even life (a punishment in proportion to the wrong one has done) or it may be a sacrifice of resources—e. g., the paying of restitution. »Put your money where your mouth is« is, I think, a cliché with legitimate bite, since the willingness to make sacrifices is a relevant if not conclusive test of sincerity. Why, one might ask, are such remorse and repentance of value and worthy of our respect? One of the reasons is, of course, found in those religious perspectives previously discussed but is not limited to them. Even the atheist can believe that the person who is sincerely remorseful and repentant over his wrongdoing exhibits a better and more admirable character than a wrongdoer who is not repentant. Cynthia Ozick to the contrary, most of us probably believe that simply having a character properly connected to correct values, even if late in coming, is an intrinsic good—some30
See Jeffrie G. Murphy, Shame Creeps through Guilt and Feels Like Retribution, 18 Law & Phil. 327 (1999).
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thing worthy of our respect quite independently of any external consequences it may have. Remorseful persons can also serve as »models of remorse« (to use Cynthia Ozick’s phrase against her) —models of what is humanly possible in the realm of self-transformation, models that will perhaps make us less discouraged in our hopes for our own moral and spiritual progress. 31 Remorse and repentance may also have useful social consequences, and these may matter as well. It is often said, for example, that people who are remorseful and repentant are less dangerous, less likely to do wrong again, than those who are unremorseful and unrepentant. I hope that this is true, but I am not sure. The wrongdoer can be self-deceptive or just honestly mistaken about the sincerity of his own repentance, and even the sincerely repentant wrongdoer can suffer from weak will. It is not for nothing that the term »backsliding« plays a role in both our moral and religious vocabularies, and the concept of weakness of will (akrasia) has produced a vast body of philosophical and religious writing. Surely Jesus’ disciples were sincere when they promised to stay awake and keep watch while he prayed at Gethsemane, but he found them asleep and could only observe, »The spirit is willing but the flesh is weak.« Another external consequence worth noting is one that may have its most meaningful impact on victims. As I have argued elsewhere, 32 a wrongful act is, among other things, a communicative act. When one is wronged by another, a non-trivial portion of the hurt may be the receipt of an insulting and degrading symbolic message delivered by the wrongdoer, the message, »I matter more than you and can use you, like a mere object or thing, for my own purposes.« The repentant person repudiates this message, stands with his victim in its repudiation, and acknowledges moral equality with the victim—an equality denied by the wrongdoing. It is 31
I am grateful to Ellen Canacakos for this insight about the way in which seeing selftransformation in others may assist us in gaining confidence for our own attempts in this regard. 32 Jeffrie G. Murphy, Forgiveness and Resentment, in Forgiveness and Mercy 14–34 (1988); Jeffrie G. Murphy, Getting Even: Forgiveness and ist Limits (2003).
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for this reason that repentance may open the door to forgiveness. If one forgives the unrepentant wrongdoer, then one risks sacrificing one’s own self-respect through complicity in or tacit endorsement of the insulting and degrading message contained in the wrongdoing. A repentant wrongdoer, however, eliminates at least this one obstacle to forgiveness. To the degree that the whole community, not just the individual victim, is a victim of criminal wrongdoing, then repentance on the part of the wrongdoer can have symbolic significance for the community as well. But even if repentance is a great moral and spiritual good— one carrying both actual and symbolic significance—it does not follow, given the limitations of the secular state, that it should play any significant role in the criminal law. Repentance may make victims feel better, and rightly so, but it is by no means clear to what degree, if any, the system of criminal law should be driven by the goal of victim satisfaction. Perhaps it should be, but that—as revealed in the leading victim impact statement cases—is controversial. 33 Another real problem here is not theoretical but is practical, and how one deals with it may depend on one’s general attitude toward the human world—on whether that attitude is largely trusting or largely suspicious. The practical problem is obvious —namely, the perpetual possibility of self-serving fakery on the part of wrongdoers. As Montaigne observed, there is »no quality so easy to counterfeit as piety« 34—an observation echoed, so I have been told, by a Hollywood mogul who said this of sincerity: »Sincerity is the most precious thing in the world. When you have learned to fake that, you’ve got it made.« So a practical problem with giving credit for remorse and repentance is that they are so easy to fake; and our grounds for sus33
In the 1987 case Booth v. Maryland, 482 U.S. 496 (1987), the United States Supreme Court ruled that the use of victim impact statements in capital sentencing is unconstitutional. In 1991, Booth was overruled in Payne v. Tennessee, 501 U.S. 808 (1991). The various judicial opinions on both sides (in both cases) reward study and reflection. 34 Michel de Montaigne, Of Repentance, in The Complete Essays of Montaigne 617 (Donald M. Frame trans., 1958).
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pecting fakery only increase when a reward (e. g., a reduction in sentence, clemency, pardon, amnesty, etc.) is known to be more likely granted to those who can persuade the relevant legal authority that they manifest these attributes of character. To the degree we give rewards for goodness of character, then to that same degree do we give wrongdoers incentives to fake goodness of character. One might even suspect, indeed, that the truly remorseful and repentant wrongdoer—particularly one whose remorse is of the second kind noted previously—would not seek a reduction in punishment but would rather see that punishment as one step on a long and perhaps endless road of atonement. Although this is not necessarily the case, the person who asks us to go easy on him because he is repentant may reveal, in that very request, that he is not repentant. And to the degree that we hand out rewards to those who fake repentance and remorse, then to that same degree do we cheapen the currency of repentance and remorse—making us less likely to treat the real article with the respect it deserves. Worries about fakery and inducements to fakery might have been among the reasons that prompted those who designed the South African Truth and Reconciliation Commission (TRC) not to require apology or expressions of remorse from those seeking amnesty through the commission. All that was required was full disclosure of wrongdoing and acceptance of responsibility for that wrongdoing. Since the commission’s design was under the strong influence of Anglican Bishop Desmond Tutu, we may be confident that he—as a Christian clergyman—did not leave out apologies or expressions of remorse because he did not value them. More likely, he simply did not want to give incentives to fakery, increase cynicism about such expressions, and thereby devalue the general currency of repentance and remorse. Coetzee, a South African novelist, may well have had that country’s TRC in mind when he told the story of David Lurie’s refusal to apologize or express remorse before the secular tribunal that had him in its punitive power. 35 35
In commenting on an earlier draft of this essay, Alan Michaels called to my attention the fact that the distinction between acknowledging wrongdoing and
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The degree to which expressions of repentance and remorse are to be welcomed as grounds for legal mercy will, of course, depend to a substantial degree on the reasons that incline one to favor criminal punishment in the first place. All of my readers are, I am sure, familiar with the main justifications frequently offered for criminal punishment—deterrence, rehabilitation, and retribution—so let me briefly explore how repentance and remorse might or might not fit into each of these.
the further steps of either repentance or apology may be found, not only in the workings of the South African TRC, but also in the United States Federal Sentencing Guidelines. The most common method by which an offender lowers his »offense level« under the guidelines is through »Acceptance of Responsibility« under Section 3E1.1 of the FSG. Pleading guilty is almost always both a necessary and sufficient condition for acceptance of responsibility (though technically, it is neither necessary nor sufficient, since the sentencing judge is said, with no clear explanation of what this means, to have some discretion). Remorse, repentance, or apology, as opposed to acknowledgment of wrongdoing, are not formally required, or even expressly made relevant. Perhaps this approach of federal law is because of the difficulty of determining the sincerity of repentance and remorse and the likely outcome of the cheapening of apology that might follow from their mere rote offering. On the other hand, there are (as I will note later) some reasons —from both a utilitarian and retributive perspective—why remorse or apology might merit a lower sentence, making federal law’s failure to capture these reasons interesting. Of course, it may simply be that the guidelines are not attentive to many of the distinctions and evaluative judgments noted in this essay. The single mention of remorse in the commentary is this: »This [downward] adjustment [for acceptance or responsibility] is not intended to apply to a defendant who puts the government to its burden of proof at trial by denying the essential factual elements of guilt, is convicted, and only then admits guilt and expresses remorse.« The use of the word »remorse« is interesting here since simple admission of guilt (absent remorse) will normally earn a downward adjustment pretrial, and all the remorse in the world added to post-trail acceptance of responsibility will not result in a downward adjustment. This gives rise to the suspicion that the guidelines give credit only for pretrial acceptance of responsibility (with or without remorse) because the »mercy« the defendant receives in return is really nothing more than a quid pro quo for saving the government and the witnesses the social costs of a trial, one benefit that is not gained by post-trial acceptance and one that is not a value that we normally associate with mercy when we think of mercy as a moral virtue. The relevant guideline and commentary may be found at 18 U.S.C.S. app. § 3E1.1 (2006), available at http://www.ussc.gov/2005guid/3e1_1.htm.
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If one thinks that the main purpose of punishment is special deterrence, then one will favor counting repentance and remorse if one believes that remorsefully repentant people are less likely to commit future crimes—a controversial claim, surely. Such people may also seem to need less in the way of incapacitation. If one places greater weight on general deterrence, however, one may reasonably believe that this is to some degree undermined if it becomes known that one way to avoid serious punishment is to express repentance and remorse. What about rehabilitation? This is not much talked about these days, alas, in our rather vindictive and stingy society. If what used to be called »the rehabilitative ideal« does return, however, and if we begin seeking to design penal practices with rehabilitation as a goal, we will probably, as Antony Duff has argued, 36 want to structure these practices in such a way that penance, remorse, and repentance will be encouraged and rendered more likely— something not likely at all, of course, in the present barbaric conditions found in many American jails and prisons, where such horrors as gang rape are the order of the day. 37 Some have suggested that religion could be a crucial element in the rehabilitation of criminals. Such »faith-based« programs might, however, face some serious constitutional and political problems. Constitutionally, they might run afoul of the Establishment Clause of the First Amendment. Politically, those who initially favor religion in prisons because for them religion is identical with evangelical Christianity may not be happy to support religious programs of rehabilitation where the religion involved is, say, the Nation of Islam—that kind of repentance and rebirth not being their kind of repentance and rebirth. Also, as I noted
36
R. A. Duff, Trials and Punishments (1989); R. A. Duff, Punishment, Communication, and Community (2001). 37 See Mary Sigler, By the Light of Virtue: Prison Rape and the Corruption of Character, 91 Iowa L. Rev. 561 (2006), for an argument, based in virtue theory, that our acceptance of such a high incidence of prison rape corrupts the characters of inmates and may reveal corruption in the characters of those of us who tolerate it or, in some cases, even make or enjoy jokes about it.
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earlier, religious conversion may not always foster the kind of remorse and repentance that is to be hoped for in a secular system of criminal law. Suppose for the moment that these objections can be overcome and that serving one’s sentence in the right sort of penal environment is indeed a route to a valuable kind of remorse, repentance, and rebirth. In such a case, we should I think be particularly skeptical about letting claims of remorse and repentance influence us toward leniency at the time of sentencing, since in the world we are now imagining we will be sentencing people to a kind of punishment that, though it will of course involve the hardship of deserved loss of liberty for them, will also offer them a great good: the possibility of becoming better people. And why would we want to allow the present vice of fake remorse and repentance to deprive us and criminals of the future benefit that a genuinely rehabilitative penal system might confer—the benefit of their becoming better people and better citizens? So, ironically enough, the more that one stresses the reformative value of systems of punishment that will encourage genuine remorse and repentance, the more should one be on one’s guard against anything —fake remorse and repentance, for example—that might allow the criminal improperly to avoid such a system or improperly to cut short his time in it. With respect to clemency decisions, however, the situation in a properly designed rehabilitative world will be quite different. If the goal of the system is itself rehabilitation, and if rehabilitation is thought to be present when remorse and repentance are present, then—when faced with a truly remorseful and repentant prison inmate—it can be seen that the system has done its work and release from criminal custody will clearly be in order. This point only holds in theory for an imagined world of pure rehabilitation, of course, since in the actual world rehabilitative goals, however laudable, will likely compete with other values—deterrence, for example. But suppose that one is not inclined to defend punishment in terms of either deterrence or rehabilitation but is instead a retributivist—one who claims that the purpose of punishment is to 305 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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give criminals the punishment that they deserve. This claim immediately forces us to ask »What exactly is desert?« If one thinks that desert is a function of the wrongdoing itself and the legitimate grievance that it creates for individual victims and for society at large (grievance retributivism), then one might find it hard to see how grievance is lessened by subsequent repentance. 38 If someone assaults me and thereby creates in me a legitimate grievance against him, how is that grievance lessened if the wrongdoer later finds Jesus and repents? He may, of course, be a better person because of this, but is my own grievance any less? Is society’s? If one thinks that the grievance is in part based on the symbolic message of insult and degradation contained in the wrongdoing, then—for reasons earlier discussed—one might indeed think that a grievance is less after repentance, which represents the wrongdoer’s withdrawal of the endorsement of that message. However, to the degree that one thinks that grievance is based on much more than this symbolic message—as it might well be for very grave wrongs and injuries—then repentance simply might not be enough. Suppose one it not a grievance retributivist but rather subscribes to character retributivism—that is, one believes, with the philosopher Immanuel Kant, that the purpose of punishment is to give people the suffering that is properly proportional to what Kant called their »inner viciousness.« 39 Most of those holding this view (but not the Ozickian holdouts) will be strongly inclined in theory to count repentance and remorse in favor of the criminal, since these states of character, if truly present, will be viewed as 38
»Retributivism has a distinct temporal orientation. It looks backward. This simple point has important consequences if the basic goal of the penalty phase is to impose deserved punishment. From a retributive perspective, the punishment a defendant deserves is, to put it somewhat metaphorically, fully congealed at the time of the crime.« Stephen P. Garvey, »As The Gentle Rain from Heaven«: Mercy in Capital Sentencing, 81 Cornell L. Rev. 989, 1029–1030 (1996). Subject to the qualification about symbolic messaging that I will soon note, this claim seems correct for grievance retributivism. There are forms of what I will later call character retributivism, however, that would challenge this claim. 39 See Jeffrie G. Murphy, Does Kant Have a Theory of Punishment?, 87 Colum L. Rev. 509 (1987).
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revealing an inner character that is much less vicious than the character present in the unrepentant criminal. Even for the character retributivist, however, there will still be the practical problem earlier discussed of distinguishing the genuine article from the fake. Also, if one is going to count one’s judgments about good character in favor of the criminal, then it would seem—in symmetry—one ought also be willing to count judgments of bad character against the criminal. It is interesting in this regard, however, that—at least in my experience—many of those who want to count expressions of repentance and remorse in the criminal’s favor are first in line to condemn the use in assigning punishment of claims that the criminal’s character is »cruel, heinous and depraved« or reveals a »hardened, abandoned, and malignant heart«—phrases that have appeared in death penalty and other American homicide cases. Is this lack of symmetry logically inconsistent or irrational in some other way? One might argue that humanity and decency require that one be willing to run more risks on behalf of gentleness rather than on behalf of harshness—a sentiment in line with the venerable slogan that it is better to let guilty people go free than to punish innocent people. I have great sympathy with this line of thought, but it—like the venerable slogan itself—is not self-evident and thus should not be accepted without argument. 40 Where, then, do I personally stand on the issue of remorse and repentance as grounds for mercy in criminal law? Given that my own nature (alas) tends to be more cynical and suspicious than 40
Stephen Garvey has suggested to me that another way of explaining the noted asymmetrical treatment of good and bad character is to claim that neither is relevant in determining the punishment that the defendant deserves but that both are relevant in decisions to grant or withhold mercy. Since mercy can by nature only result in an actor receiving a lighter sentence, the effect of considering character is necessarily asymmetrical: if the decision-maker decides to grant mercy, the defendant gets a lesser sentence; if the decision-maker decides to deny mercy, then the defendant gets the sentence he deserves. This line of argument assumes, of course, that character is never relevant to desert—an assumption that, as I noted earlier (see Garvey, supra note 37), would be granted by some forms of retributivism but not by all.
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trusting, my current inclination—although I am still conflicted about this—is not to give much weight to expressions of remorse and repentance at the sentencing stage of the criminal process. I simply see too much chance of being made a sucker by fakery. With respect to clemency decisions, however, it strikes me that judgments about remorse and repentance may have a much more legitimate role to play. The same noted moral and political values —deterrence, rehabilitation, retribution—are at stake here as are present with respect to sentencing, but the epistemic problems seem—at least to me—less worrisome. Why? Simply because we will have a more reliable evidential foundation upon which to base judgments of sincerity. The writer Florence King, commenting on the Karla Faye Tucker case, gives her reasons for believing that Tucker’s conversion was sincere: Faith, hope, and snobbery aside, I believe Karla Faye’s conversion was sincere, in part because the Born Again stance is so exhausting that no one could fake it for very long. Remember, she was saved in 1985 and spent 12 years witnessing, praising, and thumping, not to mention perfecting the Pat Robertson art of smiling, laughing, and talking at the same time. »Protestantism,« said Mencken, »converts the gentle and despairing Jesus into a YMCA secretary, brisk, gladsome, and obscene.« Without the lube job of sincerity working in mysterious ways she would have dislocated her jawbone. 41
And here, in addition to the reasons previously quoted, are some of the other reasons given by Governor Schwarzenegger for not granting clemency to Stanley Williams: [A] close look at Williams’ post-arrest and post-conviction conduct tells a story that is different from redemption. After Williams was arrested for these crimes, and while he was awaiting trial, he conspired to escape from custody by blowing up a jail transportation bus and killing the deputies guarding the bus. There are detailed plans [although never executed] in Williams’ own handwriting … The dedication of Williams’ book »Life In Prison« casts significant doubt on his personal redemption. This book was published in 1998, several years after Williams claimed redemptive experience. 41
Florence King, Misanthrope’s Corner Nat’l Rev., Mar. 9, 1998, at 72.
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Specifically, the book is dedicated to »Nelson Mandela, Angela Davis, Malcolm X, Assata Shakur, Geronimo Ji Jaga Pratt, Ramona Africa, John Africa, Leonard Peltier, Dhoruba Al-Mujahid, George Jackson, Mumia AbuJamal, and the countless other men, women, and youths who have to endure the hellish oppression of living behind bars.« The mix of individuals on this list is curious. Most have violent pasts and some have been convicted of heinous murders, including the killing of law enforcement. But the inclusion of George Jackson on this list defies reason and is a significant indicator that Williams is not reformed and that he still sees violence and lawlessness as a legitimate means to address societal problems. 42
Although Florence King is being her usual cynical and funny self and Governor Schwarzenegger is being sober and deliberate, they are both making some similar and important points (whatever one may think of the conclusions drawn from those points in the cases at issue): Those making clemency decisions have a lot more time and a lot more information upon which to base their decisions than would ever be possible given the time and evidential limits imposed on a criminal trial that culminates in a sentence. Mistakes are still possible in clemency decisions—there is never an ironclad guarantee against being deceived by fakery—but the probability of such mistakes is surely reduced by a non-trivial degree. 43 42
See Statement of Decision, supra note 1. George Jackson was an extremely violent individual—his violence including murder—who, it seems, embraced and celebrated his violence rather than repenting it. 43 Maimonides distinguished coerced from deliberative repentance. The former arises when the conditions for indulging in sinful behavior are no longer present. He called coerced repentance »imperfect« because it does not guarantee a sincere change of heart on the part of the wrongdoer. As such it is contrasted with »perfect« repentance that can only be seen in an environment where it is still possible for the wrongdoer to succumb to the relevant temptation. It is thus hard to see how, on this theory, incarceration could ever provide more than an opportunity for imperfect repentance and thus less than conclusive evidence that the wrongdoer is genuinely repentant. However, if the only way to get conclusive evidence is to put the wrongdoer in an environment in which he could again commit his crime, there are obvious reasons why we would not want to get certainty at this high a price and would rather settle for the best evidence we can get from cases that are imperfect in Maimonides’ sense. It would be quite irresponsible, for ex-
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Do these factors weigh differently in death penalty cases than in cases where serious but not lethal punishment is present? I find this a difficult question. On the days (and for me these are most days) when I oppose the death penalty, I tend to oppose it in part because of my own moral and religious convictions about the deep value of remorse—called by Kierkegaard an »emissary from eternity.« I want criminals to have sufficient time for remorse, repentance, and rebirth and do not want to foreclose this possibility by killing them. The days on which I tend to favor the death penalty, however, are days on which I recall Samuel Johnson’s observation that nothing is more effective at concentrating the mind than the prospect of being hanged in a fortnight. Remember the Tim Robbins film Dead Man Walking—often taken and probably intended to be a sermon against the death penalty? What many people seemed to find most moving in the film was the apparent moral transformation of the death row inmate played by Sean Penn. But would this inmate have attained this transformation had he not realized he was facing execution? And would he have retained this transformation if he had at the last minute received clemency? Focusing on this aspect of the film (and on the book by Sister Helen Prejean on which the film was based) one might, somewhat ironically, see the film as making a rather good case in favor of the death penalty. 44
ample, to put—unsupervised—a convicted child molester in an environment of small children in order to make sure that he has his pedophilia under full control. See Pinchas H. Peli, Soloveitchik on Repentance (1984). This is a treatise on Rabbi Soloveitchik’s teachings on Maimonides. 44 Consider also Tolstoy’s famous novella The Death of Ivan Ilych and ask yourself this question: If, at the last minute, a miracle cure had been provided for Ivan’s terminal illness, would the spiritual transformation that he experienced when he accepted that he was dying remain intact? See also the short story A Good Man is Hard to Find by Flannery O’Connor in which an escaped criminal, called The Misfit, says this after an old lady has a moment of grace and redemption just before he shoots her: »She would have been a good woman if it had been somebody there to shoot her every minute ofher life.«
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V.
Apology and Mercy
I have up to this point been focusing on remorse and repentance as possible grounds for mercy. Apology has, however, been lurking in the background of my discussion up to this point, but I think that the time has come, in what will be the essay’s closing section, for me to say a few more explicit and direct things about it and the role that it might play in decisions to grant or withhold mercy. The initial point I want to make is to note that apology is something quite different from remorse and repentance. Remorse is an internal mental state and repentance is an internal mental act, both aspects of character that often have external manifestations but are not themselves external. Apology, however, is more complex. In some cases an apology is nothing but a public linguistic performance, a purely external performance that tells us nothing at all about mental states. In other cases, however, an apology is something much more than this—a public linguistic performance, to be sure, but one that leads listeners to form legitimate expectations concerning the presence in the apologizer of certain mental states or mental acts, in particular remorse and repentance. When I first (and, alas, quite recently) wrote on the topic of apology, I suggested that all apologies are what philosopher of language J. L. Austin called »performative utterances,« ways of »doing things with words.« 45 I have now come to think that this view is mistaken—that only some apologies are performatives in Austin’s sense. 46 According to Austin, if one says »I apologize« or »I am sorry« in the appropriate circumstances—circumstances largely defined by conventional linguistic and social rules—then one has apologized,
45
L. Austin, How To Do Things With Words (1962). I owe my enlightenment on this issue mainly to conversations with Michael White, whose knowledge of Austin’s philosophy of language is far greater than mine. I have also been influenced by the argument that Lee Taft makes in repenting his earlier view that all apologies are Austinian performatives. See his stimulating essay On Bended Knee (With Fingers Crossed), 55 DePaul L. Rev. 601 (2006). 46
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end of story. In this way »I apologize« is like »I promise« or »I do« (in a wedding ceremony). These words are not representing any mental states—this is the very thing that makes them performative and not descriptive—and thus »I apologize« carries with it no commitment to genuine remorse. Some apologies are, of course, exactly this and nothing more. These are the kinds of apologies that are appropriate for trivial wrongs and social gaffes—for example, accidentally bumping into someone in a crowded hall. Here one says »I apologize«—or, more likely, »Excuse me« or »I’m sorry«—merely as counters in social rituals of civility. Indeed, it would actually be quite nuts to feel genuine remorse over something so trivial, and the person who receives and accepts the apology does not expect such remorse— would actually be quite nuts if he did. Can anyone imagine a normal human being in normal circumstances stopping someone who just said »I’m sorry« after a light bump in the hall and conducting an inquiry into the issue of whether the person was sincerely sorry? Surely not. Of course, if the apologizer visibly crosses his fingers or says »I’m sorry« in an openly sarcastic way, then the »apology« misfires and fails to be an apology since one of what Austin calls the »felicity conditions« of a successful apology performance is that the public performance not include public behavior normally associated with insincerity. But to require, as a condition of successful performative apology, the absence of public behavior normally associated with insincerity is a far cry from saying that a mental state of actual remorse is being described or represented. So in the kind of trivial social contexts here described, I quite agree with Austin that apologies are mere linguistic performatives. When we come to the context of serious harms and wrongs, however, I now believe that Austin’s analysis leads us astray since in these cases our expectations for apologies tend to be far more than linguistic in nature. In these contexts, because of social rules and conversational implicatures, we take both promises (at least significant ones) and apologies to involve the representation that one sincerely means what one says—that one really is sorry, remorseful, and repentant in the case of apologies and that one 312 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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really does plan to do what one says one will do in the case of promises. Here one must, in other words, represent that one is sincere. Indeed, in these cases, what we call »the apology« invariably involves not merely saying »I apologize« or »I am sorry,« but also telling a story about one’s behavior—a story in which one acknowledges how terrible it was, explains it without seeking to justify it, and conveys the depth of one’s sorrow or even self-loathing over it. We would be quite shocked, I think, if a person attempted to apologize for a grave wrong merely by saying »I apologize« and nothing more. That, we would’say, was really no apology at all. 47 It is interesting that Austin missed the importance of seriousness of context with respect to apologies and thus failed to see the distinction between apologies as mere linguistic performatives and apologies that must represent sincerity. Indiscussing excuses in his famous essay A Plea for Excuses, he noted that certain excuses— e. g., »I did it inadvertently«—that work just fine with respect to fairly trivial matters simply will not do when the matter is serious. He wrote: [G]iven, I suppose, almost any excuse, there will be cases of such a kind or of such gravity that »we will not accept« it. It is interesting to detect the standards and codes we thus invoke. The extent of the supervision we exercise over the execution of any act can never be quite unlimited, and usually is expected to fall within fairly definite limits (»due care and attention«) in the case of acts of some general kind, though of course we set very different limits in different cases. We may plead that we trod on the snail inadvertently: but not on a baby—you ought to look where you are putting your great feet. Of course it was (really), if you like, inadvertence: but that word constitutes a plea, which is not going to be allowed, because of standards. 47
When we promise we invite people to count on us—sometimes in very significant ways—and this in part explains why promises typically create moral obligations. It is hard to see how promises could function in this way if they were not taken to be sincere expressions of intent. Apologies, with respect to serious matters, typically invite wronged parties to think better of the wrongdoer and perhaps even to forgive him and restore relations with him. It is hard to see how apologies could function in this way if they were not taken to be sincere expressions of remorse.
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And if you try it on, you will be subscribing to such dreadful standards that your last state will be worse than your first. 48
As Austin said of excuses, so too—I now think—for significant apologies. In my discussion from now on, I will be concerned with apologies in a context of seriousness (serious wrong, serious harm) and will thus use the word »apology« in the way I take appropriate to such a context. One of the reasons that apologies sometimes misfire is because the person supposedly apologizing fails to represent the right kind of sorrow—e. g., saying that he is sorry that you interpreted his (presumably innocent) remark in such a way that your (probably overly sensitive) feelings were hurt. This fails as an apology because, in mislocating the proper object for the sorrow, it fails to acknowledge the genuine wrongdoing that a genuine apology would address. (Although Stanley Williams expressed some general regrets with respect to his previous life of crime, he did not express regrets—much less apologize or express remorse—with respect to the crimes of which he had been, in the judgment of Governor Schwarzenegger, rightfully convicted. Thus even the expressed regrets, having the wrong target, were judged by the governor to be irrelevant to the clemency decision.) As I write this essay, the news is filled with reports of another misfired apology—this time from actor Mel Gibson. It is not surprising that his first apology for the anti-Semitic tirade he delivered when being arrested for drunken driving was regarded by many to be insufficient since he merely expressed general regrets for having said things that (so he claimed) he does not really believe. Small wonder that Abraham H. Foxman of the Anti-Defamation League rejected this apology as »unremorseful and insufficient.« 49 Of course this simply initiated the apology dance that has become so common in America—Gibson (perhaps coached by his agent) making a second apology that actually mentions anti48
J. L. Austin, A Plea for Excuses, in Philosophical Papers 142–143 (1961). Press Release, Anti-Defamation League, ADL Says Mel Gibson’s Anti-Semitic Tirade Reveals His True Self; Actor’s Apology »Not Good Enough«, at http://www. adl.org/PresRele/ASUS_12/4861_12.htm (last visited November 2, 2006).
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Semitism and claims that he is not anti-Semitic, the Anti-Defamation League giving a reluctant and qualified partial acceptance of that apology, discussions of possible cooperative projects of healing, and so on it goes. 50 The shelf life of this dance will surely expire in about another week and will probably have as its primary public value the production of some great comedy. Not since the person shot by Vice-President Dick Cheney in a hunting accident publicly apologized to Cheney for causing him and his family distress have Jay Leno, Jon Stewart, and Steven Colbert had something so choice to work with. (I still recall with pleasure a gem about the Cheney incident that came from Jon Stewart: »Just imagine how powerful you have to be if when you shoot somebody he apologizes to you.«) Perhaps comedy is the way that some of us get »closure« from the suffocatingly boring and shallow apology dances to which we are now so often exposed. Even when representations of remorse and repentance are directed to the proper object, however, it is important to remember that representations are simply representations. They are not the same as actual remorse and repentance. The convincing fraud who makes an insincere apology really has apologized in the Austinian sense, but in a context of seriousness we normally take an apology to be something more than an Austinian performative. We take it to represent sincere remorse, and so we may reject the apology as an insulting piece of mere acting—one sense of »performance«—if we believe that there is in fact no remorse, that the representation is nothing but a representation. Is apology in the absence of genuine sincerity enough so long as it represents sincerity? I think that it sometimes is and sometimes is not. It all depends on what one wants out of an apology. If one wants admission of and acceptance of responsibility, a properly constructed apology provides that—although, as the South African TRC reveals, one can also get that without apology. How? Simply by having the wrongdoer explicitly disclose facts that establish wrongdoing and accept responsibility for what he 50
Allison Hope Weiner, Mel Gibson Seeks Forgiveness From News, N.Y. Times, Aug. 2, 2006, at E1.
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Jeffrie G. Murphy
has done. An apology does that but, in also representing remorse, it does more than that. There are also some retributive satisfactions that can be gained even from—perhaps especially from—an insincere public apology. To force someone to make a public apology is to subject that person to a social ritual that can be painfully humiliating for that person—particularly, I should think, if that person is not sincerely sorry. Some victims of wrongdoing might not care about the sincerity of the apology, however, so long as the making of the apology is painful to the right degree for the person who must deliver it. That it causes deserved suffering might be satisfaction enough for those who are retributively inclined. Thus the public disclosure of wrongdoing, required by the TRC as a condition for amnesty, may have had more retributive bite than Bishop Tutu— who likes to think of the TRC as »restorative justice« rather than »retributive justice«—likes to admit. For at least some people it must be quite painful, even if one does not apologize or express remorse, simply to acknowledge in public—including before one’s friends and family and fellow parishioners—that, for example, one of the tasks performed as a government police officer was to torture and sometimes even kill suspects or prisoners. Mere humiliating public disclosure without apology can sometimes provide retributive satisfaction to victims—the reason why truth commissions (such as Chile’s) that do not publish names of wrongdoers often seem less satisfying to victims than those (such as South Africa’s) that do. But if mere disclosure without apology can provide retributive satisfaction to victims, it might be the case that requiring an apology as a condition of amnesty or clemency, even if that apology is insincere or suspected to be so, might provide even more retributive satisfactions to those victims. Many, of course, might regard the retributive satisfactions afforded some victims by rituals of humiliation—particularly if those rituals require what may be insincere apologies and expressions of remorse—as bought at too high a moral and political price. This is perhaps why, in the Coetzee novel, David Lurie compared the demand that he make a public apology to the humiliating rituals of Mao’s China during the Cultural Revolution. 316 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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I am personally conflicted about this matter. Sometimes I favor public humiliation as a punishment and have even suggested, for example, that a good punishment for a student or faculty plagiarist is to force that person to apologize in front of the entire academic community of which he is a member and to endure the shame that is his due. There are other times, however, when I share David Lurie’s reservations and think that the self that desires the humiliation of others, even in a just cause, is not my better self. Even if one can imagine a place for public apology as a shaming punishment in the academic world, however, it is not at all clear that one should welcome this in the realm of legal punishment. An academic community may be presumed, without I hope too much self-deceptive fiction, to be bound together by shared values—to be, in short, a genuine community. I fear that many of those who advocate a greater role for apology and expressions of remorse in American criminal law may overestimate the degree of actual community pre sent in our large and complex society with its massive social class and racial and cultural divisions. Such advocates often speak warmly of the capacity of apology to lead to reconciliation and reintegration with the larger community—an idea that makes perfect sense where there is a genuine community but is ludicrous when applied to persons who are so alienated that they have never felt a part of the larger community in the first place. 51 Apology advocates may also have too rosy a picture of the nature of the communitarian society that would make talk of deep reintegration and reconciliation through apology rituals genuinely possible. What was Mao’s China, after all, except what might be called communitarianism on steroids?
51
See Jeffrie G. Murphy, Marxism and Retribution, 2 Phil. & Pub. Aff. 217 (1973).
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VI. Conclusion It will surely come as no surprise that the skepticism I earlier expressed concerning the possible role of repentance and remorse as grounds for mercy (particularly in sentencing) I now extend to apology as well. A truly sincere apology can be a wonderful, even blessed, thing since it involves the kind of remorse and repentance that often marks a step on the road to moral rebirth, can sometimes provide legitimate comfort to victims, and in the proper sort of cases can indeed lead to a valuable kind of reconciliation. Turn all of that over to the American system of assembly line justice, however, a system starved for resources and staffed by people who are oppressively overworked and in a hurry to clear cases, and we will—I fear—do little more than cheapen the currency of the real thing and add to the cynicism about our system of criminal law, and indeed about our society in general, that grows greater each passing day. Just recall the shameful spectacle of President Clinton in the Monica Lewinsky matter. So quick and frequent were his apologies that one could use his example to make a case that apologizing can now be added to the list of obsessivecompulsive disorders, and this not surprisingly made him the brunt of a variety of jokes and cynical comments. And recall the cynical New Yorker cartoon I quoted earlier and the new novel Eating Crow by Jay Rayner. Cynical jokes about public apology are already the order of the day, and I cannot see an expanded role for apology in criminal sentencing as doing anything more than adding to this cynical perspective—a very funny one, indeed, but not in my view one that contributes to a healthy society. As the New Yorker cartoon suggests, apology in America may not even be shaming these days—in which case there go even the retributive satisfactions that might, as noted earlier, be gained by victims from an apology even if that apology is insincere and known to be so. Just as bankruptcy has generally ceased to be an occasion of shame and has become instead a business or personal planning tool, so might a willingness to apologize if necessary be little more than part of a rational strategy for maximizing one’s self-interest. As with remorse, however, the role of apology strikes me as less 318 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Remorse, Apology, and Mercy
controversial in clemency decisions than in sentencing decisions. My reason for this is the same as given with respect to remorse: less risk of mistakes because of the greater time and more extensive evidential base that clemency decisions make possible. Here the evidence gathered may not simply go to the sincerity of the person making the apology but also to the likely impact, for good or ill, that the apology will have on the victims and on society as a whole. I am an enemy neither of apology nor remorse; and indeed I have acknowledged, at least in passing, that apologies (particularly when sincerely expressive of remorse) can sometimes have many virtues—both individual and social. In a different social and historical context I might have wanted more to stress those virtues and discuss them in more detail. Our present intellectual culture, however, strikes me as one in which apology and other expressions of remorse are often located (and often over praised) in the context of a sentimental ideology of therapy and healing rather than, say, an ideology of truth and justice. As a counter to this sentimental ideology, I have been concerned here mainly to express some skepticism, both substantively and rhetorically, toward the trendy celebration of apology and expressions of remorse and to the uncritical extension of that celebration into criminal law. Mainly for evidential reasons, my skepticism is much greater when remorse and apology are offered as grounds for mercy in sentencing than when they are offered as grounds for mercy in clemency decisions. However, as Governor Schwarzenegger’s thoughtful denial of clemency to Stanley Williams suggests (at least to those who do not regard Williams to have been innocent of the murders of which he was convicted), a healthy dose of skepticism is well in order in the domain of clemency as well. I would not, however, want my qualified sympathy with Governor Schwarzenegger’s clemency decision in the narrow confines of that one case to be taken as a sign that I am at all comfortable with the general context in which such decisions must be made. So, as a final point, let me baldly state my view that the whole American system of so-called »criminal justice« has to a great de319 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Jeffrie G. Murphy
gree become a moral and administrative mess—a great bloated monster driven by competing and sometimes inconsistent values, and sometimes by no values at all but simply by cruelty or indifference or institutional inertia. It calls, in my judgment, for radical rethinking and redesign. Thus I cannot help thinking that spending a lot of time tinkering with the small corners of the present system that might be affected by remorse and apology is rather like, as the saying goes, rearranging the furniture on the decks of the Titanic. That, however, is a topic for another occasion.
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Vom Schutz religiöser Gefühle: Rechtspraxis und -theorie in der Moderne
Darf das Recht Gefühle schützen und wenn ja, welche? Wer auf die derzeitige aufgeheizte Debatte um religionskritische Karikaturen, Theaterstücke oder Operninszenierungen schaut, findet eine große Bandbreite von Meinungen vor: Da gibt es solche, die die Berufung auf religiöse Gefühle als Diskurshindernis kritisieren und von einem Rechtsschutz nichts wissen wollen. Andere sehen das genau umgekehrt: Nur das Schutzversprechen gebe religiösen Minderheiten »das Gefühl existenzieller Sicherheit«, hieß es 2014 auf dem Deutschen Juristentag. 1 Aber auch religiöse Mehrheiten behaupten ihre Schutzwürdigkeit. Mehrfach mussten sich Bundestag und Bundesrat in den letzten Jahren mit Gesetzentwürfen befassen, die das »religiöse Empfinden« der Bürger besser schützen wollten und das geltende Recht für nicht ausreichend erachteten. »Viele Bürger«, so die der CDU/CSU angehörenden Antragsteller, reagierten »mit Betroffenheit und Empörung« auf die zunehmenden »Angriffe insbesondere auf christliche Bekenntnisse«. Ihre Proteste verhallten jedoch ungehört, und ihre Strafanzeigen würden von Staatsanwaltschaften und Gerichten abgelehnt. 2 Empört und betroffen waren auch muslimische Organisationen und Einzelpersonen, die 2005 in Dänemark gegen die Zeitung Jyllands-Posten Strafanzeige wegen Blasphemie erstatteten. Ihrer Auffassung nach hatten die in jener Zeitung veröffentlichten Karikaturen über ›Das Gesicht Mohammeds‹ eben das getan, was 1
Pia Lorenz, Strafbare »Gotteslästerung«, in: Legal Tribune Online, 10. 1. 2015, http://www.lto.de/persistent/a_id/14324 (abgerufen am 16. 9. 2015). 2 Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/4558 v. 7. 11. 2000; Bundesrat, Drucksache 683/07 v. 1. 10. 2007.
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der Blasphemie-Paragraph des dänischen Strafgesetzbuchs unter Strafe stellte: ihre Glaubenslehre oder Gottesverehrung verspottet und verhöhnt und damit die religiösen Gefühle der Muslime verletzt. Die Gerichte aber waren anderer Auffassung: Die Karikaturen hätten nicht gegen dänisches Recht verstoßen und den Islam weder verächtlich gemacht noch beschimpft. Ebenso wenig hätten sie muslimische Bürger aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit bedroht oder herabgewürdigt. Selbst wenn sich manche Muslime gekränkt fühlten, müsse dies gegen das Recht auf Meinungsfreiheit abgewogen werden, dem die dänische Verfassung einen hohen Stellenwert beimesse. 3 Auch die Intervention von elf Botschaftern islamischer Staaten beim dänischen Premierminister Anders Fogh Rasmussen und ihre Forderung, rechtliche Schritte gegen die Zeitung zu ergreifen, änderten nichts daran, dass das Verfahren eingestellt wurde. Sie erinnern aber an ein ähnliches Vorgehen mit anderem Ausgang zu anderer Zeit. * *
*
1888 hatte in der Pariser Comédie-Française das Stück Mahomet Premiere. Nachdem Voltaire eineinhalb Jahrhunderte zuvor Gift und Galle gegen religiösen Fanatismus in Gestalt des Propheten gespuckt hatte, zeichnete der Erfolgsautor Henri de Bornier den Religionsgründer nun ungleich sympathischer. Dennoch schützte ihn das nicht vor dem Bannstrahl aus Konstantinopel. War Voltaires Verstragödie 1742 vom französischen Generalstaatsanwalt abgesetzt worden, der darin einen Angriff auf Religion tout court erkannte und dem Verfasser Unglauben und Gottlosigkeit bescheinigte, bekam es Bornier direkt mit der Hohen Pforte zu tun. 4 Sultan Abdul-Hamid teilte dem französischen Botschafter am 3
Lorenz Langer, Law, Religious Offence and Human Rights: Defamation of Religions and the Rationales of Speech Regulation, Diss. Zürich 2013, S. 47–59, 79–89. 4 Cornelia Klettke, Mythisierung und Modellierung des Fanatismus in Voltaires Tragödie Mahomet, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 27 (2003), S. 55–66.
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Vom Schutz religiöser Gefühle
Bosporus sein Befremden darüber mit, die Person des Propheten auf den Brettern der wichtigsten französischen Theaterbühne ausgestellt zu sehen. Der osmanische Botschafter in Paris beeilte sich, die Gefühle seines Souveräns im französischen Außenministerium kundzutun. Das Journal des Débats berichtete 1889, wie die ›affaire de Mahomet‹ in Kairo aufgenommen wurde: Es gäbe böswillige Leute, die sich fragten, warum ein solches Stück, das nicht nur den Kalifen in Konstantinopel beleidige, sondern alle Gläubigen, nicht verboten werde. »La représentation de Mahomet sera considérée par les vieux croyants comme une sorte d’outrage fait à leur foi.« 5 Auf diesen Korrespondentenbericht antwortete Bornier umgehend und in der gleichen Ausgabe mit dem Hinweis, zum einen zeichne sein Drama den Propheten in den leuchtendsten Farben und zum anderen kenne der Islam kein allgemeines Abbildungsverbot, ähnliche Theaterstücke seien bereits 1838 in Teheran aufgeführt worden. Aber der Druck ließ nicht nach: Als die Londoner Times den Autor 1890 über sein Stück interviewte und eine einflussreiche Zeitung in Konstantinopel den Artikel abdruckte, bestellte der Sultan erneut den französischen Botschafter ein und teilte ihm den »tiefen Schmerz« mit, den er über das Theaterprojekt empfinde. Daraufhin entschied der französische Ministerpräsident, Mahomet auf unbestimmte Zeit vom Spielplan zu nehmen. Als Botschafter Montebello die frohe Nachricht überbrachte, stattete ihm der Sultan seinen »heißempfundenen Dank« ab. Die Weisung der französischen Regierung sei nicht nur für ihn und seine Untertanen überaus befriedigend, sondern auch klug im Hinblick auf die »Empfindlichkeiten« ihrer eigenen muslimischen Untertanen in Algier und Tunis, die sich von solchen Profanisierungen ebenfalls tief verletzt fühlen müssten. 6 Die Affäre Mohammed war damit noch nicht beigelegt. Im September 1890 kursierten Gerüchte, dass das in Frankreich verbotene Drama demnächst auf einer englischen Bühne zu sehen sein würde. Daraufhin wandte sich der »British-born subject« 5 6
Nancy Stewart, La vie et l’œuvre d’Henri de Bornier, Paris 1935, Zit. S. 166. Journal du Droit International Privé 18 (1891), S. 127–133, hier 128–131.
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und Vizepräsident des Islamischen Vereins in Liverpool, Rafiuddin Ahmad, an die Times und warnte in einem offenen Brief vor allfälligen politischen Konsequenzen. Die 50 Millionen Muslime Britisch-Indiens nähmen die Nachricht als Verletzung ihrer religiösen Empfindungen auf. Doch nicht nur sie fühlten sich beleidigt. Gerade angesichts der globalen Interessen des britischen Weltreichs müsse sich die britische Regierung ernsthaft fragen, ob es weise sei, »to allow in the heart of your Empire a representation of a play which so seriously offends the religious feelings of 180 millions of human beings in the world« 7. Auch in Frankreich war man für solche Erwägungen empfänglich. Selbst wenn man die Empörung aus philosophischer Sicht als Überempfindlichkeit einstufen wolle, müssten sich Politiker dem Sachverhalt stellen: Glaubensfragen seien ausschließlich gefühlsbestimmt, die Vernunft verliere hier ihre Geltung. Frankreich habe deshalb das Richtige getan, als es Mahomet verbot. Warum hätte es Millionen seiner Untertanen, die ihr Blut für die Trikolore geopfert hatten, verärgern und betrüben sollen, nur um ein interessantes Theaterstück zur Aufführung zu bringen, das man schlussendlich auch in gedruckter Form nachlesen könne? 8 Die Redaktion des Journal du Droit International Privé, das 1891 über den Fall berichtete, argumentierte mehrschichtig: Erstens stellte sie sich hundertprozentig auf die Seite der französischen Regierung; deren Entscheidung wertete man als klugen Akt internationaler Höflichkeit, zu dem sie allerdings nicht gezwungen gewesen sei. Zweitens wies die Redaktion darauf hin, dass ausländische Remonstrationen bereits häufiger und mit einigem Erfolg vorgekommen seien. Drittens vertrat sie die Auffassung, dass Borniers Stück den islamischen Kultus keineswegs beleidigt habe. Aber selbst wenn man, viertens, einen Kränkungstatbestand entdeckte, stelle sich die Frage, ob er rechtmäßig zu belangen sei. Der gesammelte juristische Sachverstand verneine dies. Zwar ahnde das französische Recht jeden, der eine Religion
7 8
Times (London) v. 26. 9. 1890. Journal du Droit International Privé, S. 131 f.
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lächerlich oder verächtlich mache. Ob der Islam allerdings zu den staatlich legitimierten Glaubensgemeinschaften gehöre, die einen solchen Rechtschutz beanspruchen könnten, sei unklar. 9 Die französischen Rechtsexperten handelten, aus zeitgenössischer Perspektive, klug und weise. Zwar konnten sie auf den strafrechtlich kodifizierten Religionsschutz verweisen, der Schmähungen religiöser Kultgegenstände oder Priester mit Geld- und Gefängnisstrafen belegte (Code pénal, § 262). 10 Eine solche Schmähung aber mochten sie in dem inkriminierten Theaterstück nicht erkennen; wäre es zu einer offiziellen Strafanzeige gegen Bornier oder die Comédie-Française gekommen, hätte kein französisches Gericht ihr stattgegeben. Gleichwohl hielten es selbst Juristen für opportun, sich dem politischen Druck aus Konstantinopel nicht zu widersetzen. Was als Akt diplomatischer Höflichkeit erschien, entpuppte sich als ausgefuchstes politisches Kalkül. Am Quai d’Orsay besaß man ein waches Gespür für die europäische Mächtekonkurrenz, und die Hohe Pforte spielte darin eine nicht unerhebliche Rolle. Obwohl das Osmanische Reich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr territoriale, politische und militärische Macht eingebüßt hatte, war der ›kranke Mann am Bosporus‹ noch gesund und einflussreich genug, um das Interesse Dritter auf sich zu ziehen. Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. kurz nach seiner Thronbesteigung mit großem Gefolge nach Konstantinopel reiste, reagierte die französische Regierung alarmiert. Während Pariser Zeitungen täglich über die Einzelheiten des kaiserlichen Besuchs berichteten, fürchtete man in politischen und Wirtschaftskreisen um die anstehende Erneuerung des französisch-osmanischen Handelsvertrags. Unter diesen Bedingungen schien politisches Wohlverhalten angesagt, und Borniers Drama bot sich als Bauernopfer an. 11 9
Ebd., S. 132 f. Code pénal, suivi d’une table alphabetique et raisonée des matieres, Paris 1810, S. 66. 11 Stewart, S. 168; C. E. Bosworth, A Dramatisation of the Prophet Muhammad’s Life: Henri de Bornier’s Mahomet, in: Numen 17 (1970), S. 105–117. 10
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Wenig Gewicht dagegen scheint man dem Argument eingeräumt haben, dass sich ein Verbot des Theaterstücks auch mit Blick auf die muslimischen Bewohner des französischen (oder britischen) Imperiums und deren religiöse Empfindlichkeiten gezieme. Dass ein Bühnenereignis in Paris oder London Protestaktionen in Tunis oder Algier, Delhi oder Lahore nach sich ziehen würde, war um 1890 noch nicht vorstellbar. Ein solcher Flächenbrand blieb späteren Zeiten mit anderen Konfliktlinien und Kommunikationsmedien vorbehalten. * *
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Was das Pariser Beispiel gleichwohl interessant macht, ist der zeitgenössische Hinweis auf Gefühle und Empfindlichkeiten, die durch die künstlerische Darstellung einer religiösen Thematik gekränkt würden. Offenbar ist das Problem, das sich 2005 an den dänischen Karikaturen entzündete und 2015 in der Ermordung Pariser Karikaturisten gipfelte, nicht neu. Es lässt sich auch nicht auf die muslimische Welt beschränken. Die europäische Rechtsgeschichte kennt sehr viel häufigere Fälle, in denen christliche, zuweilen auch jüdische Bürger den Schutz der Justiz oder der Regierung einforderten, um ihre religiösen Gefühle vor verletzenden Angriffen zu bewahren. 12 Längst nicht immer waren es Künstler und Kunstwerke, die als gefühlskränkend wahrgenommen wurden. In der Regel ging es um profanere, alltägliche Vorkommnisse, an denen Christen oder Juden Anstoß nahmen. 1895 etwa erging Strafanzeige gegen einen Redakteur des Deutschen Generalanzeigers, in dessen Artikel über »den jüngsten Ritualmord« man eine Beschimpfung der jüdischen Religionsgesellschaft erblickte. Der Redakteur hatte behauptet, dass »›das 12
Der internationalen Rechtstheorie und -praxis auf diesem Gebiet kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. zur aktuellen Lage Burkhard Josef Berkmann, Von der Blasphemie zur »hate speech«?, Berlin 2009, S. 22–32, sowie Renate Hüttemann, Gotteslästerung und Beschimpfung religiöser Gemeinschaften, ihrer Einrichtungen und Gebräuche im geltenden und kommenden Strafrecht, Diss. Marburg 1964, S. 94–109. Eine vergleichende historische Analyse ist ein großes Desiderat.
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Ermorden christlicher Kinder zu gottesdienstlichen Zwecken‹ ein alljährliches Bedürfnis des Judentums sei, um sein Osterfest und seine ›große Festwoche‹ mit dem ›Versöhnungstage‹ in einer dem Judengotte wohlgefälligen Weise feiern zu können«. Das Berliner Landgericht erkannte auf Freispruch, weil der Redakteur diese Behauptung »in gutem Glauben an ihre Richtigkeit« aufgestellt habe und ihre äußere Form keine »Rohheit des Ausdruckes enthalte«. Die Staatsanwaltschaft aber ging in Revision, und das Reichsgericht gab ihr recht. Anders als die Berliner Richter befanden die Leipziger, dass die Behauptung des Redakteurs tatsächlich »schimpflicher Art« gewesen sei und die jüdische Religionsgesellschaft »der Verachtung preisgegeben« habe. Sie sei »verletzend für das Gefühl der dadurch Betroffenen« und folglich strafbar. 13 In einer anderen Strafsache entschied das oberste Gericht zugunsten des Angeklagten. Der Mann, ein in der Pfalz bekannter Komiker, hatte 1883 »in einem jedermann zugänglichen Bierkeller – also öffentlich – sich mit einem talarähnlichen schwarzen Gewande und einem schwarzen Käppchen bekleidet« und, auf einem Stuhl stehend und ein Buch in der Hand haltend, »im Predigertone den Gästen ›die s.g. Bierpredigt‹« gehalten, worauf die Polizei eingeschritten war. Der Richter des Landgerichts Frankenthal verurteilte den Mann wegen Beschimpfung der christlichen, namentlich der protestantischen Kirche und wegen »Verletzung des religiösen Gefühls der Angehörigen« jener Kirche. Die Revision hielt dagegen, und auch die Leipziger Richter rügten den Frankenthaler Kollegen, er habe den Begriff der Beschimpfung nicht »im Sinne des Strafgesetzes« aufgefasst. Von Beschimpfung könne man nur dann reden, wenn der Angriff sich »durch eine Roheit des wörtlichen oder symbolischen Ausdruckes kennzeichnet« und »als Verachtung des Heiligen, dessen, was Achtung und Verehrung fordert, kundgebe«. Das aber sei in diesem Fall nicht gegeben. Die »inhaltlich harmlose« Bierkeller-Rede habe ganz offensichtlich einen »humoristischen Charakter« gehabt, ohne dass sie die christliche Predigt an sich »zur Zielscheibe einer Beschimp13
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 28, Leipzig 1896, S. 403–408 (Rep. 1575/96).
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fung machen wollte«. Dem ersten Richter gab das Reichsgericht auf, genauer über den Begriff der Beschimpfung nachzudenken und ihn nicht mit Geringschätzung, Herabwürdigung oder Verspottung gleichzusetzen. 14 Legte das hohe Gericht hier strenge Maßstäbe an, um nicht jede harmlose oder leichtfertige Verballhornung religiöser Praktiken, Einrichtungen und Gebräuche als strafwürdig auszugeben, zeigte es an anderer Stelle sehr viel weniger Toleranz. Legendär war der Fall George Grosz. Der Künstler hatte 1927 für die Aufführung des Braven Soldaten Schwejk auf der Berliner PiscatorBühne eine Reihe von Zeichnungen angefertigt, die auch als Sondermappe im Malik-Verlag erschienen. Die Berliner Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage wegen Gotteslästerung gegen Grosz und den Verleger Wieland Herzfelde. Das Schöffengericht Charlottenburg hielt nur ein Bild für straffällig: Es zeigte Christus am Kreuz mit einer Gasmaske und Soldatenstiefeln, darunter die Worte »Maulhalten und Weiterdienen«. Grosz und Herzfelde wurden wegen Gotteslästerung zu 2000 Mark Geldstrafe verurteilt, wogegen sie, aber auch die Staatsanwaltschaft Berufung einlegten. Die nächsthöhere Instanz hob das Charlottenburger Urteil auf und sprach die Angeklagten frei, wogegen die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel einlegte. Auch der Oberreichsanwalt trug an, das Urteil aufzuheben. 15 Das Reichsgericht folgte seinem Antrag und verwies den Fall 1930 zurück an die Vorinstanz. Seine Argumentation war, gemessen an den Bemühungen um begriffliche Differenzierung von 1884, schwammig und inkonsistent. Es zweifelte die Auffassung des Landgerichts an, dass Grosz’ Zeichnungen kirchliche Einrichtungen und Gebräuche wie das Priesteramt und die Christusver14
Ebd., Bd. 10, Leipzig 1884, S. 146–149 (Rep. 218/84). Die Richter bezogen sich auf eine Erkenntnis des III. Strafsenats v. 13. 12. 1879, die scharf zwischen »Herabwürdigung« (als »Mangel an Achtung«) und »Lästerung durch beschimpfende Ausdrücke« unterschieden hatte. In einer Beschimpfung stecke »die Verachtung des Heiligen, dessen, was Achtung und Verehrung fordert« (Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 1, München 1879, S. 148 f. (Rep. 398/79)). 15 Frankfurter Zeitung v. 11. 4. 1929.
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ehrung nicht beschimpften oder herabwürdigten und insbesondere keine rohe, besonders verletzende Form der Missachtung zeigten. Insinuierend gab es zu bedenken, ob »eine entstellende Darstellung, ein Mißbrauch« des höchsten christlichen Symbols – Christus am Kreuz – »nicht von gläubigen Christen als eine besonders rohe Form der Mißachtung empfunden werden mußte«. Des Weiteren verwarf es die Auffassung, der Künstler habe keineswegs die Absicht der Herabwürdigung verfolgt und lediglich »kirchliche Auswüchse« geißeln wollen. Es käme, so die Leipziger Richter, »überhaupt nicht darauf an, welche Zwecke der Angeklagte verfolgte, sondern darauf, ob er die Angehörigen einer der christlichen Kirchen in ihren religiösen Empfindungen durch eine rohe Beschimpfung ihrer Einrichtungen und Gebräuche verletzt hat«. Dies habe das Landgericht zwar ebenfalls verneint, indem es geltend machte, dass jeder reflektierte Beobachter die Absicht des Künstlers ohne Weiteres erkennen würde. Eine solche Spezifizierung aber hielt das Reichsgericht für nicht statthaft. Schließlich ginge es nicht darum, ob Kunstkenner das Bild im Sinne des Künstlers zu deuten verstünden. Vielmehr sei ausschlaggebend, welche Wirkungen die »gewählte entstellende Art der Darstellung, namentlich ihres höchsten Symbols, des leidenden und sterbenden Christus am Kreuz«, bei den »gläubigen Anhängern der Religionsgesellschaften […] hervorzurufen geeignet war und hervorrief«. Das Gesetz gelte schließlich nicht nur für diejenigen, die sich mit dem Sinn der Zeichnungen intensiv beschäftigten, sondern wolle »auch das schlichte Gefühl des einfachen, religiös gesinnten Menschen schützen, der das Bild unbefangen beschaut und die sinnlichen Wahrnehmungen in sich aufnimmt«. 16 Ebendieser Lesart aber mochte die Große Strafkammer des Berliner Landgerichts III, die den Fall wieder aufnahm, nicht folgen. Erneut erkannte der zuständige Landgerichtsdirektor Julius Siegert auf Freispruch, da er eine rohe Beschimpfung der christlichen Religion oder Kirche nicht gegeben sah. Das aber sei das 16
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 64, Berlin 1931, S. 121–130 (Rep. 750/29).
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Hauptkriterium für die Strafbarkeit des Tatbestandes. Religiöse Gefühle hingegen, für die er durchaus Verständnis aufbringe, könnten nicht rechtlich geschützt werden. 17 Hier schloss sich Siegert der Argumentation des juristischen Prozesssachverständigen an. Zwar hegte der Strafrechtler Wilhelm Kahl als Gründungsmitglied und Ehrenvorsitzender der konservativen Deutschen Volkspartei keinerlei Sympathien für die kommunistischen Angeklagten. Aber ebenso wenig konnte er mit den Gefühlsapotheosen des Reichsgerichts anfangen. Bereits 1906 hatte er, damals noch nationalliberaler Berliner Rechtsprofessor, eindeutig gegen die »Gefühlstheorie« Stellung bezogen. In den auf Anregung des Reichsjustizamts publizierten Vorarbeiten zu einer seit längerem diskutierten Strafrechtsreform war er für »Religionsvergehen« zuständig, eine Materie, die, wie er schrieb, »die deutsche Volksseele« bewegte. Gerade deshalb sei es wichtig, sie von Gefühlen frei zu halten. Genau das aber geschehe nicht; vielmehr hallten »Gesetzesmaterialien, Kommentare und Lehrbücher« wider vom »religiösen Gefühl«, und zwar »nicht zum Nutzen der Jurisprudenz und Rechtsprechung«. Das Plädoyer des Wissenschaftlers war klar und präzise, nämlich »das ›Gefühl‹ aus den wörtlichen oder latenten Tatbestandsmerkmalen der Religionsdelikte aus[zu]schalten«. Er hielt es für verfehlt, »das religiöse Gefühl als das Objekt der strafbaren Handlung selbst, als den eigentlichen und unmittelbaren Gegenstand des Strafschutzes anzusehen. Diese Konstruktion führt in verhängnisvolle Irrwege« und löse »den ganzen Strafrechtsschutz der Religion in Subjektivismus auf«. 18 Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Kahl auf die Argumentation des Reichsgerichts von 1930 reagierte. Hier feierte nicht nur die verpönte »Gefühlstheorie« fröhliche Urständ; vielmehr 17
Hamburger Echo v. 5. 12. 1930. Vgl. auch Jo Hauberg u. a. (Hg.), Der MalikVerlag 1916–1947, Kiel 1986, S. 123–133 sowie Rosamunde Neugebauer Gräfin von der Schulenburg, George Grosz. Macht und Ohnmacht satirischer Kunst, Berlin 1993, S. 123–174. 18 Wilhelm Kahl, Religionsvergehen, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform, hg. v. Karl Birkmeyer u. a., Besonderer Teil, Bd. 3, Berlin 1906, S. 1– 104, Zitate S. 81, 83.
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überboten die Leipziger Richter einander geradezu in Insinuationen und Mutmaßungen, wie stark das »schlichte Gefühl« durch den rohen Schimpf der Grosz’schen Zeichnungen verletzt worden sei. Das war Subjektivismus pur, wobei sich nicht einmal der subjektive Eindruck des »einfachen, religiös gesinnten Menschen« geltend machte, sondern der des hohen Gerichts, das vorgab, in der Seele dieses Menschen lesen zu können. 19 Wie aber konnte eine solche »Gefühlstheorie« und -apotheose Eingang in die Rechtspraxis finden? Was das Grosz-Urteil des Reichsgerichts betrifft, muss man nicht zwischen den Zeilen lesen, um die politische Haltung dahinter zu erkennen. Mehrfach wird auf die »gegenwärtigen veränderten Verhältnisse« Bezug genommen und im gleichen Atemzug betont, Beschimpfungen der Religion seien »in dem gleichen Maße unstatthaft und strafbar wie früher«. 20 Will heißen: Selbst unter den gewandelten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Weimarer Republik habe der Religionsschutz Bestand. Wenn die Demokratie es zulasse, dass christlich-kirchliche Einrichtungen mehr denn je unter Beschuss gerieten, schiebe das Recht ungebührlichen Übergriffen einen festen Riegel vor. Auch der neue, aus der Revolution geborene Staat bedürfe staatserhaltender Tugenden, die von der Religion gespeist und aufrechterhalten würden. Religiöse Überzeugungen und Praktiken seien nicht nur Privatsache, sondern trügen zur gesellschaftlichen Ordnungsstiftung bei. Deshalb liege es im ureigenen Interesse des Weimarer Systems, jene Quellkraft der Religion zu bewahren und zu sichern. Das Strafrecht leiste hierbei Unterstützung und sorge zugleich dafür, dass die Gefühle religiös musikalischer Bürger nicht unter die Räder gerieten. Es komme damit sowohl den individualistischen als 19
Eine scharfe Kritik dieser Entscheidung lieferte auch der Frankfurter Amtsund Landrichter Heinrich Henkel, Strafrecht und Religionsschutz, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 51 (1931), S. 916–957. Die Argumentation des Reichsgerichts liefe »auf einen Schutz des religiösen Gefühls ›mittlerer Art und Güte‹ hinaus und gefährdet bedenklich die Freiheit der Kunst. Ein wahrhaft brauchbarer Maßstab für die Feststellung, ob eine Verletzung religiösen Gefühls […] gegeben sei, ist letzten Endes überhaupt nicht zu finden« (S. 941). 20 Entscheidungen 1931, S. 127.
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auch den kollektivistischen Tendenzen der neuen Zeit entgegen – und rette zugleich ein Stück ›alter Zeit‹ in die neue hinüber. Jenseits solcher zeitgenössischen Widerstands- und Anpassungsbemühungen stellt sich die Frage, wie die Hochschätzung religiöser Gefühle im Recht zu erklären ist. Juristen legen gemeinhin, seit es ihren Berufsstand gibt, großen Wert auf Gefühlsabstinenz. Das Recht, heißt es immer wieder, sei in jeder Weise über Gefühle erhaben. Zum einen gehe es, was seine Kodifikationen betrifft, streng formalistisch und objektivistisch vor und lasse sich dabei keineswegs von Gefühlen oder subjektiven Anschauungen leiten. Auch in der Anwendung, also in der konkreten Rechtspraxis, sollten individuelle Gefühle keine Rolle spielen; vielmehr hätten sich Richter und Schöffen streng an die Buchstaben des Gesetzes zu halten. Drittens schließlich, so argumentierte zumindest besagter Wilhelm Kahl, seien Gefühle keine Rechtsgüter und deshalb auch keine Gegenstände des Strafschutzes. Oder, wie hundert Jahre später seine Lehrstuhlnachfolgerin Tatjana Hörnle formulierte: »Die Basis eines Strafverbots kann nur sein, dass das umschriebene Verhalten Sicherheitsinteressen […] verletzt, also dauerhafte, vernünftige, verallgemeinerbare und vor allem gewichtige Abwehrinteressen anderer Personen. Die Vermeidung von unangenehmen Gefühlen ist ein Nebeneffekt entsprechender Strafverbote, erlaubt aber nicht eine selbstständige Rechtfertigung.« 21 Diese Auffassung stellt seit einem knappen halben Jahrhundert die unter Rechtswissenschaftlern, Rechtspraktikern und Rechtspolitikern herrschende Meinung dar. Ihre Kodifikation fand sie 1969, als im Rahmen der bundesdeutschen Strafrechtsreform der inkriminierte § 166 einen neuen Wortlaut erhielt. »Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften […] den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 21
Tatjana Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, Frankfurt 2005, S. 84. Mit ähnlicher Tendenz Barbara Rox, Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?, Tübingen 2012.
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wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Rechtsgut war jetzt, wie in den Kommentaren nachzulesen, der öffentliche Frieden, nicht das »religiöse Empfinden des einzelnen«. 22 * *
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Aber noch einmal: Wie kam es überhaupt dazu, dass das deutsche Strafrecht Gefühlen so lange einen zentralen Stellenwert einräumte und ihnen damit eine Wertschätzung erwies, die auf den ersten Blick quer zu den Prinzipien der Jurisprudenz stand (und, wäre zu ergänzen, auch nicht recht zur betont rationalistischen Signatur der modernen Gesellschaft zu passen schien)? 23 Rationalismus war in der Tat der Kampfbegriff, unter dem Staaten wie Österreich oder Preußen seit Ende des 18. Jahrhunderts daran gingen, ihr Rechtssystem zu reformieren. Gerade das Strafrecht galt den Reformern als hoffnungslos veraltet und von überholten, vernunftwidrigen Anschauungen geprägt. Dazu gehörte ihrer Meinung nach auch die Vorstellung, drastische Körperstrafen würden abschreckend wirken und die Menschen zu regelkonformem Verhalten erziehen. In diesem Sinne hatte etwa 1768 das Strafgesetzbuch Maria Theresias Gotteslästerung durch »lebendige Verbrennung« nach vorherigem Abschneiden der Zunge bzw. Abhacken der Hand geahndet. Das von aufgeklärten Grundsätzen geprägte Strafgesetzbuch ihres Sohnes Joseph II. dagegen betrachtete 1787 Gotteslästerung als Ausfluss von Geistesverwirrung: »Wer die Vernunft auf den Grad verläugnet, um den Allmächtigen in öffentlichen Oertern, oder in Gegenwart anderer Menschen, durch Reden, Schriften, oder Handlungen freventlich zu lästern, ist als ein Wahnwitziger zu behandeln, und in dem Tollhause in so lang gefänglich anzuhalten, bis man seiner Bes22
Kristian Kühl und Martin Heger, Strafgesetzbuch. Kommentar, 28. Aufl., München 2014, S. 822 f.; Adolf Schönke und Horst Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 29. Aufl., München 2014, S. 1694 f.; Thomas Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 62. Aufl., München 2015, S. 1148. 23 Zu früheren Debatten über das ›Rechtsgefühl‹, vgl. Sigrid G. Köhler u. a. (Hg.), Recht fühlen, Paderborn (voraussichtlich 2016).
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serung vergewissert ist.« 24 Schon der französische Staatstheoretiker Montesquieu hatte 1748 zu bedenken gegeben, dass das strafbewehrte Delikt der Gotteslästerung auf der problematischen Auffassung beruhe, es sei nötig, die Gottheit zu rächen. Der deutsche Jurist Paul Johann Anselm Feuerbach spitzte die Kritik 1801 so zu: »Dass die Gottheit injuriirt werde, ist unmöglich, dass sie wegen Injurien sich an Menschen räche, ist undenkbar, dass man sie durch Strafe ihrer Beleidiger versöhnen müsse, ist Thorheit.« 25 Das neue, seit 1813 geltende bayerische Strafgesetzbuch, das auf einen Entwurf Feuerbachs zurückging, enthielt denn auch, ebenso wie der französische Code pénal, keinen Gotteslästerungsparagraphen mehr. Strafbar waren lediglich Störungen des Gottesdienstes und die öffentliche Beleidigung von Geistlichen, die unter dem Titel »Verbrechen wider den öffentlichen Rechtsfrieden im Staate« rubrizierten. 26 Auch in Preußen, wo nach langen, von Friedrich II. beauftragten Vorarbeiten das Allgemeine Landrecht (ALR) 1794 in Kraft trat, folgte der Gesetzgeber aufgeklärtrationalen Prinzipien. Zwar galt Gotteslästerung weiterhin als strafbar, aber nicht deshalb, weil sie Gott beleidige, sondern weil – und falls – sie die öffentliche Ordnung störe: »Wer durch öffentlich ausgestoßene grobe Gotteslästerungen zu einem gemeinen 24
Zit. in Michael Pawlik, Der strafrechtliche Schutz des Heiligen, in: Josef Isensee (Hg.), Religionsbeschimpfung, Berlin 2007, S. 31–61, hier S. 31 f.; Rox, Schutz, S. 22. Zum vormodernen Blasphemieverbot vgl. Gerd Schwerhoff, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650, Konstanz 2005 sowie Francisca Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002. 25 Paul Johann Anselm Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, Gießen 1801, S. 265. Gleichwohl habe, so Feuerbach, die Kirche »als moralische Person, ein Recht auf Ehre«. Wer ihren Zweck »entwürdigt, der entwürdigt die Gesellschaft selbst; wer die Religion schmäht, die ihrer Vereinigung zum Grunde liegt, schmäht sie selbst. Und dieses macht die Blasphemie aus. Sie ist eine an der kirchlichen Gesellschaft begangene Injurie durch eine dem Gegenstand ihrer Verehrung äusserlich bewiesene positive Verachtung« (ebd., S. 265 f.). 26 Siegfried Leutenbauer, Das Delikt der Gotteslästerung in der bayerischen Gesetzgebung, Köln 1984, S. 246.
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Aergernisse Anlaß giebt, soll auf zwey bis sechs Monathe ins Gefängniß gebracht, und daselbst über seine Pflichten, und die Größe seines Verbrechens, belehrt werden.« Hier war die Handschrift des einflussreichen Juristen Ernst Ferdinand Kleins erkennbar, der Blasphemie als »Beleidigung der Gesellschaft, welche Gott verehrt und als eine Stöhrung der öffentlichen Ruhe« ansah, wogegen die Störung des Gottesdienstes den Staat selber beleidige. Beides, so Klein, seien Straftatbestände und müssten rechtliche Sanktionen nach sich ziehen. 27 Von Gefühlen war hier nicht und nirgendwo die Rede. Selbst der Begriff der Beleidigung, den Klein so ausdauernd benutzte, rekurrierte nicht auf verletzte Gefühle, sondern auf die Gegebenheit sozialer Ehre als Attribut der Persönlichkeit. Allenfalls indirekt ließ sich eine Brücke zwischen Gefühl und ›Ärgernis‹ schlagen. Wenn das ALR Gotteslästerungen nur dann für strafbar erachtete, wenn sie ein ›gemeines Ärgernis‹ hervorriefen, zeigte sich der Staat hauptsächlich daran interessiert, den öffentlichen Frieden aufrechtzuerhalten; wer diesen Frieden störte, indem er Anlass zu einem ›Ärgernis‹ gab, wurde weggeschlossen und umerzogen. Zugleich jedoch legte das ›Ärgernis‹ Spuren zu den Konflikten, die in ihm verhandelt wurden. Für Klein ebenso wie für seinen Gießener Kollegen Karl Grolman waren »Verspottungen des höchsten Wesens« deshalb verwerflich und strafbar, weil sie »die Anbeter desselben in den Augen Andrer verächtlich zu machen« suchten. 28 Hatte dieser Versuch Erfolg, war das ›gemeine Ärgernis‹ da und der öffentliche Frieden gestört. Solange aber niemand sichtbar an der ›Beleidigung‹ und ›Verächtlichmachung‹ Anstoß nahm, blieb sie straffrei. Letztlich war es also eine Frage der Empirie, ob Menschen sich tatsächlich durch blasphemische Äußerungen so tief gekränkt sahen, dass sie zur Gegenwehr schritten. 27
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hg. v. Hans Hattenhauer, Frankfurt 1970, S. 675; Ernst Ferdinand Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen und preussischen Peinlichen Rechts, Halle 1796, S. 357 f. 28 Karl Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft, Gießen 1798, S. 339.
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Interessanterweise aber war an diesem empirischen Test niemandem gelegen. 29 Stattdessen machte sich im Vormärz immer stärker die Meinung geltend, Religion an sich sei eine zentrale Grundlage des Staates und deshalb schützenswert. So drückten sich 1845 die preußischen Juristen aus, die an einem neuen Strafgesetzbuch arbeiteten. Hatte der erste Revisor Kammergerichtsrat Bode 1828 noch davon gesprochen, dass das Strafrecht religiösen »Fanatismus« und »Intoleranz« bekämpfen und Beeinträchtigungen des »Religionsfriedens« verhindern sollte, 30 argumentierte man siebzehn Jahre später deutlich staatstragender. Der revidierte Entwurf sprach sehr entschieden davon, dass »die Religion und die Gottesverehrung das Fundament aller Staaten bildet« und Blasphemie eben jenes Fundament angreife; ihr Strafgrund liege »in der objektiven Anfechtung und Vernichtung des Urgrunds und Quells der religiösen Gemeinschaft überhaupt, mittelbar also zugleich auch aller staatlichen Ordnung, aller menschlichen Einrichtungen«. Dem Gesetz obliege es, »den Indifferentismus einerseits, die Intoleranz andererseits« zu bekämpfen und »die heiligsten Gefühle der Menschheit« zu schützen. 31 Dieses Argument 29
Der preußische Kammergerichtsrat Bode wies 1828 auf die methodischen Probleme eines solchen Nachweises hin: »Wie soll bei der Untersuchung ermittelt werden, ob ein solches ›gemeines‹ Aergerniß statt gefunden habe? Müssen alle, welche zugehört haben, hierüber befragt, und über das in ihnen angeregte Gefühl, wie über ein äußeres Factum als Zeugen vernommen werden, oder genügt es, daß nur im Allgemeinen ein solcher, durch jene Reden im Publikum hervorgebrachter, Eindruck des Aergers sich offenbart?« (Gesetzrevision [1825–1848], I. Abt., Bd. 1, hg. v. Jürgen Regge, Vaduz 1981, S. 485). 30 Bode folgte im Wesentlichen der Argumentation des ALR, wenn er die öffentliche Schmähung und Verspottung Gottes deshalb unter Strafe stellen wollte, weil sie »in jedem vernünftigen, von dem Glauben an ein höchstes, vollkommenes Wesen durchdrungenen Menschen, zu welcher kirchlichen Parthei er auch immer gehöre, Aergerniß und Abscheu erregt« und deshalb »eine Beleidigung und Kränkung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt« sei (ebd., S. 484). Allerdings hielt er die Strafbedingung des ALR, dass durch die öffentliche Gotteslästerung ein gemeines Ärgernis veranlasst werden müsse, für »überflüssig« und setzte stattdessen voraus, »daß ein jeder vernünfige Mensch, der die Lästerungen hört, ein Aergerniß daran nehmen werde« (ebd., S. 485). 31 Gesetzrevision (1825–1848), I. Abt., Bd. 5, hg. v. Werner Schubert, Vaduz 1994, S. 567, 569.
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nahm der für die Revision der Gesetzgebung zuständige Staatsminister Friedrich Carl von Savigny auf, als er 1848, kurz vor Ausbruch der Revolution, im Vereinigten ständischen Ausschuss emphatisch für die explizite Strafwürdigkeit der Blasphemie plädierte und ausführte, dass in gotteslästerlichen Handlungen »eine tiefe Verletzung des religiösen Gefühls eines großen Theils der Nation liegt. Diese schwere Verletzung der heiligsten Gefühle soll unter eine ernste Strafe gestellt werden«. 32 Das neue preußische Strafgesetzbuch, das 1851, zwei Jahre nach Niederschlagung der Revolution, in Kraft trat, berücksichtigte diese ›fundamentalistische‹ Sicht insofern, als es auf die einschränkende Bedingung des ›gemeinen Ärgernisses‹ verzichtete. Nunmehr drohte jedem eine Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren, der »öffentlich in Worten, Schriften oder anderen Darstellungen Gott lästert, oder eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten im Staate bestehende Religionsgesellschaft oder die Gegenstände ihrer Verehrung, ihre Lehren, Einrichtungen oder Gebräuche verspottet, oder in einer Weise darstellt, welche dieselben dem Hasse oder der Verachtung aussetzt, ingleichen wer in Kirchen oder anderen religiösen Versammlungsorten an Gegenständen, welche dem Gottesdienste gewidmet sind, beschimpfenden Unfug verübt«. Strafgrund war folglich, wie in den Gesetzesmaterialien nachzulesen, »der Angriff auf die sittliche und moralische Ordnung des Staates, der, als ein christlicher, in der Religion die Grundlage aller staatsbürgerlichen Verbindung« anerkennt. Dass, anders als im ALR, kein ›gemeines Ärgernis‹ mehr erwähnt wurde, begründete man leichthändig damit,
32
Eduard Bleich (Hg.), Verhandlungen des im Jahre 1848 zusammenberufenen Vereinigten ständischen Ausschusses, Bd. 3, Berlin 1848, S. 322. Auch Abgeordnete griffen die Rede vom Gefühl auf, so z. B. Freiherr von Gaffron: »Ich glaube aber, daß es Pflicht des Staates ist, die Verletzung des heiligsten menschlichen Gefühls seiner Bürger zu ahnden, eines Gefühls, auf welchem die Familienbande, auf welchem unsere sozialen Zustände, wie auch großen Theils die staatlichen Einrichtungen, gegründet sind« (S. 328). Verfechter des ›Gefühls‹ traten mit Savigny (und gegen den Ausschussvorsitzenden) für die explizite Strafbarkeit der Gotteslästerung ein.
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dass »dasselbe bei einem religiösen Volke durch das Vorhandensein der Oeffentlichkeit immer eintreten werde«. 33 Gesetzestext und Begründung atmen deutlich den christlichen Geist, der vor allem seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. durch Preußen wehte. Der königliche »Romantiker«, von dem sein Biograph Leopold von Ranke schrieb, »er hatte vielleicht mehr Gemüth, als der Staat ertragen kann«, legte allergrößten Wert auf das enge Bündnis von Thron und Altar und suchte die religiöse Grundierung der Gesellschaft nach Kräften zu fördern. 34 Zwar gab es auch nach der gescheiterten Revolution vernehmbare Gegenstimmen. So hatten sich manche Abgeordnete in der preußischen Zweiten Kammer scharf dagegen ausgesprochen, Gotteslästerung als Straftatbestand aufzuführen, weil sie staatliche Übergriffe »in das religiöse Gebiet« befürchteten. Andere aber hielten dagegen und vertraten, mit Savigny und Friedrich Wilhelm, die Auffassung, »daß die Gotteslästerung jedenfalls eine Verletzung des religiösen Gefühls enthalte, welches Anspruch auf Schutz habe«. 35 Mit dem Sieg der Mehrheitsmeinung aber war der Streit nicht dauerhaft beigelegt. Immer wieder entlud sich Unmut über den Gotteslästerungsparagraphen ebenso wie über die preußische Rechtspraxis, die dazu neigte, Religionskritik mit dem Hinweis auf § 135 StGB zu ahnden. 36 Trotzdem behielt auch das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1869, das die preußische Kodifikation geringfügig verändert übernahm, das Gotteslästerungsdelikt bei, weil »jede Gotteslästerung eine Verletzung des religiösen Gefühls Anderer enthält«. Jenes Gefühl wiederum dürfe »schon darum auf den Schutz des Gesetzes Anspruch ma-
33
Theodor Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche für die Preußischen Staaten, T. II, Berlin 1852, S. 262–264. 34 Leopold von Ranke, Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 7, Leipzig 1878, S. 729–776, Zitat S. 776. 35 Georg Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, Leipzig 1851, S. 299 f. 36 Richard Eduard John, Entwurf mit Motiven zu einem Strafgesetzbuche für den Norddeutschen Bund, Berlin 1868, S. 392 f.
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chen […], um nicht die Meinung aufkommen zu lassen, daß der Staat an der Erhaltung dieses religiösen Gefühls im Volke keinen Antheil nehme, dasselbe vielmehr als etwas Gleichgültiges betrachte«. Zugleich kam der Gesetzgeber jedoch jenen Kritikern entgegen, die in der preußischen Strafvorschrift die Gefahr witterten, »daß das Einschreiten der Strafgewalt schon gegen eine blos freie Meinungsäußerung und eine zulässige Kritik über religiöse Gegenstände angerufen werden könnte«. Das »Recht der freien Forschung und der darauf gegründeten Kritik«, so die Motive, dürfe »nicht gefährdet werden«, weshalb man den entsprechenden Gesetzesparagraphen verschlankte und die »unbestimmten« Ausdrücke des »Hasses« und der »Verachtung«, die religiösen Einrichtungen und Gebräuchen sträflicherweise entgegengebracht werden könnten, daraus entfernte. 37 Das mochte Religionswissenschaftler besänftigen und zufrieden stellen. Die Irritationen hingegen, die die Rede vom religiösen Gefühl vor allem bei liberalen Juristen auslöste, waren nicht behoben. Das zwei Jahre später verkündete Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich bediente sich deshalb wieder beim ALR von 1794, als es den Begriff des ›Ärgernisses‹ in den Gesetzestext zurückholte. Der neue § 166 lautete dementsprechend: »Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Aeußerungen Gott lästert, ein Aergerniß gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Corporationsrechten innerhalb des deutschen Reiches bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft.« Der Gesetzgeber ging zwar weiterhin davon aus, »daß durch öffentliche Blasphemie das religiöse Gefühl und Bewußtsein der Gläubigen verletzt werde«, bestand aber zugleich darauf, dass die inkriminierte Beschimpfung einen »objektiv zum Aergerniß geeigneten Charakter« tragen
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Motive zu dem Entwurfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, Berlin 1869, S. 147 f.
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müsse. Davon, und nicht von der »individuelle[n] Empfindlichkeit Anderer«, hinge ihre Strafbarkeit ab.38 * *
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Wie aber war jene Objektivität zu bestimmen? Gab es so etwas wie eine kollektive Empfindlichkeit, und wie äußerte sie sich? Die Richter des Leipziger Reichsgerichts, denen die strittigen Fälle vorgelegt wurden, sahen sich außerstande, diese offenen Fragen schlüssig zu beantworten. Allenfalls beharrten sie darauf, dass an den Tatbestand der Beschimpfung besondere Erwartungen zu richten seien: Es handele sich dabei nicht, so eine immer wieder zitierte Entscheidung von 1879, um eine »Herabwürdigung, welche nur einen Mangel an Achtung bethätigt«. 39 Vielmehr müsse der Angriff weit über das, was eine übliche Beleidigung darstellt, hinausgehen und sich in Inhalt und Form durch eine gesteigerte Roheit auszeichnen. Mit der Konstruktion des Ärgernisses operierten die Richter fast nie. Eine große Rolle aber spielten, wie im Grosz-Prozess, verletzte religiöse Gefühle. In die gleiche Richtung zielten auch die juristischen Kommentare und Lehrbücher. Lange Zeit maßgebend war das des Berliner Rechtsprofessors Franz von Liszt, das zwischen 1881 und 1932 26 Auflagen erlebte. Es vermerkte zwar, dass »in der Gesetzgebung und in der Wissenschaft unseres Jahrhunderts […] die Friedensstörung mehr und mehr in den Vordergrund« trete, hielt aber gleichwohl daran fest, dass vor allem »das religiöse Gefühl des einzelnen, d. h. die gemütlich betonte Überzeugung von einer über dem Menschen stehenden Weltordnung« geschützt werde. Ein »Ärgernis« sei bereits dann gegeben, wenn »das religiöse Gefühl, wenn auch nur eines andern, verletzt« worden sei. 40 Liszts Kollege Ernst Schwartz sah das zwar etwas anders; für ihn musste 38
Franz von Holtzendorff (Hg.), Handbuch des deutschen Strafrechts, Bd. 3, Berlin 1874, Zitate S. 265–267. 39 Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 1, München 1879, S. 143–149 (Rep. 398/79), Zitat 148 f. 40 Franz von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 10. Aufl., Berlin 1900, S. 381 f.
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»die Lästerung so geartet sein, daß sie das allgemeine Gefühl verletzt; daß eine Person vermöge ihrer individuellen Empfindung Ärgernis genommen hat, reicht nicht hin« 41. Demgegenüber las man 1925 in einem die Rechtsprechung des Reichsgerichts berücksichtigenden Kommentar, es reiche für den Begriff des Ärgernisses, dass »das religiöse Gefühl wenigstens einer anderen Person verletzt wurde«. 42 Und in einem 1926 in 17. Auflage erscheinenden Handbuch hieß es klipp und klar, das »Objekt« der Ärgernis erregenden und daher strafbewehrten Handlung bestehe »in der Verletzung des religiösen Gefühls«. 43 Gegen diese ›herrschende Meinung‹ erhob sich von Zeit zu Zeit Widerspruch, der aber keinen Eindruck machte. Der Stuttgarter Landgerichtsrat Scholl erklärte 1893 pointiert und an prominenter Stelle, Gefühle seien erstens »kein Rechtsgut« und zweitens sei das angeblich zu schützende Gefühl genau genommen gar keins. Sofern es allgemeine Geltung beanspruche und nicht bloß subjektiv auftrete, sei es »nichts als das überzeugungsgemäße Festhalten einer Gesamtheit an einer als wahr und gut erkannten Norm«. Werde die Norm verletzt, könne die Missbilligung »ohne jede Gemütsbewegung als reine Verstandesthätigkeit zu Tage treten«; Gefühle oder »die Energie des Gemüts« seien dafür nicht »wesentlich«. 44 Elf Jahre später verteidigte der Chemnitzer Landgerichtsassessor Gustav Jauck in der gleichen Zeitschrift das »religiöse Empfinden« der Einzelperson als Schutzobjekt des Rechts und sagte voraus, es werde »auch in kommenden Jahrhunderten noch eine der wichtigsten Grundlagen jedes Staatswesens sein«. 45 41
Ernst Schwartz, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1914, S. 391. 42 Ludwig Ebermayer u. a., Reichs-Strafgesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts, 3. Aufl., Berlin 1925, S. 515. 43 Reinhard Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 17. Aufl., Tübingen 1926, S. 361. 44 C. Scholl, Das Ärgernis im deutschen Strafrecht überhaupt und in der Strafnorm gegen Tierquälerei insbesondere, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 13 (1893), S. 279–324, hier S. 280, 300. 45 Gustav Jauck, Über strafrechtlichen Schutz des religiösen Empfindens, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 24 (1904), S. 349–370, hier S. 350. Ähnlich Ernst Beling, Die Beschimpfung von Religionsgesellschaften, re-
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Jaucks Prognose war hochpolitisch. Denn als er sie abgab, arbeiteten viele seiner Kollegen bereits fieberhaft an einem neuen Strafgesetzbuch, das, wenn auch nicht alle kommenden, so doch das neue Jahrhundert begleiten würde. Dass sich in dieser Zeit Juristen derart zahlreich und häufig zu Wort meldeten, um für oder gegen die religiösen Gefühle zu argumentieren, war deshalb von unmittelbarer praktischer Relevanz. Zugleich aber fällt auf, dass die Religionsvergehen, um deren Rechtsgrund so heftig gestritten wurde, in der Kriminalstatistik kaum auftauchten. Zwischen 1882 und 1903 gab es im Deutschen Reich knapp 7 000 einschlägige Verurteilungen, pro Jahr also ungefähr 300. Dagegen wurden allein 1886 42 586 Personen wegen Beleidigung, Verleumdung oder übler Nachrede bestraft. Trotz dieser zahlenmäßigen Zurückhaltung scheint dem Delikt große prinzipielle Bedeutung zugemessen worden zu sein oder, wie Wilhelm Kahl formulierte: »Hier fühlt sich das Ganze an den Wurzeln seiner geistigen und religiösen Freiheit berührt«. 46 Auch Kritiker wie Kahl, die die geltende »Gefühlstheorie« verwarfen, zweifelten keineswegs die Berechtigung des Religionsschutzes an. Wie alle seine Kollegen betrachtete der nationalliberale Rechtsprofessor Religion als »ein immaterielles Rechtsgut«, das für den modernen Staat ein »wertvolles Interesse« darstelle. Allerdings verstand er darunter nicht »die Religion als solche: nicht als Inbegriff spezifisch differenzierter Glaubenssätze, sondern als eine mit dem Volksinnersten geschichtlich verwachsene Kulturmacht, als sittliche Volkskraft, als Quelle staatserhaltender Tugenden, der Vaterlandsliebe, der Pflichterfüllung, der Nächstenliebe, als soziale Macht, als ideales Gegengewicht im erbarmungslosen Vernichtungskampfe um die materiellen Interessen«. 47 Auch Eduard Kohlrausch, Liszts Berliner Lehrstuhl-Nachfolligiösen Einrichtungen und Gebräuchen, und die Reformbedürftigkeit des § 166 StGB, in: Festgabe für Felix Dahn zu seinem fünfzigsten Doktorjubiläum, T. 3, Breslau 1906, S. 1–35, der sich aber zugleich eine stärkere Zurückhaltung des Staates in religiösen Dingen wünschte und den »energischen« Kampf der Religionsparteien dezidiert guthieß. 46 Kahl, Religionsvergehen, S. 99, 81. 47 Ebd., S. 85 f.
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ger, brach eine Lanze für das religiöse Gefühl als Ausdruck subjektiver Religiosität, »jenes goetheschen innerlichen ›Frommseins‹«. Dennoch sah er es nicht als vom Staat zu schützendes Rechtsgut an: »Was Schutz verdient, ist die äussere Ehre der Religionsgesellschaften und der eigentliche ›Rechtsfrieden‹« (der jedoch bereits vom geltenden Recht – § 130 – geschützt sei). 48 Der junge Würzburger Doktorand Adolf Moser ließ 1908 zwar zumindest Zweifel an der Behauptung zu, dass es ein öffentliches bzw. staatliches Interesse an Religion gebe, gab aber wie Kohlrausch und Kahl die schneidige »Losung« aus: »Weg vom schwankenden Boden des Gefühles […]. Das betriebene Doppelspiel [zwischen Gefühls- und Friedensstörungstheorie] darf im neuen Gesetzbuch keine Heimstätte mehr finden.« 49 Kaum jemand, der in dieser lebhaften Diskussion das Wort ergriff, machte sich übrigens die Mühe, das Gefühl auf einen festeren begrifflichen Boden zu stellen. Selbst dort, wo zwischen ›allgemeinem‹ und ›individuellem‹ Gefühl unterschieden wurde, gab es nicht einmal den Versuch einer Definition. Allenfalls fanden sich Betrachtungen über die rein innerliche und schwer objektivierbare Eigenschaft von Gefühlen, über ihren unsteten Charakter und ihre je nach Persönlichkeit spezifische Intensität. Immer wieder wurde zudem vor der zeitgenössischen Tendenz zu »krankhafter Empfindsamkeit« und »beklagenswerter Reizbarkeit« gewarnt, der die Gesetzgebung nicht Vorschub leisten sollte. 50 Eine Ausnahme war der Beitrag von Theodor Ahrens, der seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation 1912 einen »Abriß der Lehren der Psychologie über die Gefühle« voranstellte. Ihm war merklich daran gelegen, das Gefühl zu intellektualisieren und mit einer selbständigen Bewusstseinsqualität auszustatten. Zwar gebe es auch sinnliche Gefühle, die sich einer Intellektualisierung verschlössen. Religiöse Gefühle aber gehörten nicht dazu; sie seien »intellektu48
Eduard Kohlrausch, Die Beschimpfung von Religionsgesellschaften. Ein Beitrag zur Strafrechtsreform, Tübingen 1908, S. 92, 103. 49 Adolf Moser, Religion und Strafrecht, insbesondere die Gotteslästerung, Breslau 1909, S. 76. 50 Jauck, S. 363; Beling, S. 29; vgl. auch Kohlrausch, S. 61.
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elle Gefühle« und könnten als solche durchaus den Status eines schützenswerten Rechtsguts genießen. 51 Ein Jahr nach Ahrens’ Einlassung lag der erste Entwurf der Strafrechtskommission schließlich auf dem Tisch. Kurz darauf sistierte der Krieg die gesetzgeberische Arbeit, und nach der Revolution begann man von Neuem. In den Jahren der Weimarer Republik wurden mehrere Entwürfe veröffentlicht und im Reichstag bzw. Reichsrat diskutiert, ohne dass einer es zur Gesetzesreife brachte. Alle wiesen dem Religionsschutz einen großen Stellenwert zu und drückten damit, wie der Jenaer Theologieprofessor Thümmel zufrieden konstatierte, »die hohe Wertschätzung« aus, die der Staat für die Religionsgesellschaften »als die stärksten Pfleger der Sittlichkeit« hegte (und aus Thümmels Sicht auch hegen musste). Gerade angesichts der »immer schrankenloser« werdenden Angriffe auf Religion und Kirche sei dies uneingeschränkt zu begrüßen. 52 Die Entwürfe trugen diesem Umstand dadurch Rechnung, dass sie die Strafvorschriften unter dem Titel »Störung des religiösen Friedens« verhandelten. Früher hieß es, weit weniger prägnant, »Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen«. Auch indem sie explizit auf das »Empfinden« der Angehörigen jener Gesellschaften verwiesen, das durch öffentliche Beschimpfungen verletzt würde, gingen die neuen Vorstellungen über geltendes Recht hinaus. Weder das Strafgesetzbuch von 1872 noch seine Vorläufer hatten solche Empfindungen direkt angesprochen (auch wenn sie, wie die Diskussion zeigte, im Hintergrund schlummerten). Das ›Doppelspiel‹ zwischen Gefühls- und Friedenstheorie setzte sich folglich auch unter veränderten politischen und kulturellen Bedingungen fort. Es überlebte selbst die Zäsur 1933: Auch das »kommende« deutsche Strafrecht, wie es sich die Nationalsozialisten wünschten, sollte »das religiöse Empfinden des deutschen Volkes« als Rechtsgut schützen und denjenigen,
51
Theodor Ahrens, Der strafrechtliche Schutz des religiösen Gefühls im geltenden Recht, im Vor-Entwurf und im Gegen-Entwurf, Breslau 1912, S. 2 ff., 8, 13. 52 [Friedrich Wilhelm] Thümmel, Das neue Strafgesetzbuch und die Religionsvergehen, Tübingen 1927, S. 9; Henkel, S. 917 f.
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der es »gröblich« oder »böswillig verletzt«, mit Gefängnis bestrafen. 53 Dass es Nationalsozialisten nicht um den Schutz »des religiösen Gefühls des einzelnen« zu tun war, sondern um den des »religiösen Volksempfindens«, kann ebenso wenig verwundern wie ihr genuines Interesse für »deutsches Empfinden«. Schließlich war ihre politische Rhetorik und Propaganda in einer Weise gefühlsgetränkt, wie sie die deutsche Geschichte bis dahin nicht gekannt hatte. Wer wie der Reichsminister und Reichsjuristenführer Hans Frank 1935 die Liebe zum Führer als »Rechtsbegriff« inthronisierte, konnte auch dem ›gesunden Volksempfinden‹ eine rechtsetzende Qualität einräumen und das religiöse Gefühl unter Strafschutz stellen. 54 Aber ebenso wie die Weimarer Reformbemühungen kam auch das ›kommende‹ Strafrecht nicht vom Fleck und blieb, kriegsbedingt, Makulatur. Gleichwohl fanden manche Formulierungen Eingang in die Entwürfe für die Große seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik betriebene Strafrechtsreform. So sprach man 1960 wieder vom »religiösen Empfinden« der Angehörigen einer Religionsgesellschaft, und bis 1968 war die Gefühlsschutztheorie »die derzeit noch herrschende Meinung«. 55 Letztlich aber vermochten sich die Vertreter der »Friedensschutztheorie« durchzusetzen, und der § 166 erhielt die bis heute gültige Fassung, aus deren Text sowohl die Gotteslästerung als auch das Empfinden getilgt waren. Rechtsgut war und ist eindeutig der öffentliche Frieden. Eine fast zweihundertjährige Streitgeschichte kam damit zu ihrem vorläufigen Abschluss – vorläufig deshalb, weil gerade von 53
Franz Gürtner (Hg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Besonderer Teil, Berlin 1935, S. 98–103; 2. Aufl., Berlin 1936, S. 211–217. 54 Ebd., 2. Aufl., S. 212 f.; Günther Küchenhoff, Großraumgedanke und völkische Idee im Recht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 12 (1944), S. 34–82, hier S. 51 (Frank); Ute Frevert, Glaube, Liebe, Hass. Die nationalsozialistische Politik der Gefühle, in: Winfried Nerdinger (Hg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 482–489. 55 Hüttemann, Gotteslästerung, S. 65; Günther Kesel, Die Religionsdelikte und ihre Behandlung im künftigen Strafrecht, Diss. München 1968, S. 24 f., 180.
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konservativ-christlicher Seite immer wieder Versuche unternommen wurden, die Karten neu zu mischen. 1986 legte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß dem Bundesrat einen Gesetzentwurf vor, der die einschränkende Bedingung der Friedensstörung aufhob. Sein Nachfolger Edmund Stoiber wiederholte diesen Antrag zwölf Jahre später. 2000 lag dem Bundestag ein Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vor, der das gleiche Ansinnen verfolgte und die »religiösen Gefühle« vornehmlich christlicher Bürger vor »gröbsten Verletzungen« zu schützen suchte. Schutzgut solle nicht mehr der öffentliche Friede sein, »sondern die Achtung des religiösen und weltanschaulichen Toleranzgebotes. Mittelbar wird hierdurch auch das religiöse Empfinden geschützt«, das sich wegen seiner Subjektivität nicht als direkter »Zweck« der Strafrechtsnorm eigne. 56 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums brachte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 1995 einen Gesetzesantrag im Bundestag ein, den § 166 ersatzlos zu streichen. Aus ihrer Sicht war er überflüssig und in der Sache anderweitig abgedeckt. 57 * *
*
Postskriptum I: Es ist eine offene (und spannende) Frage, ob und wie sich der seither eingetretene Wandel der politischen und kulturellen Szenerie im Strafrecht niederschlagen wird. Die Formel von den verletzten oder gekränkten religiösen Gefühlen wird neuerdings vor allem von muslimischen Bürgern und Bürgerinnen gebraucht. Es wäre denkbar, die bislang vorzugsweise von katholischen Kreisen und der CDU/CSU erhobenen Forderungen nach einem veritablen Religionsschutz aufzugreifen und gemeinsam initiativ zu werden. Andererseits haben konservative Juristen bereits Widerstandslinien eingezogen. Der einflussreiche katholische Staatsrechtler Josef Isensee etwa geht angesichts der »besonderen Empfindlichkeit« des Islam merklich auf Distanz zu solchen 56
Jochen Müller, Religion und Strafrecht, Berlin 2008, S. 91 f.; Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/4558 v. 7. 11. 2000, Zitate S. 3 f. 57 Müller, S. 92 f.
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Forderungen. Weder stehe die Religion unter staatlichem Schutz noch konstituierten Gefühle ein »allgemeines Gesetz«. Die Bundesrepublik Deutschland sei ein Rechtsstaat, der den Grundrechten höchsten Wert zumesse, aber keinesfalls »die Subjektivität als solche zu schützen« vermöge. 58 Postskriptum II: Es wäre reizvoll, die hier knapp skizzierte Geschichte des Rechtsschutzes religiöser Gefühle im 19. und 20. Jahrhundert als ›Rechtsgeschichte in der Erweiterung‹ zu schreiben und sie mit kulturellen Entwicklungen kurzzuschließen. Wie verhält sich die ›rationalistische‹ Deutung der Blasphemie im späten 18. Jahrhundert zur zeitgleichen Ära der Empfindsamkeit? Wie wirkte sich die Lehre des einflussreichen protestantischen Theologen Friedrich Schleiermacher, der religiöse Erfahrung um 1800 eng an Sinne und Gefühle gebunden sah, auf die juristischen Interpretationen von Religionsvergehen aus? Immerhin waren preußische Juristen in der Regel protestantischen Glaubens und gerade Friedrich Carl von Savigny, der religiöse Gefühle in die rechtspolitische Diskussion einführte, war mit Schleiermacher gut befreundet. Wie passte, mit einem beherzten Sprung ins 20. Jahrhundert, die Betonung religiöser ›Empfindungen‹ in den 1920er Jahren zum RationalisierungsHype jener Zeit? Und welche Verbindungen gab es zwischen den Therapeutisierungsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, die weit in das kirchliche Umfeld hineinreichten, 59 und der rechtspolitischen Debatte, die zunächst auf Distanz zum religiösen Gefühlsschutz ging, sich dann aber, zumindest in Teilen, den aus der therapeutischen Logik folgenden Opfer-Narrativen öffnete: You hurt my feelings?
58
Josef Isensee, Blasphemie im Koordinatensystem des säkularen Staates, in: ders., Religionsbeschimpfung, Berlin 2007, S. 105–139, hier S. 117 f. 59 Benjamin Ziemann, The Gospel of Psychology: Therapeutic Concepts and the Scientification of Pastoral Care in the West German Catholic Church, 1950– 1980, in: Central European History 39 (2006), S. 79–106; Sabine Maasen u. a. (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den ›langen‹ Siebzigern, Bielefeld 2011.
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Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
1.
Einleitung: ein umstrittenes Urteil
Vor einigen Jahren konnte man in der Tagespresse lesen, dass ein Leipziger sich in 16 Fällen von Inzest mit seiner leiblichen Schwester strafbar gemacht hatte. Nach Angaben seines Anwalts hatte er seit 2002 mehr als drei Jahre in Haft verbracht. Die Strafnorm, aufgrund derer er immer wieder aufs Neue verurteilt worden war, ist der – u. a. wegen der Seltenheit seiner Verletzung – in der Öffentlichkeit wenig bekannte Abs. 2 und 3 des § 173 StGB: (2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. [Z. B. durch Adoption durch andere.] Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen. (3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.
Der junge Mann lebte mit seiner Schwester, die getrennt von ihm aufgewachsen war, in eheähnlicher Gemeinschaft zusammen und hatte zusammen mit ihr mehrere Kinder. Eine von seinem Anwalt angestrengte Verfassungsbeschwerde gegen die Strafnorm beim Bundesverfassungsgericht wurde von diesem mit Beschluss vom 26. 2. 2008 abgelehnt. Der zuständige Senat kann zu der Auffassung, dass die Strafnorm mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings fiel dieser Beschluss nicht einstimmig aus. Der dem zuständigen Senat angehörende Frankfurter Rechtsprofessor Wil348 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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fried Hassemer erläuterte in einem umfangreichen Sondervotum, warum er der gegenteiligen Ansicht war. Hassemer war zu diesem Zeitpunkt Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Der Anwalt klagte daraufhin vor dem Straßburger Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf Unvereinbarkeit der Strafnorm mit dem Menschenrecht auf Privatsphäre. Diese Klage wurde abgewiesen. Auch die Berufung hatte keinen Erfolg. Dennoch war die Klage in gewisser Weise ein Erfolg, nämlich insofern sie den Deutschen Ethikrat im Jahr 2014 dazu veranlasste, in einer Stellungnahme die Straflosigkeit des Inzests unter erwachsenen Geschwistern zu fordern. Nur 9 der 26 Mitglieder vertraten eine abweichende Meinung. Diese Forderung traf in der Politik allerdings nahezu durchweg auf empörte Ablehnung. Die Frage, die sich angesichts des Leipziger Falls für den Rechtsphilosophen stellt, ist die nach der Legitimität des strafrechtlichen Verbots des Geschwisterinzests bei Volljährigen unter rechtsethischen Aspekten: Sind die Gründe, mit denen die Bestrafung bzw. Strafandrohung gerechtfertigt wird, tragfähig? Wie weit ist eine Rechtfertigung der Strafnorm mit Bezug auf moralische Emotionen wie Empörung und Entrüstung zulässig? 2.
Die besondere Begründungsbedürftigkeit strafrechtlicher Verbote
Strafrechtliche Verbote werfen weitergehende rechtsethische Fragen auf als andere Formen rechtlicher Regulierung und stehen unter einem weitergehenden Begründungsdruck. Es ist leicht zu sehen, warum das so ist: Strafrechtliche Sanktionen sind besonders schwerwiegende Eingriffe des Staates in die persönliche Freiheit, aus mehreren Gründen. Erstens stellen strafrechtliche Sanktionen für den Straftäter in der Regel ein empfindliches Übel dar. Ohne den Übelcharakter der Strafsanktion ginge die Strafdrohung ins Leere und verfehlte ihre verhaltenssteuernde Funktion. Der Sinn der Strafe liegt wesentlich darin, bestimmte schwerwiegende Verletzungen an349 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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erkannter Rechtsgüter mit einem für den Täter spürbaren Risiko zu belegen. Ohne die Androhung und den Vollzug der Übelzufügung bestünde dieses Risiko nicht. Zweitens ist eine Strafe in der Regel mit einem moralischen Tadel verbunden, und zwar sowohl auf der Seite der die Strafe androhenden Rechtsinstitutionen als auch auf der Seite der Gesellschaft insgesamt. Strafrechtliche Normen enthalten einen Unrechtsvorwurf und unterscheiden sich dadurch von anderweitigen rechtlichen Normen zur Ordnung der Lebensverhältnisse und Umgangsformen einer Gesellschaft. Die Drohung, die von strafrechtlichen Normen ausgeht, ist nicht nur die Drohung mit der Zufügung eines empfindlichen Übels, sondern zugleich auch die mit der Beeinträchtigung der Selbstachtung des Straftäters. Drittens handelt es sich bei dem in der Bestrafung enthaltenen Tadel – anders als bei der überwiegenden Zahl moralischer Interaktionen – um einen öffentlichen Akt. Vermittelt durch die Institutionen des Strafrechts spricht die Gesellschaft als Ganze ein Unrechtsurteil über den Straftäter. Insofern bedrohen strafrechtliche Sanktionen nicht nur die Selbstachtung, sondern auch die Reputation des Straftäters. Zusammengenommen laufen diese Faktoren auf eine empfindliche Verletzung von weithin anerkannten Rechtsgütern hinaus. Dabei ist nicht nur an die Beschränkung der auch verfassungsrechtlich geschützten Handlungsfreiheit zu denken, sondern auch an die Verletzung der Selbstachtung, einem u. a. von John Rawls (1975) in die Liste der Grundgüter aufgenommenen und von Avishai Margalit (1997) sogar zum zentralen Gehalt des Menschenwürdeprinzips erklärten Grundgut. Die Beschränkung dieser Rechtsgüter durch strafrechtliche Normen ist in der Regel sehr viel einschneidender als im Fall nicht-strafrechtlicher, etwa ziviloder verwaltungsrechtlicher Normen. Aus diesen Gründen sind an die Rechtfertigung strafrechtlicher Normen deutlich höhere Anforderungen zu stellen als an die Rechtfertigung anderweitiger Rechtsnormen – Anforderungen, die zumindest in Rechtsstaaten weithin anerkannt sind. Danach kann die Androhung und Verhängung staatlicher Strafen 350 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
immer nur dann zu Recht bestehen, wenn drei Bedingungen zusammen erfüllt sind: 1. wenn dadurch anerkannt wichtige individuelle und gesellschaftliche Rechtsgüter geschützt werden; 2. wenn die verhängten bzw. angedrohten Strafen angesichts der Schwere des sanktionierten Fehlverhaltens und des durch sie bewirkten Rechtsgüterschutzes angemessen und verhältnismäßig sind; 3. wenn die Verhängung und Androhung von Strafen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Schutz dieser Rechtsgüter beiträgt. Die erste und die zweite Bedingung entsprechen den herkömmlich in der Rechtsphilosophie formulierten Grundsätzen der Gerechtigkeit einer strafrechtlichen Norm, die dritte dem herkömmlich dem Grundsatz der Gerechtigkeit an die Seite gestellten Grundsatz der Zweckmäßigkeit (vgl. z. B. Henkel 1977, 391 ff.). Nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit kann eine Strafnorm nur dann legitim sein, wenn sie ein anerkanntes Rechtsgut schützt und wenn die von ihr vorgesehene Strafsanktion in Bezug auf den Rang dieses Rechtsguts verhältnismäßig ist. Nach dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit muss eine Strafnorm eine Aussicht haben, das betreffende Rechtsgut zu schützen, indem sie Menschen von ihrer Verletzung abhält. Sie läuft ins Leere, solange sie lediglich einem abstrakten Vergeltungsprinzip genügt. Aus den genannten drei Bedingungen ergeben sich eine Reihe von Kriterien für die Strafgesetzgebung: 1. Aus der Bedingung der Anerkanntheit der zu schützenden Rechtsgüter folgt, dass die Gründe für die Strafbarkeit des mit Strafe bedrohten Verhaltens intersubjektiv plausible Gründe sein müssen, d. h. solche, die eine Chance haben, von nahezu allen Normunterworfenen akzeptiert zu werden. Diese Gründe dürfen sich nicht auf Autoritäten, Traditionen oder metaphysische oder religiöse Prämissen berufen, die nur für eine Minderheit der Normunterworfenen glaubwürdig sind. 2. Es muss nachvollziehbar begründet werden können, dass die strafrechtlichen Sanktionen angesichts der Schwere des sank351 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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tionierten Fehlverhaltens angemessen und verhältnismäßig sind. 3. Strafbar kann nur ein Verhalten sein, das anerkanntermaßen dem Gemeinwohl zuwiderläuft. Es muss über jeden vernünftigen Zweifel klar sein, dass das mit Strafe bedrohte Verhalten intolerabel und mit einem geordneten gesellschaftlichen Zusammenleben unvereinbar ist. 4. In ihren empirischen Grundlagen müssen sie elementaren Anforderungen an Validität genügen. In die Festlegung der Strafbarkeit, der Strafart und des Strafmaßes dürfen keine empirischen Fehlbeurteilungen oder bloße Spekulationen eingehen, etwa hinsichtlich ihrer generalpräventiven Wirksamkeit. 5. Die strafrechtlichen Sanktionen müssen alternativlos sein. Die Funktion des Strafrechts ist subsidiär. Es muss nachvollziehbar begründet werden können, dass weniger einschneidende Mittel mit derselben präventiven Wirkung nicht verfügbar sind. Strafrechtliche Normen gelten nach dieser – seit der Aufklärung in allen Rechtsstaaten anerkannten – Auffassung als eine ultima ratio, die nur dann zum Zuge kommen darf, wenn sich »mildere« rechtliche Instrumente der Verhaltenssteuerung als nicht oder nur unzureichend wirksam erweisen. Das sind hohe Hürden für eine Legitimation staatlichen Strafens. Für die Rechtsethik stellt sich damit die Frage, welche Arten von Verhalten geeignet sind, die genannten Kriterien zu erfüllen. 3.
Rechtsethische Strategien der Rechtfertigung strafrechtlicher Sanktionen
Darüber, welche Verhaltensweisen den genannten Kriterien genügen und welche Rechtsgüter hinreichend hochrangig und welche ihrer Verletzungen hinreichend gravierend sind, um strafrechtliche Sanktionen zu rechtfertigen, besteht in der Rechtsethik, wie nicht anders zu erwarten, kein vollständiges Einverständnis. Um sich ein Bild von der Vielfalt konkurrierender rechtsethischer Ansätze zu machen, seien im Folgenden sechs Begründungsstrategien unterschieden. Die Liste ist dabei so zu verstehen, dass die jeweils 352 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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nachfolgende Rechtfertigung alle vorangehenden inkludiert, so dass die erste die Legitimität von Strafsanktionen am engsten und die letzte am weitesten fasst: 1. Fremdschädigung und -gefährdung 2. Anstößigkeit öffentlichen Verhaltens 3. Anstößigkeit privaten Verhaltens 4. Verstoß gegen kulturelle Normen 5. Verstoß gegen moralische Prinzipien 6. Selbstschädigendes Verhalten Der Theorieansatz, der die Legitimationsbedingungen für strafrechtliche Sanktionen am engsten fasst, erkennt zur Begründung strafrechtlicher Sanktionen ausschließlich Fremdschädigungen und Fremdgefährdungen an. Er beschränkt das Strafrecht auf die Ahndung von Schädigungen und Gefährdungen anderer an anerkannten Rechtsgütern wie Leben, körperlicher Unversehrtheit, Freiheit, Eigentum und gutem Ruf. Gelegentlich – etwa in Kants Rechtsphilosophie – ist diese Position so formuliert worden, dass strafrechtliche Sanktionen nur für Beeinträchtigungen der Freiheit anderer legitim sein sollen. Beschränkungen der Freiheit des Einzelnen sind danach nur so weit legitim, als deren Ausübung mit der Freiheit anderer in Konflikt kommt. Allerdings hat Kant nicht gezögert, Strafsanktionen auch bei anderen Rechtsverletzungen für legitim zu halten, die andere schädigen, ohne wortwörtlich deren Freiheit einzuschränken, etwa Eigentumsdelikte. Diese Position kann als extremer strafrechtlicher Liberalismus bezeichnet werden. Was die Position zu einer extremen macht, ist, dass sie das Rechtsgut des Schutzes vor Schädigungen und Gefährdungen, das harm principle, zum alleinigen Rechtfertigungsprinzip staatlichen Strafens macht. Damit lässt sie eine weitere Klasse von Verhaltensweisen unberücksichtigt, auf die nahezu alle – einschließlich dezidiert liberaler Rechtsethiker – die Legitimität von Strafsanktionen ausdehnen, nämlich auf im öffentlichen Raum stattfindende und bei anderen schweren Anstoß erregende Verhaltensweisen. Die zweite Position erkennt Anstößigkeit zusätzlich zur Fremdschädigung als strafbegründend an, etwa bei Verhaltens353 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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weisen, die allgemein als krass moralwidrig, ekelhaft oder obszön empfunden werden. Ein offence principle tritt dem harm principle an die Seite. Angesichts dieser weithin geteilten Inklusion kann man diese Position als klassischer strafrechtlicher Liberalismus bezeichnen. Ein solcher Liberalismus wird etwa von dem bekannten amerikanischen Rechtsphilosophen Joel Feinberg (1985) vertreten. Die dritte, bereits zu den kontroversen Positionen gehörende Auffassung geht über die klassisch-liberale Position hinaus, indem sie die Anwendung und Androhung strafrechtlicher Sanktionen auch bei sogenannten »bare-knowledge offences« für rechtfertigbar hält, d. h. bei Verhaltensweisen, die allgemein gravierenden Anstoß erregen, aber nicht in der Öffentlichkeit begangen werden. Diese Position hält eine Bestrafung auch dann für zulässig, wenn das bloße Wissen, dass bestimmte andere etwas Obszönes, Schreckliches oder moralisch Verwerfliches tun, hinreicht, um Emotionen der Irritation, des Abscheus und/oder der Empörung hervorzurufen. Diese Position kann man als utilitaristisch-liberale strafrechtliche Position bezeichnen, insofern es für den Utilitarismus charakteristisch ist, bei der Beurteilung von Handlungen ausschließlich die psychische Betroffenheit anderer (sekundär auch die des jeweiligen Akteurs) zu berücksichtigen. Schädigungen an äußeren Gütern wie an Leben, Gesundheit oder Eigentum werden dabei jeweils danach gewichtet, wie weit sie sich auf die betroffenen Individuen als innere Verletzungen oder Belastungen auswirken. Die Benennung dieser Position als »utilitaristisch« wird u. a. durch die Tatsache nahegelegt, dass der Utilitarist John Stuart Mill in einem der Grundtexte des Liberalismus, in Über die Freiheit, die Option der Sanktionierbarkeit privater Anstößigkeiten offen gelassen hat: Jede Handlung, gleich welcher Art, die ohne gerechten Anlass anderen Schaden zufügt, soll und muss man in wichtigeren Fällen unbedingt durch Missfallensäußerungen, notfalls durch energisches Eingreifen zügeln. Insofern muss man die Freiheit des Einzelnen beschränken, er darf sich nicht zu einer Belästigung [nuisance] für andere entwickeln. (Mill 2009, 159 f.) 1 1
An anderer Stelle spricht Mill allerdings nur von öffentlich begangenen Anstö-
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Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
In diesem Zitat ist der letzte Halbsatz offensichtlich nicht eindeutig. Er kann so verstanden werden, dass eine »Belästigung«, die eine strafrechtliche Sanktion legitimiert, auch dann vorliegen kann, wenn sie nur im privaten Raum stattfindet und bereits als solche als hinreichend anstößig empfunden wird. Für den Vertreter dieser Position wird es demnach zwar hinsichtlich der Strafbarkeit nicht gänzlich gleichgültig sein, ob ein bestimmtes anstößiges Verhalten in der Öffentlichkeit oder im privaten Bereich stattfindet. Aber anders als der klassische Strafrechtsliberale wird er im Prinzip bereit sein, auch privatim begangene Abscheulichkeiten Strafsanktionen zu unterwerfen, sofern die von ihnen ausgehenden Anstößigkeitsempfindungen hinreichend schwerwiegend und stabil sind. Die weitergehenden Positionen 4, 5 und 6 sind alle drei umstrittener als die vorgenannten. Am häufigsten von diesen wird die Position des strafrechtlichen Rechtsmoralismus vertreten, dessen bekannteste Formulierung von dem englischen Richter Lord Devlin stammt: The suppression of vice is as much the law’s business as the suppression of subversive activities. (Devlin 1965, 13 f.)
Der eingebürgerte Ausdruck »Rechtsmoralismus« ist leider irreführend. Selbstverständlich ist auch für die Vertreter des harm und des offence principle die strafrechtliche Sanktionierung von Schädigungen und Anstößigkeiten moralisch begründet. Das Proprium des Rechtsmoralismus besteht darin, dass er es erlaubt, moralwidriges Verhalten auch dann mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen, wenn sich dieses weder schädigend oder gefährdend auf andere auswirkt noch bei anderen Anstoß erregt. Zweck des Strafrechts ist danach u. a. auch die Bekämpfung von Unmoral als solcher. »Moral« und »moralisch« werden dabei in einem ßigkeiten: »Andererseits gibt es viele Handlungen, die nur für den Handelnden selbst schädlich sind und deshalb nicht gesetzlich untersagt zu werden brauchen, die aber, in aller Öffentlichkeit begangen, eine Beleidigung der guten Sitten bedeuten und die man, da sie unter die Verstöße gegen andere fallen, rechtmäßig verbieten sollte. Hierzu gehören auch Vergehen gegen die Schicklichkeit …« (Mill 2009, 279).
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Sinne verstanden, in dem moralische Forderungen charakteristischerweise mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben werden, also im Sinne eines universalistischen Moralbegriffs. Bei Delikten, die moralischen Anstoß erregen, überschneiden sich die Begründungen des Rechtsmoralismus und des utilitaristischen offence principle, weswegen es nicht unwichtig ist, beide Prinzipien zu unterscheiden. Beide betreffen unterschiedliche Aspekte ein und derselben Emotion. Entscheidend für das erweiterte Anstößigkeitsprinzip ist, dass die überwiegende Mehrzahl der Bürger auf ein bestimmtes Verhalten, auch wenn sie mit ihm nicht wahrnehmbar konfrontiert wird, mit intensiver und stabiler Abscheu reagiert. Akzeptiert man das offence principle, ist es danach für ein strafrechtliches Verbot hinreichend, dass das betreffende Verhalten regelmäßig das aufweist, was in der amerikanischen Diskussion »Yuk-Faktor« genannt wird: das spontane »Igitt« einer Ekelreaktion. Dabei ist gleichgültig, ob die Gründe oder Motive für diese Abscheu moralischer Natur sind. Die Motive können auch ästhetischer oder unklarer, diffuser und nicht eindeutig zuzuordnender Natur sein. Entscheidend für den Rechtsmoralismus ist dagegen, dass ein Verhalten gegen von der Gesellschaft überwiegend vertretene moralische Prinzipien verstößt, unabhängig davon, ob es intensive moralische Empörungsgefühle auslöst. Vom strafrechtlichen Rechtsmoralismus zu unterscheiden ist die Begründung von strafrechtlichen Normen mit Bezug auf kulturelle Normen, etwa solcher religiöser, weltanschaulicher oder konventioneller Art. Zwar verstehen sich die Vertreter dieser Position zumeist als Rechtsmoralisten, d. h. für sie liegt die Begründung der Strafbarkeit in der Moralwidrigkeit des inkriminierten Verhaltens. Aber anders als Rechtsmoralisten im engeren Sinne berufen sie sich dabei auf Normen, die lediglich für eine begrenzte moralische Gemeinschaft (eine Nation, Kultur oder religiöse Gemeinschaft) Geltung beanspruchen. Ihnen geht es darum, bestimmten partikulären, auf eine spezifische Gemeinschaft beschränkten Normen Geltung zu verschaffen und dadurch die moralische Identität dieser Gemeinschaft zu bekräftigen oder zu stärken. 356 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
Lord Devlin, der in seinem Buch The enforcement of morals (Devlin 1965) mit großer Eloquenz für die Rechtmäßigkeit der strafrechtlichen Durchsetzung moralischer Normen eintrat und seinen liberalen Gegner H. L. A. Hart damit zu einer vielgelesenen Replik inspirierte (Hart 1963), ist dieser Position zuzuordnen. Laut Devlin ist etwa ein strafrechtlicher Schutz der Einehe zwar legitim, aber nicht schlechthin, sondern nur in Ländern, in denen die Einehe der kulturellen Norm entspricht – anders als in Ländern anderer Kulturkreise, in denen die Polygamie traditionell etabliert ist. Als die am weitesten gehende rechtsethische Position zur Strafbegründung kann der strafrechtliche Rechtspaternalismus gelten, der Sanktionen auch bei Selbstschädigungen und Selbstgefährdungen für berechtigt hält, etwa bei Selbsttötung, Selbstverstümmelung oder Schädigung der eigenen Gesundheit. Es hat sich eingebürgert, den strafrechtlichen Rechtspaternalismus zu unterteilen in einen indirekten und einen direkten strafrechtlichen Rechtspaternalismus (vgl. Kleinig 1983, 11). Der indirekte Rechtspaternalismus hält eine Bestrafung lediglich bei einem anderen als dem, der durch die Strafdrohung vor Selbstbeschädigung geschützt werden soll, für legitim, der direkte Rechtspaternalismus zusätzlich auch bei dem vor Selbstschädigung zu Schützenden selbst. Dem indirekten Rechtspaternalismus entspricht das strafrechtliche Verbot des Drogenhandels, dem direkten Rechtspaternalismus würde ein strafrechtliches Verbot des Drogenbesitzes entsprechen. 4.
Moralische Anstößigkeit als Strafgrund
Strafbegründungen, die sich auf moralische Anstößigkeitsgefühle berufen, lassen sich, wie wir gesehen haben, mehreren der unterschiedenen Kategorien zuordnen, jeweils in Abhängigkeit davon, in welchen Merkmalen dieser Gefühle der Grund für die Strafwürdigkeit des anstößigen Verhaltens gesehen wird. Wird dieser primär in der Häufigkeit und Intensität dieser Gefühle gesehen, liegt eine utilitaristisch-liberale Position vor; wird dieser primär in 357 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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der inhaltlichen Seite dieser Gefühle gesehen, liegt eine der Positionen 4 und 5 vor, je nachdem, ob das der subjektiv als »moralisch« verstandenen Emotion zugrunde liegende Urteil Allgemeingültigkeit beansprucht oder nicht. Nehmen wir an, bei der als Strafgrund angeführten Anstößigkeit handelt es sich lediglich um eine kulturelle Norm, etwa um das Verbot von erotischen Handlungen von männlichen Homosexuellen in der Öffentlichkeit. Ist es legitim, ein solches Verbot mit Strafsanktionen zu bewehren? Zweifellos hat jede Gesellschaft ein Interesse an der Wahrung ihrer unverwechselbaren Identität und an der Erhaltung und Pflege der für sie eigentümlichen und als Bezugspunkt innergesellschaftlicher Kommunikation dienenden Traditionen. Fraglich ist jedoch, ob dieses Interesse gravierend genug ist, um die erheblichen Freiheitsbeschränkungen zu rechtfertigen, die strafrechtliche Normen für diejenigen, die ihnen zuwiderhandeln, mit sich bringen. Unabhängig davon kann man bereits das Ziel der Identitätswahrung als solches in Frage stellen. Ob eine gegebene Identität mit rechtlichen Mitteln zu wahren ist, hängt u. a. von der moralischen Qualität dieser Identität ab. Die Konservierung bestehender gesellschaftlicher Denk- und Deutungsmuster ist kein Selbstzweck. Sie bedarf ihrerseits einer moralischen Rechtfertigung. Die tradierten »Sitten« lassen sich ja nicht durchweg »sittlich« – im Sinne von moralisch – rechtfertigen. Dass Väter und Großväter in der Schule geprügelt worden sind, rechtfertigt nicht die moralische Erlaubtheit der Prügelstrafe, traditionelle Pflichten zur Verstoßung von Ehefrauen oder zum Ehrenmord nicht deren moralische Zulässigkeit. Es ist schwer zu sagen, ob das moralische Verbot des Inzests unter Geschwistern zu den moralischen oder den kulturellen Normen gehört. Anzunehmen ist, dass diejenigen, die es vertreten, diese Norm mit Allgemeingültigkeitsanspruch ausstatten, so dass für sie gleichgültig ist, ob das inkriminierte Verhalten im eigenen Kulturkreis oder anderswo auftritt. Das wäre womöglich anders, wenn dieses Verhalten in einigen Kulturen nicht nur akzeptiert, sondern auch in nennenswertem Umfang praktiziert würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Das biologisch verankerte Inzesttabu 358 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
sorgt dafür, dass sich das Vorkommen dieses Verhaltens in engen Grenzen hält und nur unter Ausnahmebedingungen wie der getrennten Aufzucht und dem späteren erneuten Zusammentreffen von Geschwistern auftritt. Würde die Tatsache, dass das Verbot des Geschwisterinzests als Allgemeingültigkeit beanspruchendes moralisches Verbot zu verstehen ist, etwas an der rechtsethischen Problematik der Begründbarkeit der Strafsanktion durch moralische Anstößigkeitsgefühle ändern? Auch hier sind Zweifel angebracht. Die Moral ist für sich genommen »zahnlos«. Die ihr zu Gebote stehenden Sanktionen sind in vielen Fällen – angesichts der Übermacht schlechter Gewohnheiten und moralwidriger Interessen – zur Wirkungslosigkeit verdammt. Insofern ist die Chance, moralische Überzeugungen mit Rechtsnormen durchzusetzen, für jeden, der es mit der Moral ernst meint, eine Versuchung. Allerdings ist es eine Sache, Moral mit Rechtsnormen, eine andere, Moral mit Strafrechtsnormen durchzusetzen. Und es ist eine Sache, Moral mit Strafrechtsnormen da durchzusetzen, wo es gilt, Übergriffe auf andere zu verhindern, und eine andere, Moral mit Strafrechtsnormen auch da durchzusetzen, wo es gilt, privatim geübte Unmoral zu unterbinden. Was den strafrechtlichen Rechtsmoralismus für den liberalen Rechtsethiker zu einer Herausforderung macht, ist nicht, dass er die freiheitsbeschränkenden Wirkungen strafrechtlicher Verbote in Kauf nimmt, um Übergriffe in die Rechtssphären anderer zu vermeiden. Was diese betrifft, ist er weitgehend einverstanden. Was den liberalen Rechtsethiker irritiert, ist, dass der Rechtsmoralist bereit ist, das Strafrecht zur Sanktionierung von Verhaltensweisen einzusetzen, von dem andere nicht oder nur geringfügig betroffen sind, und zwar nicht aus dem (extrinsischen) Grund, dass sie bei anderen Anstoß erregen, sondern intrinsisch um ihrer Moralwidrigkeit willen. Der Haupteinwand gegen den strafrechtlichen Rechtsmoralismus ist, dass auch eine allgemeine oder überwiegende moralische Ablehnung eines Verhaltens kein hinreichender Grund scheint, das betreffende Verhalten unter Strafe zu stellen, sofern von diesem Verhalten auf andere keine anderen als »morality-dependent harms« (Honderich 1982) ausgehen. Auch dann, wenn unsere 359 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Dieter Birnbacher
Gesellschaft überwiegend der Auffassung wäre, dass Homosexualität unter Erwachsenen moralwidrig ist, wäre das kein Legitimationsgrund für ein strafrechtliches Verbot. Die massiven Einschränkungen der persönlichen Handlungsfreiheit und Lebensplanung, die Strafdrohungen implizieren, bedürfen einer weitergehenden und stärkeren Begründung. Dies gilt besonders dann, wenn das Strafrecht wie im Bereich der Homosexualität in den Intimbereich eingreift, aus dem sich der Staat schon aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre heraushalten muss. Analoges muss auch für den Geschwisterinzest gelten. Eine weitere Schwierigkeit des Rechtsmoralismus ist pragmatischer Natur: Der strafrechtliche Rechtsmoralismus ist charakteristisch für geschlossene und traditionale Gesellschaften mit einem allseits geteilten moralischen Kodex. Je wertpluralistischer eine Gesellschaft ist, desto mehr büßt der Rechtsmoralismus seine Grundlage ein. Mit zunehmendem Wertpluralismus wird es stets unwahrscheinlicher, dass sich ein verbindlicher Maßstab findet, nach dem sich die Richtigkeit und Angemessenheit der individuellen Lebensführung bemisst. Die Gesellschaft und ihre Institutionen können sich zur Regulierung der privaten Lebensverhältnisse auf keinen übergreifenden Konsens mehr berufen. Umso geringer sind die Chancen für den strafrechtlichen Rechtsmoralismus, strafrechtliche Normen mit Berufung auf überwiegend geteilte moralische Überzeugungen zu legitimieren. Als Einfallstor für den Rechtsmoralismus, d. h. die Rechtfertigung von Freiheitsbeschränkungen aufgrund moralischer Missbilligung ohne den Nachweis einer Schädigung oder Gefährdung anderer oder der Allgemeinheit, dient der Gesetzgebung seit langem insbesondere das Prinzip der Achtung der Menschenwürde. Bis heute wird die Menschenwürde gerade dann bemüht, wenn es darum geht, Verhaltensweisen mit einem Verbot zu belegen, für die unklar ist, ob sie Fremdgefährdungen beinhalten, die so schwerwiegend sind, dass sie die durch das Verbot bewirkte Freiheitsbeschränkung rechtfertigen. Beispiele finden sich vor allem im Bereich der Bioethik, etwa im Fall der Eizellenspende oder der Leihmutterschaft. Jedes Mal steht das Verdikt der Menschenwürdewidrigkeit lapidar, wie in Stein gemeißelt da, ohne dass die 360 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
beanspruchte Legitimität eines schädigungsunabhängigen strafrechtlichen Verbots näher erklärt würde. Auf diese Weise übernimmt das Menschenwürdeprinzip in der Tat die Rolle, die ihm die Kritiker dieses Prinzips vorhalten, nämlich zu einem »Vehikel einer moralischen Entscheidung über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit möglicher Formen der Einschränkung individueller Selbstbestimmung« zu werden (vgl. Hoerster 1983, 96). Treffende Beispiel dafür, wiederum aus dem Bereich der Reproduktionsmedizin, bietet die deutsche rechtspolitische Debatte um die künstliche Insemination in den 1950er und 1960er Jahren. Einzelne Diskutanten schlossen hier ohne viel Federlesens von der Moralwidrigkeit auf die Menschenwürdewidrigkeit, vor allem mit dem Ziel, das von ihnen für moralwidrig Gehaltene ohne ein ausdrückliches Bekenntnis zum Rechtsmoralismus unter Strafe stellen zu können. So argumentierte etwa der damalige Senatspräsident beim Bundesverfassungsgericht Wilhelm Geiger: Die Frau, die sich zur künstlichen Befruchtung entschließt, und der Mann, der bereit ist, Samen für eine künstliche Befruchtung zu produzieren, setzen sich […] in Widerspruch mit dem sittlich Gebotenen, handeln dem, was die Menschenwürde verlangt, zuwider. (Geiger 1960, 41; vgl. Brockhage 2007, 25)
Die Konsequenz ist klar: Was die Menschenwürde und damit den obersten Wert der Verfassung verletzt, darf nicht nur, es muss unter Strafe gestellt werden. Dass die Hilfskonstruktion des Menschenwürdeschutzes zur Legitimation strafrechtlicher Normen im Übrigen auch heute noch beliebt ist, zeigt die Passage des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD vom November 2013, in der das Weiterbestehen der Strafbarkeit der Leihmutterschaft als gemeinsames Ziel festgehalten wird. Die Begründung lautet hier schlicht, dass sie mit der Menschenwürde nicht vereinbar sei. Was den Geschwisterinzest betrifft, so ist zweifelhaft, ob selbst der Rechtsmoralist dessen Strafbarkeit mit einiger Sicherheit begründen könnte. Denn für die Strafbarkeit eines Verhaltens sollte man fordern, dass dessen moralische Verurteilung von einer deutlichen Mehrheit der Gesellschaft geteilt wird. Dies scheint aber 361 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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beim Geschwisterinzest nicht der Fall zu sein. Leider existieren nur wenige Umfragen, die etwas darüber aussagen können, wie groß der Anteil der Deutschen ist, die den Geschwisterinzest unter einwilligenden Erwachsenen als anstößig empfinden. Auf der Grundlage der online verfügbaren Umfrageergebnisse kann man davon ausgehen, dass die Befürworter eines Verbots in Deutschland in der Mehrheit sind, diese Mehrheit aber nicht überwältigend ist. Nach einer Umfrage des Spiegel von 2007 befürworten 76 % der Deutschen (78 % im Westen und 68 % im Osten) das Inzestverbot. Eine nach Bekanntwerden von Plänen, das Inzestverbot unter Erwachsenen in der Schweiz aufzuheben, von der Basler Zeitung im Dezember 2012 gestartete Umfrage zeigte ähnliche Ergebnisse. Die Frage »Soll der einvernehmliche Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten in der Schweiz legalisiert werden?« wurde von 60 % der 2284 Befragten mit Nein, von 40 % mit Ja beantwortet. 2 5.
Klassisches oder utilitaristisches offence principle?
Damit sind wir bei den Anstößigkeitsprinzipien angelangt, die auf der Grenze liegen zwischen den weitgehend unkontroversen Begründungsstrategien (wie dem Prinzip der Fremdschädigung) und den weitgehend kontroversen (wie dem strafrechtlichen Paternalismus, dem Rechtsmoralismus und dem strafrechtlichen Schutz kultureller Normen). Der Hauptstreitpunkt ist hier, ob lediglich die schwächere Anstößigkeitsstrategie zulässig sein sollte, nach der lediglich in der Öffentlichkeit begangene Handlungen strafrechtlich verboten werden dürfen, oder auch die stärkere Anstößigkeitsstrategie, nach der dasselbe auch für privatim begangene Anstoß erregende Handlungen zulässig ist. Zunächst ist festzuhalten, dass das Anstößigkeitsprinzip in sei2
Dieselbe Argumentation spricht m. E. gegen viele der gegenwärtig in Deutschland geltenden strafrechtlichen Verbote in der Reproduktionsmedizin. Für viele dieser Verfahren, etwa die Blastozystenkultivierung, die Eizellenspende und die Gewinnung embryonaler Stammzellen, ist ein ausgeprägter Meinungspluralismus kennzeichnend (vgl. Beck 2006, 341).
362 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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ner schwachen Form nicht nur weithin akzeptiert, sondern auch unmittelbar plausibel ist. Eine in der Öffentlichkeit begangene Handlung, an der alle – möglicherweise bis auf wenige in dieser Hinsicht »Abgehärtete« – Anstoß nehmen, sollte strafrechtlich geahndet werden dürfen. Joel Feinberg gibt in seinem Buch Offense to others eine ganze Reihe ausgesprochen »sprechender« Fallbeschreibungen, die diese Folgerung nahelegen, etwa der Geschlechtsverkehr in einem öffentlichen Bus (Feinberg 1985, 12). Feinberg hält es für vertretbar, dass Verhalten dieses Kalibers zumindest mit Geldstrafen oder Bußgeldern belegt wird. Bestimmte Arten von öffentlich ausgeführten »Gefühlsverletzungen« sind auch nach deutschem Recht strafbar, etwa Verletzungen der auf Leichname gerichteten Pietätsempfindung oder die Beschimpfung von Religionsgemeinschaften. Ein Sonderfall, der ebenfalls im Sinne des Anstößigkeitsprinzips gedeutet werden kann, ist das in Deutschland geltende strafrechtliche Verbot der sogenannten Auschwitz-Lüge (§ 194 StGB). Ob diese strafrechtlichen Verbote im Einzelfall strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und Alternativlosigkeit genügen, ist umstritten (vgl. Hörnle 2003). Dennoch zeichnet sich nicht nur weltweit, sondern auch in unserem Kulturkreis gegenwärtig eine Tendenz ab, den strafrechtlichen Schutz von Gefühlen bei öffentlich anstößigem Verhalten zu intensivieren. Irland hat zum Jahresbeginn 2010 sein Blasphemie-Gesetz deutlich verschärft. Und noch Mitte Juni forderte der katholische Autor Martin Mosebach in einem Zeitungsartikel, Blasphemie müsse auch in Deutschland wieder bestraft werden (Mosebach 2012). Beispiele für Handlungen, die nicht in der Öffentlichkeit vollzogen werden, sondern »hinter verschlossenen Türen«, aber in Deutschland dennoch mit strafrechtlichen Sanktionen belegt sind, sind schwerer zu finden. Beispiele hierzu finden sich vor allem wieder im Bereich der Reproduktionsmedizin, etwa bei dem Verbot der Blastozystenkultivierung, also der Nicht-Einpflanzung von künstlich erzeugten menschlichen Embryonen, wenn andere Embryonen mit besseren Aussichten auf Ausreifung zur Verfügung stehen. Es empfiehlt sich, das strafrechtliche Verbot des Inzests unter 363 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Erwachsenen nach § 173 StGB ebenfalls in diese Rubrik einzuordnen. Unter den vom Bundesverfassungsgericht für die Verfassungskonformität dieses Paragraphen angeführten Argumenten scheint mir jedenfalls nur das dritte Argument, das sich auf diesen Strafgrund bezieht, eine gewisse Anfangsplausibilität aufzuweisen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Strafbarkeit des Inzests im Sinne des Geschlechtsverkehrs zwischen erwachsenen Geschwistern in seinem Beschluss vom Februar 2008 mit drei Argumenten verteidigt: 1. Das strafrechtliche Verbot »diene der Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen«. 2. Das strafrechtliche Verbot sei »notwendig zu dem in Art. 6 Grundgesetz geforderten Schutz von Ehe und Familie«. … »Sexuellen Beziehungen im engen Familienkreis wohne die Eignung inne, das für den Einzelnen unentrinnbare und auf Dauer angelegte Verhältnis zu den nächsten Verwandten irreversibel zu belasten« (Bundesverfassungsgericht 2008, RN 27). 3. Die angegriffene Strafnorm rechtfertige sich »vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen ist« (Bundesverfassungsgericht 2008, RN 50). Von diesen drei Argumenten kann allenfalls das dritte überzeugen. Eine Schwäche des ersten, eugenischen Arguments ist, dass es allenfalls für Formen von Sexualität zwischen Geschwistern gelten kann, die zur Geburt eines Kindes führen oder dies nicht verhindern (vgl. Hoerster 2012, 117). Es ist nicht geeignet, den Geschlechtsverkehr als solchen als strafwürdig zu begründen. Darüber hinaus hat es die Konsequenz, dass, wenn das Argument gelten würde, alle Formen der Zeugung von Kindern, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit genetisch belastet sind, verboten sein müssten, auch unter anderen Bedingungen als denen des Inzests. Ein derartiges Verbot stellte jedoch einen schwerwiegenden Eingriff in die Intimsphäre dar. Bei dem zweiten Argument ist von vornherein nicht zu sehen, 364 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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wieso es für den Fall des Inzests zwischen erwachsenen Geschwistern relevant sein kann, da diese in der Regel nicht mehr in einem Familienverband mit ihren Eltern leben. Die Geschwister, um die es in dem Leipziger Prozess ging, bildeten ja durchaus eine Familie. Als eine solche sollten sie, statt durch einen Strafprozess auseinandergerissen zu werden, von Art. 6 GG geschützt sein, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt. Diesem Einwand hat das Bundesverfassungsgericht entgegengehalten: Die Strafnorm … gewinnt … ihr Gewicht durch die Absolutheit, mit der sie die umfassende und situationsunabhängige Beachtung einfordert. (Bundesverfassungsgericht 2008, RN 57)
Worauf bezieht sich hier »umfassend«? Zielt das Inzestverbot primär auf minderjährige Geschwister, für die es sehr viel näherliegend ist, dass sie durch einen Inzest geschädigt werden, die man aber wegen ihrer Minderjährigkeit nicht bestrafen kann? Dann müsste gezeigt oder zumindest plausibel gemacht werden, dass sich das Verbot des Inzests unter erwachsenen Geschwistern präventiv auf das Verhalten gegenüber minderjährigen Geschwistern oder Kindern auswirkt. Diesen Nachweis führt das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Offensichtlich schätzt sie die Differenzierungsfähigkeit der Bevölkerung gering ein: Um vom Inzest in den Fällen, in denen er gravierende Schäden verursacht, abzuschrecken, soll er möglichst »umfassend« und unterschiedslos sanktioniert werden. Im Strafrecht ist aber – anders als möglicherweise in anderen Rechtsbereichen – eine derart grobkörnige Normierung hochgradig problematisch, und zwar selbst dann, wenn gezeigt wäre (was nicht der Fall ist, vgl. Wunder 2014, 252), dass eine Bestrafung des Inzests unter erwachsenen Geschwistern vom Inzest in gravierenderen und häufigeren Fällen (wie dem zwischen Erwachsenen und Kindern) abschreckt. Ein anderes als das eigentlich angezielte Verhalten nur deswegen mit Strafe zu bedrohen, weil seine Bestrafung auf das »eigentlich« angezielte Verhalten »ausstrahlt«, wäre auch bei Nachweisbarkeit einer solchen Wirkung mit rechtsstaatlichen Prinzipien schwerlich vereinbar (vgl. Hassemer in Bundesverfassungsgericht 2008, RN 108). 365 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Aber auch der dritte der vom Bundesverfassungsgericht angeführten Gründe erweist sich bei näherem Hinsehen als problematisch. Wörtlich verstanden, scheint das Argument wenig relevant. Gesellschaftliche Überzeugungen über die Strafwürdigkeit bestimmter Handlungen können die Legitimität einer strafrechtlichen Norm für sich genommen nicht begründen. Schließlich findet sich – zumindest im Anschluss an besonderes abscheuliche Verbrechen – hin und wieder auch eine Mehrheit für die Todesstrafe. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts wäre es im Gegensatz zu dem angeführten Grund gewesen, die zitierten Überzeugungen auf dem Hintergrund anerkannter Verfassungsprinzipien kritisch zu prüfen. Allerdings lässt sich die Berufung auf die Kulturgeschichte und verbreitete Überzeugungen über Strafwürdigkeit auch wohlwollender interpretieren, nämlich als ein Argument auf der Linie der Position 4, der Legitimation einer Strafnorm mit Bezug auf kulturelle Normen. Falls diese Legitimation von Strafnormen ihrerseits legitim wäre, stünde der Beschluss des Gerichts auf weniger schwankendem Boden. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte argumentiert in dieser Richtung, wenn er unter Punkt 61 der Urteilsbegründung schreibt: The Court … considers that the instant case concerns a question about the requirements of morals. It follows from the above principles that the domestic authorities enjoy a wide margin of appreciation in determining how to confront incestuous relationships between consenting adults, notwithstanding the fact that this decision concerns an intimate aspect of an individual’s private life.
»Morals« bezieht sich hier auf dieselbe gewachsene Form einer kulturspezifischen Moral, die Lord Devlin in seinem Buch The Enforcement of Morals mithilfe des Strafrechts schützen wollte. Denn darüber, dass sich die moralischen Anschauungen bereits in den Ländern Europas unterscheiden, machte sich der Straßburger Gerichtshof keine Illusionen. Ihm ging es bei seinem Beschluss vielmehr genau darum, der strafrechtlichen Absicherung 366 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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der jeweils regional geltenden Moral durch die Legislative des entsprechenden Landes nicht im Weg zu stehen. Diese Legitimationsstrategie ist allerdings bereits oben als unzulänglich abgewiesen worden. Insofern kann diese Begründung auch in diesem Fall nicht in Frage kommen. Gibt es einen anderen Begründungsweg? Es versteht sich, dass auch das klassisch-liberale offence principle dafür nicht in Frage kommt. Der Inzest vollzieht sich ebenso im Verborgenen wie die vielen Beispiele strafrechtlich verbotenen Verhaltens im Bereich der Reproduktionsmedizin. In Frage kommt jedoch die dritte Begründungsstrategie, die des Schutzes vor der Anstößigkeit nicht-öffentlichen Verhaltens. In der Tat spielt das Bundesverfassungsgericht an mehreren Stellen seines Vereinbarkeitsbeschlusses auf diesen Begründungweg an, ohne ihn jedoch ausdrücklich zu benennen. So hält es dem Einwand, dass wenn der Geschlechtsverkehr zwischen leiblichen Geschwistern strafrechtlich verboten ist, nicht zu sehen sei, warum dann nicht auch der zwischen Stief-, Adoptiv- oder Pflegegeschwistern verboten sei, entgegen, dass entsprechende Handlungen in geringerem Maße dem traditionellen Bild der Familie widersprechen. (Bundesverfassungsgericht 2008, RN 55)
Das Gericht beruft sich hier also auf die Anschauungen Dritter, die durch einen Geschwisterinzest in ihrem »traditionellen Bild der Familie« verunsichert werden. Damit greift es implizit auf die utilitaristische Begründungsstrategie zurück: auf das, was in der rechtsphilosophischen Diskussion »Gefühlsschutz« genannt wird. Eine solche Begründung wird zwar von vielen Rechtsphilosophen abgelehnt, aber längst nicht von allen. So hat etwa der Basler Rechtsphilosoph Kurt Seelmann die Frage aufgeworfen, ob nicht die »desorientierende Wirkung von Gefühlsbeeinträchtigungen« in manchen Fällen hinreichend sei, eine Strafnorm zu begründen, etwa wenn Tabus verletzt werden, die »das elementare Interesse an Orientierungssicherheit« zu beeinträchtigen drohen (Seelmann 1998, 492). Die Antwort, die Seelmann sich selbst auf diese Frage gibt, ist allerdings ausgesprochen zurückhaltend: Nicht die Er367 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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schütterung von Orientierungssicherheit für sich genommen sei ein legitimer Strafbarkeitsgrund, sondern ein solcher bestehe nur dann, wenn die »Persönlichkeitsbeeinträchtigungen« so weitgehend wären, dass sie die Orientierungskompetenz, die »Fähigkeit zu künftiger Orientierung im sozialen Leben behindern würden« (Seelmann 1998, 493). Auf dieser schmalen Basis lässt sich ein Verbot des Inzests unter Geschwistern wohl kaum begründen. Ich meine allerdings, dass die Basis verbreitert werden kann, und zwar aufgrund der Überlegung, dass die normative Relevanz der Unterscheidung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen Anstößigkeiten und insofern zwischen klassischem und utilitaristischem offence principle kaum plausibel zu begründen ist. Es ist schwer zu sehen, warum es für die Legitimität der Strafbarkeit eines Verhaltens einen Unterschied macht, ob dieses Verhalten in der Öffentlichkeit oder in der Privatsphäre stattfindet, solange diejenigen, die an dem betreffenden Verhalten Anstoß nehmen, sich in ihrer gefühlsmäßigen Betroffenheit nicht unterscheiden. Soweit man überhaupt bereit ist, Anstößigkeit als Begründung von Strafbarkeit zuzulassen, scheint es gleichgültig, ob der Anstoß durch die anschauliche Konfrontation mit dem anstößigen Verhalten erregt wird oder durch das bloße Wissen bzw. die – mehr oder weniger »naturgetreue« – mediale Repräsentation dieses Verhaltens. Entscheidend kann in jedem Fall nur die Betroffenheit der Betroffenen sein. Diese wird bei einer anschaulichen Konfrontation in der Regel sehr viel ausgeprägter und nachhaltiger sein als im Fall einer bloßen Kenntnisnahme, vor allem wenn man sich den jeweiligen Konfrontationen nicht entziehen kann. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, dass, wenn sehr tiefe Gefühlsschichten betroffen sind, auch Verhaltensweisen, bei denen man »wegschauen« kann, erheblichen psychischen Schaden anrichten. Gegen eine Zulassung der Strategie der erweiterten Anstößigkeit zur Begründung strafrechtlicher Verbote ist von dem liberalen Oxforder Rechtsphilosophen Herbert Hart eingewandt worden, dass mit der Zulassung dieser Strategie durch die Hintertür auch die rechtsmoralistische Strategie zugelassen würde. Denn 368 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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häufig sind moralische Ablehnungsgefühle besonders starke und tiefempfundene Ablehnungsgefühle: The fundamental objection … is that a right to be protected from the distress which is inseparable from the bare knowledge that others are acting in ways you think wrong, cannot be acknowledged by anyone who recognises individual liberty as a value. To punish people for causing this form of distress would be tantamount to punishing them simply because others object to what they do; and the only liberty that could coexist with this extension of the utilitarian principle is liberty to do those things to which no one seriously objects. (Hart 1963, 46 f.)
Dieser Einwand ist im Ansatz berechtigt. Aber ich meine, dass man ihm begegnen kann, indem man Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, um verbreitete Ablehnungsgefühle als Verbotsgründe zuzulassen. Vertretbar erscheinen mir die folgenden Bedingungen: Die Ablehnung des betreffenden Verhaltens muss 1. intensiv, 2. im Zeitverlauf stabil, 3. aufklärungsresistent und 4. von der überwiegenden Mehrheit geteilt sein. Diese Bedingungen verhindern, dass sich durch akute Ereignisse ausgelöste temporäre Empörungswellen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen oder die besonderen Auffassungen von religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften auf die Strafrechtspolitik auswirken. Selbstverständlich kommen diese Bedingungen lediglich als notwendige und nicht als hinreichende Bedingungen in Frage. Verletzte Gefühle liefern allenfalls Primafacie-Rechtfertigungen für strafrechtliche Sanktionen. Im Einzelfall sind sie gegen die Vorteile, die sich aus einer Zulassung des als anstößig empfundenen Verhaltens ergeben oder ergeben könnten, abzuwägen. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die Strategie 3 offenkundige relativistische Implikationen hat. Was in der einen Gesellschaft zulässig ist, kann in der anderen unzulässig sein, je nachdem, in welche Richtung die jeweils vorherrschenden, durch kulturelle Traditionen und historische Erfahrungen geprägten 369 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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Denk- und Fühlweisen tendieren. In einem solchen Relativismus wird gewöhnlich ein Nachteil gesehen. Ich sehe in ihm eher einen Vorzug. Nach Umfragen sind die Einstellungen etwa zur Embryonenforschung in katholisch geprägten Ländern wie Irland und Polen deutlich ablehnender als im übrigen Europa und den USA. Insofern ließe sich dafür argumentieren, in diesen Ländern mit der Erteilung von Erlaubnissen für diese Art von Forschung vergleichsweise restriktiv umzugehen. Was ergibt sich aus diesen Überlegungen für den Fall des Inzests unter einwilligenden Erwachsenen? Die formulierten Bedingungen werden nach allem, was wir wissen, nicht erfüllt. Nur eine knappe Mehrheit scheint den Geschwisterinzest unter Erwachsenen als anstößig zu empfinden. Und angesichts der Seltenheit seines Vorkommens ist zu bezweifeln, ob eine Nichtbestrafung zu länger dauernder Irritation oder Verunsicherung führen würde. Eine Bestrafung scheint danach unverhältnismäßig. Die Risiken für das Gefühlsleben der Anstoß nehmenden Bevölkerung scheinen insgesamt weniger gravierend als die von der Strafnorm ausgehenden Freiheitsbeschränkungen für die negativ Betroffenen und die damit einhergehenden Eingriffe in ihre Intimsphäre. Meine Schlussfolgerung lautet deshalb, dass auch dann, wenn man das utilitaristische Anstößigkeitsprinzip nicht prinzipiell ablehnt, das strafrechtliche Verbot des Inzests unter erwachsenen Geschwistern rechtsethisch unzureichend begründet und insofern unzulässig ist. Dass es auch verfassungsrechtlich unzulässig ist, ist damit nicht präjudiziert. Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls in seinem Beschluss zu dem anfangs genannten Fall festgestellt, dass von Verfassung wegen der Gesetzgeber durchaus frei sei, auch moralische Normen als solche mit strafrechtlichen Sanktionen zu belegen. Es hat also – anders als hier zugestanden – den strafrechtlichen Rechtsmoralismus ausdrücklich bejaht. Wie immer man die Moral dieses Moralismus einschätzt: Er bleibt damit zumindest seiner eigenen rechtsmoralistischen Vergangenheit treu.
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Moralische Anstößigkeit als Begründung staatlichen Strafens
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V. Rechtsgefühle in Literatur, Gerichtsrede und Film
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Recht und zorn im Rolandslied
1.
Einleitung
In der modernen Emotionspsychologie ist die Auffassung verbreitet, dass Emotionen universal sind, dass es sich um anthropologische Konstanten handelt. In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung besteht zwar weitgehend Konsens darüber, dass die Fähigkeit, Gefühle empfinden – und darüber sprechen zu können –, eine dem Menschen gegebene Besonderheit darstellt, aber es wird zugleich darauf hingewiesen, dass Emotionen historisch codiert und kulturell modelliert werden. Über die Frage, wie der historische Wandel beschrieben werden kann, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Viel diskutiert wurde der Erklärungsversuch von Norbert Elias, der bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, aber erst in den 60er Jahren auf breitere Resonanz stieß. Elias behauptete, dass im späten Mittelalter in Europa eine einschneidende Veränderung stattgefunden habe, ein ›Zivilisationsprozess‹, in dessen Verlauf gesellschaftliche Normen zunehmend verinnerlicht wurden und so gewissermaßen – um es mit Freud zu sagen – das Über-Ich und damit eine innere Kontrollinstanz entstanden sei. 1 Nach Elias konnten Emotionen im Mittelalter ohne Zwang ausagiert werden, später seien sie jedoch mehr und mehr der Affektkontrolle und damit gesellschaftlichen Zwängen unterworfen worden. Diese These findet heute durchaus noch Fürsprecher, neuere Forschungen zeigen jedoch, dass es problematisch ist, 1
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2., um eine Einleitung vermehrte Auflage. 2 Bde., Bern/München 1969.
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von einem einfachen Prozess fortschreitender Zivilisierung auszugehen. Vielmehr ist in der Geschichte der Emotionen mit ständigen Verschiebungen und Anpassungsleistungen zu rechnen. Dies hat die amerikanische Historikerin Barbara Rosenwein in einer kritischen Auseinandersetzung mit Elias überzeugend darlegen können. 2 Sie kommt zu dem Schluss, dass der historische Wandel von Emotionen eher von einem Set von Konventionen und Zwängen zu einem anderen führe. Exemplifiziert hat sie dies vor allem in Analysen von zorn-Darstellungen in historischen Quellen. Ein anderer Mittelalterhistoriker, Gerd Althoff, ist ebenfalls als Kritiker der Thesen von Elias hervorgetreten. In Studien zum königlichen Zorn, zur ira regis, hat er die Auffassung vertreten, dass dieser keineswegs als unkontrollierte Wut missverstanden werden darf. 3 Vielmehr könne davon ausgegangen werden, dass die Performanz von Zorn durch einen Herrscher nicht selten als Inszenierung, als kalkulierte Aktion in der öffentlichen Demonstration von Macht, zu begreifen sei. Zornhandeln müsse als Teil der Herrschaftspraxis in einem gesellschaftlichen System verstanden werden, das auf dem Personenverband und (noch) nicht auf staatlichen Institutionen basiere. So überzeugend die Kritik an der ›Zivilisationstheorie‹ auch ist, die Frage, wie der historische Wandel der Codierung von Zorn beschrieben werden kann, ist nach wie vor in vieler Hinsicht klärungsbedürftig. Wiederholt und zu Recht ist betont worden, dass heutige Konzepte der Psychologie der Emotionsgestaltung und der Figurendarstellung gerade in mittelalterlichen Texten nicht gerecht werden. Das liegt nicht nur an den tiefgreifenden historischen Veränderungen im gesellschaftlichen und religiösen System. Vieles deutet darauf hin, dass gerade der Prozess der Individualisierung zu signifikanten Verschiebungen in der Codierung von
2
Vgl. den Sammelband Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, hg. von Barbara Rosenwein. Ithaca/London 1998 und besonders den Aufsatz: Barbara Rosenwein: Worrying about Emotions in History. In: The American Historical Review 107 (2002), S. 821–845. 3 Gerd Althoff: Ira Regis. Prolegomena to a History of Royal Anger. In: Anger’s Past, S. 59–74.
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Emotionen geführt hat. Solche Thesen können durch das Studium literarischer Texte überprüft werden. In jedem Fall aber liefern diese einen faszinierenden Einblick in die Geschichte, die semantische Variabilität sowie in die spezifischen Funktionen, die Emotionen im jeweiligen sozialen Bezugssystem der erzählten Welt haben. Gestaltungen von Zorn finden sich in nahezu allen Gattungen der mittelalterlichen Literatur. Einige neuere mediävistische Studien befassen sich mit der Rolle von Zorn bei der Konstruktion von Geschlechterbeziehungen in der Novellistik, 4 neben dem Herrscherzorn ist auch der Kampfzorn als eine weitere Spielart der Emotion Gegenstand einer Untersuchung gewesen. 5 Die einschlägige Berliner Dissertation von Evamaria Freienhofer gilt dem Spannungsfeld von Zorn, Macht und Herrschaft in Texten des 12. Jahrhunderts, unter anderem auch im Rolandslied. Leitend ist die Frage, ob sich in den Texten Ansätze zur Ausbildung einer transpersonalen Staatlichkeit nachweisen lassen; berührt wird dabei auch das Verhältnis von Recht und Zorn. 6 Hermann Schmitz definiert in seiner groß angelegten Phänomenologie Zorn als ein Rechtsgefühl und schreibt dem Zusammenhang von Recht und Zorn eine grundlegende Bedeutung für die Rechtsphilosophie zu. Indem er »Gefühle überhaupt nicht subjektiv im Sinne von Seelen- und Bewußtseinszuständen, sondern als überpersönliche, ergreifende Mächte […]« 7 auffasst, ist er für die mediävistische Emotionsforschung theoretisch anschlussfähig; allerdings bewegt er sich mit seinem systematischen Zugriff auf einem vergleichsweise abstrakten Niveau und blendet Fragen 4
Martin Baisch, Evamaria Freienhofer, Eva Lieberich (Hg.): Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters, Göttingen 2014 (Aventiuren 8). 5 Klaus Ridder: Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 221–248. 6 Evamaria Freienhofer: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts (in Vorbereitung für den Druck). 7 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Dritter Band: Der Raum, 3. Teil: Der Rechtsraum, 2. Aufl. Bonn 1983, S. 21.
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der historischen Ausprägung und Entwicklung von Zornkonzepten bewusst weitgehend aus. An diesem Punkt setzen die folgenden Überlegungen an, indem sie den Blick auf eine spezifische historische Konfiguration von Recht und Zorn in der mittelalterlichen Literatur lenken. Um grundsätzliche Probleme der mediävistischen Emotionsforschung zu verdeutlichen, möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zur historischen Semantik voranschicken. Denn der historische Wandel von Emotionsstilen und -kulturen spiegelt sich auch und nicht zuletzt in der Geschichte zentraler Emotionswörter. Sie liefern der Forschung wichtige Anhaltspunkte für die Analyse, stellen sie aber auch vor erhebliche Herausforderungen. Eine besondere Schwierigkeit besteht nämlich darin, dass Emotionswörter in den europäischen Sprachen des Mittelalters (und wohl nicht nur in diesen) eine breite Skala von semantischen Valenzen aufweisen können. Außerdem lassen sich nicht selten Überschneidungen mit anderen bedeutungsverwandten Wörtern feststellen, die eine genaue Bestimmung erschweren. Der Gebrauch wird überdies von verschiedenen historischen Diskursen und Praktiken bestimmt, die uns heute nicht mehr vertraut sind. Und schließlich ist damit zu rechnen, dass literarische Texte mit der Mehrdeutigkeit von Emotionswörtern spielen, um einen spezifischen ästhetischen Reiz zu erzeugen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das mittelhochdeutsche Wort für Liebe, minne. Minne kann die Liebe zwischen dem Gläubigen und Gott ebenso bezeichnen wie das friedliche Verhältnis zwischen Herr und Vasall im Lehnswesen, die Liebe zwischen Mann und Frau, die Zuneigung unter Familienangehörigen und nicht zuletzt die Gefühle, die Freunde füreinander empfinden. In der Medizin ist daneben die Vorstellung geläufig, dass minne eine Krankheit mit einer spezifischen Symptomatik ist. Anders als das Wort minne ist zorn heute nicht vollständig aus dem allgemein gebräuchlichen Wortschatz verschwunden. Es wird in der Alltagssprache allerdings eher selten gebraucht, geläufiger sind inzwischen Termini, deren Semantik Überschneidungen mit ›Zorn‹ aufweist, aber nicht vollständig mit dem Bedeutungsgehalt des mhd. Wortes übereinstimmt, beispielsweise 378 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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›Wut‹ oder ›Ärger‹ und ›Empörung‹. Nach dem Grimm’schen Wörterbuch bezeichnet »zorn […] die gemüthserregung der unlust, welche eine besondere richtung gegen den anlasz oder den veranlasser der unlust hat, sich in unwillkürlichen worten und handlungen kräftig äuszert, von einem lebhaften spiel des gesichts und des körpers begleitet ist und in der regel rasch entsteht und verläuft«; 8 und zur Geschichte des Wortes merkt das Wörterbuch an, dass »als ursprüngliche bedeutung […] nicht die gemüthsbewegung als solche anzusehen« sein dürfte, »sondern ›kampf, streit mit thaten und worten‹«. 9 Besonders betont wird in dem Artikel der starke körperliche und unkontrollierte Ausdruck (»unwillkürlich«) der Emotion. Sehr bemerkenswert ist es auch, dass die ursprüngliche Bedeutung von zorn nicht in einer »gemüthsbewegung« gesehen wird, sondern in einer Handlung (mit Taten oder Worten). Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, dass zorn zu jenen Wörtern zählt, die beträchtliche Bedeutungsüberschneidungen mit anderen Emotionswörtern aufweisen. Zu ihnen gehören unter anderem nît (Neid, Kampfzorn), haz (feindselige Handlung oder Einstellung), wuot (heftige Erregung, Wut) und grim (Wut, Grimm), aber auch trûren (Trauer/Traurigkeit). Die Emotion Zorn wird – zumindest in historischen Quellen – oft von einer spezifischen Verlaufslogik bestimmt, die bereits Aristoteles in seiner Rhetorik beschrieben hat. Dort heißt es: »Es soll also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung sein für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht.« 10 Weiter schreibt Aristoteles, »auch (ist notwendig, dass) jedem Zorn eine gewisse Lust folgt, welche aus
8
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 32, München 1984 [fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe von 1954], Sp. 92. 9 Ebd., Bd. 32, Sp. 90. 10 Aristoteles: Rhetorik, übersetzt und erläutert von Christof Rapp, Berlin 2002, Kap. 2, S. 73. Ähnlich beschreibt Schmitz, System der Philosophie, S. 24 ff. die Verlaufsform; in seiner Definition umfasst Zorn jedoch nicht nur die Reaktionen auf subjektive, sondern auch auf objektive Rechtsverletzungen.
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der Hoffnung auf Vergeltung herrührt«. 11 Diese Lust finde in Rachephantasien ihren Ausdruck. Demnach wird Zorn durch eine Herabsetzung oder Missachtung hervorgerufen, die das Begehren des Betroffenen nach Vergeltung auslöst, durch welche die Kränkung wieder ›geheilt‹, wieder ›gut gemacht‹ werden soll. Die detaillierten Ausführungen in der Rhetorik machen deutlich, welche herausragende Bedeutung Aristoteles dem Zorn in der sozialen Interaktion beim Aushandeln von Statusfragen zuweist, wobei die Verbindung von Zorn mit Lust exemplarisch zeigt, wie gemischt, ja, gegensätzlich Empfindungen sein und welcher Dynamik sie unterliegen können. In der Literatur des Mittelalters ist die Emotion Zorn fast ausschließlich der männlichen Kommunikation vorbehalten und eng mit dem zentralen feudaladligen Begriff der êre – dem gesellschaftlichen Ansehen einer Person – verknüpft, ein Begriff, der normative und emotionale Bedeutungsvalenzen in sich vereint. So ist es meist eine Kränkung der êre, des Geltungsanspruchs einer Person, die Zorn hervorruft und das Verlangen nach Rache weckt. Ist die skizzierte Semantik von zorn auf bedeutungsverwandte, heute geläufige Begriffe wie beispielsweise Ärger übertragbar? Hermann Schmitz hebt in seinem Versuch, systematisch zwischen verschiedenen, dem Zorn affinen »Gefühlstypen« zu differenzieren, die »Gestaltungskraft« von Zorn und einen diesem eigenen normativen Impuls gegenüber Wut oder Entrüstung besonders hervor. 12 Während der Arbeit an dieser Studie stieß ich in Spiegel-Online zufällig auf einen Artikel mit dem Titel »Zornig im Büro«, darin war aber von Zorn nicht die Rede, sondern lediglich von Ärger. Es ging um die Frage, was schädlicher sei, wenn man den Ärger unterdrückt oder ihn ausagiert. Für eine Definition von Ärger berief sich der Artikel auf die in Zürich wirkende Emotionspsychologin Verena Kast: »Ärger entsteht, wenn jemand über meine Grenzen geht oder nicht zulässt, dass ich meine
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Aristoteles, Rhetorik, Kap. 2, S. 73. Schmitz, System der Philosophie, S. 32 ff.
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eigenen Grenzen erweitere.« 13 Der Konnex von Verfehlung (Grenzüberschreitung) und Zorn (Ärger) ist dabei zwar durchaus erkennbar. Auffallend aber ist, dass Ärger aus der Sicht eines exemplarischen Individuums geschildert wird, ohne dass von Statusfragen die Rede ist oder dass auf einen bestimmten Kontext, eine Situation oder eine soziale Struktur, Bezug genommen wird. Auch wird weder von einer Verlaufslogik der Emotion, von Kränkung oder gar Rache, gesprochen noch findet sich ein Hinweis auf die Koppelung an eine gesellschaftliche Norm wie die der Ehre. Das soll natürlich nicht heißen, dass die genannten Aspekte nicht auch bei dem heute als Ärger bezeichneten Gefühl eine Rolle spielen, doch möglicherweise wird gerade in diesen in der zitierten Definition fehlenden Aspekten eine historische Bedeutungsdifferenz von zorn und Ärger greifbar. 14 Ich komme zurück zur historischen Semantik. Wie im Fall von minne kann der Gebrauch des Wortes zorn im Mittelalter ebenfalls von verschiedenen Diskursen und Praktiken in der Religion, der Politik und der Medizin bestimmt sein. In der christlichen Religion finden sich zwei gegenläufige Auffassungen. Zum einen wird Zorn negativ bewertet und als Todsünde der Tugend der Demut gegenübergestellt, zum anderen aber kann die Emotion auch, wenn etwa vom ›Zorn Gottes‹ die Rede ist, als gut und gerecht erscheinen, denn in ihr zeigt sich der Wille und das Recht Gottes, die Menschen für ihre Sünden zu bestrafen und die soziale Ordnung zu garantieren. Hier bestätigt sich, dass zorn nicht nur ein Konflikt hervorrufendes, sondern auch ein Konflikt regulierendes Potential innewohnt. Mit dieser Bedeutung steht der ›Zorn Gottes‹ dem Herrscherzorn, der ira regis, im politischen Diskurs nahe. Zorn zu zeigen ist nicht jedermann erlaubt, die Performanz von zorn ist ein Privileg des gerechten Herrschers und Teil der Herstellung und Stabilisierung von Macht. In der mittelalterlichen 13
Vgl. dazu die ausführlicheren Überlegungen von Verena Kast: Vom Sinn des Ärgers. Anreiz zur Selbstbehauptung und Selbstentfaltung, Stuttgart 2010. 14 Die Frage, ob die sich wandelnden historischen Bezeichnungspraktiken als Hinweise auf eine Veränderung der Wahrnehmung und Deutung der Phänomene zu verstehen sind, lässt sich jeweils nur anhand von konkretem Material beantworten.
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Medizin schließlich wird Zorn physiologisch erklärt und auf die Wirkung der Galle zurückgeführt. Kenntnisse über die Wortgeschichte und historische Diskurse sind eine wichtige Grundlage für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung, aber es wäre verfehlt, diese Kenntnisse einfach auf die Texte zu projizieren. Literarische Texte können zwar auf spezifische Wissensbereiche Bezug nehmen, aber sie entwickeln eine je eigene Logik. 2.
Das Rolandslied
2.1 Datierung, Entstehung, Quelle, Thema Das Rolandslied, dem die nun folgenden Ausführungen gelten, ist vermutlich um 1170 am Hof Heinrichs des Löwen (oder seinem Umkreis) entstanden und wurde von einem Kleriker namens Konrad verfasst. Die Dichtung basiert auf einer altfranzösischen Quelle, der Chanson de Roland, die zur Zeit der ersten Kreuzzüge (1075/1100) entstand, also gut 70 Jahre vor dem deutschen Rolandslied. Die Chanson de Roland gehört der Gattung des Heldenepos (chanson de geste) an, deren Stoff aus der Geschichte Frankreichs (der sogenannten matière de France) stammt. Gattungsspezifisch für die chansons de geste sind Konflikte zwischen König und Fürsten bzw. Baronen im feudalen System, außerdem spielt häufig der Glaubenskrieg eine Rolle. So ist es auch im Rolandslied. Es erzählt vom Kampf Karls des Großen gegen die Andersgläubigen – in der Sprache der damaligen Zeit gegen die ›Heiden‹ – in Spanien. Historische Grundlage ist eine Episode aus dem Spanienfeldzug Karls von 778. Zum Inhalt: Karl der Große hat – auf Geheiß Gottes – ganz Spanien erobert; nur in Sarraguz (Saragossa) hält sich der König der Andersgläubigen, Marsilie, der in heimtückischer Absicht seine Unterwerfung anbietet, um den Kaiser zum Abzug zu bewegen. Herzog Genelun, Schwager Karls und Stiefvater Rolands, wird gegen seinen Willen damit beauftragt, die wahren Absichten Marsilies herauszufinden und die Verhandlungen mit ihm zu füh382 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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ren. Er konspiriert jedoch mit den ›Heiden‹, um Roland, den Neffen Karls, zu vernichten, von dem er sich verraten glaubt. Durch Geneluns Bericht getäuscht, verlässt der Kaiser Spanien. Roland und weitere Fürsten bleiben zur Sicherung mit einer kleinen Truppe zurück. Im Tal von Runzival (Ronceval) werden sie von der ›heidnischen‹ Übermacht überfallen und nach heroischem Kampf aufgerieben. Roland zögert, bevor er sein Horn bläst und den Kaiser damit zurückruft. So trifft Karl erst ein, als die Krieger bereits gefallen sind. Er nimmt den Kampf gegen den Großkönig Paligan auf, der Marsilie mit einem riesigen Heer zur Hilfe gekommen ist. Nach schwerem, aber am Ende siegreichem Kampf der Christen gegen die Truppen Paligans wird schließlich über den Verräter Genelun Gericht gehalten. Zentrales Thema der Dichtung ist der Glaubenskrieg, ein Thema, das heute erneut politische Brisanz erlangt hat. Dies wirkt sich grundlegend auf die Emotionsgestaltung insgesamt aus. Das Bild der erzählten Welt wird weitgehend von starken Kontrasten bestimmt: Die Christen sind gut, die Andersgläubigen böse, die Christen sind tapfer, verachten materielle Werte und streben nach dem Märtyrertod, die Andersgläubigen sind feige, hinterlistig, sie hängen am Reichtum und fürchten den Tod. Mit dieser Zeichnung werden zwei emotionale Räume erzeugt, die spiegelbildlich zueinander angelegt sind: Todesmut und Zuversicht auf ein ewiges Leben nach dem Tode auf der einen, Angst vor dem Tod und Bindung an das irdische Leben auf der anderen Seite. Dabei wird der Krieg zwischen Christen und Heiden zum heilsgeschichtlichen Kampf zwischen Gott und dem Teufel stilisiert: Karl erlangt christusähnliche Züge, während der Verräter Genelun als zweiter Judas gebrandmarkt wird. Der politische Konflikt zwischen der Reichsmacht und dem Geltungsanspruch fürstlicher Vasallen, für den Genelun steht, wird so von der heilsgeschichtlichen Dimension überlagert und beherrscht. Gleichwohl ist dieser Konflikt im Sinngefüge des Textes wichtig, weil er von einer spannungsvollen verwandtschaftlichen Beziehungsstruktur geprägt ist: Roland ist der Neffe des Kaisers, seine Mutter, die Schwester Karls, ist in zweiter Ehe mit Genelun verheiratet, der sich und seine Sippe durch Rolands starke Stellung am Hof be383 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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droht fühlt. Wie nicht anders zu erwarten, wird die Welt des Rolandslieds fast ausnahmslos von Männern bevölkert, und Emotionen werden dementsprechend fast ebenso ausnahmslos unter Männern kommuniziert. Zorn spielt hierbei eine zentrale Rolle, aber auch andere Emotionen – so etwa die Trauer Karls über den Tod Rolands – sind Teil des in dem Text entfalteten Emotionsspektrums. Während das Recht im Rolandslied bereits verschiedentlich das Interesse der Forschung angezogen hat, 15 ist der Zusammenhang von Zorn und Recht bislang noch nicht Gegenstand der Analyse gewesen. 2.2 Recht und zorn im Rolandslied gotes zorn und Gottes Recht: Karl im Gebet Gleich zu Beginn der Dichtung wird zorn als zentrale Leitemotion exponiert und an eine spezifische, in der Religion verankerte Rechtsvorstellung gebunden. Als ob sich ein Vorhang öffnen würde, wird der Blick der Rezipienten auf ein eindrucksvolles Tableau gerichtet: Während alle schlafen, liegt Karl nachts allein auf den Knien im Gebet und bittet Gott, die ›Heiden‹ vor der Hölle zu bewahren und ihnen den Weg zur Erlösung zu weisen. Da erscheint ein Engel und verkündet ihm, dass Gott sein Gebet erhört habe (V. 55–64): 16
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Vgl. Erich Klibansky: Gerichtsszene und Prozeßform in der erzählenden Dichtung des 12.–14. Jahrhunderts, Berlin 1925 (= Germanische Studien 40), S. 59– 63. Ruth Schmidt-Wiegand: Prozeßform und Prozeßverlauf im ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad. Zum Verhältnis von Dichtung und Recht im Mittelalter, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, hg. von Gerhard Dilcher und Bernhard Diestelkampf, Berlin 1986, S. 1–12. Petra Canisius-Loppnow: Recht und Religion im Rolandslied des Pfaffen Konrad, Frankfurt a. M. u. a. 1992 (= Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 22). 16 Zitiert nach: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993 (= RUB 2745). Sofern nicht anders vermerkt, sind die zitierten Übersetzungen dieser Ausgabe entnommen.
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»Karl, gotes dienstman, île in Yspaniam! got hât dich erhoeret daz liut wirdet bekêret. die dir aber wider sint, die heizent des tiuveles kint unt sint allesamt verlorn. die slehet der gotes zorn an lîbe und an sêle. die helle bûwent si iemermêre.« »Karl, Diener Gottes,/ eile nach Spanien!/ Gott hat dich erhört,/ das Volk wird bekehrt werden./ Die sich dir aber widersetzen,/werden Kinder des Teufels heißen/ und alle verdammt sein./ Die wird der Zorn Gottes treffen/in diesem und jenem Leben./ Sie werden ewig in der Hölle wohnen.«
Das Bild des einsam in der Nacht wachenden und für die Erlösung der ›Heiden‹ betenden Kaisers führt dessen Ausnahmestellung im Verhältnis zu Gott und zum Volk plastisch vor Augen. Während alle anderen schlafen, treibt den Herrscher die Sorge um das Seelenheil der ›Heiden‹ um. So wird eine Aura der Erhabenheit um ihn erzeugt, die durch die exklusive Kommunikation mit den himmlischen Mächten noch gesteigert wird. Zugleich aber nimmt der oberste christliche Herrscher als »Diener Gottes« die Position eines (einer höheren Instanz) Untergeordneten ein. Herrschaft und Unterwerfung fallen so in der Figur in eins. Dabei wird mit dem gotes zorn eine religiöse Bedeutungsfacette der Emotion aufgerufen, die den Kampf gegen die Andersgläubigen als rechtmäßig und von höchster Stelle legitimiert erscheinen lässt. Mehr noch: Karl ist ausführendes Organ, um den Willen und das Recht Gottes durchzusetzen. Er ist das Instrument, mit dem Gott seinen Zorn diejenigen spüren lassen wird, die sich dem Weg der Erlösung verschließen. Gott und Karl werden durch den Zorn in eine unmittelbare Beziehung gesetzt und erscheinen zugleich als Repräsentanten eines unhinterfragbar gesetzten religiösen Rechts. Die Eingangsszene des Rolandsliedes macht zugleich deutlich, welche Rolle der Text den Rezipienten zuweist. Sie erhalten Ein385 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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blick in einen eigentlich nur dem Kaiser zugänglichen Bereich, der Erzähler (oder Vorleser) lässt sie an dem Geschehen partizipieren, so dass sie gemeinsam mit ihm eine privilegierte Wissensgemeinschaft bilden. Damit werden sie nicht nur auf das zentrale Thema eingestimmt, sondern ihnen wird von Anfang an auch die Zugehörigkeit zu einem illustren Kreis eröffnet. Gebetet wird viel im Rolandslied, aber dieses Tableau – Karl allein zu Gott betend – findet sich noch zweimal an zentralen Sinneinschnitten der Erzählung. Dabei wird das Zornthema wieder aufgegriffen und mit einem neuen Motiv verknüpft: mit den Sünden Karls, mit seinen Verstößen gegen das Recht Gottes. So wird erzählt, wie der Kaiser, als er sich gegen seinen Willen gezwungen sieht, dem Rat Geneluns zu folgen und den geliebten Neffen Roland zum Führer der Nachhut zu ernennen (V. 2996 ff.), erneut nachts allein auf den Knien liegend betet, während alle glauben, er schlafe. Er betet so inbrünstig und lange für Roland und die anderen Krieger, bis der Schlaf ihn übermannt und er zwei Träume hat, die ihm den Verrat Geneluns anzeigen. Verstört wacht er auf und erklärt, er sei es, der wegen seiner Vergehen den Zorn Gottes verdient habe, und deshalb solle dieser Zorn nun auch ihn und nicht seine Krieger treffen. Welcher Vergehen Karl sich schuldig gemacht hat – das Motiv ist in der Geschichte des Karlstoffs verankert –, bleibt offen. Ausdrücklich gesagt wird aber, dass Karl den Verrat Geneluns als Strafe – man könnte auch sagen: als Rache 17 – Gottes für seine Sünden begreift. So kommt die Verlaufslogik von Zorn (mit dem Konnex von Kränkung und Vergeltung) auch im Verhältnis zwischen Karl und Gott zum Tragen, das in paradoxer Weise zugespitzt wird: Karl erscheint nicht nur als Instrument, sondern auch als Zielscheibe von gotes zorn. Noch einmal findet sich das Bild des nächtlich einsam beten17
Die moderne terminologische Differenzierung zwischen (einer rechtsstaatlichen) Strafe und (einer privatrechtlichen) Rache ist um 1200 noch nicht anzusetzen. Zum Begriff der Rache vgl. Fabian Bernhardt: Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung. In: Baisch u. a., S. 49–71 [wieder abgedruckt in diesem Band].
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den Kaisers, und zwar unmittelbar vor der großen Schlacht, die Karl nach dem Tod Rolands und dem Verlust der Nachhut gegen den Großkönig Paligan zu bestehen hat. Der Text erzählt, wie Karl sich in voller Rüstung wiederholt auf die Erde wirft, bis er auch diesmal vom Schlaf übermannt wird und einen Traum hat, der ihm Bilder von den kommenden schrecklichen Kämpfen zeigt, aber auch von einem Engel, der ihn am Ende retten wird. Als er erwacht, deutet er die bevorstehenden Kämpfe erneut gemäß der Verlaufslogik von gotes zorn als Strafe für seine Sünden (und die seiner Vorfahren 18). Durch die variierende Aufnahme des einprägsamen Bildes des nächtlich betenden Kaisers erlangt dieses Tableau eine strukturierende Funktion in der Narration. Im gleichen Zuge wird die Verbindung von Recht und Zorn auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert und der starke Kontrast zwischen Christen und ›Heiden‹ durch eine gegenläufige Bewegung relativiert. Nicht nur die ›Heiden‹ werden als Objekt von gotes zorn markiert, sondern auch Karl selbst, so dass er ihnen in gewisser Weise angeähnelt wird. Dass dies Teil der Erzählstrategie des Textes ist, ließe sich auch an Genelun, an der Figur des Verräters, zeigen. Karls Zorn und der Zorn der Fürsten in der Beratungsszene Nachdem erste Kampfhandlungen mit einem Unterwerfungsangebot Marsilies geendet haben, lässt Karl seine Pairs zur Beratung zusammenrufen: Marsilie will sich taufen lassen, einen hohen Tribut zahlen und zur Sicherheit Geiseln stellen. Die Fürsten melden sich nacheinander zu Wort. Zuerst spricht Roland und plädiert für die Fortsetzung der Kampfhandlungen. Er zweifelt an der Aufrichtigkeit Marsilies, verachtet die angebotenen Schätze und hat nur das Ziel, als Märtyrer im Dienst Gottes das Seelenheil zu erlangen. Diese Argumente aufnehmend, ergreifen dann auch Olivier, der Kampfgefährte Rolands, der Erzbischof Turpin und der Herzog Naimes von Beiern das Wort und stimmen Roland
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Damit wird die Vorstellung eines ›Sippenkörpers‹ evoziert.
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zu. Daraufhin lenkt der Erzähler den Blick auf den Kaiser (V. 1047–1053): Der keiser geswîgete vile stille. er marcte ir iegelîhes willen. getruobet was sîn gemüete, iedoch vertruogenz sîne michele güete, daz er sich es nicht erzeigete. daz houbet er nider neigete, daz sîn nieman innen wart. Der Kaiser sagte kein einziges Wort./ Er hörte die Meinung jedes einzelnen an./ Sein Herz war betrübt, 19/ doch seine große Tugend 20 verbarg es ihnen,/ so daß er es sich nicht anmerken ließ 21./ Er senkte das Haupt,/ daß ihm keiner ins Gesicht sehen konnte.
Der Kaiser schweigt und verbirgt seine Erregung, deren Qualität nicht näher bestimmbar ist. Das mhd. Verb trüeben kann »beunruhigen«, »verwirren« und reflexiv auch »sich betrüben«, »sich verdunkeln«, »sich erregen« bezeichnen. Das Bild führt vor Augen, dass Karl in der Lage ist, seine Gefühle (wenn auch offenbar nur mühsam) zu kontrollieren, indem er den Kopf senkt, so dass die Fürsten nicht sehen können, wie die Erregung sich in seinem Gesicht abzeichnet. Mit diesem Bild inszeniert der Text erneut die Exklusivität Karls sowie die Distanz, die ihn von den Pairs trennt. Diese Exklusivität erhält zudem eine geheimnisvolle Note, weil nicht gesagt wird, warum Karl betrübt (oder verärgert) ist und warum er dies seinen Fürsten nicht zeigen will. In der Forschung ist die Auffassung vertreten worden, die Bewegung im Inneren des Kaisers sei »nur so zu erklären, daß Karl ihren Plänen nicht zustimmt, da sie im Gegensatz zu dem Friedensversprechen stehen, das er den Heiden gegenüber machte« 22. Die Friedenszusage (V. 834) gilt meines Erachtens aber nur für die Sicherheit der Gesandten Mar19
Kartschoke übersetzt »war in Aufruhr«. Kartschoke übersetzt »Güte«. 21 Kartschoke übersetzt »so daß er sich nicht verriet«. 22 Horst Richter: Das Hoflager Kaiser Karls. Zur Karlsdarstellung im deutschen Rolandslied. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 102 (1973), S. 81–101. 20
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silies. Würde sie sich auf das Unterwerfungsangebot Marsilies beziehen, wäre es überflüssig, die Pairs darüber beraten zu lassen. Deshalb kann man über die Qualität von Karls Gemütsbewegung nur spekulieren. Ist er vielleicht betrübt, weil alle, die bisher geredet haben, das Angebot Marsilies ablehnen und damit die Gefahr besteht, dass seine Männer (erneut) in Gefahr geraten? Oder ist er im Gegenteil bewegt, weil sie als tapfere christliche Ritter unisono empfehlen, den Kampf fortzusetzen und er so seine (ihm von Gott aufgetragene) Mission erfüllen kann? Und warum verbirgt er seinen Gemütszustand? Will er die Fürsten in ihrer Meinungsbildung nicht beeinflussen? 23 Einerseits gibt der Erzähler seinen Rezipienten damit Rätsel auf, andererseits schafft er mit diesem Blick auf den ›privaten‹ Karl zwischen sich selbst und den Rezipienten erneut eine privilegierte Wissensgemeinschaft, von der die Figuren in der erzählten Welt ausgeschlossen sind. Das Bild des schweigenden Kaisers bildet jedenfalls einen Kontrapunkt zu den Redebeiträgen der Fürsten und baut einen Spannungsbogen zu dem kommenden Umschlag in der Beratung auf. Denn nachdem auch der Bischof St. Johannes der allgemeinen Meinung zugestimmt hat, gibt es heftigen Widerspruch. Genelun tadelt die Ratgeber, wirft ihnen Unverstand vor und beklagt sich über den Einfluss Rolands auf die anderen Fürsten. Dabei kommt das Thema zorn und die Frage der Angemessenheit der Affektäußerung ausdrücklich ins Spiel. Roland, so Genelun, sei nicht fähig, seine Affekte zu kontrollieren; er sei in Zorn entbrannt, als die Beiern ihm bei der Einnahme eines Stadttors zuvorgekommen waren, und er hätte sie sogar erschlagen, wenn man nicht dazwischen getreten wäre. Sein Blutdurst sei nicht zu stillen (V. 1115–1125; 1129): 23
Die französische Vorlage trägt zur Erhellung dieser Stelle leider nichts bei, da die Gestaltung des Zorns gänzlich anders konzipiert ist. In der Chanson de Roland ist vom maltalent (»Unmut«) des Königs die Rede, den Evamaria Freienhofer in seiner undeutlichen Zielsetzung als Strategie interpretiert, durch die der Herrscher seine Machtposition bestätigen und eine Entscheidung forcieren will, ohne selbst eine klare Position zu beziehen und sich gleichzeitig das letzte Wort vorzubehalten.
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daz zurnete Ruolant, daz er die Beier vor ime vant, helede ûzerkorne. man sach si ie dâ vorne, swaz uns her noch geschach. dâ man sluoc oder stach, dâ wâren ie die recken mit ir scharphen ecken, sô ez guoten knechten wole gezam. dar umbe wolt er si erslân, waere ez nicht undervaren. […] mennisken bluotes en wart er nie sat […]. Darüber entbrannte Roland in Zorn,/ weil er die Beiern vor sich sehen mußte,/ die erlesenen Helden./ Man sah sie stets da in vorderster Linie,/was immer uns bisher zustieß./ Wo man schlug oder stach,/ da waren stets die Helden/mit ihren scharfen Schwertern,/ wie es guten Kriegern wohl anstand./ Darum hätte er sie am liebsten erschlagen,/ wäre man nicht dazwischen getreten […] sein Blutdurst wurde nie gestillt […].
Genelun qualifiziert den Zorn Rolands als blinden Kampfzorn und bewertet ihn damit negativ. Im maßlosen Streben nach Ehre und nach dem Märtyrertod hat Roland seinen Zorn gegen Männer aus dem eigenen Lager gerichtet, nicht aber gegen die Feinde. Rolands Zorn steht so in Gegensatz nicht nur zur positiven Wertung von gotes zorn, sondern auch zu Karls Fähigkeit, seine Erregung zu verbergen. Der Zorn Rolands wird – aus der Sicht Geneluns – als unangemessen und kontraproduktiv, als Bedrohung für die (christliche) Gemeinschaft markiert. Mit dem Hinweis auf die Unfähigkeit Rolands, seine Affekte zu beherrschen, stellt Genelun auch dessen politische Eignung als Ratgeber in Frage und versucht, seiner eigenen Position umso größeres Gewicht zu verleihen: Er rät, das Angebot Marsilies anzunehmen, da dieser schließlich die Taufe wünsche. Roland aber widerspricht ihm und erinnert daran, dass Marsilie nicht vertrauenswürdig sei, weil er entgegen diplomatischer Konventionen Boten des Kaisers habe töten lassen. 390 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Recht und zorn im Rolandslied
Nach diesem Wortwechsel lenkt der Erzähler den Blick erneut auf Karl (V. 1154–1165): Der keiser zurnte harte. mit gestreichtem barte, mit ûf gewunden granen hiez er die phacht vüre tragen. »ir stêt mit unzüchten. daz wil ich«, sprach er, »richten 24, wirdet ez iuweht mêre. tuot ez durch gotes êre unde gesamnet iuch einer rede, die uns der heilige geist gebe, daz wir des besten râmen.« si sprâchen alle: »âmen.« Der Kaiser war sehr zornig./ Nachdem er sich den Kinnbart gestrichen/ und die Barthaare 25 gezwirbelt hatte,/ ließ er das Gesetz bringen./ »Ihr verhaltet euch nicht, wie es sich gehört,«/ sagte er, »ich werde für Recht sorgen,/ wenn es noch einmal vorkommt./ Tut es zur Ehre Gottes/ und einigt euch auf eine Meinung,/ die der Heilige Geist uns eingeben möge,/ damit wir das Beste beschließen.«/ »Amen«, sagten sie alle.
Mit der phacht beruft sich der Kaiser auf das geschriebene, unabhängig von seiner Person existierende Recht 26, dessen Geltung er zugleich durch die körperliche Performanz seines Zorns Nachdruck verleiht. Das Bild des erregten, aber schweigenden Kaisers ist dem Bild eines zornigen Herrschers gewichen, der mit der rituellen Geste des Bartstreichens und dem Zwirbeln des Schnurrbarts dem aufkommenden Streit unter den Fürsten Einhalt gebietet und sie mahnt, die Ordnung durch Einmütigkeit wieder herzustellen. Beide Bilder unterstreichen die Fähigkeit des Kaisers, seine Affekte zu beherrschen bzw. sie situationsgerecht zu managen. So zeigt 24
Kartschoke übersetzt: »ich werde es bestrafen«, vgl. dazu auch seinen Kommentar zu richten (S. 668). 25 Vermutlich ist der Schnurrbart gemeint. 26 Kartschoke, S. 668, kommentiert: »Hier ist an den Codex des geschriebenen Rechts gedacht […]«
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Ingrid Kasten
das erste Bild, dass er trotz seiner Erregung in der Lage ist, diese zu verbergen, während das zweite deutlich macht, dass es sich bei seinem Zorn nicht um einen bloßen Wutausbruch oder um blinden Kampfzorn handelt, sondern um den Zorn eines Herrschers, der als kalkulierter politischer Akt eingesetzt wird. In der weiteren Beratung kommen die Fürsten zu dem Schluss, dass es am besten wäre, eine Gesandtschaft zu Marsilie zu schicken, um dessen wahre Pläne zu erkunden. Roland und Olivier bieten sich sogleich an, diese Aufgabe zu übernehmen, aber der Kaiser lehnt ab. Zu Olivier gewandt sagt er zur Begründung (V. 1320–1330): »du bist mir ze allen êren vile lieb, ze boten wil ich dîn niet. du bist ze gaehe mit der rede, unde Ruolant, mîn neve, mit zornlîchen worten. daz ist mir ze vorchten, si stoerent grôze êre.« »Du bist mir für alle Ehrenämter sehr willkommen,/ aber als Boten will ich dich nicht./ Du bist zu schnell fertig mit dem Wort,/ und Roland, mein Neffe,/ mit seinen zornigen Reden 27./ Ich befürchte nämlich,/ dass sie 28 großen Ruhm zunichte machen.«
Karl teilt also die Wertung von Rolands Zorn durch Genelun und hält den Neffen wegen dessen mangelnder Fähigkeit zur Affektkontrolle für eine diplomatische Mission für ungeeignet. Selbst Roland sieht dies ein und schlägt deshalb seinen Stiefvater als Gesandten vor. Genelun, so heißt es, wurde daraufhin »sehr blass« (V. 1382: »Genelun erbleichte harte«). Der Text legt nahe, dass das Erbleichen hier ein Zeichen der Angst ist, denn Genelun fürchtet, von dieser Gesandtschaft nicht lebend zurückzukommen (womit er seinen Glauben an die Aufrichtigkeit von Marsilies Unterwerfungsangebot selbst desavouiert). Doch Geneluns Angst ist mit Zorn gepaart. Zwar ist davon zunächst nicht aus27
Kartschoke übersetzt »mit seinen Zornausbrüchen«. si kann sich sowohl auf Roland und Olivier beziehen als auch auf die zornlîchen worte.
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drücklich die Rede, aber da er glaubt, dass Roland ihm nach dem Leben trachtet und ihn mit seinem Rat Schaden zufügen will, droht er ihm mit Rache. Es ist Karl, der Geneluns Äußerungen als zorn qualifiziert und ihn mahnt, sich zu zügeln, wie es einem klugen Fürsten anstehe. Dabei wird erneut deutlich, wie eng Zorn und Angst in dieser Szene miteinander verflochten sind (V. 1408– 09; 1497–1500): »›du bist ein wîse hêrre./ nune zürne nicht sô sêre […] zorn ist nehein guot/ nim widere mannes muot./ habe nehein angest‹« (»›Du bist ein kluger Fürst./ Nun besänftige deinen Zorn […] Zorn ist ein Übel./ Kehre zu männlicher Gesinnung zurück./ Fürchte nichts‹«). Die Fähigkeit zur Affektkontrolle ist demnach in der Sicht Karls für einen Herrscher unerlässlich. Der Text nutzt also die Beratungsszene, um verschiedene Spielarten von Zorn zu profilieren und die Frage der Angemessenheit von Zornäußerungen zu thematisieren. Nachdem zu Beginn der Dichtung mit dem gotes zorn die religiöse Bedeutung aufgerufen wurde, wird hier deutlich, wie souverän Karl seinen Zorn als Instrument der politischen Machtausübung einsetzt. Hiervon abgehoben erscheinen der Kampfzorn Rolands und der Rachezorn Geneluns, durch die beide Figuren charakterisiert und als Kontrahenten gezeichnet werden. Herrscherzorn und Affektkontrolle Mit den Inszenierungen von Zorn im Rolandslied ist, wie gesehen, das Thema der Affektkontrolle eng verknüpft. Dies bestätigt sich, wie abschließend darzulegen sein wird, auch auf einer weiteren politischen Ebene, im Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinen Fürsten in beiden gegnerischen Lagern. In zwei Szenen beschwört der Zorn des Herrschers jeweils in programmatischer Weise einen Konflikt mit den Vasallen herauf: Zum einen ist es die zornige Reaktion Marsilies auf das für ihn ehrenrührige Friedensangebot des Kaisers, zum anderen der Zorn Karls während des Gerichtsverfahrens gegen Genelun. Bevor Genelun die schriftliche Fassung der Botschaft Karls an Marsilie übergibt, richtet er sie zunächst mündlich aus. Die Re393 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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aktion des gegnerischen Königs wird wie folgt beschrieben (V. 2052–2062): Marsilie al umbe warte. er erbleichte harte. er gwan manigen angestlîchen gedanc. er gesaz kûme ûf die banc. ime wart kalt unde heiz. harte muote in der sweiz. daz houbet wegte er, er spranc hine unde her. sînen stap begreif er, mit zorne er in ûf huop, nâch Genelûne er in sluoc. Marsilie blickte um sich./Er wurde ganz blass./Große Angst ergriff ihn./Er konnte sich kaum auf die Bank setzen./Ihm wurde kalt und heiß./Er brach in Schweiß aus./Er schüttelte den Kopf,/er sprang hin und her./Er ergriff seinen Stab/erhob ihn voller Zorn 29/und schlug mit ihm nach Genelun.
Die Reaktion Marsilies ähnelt in ihrer emotionalen Dynamik zwischen Angst und Zorn in gewisser Weise der Reaktion Geneluns in jener Szene, in der Karl ihn mit der heiklen Gesandtschaft zu den ›Heiden‹ beauftragt: Marsilies Blässe erscheint zunächst als Zeichen der Furcht, doch dann gewinnt der Zorn die Oberhand und die Verlaufsform von Kränkung der Ehre, Zorn und Rachebegehren zeichnet sich in seinem Verhalten ab. Anders aber als bei Genelun äußert sich seine Erregung viel stärker in körperlichen Symptomen und in ungerichteten, hastigen Bewegungen, die veranschaulichen sollen, dass Marsilie weder Herr seiner Emotionen noch Herr der gegebenen Lage ist. Auch in dem vergeblichen Versuch, Genelun zu schlagen, wird die Ohnmacht Marsilies und damit die Unangemessenheit seines Zorns offenbar. Als Genelun sich zur Wehr setzt, greifen die Vasallen Marsilies ein, um eine Eskalation zu verhindern. Sie tadeln ihren König und fordern 29
Man könnte zorn hier auch mit »Wut« übersetzen, aber es ist bezeichnend, dass der Text terminologisch nicht zwischen der kontrollierten Performanz von Zorn und einem unbeherrschten Wutausbruch differenziert.
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ihn auf, seinen Zorn zu besänftigen. Dabei appellieren sie an seine Ehre: Sie verlangt, dass Gesandte diplomatischen Gepflogenheiten entsprechend Schutz und Frieden genießen. Einer der Vasallen Marsilies bietet sich dennoch an, die von seinem König gewünschte Rache an Genelun zu vollziehen. Daraufhin gerät der älteste und wichtigste Berater des Königs, Blandiscandiz, in Zorn (V. 2151 f.: »Der alte mit deme barte,/ der erzurnte harte«) und mahnt Marsilie zur Besonnenheit. Die Ehre des Königs werde nicht nur durch das Ultimatum Karls verletzt, so argumentiert er, sondern auch dann, wenn Marsilie gegen das für Boten geltende Schonungsgebot verstoßen sollte. Der Zorn des Beraters ist hier eine Reaktion auf die Unfähigkeit des Königs, seiner politischen Funktion gerecht zu werden; indem er auf diesen Mangel aufmerksam macht, fungiert er gleichsam als Korrektiv für die drohende Störung des Rechts und dient der Stabilisierung von Marsilies Herrschaft. In beiden Lagern ähneln sich, wie diese Szene zeigt, die sozialen Strukturen. Unkontrollierter und ungerechter Zorn des Herrschers gilt hier wie da als unangemessen. Die Frage, ob der Zorn des Herrschers gerechtfertigt ist oder nicht, wird in der Interaktion zwischen dem König und seinen Vasallen verhandelt. Dies gilt auch für Karl und seine Fürsten. Als das Horn Rolands ertönt, schlussfolgert der Kaiser sofort, dass die Christen sich in höchster Gefahr befinden. Er gerät außer sich vor Schmerz und Trauer und wird dafür von Genelun getadelt (V. 6075– 6085): der kaiser begunde vor angesten swizzen, er kom ain tail ûz sînen wizzen. er undulte harte. daz hâr brach er ûz der swarte. dô rafste in harte Genelûn, der verrâtaere. er sprach: »dise ungebaere gezimet nicht dem rîche. du gebaerest ungezogenlîche. waz hâstu dir selben gewizzen? Ruolanten hât lîchte ain brem gebizzen […]«
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Dem Kaiser brach der Angstschweiß aus./ Er verlor ganz seine Besonnenheit./ Er wurde sehr unruhig/ und raufte sich das Haar./ Da tadelte ihn/ der Verräter Genelun heftig/ und sagte: »Diese Unbeherrschtheit/ steht dem Kaiser schlecht an./ Du benimmst dich unschicklich./ Was wirfst du dir vor?/ Vielleicht hat Roland eine Bremse gebissen […]«
Die äußerst heftige körperliche Reaktion des Kaisers mag heute befremdlich erscheinen, sie wird jedoch verständlich, wenn man die besondere Beziehung Karls zu seinem Neffen und dessen Stellung in der Dichtung berücksichtigt. Bevor Roland stirbt, erscheint ihm ein Engel, dem er seinen Handschuh reicht, und sein Märtyrertod löst ein gewaltiges kosmisches Beben aus. Karl bezeichnet ihn mehrfach als seine »rechte Hand«, zuletzt, als er den Toten beweint (V. 7517 f.: »›dû waere mîn zesewiu hant.‹«), und diese Bezeichnung erscheint vor dem skizzierten Hintergrund mehr als eine bloße Metapher. Mit dem Tod Rolands ist der (politische) Körper des Kaisers beschädigt. Wenn Karl in Angstschweiß ausbricht, so ist dies, anders als bei Genelun, kein Zeichen der Furcht um das eigene Leben, sondern Furcht vor dem Verlust Rolands und der Schwächung seiner Herrschaft. Diese Furcht ist mit Schmerz verbunden und löst Trauer aus, die sich in der Trübung des Bewusstseins und in der Trauergeste des Haareraufens manifestiert. Wenn Genelun ihm in dieser Situation mangelnde Affektkontrolle – und damit mangelnde Herrschaftsfähigkeit – vorwirft, so ist dies eine dreiste Verhöhnung des Kaisers und seines Amtes. Auf Karl reagiert er prompt, indem er Vergeltung für den Verrat ankündigt. Als aber Naimes Genelun auf der Stelle erschlagen will, hält der Kaiser ihn zurück. 30 Er lässt nicht zu, dass der Verräter einfach nur getötet wird, sondern will, dass über ihn Gericht gehalten wird – freilich nicht, um ihn zu schonen, sondern im Gegenteil, damit er einen schlimmeren Tod stirbt, einen Tod, der seinem Vergehen ›angemessen‹ ist 30
Man denke an die parallele Situation in der Beratungsszene im gegnerischen Lager: Während es dort jedoch einer der fürstlichen Vasallen ist, der Marsilie daran hindert, gegen das Schonungsgebot zu verstoßen, ist es hier der Kaiser selbst, der für das Recht sorgt.
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Recht und zorn im Rolandslied
(V. 6112 f.): »›Wenn das Urteil über ihn ergeht,/ wird er, denke ich, eines schlimmeren Todes sterben‹« (»›alsô über in ertailet wirdet,/ich waen, er wirs erstirbet‹«). In der Gerichtsszene räumt Genelun ein, dass er den Tod Rolands und seiner Krieger gewollt und dazu geraten habe, er erklärt aber, ihnen mit seiner Rachedrohung förmlich Fehde angesagt und damit dem Recht Genüge getan zu haben. Damit beruft er sich auf das überkommene Gewohnheitsrecht, das so dem schriftlich codierten Recht, der phacht, gegenübergestellt wird. Diesen politischen Rechtsstandpunkt lässt der Kaiser indes nicht gelten. Er fordert vielmehr, dass nach dem Schuldbekenntnis das Urteil über Genelun gesprochen werde. Mehrere Versuche der Fürsten, Gnade zu erwirken, schlagen fehl. So ist der Kaiser auch aufgrund seiner Verwandtschaft mit Genelun nicht dazu bereit, seinen Zorn zu besänftigen (V. 8771–73; 8779–8781): der kaiser erzurnte harte mit ûf gevangem barte. er sprach: »diu rede ist mir swaere […] man scol ez iemer ze maere sagen, daz wirs an im gerochen haben, unz an der werlte ende […]« Der Kaiser zürnte sehr,/ den Bart in der Faust./ Er sprach: »Solche Worte höre ich ungern […]/ Man soll künftig davon erzählen,/ dass wir dafür [für den Verrat] Rache an ihm [Genelun] genommen haben,/ bis zum Jüngsten Tag […]«
Mit der erneuten körperlichen Entäußerung seines Zorns kommuniziert Karl unmissverständlich die Ablehnung des Gnadengesuchs. Doch er verliert dabei keineswegs die Beherrschung. Der Zorn, den er während der gesamten Gerichtsszene zur Schau trägt, erscheint vielmehr als der gerechte Zorn des Herrschers und steht so in deutlichem Gegensatz zu Geneluns Rachezorn. Als ein Verwandter sich anbietet, dessen Recht in einem Zweikampf, einem Gottesurteil, zu verteidigen, fordert Karl abermals zornig die Ahndung des Verrats. Als Herrscher sieht er sich dazu verpflichtet, dem Recht Geltung zu verschaffen, und deshalb droht er, sein Herrscheramt niederzulegen, falls er damit scheitern sollte. 397 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Ingrid Kasten
Gleichwohl kann er seinen Rechtsstandpunkt gegen den Rat seiner Fürsten nicht durchsetzen, und so wird der Zweikampf gegen seinen Willen beschlossen. Evamaria Freienhofer vertritt die Auffassung, dass mit dieser Darstellung der Eindruck vermieden werden soll, es handle sich bei der Bestrafung Geneluns um die persönliche Rache Karls, und begründet damit ihre These, nach der in der Gerichtsverhandlung Ansätze zur Ausbildung einer transpersonalen Staatlichkeit greifbar würden. Ohne Zweifel steht der Kaiser vor der Aufgabe, als Herrscher (gleichsam im Namen Gottes) einem von seiner Person unabhängigen Recht Geltung zu verschaffen und zugleich persönliche Genugtuung für den Verrat zu finden, der das Leben vieler seiner Krieger und das seines Neffen gekostet hat. Das daraus resultierende potentielle Spannungsfeld wird im Rolandslied jedoch nicht explizit zum Thema gemacht. Mit dem vom Fürstenrat beschlossenen Gottesurteil wird die Entscheidung vielmehr an eine religiöse Instanz delegiert, die eine Unterscheidung zwischen objektivem Recht und subjektivem Racheverlangen obsolet erscheinen lässt. 3.
Schluss
Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die Frage, ob und wie sich der historische Wandel in der Codierung von Gefühlen beschreiben lässt. Exemplarisch fokussiert wurde die Relation von Recht und Zorn im Rolandslied, einem mittelalterlichen Text aus der Zeit um 1200. Im Blick auf die These von Norbert Elias, nach der sich im späten Mittelalter ein ›Zivilisationsprozess‹ vollzogen hat, der zu einer zunehmenden Affektkontrolle geführt habe, ist zunächst festzuhalten, dass in dem analysierten Text nonverbale Ausdrucksformen und körperliche Symptome bei der Gestaltung von Zorn eine große Rolle spielen. Dies gilt auch für die Darstellung von Emotionen allgemein in anderen mittelalterlichen Dichtungen. Man ist deshalb zunächst versucht, der Auffassung zu folgen, nach der die Internalisierung von Gefühlen im Mittelalter noch nicht 398 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Recht und zorn im Rolandslied
so weit vorangeschritten war wie in späteren Zeiten oder, um es mit den Grimms zu formulieren, dass zorn seinerzeit noch weniger als »gemüthsbewegung« denn als »kampf, streit mit thaten und worten« begriffen wurde. Aus dem stark ausgeprägten Handlungs- und Zeigecharakter der Emotionsgestaltung lässt sich jedoch keineswegs der Schluss ziehen, dass Gefühle im Mittelalter problemlos ausagiert werden konnten. Gerade das Rolandslied macht an vielen Beispielen deutlich, wie wichtig die Frage der Affektkontrolle im Zusammenhang mit Zornäußerungen genommen und welche Bedeutung ihr in der politischen Kommunikation zugeschrieben wurde. Die spezifisch historische Modellierung des Verhältnisses von Recht und zorn im Rolandslied macht sich vor allem darin geltend, dass für beides die Religion den übergeordneten Maßstab der Legitimation und Delegitimation bildet. Dabei ist das Verhältnis von Zorn und Recht zugleich – wenn auch eher hintergründig – in einem politischen Spannungsfeld verankert, das von zwei konkurrierenden Rechtsauffassungen geprägt ist, dem (schriftlich fixierten) Gesetz des Herrschers und dem überkommenen Gewohnheitsrecht, dem Fehderecht, der feudalen Aristokratie. Erzählstrategisch als geschickt für die Relationierung von Zorn und Recht erweist es sich, dass nicht nur der Verräter Genelun, sondern auch die zentrale Figur des Kaisers in eine komplexe Dynamik von Vergehen und Vergeltung, von Sünde, Zorn und Rache, verwickelt wird. Bemerkenswert ist auch, dass trotz der Dominanz der Religion die Angemessenheit von Zornäußerungen in konkreten Situationen in der sozialen Interaktion zwischen dem Herrscher und seinen fürstlichen Beratern ausgehandelt wird, und zum anderen, dass – trotz der Berufung auf das schriftlich fixierte Gesetz – die Verkörperung von Macht in der Performanz des Herrscherzorns bei der Durchsetzung des Rechts eine wichtige Bedeutung erlangt.
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Ingrid Kasten
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400 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Marcel Humar
Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede. Rhetorische Strategien der Sanktionierung durch Gefühle 1.
Rhetorik und Emotionen
Die Rhetorik (rhētorikē technē) der Antike, 1 die sich gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. entwickelte, bietet ein fein ausgearbeitetes System sprachlicher Mittel, die eingesetzt werden können, um eine Rede mit Blick auf das Ziel der Überzeugung auszugestalten. Sie liefert neben Reflexionen über die Wirkung bestimmter Techniken auch unmittelbare Handreichungen für die Rede und ist somit theoretisch wie praktisch ausgerichtet. Dabei spielen Emotionen 2 eine zentrale Rolle. Sie stellen neben den rationalen Argumenten (logoi) 3 und dem Entwurf eines bestimmten Charak1 Die wichtigsten Abhandlungen zur antiken Rhetorik stellen die Rhetorik des Aristoteles dar, die Rhetorica ad Alexandrum, die Anaximenes von Lampsakos zugeschrieben wird, die Rhetorica ad Herennium, die älteste vollständig erhaltene rhetorische Prosaschrift in lateinischer Sprache, sowie einige Werke Ciceros und die Institutio oratoria Quintilians. Die in dieser Arbeit verwendeten Abkürzungen für Autoren und Werke der Antike richten sich nach dem Oxford Classcial Dictionary. Alle im Folgenden angeführten Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. 2 Den hier vorgelegten Überlegungen zu Emotionen in der Antike liegt der griechische Begriff pathos zugrunde, welcher alle affektiven Phänomene umfasst. Im Folgenden wird der Begriff ›Emotion‹ synonym zu ›Gefühl‹ und ›Affekt‹ verwendet, auch wenn diese Termini in der modernen Forschung als abgrenzbare Begriffe verstanden werden; vgl. dazu Fries (2004), 3 und Kasten (2003), XIII. Für weitere Überlegungen siehe Demmerling/Landweer (2007), 5. Zu den einzelnen Bedeutungen von pathos siehe Rapp (2005). 3 Hier wird vor allem das Argument der Wahrscheinlichkeit (eikos) angeführt; zum eikos-Argument siehe Arist. Rh. II, 24, 1402 a17–20 und b13–16. Eine Übersicht über das Bedeutungsspektrum von eikos gibt Schmitz (2000), 51.
401 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Marcel Humar
ters (ēthos) des Sprechers oder der Gegenpartei die dritte Säule der Genese von Überzeugungen dar. 4 Wie werden Emotionen in der Rhetoriktheorie charakterisiert? Zentral ist stets ihr Bezug zu einem bestimmten Gegenstand. So richtet sich Zorn beispielsweise auf eine Person, die einen beleidigt hat. 5 Emotionen können durch den Verweis auf einen Grund (wodurch wird die Emotion ausgelöst?), den Verweis auf eine Person (wem gegenüber?) und durch eine spezifische psychische Disposition 6 (in welchem Zustand befindet man sich?) bestimmt werden; sie werden zumeist als »intentionale Zustände« bezeichnet. 7 Emotionen beeinflussen maßgeblich die Entscheidungen, wie Quintilian betont: Denn Beweise können freilich bewirken, dass die Richter unsere Sache für die bessere halten, die Affekte 8 leisten es, dass sie das auch wollen; doch das, was sie wollen, glauben sie auch. Denn wenn sie Zorn, Vorliebe, Hass und Mitleid zu spüren begonnen haben, sehen sie die Dinge schon so, als ginge es um ihre eigene Sache, und wie Liebende über Schönheit kein Urteil zu fällen vermögen, weil ihr Herz ihnen vorschreibt, was die Augen sehen sollen, so verliert der Richter allen Sinn für die Ermittlung der Wahrheit, wenn er von Gefühlen eingenommen ist. 9 4
Zu den drei Säulen der Persuasion in der Rhetorik siehe Arist. Rh. I, 2, 1356 a1– 6 sowie Wisse (1989), 5–8. Auch Cicero nennt diese drei prinzipiellen Möglichkeiten u. a. in De or. 2, 310 (docere, conciliare, permovere) und in Brut. 185 (docere, delectare, movere). Vgl. auch Quint. Inst. 3, 5, 2. Vor allem die beiden Konzepte ēthos und pathos sind dabei nicht immer voneinander getrennt, sondern zeigen Wechselwirkungen, wie bereits Quintilian festgestellt hat; vgl. Inst. 11, 1, 15. 5 Vgl. Arist. Rh. II, 2, 1378 a30–b4. 6 Die psychische Verfasstheit weist eine bestimmte Qualität auf, die allgemein als lustvoll/angenehm oder als schmerzhaft/unangenehm bestimmbar ist. Zu den beiden Größen Lust und Schmerz im Kontext der Rhetorik siehe Arist. Rh. II, 1, 1378 a20–22. Vgl. auch Arist. Eth. Nic. II, 5, 1105 b21–23 und die Ausführungen in Platon Phlb. 47e. 7 Vgl. Pickavé (2008), 195. 8 Auch die lateinischen Begriffe adfectus und passio umfassen wie der griechische Begriff pathos alle gefühlsartigen Regungen; bei der Übersetzung wird nicht differenziert zwischen ›Emotion‹ und ›Gefühl‹ oder ›Affekt‹ ; vgl. auch oben Anm. 2. 9 Quint. Inst. 6, 2, 5: probationes enim efficiant sane ut causam nostram meliorem esse iudices putent, adfectus praestant ut etiam velint; sed id quod volunt credunt quoque. Nam cum irasci, favere, odisse, misereri coeperunt, agi iam rem suam existi-
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
Dies eröffnet die Möglichkeit, durch rhetorische Strategien bestimmte Emotionen zu erzeugen und so die Rechtsprechung zu beeinflussen. Im Fokus steht dabei meist die emotionale Verfassung des Empfängers mit Bezug auf eine andere Person. Im Kontext der Gerichtsrede bedeutet dies: die Richter sollen durch den gezielten Einsatz rhetorischer Techniken in einen bestimmten emotionalen Zustand hinsichtlich des Angeklagten oder der Ankläger versetzt werden. Folglich wird von der Verteidigung zumeist versucht, bei den Richtern gegenüber dem Angeklagten positive Gefühle zu erzeugen, wie etwa Wohlwollen (eunoia). 10 Zugleich sollen oft Ärger oder Zorn (orgē) 11 gegenüber den Anklägern erregt werden, etwa durch die Betonung der Unangemessenheit einer Anklage. Diese Erzeugung von Emotionen wird vor allem zum Ende einer Rede eingesetzt, da dann die emotionale Beteiligung der Rechtsprechenden bei der Urteilsfindung noch vorhanden ist und sich so mit der größtmöglichen Wahrscheinlichkeit positiv für den Angeklagten auswirken kann. 12 Aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist vor allem das Gefühl der Reue. Diese kann allgemein beschrieben werden als rückwirkendes Bedauern der eigenen Handlung. So definiert mant; et, sicut amantes de forma iudicare non possunt, quia sensum oculorum praecipit animus, ita omnem veritatis inquirendae rationem iudex omittit occupatus adfectibus (Übersetzung nach H. Rahn mit wenigen Veränderungen). Dass Emotionen die Wahrnehmung beeinträchtigen und somit Entscheidungen beeinflussen, betont auch Christof Rapp: »Die sogenannten feineren Wirkungen der Emotionen beeinflussen eine Handlungsentscheidung, indem die Furcht vor gefährlichen Situationen zurückhält, der Zorn zu einer gebotenen Vergeltung antreibt, die Lust an einer tugendhaften Handlung die Entscheidung zugunsten einer entsprechenden Handlungsweise erleichtert usw., ohne dass sie dadurch die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigen oder außer Kraft setzen würden.« (Rapp 2002, 554). 10 Für eine Diskussion des Wohlwollens in der Rhetorik siehe etwa Anonymus Seguerianus De arte rhetorica I, 16–18. Vgl. auch Isoc. Antid. 278–79. 11 Zum Zorn bei Aristoteles siehe Konstan (2006), 41–76. Eine weitere wichtige Arbeit ist die von Rubinstein (2004), die bei der Erregung von Zorn zwischen den jeweiligen Situationen (Verteidigung oder Anklage) und den Formen der Klage (dikē oder graphē) unterscheidet. 12 Zur Positionierung der Emotionen in einer Rede siehe Theodektes (Prolegomenon Sylloge, 216 [Rabe]), vgl. dazu Solmsen (1938), 391.
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Marcel Humar
Douglas Cairns Reue (›remorse‹, gr. metameleia, metanoia) als »a species of regret over actions for which one considers oneself responsible, which one wishes one had not performed, and whose damage one would undo if one could« 13. Reue zeichnet sich demnach durch drei grundlegende Eigenschaften aus: Derjenige, der Reue empfindet, muss sich erstens in der Verantwortung für die Handlung sehen, aber auch zweitens anzeigen, dass er die Tat gerne ungeschehen und drittens mindestens die negativen Folgen, die aus seinem Handeln entstanden sind, rückgängig machen würde, wenn er könnte. Wenn die Wiedergutmachung tatsächlich gelingt, kann das Reuegefühl nachlassen. Reue spielt im sozialen Gefüge eine wichtige Rolle: Sie wirkt als Korrektiv, wenn Regeln der Gruppe verletzt wurden. So bemerkt auch Laurel Fulkerson in einer aktuelleren Arbeit zur Reue in der attischen Gerichtsrede: »The social function of remorse is both to indicate that someone has transgressed the boundaries of community and to affirm the values of that community; those without remorse have, in a sense, removed themselves from the social contract.« 14 Im Rahmen einer Gerichtsverhandlung ist das Verhältnis von Reue, Scham 15 und Schuld bzw. Schuldgefühl interessant: Alle drei gehören zu den Rechtsgefühlen und hängen untereinander eng zusammen. Reue dürfte zumeist in Verbindung mit Schuldgefühlen und Scham auftreten. Zwar kann Schuld durch einen 13
Cairns (1999), 171–72. Eine Definition für das meist synonym verwendete Wort ›repentance‹ gibt Murphy (1997), 147: »Repentance is the remorseful acceptance of responsibility for one’s wrongful and harmful actions, the repudiation of the aspects of one’s character that generated the actions, the resolve to do one’s best to extirpate those aspects of one’s character, and the resolve to atone or make amends for the harm that one has done.« Demnach kann ›repentance‹ als Resultat von Reue gesehen werden. Ein weiterer Begriff ist die ›penitence‹, die in jüdischer und christlicher Tradition verwurzelt ist; zu penitence als Form von Reue siehe Konstan (2010), 10–11. In der griechischen Literatur ist eine Auseinandersetzung mit Reue seit der Ilias belegt; dazu und zu anderen Stellen siehe Cairns (1999), 173–74. 14 Fulkerson (2004), 244. 15 Zur Scham in der griechischen Kultur im Allgemeinen siehe Cairns (1993) und Konstan (2003).
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Richter nachgewiesen werden; das Schuldgefühl aber resultiert aus einer Selbstbeurteilung. Reue setzt nur dann ein, wenn man sich tatsächlich schuldig bekennt; sie ist deshalb als Affekt oder zumindest affektiver Anteil der Schuldanerkennung beschreibbar. 16 Dies zeigt auch Fulkerson, die detailliert die Funktion von (gespielter) Reue im Rahmen der attischen Gerichtsrede in den Blick nimmt. 17 So kann der Verweis auf die fehlende Reue des Angeklagten eingesetzt werden, um bei den Richtern Empörung auszulösen. 18 Dies fungiere, so Fulkerson, als rhetorisches Instrument, das gezielt zur Manipulation der Richter eingesetzt werden könne (»tool to manipulate the audience into finding certain propositions repugnant and their opposites desirable« 19). Nach Fulkerson wird damit die Rechtsprechung durch die Emotion der Reue, die der Angeklagte nicht zeigt oder nur spielt, zu beeinflussen versucht. Entsprechend wird die Zurschaustellung der eigenen Reue in der Gerichtsrede funktionalisiert, um bei den Richtern ein positives oder zumindest mildes Urteil zu provozieren. Der Verweis auf das Fehlen von Reue wird oft mit dem Vorwurf der Schamlosigkeit verbunden, wie zahlreiche Stellen aus den Reden des Demosthenes zeigen. 20 Was bisher kaum in den Fokus der Forschung über Emotionen im Kontext der Gerichtsrede gerückt wurde, ist die Erzeugung 16
Ähnliches bemerkte bereits Sigmund Freud: »Wenn man ein Schuldgefühl hat, nachdem und weil man etwas verbrochen hat, so sollte man dies Gefühl eher Reue nennen. Es bezieht sich nur auf eine Tat, setzt natürlich voraus, daß ein Gewissen, die Bereitschaft, sich schuldig zu fühlen, bereits vor der Tat bestand« (S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930, 491). 17 Für einen signifikanten Einfluss der (auch gespielten) Reue des Angeklagten in modernen Gerichtsfällen siehe Sundby (1998), 1560–61. Siehe auch Weisman (2009), 48–49 mit Literaturangaben. Auch die aktuelle Studie von Zhong u. a. (2014) beschreibt Reue als wichtigen Faktor bei der Urteilsfindung vor Gericht. Dass Richter selbst Reue empfinden können, wird von keiner dieser Arbeiten in Betracht gezogen. 18 So in Isoc. 19, 3 und [Pseudo]-Andokides’ Rede gegen Alkibiades 4, 17; vgl. Fulkerson (2004), 247. 19 Fulkerson (2004), 244. 20 Dem. 19, 199, 210 sowie 222; 42, 24; 45, 50; 48, 39 und 52.
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von Emotionen bei den Richtern bezüglich ihrer eigenen Person. Hier bietet die Reue ein interessantes Untersuchungsfeld. Im Folgenden möchte ich am Beispiel der attischen Gerichtsrede diese Emotion näher in den Blick nehmen und zeigen, wie der Verweis auf Reue in Reden eingesetzt wird, um zu versuchen, das Richtergremium in Richtung der vom Sprecher favorisierten Urteilsfällung zu lenken. Vorher aber sei der Rahmen skizziert, in dem in der Antike Gerichtsverhandlungen stattfanden. 2.
Zur Praxis der attischen Gerichtsrede
Prozesse fanden im antiken Athen hauptsächlich auf der Agora, dem Fest-, Versammlungs- und Marktplatz, statt. 21 Auf einem festen Platz wurde ein Prozess von zwei Parteien vor einem Gericht, bestehend aus per Los gewählten Richtern, 22 verhandelt, wobei das Richtergremium aus Bürgern der Stadt zusammengesetzt war. 23 Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich bei den Richtern somit um juristische Laien handelt, die im Vergleich zum heutigen Berufsjuristen demnach als weniger professionalisiert und somit auch als anfälliger für rhetorische Manipulationsversuche zu betrachten sind. 24 Jede Partei durfte zwei zeitlich begrenzte 25 Plä21
Dies hatte zur Folge, dass auf der Agora verschiedene Tätigkeiten parallel abliefen. So konnte eingekauft werden, während nebenan ein Prozess stattfand. Der Komödiendichter Euboulos greift dieses Phänomen auf in Eub. Fragment 74; dazu auch Lanni (1997), 184. 22 Zum Losverfahren vgl. [Pseudo]-Aristoteles Ath. Pol. 63–64. Die Anzahl der Richter schwankte im Normalfall zwischen 200 und 500; vgl. Gagarin (2001), xvii. Lanni (1997), 183 geht von bis zu 1500 Richtern aus. Bei Bleicken (41995), 256–57 findet sich sogar die Angabe von 6000 Richtern; vgl. [Pseudo]-Aristoteles Ath. Pol. 24. Durch das Losverfahren wurde versucht, Manipulationen oder Bestechungen vorzubeugen. 23 Vgl. Cooper (2007), 207. 24 Trotzdem konnten die Richter durch ihre Teilnahme an mehreren Prozessen oder auch als Zuschauer bereits Erfahrungen gesammelt haben; siehe auch unten Anm. 32. 25 Begrenzt wurde die Rede mit einer Wasseruhr, der Klepshydra (wörtlich: die, die Wasser stiehlt), die aus zwei Behältern besteht. Aus einem mit Wasser gefüll-
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
doyers halten; die erste Rede wurde mit einer Gegenrede der Kontrapartei erwidert, danach folgte erneut eine Rede, der wiederum entgegnet wurde. 26 Bei der zweiten Runde war die Redezeit erheblich kürzer. 27 Die Plädoyers wurden von keinem Rechtsanwalt gehalten, sondern von den Parteien selbst. Die Reden konnten aber von einem professionellen Redenschreiber (Logographen), der sich mit der Anklage beschäftigte, ausgearbeitet und dann von der Partei für die Verhandlung auswendig gelernt werden; ferner konnten auch redegewandte Freunde oder Bekannte (sogenannte synēgoroi) für die Verhandlung hinzugezogen werden. Auf die Tätigkeit der Logographen gehen die überlieferten Reden aus der griechischen Antike zurück; viele von ihnen sind Reden für bestimmte Personen zur Verteidigung oder Anklage. Nach den beiden Reden der Parteien stimmten die Richter mittels Stimmsteinen ab, welche sie in ein Gefäß warfen und die danach ausgezählt wurden. 28 Die Richter durften sich vor oder während der Abstimmung nicht beraten oder gegenseitig beeinflussen. 29 Die Dauer der Prozesse schwankt je nach Anklage zwischen einer und mehreren Stunden. 30 Neben den Richtern waren bei öffentlichen Prozessen auch Zuschauer (periestēkotes) 31 zugelassen; diese konnten sowohl Athener als auch Fremde sein. 32 Über die Anzahl der Zuschauer bei ten Behälter läuft das Wasser in einen Auffangbehälter. Der Wasserstand in diesem Behälter zeigt die verstrichene Zeit an. 26 Aufgrund der Überlieferung sind kaum Reden mit den dazugehörigen Gegenreden erhalten. Eine Ausnahme bilden Demosthenes 19 und Aeschines 2, Aeschines 3 und Demosthenes 18 sowie Lysias 6 und Andokides 1. Vgl. Gagarin (2001), xx. 27 Für die erste Rede hatte der Sprecher etwa 30 Minuten Zeit, für die zweite etwa neun Minuten; vgl. Cooper (2007), 209. 28 Zum Abstimmungsverfahren vgl. [Pseudo]-Aristoteles Ath. Pol. 68–69. 29 Vgl. Arist. Pol. II, 1268b7–11. 30 Vgl. Hansen (1991), 187–88. 31 Im Lateinischen wird die Masse der Zuschauer bei einem Prozess als ›Krone‹ (corona) bezeichnet; vgl. Cicero Flac. 69; Brut. 289–90. Für weitere Stellen siehe Lanni (1997), 183 mit Anm. 6. 32 Vgl. Aeschin. 1, 117; 3, 56. Dazu Lanni (1997), 186. Oft waren unter den
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Prozessen lassen sich keine genauen Angaben machen; diese hing unter anderem vom Platzangebot ab.33 Den Zuschauern kommt während der Verhandlung eine nicht unbedeutende Rolle zu, auch wenn sie bei der Urteilsfällung keinen direkten Einfluss hatten. Erstens konnten sie durch Lärm (gr. thorybos) die Reden der Parteien begleiten. 34 Der thorybos, der gegen die Sprecher gerichtet war, konnte sogar dessen Rede unterbrechen, wie man aus der Biographie des Redners Demosthenes bei Plutarch erfährt: Dort wird beschrieben, wie Demosthenes von den Anwesenden durch Lärm unterbrochen wurde, da sie dessen Unerfahrenheit bemerkten und den Aufbau seiner Rede zu undurchsichtig fanden. 35 Adressaten dieses Tumults waren nicht nur die Sprecher, auch die Richter konnten durch den Zwischenlärm der Zuschauer beeinflusst werden, indem der thorybos der Zuschauer mehr oder weniger stichhaltige Argumente unterstütze und ihnen mehr Gewicht verleihen konnte. Zweitens müssen die Richter in Anwesenheit von Zuschauern ihre Entscheidungen in besonderem Maße überdenken, da die Zuschauer das Urteil bewerten und nach dem Prozess die Richter damit konfrontieren können. Dies wird durch eine Stelle bei Demosthenes deutlich, der die Richter am Ende seiner Rede daran erinnert, dass die Bürger sie und ihre Entscheidungen auch außerhalb des Gerichtsaals noch bewerten: Zuschauern auch Redner und Politiker, die durch Beobachten des Prozesses eine Vorbereitung für künftige Reden oder Prozesse erhalten wollten; dies ist etwa belegt durch Cic. De or. 1, 173. Auch für angehende Richter war die Beobachtung von Prozessen eine gute Vorbereitung hinsichtlich gängiger rhetorischer Strategien; dazu auch Lanni (1997), 186: »Since jurors were not instructed as to the laws and were not allowed to deliberate formally, the corona may have served an important role in educating potential jurors« (kursiv im Original). 33 Für archäologische Befunde hinsichtlich der Gerichtsplätze und ihres Raumangebots siehe Lanni (1997), 185. 34 Entweder wurde der thorybos zustimmend als Applaus oder aber ablehnend als akustische Zurückweisung von Argumenten eingesetzt; vgl. exemplarisch Aeschin. 3, 2. Für positiven Lärm im Sinne von Applaus siehe Dem. 8, 30–1. Zum thorybos allgemein Bers (1985). 35 Vgl. Plut. Vit. Dem. 6, 3. Siehe auch ibid. 25, 6. Dazu auch Bers (1985), 5.
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
Ich möchte noch eine Sache sagen und dann enden. Ihr werdet sogleich aus dem Gericht gehen, aber die Zuschauer, Fremde wie Bürger, werden euch betrachten, und sie werden jeden Mann, der auftaucht, einzeln beäugen und aufgrund des Aussehens diejenigen, die für Freispruch stimmten, ausmachen. Was also, Männer Athens, wollt ihr sagen, wenn ihr herauskommt, nachdem ihr die Gesetze übertreten habt? Mit welchem Gesichtsausdruck oder mit welchem Blick wollt ihr jedem von ihnen entgegenschauen? 36
Der Sprecher betont, dass die Richter nach dem Prozess immer noch unter Beobachtung durch die anderen Bürger stehen und vor diesen zu ihrer Entscheidung stehen müssen. Dies gilt auch für Bürger, die bei dem Prozess nicht anwesend waren und eventuell erst später von der Entscheidung gehört haben, wie aus einer Stelle aus Aeschines hervorgeht. 37 Untersuchungen zeigen, dass einige Redner bewusst die Zuhörer einbezogen, auch wenn diese an der Urteilsfindung nicht partizipieren konnten. 38 Der Beeinflussung der Richter durch ›soziale‹ Emotionen 39 kommt eine besondere Bedeutung auch durch den Umstand zu, dass die Richter im 5. Jh. v. Chr. für ihre Entscheidungen nicht im Nachhinein juristisch belangt werden konnten, 40 wohl aber vom Kollektiv der Polis, das die Richter außerhalb der Gerichtsver-
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Dem. 25, 98. Zu dieser Stelle vgl. auch Hesk (1999), 220 und Lanni (1997), 188. Dort finden sich auch weitere Literaturangaben zur Beobachtung der Parteien durch die Zuschauer. Vgl. auch Dem. 21, 2 und Cooper (2007), 207. 37 Aeschin. 33, 247; vgl. Lanni (1997), 188. 38 Etwa die oben genannte Arbeit von Hesk (1999). Vgl. auch Hunter (1994). Allgemein dazu auch Rubinstein (2005), 136: »What we may describe as Athenian ›court etiquette‹ was created and perpetuated by continuous interaction between litigants and their audience, including both judges and bystanders.« In den Reden werden an vielen Stellen die Zuschauer ebenfalls adressiert. Siehe dazu etwa Antiph. 4, 14; Andoc. 1, 105; Aeschin. 1, 77 und 117; Dem. 18, 196; 19, 309. Weitere Stellen bei Lanni (1997), 184. 39 Ähnlich spricht Fulkerson (2004, 241) von »ethical emotions«. Vgl. auch Cooper (2007), 207: »In Athens juries were extensions of the community at large, sharing the same social values as the litigants, and it is to these shared values that litigants must direct their emotional appeals and arguments.« 40 Vers 587 aus den Wespen des Aristophanes illustriert dies in besonderer Weise; vgl. Dover (1974), 292.
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handlung zur Rechenschaft ziehen konnte. 41 Als Formen der Sanktion wären etwa Vorwürfe oder – vielleicht noch schlimmer – Missachtung oder gar soziale Ächtung denkbar. Diese stets präsente unterschwellige Androhung möglicher Sanktionierungen zeigt sich beim Reue-Motiv in besonderer Weise. Der Verweis auf Reue kann nämlich auch eingesetzt werden, um negative Gefühle bei den Richtern hinsichtlich ihrer eigenen Person zu erzeugen. 42 Im Unterschied zur Reue des Anklägers, mit der die Richter milde in ihrem Urteil gestimmt werden sollen, ist die Reue, der die Richter entgegensehen, auf sie selbst gerichtet. Exemplarisch soll dies an zwei Reden des attischen Redners Antiphon 43 untersucht werden. 3.
Fallbeispiele
Von Antiphon sind insgesamt drei Gerichtsreden zu realen Fällen überliefert: In der Rede zum Mordfall des Herodes (Or. 5) ist Euxitheos, ein junger Mann aus Mytilene, angeklagt, den Athener Herodes auf einer gemeinsamen Schiffsfahrt ermordet zu haben. 41
Ein Verweis darauf findet sich in Aeschin. 3, 247: »So gebt nun eure Stimme ab, nicht nur wie solche, die ein Urteil sprechen, sondern auch wie solche, die unter Beobachtung stehen, mit Blick auf eine Rechtfertigung durch diejenigen von den Bürgern, die jetzt nicht anwesend sind, euch aber fragen werden, wie ihr geurteilt habt.« 42 Fulkerson (2004), 251 bemerkt dazu nur knapp: »[B]oth in forensic speeches and in speeches to the ekklesia, the Athenian people are frequently warned of the possibility of metameleia if they convict (or free) the defendant or if they fail to follow the plan suggested by the speaker.« Wie dieser Einsatz von Reue funktioniert oder ausgestaltet werden kann, wird nicht gesagt, auch nicht auf bestimmte Textstellen verwiesen. 43 Antiphon (ca. 480–411 v. Chr.), der Sohn des Sophilus aus der Deme von Rhamnus, ist der erste der zehn attischen Oratores und gilt als einer der ersten professionellen Redenschreiber; vgl. Usher (1999), 27. Seine rhetorischen Fähigkeiten sind in der Antike viel gerühmt; vgl. Philostr. V S 1, 15, 499 und [Plutarch] Vit. X orat. 832 E sowie Thuc. 8, 68, 1–2. Er nahm an der oligarchischen Verschwörung 411 v. Chr. teil und wurde hingerichtet; vgl. Thuc. 8, 68. Zur Identität des Redners Antiphon und Antiphon dem Sophisten vgl. die Diskussion bei Pendrick (2002), 1–25. Vgl. auch Cairns (1993), 344–45 mit Anmerkungen.
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
Herodes ist nach einem Trinkgelage vom Schiff verschwunden und auch nach zwei Tagen intensiver Suche nicht aufgefunden worden. Nach der Rückkehr des Schiffes wurde Euxitheos von den Verwandten des Herodes in Athen des Mordes angeklagt; die überlieferte Rede wurde von Antiphon ausgearbeitet und von Euxitheos gehalten. 44 Ob Herodes überhaupt ermordet wurde, kann nicht gesagt werden; es gibt keine Zeugen für den mutmaßlichen Mord und nicht einmal eine Leiche. 45 Damit steht der Prozess ohnehin auf keinem tragfähigen Fundament und die Hauptstrategie der Verteidigung basiert zwangsläufig auf Aspekten der Wahrscheinlichkeit, wie Michael Gagarin festgestellt hat. 46 Doch nicht nur Argumente, die die Plausibilität betreffen, werden in der Rede eingesetzt. Zum Ende der Rede kommt Antiphon direkt auf die Reue und die Richter zu sprechen: Und führwahr, wenn die Möglichkeit bestünde, einen Fehler zu begehen, dürfte wohl das unrechtmäßige Freisprechen gottgerechter sein als das Zugrunderichten ohne rechtliche Grundlage: Denn das eine ist nur ein Fehler, das andere noch dazu eine gottlose Handlung. In der Sache ist es nötig, große Vorsicht zu zeigen, für die, die im Begriff sind, ein nicht rückgängig zu machendes 47 Werk zu vollbringen. Denn bei einer Angelegenheit, die neu überdacht werden kann, ist es weniger schlimm, einen Fehler zu begehen, sowohl für diejenigen, die Zorn erlegen sind, als auch für die, die einer Verleumdung geglaubt haben: Denn man könnte wohl, nach nochmaligem Überdenken, noch die richtige Entscheidung treffen, aber bei [Angelegen44
Die Rede wurde vor Gericht zwar von Euxitheos gehalten; da jedoch Antiphon als Autor gilt, wird im Folgenden nur von ihm als Autor die Rede sein. 45 Manuwald (1995) arbeitet die juristischen Unstimmigkeiten des Prozesses heraus. 46 Vgl. Gagarin (1997), 174: »Eu[xitheos].’s defense relies primarily on a narrative emphasizing that his presence on the same boat as H. was mere coincidence, on an alibi supported by a witness who testified that Eu. never left the boat on the night in question, and on two procedural irregularities: that the prosecution are using the wrong procedure (5, 8–19, 85–96) and that they interrogated the slave under torture in violation of the normal rules (5, 29–51).« Dies wird auch deutlich durch den häufigen Gebrauch der Begriffe eikos/eikota (22-mal), wie Carawan (1998), 316 bemerkt. 47 Eigentlich: unkurierbares Werk.
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heiten], die nicht überdacht werden können, entsteht bei denen, die den Fehler machten, noch mehr Schaden beim Überdenken und Erkennen [des Fehlers]. Aber von euch bereuten [einige] bereits jene, die zugrunde gerichtet worden sind. Und wenn Reue empfunden wird von euch, die ihr getäuscht wurdet, wäre es wahrlich auch nötig, diejenigen, die getäuscht wurden, zu vernichten. Und die unfreiwilligen [unverschuldeten] der Fehler haben Anspruch auf Mitgefühl, die willentlichen haben dies nicht. Denn der unfreiwillige Fehler, Männer, ist eine Sache des Zufalls, der willentliche eine Sache der Einstellung. 48
Die Forschungsliteratur zu Antiphon misst dieser Passage wenig Bedeutung bei. 49 Eine genaue sprachliche und rhetorische Analyse zeigt aber, wie kunstvoll Antiphon diese Partie in der Absicht ausgestaltet hat, durch den Verweis auf Reue Verunsicherung und Zweifel bei den Richtern zu erzeugen. Was zunächst auffällt, ist der rhetorisch gut inszenierte und ausgestaltete Verweis auf die (potentielle) Reue, die die Richter nach dem Urteil erfahren könnten. Gleich zu Beginn verwendet Antiphon einen aufgeladenen Begriff: die Richter könnten einen Fehler begehen (hamar48
Antiph. 5, 91–92: kai mēn ei deoi hamartein ti, to adikōs apolysai hosiōteron an eiē tou mē dikaiōs apolesai: to men gar hamartēma monon esti, to de heteron kai asebēma. en hō chrē pollēn pronoian echein, mellontas anēkeston ergon ergazesthai. en men gar akestō pragmati kai orgē chrēsamenous kai diabolē pithomenous elatton estin examartein: metagnous gar htisi eti an orthōs bouleusaito: en de tois anēkestois pleon blabos to metanoein kai gnōnai exēmartēkotas. ēdē de tisin hymōn kai metemelēsen apolōlekosi. Kaitoi hopou hymin tois exapatētheisi metemelēsen, hē kai pany toi chrēn tous ge exapatōntas apolōlenai. Epeita de ta men akousia tōn hamartēmatōn echei syngnōmēn, ta de hekousia ouk echei. To men gar akousion hamartēma, ō andres, tēs tychēs esti, to de hekousion tēs gnōmēs. Der Text folgt der Ausgabe von Maidment (1941). Eingesehen wurde neben der Übersetzung von Maidment (1941) auch die von Edwards/Usher (1985). 49 Es gibt keine Analyse der Partie in Gagarin (1989). Eine kurze Zusammenfassung findet sich ibid. 22 und 89. Auch die detaillierte Besprechung bei Erbse (1977) übergeht die Passage. Ebenso ist der Kommentar bei Gagarin (1997, 218) nicht erschöpfend. Es findet sich ebenfalls kein ausführlicher Kommentar zu der Stelle bei Goebel (1983), 225–31 und Usher (1999), 34–40 sowie Schindel (1979). Allein Cairns (1993, 347) verweist auf die Stelle hinsichtlich des Aspektes der Unsicherheit (»uncertainty«).
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tein); 50 der Begriff hamartia ist aus der Tragödientheorie bekannt. Das Verb hamartein und das Substantiv hamartia haben ein weites Spektrum an möglichen Bedeutungen. 51 Der Hauptaspekt liegt auf der Bedeutung »Fehler« oder »Versagen«. Das Verb hamartein und dessen Derivate (hamartēma, examartein) werden in der Partie oben gehäuft eingesetzt und insgesamt sieben Mal genannt. Eine Antithese stellt dann einen Kontrast zwischen der (möglicherweise unbegründeten) Anklage und der Verurteilung zum Tod dar. Es sei, so der Redner, weniger verwerflich (oder gottgerecht), jemanden irrtümlicherweise freizusprechen, als einen Angeklagten ohne rechtliche Grundlage zu verurteilen. Dass der Grat zwischen Freispruch und Verurteilung schmal ist, wird auch sprachlich deutlich gemacht, indem Antiphon Begriffe verwendet, die sich nur in einem Buchstaben voneinander unterscheiden: Freisprechen (apolysai) und Zugrunderichten (apolesai). Als Nächstes ruft der Sprecher die Ebene der Religion auf: Die Verurteilung zum Tod sei eine Sünde (asebēma). 52 Durch diesen Begriff bringt Antiphon eine wichtige Instanz ins Spiel: Die Richter müssten sich, im Falle einer ungerechtfertigten Verurteilung, vor den Göttern verantworten; sie könnten also einen religiösen Frevel begehen, wenn sie ein nicht begründetes und sich später als falsch herausstellendes Urteil fällen. Daher sollten die Richter ihre Entscheidung sehr sorgfältig treffen. Zentral ist die Behauptung, dass es sich um einen Fall handle, der keine Nachprüfung ermögliche (anēkeston ergon), und es somit für etwaige Fehlentscheidungen keinerlei Wiedergutmachung gebe, 53 denn Mord wird nach attischem Recht mit dem Tode bestraft. 54 50
Vgl. Edward/Usher (1985), 121: »Such caution over an irreversible decision also helps avoid later regret should one change one’s mind, and this second theme is resumed in 94 – an acquittal now enables future regret to be remedied but a condemnation is final.« 51 Eine Übersicht gibt Dawe (1968), 91 und 99. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen von hamartein siehe Bremer (1969), 31–64. 52 Zur Sünde der Verurteilung eines unschuldigen Mannes siehe auch Antiph. 6, 6. 53 Vgl. auch Antiph. 6, 3. 54 Vgl. MacDowell (1978), 120.
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Die Klimax wird erreicht, wenn der Redner betont, der Schaden werde noch gesteigert, wenn man den Fehler bemerke und es keine Möglichkeit der Umkehr gebe. Durch den Begriff Schaden (blabos), der mit der Erkenntnis einhergeht, man habe einen Fehler gemacht und bereue nun seine Entscheidung, wird in der Vorstellung der Richter hinsichtlich der Konsequenzen ihres möglicherweise falschen Urteils ein sehr konkretes Gefühl aufgerufen, nämlich Angst vor einer Reue, die kaum jemals aufhören wird. Sprachlich wird das Gefühl der Reue mit (hauptsächlich psychischem) Schmerz verbunden. 55 Die gesamte Partie zielt darauf ab, den Richtern die emotionale Sanktionierung einer Fehlentscheidung durch das eigene Gefühl deutlich zu machen. Nach Aristoteles’ Theorie zielt die Rhetorik auf die Fähigkeit des Redners, in jeder Situation den geeigneten Punkt zu finden, den Zuhörer zu überzeugen. 56 Dabei kommt es darauf an, die sprachlichen Mittel genau auf die Situation und den Zuhörer abzustimmen. Da es sich hier um einen Prozess handelt, dessen Anklagepunkte höchst unsicher sind, ist es rhetorisch geschickt, auf die Folgen einer unbegründeten Verurteilung hinzuweisen; die Konzentration auf den Gefühlszustand der Richter verspricht vor allem vor dem Hintergrund der ungesicherten Informationen Erfolg. So gelingt es dem Sprecher durch das Ansprechen der Gefühlslage des Richters indirekt anzudeuten, wie er im Falle einer Fehlentscheidung nach dem Prozess in der Polis angesehen würde. Er wäre nicht nur seiner eigenen Reue ausgeliefert, sondern auch den beschämenden Blicken des Kollektivs. Dieser Zusammen55
Die Verbindung zwischen psychischem und physischem Schmerz ist durch Begriffe wie Gewissenbisse und im Englischen pangs of conscience fassbar. 56 Vgl. Arist. Rh. I, 2, 1355 b25–26, siehe auch Cic. De or. 1, 138. Von dem attischen Redner Isokrates ist keine formale Definition der Rhetorik überliefert. Quintilian berichtet aber, dass er die Metapher von der Rhetorik als ›Fachmann der Überzeugung‹ prägte. Vgl. Inst. 2, 15, 4: Haec opinio originem ab Isocrate, si tamen re vera ars quae circumfertur eius est, duxit. Qui cum longe sit a voluntate infamantium oratoris officia, finem artis temere comprendit dicens esse rhetoricen persuadendi opificem, id est peithous demiourgos: neque enim mihi permiserim eadem uti declinatione qua Ennius M. Cethegum suadae medullam vocat. Die Metapher findet sich auch in Platons Gorg. 453 a2; vgl. Dodds (1959), 203.
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hang bedarf keiner deutlichen Thematisierung; der Hinweis auf die Unwiderruflichkeit des Fehlers genügt. Nach der langen Ausführung kommt Antiphon in 5,93 auf sein eigenes Gewissen 57 zu sprechen, das – dies wird klar betont – rein sei: Demjenigen, der ein Gewissen hat, ist dies der erste Feind: denn die Seele ist dem starken Körper darin voraus, dass sie fühlt, dass die Bestrafung naht für die Freveltaten. Ich aber trete vor euch ohne ein solches [schlechtes] Gewissen. 58
Diese Bemerkung ist auf den ersten Blick eine Darstellung des reinen Gewissens des Sprechers; nach Douglas Cairns dient diese Passage dazu, die Wichtigkeit einer Reflexion über das eigene Gewissen zu unterstreichen. 59 Implizit fungiert dieser Abschnitt aber auch als Erinnerung an das individuelle Gewissen eines jeden Richters. Der rhetorisch gezielt eingesetzte Abschnitt soll in den Richtern ein Gefühl von Irritation und Verunsicherung erzeugen. Während in anderen Fällen eher ›positive‹ Strategien der Beeinflussung gewählt werden wie etwa Schmeichelei, überrascht hier die eher ›negative‹ Andeutung einer Sanktionierung der Richter durch die eigenen Gefühle. 60 Ein weiteres Mal findet sich eine solche irritierende Strategie mit Bezug zur Reue in den Tetralogien. Die Tetralogien des Antiphon stellen eine Sammlung von Reden für fiktive Gerichtsprozesse dar; das heißt, die Reden wurden so vor keinem Publikum in einem realen Fall gehalten. Sie umfassen dabei zwei Verteidigungsreden sowie zwei Anklagereden und bieten damit eine Vorlage, die es im echten Fall zu imitieren gilt. 61 Auch wenn hier kein 57
Für einen Verweis auf das Gewissen des Sprechers siehe Isoc. Antid. 321–22. Für verschiedene Variationen des Gewissens-Topos’ siehe Edwards/Usher (1985), 122–23. 58 Antiph. 5, 93: tō de xyneidoti touto auto prōton polemion estin: eti gar kai tou sōmatos ischyontos hē psychē proapoleipei, ēgoumenē tēn timōrian hoi hēkein tautēn tōn asebēmatōn. Egō d’emautō toiouton ouden xyneidōs hēkō eis hymas. 59 Vgl. Cairns (1993), 348. 60 Etwa in Antiph. 6, 51; Dem. 23, 66; Aeschin. 1, 92. 61 Vgl. Gagarin (1997), 32–35 und (2002), 59–62. Zur Diskussion hinsichtlich der Autorschaft siehe Carawan (1998), 171–77.
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realer Fall zugrunde liegt, lassen sich aus dem Text ebenfalls Erkenntnisse über die Funktion der Reue als rhetorisches Mittel ableiten. In der ersten Tetralogie wird ein fiktiver Mordfall als Gegenstand der Anklage angesetzt. Ein Mann ist nachts zusammen mit seinem Sklaven in einer Straße getötet worden. Der Sklave konnte vor seinem Tod noch den Angeklagten als Täter nennen. Nach einer Ermahnung, nicht durch Bestrafung des Unschuldigen den Schuldigen entkommen zu lassen, fährt Antiphon folgendermaßen fort: Da ich aber von allen Anschuldigungen rein bin, fordere ich in meinem eigenen Interesse die Rechtschaffenheit derer, die kein Unrecht begangen haben, zu berücksichtigen, und ich erinnere euch im Interesse des Verstorbenen an die Vergeltung und ermahne euch, nicht den Schuldigen davonkommen zu lassen, indem ihr den Unschuldigen ergreift: Wenn ich gestorben bin, wird niemand mehr nach den Schuldigen fahnden. Dies bedenkend, sprecht mich vor Gott und vor dem Recht frei und erkennt nicht den Fehler erst in dem Moment, wenn ihr ihn bereut. Für Reue in Fällen wie diesen gibt es kein Heilmittel. 62
Auch in dieser Partie versucht Antiphon durch einen Verweis auf die (potentielle) Reue der (allerdings hier fiktiven) Richter eine Beeinflussung des Urteils zu erzielen; ähnlich wie in der Rede zum Mordfall des Herodes werden auch hier religiöse Begriffe gebraucht. 63 So stellt er dem Freispruch vor Gott und dem Recht (hosiōs kai dikaiōs) die Erfahrung von Reue beinahe antithetisch gegenüber. Die Richter können, so suggeriert Antiphon, nur eine der beiden Optionen wählen. 64
62
Antiph. Tetr. 1, 4, 11–12: egō de katharos ōn pantōn tōn enklēmatōn hyper hmeni emautou episkēptō aideisthai tēn tōn mēden adikountōn eusebeian, hyper de tou apothanontos anaminēskōn tēn poinēn parainō hymin mē ton anaition katalabontas ton aition aphienai: apothanontos gar emou oudeis eti ton aition zētēsei. Tauta oun sebomenoi hosiōs kai dikaiōs apoluete me, kai mē metanoēsantes tēn hamartian gnōte: aniatos gar hē metanoia tōn toioutōn estin. 63 Eine Analyse der Passage bietet auch Cairns (1993), 346–47. 64 Vgl. Nave (2002), 50: »Antiphon is trying to convince the court to do what is
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
Im letzten Satz verwendet Antiphon erneut die Emotion der Reue gegen die Richter. Er betont, dass es immer die Möglichkeit gebe, einen Unschuldigen zu verurteilen. Besonders der medizinische Terminus aniatos (unheilbar) erzeugt das Bild von Reue und Bedauern als Krankheit ohne Chance auf Heilung. 65 Dass Affekte als Krankheiten der Seele bezeichnet werden können, zeigt sich bereits bei dem Rhetoriklehrer und Sophisten Gorgias in seinem Enkomion auf Helena, wenn er fragt, ob Helenas Begierde (prothymia) nach der Schönheit des Paris von einem Gott induziert wurde oder ob es sich dabei um eine Krankheit der Seele handle (nosēma psychēs). 66 Der Vergleich von Gefühlen mit Krankheiten ist in späterer Zeit gängige Praxis. 67 Antiphon bedient sich eines Topos, der ein klares Bild erzeugt: Die ›Heilung der Reue‹ kann nur in Wiedergutmachung bestehen; da eine Heilung in diesem Fall unmöglich ist, ist die Drohung mit der Reue ein wirksames Mittel. Man könnte im Rückgriff auf das von Antiphon verwendete Adjektiv aniatos zwischen zwei Formen der Reue differenzieren: eine, bei der die Möglichkeit von Wiedergutmachung offen ist, und eine, bei der durch die Umstände von vornherein klar ist, dass spätere Abhilfe oder Kompensation ausgeschlossen ist. Letztere Form wäre dann untilgbar und würde sich besonders eignen, um damit eine Drohung auszusprechen. Die Sanktion, die auf die Entscheidung folgt, ist dann zweifach: Erstens werden die Richter von den Zuschauern im öffentlichen Leben aufgrund ihrer fehlerhaften Entscheidung negativ bewertet, zweitens ermöglicht die untilgbare Reue eine Sanktion durch die eigenen Gefühle. Damit ›pious and just‹ rather than ›demonstrating remorse‹ once they recognize they have executed an innocent man.« 65 Nach dem Eintrag bei Liddell-Scott-Jones ist die Verwendung von aniatos metanoia nur an dieser Stelle belegt. Im Kontext von Reue und Bedauern wird aniatos noch bei Aristoteles verwendet, der den Zügellosen (akolastos) als einen Menschen beschreibt, der unfähig ist, Reue zu fühlen, und ihn mit dem Adjektiv aniatos belegt; vgl. Arist. Eth. Nic. VII, 7, 1150 a20–23 und 1150 b29–33. 66 Vgl. Gorg. Hel. § 19. 67 Ciceros Aussagen zufolge verwenden vor allem die Stoiker den Vergleich der Affekte mit Krankheiten der Seele; vgl. Cic. Tusc. 4, 23–24.
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kommt eine weitere Emotion ins Spiel: die Angst vor den eigenen Gefühlen. Denn die Richter setzen sich bei einer unbegründeten Verurteilung der Gefahr aus, später durch eigene Gefühle bestraft zu werden. Auch die Angst weist zwei Aspekte auf: Die Angst vor dem Schuldigwerden muss ebenso vermieden werden wie die Angst vor einem Gefühl, das nach dem Schuldigwerden eintritt: die Angst vor der späteren Reue. Der Historiker Diodorus Siculus (1. Jh. v. Chr.) belegt diesen Effekt der vergeblichen Reue, die einsetzt, nachdem die Möglichkeit zur Wiedergutmachung verstrichen ist: Im 17. Buch seiner Historien berichtet er, wie der König von Persien einen Mann, der sich über die persische Männlichkeit lustig gemacht hatte, in einem Anfall von Wut zum Tode verurteilen ließ. Kurz danach habe der König seine Entscheidung bereut: Nachdem sich sein Gemüt beruhigt hatte, bereute der König sofort in der Seele und tadelte sich selbst dafür, dass er einen so großen Fehler begangen hatte. Aber er war mit seiner königlichen Macht nicht in der Lage, das Geschehene ungeschehen zu machen. 68
Diodor beschreibt, wie der König sich selber Vorwürfe macht und sich aufgrund seines Fehlers selbst tadelt (katemepsato). Die Stelle zeigt, dass die eigenen Reuegefühle zu einer nicht unbedeutenden Last werden, besonders dann, wenn sie nicht mehr durch Wiedergutmachung zu beheben sind. 4.
Zusammenfassung und Ausblick
Die beiden ausgewählten Textstellen zeigen, wie Antiphon die Emotion der Reue rhetorisch einsetzt und versucht, bei den Richtern die von ihm favorisierte Entscheidung zu erzeugen. Er bemüht sich, eine Verurteilung zu vermeiden, indem er auf geschickte Weise die Richter daran erinnert, dass sie es bereuen könnten, den Angeklagten zu verurteilen, wenn sich herausstellt, dass er doch unschuldig war. Es wird auf eine Emotion verwiesen, 68
Diod. Sic. 17, 30, 6. Vgl. zu der Stelle auch Nave (2002), 50.
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
die für die Richter selbst hohe Relevanz hat – anders als die typischen Emotionen im Kontext der Gerichtsrede, die zwar auch in den Richtern erzeugt werden, aber sich auf andere Personen richten, wie etwa Wut über die Dreistigkeit des Klägers, Mitleid mit dem Angeklagten usw. Subtil werden Angst und Verunsicherung 69 evoziert, die das Urteil beeinflussen können. Es ließe sich vermuten, dass es sich bei diesem Einsatz um ein Standardmittel in der Gerichtsrede handelt. 70 So findet sich auch bei dem attischen Redner Isokrates der Verweis auf die Reue, jedoch bei weitem nicht so künstlerisch ausgestaltet: »Wer von euch bereute es nicht – wenn auch nicht unverzüglich, sondern erst nach kurzer Zeit –, wenn ihr den Verleumder seht, wie er reich geworden ist, mich aber beraubt auch der Dinge, die ich, als ich auf eigene Kosten der Stadt diente [leitourgeō] 71, zurückließ.« 72 Was jedoch die beiden Partien aus Antiphon zweifellos auszeichnet, ist der hohe Grad der rhetorischen Ausgestaltung. Dieser sprachliche Aufwand, mit dem Antiphon das Motiv der Reue in seinen Reden einsetzt, lässt vermuten, dass es sich um eine erfolgreiche Strategie gehandelt hat. Was hier in Bezug auf die Rolle der Reue in der attischen Gerichtsrede dargestellt wurde, ließe sich auch anhand der römischen Gerichtsrede untersuchen. Weiter könnte gefragt werden, ob sich die Sprecher bei der Erzeugung bestimmter Emotionen vor Gericht in besonderer Weise an der Gruppe oder der Person, die sie beeinflussen wollen, orientieren: Gibt es Emotionen, die bei bestimmten Altersgruppen, Geschlechtern oder einer be69
Die Verunsicherung als Mittel der Rhetorik ist bisher kaum reflektiert worden; für erste theoretische wie praktische Ansätze zu einer ›Rhetorik der Verunsicherung‹ siehe Früh u. a. (2015). 70 Ein bloßer Verweis – ohne rhetorische Ausgestaltung – darauf, dass eine Entscheidung getroffen werden soll, die die Stimmberechtigten später nicht bereuen, findet sich in Andoc. 3 (De pace) 41, 12. Siehe ferner Lys. 30, 30 und Cic. Flac. 104. 71 Das Verb leitourgeō bezeichnet eine Form des Dienstes für die Polis, bei der das eigene Vermögen aufgewendet wurde. 72 Isoc. 18 (Gegen Kallimachos), 64. Für die Gefahr für die Richter, sich schuldig zu machen, indem sie einen Angeklagten freisprechen und er sich doch als schuldig erweist, siehe Lycurg. Leoc. 146.
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stimmten sozialen Stellung besonders häufig eingesetzt werden? Sind bestimmte Gruppen für bestimmte Emotionen empfänglicher? Emotionen spielen vor Gericht für alle Beteiligten eine Rolle: für die gerichtlichen Parteien, die Richter wie auch die Zuschauer. Dies dürfte grundsätzlich auch heute nicht anders sein, auch wenn die Professionalisierung der Richter in unserem Rechtssystem zweifellos zu einem anderen Umgang mit Emotionen führt, der eigens zu untersuchen wäre. Literatur Antiphon and Lysias, Transl. with Commentary and Notes by Michael Edwards and Stephen Usher, Chicago Ill. 1985. Antiphon, Transl. by Maidment, Kenneth J., in: Minor Attic Orators, Vol. I: Antiphon, Andocides, Cambridge Mass. 1941. Bers, Victor: Dikastic thorubos, in: Paul A. Cartledge/F. D. Harvey (Hg.), Essays Presented to G. E. M. de Ste Croix on his 75th Birthday, Exeter 1985, S. 1–15. Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, Paderborn/München 41995 (erstmals 1985). Bremer, Jan M.: Hamartia: Tragic Error in the Poetics of Aristotle and in Greek Tragedy, Amsterdam 1969. Cairns, Douglas: Aidos: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993. Cairns, Douglas: Representations of Remorse and Reparation in Classical Greece, in: Murray Cox (Hg.), Remorse and Reparation. Forensic Focus, London/Philadelphia 1999, S. 171–178. Carawan, Edwin: Rhetoric and the Law of Draco, Oxford 1998. Cooper, Craig R.: Forensic Oratory, in: Ian Worthington (Hg.), A Companion to Greek Rhetoric, Malden 2007, S. 203–219. Dawe, Roger D.: Some Reflections on Ate and Hamartia, in: Harvard Studies in Classical Philology 72 (1968), S. 89–123. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar 2007. Dodds, Eric R.: Plato, Gorgias: a Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1959. Dover, Kenneth J.: Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle, Oxford 1974. Erbse, Hartmut: Antiphons Rede (Or. 5) über die Ermordung des Herodes, in: Rheinisches Museum 120 (1977), S. 209–227.
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Die Reue von Richtern in der attischen Gerichtsrede
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Matthias Grotkopp
Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre. Rechtsgefühle und ambivalente Gewalt in Clint Eastwoods Unforgiven 1.
Einleitung
Wie kaum ein anderes Genre der westlichen Unterhaltungskultur spielt der Western mit einer Erkenntnis, die Nietzsche mit den Worten artikuliert hat, die Moralen, das Gute und das Böse, seien »auch nur eine Zeichensprache der Affekte«. 1 Die Moral des Western ist – zumindest dort, wo diese mythische Erzählung einen Anspruch auf Kunst, d. h. auf die Erkundung der eigenen medialen Bedingungen des Wahrnehmens und Erzählens erfüllt – notorisch offen und von sorgenvoller Unruhe geprägt, da es um nicht weniger als um die fragile Allianz der Stärke mit dem Guten geht. 2 In den Duellen in schäbigen Saloons, auf staubigen Straßen oder verlassenen Feldern wird immer wieder durchgespielt, dass die Werte und das Werteempfinden eine Geschichte haben, die auf Gewaltakten und Machtkämpfen basiert. Die Gefühle, die von Zuschauern 3 dabei durchlaufen werden, lassen sich als die affektive Erfahrung beschreiben, in das moralische Gefüge einer Gemeinschaft eingewoben zu sein, die ihre Geschichtlichkeit genau so gegründet sieht. Im Folgenden möchte ich die Art dieser Verbindung in einer spezifischen Modulation erkunden: Das Schuldgefühl als ästheti1
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, KSA hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, München 1988 [1886], S. 107. 2 Vgl. Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged Edition, Cambridge, MA/London 1979 [1971], S. 59. 3 Mit Nennung der pluralen bzw. männlichen Funktionsbezeichnung ist immer auch die weibliche Form mit gemeint.
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Matthias Grotkopp
sche Erfahrungsmodalität soll als eine mögliche Realisierung der Bedingungen des Genres beschrieben werden. Denn die Gründung einer Moral und einer Rechtsordnung und mithin von Gemeinschaft wird im Western zunächst als eine Überwindung von Unrecht und Gewalt durch nicht legitimierte, aber Legitimität hervorbringende Gewaltakte imaginiert. Was aber, wenn diese Erfahrung sich nicht mehr als ein Bild der abgeschlossenen Vergangenheit darstellt, sondern sich als retrospektive Realisierung der Gründung von Moral und Gemeinschaft im Moment ihrer gleichzeitigen Verletzung erweist und so auch in der Gegenwart weiter insistiert? Lässt sich ein affektpoetisches Kalkül beschreiben, das darin besteht, die Gefühlsregister des Genres zu durchlaufen und zugleich anders, reuig, schmerzhaft neu zu empfinden? Dazu soll zunächst die Beziehung von ästhetischer Erfahrung, Moral und Gemeinschaftsbindung erläutert werden. Es soll deutlich gemacht werden, inwiefern mediale und kulturelle Praktiken Gefühle als spezifische Selbst- und Weltverhältnisse nicht nur sekundär verwalten, sondern als Möglichkeitsbedingungen des Politischen herstellen. Denn durch ästhetische und gefühlsbasierte Stellungnahmen werden die Erfahrungsformen, mit denen wir einen gemeinsamen Wirklichkeitsbezug fassen, hergestellt und moduliert. Filmische Erfahrungs- und Ausdrucksmodalitäten bringen so Zusammenschlüsse hervor, die von den Wahrnehmenden als eine geteilte Welt realisiert werden. Diese sind jedoch nie absolut inklusiv und definieren sich stets auch über Ausschlüsse – zumeist ohne dass dies so explizit oder auch nur so deutlich thematisch würde, wie etwa im Ausschluss der Native Americans aus der Gründung der US-amerikanischen Nation im klassischen Western. In diesem Sinne sind ästhetische Prozesse immer auch konkret sinnliche Interventionen in geteilte, kontingente Wahrnehmungs- und Geschmacksordnungen. 4 4
Ich beziehe mich hier auf ein Denken des Politischen nach Hannah Arendt, Richard Rorty und Stanley Cavell, das Beschreibungen und Geschmacksurteile als Grundbedingung des menschlichen Miteinanders versteht. Vgl. Arendt, Hannah: Lectures on Kant’s Political Philosophy, hg. v. Ronald Beiner, Chicago 1992 [1982]; Cavell, Stanley: Cities of Words. Pedagogical Letters on a Register of the
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Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre
Anschließend wird der filmtheoretische Hintergrund dieser Untersuchung skizziert und das Schuldgefühl als eine bestimmte Modalität filmischer Expressivität und Zeitlichkeit vorgestellt. Im Zentrum steht dabei die Betonung der spezifischen Medialität und Zeitlichkeit des Films als Basis der Emotionalisierung der Zuschauer. Dabei beziehe ich mich auf Hermann Kappelhoffs Methode der Analyse audiovisueller Bilder als Ausdrucksbewegungsbilder 5 und verbinde sie mit einer phänomenologischen Theorie der Gefühle nach Hermann Schmitz 6 und Hilge Landweer. 7 Danach begreife ich Gefühle als leiblich realisierte, dynamische Volumen und Bewegungssuggestionen (wie das Zuschnüren des Halses im Schreck, das Im-Boden-Versinken-Wollen der Scham oder das zentrifugale Um-sich-Schlagen des Zorns), die allesamt als räumlich erlebt werden, aber nicht mit objektiven Ortsveränderungen von Körpern und Körperteilen identisch sein müssen. Es sind diese Stimmungen, Dynamiken und Rhythmen, mit denen wir uns sinnlich-leiblich zu einer Welt als Struktur von Werten und Relationen verhalten – sei es die alltägliche Lebenswelt, sei es die Welt der Bilder und Töne, die sich in der Dauer eines Films vor uns entfaltet. Der Hauptteil dieses Beitrags wird schließlich versuchen, die ästhetische Erfahrungsmodalität des Schuldgefühls anhand einer exemplarischen Filmanalyse evident zu machen. Gegenstand der Untersuchung ist Clint Eastwoods Western Unforgiven (USA 1992), der sich explizit zu den Akten der Gewalt so verhält, dass man sie auf die – trotz aller Ambivalenz und Ungewissheit – im Genre gegebene Möglichkeit der narrativen und affektiven AffirMoral Life, Cambridge, MA/London 2004; Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1992. 5 Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004; Kappelhoff, Hermann/Bakels, JanHenrik: Das Zuschauergefühl. Möglichkeiten qualitativer Medienanalyse, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Vol. 5 No. 2 (2011), S. 78–96. 6 Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum, System der Philosophie Bd. 3/2, Bonn 1969. 7 Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999.
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mation bezieht und ihnen diese Affirmation zugleich radikal entzieht. Der Film wird somit zu einer Erfahrung, jetzt in diesem Durchlaufen des Films, etwas – die Gefühlsdramaturgien des Genres – noch einmal anders als in den prototypischen Western, nämlich schmerzhaft zu empfinden und die eigene moralische Wirklichkeit und Geschichte im Zeichen einer grundlegenden Unsicherheit und eines Misstrauens in ihre Gültigkeit neu aufzustellen. 2.
Die ästhetische Modulation moralischer Gefühle und die Erfahrung von Gemeinschaft
Ausgangspunkt meiner Überlegungen und – wie ich argumentieren möchte – die notwendige Bedingung, um Gefühle, Moral und Ästhetik zusammen denken zu können, ist es, den Leib als den gespürten Körper in seinen zeitlichen, intensiven und dynamischen Dimensionen ins Zentrum einer Theorie der Gefühle zu stellen. Nur so sind Gefühle tatsächlich in relationalen, intersubjektiven, sozialen und kulturellen Prozessen sinnvoll zu verorten und zu analysieren. Damit ist vor allem eine Kritik an solchen Positionen verbunden, die Gefühle ausschließlich als Urteile in Bezug auf Informationen konzeptualisieren. 8 Die moralische Vernunft der Gefühle ist nicht dadurch zu begründen, dass man sie einem Denken in aussageförmigen Informationseinheiten angleicht, sondern mit ihrer Fähigkeit, komplexe Werturteile, Weltund Selbstbezüge als multimodale Modellierungen des leiblichen Fühlens hervorzubringen. Gefühle sind nicht bloß die private, innere Bewertung äußerer Vorgänge. Sie sind in ihrer subjektiv erfahrenen Leiblichkeit immer schon aktiv, dynamisch und interpersonal, sie sind historisch und kulturell situiert. Auch moralische Gefühle sind als konkret leibliche Betroffenheit von Recht und Ungerechtigkeit in ein Netzwerk von selbst-, welt- und werterschließenden Prozessen eingebunden. Es geht da8
Vgl. Nussbaum, Martha: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001.
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Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre
rum, ein Verständnis von Moral und Gefühl zu entwickeln, das die Geltung von Normen in der »Autorität der Gefühle« 9 verankert. Dies ist nicht gleichbedeutend damit, dass Gefühle Normen allein begründen und rechtfertigen können, sondern meint lediglich, dass jede Geltung von »Richtig« oder »Falsch«, von Wünschenswertem oder Verbotenem, von Lobens- und Tadelnswertem auf affektiver Betroffenheit beruht. Die Grundlage ist dabei eine Erfahrung von Unrecht, von Überschreitung. 10 Jede Ausformulierung moralischer Regeln oder ethischer und rechtlicher Grundsätze ist erst ein sekundäres SichVerhalten zu einem »zuerst drängend gespürte[n] Unrecht« 11. Das Gefühl zeigt eine Überschreitung an, die Überschreitung zeigt die Norm – nicht umgekehrt. 12 Die Realität oder Objektivität der Normen und Werte, von denen unsere Gefühle künden, deren Geltung uns die Gefühle subjektiv aufdrängen, weist auf das Vorhandensein von einer Moral und nie von der Moral hin. 13 In dieser Hinsicht ist noch einmal zu betonen, dass die Verankerung der Moral in der subjektiven leiblichen Empfindung zwar eine gesunde Skepsis und Fehlbarkeitsannahme beinhaltet, jedoch nicht als nihilistische Entwertung allen Werteempfindens zu verstehen ist, sondern den »absoluten Ernst der sittlichen Forderung« 14 in der persönlichen affektiven Betroffenheit verortet. Dass mich etwas angeht, dass ich angesprochen bin, ist nur als konkrete affektive Betroffenheit zu begreifen und nie von Formen der Interaktion und der Kommunikation zu trennen, die mit daran beteiligt sind, diese Betroffenheit als Bindung an Normen und an das Wohl oder das Leid Anderer herzustellen. Wir würden 9
Schmitz, Hermann: Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012, S. 18. Ebd., S. 59 ff. 11 Ebd., S. 60. 12 Landweer, Hilge: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Andermann, Kerstin/Eberlein, Undine (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–78, hier S. 59. 13 Landweer, Hilge: Normativität, Moral und Gefühle, in: dies. (Hg.): Gefühle. Struktur und Funktion, Berlin 2007, S. 237–254, hier S. 246. 14 Schmitz, Reich der Normen, S. 144. 10
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nicht moralisch fühlen, wenn wir nicht im Fühlen die Erwartung oder Annahme mitfühlen würden, dass andere genauso fühlen oder fühlen sollten. Und dieses Teilen von Werten gehört zum zentralen Movens von rhetorischen und ästhetischen Prozessen der Gefühlsmodellierung. Die intersubjektiv kultivierten Normen und Werte sind das Ergebnis von komplexen, historisch emergenten Prozessen der Interaktion, der Kommunikation und der Mobilisierung von individuell verkörpertem Werteempfinden. Es gilt also Moral in subjektiven leiblichen Empfindungen zu verankern, die je nach Gefühl spezifische Dynamiken mit eigenen Verlaufsgestalten und signifikante zeitliche Strukturen aufweisen, Dynamiken und Strukturen, die sich in ästhetischen und kommunikativen Prozessen gegenseitig nuancieren und perspektivieren. Dies läuft letztlich auf eine nietzscheanische Position zu, nach der sich Moral als Frage der Ästhetik, der Wahrnehmung von Gestaltprozessen und sinnlich evozierten Stimmungen und Atmosphären erweist. 15 Die ästhetische Modulation moralischer Gefühle ist grundiert von der Erfahrung, in einen geteilten Wertehorizont affektiv eingebunden zu sein. In diesem Sinne sind solche Modulationen ›Operationen‹ an der konkreten Sinnlichkeit eines geteilten Wirklichkeitszugangs. Sie bieten nicht einzelne Urteile an, sondern sie machen die Maßstäbe und Modi erfahrbar, nach denen sichtbar wird, ob überhaupt etwas zu beurteilen und zu bewerten ist, und transformieren sie dabei zugleich. Die Zuschauererfahrungen der Filmrezeption lassen sich daher als Übertragungs- und Transformationsvorgänge von Zeitstrukturen kultureller, historischer und medialer Muster begreifen, deren primärer Gefühlsgehalt die Wahrnehmung des eigenen AffiziertSeins ist. Und die Poetologien filmischer Genres sind ein prädestiniertes Beispiel dafür, wie Gefühle nicht nur im einzelnen Fühlen verortbar sind, sondern erst als Formgebungsprozesse und als ästhetische Praxis 16 in einem Netzwerk aus Wiederholung, Ambi15
Vgl. Kerger, Henry: Moral, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S. 284–286. 16 Vgl. Scheer, Monique: »Are Emotions a kind of Practice (and is that what
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Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre
valenz, Reziprozität und Interaktion einen immer wieder neuen Sinn erhalten. 3.
Filmische Expressivität und das Zuschauergefühl als Schuldgefühl
Zu der oben skizzierten Kritik an einer Theorie der Gefühle als kognitiven Urteilsstrukturen lässt sich auch ein paralleles Argument bzw. Desiderat in der filmwissenschaftlichen Theoriebildung anführen: Dort werden Gefühlsadressierungen durch Filme meist lediglich auf der Ebene der kognitiven Bewertung von repräsentierten Figuren und Handlungen benannt und die spezifische mediale Dimension der bewegten Bilder außen vor gelassen. Ich möchte mich dagegen auf einen Ansatz berufen, nach dem audiovisuelle Bewegungsbilder als sich in der Dauer entfaltende und von Zuschauern zu realisierende Wahrnehmungsakte zu konzeptualisieren sind. Dabei analysiere ich audiovisuell modulierte Gefühle als spezifische Verlaufsgestalten, die zeitliche Dynamiken und Rhythmen als leiblich grundierte Sinn- und Wertekonstruktionen herstellen. 17 Die Bewegungen, synästhetischen Intensitäten und Rhythmen, die als Gestaltung von Figuren, Dingen und Handlungsorten verstanden werden können, sind auf einer grundlegenderen Ebene als Kräfte und Vektoren auf die Leiblichkeit der Zuschauer bezogen, wo sie sich als wechselnde Gefühle und damit als eine sich beständig verändernde Idee vom Ganzen einer Welt des Films realisieren. 18 Nicht die Kongruenz zwischen dem Fühlen einer Figur und dem Fühlen der Zuschauer ist hier entscheidend, sondern die Kongruenz zwischen der zeitlichen Entfaltung eines Musters filmischer Expressivität und der Art und Weise, wie es sich leiblich anfühlt, dieses oder jenes Gefühl zu haben. Diese Muster – nicht makes them have a history)? A Bourdieuian approach to understanding Emotion«, in: History and Theory, Vol. 51, No. 2 (Mai 2012), S. 193–220. 17 Kappelhoff, Matrix der Gefühle; Kappelhoff/Bakels, Zuschauergefühl. 18 Vgl. Cavell, World Viewed.
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die Figuren, Räume und Handlungen, die aus ihnen hervorgehen – können als mediale Erfahrungsformen von unterschiedlich akzentuierten Gefühlen gelten. Diese sind nicht mit den singulären emotionalen Reaktionen einzelner Zuschauer identisch, die auf diese affektiven Erfahrungsmodalitäten antworten: Es gibt keinen Automatismus der Darstellung, der bei empirischen Personen notwendig bestimmte Betroffenheiten erzeugen könnte. Und doch lassen sich filmische Bedeutungs- und Empfindungsproduktion nicht anders begreifen als in der Rekonstruktion des Entwurfs filmischer Welten aus audiovisuellen Bewegtbildern durch ein Sehen, Denken und Fühlen individuell verkörperter Zuschauer. Gegenstand der Filmanalyse sind demnach nicht die narrativen Informationen, sondern das Zusammenspiel der mikrostrukturellen Einheiten, die jeder Szene ihre spezifische kompositorische Gestalt als dynamisches Muster verleihen, und die durchgängige Modulation und prozessuale Interaktion von Gefühlen in der Dauer des Films. 19 Das für die folgende filmanalytische Studie ausgewählte Beispiel des Schuldgefühls sollte sich demnach als eine expressive Zeitstruktur audiovisueller Bilder rekonstruieren lassen. Es wäre zu zeigen, dass einem Zuschauergefühl als Schuldgefühl keine zu bewertende Schuld vorausgehen muss. Auch die mögliche Beund Zuschreibung schuldig werdender, dargestellter Figuren, mit denen sich Zuschauer identifizieren würden, ist als sekundäre Struktur in der primären zeitlichen Entfaltung filmischer Expressivität grundiert. Das Zuschauergefühl als Schuldgefühl geht aus Verlaufsgestalten hervor, die die Zuschauer selbst als die Erfahrung einer sie schuldig sprechenden, sie als verantwortlich ansprechenden filmischen Welt realisieren. Die ersten Hinweise für das Auffinden solcher expressiver Zeitstrukturen liefern phänomenologische Beschreibungen des leiblichen Empfindens einzelner Gefühle, wie etwa folgende: Das Schuldgefühl blockiert nicht durch fixierende zentripetale Richtungen wie Scham, sondern ist durch eine bohrende Spannung cha19
Kappelhoff/Bakels, Zuschauergefühl.
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rakterisiert, die durch das Oszillieren zwischen der Aktivierung, die auf Wiedergutmachung zielt, und der Passivierung durch das Erschrecken über die eigene Schuldhaftigkeit entsteht. 20
Das Schuldgefühl lässt sich als schweres, drückendes und pressendes Gewicht charakterisieren und zeichnet sich durch eine bestimmte langsame und lang anhaltende Zeitlichkeit aus. 21 Das ›Erschrecken‹ erscheint dabei nicht plötzlich, sondern baut sich allmählich in Wiederholungsschleifen auf. 22 Dieser langsame Aufbau wird immer wieder unterbrochen, abgelenkt, ihm wird ausgewichen, so dass dies insgesamt auf eine Bewegungsqualität des Oszillierens zwischen Aktivität und Passivität hinausläuft. Als audiovisuelle Struktur muss das Schuldgefühl also in solchen Dynamiken gesucht werden, die eine allmählich sich aufbauende, über exzessive Wiederholungen operierende Blockade der Zeit gestalten. Wo und wie entsteht der Eindruck einer unwiderruflichen Nachträglichkeit? Das Schuldgefühl ist besonders intensiv und quälend, wenn keine effektive Wiedergutmachung möglich ist, da gerade diese einen zentralen Impetus ausmacht, der mit einem anderen im Widerstreit steht, nämlich der Flucht vor dem Fehlverhalten, die durch dessen wiederholte lebhafte Repräsentation, die dem Appell zur Wiedergutmachung innewohnt, hervorgerufen wird. Durch welche audiovisuellen Gestaltungsweisen wird das filmische Bild zu einer Empfindungsmaterie, die in ihrer zeitlichen Entfaltung eine Atmosphäre von ›bohrender Spannung‹ und drückendem und pressendem Gewicht gestaltet? Welche Bildinszenierungen sind mit oszillierend widerstreitenden Bewegungs- und Richtungsqualitäten durchsetzt? Solche audiovisuellen Strukturen herauszupräparieren hieße, das Zuschauergefühl als Schuldgefühl im Sinne eines affektiven Skriptes zu verstehen, das eine bestimme Erfahrung von Zeitlichkeit als schmerzhafte Irreversibilität erlebbar macht. Zugleich verweist dieses Zuschauergefühl, so meine These, gerade im Western 20
Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, S. 222. 21 Vgl. ebd. sowie Schmitz, Reich der Normen, S. 140. 22 Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle, S. 222.
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auf eine bestimmte Dimension des Lebens in der Pluralität, nämlich die Verletzlichkeit des Anderen und die inhärenten Gewaltprozesse von Gemeinschaft und Kultur, die hier als Modalität individuell verkörperten Spürens erfahren werden können. 4.
Der Western und die Ambivalenzen der Gemeinschaftsgründung
Welche Rolle kann nun ein solches affektives Skript im Westerngenre und in anderen Formen der Unterhaltungskultur spielen? Robert Burgoyne argumentiert mit Bezug auf Geschichtsfilme im US-amerikanischen Kino der 1980er und 1990er Jahre, dass hinter jeder noch so kommerziellen und populären Erscheinung ein soziales, politisches und historisches Engagement steht, ein Dialog zwischen der kritischen Neubetrachtung einerseits und der Erhaltung und Tradierung der zentralen Selbstzuschreibungen und Symbole des Gemeinwesens andererseits, ein Dialog, der die fundamentalen Brüche und Machtfragen aktualisiert und die grundlegenden Ängste, Ambivalenzen, Versprechen und Hoffnungen dieses Gemeinwesens artikuliert. 23 Dass nun der Western wie kaum ein anderes Genre des Hollywood-Kinos mit einem bestimmten Versprechen verbunden war, hieße daher, dass er sich immer auch mit der Gefährdung, mit dem Bruch dieses Versprechens auseinandersetzen müsste. Der Mythos des Western besteht in seiner einfachsten Formulierung darin, dass man die Wildnis von einer dynamischen ›frontier‹, von einer expandierenden Übergangszone zwischen Fremdem und Eigenem durchziehen lässt, in der sich immer wieder Zähmung, Kultivierung und Ordnungsstiftung ereignen. Der frontiersman bereitet den Boden für eine kommende Gemeinschaft der Nation, der er selbst aber nicht angehört, der er aufgrund seines Gewaltpotentials nicht angehören darf und der er nicht ange-
23
Burgoyne, Robert: Film Nation: Hollywood looks at U.S. History, Minneapolis/ London 1997, S. 1–15.
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hören will, da er in seinem Freiheitsdrang von ihren Machtgefügen und bürokratischen Strukturen immer wieder abgestoßen wird und weiterzieht. Der Mythos der frontier beschreibt in der Formulierung von Richard Slotkin einen Prozess der Geschichtswerdung durch äußere, physische Expansion auf Basis einer vorhergehenden Trennung vom Zustand der Zivilisation und einer anschließenden (Wieder-)Herstellung der Gemeinschaft durch Akte der Gewalt: The Myth represented the redemption of American spirit or fortune as something to be achieved by playing through a scenario of separation, temporary regression to a more primitive or »natural« state and regeneration through violence. 24
Ein Charakteristikum dieser dynamischen Bewegung ist die Feststellung, dass in diesem Gründungsakt der Gemeinschaft notwendigerweise offene Gewalt eine zentrale Rolle spielt. 25 Dazu kommt allerdings, dass gleichzeitig und ebenso notwendigerweise diese Rolle der Gewalt verschleiert werden muss, da sie durch keine bestehende Rechtsordnung des Gemeinwesens legitimiert werden kann, weil sie eine solche überhaupt erst ermöglicht. 26 Zur spezifischen Logik von Genrepoetiken gehört nun die ständige Bezugnahme und Revision der poetischen und affektiven Muster des Genießens in den einzelnen Genres. Im Falle des Western speisen sich die Affektregister zum einen aus den Momenten des Übergangs und des Provisorischen, aus kontingenten Loyalitäten, aus Freundschafts- und Bindungsgefühlen im Modus des ständigen Neuentstehens oder Verabschiedens. Zum anderen bauen diese Register auf einem melodramatischen Pathos des Leidens und der Ohnmacht – das Pathos der Schwächeren, bedroht
24
Slotkin, Gunfighter Nation, S. 12 [Herv. im Orig.]. Vgl. hierzu auch: Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/1, Frankfurt a. M. 1977 [1921], S. 179–203. 26 Vgl. Cavell, The World Viewed, S. 58; Slotkin, Richard: Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, New York 1992, S. 5 f; Cawelti, John G.: The Six Gun Mystique, Bowling Green 1971, S. 14. 25
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von Wilden und von rücksichtslos gierigen Weißen – auf, das immer wieder in den Thrill und die Action – das aggressive Pathos der Stärkeren – umschlägt. Die Filme zeichnen dabei eine sich ständig wandelnde Landkarte der Moral: Welche Gründe für Gewalt akzeptieren wir und welche nicht? Aus welchen Konflikten und welchen Legitimierungsprozessen kommen unsere Werte? Mit diesen Dynamiken und Mustern gestaltet der Western ein affektives Bild der Geschichte – nicht als eine glorifizierende Erzählung von einer gemeinsamen Vergangenheit, sondern als eine Vorstellung von denjenigen Kräften, die Geschichte und kollektive Identität überhaupt erst produzieren. Er macht so Dimensionen von historischer Gewalt und Hybris als etwas erfahrbar, das in der affektiven Struktur der Gegenwart fortwirkt. Eine spezifische Zuschauererfahrung des Versagens und der Ohnmacht gegenüber den eigenen kulturellen Selbstbildern und Vergemeinschaftungsprozessen – die, wie gesagt, nicht die emotionale Reaktion konkreter Zuschauerindividuen meint, sondern die zeitlichen Strukturen des Films als sich in einer Wahrnehmung entfaltende Weltverhältnisse – erweist sich dabei selber als Appell zur Neugestaltung des affektiven Gefüges der Gemeinschaft. 27 5.
Ein Bild von einem Mann der Tat: Unforgiven
Der Frage, wie ein Schuldgefühl als Modalität audiovisueller Expressivität beschrieben werden kann, soll im Folgenden an einer Szene aus Clint Eastwoods Unforgiven (USA 1992) nachgegangen werden. Der Film kann als eine Reflexion der Funktion angesehen werden, die im Western Akte und Akteure der Gewalt, die selbst außerhalb von Recht und Gemeinschaft stehen, als Katalysatoren für die Grundlegung von Recht und Gemeinschaft haben: a (now) peacable community, of a small city or of a set of farms, can be perpetuated only with the removal of a killer whom only a killer can remove. […] the community is spared having to identify cor27
Vgl. Rorty, Richard: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt a. M. 1999.
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rectly the one who makes the reign of law possible with anyone who profits from the peace. 28
Der Western zeichnet sich dadurch aus, diese vermeintliche Lösung eines unlösbaren Fundamentalkonfliktes von Gemeinschaft, Macht und Gewalt ambivalent zu gestalten, ohne vollständig auf die Vorstellung von einer immer wieder neu herzustellenden Lösbarkeit dieses Konflikts zu verzichten. Er muss sich also zu Akten der Gewalt auf eine Art verhalten, die ihre mögliche narrative und affektive Affirmation meint und ihr diese zugleich entzieht. Und dieser Prozess der Kritik kann, wie im Falle von Unforgiven, auch die Gestalt eines Zuschauergefühls als Schuldgefühl annehmen. Unforgiven scheint mir nun für eine solche Revision der Prämissen des Genres, die auf die verkörperte Wahrnehmung der Zuschauer zielt, ein prägnantes Beispiel zu geben. Die Geschichte vom ehemaligen Revolverhelden und Witwer Will Munny (Clint Eastwood), der aus seinem Ruhestand zurückkehrt, um in Begleitung des unerfahrenen ›Schofield Kid‹ (Jaimz Woolvett) und seines ehemaligen Kumpanen Ned Logan (Morgan Freeman) für ein Kopfgeld von 1000 Dollar Jagd auf zwei Cowboys zu machen, die eine Prostituierte schwer misshandelt haben, ist durchsetzt von Umdeutungen der Figurenkonstellationen, Standardkonflikte und -situationen des Genres. Das beginnt bei den körperlichen Gebrechen des Protagonisten und hört bei der kriminellen Vergangenheit des brutalen Sheriffs Little Bill Daggett (Gene Hackman) auf, dessen Gemeinde auf den klingenden Namen Big Whiskey hört. Diese Umdeutungen werden aber nicht nur als selbstreflexive Verweise angeführt, wie in dem Nebenplot, der den arroganten Kopfgeldjäger English Bob (Richard Harris) vorführt, dessen Taten von dem ihn begleitenden Schreiberling (Saul Rubinek) unmittelbar in Schundromanlegenden verwandelt werden. Stattdessen erschließen sich die narrativen Verwicklungen und Motivationen erst auf dem Hintergrund der Bearbeitung
28
Cavell, Stanley: The Incessance and the Absence of the Political, in: Norris, Andrew (Hg.): The Claim to Community. Essays on Stanley Cavell and Political Philosophy, Stanford 2006, S. 263–317, hier S. 311.
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der sinnlichen und rhythmischen Muster vorgängiger Filme und Genrestrukturen, wie auch diese zeitgenössische Kritik zeigt: As storm clouds gather, the bounty-hunting trio makes its way toward town, with Munny continually rejecting his past even as he rides to his destiny with it. Resolution to the leisurely but tightly wound drama comes not in an expected, standard showdown, but much more complexly, in a series of separate confrontations that are alternately tragic and touching. Final shots, which have the survivor of the climactic bloodbath riding off, not into the sunset, but into a nocturnal downpour, constitute a hauntingly poetic variation on the usual Western fadeout. 29
Wenn Unforgiven in seiner düsteren Variation der Geschichte vom Revolverhelden und der Kleinstadtgemeinschaft so etwas wie eine Desillusionierung und Entmythologisierung 30 des Genres betreibt, dann tut er dies nicht allein dadurch, dass er die erlösende Gewalt handlungslogisch verweigert. Er tut dies auch nicht nur durch die narrativ implementierte Reflexion über die Genese des Westernhelden aus den Erzählungen über sie. 31 Er revidiert buchstäblich das ›Bild der Gewalt‹, wie es von Robert Warshow beschrieben wurde: The moment of violence must come in its own time and according to its special laws, or else it is valueless. There is little cruelty in Western movies, and little sentimentality; our eyes are not focused on the suffering of the defeated but on the deportment of the hero. Really, it is not violence at all which is the ›point‹ of the Western movie, but a certain image of man, a style, which expresses itself most clearly in violence. 32
29
McCarthy, Todd: Review. Unforgiven, in: Daily Variety, 31. Juli 1992, S. 2. Maurer, Roman: »Sometimes trouble just follows a man.« Männliche Destruktivität und der Wunsch nach Erlösung, in: ders. (Hg.): Clint Eastwood. Film-Konzepte 8, München 2007, S. 7–27, hier S. 20. 31 Vgl. Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 2004, S. 262. 32 Warshow, Robert: Movie Chronicle. The Westerner, in: ders.: The Immediate Experience. Movies, Comics, Theatre and other Aspects of Popular Culture, Cambridge, MA/London 2001 [1954], S. 105–124, hier S. 123. 30
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Die Szene, um die es im Folgenden als ›moralisches Zentrum‹ des Films gehen soll, gestaltet ein Bild der Gewalt, das nicht einfach nur gegen die Konvention heldenhaften Gewaltgebrauchs verstößt. 33 Sie geht darüber hinaus, indem sie den Moment des Tötens als ein zeitliches Empfinden inszeniert, das eben nicht ›in its own time‹ kommt und das die Leiden des tödlich Getroffenen dem Verhalten des Helden dezidiert gegenüberstellt. Die Szene entfaltet sich für die Zuschauer als ein Schuldgefühl, das sich auf die vielen anderen tödlichen Schüsse in der langen Geschichte des Genres bezieht: Doch so einfach und cool wie im klassischen Western ist das Töten, Sterben oder Überleben in Unforgiven nicht mehr, sondern geprägt von Angst und Qualen. Ermordet werden mehrfach die Falschen […] und gestorben wird dreckig: mit heruntergelassener Hose beim Stuhlgang im Klohäuschen, mit Bauchschuss langsam krepierend wie ein Tier. Letztere Szene ist wahrscheinlich das eigentliche moralische Zentrum des Films […]: die quälend lange Hinrichtung eines Menschen als beinahe physische Erfahrung für den Zuschauer und notwendige Korrektur der unzähligen Verharmlosungen von Tötungen in der Filmgeschichte. 34
Das Schuldgefühl ist in dieser Sicht nicht der Zusatzeffekt, der zum bestehenden Gefühlsregister des Genres hinzugefügt würde, sondern die affektive Wirkung einer Neuperspektivierung, eines Neufühlens dieses Registers. 5.1 Eine Atmosphäre von bohrender Spannung und drückender Schwere Bei der »quälend langen Hinrichtung« (ebd.) handelt es sich um die Erschießung des Cowboys Davey in einer kargen Felslandschaft durch den von Eastwood gespielten Will Munny und seine 33
Vgl. Plantinga, Carl: Spectacles of Death: Clint Eastwood and Violence in Unforgiven, in: Cinema Journal Vol. 37, No. 2 (Winter 1998), S. 65–83, hier S. 76. 34 Maurer, »Sometimes trouble just follows a man«, S. 21.
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beiden Begleiter. Davey war zwar bei der die Handlung in Gang setzenden Misshandlung der Prostituierten dabei, jedoch nicht unmittelbar beteiligt und war zuvor als reuig und einsichtig porträtiert worden. Die Szene der Erschießung (1:25:56–1:30:33) ist ein zentraler Wendepunkt in der moralisch-affektpoetischen Dramaturgie des Films. Sie schließt unmittelbar an eine sentimentale Phantasie der möglichen Erlösung des Revolverhelden durch ein weibliches Prinzip an: die sanfte, gutmütige Prostituierte, die sich um Munny kümmert und ihn an die verstorbene Frau, den guten Geist, »watching over my young ones« erinnert. Und sie mündet in den Prozess der Vereinsamung des Protagonisten. Ein Schuldgefühl kann mit Leichtigkeit in dieser Szene auf Ebene der repräsentierten Figuren als das schlechte Gewissen der Figuren Munny, Ned und Kid verortet werden. Hier soll aber die These verfolgt werden, dass diese Konstruktion des schlechten Gewissens der Figuren durch die Ebene des filmischen Ausdrucks, die Gestaltung des Zuschauerempfindens, grundiert ist. Die Figurenzuschreibung ist erst eine Reaktion auf das Gefühl von »drängend gespürtem Unrecht« 35. Die Szene als Ganzes gestaltet ein Schuldgefühl im Zusammenspiel von Bildkomposition, Figurenchoreographie und akustischer Rhythmisierung. Dieses Gefühl zeigt eine Überschreitung an und verweist dadurch auf eine Norm, gegen die verstoßen wurde; die Relationen der Figuren zu dieser Gewalt legitimierenden oder sanktionierenden Norm gehen erst nachträglich daraus hervor. Folgende Strukturen der Inszenierung sind dabei entscheidend: Erstens durchzieht diese Szene eine visuelle Dynamik, die aus einem Wechsel aus engen, flächigen Bildern und weiten, tiefen Einstellungen besteht. So entsteht ein Oszillieren des Bildraums in seiner Eigenschaft als Volumen und Fläche, von sich öffnenden und schließenden Möglichkeitsräumen und von Bewegungsvektoren. Zweitens gestaltet die Choreographie der drei Täterfiguren in ihrem verbalen, gestischen und mimischen Spiel einen ständigen
35
Schmitz, Reich der Normen, S. 60.
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Wechsel von Impulsen und Hemmungen, von Fluchtbewegung und reuiger Annäherung, von Aggression und Lähmung. Drittens setzt ab einem bestimmten Punkt ein Prinzip der Wiederholung und Spiegelung von Gesten und Worten zwischen der Gruppe der Täter und dem Opfer bzw. dessen Kumpanen ein, das als Dehnung und Retardation ganz entscheidend dazu beiträgt, dieser Szene den Eindruck einer unwiderruflichen Nachträglichkeit zu verleihen. Viertens setzt die Szene mit einem unübersichtlichen Wirrwarr von Stimmen und Bewegungen in medias res ein und weist ab dort eine kontinuierliche Entschleunigung des Schnittrhythmus und der Bewegungen im Bild auf, unterbrochen von immer wieder aufflackernden Momenten schneller Wechsel. Ich möchte nun an dieser Stelle das Zusammenspiel dieser Gestaltungsmittel im Verlauf der Szene im Detail nachzeichnen, um es als die Entfaltung eines Zuschauerempfindens greifbar zu machen, das sich als ein audiovisuell gestalteter Selbst- und Weltbezug im Sinn eines Schuldgefühls beschreiben lässt. Das dynamische Muster der Szene setzt sich dabei aus fünf Segmenten zusammen, die sich narrativ zunächst folgendermaßen bestimmen lassen: a) das Durcheinander der Cowboys und der überraschende erste Schuss durch Ned, b) die verzögerte Realisierung des Geschehens, das Opfer ist nur verletzt, und die Übernahme des Gewehrs durch Munny, c) dessen ebenfalls nach langer Verzögerung abgegebener zweiter Schuss, d) die allmähliche Realisierung des Treffers als tödliche Verwundung und schließlich e) dem Gewähren eines Schlucks Wasser als gnädigem Akt gegenüber dem Sterbenden. Insgesamt zeichnet sich das Verlaufsmuster der Szene dadurch aus, dass sich der dynamische Wechsel aus engen, flächigen und geweiteten, in die Tiefe des Bildes perspektivisch geöffneten Einstellungen zunächst in den ersten drei Segmenten dynamisiert und in immer kürzeren Abständen erfolgt, um dann im Sog der allgemeinen, entschleunigenden Tendenz nachzulassen und die Figuren zunehmend in die Enge der Felsenlandschaft einzukeilen und sie so gewissermaßen zu demobilisieren. Die für diese Szene markante Zeitlichkeit entsteht mit dem Einstieg in medias res, der die Ruhe der vorhergehenden Szene 439 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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zwischen Will Munny und der vernarbten Prostituierten durch eine hektische Bewegungsintensität mit ständig wechselnden Richtungen und Stimmengewirr unterbricht. Die bildkompositorische Weite und Tiefe der ersten zehn Sekunden endet präzise in dem Moment, in dem dieses Chaos sich zu einer erkennbaren Handlung – dem Ausbruch eines Kalbs aus einer Herde, inmitten einer Gruppe von Cowboys – zusammenzusetzen beginnt. Mit einem Schuss aus dem Off springt der Raumeindruck des Bildes in plötzliche Enge und Flächigkeit um. Die folgenden Einstellungen sind ohne jede Tiefendimension und zeigen die Kollegen des mit seinem Pferd gestürzten Davey, die wie gelähmt, wie festgefroren dastehen. Die Totale einer braunen Felswand, von der das Echo des wiehernden Pferdes widerhallt, erscheint in ihrer extremen Flächigkeit selber wie ein vor Schreck erstarrtes Gesicht. Nach dieser Anspannung setzt eine kurze, heftige Bewegung der Deckung suchenden Cowboys ein. Dieses erste Segment abschließend kehrt eine allmähliche perspektivische Weitung des Bildraums zurück, die sich mit einer unvermittelten Totale steigert, in der wir in Aufsicht den Hinterhalt der Gruppe von Munny, Ned und Kid sehen, die von Felsbrocken geschützt über das schmale Tal blicken. Im Folgenden wird das Prinzip des Wechsels – von Flächigkeit und Enge zu Weite und Tiefe und zurück – aufgenommen, variiert und beschleunigt. Im Zentrum steht nun das Figurendreieck Munny, Ned und Kid, das als Konstellation in immer wieder der gleichen seitlichen Dreiereinstellung gezeigt wird. Ausgehend hiervon wird Ned, der den ersten Schuss abgegeben hat, zunehmend in die Enge getrieben: einerseits von der Kadrierung – d. h. durch die Wahl des Bildausschnitts und die Anordnung der Figuren, die Ned zwischen die anderen, den Felsen und den Bildrand drängen – und andererseits auf der Tonebene, wo er von Munny und von der ständig insistierenden Frage des (kurzsichtigen) Kid, was denn gerade passiere, warum er nicht schieße, unter Druck gesetzt wird. Dazu etabliert sich hier das Prinzip der sofortigen Wiederholungen, Echos und Antworten, von Gesten und Worten: Zweimal wird Davey aufgefordert, in Deckung zu kriechen, fast jeder Satz Munnys findet ein Echo bei Kid und umgekehrt 440 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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fordert Munny Ned zweimal auf: »You better finish him!«, worauf Ned zweimal flehend mit »Will?« antwortet. So entsteht die Wirkung einer blockierten, in sich verkeilten Zeit, die Empfindung der quälenden Langsamkeit eines unaufhaltsamen, unwiderruflichen Geschehens. Gleichzeitig gestaltet die Montage eine Spannung entlang der Handlungsachse der Schüsse und Gewehrläufe. Zunächst ist die Aufteilung klassisch und klar – Munny, Ned und Kid schießen von links nach rechts, die Cowboys unten von rechts nach links. Doch dann löst sich die klare Achsenaufteilung auf und die Kamera beginnt, um den Gewehrlauf als Bildachse zu springen: Es ist nun, als fühle sie sich auf keiner Seite der Waffe mehr ›wohl‹ dabei. Als Munny das Gewehr von Ned übernimmt, beginnt das dritte Segment, das wiederum aus einem Wechsel von beschleunigenden, aktivierenden Impulsen und Momenten der Hemmung, der Wiederholung besteht: Eine Totale aus der Sicht der Angreifer, eine Großaufnahme des schießenden Will, eine Naheinstellung auf das Opfer, zwei halbnahe Einstellungen auf dessen Freunde. Damit wird innerhalb von bloß sieben Sekunden der narrative Gehalt der Szene in extrem komprimierter Form gestaltet, was den gesamten bisherigen und weiteren Verlauf derselben zu einer Vorwegnahme, Wiederholung, Rücknahme und Ausdehnung dieser ›Handlung‹ macht. Auch jetzt steht das Ensemble von Munny, Ned und Kid im Mittelpunkt, das zunächst in der bereits erwähnten seitlichen Dreiereinstellung gezeigt und dann in Großaufnahmen zerlegt wird. Während Ned sich nach links vom Geschehen abwendet und in sich zusammengesunken ist, platzt Kid am rechten Bildrand geradezu vor körperlicher Erregung – und zwischen ihnen Will Munny. Die folgenden näheren Einstellungen zeigen die Figuren dann jeweils bildkompositorisch ineinander verkeilt und eingerahmt, womit sie verstärkt gegenseitig gestisch und mimisch aufeinander bezogen sind. Anschließend variiert und dynamisiert die Szene dreimal ein im Grunde sehr einfaches Montagemuster, das erst den Täter Munny, dann das Opfer Davey und anschließend dessen Freunde präsentiert: Aus der Abfolge Täter-Opfer-Zeugen wird in der ers441 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
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ten Modifikation Opfer-Täter-Opfer-Zeugen und schließlich Opfer-Täter-Opfer-Täter-Opfer-Zeugen. Aus einer einfachen Kette, die eine narrative Situation beschreibt, werden zeitliche Schlaufen, die als ein Zusammenspiel von expressiven Bildstrukturen ein Gefühl inszenieren, das darin besteht, von der Evidenz dieser Tat nicht loszukommen. Mit diesem Muster erreicht es der Film an dieser Stelle, das dynamische Prinzip der räumlichen und als Zuschauererfahrung zugleich leiblich empfundenen Engung und Weitung mit dem Element des zeigenden, anklagenden Blickes zu verflechten, die den Revolverhelden an seine Tat ketten. Die Verknüpfung von oben, der Position der Täter, und unten, derjenigen der Opfer und Zeugen, wird dann im vierten Segment vom ebenfalls bereits etablierten Element der Wiederholung von Gesten und Worten fortgesetzt und gesteigert: Wie im musikalischen Prinzip des Wechselgesangs, des call and response, werden die Figuren zu einer lyrischen Komposition verwoben, getragen von der unmittelbar nach dem tödlichen Treffer einsetzenden trauernden Musik: Kid: Munny: Davey:
You missed him. I got him. They shot me, boys!
Kid: Davey:
He ain’t killed. They shot me!
Munny: Kid: Davey:
Maybe, maybe not. Got him through the gut, I think. You think he’s gonna die? You think we killed him? They shot me, boys!
Munny: Davey:
Yeah, we killed him, I guess. I’m dying, boys!
Durch die Musik ist der ganze Bildraum von einer unmittelbare Schwere durchsetzt, die Gesten verlangsamen sich, die Einstellungen dehnen sich. Mit Kids plötzlichem Ausbruch – »You shouldn’t have cut up no woman, you asshole!« – und den darauf antwortenden Schüssen wird die Musik abgebrochen und die Szene wechselt das Gewicht auf die Darstellung des sich krümmenden, panisch blickenden und um Wasser flehenden Davey. 442 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Risse in der Landkarte der Moral im Westerngenre
Eine langsame Kamerafahrt um den Felsen herum, hinter den er sich verkrochen hat, betont die Dauer als entscheidenden Faktor im Prozess des Sichtbarmachens und Verstehens der Konsequenzen gewalttätigen Handelns. Abschließend geht die Szene wieder auf Munny, Ned und Kid über. Während die Kamera zuvor auch in den näheren Einstellungen immer außerhalb ihres Dreiecks positioniert war, sind die Großaufnahmen nun deutlich aus dem ›Inneren‹ der Gruppe gefilmt: The faces tell the story here, for throughout Unforgiven, the numerous reaction shots of both killers and witnesses, as stand-ins for the spectator, show no satisfaction but instead cringe, frown, and look down. We watch it, but it is intended to trouble us. 36
Allerdings ist es nicht nur so, dass diese drei Figuren einfach das mimische Vorbild für eine Zuschaueremotion abgeben würden. Es ist das filmische Bild in seiner zeitlichen Entfaltung, das eine Atmosphäre von bohrender Spannung und drückender Last als leibliches Empfinden der Zuschauer gestaltet, durchsetzt von oszillierend widerstreitenden Bewegungs- und Richtungsqualitäten. Diese Atmosphäre setzt sich unter anderem aus dem gestischen und mimischen Zusammenspiel der Figuren zusammen, der gelähmten Trauer Neds, der immer wieder durchbrechenden Aggression Kids und dem dazwischen hin und her pendelnden Munny, der zum Schluss eine reuige, dem Opfer zugewandte Handlungstendenz entwickelt und es zulässt, dass man dem Sterbenden einen Schluck Wasser bringt. Ihre abgewandten Blicke, ihre hängenden Köpfe und gebeugten Oberkörper, die kurze Übersprungshandlung Munnys, der kleine Steine vom Fels loskratzt – dies alles fügt sich, begleitet von den nun leiser und ferner klingenden anklagenden Rufen von Daveys Kameraden, zu einer expressiven Bewegungsdimension des Bildes selbst zusammen: Körper, Köpfe und Blicke richten sich abwärts und damit krümmt sich das filmische Bild als Ganzes in den letzten Einstellungen in sich zusammen. 36
Plantinga, Spectacles of Death, S. 77.
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5.2 »Deserve’s got nothing to do with it.« Die kulturelle und historische Bedeutung, die das Schuldgefühl generiert, indem es den Akt einer Bestrafung in seiner potentiellen Befriedigung affektiv durchkreuzt, besteht darin, der Figur des Westernhelden und seinem Gewaltpotential »das Pathos, das ihm [hier: dem Recht] den Nimbus der Legitimität verleiht,« 37 zu entziehen. Wenn »das gute Gewissen bei der Härte gegen andere die Nagelprobe auf die Verbindlichkeit im Recht [ist]« 38, dann verweist das schlechte Gewissen an dieser Stelle nicht einfach nur auf den Rechtskosmos innerhalb der Diegese des Films – d. h. dem erzählten Universum, in dem die Geschichte spielt –, sondern auf die Weltkonstitution und Normativität des Westerngenres als Ganzes. Denn Clint Eastwood als Will Munny ist nicht einfach eine fiktive Figur in Unforgiven, es ist auch die Reaktualisierung Eastwoods als exemplarischer Vertreter des Westernhelden, als Typus im Sinne Stanley Cavells. Damit ist kein bloßer Stereotyp, keine Abziehfigur, sondern die spezifische Verkörperung einer Idee von Sozialität, die spezifische, individualisierte Realisierung einer sozialen Rolle gemeint. 39 Der Revolverheld ›Clint Eastwood‹ exemplifiziert als Typus eine Idee von Fotogenität, Temperament und Identität, die unmittelbar Bewegungsbild geworden sind. Der Westernheld ist zunächst und vor allem anderen »a man of action« 40. Er vertritt eine »autarke Männlichkeit, entschlossen und geradlinig, scheinbar unverletzbar und sehr gefährlich in seiner Gewaltbereitschaft« 41. Das Entscheidende ist, dass diese Gewaltbereitschaft stets unter Verschluss bleibt: »The Westerner imposes himself by the appearance of unshakable control.« 42 Seine de37
Schmitz, Reich der Normen, S. 42; hier bezogen auf das Recht allgemein. Ebd. 39 Cavell, The World Viewed, S. 32 ff. 40 Biderman, Shai: »Do Not Forsake me, oh, my Darling.« Loneliness and Solitude in Westerns, in: McMahon, Jennifer L./Csaki, B. Steve (Hg.): The Philosophy of the Western, Lexington 2010, S. 13–29, hier S. 22. 41 Maurer, »Sometimes trouble just follows a man«, S. 7. 42 Warshow, Movie Chronicle. The Westerner, S. 110. 38
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struktive Weise, für Recht und Ordnung zu sorgen, verbleibt dezidiert ambivalent. Er kämpft für das Recht nicht um des Rechts willen. Er hilft den Schwachen nicht, weil sie gut sind, sondern weil sie schwach sind. 43 Er tut, was er tut, weil er es tun muss, weil es seinem Bild entspricht: The truth is that the Westerner comes into the field of serious art only when his moral code, without ceasing to be compelling, is seen also to be imperfect. The Westerner at his best exhibits a moral ambiguity; which darkens his image and saves him from absurdity; this ambiguity arises from the fact that, whatever his justifications, he is a killer of man. 44
Man muss gar nicht erst die undurchdringliche, regenverhüllte Nacht der Schlussszene ins Feld führen, um greifbar zu machen, inwiefern das Bild dieses Typus in Unforgiven immer dunkler, die Rechtfertigung der Gewalt vollkommen fadenscheinig geworden ist: Die Unvollkommenheit des moralischen Codes des Westernhelden, wie sie hier in Szene gesetzt wird, ist nicht nur ambivalent, sie ist endgültig zum moralischen Makel geworden. Der »sense of limitation and unavoidable guilt« 45 nimmt überhand. Eastwoods Figur des Will Munny beugt sich und krümmt sich nicht nur wegen ihres Alters, sondern auch unter der Last der »Verantwortung für die Taten seiner früheren Charaktere des Poncho-Outlaws oder Dirty Harry, die skrupellos Gewalt mit Gegengewalt beantworteten« 46. Eastwoods Film bearbeitet die expressiven Wahrnehmungsgestalten der Genrepoetik des Western und kompromittiert in dieser Aneignung die Idee vom Feuergefecht als kulturellem Muster der Bereinigung eines chaotischen, rechtsfreien Raums, das die Etablierung von Gesetz und Ordnung ermöglicht. Er bezieht sich explizit auf das fundamentale Paradox, das dem Western zugrun43
Vgl. McNaron, David L.: From Dollars to Iron. The Currency of Clint Eastwood’s Westerns, in: McMahon, Jennifer L./Csaki, B. Steve (Hg.): The Philosophy of the Western, Lexington 2010, S. 149–169, hier S. 151 f. 44 Warshow, Movie Chronicle. The Westerner, S. 112. 45 Ebd., S. 113. 46 Maurer, »Sometimes trouble just follows a man«, S. 19.
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de liegt: »Justice, to be done, must be seen to be done; but justice, to be established, must not be seen to be established.« 47 Hier ist es gerade die Ungerechtigkeit und die unmögliche Rechtfertigung der Gewaltakte, die überall sichtbar wird. Die Werte und Normen, die sich eine historische Imagination von ›Amerika‹ rund um den Gebrauch von Waffengewalt geschaffen hat, werden damit als kontingente Werte hinterfragbar, und dies eröffnet die Möglichkeit zu bedenken, ob diese Werte immer noch einen sinnvollen, wünschenswerten Zweck erfüllen. Unforgiven betreibt so, als eine affektive Bearbeitung kultureller Muster, eine spezifische Genealogie der Moral, die darin besteht, das falsche Vertrauen in die Wertigkeit der Werte zu erschüttern. Das Ende des Films – dem man sowohl eine ›metaphysische‹ und politisch-symbolische 48 als auch eine geschichtstheoretische 49 Dimension zugeschrieben hat – ist zugleich ein großer Auftritt und ein großer Abgang der Idee heldenhafter Selbstjustiz: ein Showdown im Saloon als Höhepunkt, in dem Munny sich an Little Bill, dem Sheriff der Stadt, und seinen Gehilfen für die Folter, Ermordung und öffentliche Leichenfledderung seines Freundes Ned rächt. Dies scheint ein Rückfall 50 in die klassische, narzisstische Struktur des Westernmythos zu sein, der, und zwar in jeglicher Variation, nicht ohne Gewaltakte zu seinem Abschluss kommen kann: Specific versions of the myth may vary in their ideological rationale, hero type, and choice of happy or fatal ending; but they do not vary in their representation of a consummatory act of violence – whatever its motivation – as the necessary and sufficient resolution of all the issues the tale has raised. 51
Der entscheidende Punkt aber ist, und dies ist letztlich auf den Wendepunkt der analysierten Szene zurückzuführen, dass diese Szenen ein nach Warshow zentrales Merkmal der Gewaltaus47 48 49 50 51
Cavell, The World Viewed, S. 58. Vgl. Maurer, »Sometimes trouble just follows a man«, S. 21 f. Vgl. Früchtl, Das unverschämte Ich, S. 257 ff. Vgl. Plantinga, Spectacles of Death, S. 77. Slotkin, Gunfighter Nation, S. 612.
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übung durch den Westernhelden, ihr übliches Erscheinungsbild, eben nicht erfüllen. Denn die Gewalt sieht auch hier nicht ›richtig‹ aus. Selbst wenn Will Munny nichts anderes tut, als was er eben tun muss – »he can do nothing but play out the drama of the gun fight again and again until the time comes when it will be he who gets killed« 52 –, wird der Zuschauer auf der Ebene der Inszenierung mit einem Bild konfrontiert, das allen Bildern widerspricht, die sich das Genre davon gemacht hat, »how a man might look when he shoots or is shot« 53. Und doch negiert dieses ›Bild der Gewalt‹ als affektiver Widerspruch, als ein Schuldgefühl, die anderen Bilder nicht einfach oder streicht sie ersatzlos aus dem Fundus kultureller Sinnstiftung. Es inkludiert sie als eine bestimmte Erfahrung von Zeitlichkeit und der inhärenten Gewaltprozesse von Gemeinschaft und Kultur. Es macht daher keinen Sinn zu fragen, ob die Haltung zur Gewalt in Unforgiven jetzt in die eine oder andere Richtung kritisches Potential entfaltet oder ob sie doch wieder affirmativ gedacht und damit kulturkonservativ gewendet, normalisiert oder gar verharmlost wird. Der Film verweigert jegliche Form einer solchen Schließung. Denn das Problem der Gewalt als Katalysator einer (Wieder-)Herstellung der Gemeinschaft als Rechtsordnung ist das Problem aller Katalysatoren: Sie werden in den Reaktionen, die sie verursachen, einfach nicht ›verbraucht‹. Vielmehr zielt Unforgiven darauf zu erkennen, dass es keine reproduzierbare, d. h. von der konkreten historischen, sozialen und kulturellen Situation losgelöste Kalkulation von gerechtfertigter, ungerechtfertigter und ambivalenter Gewalt geben kann. Die Autorität des Gefühlsurteils markiert die Grenze der Begründbarkeit von Moral, der Rechtfertigung oder Missbilligung von Gewalt. Diese Erkenntnis einer nicht logisch, sondern nur genealogisch und poetologisch zu ergründenden Wertegemeinschaft 54 ist die Pointe des finalen Wortaustauschs zwischen Will Munny und Little Bill: 52
Warshow, Movie Chronicle. The Westerner, S. 116. Ebd., S. 123. 54 Vgl. Rorty, Richard: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988. 53
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Little Bill: Munny: Little Bill: Munny:
I don’t deserve this. To die like this. I was building a house. Deserve’s got nothing to do with it. I see you in hell, William Munny. Yeah.
Literatur Arendt, Hannah: Lectures on Kant’s Political Philosophy, hg. v. Ronald Beiner, Chicago 1992 [1982]. Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/1, Frankfurt a. M. 1977 [1921], S. 179–203. Biderman, Shai: »Do Not Forsake me, oh, my Darling.« Loneliness and Solitude in Westerns, in: McMahon, Jennifer L./Csaki, B. Steve (Hg.): The Philosophy of the Western, Lexington 2010, S. 13–29. Burgoyne, Robert: Film Nation: Hollywood looks at U.S. History, Minneapolis/ London 1997. Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged Edition, Cambridge, MA/London 1979 [1971]. Ders.: Cities of Words. Pedagogical Letters on a Register of the Moral Life, Cambridge, MA/London 2004. Ders.: The Incessance and the Absence of the Political, in: Norris, Andrew (Hg.): The Claim to Community. Essays on Stanley Cavell and Political Philosophy, Stanford 2006, S. 263–317. Cawelti, John G.: The Six Gun Mystique, Bowling Green 1971. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 2004. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004. Kappelhoff, Hermann/Bakels, Jan-Henrik: Das Zuschauergefühl. Möglichkeiten qualitativer Medienanalyse, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Vol. 5 No. 2 (2011), S. 78–96. Kerger, Henry: Moral, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S. 284–286. Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999. Dies.: Normativität, Moral und Gefühle, in: dies. (Hg.): Gefühle. Struktur und Funktion, Berlin 2007, S. 237–254. Dies.: Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik, in: Andermann, Kerstin/Eberlein, Undine (Hg.): Gefühle als Atmo-
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sphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–78. Maurer, Roman: »Sometimes trouble just follows a man«. Männliche Destruktivität und der Wunsch nach Erlösung, in: ders. (Hg.): Clint Eastwood. FilmKonzepte 8, München 2007, S. 7–27. McCarthy, Todd: Review. Unforgiven, in: Daily Variety, 31. Juli 1992. McNaron, David L.: From Dollars to Iron. The Currency of Clint Eastwood’s Westerns, in: McMahon, Jennifer L./Csaki, B. Steve (Hg.): The Philosophy of the Western, Lexington 2010, S. 149–169. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, KSA hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, München 1988 [1886]. Nussbaum, Martha: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. Plantinga, Carl: Spectacles of Death: Clint Eastwood and Violence in Unforgiven, in: Cinema Journal Vol. 37, No. 2 (Winter 1998), S. 65–83. Rorty, Richard: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988. Ders.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1992. Ders.: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt a. M. 1999. Scheer, Monique: »Are Emotions a kind of Practice (and is that what makes them have a history)? A Bourdieuian approach to understanding Emotion«, in: History and Theory, Vol. 51, No. 2 (Mai 2012), S. 193–220. Schmitz, Hermann: Der Gefühlsraum, System der Philosophie Bd. 3/2, Bonn 1969. Ders.: Das Reich der Normen, Freiburg i. Br. 2012. Slotkin, Richard: Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, New York 1992. Warshow, Robert: Movie Chronicle. The Westerner, in: ders.: The Immediate Experience. Movies, Comics, Theatre and other Aspects of Popular Culture, Cambridge, MA/London 2001 [1954], S. 105–124.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Fabian Bernhardt, M.A., ist Lehrbeauftragter in Philosophie an der Freien Universität Berlin und promoviert mit einer Arbeit über Rache (Arbeitstitel: Rache. Über einen blinden Fleck der Moderne), die er 2010 in der Graduiertenschule des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« begonnen hat. Forschungsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Sozialphilosophie, Rechtsphilosophie; insbesondere zu Fragen der Schuld und des Umgangs mit schwieriger Vergangenheit. Publikationen: Zur Vergebung. Eine Reflexion im Ausgang von Paul Ricœur (Berlin 2014); »Der verblassende Glanz des Cogito. Ricœurs frühes Subjektdenken« (zus. mit Jan Slaby), in: Phänomenologie des praktischen Sinns – Die Willensphilosophie Paul Ricœurs im Kontext (hg. v. Daniel Creutz u. Thiemo Breyer, München 2016); Recht und Emotionen II (hg. m. Hilge Landweer, Freiburg 2016). Dieter Birnbacher ist Professor für Philosophie im Ruhestand an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Verantwortung für zukünftige Generationen (Stuttgart 1988); Tun und Unterlassen (Neuaufl. Aschaffenburg 2015); Analytische Einführung in die Ethik (3. Aufl. Berlin/Boston 2013); Bioethik zwischen Natur und Interesse (Frankfurt a. M. 2006); Natürlichkeit (Berlin/New York 2006); Schopenhauer (Stuttgart 2009); Negative Kausalität (zus. mit David Hommen) (Berlin/ Boston 2012). Ute Frevert ist Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und Leiterin des Forschungsbereichs 451 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Zu den Autorinnen und Autoren
»Geschichte der Gefühle«. Forschungsschwerpunkte: Neuere Europäische Sozial-, Kultur- und Geschlechtergeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Vertrauensfragen: Eine Obsession der Moderne (München 2013); Vergängliche Gefühle (Göttingen 2013). Matthias Grotkopp, M.A., ist wiss. Mitarbeiter an der KollegForschergruppe Cinepoetics – Poetologien audiovisueller Bilder (Freie Universität Berlin). Forschungsschwerpunkte: Genretheorie und politische Philosophie, Film und Gefühl, Französisches Nachkriegskino. Veröffentlichungen u. a.: In der Anklage der Sinne. Filmische Expressivität und das Schuldgefühl als Modalität des Gemeinschaftsempfindens (Diss. FU Berlin 2014, erscheint in Berlin/New York 2017); »There’s still crime in the city. The Wire als Netzwerkanalyse in Raum und Zeit«, in: Thomas Morsch (Hg.): Genre und Serie, München 2015, S. 195–218. Julia Hänni, Dr. iur., ist wiss. Mitarbeiterin am Schweizerischen Bundesgericht, Lausanne, und Habilitandin an der Universität Zürich. Sie forscht und lehrt in den Bereichen Rechtsphilosophie (Europäische, Nordamerikanische und Asiatische Rechtsphilosophie), Öffentliches Recht und Europarecht an den Universitäten Zürich, St. Gallen und Luzern. Veröffentlichungen u. a.: Juristische Hermeneutik – die Sinnermittlung der Juristen (Tübingen 2012); Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung. Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung (Berlin 2011; Jahrespreis für Dissertationen der Universität St. Gallen, 2010; Walther Hug-Preis, Schweiz, 2012) sowie Kurzer Blick auf Kultur, Selbstreflexion und Recht im Übergang von antikem zu christlichem Denken (Stuttgart 2007). Marcel Humar, M.A., war wiss. Mitarbeiter im Exzellenzcluster Languages of Emotion, Freie Universität Berlin (2010–2014). Promotion (2015) mit einer Arbeit zur verunsichernden Rhetorik des Sokrates in den Frühdialogen Platons. Forschungsschwerpunkte: Antike Rhetorik, Geschichte der Biologie. Veröffentlichungen u. a.: Johann Sigismund Elsholtz, Hortus Berolinensis (1657). Ausgabe, Übersetzung, Kommentar (hg. mit Felix Mundt, Worms 452 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Zu den Autorinnen und Autoren
2010); Irritationen – Rhetorische und Poetische Verfahren der Verunsicherung (hg. mit Ramona Früh, Therese Fuhrer u. Martin Vöhler, Berlin/Boston 2015). Susanne Karstedt, Dr. rer. pol., is Professor of Criminology at the School of Criminology and Criminal Justice, Griffith University, Australia. Her main areas of research include comparative and cross-cultural criminology, with a particular focus on democracy, crime and justice, further atrocity crimes and international and transitional criminal justice, and emotions in their relation to crime and justice. Her publications include Emotions, Crime and Justice (ed. with Ian Loader and Heather Strang, Oxford 2011); Legal Institutions and Collective Memories (ed., Oxford 2009). Ingrid Kasten ist emeritierte Professorin für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: deutsch-romanische Literaturbeziehungen, mittelalterliche Lyrik, höfischer Roman und Mystik, Gender und Emotionalität. Veröffentlichungen u. a.: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters, Edition und Kommentare (2. Aufl. Frankfurt a. M. 2014); Codierungen von Emotionen im Mittelalter/Emotions and Sensibilities in the Middle Ages (hg. mit C. Stephen Jaeger, Berlin/New York 2003); UnVerfügbarkeit (Hg., Berlin 2012). Dirk Koppelberg ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Erkenntnistheorie und ihre Methodologie, Philosophie des Geistes, der Psychologie und der Psychiatrie sowie Wissenschaftstheorie und Metaphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Die Aufhebung der analytischen Philosophie (Frankfurt 1987); Erkenntnistheorie – wie und wozu? (hg. mit Stefan Tolksdorf, Münster 2015); Weiter denken – über Philosophie, Wissenschaft und Religion (hg. mit Gregor Betz, David Löwenstein und Anna Wehofsits, Berlin 2015). Hilge Landweer ist Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Rechts- und Sozialphilosophie; Ethik; Phänomenologie; Feministische Philosophie. 453 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Veröffentlichungen u. a.: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, (Tübingen 1999); Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn (zus. mit Chr. Demmerling, Stuttgart 2007); Klassische Emotionstheorien von Platon bis Wittgenstein (hg. mit Ursula Renz, Berlin 2008/2012). Maria-Sibylla Lotter ist Professorin für Philosophie der Neuzeit mit Schwerpunkt Ethik und Ästhetik am Institut I für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Lüge und andere Wahrheits(un)tugenden, Schuld und Verantwortung, narrative Formen ethischer Reflexion. Veröffentlichungen u. a.: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, (Berlin 2012); Kunst und Moral (hg. zus. mit Volker Steenblock, Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 37, 2015); Stanley Cavell: Cities of Words. Ein moralisches Register in Film, Literatur und Philosophie (Übersetzung mit Einleitung, Zürich 2010). Jeffrie G. Murphy is Regents’ Professor of Law, Philosophy, and Religious Studies at Arizona State University, USA. He has published extensively on Kantian ethics, the philosophy of punishment, forgiveness and mercy, and the moral emotions. He is a past president of The American Philosophical Association and presented the 2010 Stanton Lectures to the Divinity Faculty at University of Cambridge. His most recent book is Punishment and the Moral Emotions (Oxford 2012). Hermann Schmitz ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Kiel und Begründer der Neuen Phänomenologie, die er in seinem zehnbändigen Werk System der Philosophie (Bonn 1964 ff.) entwickelt. Veröffentlichungen u. a.: Das Reich der Normen (Freiburg/München 2012); Phänomenologie der Zeit (Freiburg/München 2014); Atmosphären (Freiburg/München 2014); Gibt es die Welt? (Freiburg/München 2014). Rainer Schützeichel ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie, Wissenssozio454 https://doi.org/10.5771/9783495818176 .
Zu den Autorinnen und Autoren
logie, Kulturtheorie, Historische Soziologie und Wirtschaftssoziologie. Jüngste Veröffentlichungen: Kultursoziologie (zus. mit F. Adloff, S. Büttner und St. Moebius, 2015); Prozesse: Formen, Dynamiken, Erklärungen (zus. mit St. Jordan, 2015). Lauren Ware, PhD, is a lecturer in moral, legal, and political philosophy at the University of Stirling (UK). Her primary area of research is the philosophy of emotion, particularly the moral dimensions of emotion and the role emotions play in law, security, and public policy. She also has a specialisation in ancient philosophy. Lauren Ware has published on legal and political emotions, virtue ethics, ancient metaphysics, and emotions in education, and is editor of The Moral Psychology of Fear (Rowman & Littlefield, forthcoming).
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Danksagung
Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge in diesem Band und für die gute Zusammenarbeit. Ebenso danken wir Herrn Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für die unkomplizierte und freundliche Unterstützung bei der Betreuung dieser Publikation. Bei der Gesellschaft für Neue Phänomenologie bedanken wir uns für die großzügige Finanzierung der Drucklegung.
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