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German Pages 368 Year 2002
NATALIE ANDREA LEYENDECKER
(Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht
Schriften zum Strafrecht Heft 128
(Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht
Von
Natalie Andrea Leyendecker
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Leyendecker, Natalie Andrea:
(Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht I Natalie Andrea Leyendecker.- Berlin: Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum Strafrecht ; H. 128) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10567-2
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2002 Duncker &
ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-10567-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Meiner Schwester Charlotte
"Nicht zuletzt dient die Resozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft selbst; diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, daß der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigt." (BVerfGE 35, 202, 235 f.)
Vorwort Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 2000/2001 als Dissertation angenommen. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Gerhard Dannecker, danke ich sehr herzlich für die in jeder Hinsicht große Unterstützung, die er mir hat zuteil werden lassen - für die zügige Realisierung der Dissertation, die zahlreichen Ratschläge und die wertvolle Kritik. Herrn Prof. Dr. Roland Schmitz danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Besonders danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Heinz Müller-Dietz, der mir wertvolle Anregungen gab und mir neue Blickwinkel aufzeigte. Ebenso gebührt mein herzlichster Dank Herrn Jörn Foegen, Justizvollzugsleiter der JVA KölnOssendorf, dessen Erfahrungsschatz aus der Praxis viele Aspekte der Arbeit in einem anderem Licht erschienen ließ. Mein Dank gilt weiterhin allen fleißigen Korrektoren, vor allem meinen unermüdlichen Eltern, die wohl so manche Nacht mit dem roten Stift in der Hand über der Arbeit eingeschlafen sind, sowie Tim Luchtenberg. Meiner gesamten Familie möchte ich Dank dafür sagen, daß sie mich während der Promotion nicht nur großzügig finanziell unterstützt hat, sondern mich auch während des Schreibens ertragen und immer an mich geglaubt hat. Schließlich danke ich auch meinem Mann Farid für die Kraft, die er mir in der Endphase der Dissertation gab. Meine Schwester Charlotte hatte in der Zeit der Promotion am meisten unter meiner Unzulänglichkeit zu leiden. Ihr widme ich in großer Liebe dieses Buch. Düsseldorf, im Juli 2001
Natalie Andrea Leyendecker
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
I. Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
II. Überblick über die Literatur zum Thema der Dissertation, Gegenstand und Ziel der Arbeit . . . . ... . ...... ........ .. . . . . . . . ......... ...... . . . . . . . . ...... .. .. .. . . . . .. . . . . .
29
lli. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
IV. Begriffsbestimmung der Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
I. Definitionen der Resozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
2. Abgrenzung der Resozialisierung zu verwandten Begriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
1. Kapitel
Internationale Entwicklung und Kodif"IZierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
42
I. Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens unter Berücksichtigung des jeweiligen staatstheoretischen Verständnisses und der Menschenrechte . .
42
I. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke bis zum 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
2. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
3. (Re-)Sozialisierungsgedanke im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
4. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
1. Einheitliche Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen . . . . . . . . . . . .
54
2. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
12
Inhaltsverzeichnis 3. Europäische Strafvollzugsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
4. Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
60
III. Zwischenergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
2. Kapitel
Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
65
I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
1. Legitimation der staatlichen Strafe unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten..............................................................................
65
2. Zweck der Strafe unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
a) Verfassungsmäßigkeit absoluter Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
b) Verfassungsmäßigkeit relativer Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
aa) Verfassungsmäßigkeit der Theorien der Generalprävention . . . . . . . . . . . . . .
73
(1) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der negativen Generalprävention
73
(2) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der positiven Generalprävention . .
74
bb) Verfassungsmäßigkeit der Theorien der Individualprävention . . . . . . . . . . . .
74
(I) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der negativen Individualprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
(2) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der positiven Individualprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
cc) Verfassungsmäßigkeit der Vereinigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
c) Das Bundesverfassungsgericht und die Straftheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
3. Empirische Erkenntnisse bezüglich der Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
4. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen Strafzwecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
a) Mit der Strafdrohung verfolgte Strafzwecke....... . ......... ..... ....... . ....
81
b) Mit der Strafverhängung verfolgte Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
c) Mit der Strafvollstreckung verfolgte Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
aa) Kodifizierte Zwecke der Strafvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
bb) Verfassungsmäßigkeit möglicher Aufgaben im Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
( 1) Verfassungsmäßigkeit der (Re-)Sozialisierung als Aufgabe des Strafvollzuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Inhaltsverzeichnis (2) Verfassungsmäßigkeit des Schutzes der Allgemeinheit als Aufgabe des Strafvollzuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
89
(3) Vergeltung und Abschreckung als verfassungsmäßige Aufgaben des Strafvollzuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
(4) Schuldausgleich als verfassungsmäßige Aufgabe des Strafvollzuges
92
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
1. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Sozialstaatsprinzip .. ............. . ..
95
2. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Menschenwürde und der ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
3. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Schutzpflicht des Staates ...... . . ..... 103 5. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Erzeihungsauftrag des Staates . . . . . . 104 III. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlicher Anspruch des Straffälligen . . . . . . . . . . 106 1. Anspruch des Straffälligen auf (Re-)Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Durchsetzbarkeil des Anspruchs des Straffälligen auf (Re-)Sozialisierung . . . . . . . 109 IV. (Re-)Sozialisierung als verfassungsmäßige Rechtfertigung ftir Grundrechtseingriffe 112 1. Geltung der Grundrechte für Straffällige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Notwendigkeit der Eingriffe in Grundrechte Straffälliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseinschränkungen . . . . . . . . . 117 a) Eingriff in Grundrechte Straffälliger durch die Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 56 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Eingriffe in Grundrechte Straffälliger durch die Anordnung der Maßregel des Berufsverbotes nach§ 70 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 c) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt . . . . . . . . 119 aa) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Behandlungsuntersuchung nach§ 6 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 bb) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Verlegung eines Gefangenen nach §§ 8 f. StVollzG, § 67a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Vorenthaltung bestimmter Gegenstände nach§§ 68,70 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
14
Inhaltsverzeichnis dd) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Überwachung von Post und Telefonaten des Gefangenen nach§§ 29 ff. StVollzG . . . . . . . . . . . 124 ee) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Anordnung von Zwangsarbeit nach§ 41 I StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
V. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien . . . 128 1. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde . . . . . . ... .. .. .. . . .. .. . .. .. .. . ...... . . .. . . . ... . . . . . ... .. .... ... . . . ... . . . ... . 128
a) Inhaltliche Beeinflussung der Straffälligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Zwangsweise (Re-)Sozialisierung der Straffälligen. .. ............... . .. ... . . . 131 aa) Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu einer zwangsweisen (Re-)Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 bb) Aussagen der Literatur zu einer zwangsweisen (Re-)Sozialisierung . . . . . . 134 c) Stellungnahme zur zwangsweisen (Re-)Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit dem Rechtsstaatsprinzip
136
VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
3. Kapitel
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
141
I. Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur (Re-)Sozialisierung Straffälliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 II. Einfluß des Bundesverfassungsgerichts auf die drei Staatsgewalten hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straffalliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Stellung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den drei Staatsgewalten . . . . . 159
2. Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Legislative hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straffälliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Exekutive hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straffälliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4. Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Judikative hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straffälliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Inhaltsverzeichnis
15
a) Rechtsschutz der Strafgefangenen vor den Strafvollstreckungskammern . . . . . . 169 b) Kritik des Bundesverfassungsgerichts an der Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straffalliger . . . . . . . . 170
m. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung
. . . . . . . 177
1. Verfassungsrechtliche Verpflichtung der drei Staatsgewalten zur (Re-)Sozialisierung von Straftätern . . . .. .. . .. . .. .. .. . . .. .. .. . . .. . .. . .. . . .. . .. . . . .. .. .. . . . . .. . . . . 177 2. Verfassungsmäßiger Ausgleich zwischen der (Re-)Sozialisierung und anderen Verfassungsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
4. Kapitel
Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens I. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Verhängung der Strafe
186 186
1. Rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung . . . . . . . . . 187 a) Vorschriften des Strafgesetzbuches als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung bei der Verhängung der Strafe . . . . . . . . . . . 189 II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung . . . . . . . . . . 190 1. (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug .. .. . . .. .. . . .. .. . .. . .. . . .. . . .. .. . . . . . . .. . .. . . 190
a) Rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug .. .. .. .. .. . .. . .. .. . .. . . . . . .. . . . .. . . . . 190 bb) Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug . . . . .. . . . . . .. . . .. . . .. . . .. . .. . . . . . . . .. 190 b) Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug.............. . ... . .... 191 aa) (Re-)Sozialisierung in bestimmten Formen des Vollzuges . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (1) (Re-)Sozialisierung in sozialtherapeutischen Einrichtungen . . . . . . . . . . 191 (2) (Re-)Sozialisierung im offenen Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
16
Inhaltsverzeichnis bb) Maßnahmen zur (Re-)Sozialisierung innerhalb aller Vollzugsformen . . . . . 195 (1) (Re-)Sozialisierung durch (Aus)Bildung, Arbeit und Entlohnung . . . . 195 (a) (Re-)Sozialisierung durch (Aus)Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (b) (Re-)Sozialisierung durch Arbeit im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . 197 (c) (Re-)Sozialisierung durch finanzielle Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . 20 I (aa) (Re-)Sozialisierung durch Entlohnung ............. . ... . ... 201 (bb) (Re-)Sozialisierung durch Abbau der Verschuldung . . . . . . . . 203 (2) (Re-)Sozialisierung durch sinnvolle Freizeitgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 205 (3) (Re-)Sozialisation durch soziales Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (4) (Re-)Sozialisierung durch Intensivierung von Außenkontakten . . . . . . 207 (a) (Re-)Sozialisierung durch die Gewährung von Besuchen . . . . . . . . 209 (b) (Re-)Sozialisierung durch Pakete, Brief- und Fernmeldeverkehr . 210 (c) (Re-)Sozialisierung durch Vollzugslockerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (5) (Re-)Sozialisierung durch die Förderung von Sozialbeziehungen innerhalb der Anstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung .... . ................... . . .................... . . ................... . . ... . 214 aa) Reetliehe Regelungen im Strafgesetzbuch als Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 bb) Vorschriften des Entwurfes eines Bundesresozialisierungsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung . .......... . . .. ...... . ..... 215 b) Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung . . . . . . . . 217
Iß. Rückwirkung der (Re-)Sozialisierung auf das Strafverfahren .. . ... . .......... . ... . . 219 I. Vorschriften des Strafprozeßbuches als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
2. Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Der (Re-)Sozialisierung entgegenstehende Prinzipien im Strafverfahren . . . . . . . . . 221 4. Gefahr der Entsozialisierung durch die Berichterstattung in den Medien . . . . . . . . . 223 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Inhaltsverzeichnis
17
5. Kapitel
Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens in anderen Ländern I. Die (Re-)Sozialisierung von Strafgefangenen in Österreich
228 228
1. Entwicklung und rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Österreichischen Strafvollzug . . . . .. .. . .. .. .. . . . . . .. .. . . .. .. . .. . .. . . .. . . .. . . .. .. . . . . . . .. .. . . 228 2. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke im Österreichischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . 231 a) Der (Re-)Sozialisierungsgedanke und das Österreichische Verfassungsrecht . . 231 b) Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Durchsetzung der (Re-)Sozialisierung ....................... .. ... . .............. . .. .. ................. .. .. . . .. 233
Il. Die (Re-)Sozialisierung von Strafgefangenen in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Entwicklung und rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im amerikanischen Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke und das amerikanische Verfassungsrecht . . . . . . 241 a) Die (Re-)Sozialisierung in der amerikanischen Verfassung ...... . . .. . . .. . .. . . 241 b) Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Durchsetzung der (Re-)Sozialisierung .. ........... . ........... . ............. . ... . ..... . ................... . .. . 242
III. Die (Re-)Sozialisierung von Strafgefangenen in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im niederländischen Strafvollzug . . . . . . . . . . . 245 2. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke im niederländischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . 248 a) Der (Re-)Sozialisierungsgedanke und das niederländische Verfassungsrecht . . 248 b) Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz zur Durchsetzung der (Re-)Sozialisierung . ..... .. . .. ... . .. .. ... . . .. ...... . .... .. .. .. .. . ........ . . . . . . .. ... . .... . . . 250
IV. Fazit der internationalen Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens . . . . . . . 251 1. Unterschiede hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen (Re-)Sozialisierung und Verfassung in den einzelnen Staaten . .. . .. . . . . . .. . .. . . . .. . .. . .. . .. . . . . .. .. .. 251 2. Unterschiede hinsichtlich der Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens 252 2 Leyendecker
18
Inhaltsverzeichnis 6. Kapitel
Entwicklung eines (Re-)Sozialisierungskonzepts anband verfassungsrechtlicher Leitlinien und der Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens in anderen Ländern
254
I. Notwendigkeit eines (Re-)Sozialisierungskonzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 II. Ursachen für das Fehlen eines (Re-)Sozialisierungskonzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 III. Berücksichtigung empirischer Grenzen bei der Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Notwendigkeit der Berücksichtigung empirischer Grenzen bei der Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
2. Berücksichtigung empirischer Untersuchungsergebnisse in den bundesverfassungsgerichtliehen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Empirische Grenzen bei der Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens . . . . . 261 a) Grenzen, die im Straffälligen selber begründet sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 b) Integrationsbereitschaft der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Ökonomische Grenzen . ..... . . ............ . .... . . . . . ......... . ... . .. .. ... . ... 265 d) "Totale Institution" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 e) Subkultur des Geflingnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 f) Sicherheit und Ordnung im Geflingnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
g) Schutz der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 h) ,,nothing works"- Ergebnisse der Behandlungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 i) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 IV. Notwendige Änderungen für ein (Re-)Sozialisierungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 1. Anforderungen an die Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
a) Abschaffen der Übergangsregelungen im Strafvollzugsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 281 aa) Ausgestaltung des offenen Vollzuges als Regelvollzug nach § 10 StVollzG durch Abschaffung des§ 201 Nr. 1 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 bb) Umsetzung der Vorschriften betreffend der Einzelunterbringung und Belegungsfähigkeit gemäߧ§ 18 II 2, 145 I StVollzG durch Abschaffung des § 201 Nr. 3, 5 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Inhaltsverzeichnis
19
cc) Umsetzung der Vorschriften betreff der Gliederung der Haftanstalten in übersichtliche Größen gemäß § 143 StVollzG durch Abschaffung des § 201 Nr. 4 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 dd) Umsetzung der Entlohnungsvorschriften gemäß § 43 I 2 i.V.m. § 200 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 ee) Umsetzung der Vorschriften betreffend der Versicherung des Strafgefangenen gemäߧ§ 190-195, 198 III StVollzG.................... . ... . . ... 289 b) Änderungen von Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes. . ........ . .. .. .. . .... 291 aa) Änderungen der Vorschriften bezüglich der Förderung von Außenkontakten gemäß §§ 11 ff. StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 bb) Erweiterung der Vorschriften zur Entlassungsvorbereitung Strafgefangener gemäߧ§ 15, 16 StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 cc) Änderung von Vorschriften betreff des Rechtsschutzes der Strafgefangenen gemäߧ§ 108 ff. StVollzG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 c) Änderungen von Vorschriften des Strafgesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 aa) Erweiterung des Instituts der Strafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . 298 bb) Einführung umfassender Regelungen zur Institution der Bewährungshilfe und anderer sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 cc) Einführung alternativer Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (1) Notwendigkeit alternativer Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (2) Mögliche alternative Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 (a) Gemeinnützige Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 (b) Elektronische Fußfessel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . .. . .. 307 d) Änderungen von Vorschriften der Strafprozeßordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 aa) Erweiterung des Täter-Opfer-Ausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 bb) Möglichkeit kürzerer Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 2. Anforderungen an die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 a) Möglichkeit für Reformen in der Vollzugspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 b) Umsetzung des Strafvollzugsgesetzes .. .. . . .. .. . .. . .. . . .. . . .. . . .. . .. .. . .. .. .. 317 c) Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 aa) Notwendigkeit der Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 bb) Information durch die Justizbehörden . .. . . . .. . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . . . 321 cc) Anstaltsbeiräte und freiwillige Helfer im Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2*
20
Inhaltsverzeichnis 3. Änderung der Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Ergebnisse und Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
Abkürzungsverzeichnis a.F. Abs. AJK
AK ALSÖ Alt.
alte Fassung Absatz Arbeitskreis junger Kriminologen Alternativkommentar Arbeitsgemeinschaft der leitenden Strafvollzugsbeamten Österreichs Alternative
a.M.
amMain
Anm.
Anmerkung
Art. ARV AT
Artikel Allgemene Reclasseringvereinigung Allgemeiner Teil
Auf!. BAG-S
Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe
BayVGH
Bayrischer Verwaltungsgerichtshof
Bnd. Beschl. BewHI
Band Beschluß Bewährungshilfe
BGB BGBI.
Bürgerliches Gesetzbuch
BGH
Bundesgerichtshof Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
BGHSt BMJ
Auflage
Bundesgesetzesblatt
BResoG
Bundesministerium der Justiz Bundesresozialisierungsgesetz
BR
Bundesrat
BT
Bundestag
BVerfG
Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerfGE BVerfGG B-VG
Bundes-Verfassungsgesetz
BWG
Beginselenwet Gevangnizwesen
BZ
Berliner Zeitung
bzgl.
bezüglich
BZRG bzw.
Bundeszentralregistergesetz beziehungsweise
ca.
circa
22
Abkürzungsverzeichnis
CCPR
International Covenant on Civil and Political Rights
CDPC
European Committee on Crime Problems
Coll. c.p.
Collection
CPT
ceteris paribus European Committee for the prevention of torture and inhuman or degrading treatment or punishment
DDR Dec.
Deutsche Demokratische Republik December
ders.
derselbe Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt Deutsche Mark Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richter-Zeitung
DGB d.h. DM DÖV DRiZ Drucks. dt. DVBl DVollzO EGMR EGStGB EMRK EPR etc. EuGH EuGRZ e.V. evangl. evt. f., ff. FAZ FN GA
Drucksache deutsch Deutsches Verwaltungsblatt Dienst- und Vollzugsordnung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten European Prison Rules et cetera Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift eingetragener Verein evangelisch eventuell folgende, fortfolgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote
GG
Archiv für Straftecht und Strafprozeßrecht, begriindet von Goltdarnrner Grundgesetz
GM h.M. Hrsg.
Gevangenizmaatregel herrschende Meinung Herausgeber
HS. i.d.F.v.
Halbsatz in der Fassung vom
insb. IPBPR i. s. d. i.V.m.
insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Sinne des in Verbindung mit
Abkürzungsverzeichnis JA JBl JGG JR Jura JuS JVA JZ KG KJ KJHG Krimi KrimPäd LG MDR MschKrim m.w.N. NJB NJCM NJW NJW-RR NlStGB No. Nr.
Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Jugendgerichtsgesetz Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Justizvollzugsanstalt Juristenzeitung Kammergericht Kritische Justiz Kinder- und Jugendhilfegesetz Kriminologisches Journal Kriminalpädagogische Praxis Landgericht Monatsschrift für deutsches Recht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiteren Nachweisen Nederlands Juristenblad Nederlands Juristen Comite voor de Mensenrechten Neue Juristische Wochenzeitschrift Neue Juristische Wochenzeitschrift-Rechtsprechungs-Report Niederländisches Strafgesetzbuch
ÖJT
Number Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Strafrechtszeitung Neue Zeitung im Strafrecht- Rechtsprechungs-Report oder ähnlichem Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich Österreichischer Juristentag
ÖJZ ÖRGBI. öStGB OGH OLG PBW
Österreichische Juristen-Zeitung Reichsgesetzblatt für die Republik Österreich Österreichisches Strafgesetzbuch Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Penitentiaire beginselenwet
PersFrG PM RAF Rein.
Verfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit Penitentiare maatregel Rote Armee Fraktion Randnummer
NRW
NStZ NStZ-RR o.a. ÖBGBI.
23
Abkürzungsverzeichnis
24
S.
Satz; Seite
Sch!H
Schleswig Holstein
Sec.
Section
SED
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
SH
Sonderheft
s.o.
siehe oben
sog.
sogenannte
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
StÄG
Strafrechtsänderungsgesetz
StBI.
Staatsblad van het Koninkrijk der Nederlanden
StGB
Strafgesetzbuch
StGG
Staatsgrundgesetz über die allgemeine Rechte der Staatsbürger
StPO
Strafprozeßordnung
StV
Strafverteidiger
StVG
Österreichisches Strafvollzugsgesetz
StVK
Strafvollstreckungskammer
StVollzG
Strafvollzugsgesetz
SVWG
Gesetz über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug und über die Wiedereingliederung Strafentlassener in das gesellschaftliche Leben
sz
Süddeutsche Zeitung
taz
die Tageszeitung
u. a.
unter anderem
UN
United Nations
UNO
United Nations Organisation
Urt.
Urteil
us
USA
United States United States of America
usc
United States Code
u.U.
unter Umständen
V.
versus
Verf.
Verfasser
VerfGH
Verfassungsgerichtshof
VerwGH
Verwaltungsgerichtshof
VfSlg.
Sammlung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes
vgl.
vergleiche
Vol.
Volume
Vorbem.
Vorbemerkung
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
z.B.
Zum Beispiel
ZtRV
Zeitschrift für Rechtsvergleichung
Abkürzungsverzeichnis ZfStrVo ZK
Zeitschrift für Strafvollzug und Straffa.Jligenhilfe Zentralkomitee
ZRP ZStrR ZStW
Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
z.T.
zum Teil
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
25
Einführung I. Problemdarstellung Die Resozialisierung Strafgefangener ist in den letzten Jahren häufiger denn je Gegenstand verfassungsrechtlicher Entscheidungen gewesen 1• Immer mehr geht das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung möglicher Grundrechtsverletzungen von Strafgefangenen auf die Bedeutung der Resozialisierung ein. Bereits in den siebziger Jahren leitete das Gericht für den Strafgefangenen2 aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG einen "Anspruch auf Resozialisierung" ab3 . Seitdem hat sich das Bundesverfassungsgericht mit den unterschiedlichsten Facetten des Resozialisierungsgedankens beschäftigt. Es erläuterte mehrfach das Spannungsverhältnis zwischen dem Vollzugsziel der Resozialisierung und den allgemeinen Strafzwecken, setzte sich mit Grundrechtseingriffen zur Gewährleistung der Resozialisierung auseinander, forderte bestimmte Resozialisierungsmaßnahmen für Straffällige und wies aus diesem Grunde den Gesetzgeber zur Änderung der Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes an. Zuletzt stellte es diesbezüglich fest, daß das Strafvollzugsgesetz insgesamt das Resozialisierungskonzept der Siebziger Jahre "nur als Torso" verwirklicht4. Diese Entwicklung erscheint kontradiktorisch zum Interesse der Literatur. Es werden immer weniger Abhandlungen zu der Thematik des Behandlungsvollzuges publiziert, immer seltener weisen Gerichte auf den Resozialisierungsgedanken hin. Das fehlende Interesse von Gerichten und Literatur geht konform mit der interI In den neunziger Jahren ging das BVerfG in folgenden Entscheidungen auf die Resozialisierung ein: Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94,'NStZ 1995, S. 613; Beschl. vom 4. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30; Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121; Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; Beseht. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375; BVerfG, Beschl. vom 24. 8. 1998-1 Ws 159/98, NJW 1999, S. 439; BVerfG, Beschl. vom 25. 11. 1999-1 BvR 348/98 und 755/98, NJW 2000, S. 1859 ff.; BVerfGE 96, 101 f.; 98, 169 ff. 2 Im Rahmen der Dissertation werden die Substantive "Straftäter" und "Strafgefangener" in ihrer männlichen Form verwendet. Sie beziehen sich aber nicht nur auf männliche, sondern auch auf den geringen Anteil weiblicher Gefangener. V gl. zur besonderen Problematik der Resozialisierung von Frauen von den Driesch, Frauenstrafvollzug - Entwicklung, Situation und Perspektiven, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger, 1998, S. 119 ff.; sowie Simmedinger; Resozialisierung von straffälligen Frauen, in: Comel/Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 209 ff. 3 BVerfGE45, 187,239. 4 BVerfGE 98, 169, 208.
28
Einführung
nationalen Entwicklung in Gesellschaft, Politik und Medien. Vereinzelte Mißerfolge von Vollzugslockerungen werden medienträchtig vermarktet. Schon lange ist vom deutschen "Hotelvollzug" die Rede5 . Übernommen vom Ausland hört man in Deutschland Forderungen nach "law and order", nach "Null-Toleranz" gegenüber Straftätern. Im Vollzug herrschen - bedingt durch Überbelegung und Personalmangel - katastrophale Haftbedingungen6 , und in der Behandlungsforschung kommt man häufig zu dem Ergebnis: "nothing works"7 . Das war nicht immer so. In den sechzigerund siebziger Jahren herrschte vielmehr international eine "Behandlungseuphorie". Strafvollzugsgesetze, die als primäres Vollzugsziel die Resozialisierung nannten, wurden reihenweise verabschiedet8 . Die Überbelegung der Gefängnisse verringerte sich, das Personal in den Vollzugsanstalten nahm zu, finanzielle Mittel wurden in Behandlungsmethoden investiert9 . Die Ursache für eine Abkehr vom Behandlungsvollzug seit dieser Zeit ist vor allem darin zu sehen, daß die hohen Erwartungen an einen Behandlungsvollzug mit dem Ziel der Resozialisierung enttäuscht wurden. Es gab keinen signifikanten Rückgang der Straftaten ehemaliger Strafgefangener 10• Desillusioniert setzte sich die Auffassung durch, Freiheitsentzug übe eher einen negativen Einfluß auf Straftäter aus, als daß er resozialisiere 11 . So wurde häufig als anzustrebendes Vollzugs5 Vgl. Deiters, Öffentlichkeitsarbeit für Straffälligenhilfe, in: Schwind I Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 267; Geerds, in: Gedächtnisschrift für Albert Krebs, 1994, S. 259 ff.; Kunz, ZStW 101 (1989), S. 79; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 32; Schneider, Einführung in die Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 353; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 24. 6 Dünkel, Empirische Forschung im Strafvollzug, 1996, S. 46; lrwinlAustin, It's about Time, America's Imprisonment Binge, 1994, S. 143 f.; Kahlweit, SZ 20. 10. 1998, S. 11; Kruse, Der Spiegel 5/1999, S. 58 ff.; Der Tagesspiegel 18. 11. 1999, S. 14. Siehe auch 6. Kapitel III. 3. c). 7 Die These des ,,nothing works" wurde erstmals von dem Amerikaner Martinson im Jahre 1976 entwickelt; Martinson, What works?- questions and answers about prison reform, in: ders./Palmer/ Adams (Hrsg.), Rehabilitation, Recidivism, and Research, 1976, S. 22 ff. Einen Überblick über die Ergebnisse der Behandlungsforschung gewähren Antonowicz I Ross, International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology, 1994, S. 98 ff.; Löse[, ZfStrVo 1996, S. 259 ff. s In den Niederlanden 1951, in Franlaeich 1958, in Schweden 1964, in der ehemaligen DDR 1968, in Polen 1969, in Österreich 1969, in der BRD 1976. Einen Überblick über die einzelnen Strafvollzugsgesetze gewährt Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, 1984, 2080 ff. 9 Dünkel, ZStR 1983, S. 137 f., 146 f.; Schwind, Kriminalistik 1997, S. 618. 10 Vgl. dazu die Zusammenstellungen von Untersuchungen, die zu diesem Befund kommen, bei Mathiesen, Gefängnislogik, 1989, S. 59. Zum Jugendstrafvollzug vgl. Brunnerl Dölling, JGG-Kommentar, 10. Aufl. 1996, § 17 Rdn. 10 f.; kritisch Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 37 ff. und Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 295 f. 11 Harbordt, Die Subkultur des Gefängnisses, 1972, S. 10 ff.; Hoppensack, Über die Strafanstalt und ihre Wirkung auf Einstellung und Verhalten von Gefangenen, 1969, S. 160; Schumann, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, in: ders./Steinert/Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs, 1988, S. 20.
II. Überblick über die Literatur
29
ziel nicht mehr die Resozialisierung, sondern lediglich die Vermeidung von Entsozialisierung angesehen 12• Damit wurden einerseits die Forderungen nach Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe 13, der Freiheitsstrafe als solcher14, der Strafe insgesamt 15 laut. Andererseits rückten mit der Desillusionierung über den Behandlungsvollzug andere kriminologische Gesichtspunkte in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Abhandlungen, insbesondere eine verstärkte Blickrichtung auf das Opfer, der Gedanke einer Wiedergutmachung 16• Das Bundesverfassungsgericht steht heute mit seinen Forderungen nach Resozialisierung weitgehend alleine. In zahlreichen Entscheidungen gibt das Gericht verfassungsrechtliche Vorgaben für die Verwirklichung des Resozialisierungsgedankens. Die Umsetzung dieser Vorgaben liegt aber bei dem Gesetzgeber, bei der Verwaltung, bei den einzelnen Gerichten und nicht zuletzt bei der Gesellschaft, die nach dem Bundesverfassungsgericht verpflichtet ist, den Straftäter wieder in ihrer Mitte aufzunehmen 17 • Damit kann die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Resozialisierungsirlee fördern, nicht aber alleine verwirklichen.
II. Überblick über die Literatur zum Thema der Dissertation, Gegenstand und Ziel der Arbeit Die Dissertation beschäftigt sich mit dem Thema "(Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht". Grundsätzlich ist die Frage nach der Verknüpfung von Strafrecht und Verfassungsrecht für die gesamte Strafrechtswissenschaft von immenser Bedeutung, denn allen strafrechtlichen Problemen liegt die Frage nach dem Sinn, der 12 Kunz, ZStW 101 (1989), S. 81; ProwseiWeberiWilson, International Journal ofthe Sociology of Law 1992 Vol. 20, S. 129; dagegen Kaiser; in: Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 604 f.; Lüderssen, Abschaffen des Strafens, 1995, S. 143. 13 Ahlemann, Lebenslänglich oder Der Tod auf Raten, 1979, S. 236 f.; BockiMährlein, ZRP 1997, S. 381. 14 Böhm, Das Ende der Strafanstalt, 1982, S. 274; Quensel, Gibt es eine Alternative zum Strafvollzug?, Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 55; Ortner; Freiheit statt Strafe, Plädoyer für die Abschaffung der Gefängnisse, 1986, in: Sehnmann I Steinert I Voß, Vom Ende des Strafvollzugs, 1988. 15 Vgl. Neufelder; GA 1974, S. 298; Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 5, 340 ff.; Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, 1973, S. 262 ff.; Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 21 ff. 16 Kaiser I Kerner I Schöch-Albrecht, Kleines kriminologisches Wörterbuch, Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 311 f.; Hirsch, 25 Jahre Entwicklung des Strafrechts, 25 Jahre Rechtsentwicklung in Deutschland, in: Universität Regensburg (Hrsg.), Deutschland - 25 Jahre juristische Fakultät der Universität Regensburg 1993, S. 41; Kaiser; ZRP 1994, S. 314; BT-Drucks. 1216141, S. 8; auch international zeigt sich dieser Trend beispielsweise bei der von der UN am 29. 11. 1985 verabschiedeten ,,Erklärung über Grundprinzipien der rechtmäßigen Behandlung von Verbrechensopfern und Opfern von Machtrnißbrauch". 11 BVerfGE 35, 202, 236.
30
Einführung
Legitimation und den verfassungsrechtlichen Grenzen der Strafe zugrunde. Die Verknüpfung von materiellem Strafrecht und Verfassungsrecht ist gerade in den letzten Jahren ausführlich untersucht wurden 18 . Demgegenüber gibt es so gut wie keine wissenschaftlichen Abhandlungen betreffend des Verhältnisses von Strafvollzugsrecht und Verfassung, speziell zu verfassungsrechtlichen Aspekten der Resozialisierung. Denn obwohl die Resozialisierung Straffalliger eng mit der Verfassung verknüpft ist, wird die Resozialisierung in dem weitaus größten Teil der Arbeiten, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, nur sehr allgemein erörtert. Teilweise wird die Resozialisierung untergeordnet im Zusammenhang mit den Straftheorien behandelt 19• Teilweise wird auf psychologische, sozialpädagogische und finanzielle Gesichtspunkte der Resozialisierung eingegangen 20. In den letzten Jahren steht dabei häufig die These: "Krise der Resozialisierung" im Mittelpunkt der Arbeiten21 . Die verfassungsrechtlichen Aspekte der Resozialisierung sind generell nur Begleitaspekte der Arbeiten, die sich mit Resozialisierung beschäftigen und werden lediglich dann in Ansätzen erörtert, wenn es darum geht, die Notwendigkeit der Resozialisierung zu betonen. Teilweise wird in der Wissenschaft auf die Herleitung der Resozialisierung aus der Verfassung eingegangen22• Teilweise wird auch die Resozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe behandelt23 . Auf die verfassungsrechtlichen Grenzen der Resozialisierung gehen lediglich Schewick, 18 Appel, Verfassung und Strafe, 1998; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Lewisch, Verfassung und Strafrecht, 1993; Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991. 19 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 834 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auf!. 1996, § 8 II 3., Klose, ZStW 86 (1974), S. 65 f. 20 Comell Maelicke I Sonnen, Handbuch der (Re-)Sozialisierung, 1995; Koch, Gefangenenarbeit und Resozialisierung, 1969; Lichtenherger Die Arbeitsentlohnung im Strafvollzug als Mittel der Resozialisierung, 1971; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994. 21 Vgl. Lüderssen, JA 1991, S. 222 ff.; Müller-Dietz, Abschied vom (Re-)Sozialisierungsgedanken?, in: de Boor/Frisch/Rode (Hrsg.), Resozialisierung Utopie oder Chance?, 1995, S. 78 ff.; Schwind, Kriminalistik 1997, S. 618 ff. 22 Bauer, Die Rückkehr in die Freiheit- Probleme der (Re-)Sozialisierung, in: Freudenfeld (Hrsg.), Schuld und Sühne, 1960, S. 149; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 268 f.; Böhm, Strafvollzug, 2. Auf!. 1986, S. 25; Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Auf!. 1992, § 4 I. b); Dünkel, Vom schuldvergeltenden Strafvollzug zum resozialisierenden Justizvollzug, in: Sievering (Hrsg.), Behandlungsvollzug- Evolutionäre Zwischenstufe oder historische Sackgasse?, 1987, S. 202; Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, 1963, S. 21; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 19; Müller-Dietz, Strafvollzugsgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 98; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 51 f.; Woesner, NJW 1966, S. 1730; Würtenberger, JZ 1970, S. 452. 23 Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionssystems, 1979, S. 163; Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 64 ff.; Volckart, BewHi 1985, S. 25; Michael Walter, Strafvollzug, 1999, Rdn. 361.
III. Gang der Untersuchung
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Lüderssen und Hassemer ein24 . Sehr wenig Literatur findet sich auch zu der Problematik, inwieweit die Resozialisierung ein Grundrecht darstellt; gerade zwei Arbeiten beschäftigen sich ausführlich mit diesem Thema25 • Damit muß festgestellt werden, daß die Literatur das Verhältnis von Resozialisierung und Verfassungsrecht insgesamt eher fragmentarisch behandelt hat. Vor allem ist eine Untersuchung aller verfassungsrechtlichen Aspekte unter Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung zur Resozialisierung in der Wissenschaft bisher unterblieben26. Die vorliegende Arbeit soll deshalb alle verfassungsrechtlichen Aspekte der Resozialisierung aufzeigen und sinnvoll verknüpfen. Ziel dieser Dissertation ist somit eine Untersuchung sämtlicher verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte der Resozialisierung. Dabei wird die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung besondere Berücksichtigung finden. Allerdings sollen darüber hinaus auch vom Bundesverfassungsgericht bisher noch nicht behandelte Aspekte, die sich aus der Verfassung für den Resozialisierungsgedanken ergeben, entwickelt und untersucht werden. Auf diesen Grundlagen soll ein an verfassungsrechtlichen Vorgaben orientiertes Resozialisierungskonzept entworfen werden, das Möglichkeiten und Grenzen einer verfassungsmäßigen Resozialisierung in der Praxis aufzeigt.
111. Gang der Untersuchung Die Untersuchung ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel widmet sich der internationalen Entwicklung und Kodifizierung des Resozialisierungsgedankens. Durch den geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der Resozialisierung soll ein wesentliches Grundverständnis für die Materie der Resozialisierung geschaffen werden. Ergänzend dazu werden die für die Entwicklung des Resozialisierungsgedankens maßgebenden internationalen Rechtsgrundlagen erläutert.
24
Schewick, BewHi 1985, S. 3 ff.; Lüderssen, KJ 1997, S. 179 ff.; Hassemer, KrimJ 1982,
s. 161 ff.
25 Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 154 ff.; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 53 ff. 26 Das B VerfG beschäftigte sich in folgenden Entscheidungen mit der (Re-)Sozialisierung: BVerfGE 33, 1; BVerfGE 35, 202; 36, 1; 40, 276; 45, 187; 64, 161; 96, 101 f.; 98, 169; BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht); BVerfG, Beschl. vom 29. 10. 1993-2 BvR 672/93, StV 1994, S. 147; BVerfG, Beschl. vom 16. 5. 1995-2 BvR 1882/92,365/93, NStZ 1996, S. 55; BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 19952 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613; BVerfG, Beschl. vom 14. 8.1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30; Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375; BVerfG, Beschl. vom 24. 8. 1998-1 Ws 159/98, NJW 1999, S. 439; BVerfG, Beschl. vom 24. 10. 1999-2 BvR 1538/99 (unveröffentlicht).
32
Einführung
Im Anschluß daran untersucht das zweite Kapitel die vielfaltigen verfassungsrechtlichen Bezüge der Resozialisierung. Behandelt wird die Resozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck, als verfassungsmäßige Aufgabe des Strafvollzuges, als verfassungsrechtlicher Anspruch des Straffälligen, als verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe und die Problematik der Kollision der Resozialisierung mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden dabei nur insoweit behandelt, als die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur wissenschaftlichen Entwicklung der Bezüge von Verfassungsrecht und Resozialisierung beigetragen hat. In diesem Kapitel gezeigt, welche Anforderungen die Verfassung an die Umsetzung des Resozialisierungsgedankens stellt. Dies ist Voraussetzung für die Prüfung, inwieweit dem Verfassungsrang der Resozialisierung in der Praxis Rechnung getragen wird. Gegenstand des dritten Kapitels sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Resozialisierungsgedankens. Bei dieser Untersuchung ist festzustellen, daß das Verfassungsgericht den Staatsgewalten trotz vielfaltiger Auseinandersetzungen mit den Voraussetzungen und Konsequenzen der Resozialisierung keine generellen Vorgaben zur Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens gemacht hat. Nur in Einzelbereichen hat das Bundesverfassungsgericht klare Anforderungen an Gesetzgeber, Rechtsprechung und Verwaltung gestellt, wie der Strafvollzug auszugestalten ist, um dem Resozialisierungsanspruch Straffälliger gerecht zu werden. So hat das Verfassungsgericht eine Änderung verschiedener Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes aus Gründen der Resozialisierung gefordert, die Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern stark kritisiert und verschiedene Entscheidungen der Vollzugspraxis als verfassungswidrig beanstandet. Damit kann das Gericht als ,,Motor der Entwicklung des Resozialisierungsgedankens in Deutschland" bezeichnet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse über die Bedeutung, die der Resozialisierungsgedanken bei konsequenter Anwendung in der Bundesrepublik Deutschland erlangen könnte, werden im vierten Kapitel mit den bisherigen tatsächlichen Erfolgen kontrastiert. Es ergeben sich bereits hier erste Hinweise auf mögliche Anwendungsdefizite des Resozialisierungsgedankens in der Vollzugspraxis und Gesetzgebung. Der Anwendungsbereich der Resozialisierung ist in der Theorie sehr vielfältig. Zum einen gewinnt der Resozialisierungsgedanke Bedeutung bei der Verhängung der Strafe. Zum anderen bestimmt die Resozialisierung als Vollzugsziel vor allem den Strafvollzug, kann aber bei der gesamten Strafvollstreckung Anwendung finden. Außerdem besteht die Möglichkeit der Rückwirkung der Resozialisierung auf das Strafverfahren. In der Praxis werden die theoretischen Erkenntnisse über die Resozialisierung jedoch nicht vollständig umgesetzt, wie die Erörterung zeigen wird. Das fünfte Kapitel geht der Frage nach, welche Rolle der Resozialisierungsgedanke in anderen Ländern spielt. Denn zum anschließenden Entwurf eines den
III. Gang der Untersuchung
33
verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden Konzeptes der Resozialisierung trägt eine rechtsvergleichende Untersuchung über die Resozialisierungsmaßnahmen in anderen Ländern bei. Dabei sollen vor allem die Einflußchancen und -gefahren anderer Rechtsordnungen auf die Entwicklung des Resozialisierungsgedankens in der Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt werden. Exemplarisch soll insofern die Entwicklung der Resozialisierung in den drei Ländern: Vereinigte Staaten von Amerika, USA, Niederlande und Österreich überprüft werden. Diese Auswahl wurde aus folgenden Gründen getroffen: Österreich bietet sich für eine rechtsvergleichende Untersuchung an, da dort vor kurzer Zeit große Strafvollzugsreformen auch im Hinblick auf ResozialisierungsmaBnahmen stattgefunden haben27 • Die USA gehören in die vergleichende Betrachtung hinein, da sie das "Ursprungsland" des Resozialisierungsgedankens sind, sich aber heute vollständig von dieser Idee abgewandt haben28 . Die amerikanischen Impulse auf die europäische Kriminalpolitik zeigt das Beispiel der Niederlande. Diese nahmen in Europa hinsichtlich der Verwirklichung des Resozialisierungsgedankens jahrelang eine Vorbildfunktion ein, orientieren sich aber seit einiger Zeit wieder an den USA und wenden sich deutlich von dem Behandlungsvollzug ab, wie man an der neuesten Strafvollzugsreform von 1999 sieht29• Ausgehend von der Umsetzung des Resozialisierungsgedankens in diesen Ländern und den bundesverfassungsgerichtliehen Vorgaben soll im sechsten Kapitel ein Konzept der Resozialisierung entwickelt werden. Um den Realitäten der Vollzugspraxis gerecht zu werden, müssen dabei finanzielle, systembedingte und gesellschaftliche Hindernisse und Grenzen bei der Umsetzung des Resozialisierungsgedankens beachtet werden. Das heißt, es müssen die Ergebnisse der Behandlungsforschung beachtet werden, wonach die Resozialisierungserfolge vor allem im Strafvollzug nur sehr gering sind. Allerdings könnten die Resozialisierungserfolge auch im Strafvollzug größer sein, wenn dieser am Vollzugsziel orientiert reformiert würde. Insgesamt erfordert ein Resozialisierungskonzept aber nicht nur Reformen im Vollzug, sondern auch das Aufzeigen von Resozialisierungsmöglichkeiten außerhalb des Vollzuges, sowie verbesserte Rahmenbedingungen zur Eingliederung ehemaliger Straftäter in die Gesellschaft. Die Schlußbetrachtung soll die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassen und nochmals auf die wichtigsten Änderungen der Gesetze, der Rechtsprechung und der Vollzugsverwaltung hinweisen, die für eine Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Rechts des Straffälligen auf Resozialisierung notwendig sind. 27 Die letzte Strafvollzugsnovelle wurde im Jahre 1993 in Österreich verabschiedet ÖBGBL 1993, Nr. 799. Seit dem 1. 1. 1994 gilt das novellierte Strafvollzugsgesetz. 28 Zu dieser Entwicklung vgl. Irwin/Austin, lt's about Time, America's Imprisonment Binge, 1994, S. 143 f.; Kögler, Die zeitliche Unbestimmtheit freiheitsentziehender Sanktionen, 1988, S. 164 ff.; Weitekamp, And the Band Played On oder Wahnsinn und kein Ende, in: Ortner I Pilgram I Steinert (Hrsg.), Die Null-Lösung, 1998, S. 67 ff. 29 StBl. 1998, Nr. 430. Zum Wandel der Kriminalpolitik in den Niederlanden siehe Hetze/, Kölner-Stadt-Anzeiger 17. 9. 1998, S. 1.
3 Leyendecker
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Einführung
IV. BegritTsbestimmung der Resozialisierung 1. Definitionen der Resozialisierung Die Entwicklung eines an verfassungsrechtlichen Vorgaben orientierten Konzeptes der Resozialisierung erfordert eine klare Begriffsbestimmung der Resozialisierung. Der Begriff der Resozialisierung ist im Strafrecht nicht definiert. Für das Bundesverfassungsgericht bedeutet Resozialisierung "die Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft"30. In der Literatur wird dem Begriff ein unterschiedlicher Inhalt beigemessen. Die verschiedensten Definitionen haben sich aber - wie Schüler-Springorum bereits vor fast 30 Jahren feststellte, und daran hat sich bis heute nichts geändert - nicht "zu einem rechtlich und praktisch verwertbaren Inhaltsgefüge des Vollzuges ( ... ) verdichtet"31 • Zumeist wird die Resozialisierung als Teil des lebenslangen Sozialisationsprozesses verstanden32 . Dabei bedeutet Sozialisation das Erlernen, sich Aneignen und Verinnerlichen eines auf Umwelt und Mitmenschen ausgerichteten "sozialen" Verhaltens 33 . Dieses Erlernen besteht darin, daß abweichend definierte Verhaltensnormen zugunsten eines Verhaltens verändert werden, das gesamtgesellschaftlichen Werten und Normen entspricht. Ob es aber hinsichtlich der Sozialisation reicht, daß der Gefangene sich straffrei verhält, oder ob er bestimmte Wertvorstellungen verinnerlichen muß, ist strittig. So fragt Eser: "Zu was soll der Resozialisierungsbedürftige determiniert werden? Zu äußerem Wohlverhalten? Zu positiver Einstellung gegenüber dem Recht? Zu sittlich fundierten Werthaltungen?"34 Teilweise wird verlangt, daß die Resozialisierung von vornherein auf die unabweislichen Mindestanforderungen des menschlichen Zusammenlebens zu beschränken sei, das heißt, insbesondere auf die Fähigkeit zur Einhaltung strafrechtlicher Sanktionsnormen35 • Dieser Auffassung ist auch der Bundesgerichtshof, der ausdrücklich in der Entscheidung BGHSt 7, 6 feststellte, daß die für die Strafaussetzung zur Bewährung erforderliche Erwartung, daß der Straftäter künftig ein gesetzmäßiges Leben führt, nicht auf einer Gesinnungsänderung beruhen müsse, sondern auch anderer Art sein könne36. In der 30 BVerfGE 35, 202, 235; siehe auch BVerfGE 40, 276, 284; 45, 187, 239; BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613; BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, NStZ 1996, S. 614. 31 Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 157. 32 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders. /Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 15; Freimund, Vollzugslockerungen - Ausfluß des Resozialisierungsgedankens?, 1990, S. 18. 33 Schüler-Springorum, Was stimmt nicht mit dem Strafvollzug?, 1970, S. 48. 34 Vgl. Eser, in: Festschrift für Kar! Peters, 1974, S. 509. 35 Beckmann, NJW 1983, S. 540; Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992 S. 57; Luzius, Möglichkeiten der Resozialisierung durch Ausbildung im Jugendstrafvollzug, 1979, S. 19; Würtenberger, Strafvollzug im sozialen Rechtsstaat, in: Artbur Kaufmann (Hrsg.), Die Strafvollzugsreform, 1971, S. 14.
IV. Begriffsbestimmung der Resozialisierung
35
Literatur wird demgegenüber teilweise vom resozialisierten Straftäter eine Legalität gefordert, die mehr ist als bloße Gesetzeskonformität, nämlich Ausdruck einer ethisch zu begründenden und zu verantwortenden persönlichen Grundhaltung gegenüber Gesellschaft, Staat und Mitmenschen37 . Für die Entwicklung eines verfassungsmäßigen Konzeptes der Resozialisierung ist es wichtig, welcher Inhalt der Resozialisierung zugrunde gelegt wird, inwieweit bestimmte Gesinnungsänderungen des ehemals Straffälligen gefordert werden dürfen. Hiervon hängt nämlich ab, wie das Konzept der Resozialisierung aussehen kann. Deshalb muß eine genaue Inhaltsbestimmung der Resozialisierung erfolgen. Eine solche Inhaltsbestimmung kann aufgrund der Vielseitigkeit des Begriffes der Resozialisierung am präzisesten durch die Ergänzung um eine Negativabgrenzung vorgenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht versteht- wie oben erläutert- die Resozialisierung als Eingliederung des Straftäters in die Gesellschafe8 • In einer Gesellschaft, die selbst als nicht intakt angesehen wird - weswegen die Forderung erhoben wird, statt des Gefangenen zunächst die Gesellschaft, dessen Produkt letztendlich die Kriminalität sei, zu resozialisieren 39 - kann aber primäres Ziel nicht die umfassende Eingliederung des ehemals Straffälligen in diese Gesellschaft sein40, auch wenn dies förderlich für ein straffreies Leben wäre. Setzte man des weiteren die Resozialisierung mit der Vermittlung sämtlicher fundierter Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft und damit einer weitgehenden Veränderung der Persönlichkeit oder der Überzeugung des Verurteilten gleich, bestünde die Gefahr der Objektivierung des Straffälligen und damit die Gefahr eines Verstoßes gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde41 •
36
BGHSt 6, 7, 9.
37
Deimling, ZfStrVo 1978, S. 8, wohl auch Müller-Emmert, DRiZ 1976, S. 67; Peters, in:
Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 505,509. 38 Siehe Einführung A.; BVerfGE 35, 202, 235; vgl. auch BVerfGE 40, 276, 284; 45, 187, 239; BVerfG, Beschl. vorn 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613; BVerfG, Beschl. vorn 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, NStZ 1996, S. 614. 39 Eser, in: Festschrift für Karl Peters 1974, S. 506 f., Münchbach, Strafvollzug und Öffentlichkeit, 1973, S. 131; Sessar, ZStW 81 (1969), S. 372 ff.; vgl. auch Klee, Resozialisierung, 1973, S. 45; Kury, Die Behandlung Straffälliger, 1986, S. 45. 40 Setzt das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Resozialisierung mit der Eingliederung des Strafgefangenen in die Rechtsgemeinschaft gleich, dann muß es um eine faktische Eingliederung, Integration in die Gesellschaft gehen, nicht um die formelle Zugehörigkeit des Straffälligen zur Rechtsgerneinschaft. Ginge es darum, wäre dies mit Hill gänzlich abzulehnen, der feststellt, daß der Straftäter durch die Straftat nicht zum Vogelfreien wird, sondern in jedem Augenblick (formell) Mitglied der Rechtsgemeinschaft bleibt, Hili, ZfStrVo 1986, s. 146. 41 Entsprechend lautete auch der Wortlaut des § 2 II des Alternativentwurfes des StVollzG "Der Vollzug darf nicht auf weitergehende Veränderungen der Persönlichkeit oder der Überzeugung des Verurteilten gerichtet sein." 3*
36
Einführung
Ausreichend kann aber auch nicht eine reine Scheinanpassung sein. Denn dient Sozialisation dazu, den Straftäter zu eigener Selbstformung und Selbststeuerung zu befahigen, kann dies schwerlich durch die Anerziehung einer Haltung geschehen, die lediglich auf zwanghafter Anpassung basiert, der also das gerade fehlt, was Voraussetzung echter Selbststeuerung wäre42 • Angestrebt werden sollte vielmehr die Befahigung, mit risikogeladenen oder gefahrlichen, respektive kriminogenen Situationen, zurecht zu kommen, ohne straffallig zu werden43 . Das heißt, selbständig und nach eigenen Wertvorstellungen entsprechend § 2 StVollzG "in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen".
2. Abgrenzung der Resozialisierung zu verwandten BegritTen Die Unbestimmtheit des Begriffs der Resozialisierung führt immer wieder zu einer Ersetzung durch andere Bezeichnungen. Im Folgenden soll verdeutlicht werden, warum für den Prozeß "in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen" der Begriff der Resozialisierung verwendet wird und nicht die in der Literatur ebenfalls benutzten Begriffe, wie Besserung und Erziehung, Rehabilitation, Rückfallverhinderung, Integration und Sozialisation. Der Begriff der Besserung wird heute weitgehend nicht mehr verwandt44, da es als überheblich verstanden wird, wenn der "Schlechte" Objekt der Besserungsbemühungen des "Besseren" ist45 . Es widerspräche der Anerkennung des Strafgefangenen als autonomem, selbständigem Menschen, wenn man zuließe, daß eine Wandlung zum sittlich Guten angestrebt wird, wie es die Bezeichnung "Besserung" impliziert46• Der Begriff der Besserung ist auch deshalb nicht mit Resozialisierung gleichzusetzen, weil sich die Resozialisierung auf alle Rechtsfolgen der Straftat bezieht. Der Begriff der Besserung wird aber im Strafgesetzbuch im sechsten Titel,§§ 6172, nur bei den Maßregeln zur Besserung und Sicherung verwendet. Diese bilden entsprechend dem zweispurigen, dualistischen Rechtssystem gegenüber der Strafe den zweiten Grundtypus der strafrechtlichen Rechtsfolgen. Das zeigt, daß der Terminus der Besserung nicht als Alternativbegriff zur Resozialisierung verwendet werden kann, denn der Resozialisierungsgedanke findet sowohl bei der Strafe als 42 Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 4 Rdn. 3; Eser, in: Festschrift für Kar1 Peters, 1974, S. 512. 43 Mergen, Verunsicherte Kriminologie, 1975, S. 31. 44 Früher war der Begriff der Besserung insbesondere bei von Liszt zu finden, vgl. Krebs, in: Festschrift für Thomas Würtenberger, 1977, S. 404; von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, 3. Aufl. 1868, S. 31, 37. 45 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders. l Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 23. 46 Siehe du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 30.
IV. Begriffsbestimmung der Resozialisierung
37
auch bei den Maßregeln Anwendung. Folglich soll dieser Begriff im folgenden nicht benutzt werden. Anstelle der Resozialisierung wird häufig der Begriff der Behandlung verwendet. Doch auch hier läßt sich das Fehlen einer Begriffsbestimmung feststellen 47 • Teilweise wird die Behandlung als planmäßiger Einsatz aller derjenigen Maßnahmen verstanden, mit denen das Resozialisierungsziel erreicht werden soll48 ; teilweise als offener Begriff, der alle Interaktionen des Gefangenen urnfaßt49 , soweit sie auf Resozialisierung ausgerichtet sind. Damit bedingen sich die Begriffe Resozialisierung und Behandlung wechselseitig, indem die verschiedenen Behandlungsmaßnahmen Mittel zur Erreichung des Vollzugszieles der Resozialisierung darstellen und die Resozialisierung durch Behandlungsmaßnahmen erreicht wird. Somit kann der Begriff der Resozialisierung nicht durch den Ausdruck der Behandlung ersetzt werden. Letzterer Begriff findet aber in dieser Arbeit als Bezeichnung für Maßnahmen der Resozialisierung Anwendung. Dabei wird der Terminus der Behandlung nicht auf medizinische und sozialtherapeutische Maßnahmen begrenzt, sondern umfaßt alle Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Vollzuges, die der Behebung krimineller Neigungen des Gefangenen dienen sollen50. Früher wurde statt des Terminus der Resozialisierung häufig der Begriff der Erziehung verwendet51 . In der ehemaligen DDR wurde bis zur Wiedervereinigung sowohl im "Gesetz über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug und über die Wiedereingliederung Strafentlassener in das gesellschaftliche Leben" (SVWG) als auch im Strafgesetzbuch (StGB) durchgängig von einer "Erziehung im Strafvollzug"52 gesprochen. Im Bereich des deutschen Jugendstrafrechts ist auch heute noch generell von Erziehung die Rede53. 47
20.
Ganz abgelehnt wird der Begriff von Busch, AK-StVollzG, 3. Auf!. 1990, vor§ 2 Rdn.
48 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders. I Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 31 . 49 Jung stellt in dem Artikel, ZfStrVo 1987, S. 38 ff. aufS. 39 die Gleichung "Arbeit + Weiterbildung + soziale Hilfe + therapeutische Behandlung = Behandlung im Vollzug" auf, verwirft diese richtigerweise jedoch gleich wieder. Eine solche Verkürzung des Behandlungsbegriffes würde die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung von Behandlungsmethoden und die erforderliche Individualität eines Behandlungsprogrammes negieren. 50 So auch BT-Drucks. 71918, S. 45. Zum weiten Behandlungsbegriff vgl. Kaiser/Kerner I Schöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Auf!. 1992, § 2 Rdn. 108, von diesem Begriff gehen auch die Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen der UN in (66) 1) aus. Gegen den weiten Behandlungsbegriff: Wienz. Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 87 f., sie differenziert zwischen funktionaler und intentionaler Behandlung. 51 BGHSt 15, 316, 319; Deimling, ZfStrVo 1978, S. 7; Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 82, 86; heute noch Busch, ZfStrVo 1990, S. 136. In der Schweiz wird statt des Begriffs der Resozialisierung grundsätzlich die Bezeichnung "Erziehung" verwendet. 52 Vgl. insbesondere Kapitel IV. "Erziehung im Strafvollzug", § 26-37 SVWG, sowie die in § 29 StGB der ehemaligen DDR aufgeführten Erziehungsmaßnahmen. 53 Vgl. §§ 3, 8-12, 71, 91, 93, 115 JGG.
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Einführung
Erziehen bedeutet die Übennittlung von Werten. Sie geht vom Erzieher aus, der dem zu Erziehenden etwas übennittelt. Damit umfaßt der Erziehungsbegriff die menschlichen Fähigkeiten in ihrem totalen seelischen, geistigen, sittlichen und körperlichen Bereich54• Der Straffallige soll durch die Vennittlung gesellschaftlicher Werte lernen, keine Straftaten mehr zu begehen. Die Übennittlung von Wertvorstellungen in allen Bereichen führte jedoch zu einer Beeinflussung der Persönlichkeit, die im Strafvollzug nicht zur Disposition steht. Hier sollen Veränderungen nur in den Bereichen angestrebt werden, die mit Kriminalität verknüpft sind55 . Aus welchen Gründen sich der ehemalige Straffallige normgemäß verhält, darf nicht bewertet werden, selbst dann nicht, wenn eine Scheinanpassung nicht das Ziel ist. Folglich sollte der Begriff der Erziehung im Erwachsenenstrafvollzug keine Anwendung finden5 6 . Oftmals wird anstelle des Tenninus der Resozialisierung der Begriff der Rehabilitation als Wiederherstellung des alten Zustandes verwendet. Der Straffallige soll wieder die Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen, seine Bedürfnisse gesetzeskonform zu befriedigen57 • Noch plastischer formuliert Mathiesen: Der Straffallige soll in seine alte Würde- wie sie vor dem "Fall" bestand- wieder eingesetzt werden58 . Der Begriff der Rehabilitation anstelle des Begriffes der Resozialisierung hat den Nachteil, daß die Rehabilitation zahlreiche Prozesse umfaßt. Sie bezieht sich nicht ausschließlich auf den Nicht-Rückfall des StraffaJligen, sondern auch auf zahlreiche andere Entwicklungen. Der Tenninus beinhaltet sowohl die Wiedereingliederung eines Kranken in das berufliche und gesellschaftliche Leben, als auch die Wiederherstellung des sozialen Ansehens. Der Begriff der Resozialisierung bezieht sich demgegenüber ausschließlich auf das Erlernen eines straffreien Lebens und ist damit präziser. Vereinzelt wird der Begriff der Resozialisierung auch durch den Tenninus der Rückfallverhinderung ersetzt, da er als aussagekräftiger und allgemeinverständlich angesehen wird59• Sinn der Strafe ist danach das Verhindern von jedem erneuten Straffalligwerden. Gegen eine Gleichsetzung von Resozialisierung und Rückfallverhinderung spricht jedoch die Vernachlässigung der Ursache fiir die Rückfallfrei54
s. 8.
Peters, in: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 513; vgl. auch Wagner, ZfStrVo 1989,
Hohmeier, Aufsicht und Resozialisierung, 1973, S. 1. Inwieweit der Begriff der Erziehung im Jugendstrafrecht angebracht ist, gerade wenn es um volljährige, mündige Personen geht, ist fraglich. Eine Erörterung ginge hier aber zu weit, vgl. dazu Ludwig, Strafvollzug, Arrest, Untersuchungshaft- wozu? Freiheitsentzug und der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht, in: Schumann/ Steinert/Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs, 1988, S. 150 ff. 57 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./Maelicke/ Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 36. 58 Mathiesen, Gefängnislogik, 1989, S. 39. 59 Vgl. Ernst, Der Verkehr des Strafgefangenen mit der Außenwelt, 1972, S. 7. 55
56
IV. Begriffsbestimmung der Resozialisierung
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heit60 • Es bleibt dahingestellt, ob der Vollzug die Aktivität und Energie des Strafgefangenen gebrochen hat, oder ob er in echter Selbststeuerung sein Leben ohne Straftaten meistert. Des weiteren ist das Ziel der vollständigen Rückfallverhinderung bei praxisnaher Betrachtung zu hoch gegriffen. Strafrechtliche Vergehen in kleinerem Umfang begeht fast jeder Bürger. Begeht ein aus der Strafhaft zur Bewährung entlassener Gefangener ein solches Delikt, gilt er bereits als Rückfalltäter61 • Das Ziel der vollständigen Rückfallverhinderung ist nicht erreicht worden. Ob ein ehemaliger Strafgefangener in der Bewährungszeit "lediglich" ein Vergehen begangen hat und oft nach einigen Jahren komplett ein Leben ohne Straftaten führt62 , wird in den amtlichen Rückfallstatistiken nicht erfaßt. Die allmähliche Entwicklung zu einem vollständig straffreien Leben muß aber auch schon als ein Erfolg bei kriminellen Karrieren vor Vollzugsbeginn gewertet werden. Folglich ist die vollständige Rückfallverhinderung zwar theoretisch sehr erstrebenswert, das Resozialisierungsziel muß aber unter realitätsnahen Gesichtspunkten schon als erreicht angesehen werden, wenn es dem ehemaligen Strafgefangenen gelingt, ein Leben "ohne erhebliche (schwere) Straftaten und ohne ständige Kleinkriminalität"63 zu führen. Häufig wird anstelle des Begriffs der Resozialisierung der Ausdruck der sozialen Integration verwendet64. Danach besteht die Funktion des Strafvollzuges in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft in der gezielten und planmäßigen Hinführung des Gefangenen in solche Gruppen, die integrierende und allgemein positiv bewertete Bestandteile der Gesamtgesellschaft sind65 . Der Begriff der Integration macht klar, daß es im Falle der Wiedereingliederung nicht um eine Eingliederung in alte Lebensverhältnisse, sondern um eine Integration in andere Gruppen geht. Des weiteren wird durch ihn deutlich, daß ein großer Teil der Probleme von 60 Ludwig, Strafvollzug, Arrest, Untersuchungshaft- wozu? Freiheitsentzug und der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht, in: Schumann/Steinert/Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs, 1988, S. 139. 61 Schwind/ Böhm-ders., StVollzG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, § 2 Rdn. 13. Interessant sind insofern die unterschiedlichen Rückfallstatistiken, vgl. Justizministerium des Landes NRW (Hrsg.), Strafvollzug in NRW, 1997, S. 30, hier wird differenziert zwischen Rückfall als jede erneute Verurteilung zu irgendeiner Strafe, als jede erneute Verurteilung zur Freiheitsstrafe mit und ohne Bewährung, als jede Verurteilung zur Freiheitsstrafe ohne Bewährung, als Verurteilung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe und mehr. Ähnlich differenzierte Rückfalldefinitionen verwenden auch das Statistische Bundesamt, Rechtspflege, Reihe 4.1., 1999, S. 14 f.; Berschauer und Hasenpusch, MschKrim 1982, S. 324 sowie Luzius, Möglichkeiten der Resozialisierung durch Ausbildung im Jugendstrafvollzug, 1979, S. 32 f. 62 Vgl. Schwind/ Böhm-ders., StVollzG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, § 2 Rdn. 12. 63 So Schwind/ Böhm-ders., StVollzG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, § 2 Rdn. 13, du Meru1, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 61. 64 Den Begriff der Integration verwenden auch Pollähne, ZfStrVo 1994, S. 132; MüllerDietz, Strafvollzugsgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 97 f. 65 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders. I Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 33.
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Einführung
Gefangenen gerade erst durch die Ausgrenzung, durch die Desintegration von Straftätern, entsteht. Vermehrt werden schließlich die empirischen Begriffe der Sozialisation oder (Re- )Sozialisierung benutzt. Abweichend von dem normativen Rechtsbegriff der Resozialisierung sollen sie veranschaulichen, daß es in der Praxis bei der Betreuung von Straftätern zumeist nicht darum geht, daß sie wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden, sondern daß sie überhaupt erstmalig eingegliedert werden66. Ihre Straftaten sind oftmals erst infolge eines Mangels an gesellschaftlicher Eingliederung entstanden. Dies zeigt bereits der Lebenslauf vieler Straftäter. Geht man nämlich davon aus, daß in unserer Gesellschaft das Erlernen von Sozialisation bestimmten Institutionen übertragen ist67, so fällt auf, daß im Lebenslauf eines Straftäters nicht selten viele dieser Institutionen fehlen. Defekte Familien, kurze Schulbildung, keine Berufsausbildung, keine Arbeit, das sind die "Normalfälle"68• Insofern geht es bei erwachsenen Straftätern meist darum, ausgebliebene oder fehlgeschlagene Sozialisationsverläufe nachzuholen oder zu korrigieren, soweit das noch möglich ist. Schüler-Springorum und Müller-Dietz verwendeten insofern in den siebziger Jahren auch den Terminus der "Ersatz-Sozialisation"69 • Seit die Resozialisierung aber in Rechtsprechung und Wissenschaft zum gängigen Begriff wurde, wird der Terminus der Ersatz-Sozialisation nicht mehr verwendet. Auch Müller-Dietz verwendet den Begriff der Resozialisierung, - wie große Teile der Literatur- häufig jedoch in der Schreibweise "(Re-)Sozialisierung"70• Durch diese Schreibweise soll sichergestellt werden, daß es bei der Resozialisierung bei einigen Straftätern um erstmalige Sozialisierungsprozesse geht, bei anderen aber über eine Wiederholung der Sozialisation, also um eine Resozialisierung.
66 Vgl. Heinz Baumann, BewHi 1984, S. 78; aus diesem Grunde wurde auch in § 3 StVollzG die noch im Regierungsentwurf enthaltene Formulierung der Wiedereingliederung nicht übernommen. 67 Dazu Freimund, Vollzugslockerungen- Ausfluß des Resozialisierungsgedankens, 1990, S. 18; Hohmeier, Aufsicht und Resozialisierung, 1973, S. 2; Münchbach, Strafvollzug und Öffentlichkeit, 1973, S. 126. 68 Heinz Baumann, ZRP 1981, S. 163 f.; Böhm, in: Festgabe für Wolfgang Preiser, 1983, S. 189; Busch, AK-StVollzG, 3. Aufl. 1990, vor§ 2 Rdn. 16; Grunau, JR 1977, S. 52. Zu "typischen" Lebensläufen vgl. schon Clemmer, The Prison Community, 1958, S. 32 ff. ; siehe auch die Texte Gefangener zu dieser Erfahrung, a~gedruckt in Bundeszusammenschluß für Straffälligenhilfe (Hrsg.), Rückkehr in die Freiheit, Angste und Hoffnungen, 1981, insbesondere S. 131, 146, 165. 69 Müller-Dietz, Wege zur Strafvollzugsreform, 1972, S. 81 ; Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 172; ders., Was stimmt nicht mit dem Strafvollzug?, 1970, S. 49; ders., JZ 1970, S. 453. 70 Müller-Dietz Abschied vom (Re-)Sozialisierungsgedanken?, in: de Boor/Frisch/Rode (Hrsg.), Resozialisierung Utopie oder Chance?, 1995, S. 77 ff.; vgl. weiterhin in der Literatur Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 307 ff.; Haberstroh, MschKrim 1982, S. 334 ff.; Lenckner, JuS 1983, S. 340 ff.; Luzius, Möglichkeiten der Resozialisierung durch Ausbildung im Jugendstrafvollzug, 1979, S. 18.
IV. Begriffsbestimmung der Resozialisierung
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Da insgesamt allein beim Rechtsbegriff der Resozialisierung zur Zeit sichergestellt ist, daß es sich um Integrationshilfen und Rehabilitationsbemühungen für straffällig gewordene Personen handelt71 , soll innerhalb der Arbeit der Begriff der Resozialisierung insofern verwendet werden, als er der gebräuchlichste Begriff ist. Da nach empirischen Erkenntnissen bei nicht resozialisierten Straftätern jedoch oftmals keine Resozialisierung, sondern eine Sozialisation erforderlich ist, wird im folgenden die Schreibweise "(Re-)Sozialisierung" verwendet. Dadurch soll nicht allen Strafgefangenen attestiert werden, daß sie vor der Inhaftierung nie in der Lage gewesen sind, sich gesellschaftskonform zu verhalten. Sondern durch die Verwendung des Begriffes der Resozialisierung in der Schreibweise der "(Re-)Sozialisierung" soll sichergestellt werden, daß alle Straftäter, die in irgendeiner Weise resozialisierungsbedürftig oder aber sozialisierungsbedürftig sind, erfaßt werden.
71 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./ Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 36.
1. Kapitel
Internationale Entwicklung und Kodifizierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens I. Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens unter Berücksichtigung des jeweiligen staatstheoretischen Verständnisses und der Menschenrechte Besonders deutlich wird die Verknüpfung von (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht durch die Entstehungsgeschichte der (Re-)Sozialisierung. Die geschichtliche Entwicklung zeigt, wie eng die (Re-)Sozialisierungsidee mit philosophischem, humanem und vor allem menschenrechtlichem Gedankengut verknüpft ist. Je bedeutsamer die Menschenrechte wurden und je ausgeprägter der Sozialstaatsgedanke wurde, um so humaner wurde der Strafvollzug, um so mehr wandte man sich von repressiven Strafzwecken ab und den präventiven Zwecken zu. Denn den Gefangenen das Recht zuzugestehen, nach ihrer Entlassung ein neues Leben in sozialer Verantwortung zu führen, setzte ein humanes Menschenbild voraus, wonach jeder Mensch, auch der Straftäter, bestimmte grundlegende Rechte inne hat. Dieses Menschenbild entstand allmählich im Laufe der Jahrhunderte durch unterschiedlichste rechtliche, politische und philosophische Prozesse. Dabei verlief die Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens allerdings nicht gleichmäßig. So gab es immer wieder geschichtliche Epochen, in denen primär angestrebt wurde, Straftaten angemessen zu sühnen. Dem Tater als solchem und den Menschenrechten wurde in dieser Zeit kein großer Stellenwert beigemessen. In diesen Jahren ging es im Strafvollzug nicht um (Re-)Sozialisierung sondern um schuldausgleichende Verwahrung. Der Stellenwert der Menschenrechte und die Entwicklung von sozialstaatlichem Gedankengut in den einzelnen Epochen hatte damit große Auswirkungen auf die Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens im Strafvollzug.
1. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke bis zum 18. Jahrhundert Erstmals ist der Gedanke, Straftäter in gefangnisähnlichen Anstalten zu bessern, in der Antike, bei dem Philosophen Platon, zu finden. Nach ihm soll ein Straftäter
I. Staatstheoretisches Verständnis der (Re-)Sozialisierung
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zunächst gebessert werden. Erst wenn jemand nicht gebessert werden kann, sollte er wenigstens als Abschreckung für Nachahmer dienen 1 • Diese zukunftsorientierte Forderung nach Verbrechensverhütung, nach Berücksichtigung des einzelnen Täters und nicht nur der Straftaten, entspricht heute dem Inhalt der "relativen" Straftheorien. Dabei zielt die Spezialprävention auf den einzelnen Strafgefangenen ab, die Generalprävention bezieht sich auf die potentiellen Täter. Die Beschäftigung der Philosophie mit Straftheorien, mit der (Re-)Sozialisierung von Straftätern, ist nicht ungewöhnlich. Denn die Philosophie des Strafrechts fragt generell danach, wie Menschen zu behandeln sind, also auch wie jene Menschen zu behandeln sind, die trotz der vorbeugenden und warnenden Maßregeln dennoch andere Menschen verletzt haben2 • Dabei geht die Philosophie des Strafrechts davon aus, daß niemand wissen kann, ob er selbst einmal zum Straftäter wird. Das heißt, die Strafgesetzgebung ist für und gegen alle Staatsbürger zu formulieren; sie muß dem Gerechtigkeitsgedanken entsprechen. Für Platon bedeutete das: Muß zum Zweck der Sicherheit jemandem von der Staatsgewalt ein Übel zugefügt werden, dann muß man es so klein halten, wie es mit diesem Zwecke vereinbar ist. Jedes dem Straftäter zugefügte Übel soll stets nur eine sekundäre Folge des Schutzes der Gesellschaft vor Verbrechen sein. Damit schloß Platon den Strafzweck der (Wieder)Vergeltung aus. Weiter entwickelten sich die Straftheorien in der Philosophie Aristoteles. Er unterschied erstmals zwischen zwei Arten der Gerechtigkeit: der ausgleichenden Gerechtigkeit und der austeilenden Gerechtigkeit3 • Im 13. Jahrhundert fügte von Aquin der aristotelischen Zweiteilung der Gerechtigkeit noch einen dritten Zweig hinzu: die legale Gerechtigkeit, die den Gedanken der sozialen Verpflichtung des einzelnen hervorhebt. Die ausgleichende Gerechtigkeit entspricht den absoluten Straftheorien, wonach die Strafe Vergeltung, Schuldausgleich darstellen soll. Die relativen Theorien dagegen beziehen sich auf die austeilende und die legale Gerechtigkeit. Es geht um die Auferlegung und Leistung von Pflichten, aber auch Gewährung von Rechten, um künftigen sozialen Schaden abzuwenden und den Straftäter wieder als gleichberechtigtes Glied in die Gesellschaft zu integrieren4 • Das Gerechtigkeitsdenken des von Aquin, die Entwicklung der legalen Gerechtigkeit, war ein naturrechtlicher Ansatz. Für die Naturrechtier ergeben die ,,Naturgesetze" der sozialen Welt ein geschlossenes System der Gesellschaft5 . Sie gehen davon aus, daß es auf der Grundlage dieses geschlossenen Systems der GesellPlaton, Protagoras, in: Deutsche Übersetzung von Krautz (Hrsg.), 1987, S. 76. Vgl. Popper-Lynkeus, Philosophie des Strafrechts, 1924, S. 70. 3 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, deutsche Übersetzung von Gigon, 2. Auf!. 1972, 157 ff. 4 Arthur Kaufmann/ Hassemer; Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1977, S. 286. 5 Vgl. Marcic, Das Naturrecht als Grundnorm der Verfassung, in: ders./Tarnme1o (Hrsg.), Naturrecht und Gerechtigkeit, 1989, S. 235. I
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s.
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l. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
schaft möglich sein muß, die Gesetze dieses Systems mit derselben Gewißheit wie bei den Naturwissenschaftlern zu erkennen. Folglich hat der Mensch kraft seiner Vernunft auch Einblick in die Gerechtigkeit- ein Gedanke der Jahrhunderte später die Epoche der Aufklärung prägte. Bis zum 18. Jahrhundert wurden im Strafvollzug die verschiedenen Zweige der Gerechtigkeit vertreten. So entsprachen die Kerker- bzw. Haftstrafen des Mittelalters dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit, der Vergeltung. Sie dienten lediglich der Aufbewahrung des Täters bis zur Vollstreckung der als Strafform dominierenden Leibes- und Lebensstrafen, bzw. es stellten die Haftbedingungen in mittelalterlichen Gefängnissen selbst eine Leibesstrafe dar6 . Für jede Tat gab es eine entsprechende Strafe - unabhängig davon, was den Täter zu der Tat bewegt hatte. Der Straftäter trat hinter seiner Tat zurück. Ansätze ausgleichender und legaler Gerechtigkeit können erstmals bei den Zuchthäusern des 16. Jahrhundert gefunden werden. Zu dieser Zeit fand eine Änderung der Funktionsbestimmung der Freiheitsstrafe in den "houses of corrections" in England, insbesondere im ersten seiner Art, in Bridgeweil im Jahre 15577 , sowie in den Amsterdamer Zuchthäusern, dem "tuchthuis" für Männer, gegründet 1595, und dem "spinhuis" für Frauen, gegründet 15978 , statt. In den sogenannten Zuchthäusern sollten arbeitsfähige, aber untätige oder sozial störende Menschen untergebracht sowie zur Arbeit und zu einem geregelten Leben angeleitet werden. Grund für diese Entwicklung des Freiheitsentzuges waren sowohl wirtschaftliche als auch humanistische Gesichtspunkte. So dienten die Zuchthäuser der Ausnutzung sonst brachliegender Arbeitskräftereserven, wobei die Ideologie des "ora et labora" mit der besonderen Betonung der Erziehung bei der intensiven regelmäßigen Arbeit verknüpft wurde9• Anfang des 17. Jahrhunderts ahmten dann auch deutsche Städte das holländische Vorbild nach, so griindeten Bremen 1609, Lübeck 1613, Harnburg 1622 und Danzig 1629 derartige Zuchthäuser10, in welchen der Gedanke der Besserung der Straftäter erstmals den Vergeltungsgedanken verdrängte. Doch die Zuchthäuser waren nicht die einzige Form des Freiheitsentzuges im 17. Jahrhundert. So hatte sich neben dem Aufkommen moderner Zuchthäuser aus der Untersuchungs- und 6 Dünkel, Die Geschichte des Strafvollzuges als Geschichte von (vergeblichen?) Vollzugsreformen, in: Driebold (Hrsg.), Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 28; Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 2. Aufl. 1965, § 51; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 14. Zu den Haftbedingungen vgl. Egner, StVzG, 1968, Einführung, S. 10. 7 Dazu näher Radbruch, Elegantiae Juris Criminalis, 1950, S. 112; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 15. s Egner, StVzG, 1968, Einführung, S. 10; Fiselier, Kriminalsoziologische Bibliographie 9/1982, S. 90; Kaiser/Kemer/Schöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 2 Rdn. 5. 9 Dünkel, Die Geschichte des Strafvollzuges als Geschichte von (vergeblichen?) Vollzugsreformen, in: Driebold (Hrsg.), Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 26. IO Kaiser/Kemer/Schöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 2 Rdn. 6; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 15; Stock, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan, 1993, S. 45.
I. Staatstheoretisches Verständnis der (Re-)Sozialisierung
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Exekutionshaft der Frühzeit die Gefängnisstrafe entwickelt. Die Zustände in den Gefängnissen ähnelten noch denen der Kerker des Mittelalters und waren weitgehend unbeeinflußt von dem in den Zuchthäusern angewandten Erziehungs- und Besserungskonzept11 • Hauptgrund hierfür war das noch fehlende Verständnis von Menschenrechten eines jeden Bürgers. Ohne die Anerkennung gewisser Rechte, zumindest der Menschenwürde jedes Menschen, war an eine (Re-)Sozialisierung von Straftätern noch nicht zu denken.
2. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke im 18. Jahrhundert Anfang des 18. Jahrhunderts geriet der Besserungsgedanke auch in den Zuchthäusern in Vergessenheit; was zählte, war die Arbeit der Gefangenen. Besonders in Deutschland verschlechterten sich die Anstaltsverhältnisse schnell, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Kriegsfolgen. Die Zuchthäuser wurden als Irren-, Armenund Waisenhäuser benutzt, sie waren überfüllt. In den Insassen wurde ein reichhaltiges Potential billiger Arbeitskräfte entdeckt 12• Der Verfall der in Ansätzen im 17. Jahrhundert entwickelten Erziehungsziele führte zur immer stärkeren Angleichung des Vollzuges an die oben geschilderte. So wurde der Besserungsgedanke im Strafvollzug allmählich völlig durch Prügel, Mißhandlungen und grausame Bestrafungen sowie durch Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge zurückgedrängt13 • Doch die als "sinnlose" Grausamkeiten erscheinenden Schärfungen der Todesstrafe konnten dem Zweck- und Nützlichkeitsdenken des aufgeklärten Absolutismus ab Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr standhalten 14• Der aufgeklärte Absolutismus und das Naturrecht führten zu einer Säkularisierung und Rationalisierung des Strafrechts. Es wurde versucht, mittels der menschlichen Vernunft die Regeln für die Beziehungen der Menschen in Familie, Staat und Wirtschaft zu bestimmen. Ausgehend von der menschlichen Vernunft hatte man einen Menschen vor Augen, der die Vor- und Nachteile von Handlungsalternativen vernünftig abwägt, unter strafrechtlichen Gesichtspunkten also auch die Folgen der Strafe vorausschauend in die Kalkulation der Entscheidungen mit einbezieht und insofern das Verbrechen unterläßt 15 .
II Dünkel, Die Geschichte des Strafvollzuges als Geschichte von (vergeblichen?) Vollzugsreformen, in: Driebold (Hrsg.), Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 28. 12 Kaiser/Kemer/Schöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 3 Rdn. 8; vgl. auch Mathiesen, Gefängnislogik, 1989, S. 9. l3 Dünkel, Die Geschichte des Strafvollzuges als Geschichte von (vergeblichen?) Vollzugsreformen, in: Driebold (Hrsg.), Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 28; Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983, S. 12; Kaiser/Kemer/SchöchKaiser., Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 3 Rdn. 9. 14 Bock, JuS 1994, S. 90. 15 Bock, JuS 1994, S. 95.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Für die (Re-)Sozialisierung war von besonderer Bedeutung, daß man mit den naturrechtliehen Theorien von Locke davon ausging, daß der Mensch ein gemeinschaftsbezogenes Wesen sei. Auf den Strafvollzug bezogen bedeutete dies, daß Ziel des Freiheitsentzuges nicht mehr sein konnte, den Straftäter nur in Isolation zu verwahren. Der Strafvollzug sollte andere Ziele verfolgen. Das berühmteste Beispiel für den Versuch, das Gedankengut der Aufklärung gewissermaßen in die Straftheorien und Kriminalpolitik hinein zu verlängern, stellt die Schrift des Mailänders Beccaria "Dei delitti e delle pene" von 1764 dar16. Er entwickelte mittels des humanitären Naturrechts erstmals ein geschlossenes Programm einer auf Prävention ausgerichteten Strafrechtsreform 17 • So wurde erstmals eine Differenzierung des Strafvollzuges nach Gefahrlichkeit und mutmaßlicher Besserungsfahigkeit der Delinquenten vorgenommen. Erkannt wurde die Notwendigkeit von Wohnung und Arbeit im Sinne einer Entlassungsvorbereitung. Auch die Vorteile einer Besserung der Strafgefangenen für die Gesellschaft wurden erstmals hervorgehoben. So schrieb Wagnitz im Jahre 1791: "Mag doch immerhin die Sicherheit des Staates Strafzweck bleiben, man vergesse nur nicht, daß, indem der Verbrecher gebessert wird, dadurch zugleich die Sicherheit des Staates gefördert wird" 18. Primären Einfluß auf die tatsächliche Umsetzung dieser Gedanken hatte die Verankerung des Gedankenguts der Französischen Revolution in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und die anschließende Verbreitung der Menschenrechtsidee in ganz Europa. Indem anerkannt wurde, daß die Menschen frei und gleich an Rechten sind, und die Menschen- und Bürgerrechte in Art. 7 bestimmten, daß jeder Mensch nur in den durch Gesetz bestimmten Fällen und Formen, die es vorschreibt, angeklagt, verhaftet und gefangen gehalten werden darf19, entwickelte sich ein neues, humanes Verständnis vom Strafvollzug. Erst indem den Straftätern hierdurch die Menschenrechte zugebilligt wurden, konnte das Verständnis der (Re-)Sozialisierung als besonderes Recht für Straftätern entstehen.
3. (Re-)Sozialisierungsgedanke im 19. Jahrhundert Endgültig umgesetzt wurde dieses Verständnis vom Strafvollzug, wie es in den wissenschaftlichen Abhandlungen entwickelt und unter Berufung auf die Menschenrechte begründet wurde, in den Verfassungen noch nicht. Ursache hierfür waren in Europa im 19. Jahrhundert neu aufkommende philosophische Strömungen, vor allem Lehren von Kant und Hege!, unter denen das Bewußtsein von der 16 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, 1766, deutsche Übersetzung von Alff (Hrsg.), 1966. 17 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, 1766, deutsche Übersetzung von A1ff (Hrsg.), 1966, s. 74, 148 ff. 18 Wagnitz, Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland, 1791, S. 20. 19 Abgedruckt in Hoefer/Schade /Hoefer, Demokratie und Diktatur, 5. Aufl. 1992, S. 21.
I. Staatstheoretisches Verständnis der (Re-)Sozialisierung
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spezialpräventiven Funktion der Freiheitsstrafe fast vollständig verdrängt wurde20. Das zweckfreie Verständnis von Strafe, die "absoluten" Straftheorien gewannen die Oberhand. Der Besserungsgedanke trat gegenüber den Zielen einer gerechten Tatschuldvergeltung gänzlich zurück. Denn Kant und Regel gingen davon aus, daß der Staat kein Recht habe, in irgendeiner Weise bevormundend, erzieherisch oder moralisierend auf die Bürger einzuwirken21 • Als vereinbar mit der Menschenwürde wurde lediglich die Rechtfertigung staatlichen Strafens durch die Vergeltung, die Wiederherstellung des Geltungsanspruchs der Norm als solcher, gesehen. Nach dem Vergeltungsgedanken stellte Strafe somit die Antwort auf das verschuldete Unrecht dar und sollte diesem daher nach dem Grundsatz der austeilenden Gerechtigkeit gleichwertig sein22• Für Regel war insofern das Prinzip der Wiedervergeltung entscheidend, wonach das Verbrechen die Negation des Rechts und Strafe die Negation der Negation ist23 . Nach Kant bedeutete Vergeltung in letzter Konsequenz, "selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste ( ... ), müßte der letzte im Gefangnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind ( ... )"24.
Der Strafvollzug in den USA zu dieser Zeit wurde nicht primär von einer bestimmten Philosophie geprägt, sondern vom Einfluß der Religionsgemeinschaft der Quäker. Diese entwickelten das sogenannte "solitary system". Danach sollten die Gefangenen in strenger Einzelhaft bei Tag und Nacht ohne jede Arbeit zur inneren Einkehr, zur Buße und Versöhnung mit Gott finden25 • Gleichzeitig wurde im bewußten Gegensatz dazu das Aburn State Prison in New York nach dem "silent system" verwaltet. Bei dem "silent system" verbrachten die Gefangenen nur die Nacht in Einzelzellen. Untertags mußten sie in großen Räumen in absoluter Schweigsamkeit miteinander arbeiten26. Unterschieden sich die Systeme nach der Jehle, in: Festschrift für Alexander Böhm, 1999, S. 238. Dazu Bock, JuS 1994, S. 90; Naucke, Strafrecht, 9. Aufl. 2000, § 1 Rdn. 145 ff.; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 19; Stock, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan, 1993, S. 48. 22 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 li. 2.; dagegen Plack, Abschaffen des Strafrechts, 1974, S. 95. 23 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Hoffmeister (Hrsg.), 4. Aufl. 1967, § 101 Rdn. 99; grundlegend zu Hegels Straftheorie, Seelmann, JuS 1979, S. 687 ff. 24 Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. von Hans Ebeling 1990, S. 194. 25 Dünkel, Die Geschichte des Strafvollzuges als Geschichte von (vergeblichen?) Vollzugsreformen, in: Driebold (Hrsg.), Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 29, Kaiser/Kemer/Schöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 3 Rdn. 15; Melossil Lettiere, Punishment in the American Democracy: The Paradoxes of Good Intentions, in: Weiss/South (Hrsg.), Comparing Prison Systems, 1998, S. 23. 26 Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983, S. 13; Melossi/Lettiere, Punishment in the American Democracy: The Paradoxes of Good Intentions, in: Weiss/ South (Hrsg.), Comparing Prison Systems, 1998, S. 23; Ruschel Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug, 1981, S. 182; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 18. 2o
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Isolation der Gefangenen, so hatten sie doch das gleiche Ziel. In beiden Systemen sollten die Gefangenen durch strenge Disziplin unter Zwang zu einem ordentlichen Leben in Freiheit erzogen werden. Die Besserung durch Buße stand also im Mittelpunkt der Kriminalpolitik. Die "relativen", auf Prävention abzielenden Straftheorien wurden in Europa erst wieder aktuell, als sich die Plausibilität des idealistischen und friihliberalen Menschen- und Gesellschaftsbildes nicht mehr mit den sozialökonomischen Strukturkrisen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinbaren ließ27 . Im Stadium der technischen, industriellen Epoche wandte man sich den Methoden der Naturwissenschaften zu und setzte im Strafrecht erstmalig an den Ursachen des Verbrechens an. Stürmisch entwickelte sich als neues Wissenschaftsgebiet die Kriminologie als Lehre vom Verbrechen als tatsächliche Erscheinung28 . Damit war die Prävention wieder in ihre Rechte eingesetzt. Erstmals wurde in dieser Zeit klar zwischen General- und Spezialprävention unterschieden. Feuerbach nahm diese Differenzierung vor, indem er versuchte, eine Briicke zur Kantschen Ethik mit seiner Theorie der "Generalprävention durch psychologischen Zwang"29 zu schlagen. Danach sollte durch die Strafandrohung, deren Ernst durch die Strafvollziehung zu unterstützen ist, ein psychologischer Zwang zum Unterlassen strafbarer Handlungen erzeugt werden30. Unter dem Einfluß dieses Präventionsgedankens begannen die ersten Gefängnisreformen, insbesondere beeinflußt durch internationale Tagungen und ausländische Strafvollzugsmodelle. Zu erwähnen sind insbesondere die Kongresse der im Jahre 1872 gegriindeten internationalen Strafrechts- und Gefängniskommission, Commission Internationale Penal et Penitentiare. Hier wurden nicht nur zahlreiche Resolutionen verabschiedet, sondern es fand auch ein reger Gedankenaustausch über die verschiedensten Strafvollzugsfragen statt31 . Der Erziehungsgedanke in Deutschland wurde auch durch den Positivismus im eigenen Land vorangetrieben. Bedeutendster Vertreter der Präventionstheorien dieser Epoche war der Strafrechtslehrer und Politiker von Liszt, der die Kriminologie in Deutschland etablierte. Er forderte eine nach rationalen Gesichtspunkten eingerichtete Rechtspolitik, in der der ,,Zweckgedanke" der eigentliche Träger des rechtlichen Fortschritts sein sollte. Im Mittelpunkt stand der individuelle Straftäter und Bock, JuS 1994, S. 90. Ausführlich dazu Kaiser I Kerner I Schöch-Albrecht, Kleines kriminologisches Wörterbuch, Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 309, Kaiser; Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 9 Rdn. 1. 29 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil I, 1799, S. 1 ff. 30 Vgl. Hassemer; Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, § 30 I.; JescheckiWeigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 IV. 2. 31 Siehe dazu Böhm, in: Festgabe für Wolfgang Preiser, 1983, S. 184 f. Eine Zusammenfassung der Resolutionen findet sich bei FredeiSieverts, Die Beschlüsse der Gefängniskongresse 1872-1930, 1932. 27 28
I. Staatstheoretisches Verständnis der (Re-)Sozialisierung
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nicht seine Tat. Heftig kritisierte von Liszt das Strafgesetzbuch von 1871 32, welches noch weitgehend an der Vergeltungsidee orientiert war. Seine kriminalpolitsche Grundauffassung legte er im Jahre 1882 in dem berühmten Marburger Programm "Der Zweckgedanke im Strafrecht" nieder. Die Kernsätze lauteten: "Die richtige, d. h. die gerechte Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes. ,m Aufgabe der Strafe sei danach, die "Besserung der Besserungsfähigen" und Besserungsbedürftigen, Abschreckung der Nichtbesserungsbedürftigen und "Unschädlichmachung der Unverbesserlichen"34. Für von Liszt stand bei der Umstrukturierung von Vergeltung zur Prävention die Spezialprävention im Vordergrund. Zur optimalen Verbrechensverhütung schlug von Liszt ein Stufensystem entsprechend dem englischen Progressivsystem35 vor, das von der Einzelhaft über einzelne Hafterleichterung langsam zu einem Leben in die Freiheit zurückführen sollte. Abhängig von der Besserung, den (Re-)Sozialisierungserfolgen, orientierte von Liszt sich also an weitestgehend unbestimmten Strafen.
4. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke im 20. Jahrhundert Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der von von Liszt und seinen Anhängern entfachte Schulenstreit ausgetragen, in welchem sich die im Anschluß an Kant und Hegel vertretenen absoluten Straftheorien ("klassische Schule") mit dem Gedanken der Spezialprävention der relativen Theorien, der (Re-)Sozialisierung und Sicherung durch Strafe ("moderne Schule"), auseinandersetzte 36. Der auf philosophische, rechtliche und empirische Erwägungen beruhende Streit endete erst in den zwanziger Jahren mit der Entwicklung eines Kompromisses hinsichtlich der Strafzwecke: den sogenannten Vereinigungstheorien. Danach bildet die Schuld die Grundlage für die Bemessung der Strafe. Unter Berücksichtigung der Schuld kann die Strafe aber durch general-und spezialpräventive Erwägungen ausgestaltet werden37. Mit der Weimarer Verfassung, die vor allem durch den umfassenden Grundrechtskatalog dem Staat eine stark sozial geprägte Inhaltsbestimmung verlieh, und 32 Ein Strafvollzugsgesetz gab es zu dieser Zeit nicht. Die Verabschiedung eines Entwurfes war im Jahre 1879 aus Kostengründen gescheitert, vgl. Stock, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan, 1993, S. 54. 33 von Liszt, ZStW 18 (1882), S. 31. 34 von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, 3. Aufl. 1868, S. 37. 35 Dazu ausführlich Dünkel, Die Geschichte des Strafvollzuges als Geschichte von (vergeblichen?) Vollzugsreformen, in: Driebold (Hrsg.), Strafvollzug: Erfahrungen, Modelle, Alternativen, 1983, S. 30 f.; Kaiser/Kemer/Schöch-Kaiser. , Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 3 Rdn. 18. 36 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1996, § 8 V. 1.; Santiago, ZStW 102 (1990), S. 914. 37 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 II 4.; Naucke, Strafrecht, 9. Aufl. 2000, § 1 Rdn. 150. Ausführlich dazu 2. Kapitel I. 2. b) cc).
4 Leyendecker
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
mit der Beendigung des Schulenstreits durch die Einführung der Vereinigungstheorie setzte sich der (Re-)Sozialisierungsgedanke in der Weimarer Republik endgültig durch. Dies zeigen insbesondere die Entstehung der Gefangenen- und Entlassungsfürsorge38 sowie die in dieser Zeit verabschiedeten Gesetze39• In der Weimarer Republik wurde an Stelle des Begriffs der Besserung auch erstmals die Bezeichnung "Resozialisierung" eingeführt. Liebknecht verwendete ihn in seinem Entwurf "Gegen die Freiheitsstrafe" im Jahre 191840. Alle Reformbestrebungen zur Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens im Strafvollzug wurden dann jedoch während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zunichte gemacht. Sozialstaatliches Gedankengut wurde verdrängt, im nationalistischen Staat wurden Sühne und Abschreckung wieder die tragenden Leitgedanken des Strafvollzuges41 . Der Weg, den der Strafvollzug unter der Herrschaft des Nationalsozialismus bis 1945 nahm, die Preisgabe des (Re-)Sozialisierungsgedankens, machte es erforderlich, nach dem Kriegsende völlig neu anzusetzen. Mit den als Bestandteil des Besatzungsrechts allgemein verbindlichen Kontrollratsdirektiven Nr. 3 vom 20. 10. 1945 und Nr. 19 vom 12. 11. 1945 wurde auf der theoretischen Ebene an den Erziehungs- und Besserungsgedanken, wie er in der Weimarer Republik zum Durchbruch gelangt war, angeknüpft42 . Ausdriicklich wurden die Umerziehung und Rehabilitation des Verurteilten als Ziele des Strafvollzuges festgelegt und die dafür erforderlichen Maßnahmen bestimmt. Schon kurze Zeit später konstituierte sich eine "Arbeitsgemeinschaft für Reform des Strafvollzugs", die bereits in den Jahren 1948, 1950 und 1951 erste Vorschläge erarbeitete, in welchen das Prinzip eines Erziehungsstrafvollzuges propagiert wurde. In den sechziger Jahren trat der (Re-)Sozialisierungsgedanke dann endgültig in den Vordergrund der Krirninalpolitik. Dies lag zum einen daran, daß man sich nach dem Faschismus in Deutschland mehr den empirischen Sozialwissenschaften und Dazu Maelicke, Entlassung und Resozialisierung, 1977, S. 21. Das Jugendgerichtsgesetz von 1923 stellte den Erziehungszweck in den Mittelpunkt des Strafvollzuges. Die ebenfalls 1923 verabschiedeten "Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen" (Reichsrats- grundsätze) erkannten in § 48 den Erziehungs- und Besserungsgedanken als beherrschendes Prinzip an. Sie kodifizierten in den§§ 1 63 ff. den von von Liszt angestrebten Strafvollzug in mehreren Stufen. Zum Prinzip eines Progressivstrafvollzuges bekannte sich auch der 1927 von der Reichsregierung vorgelegte Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes. Im Jahre 1933 wurden dann erstmals die spezialpräventive Zwecke verfolgenden Maßregeln der Sicherheit und Besserung eingeführt. 40 Liebknecht, Gegen die Freiheitsstrafe, 1918, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Gesammelte Reden und Schriften, Band IX, 1982, S. 395. 41 Kaiser/Kemer/Schöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 3 Rdn. 34; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 21; Stock, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan, 1993, S. 57. 42 Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./ Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 19; Niebler, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S. 1567; Stock, Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplan, 1993, S. 57. 38
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I. Staatstheoretisches Verständnis der (Re-)Sozialisierung
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kriminalpolitischen Debatten der Weimarer Republik zuwandte und dabei sozialstaatliches Gedankengut in den Vordergrund stellte, auch indem dem Sozialstaatsprinzip erstmals Verfassungsrang eingeräumt wurde; zum anderen wurde man offener für ausländische Diskussionen und Modelle im Strafvollzug43 . Die ersten internationalen Rechtsgrundlagen für die (Re-)Sozialisierung entwickelten sich. In den einzelnen Ländern entstanden Strafvollzugsgesetze, die als Vollzugsziel die (Re-)Sozialisierung bestimmten. In Deutschland wurde die (Re-)Sozialisierung als ein Vollzugsziel zunächst neben der Sühne und dem Schutz der Allgemeinheit in Nr. 57 I 1 der Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO) aufgeführt, die ab dem 01. 07. 1962 die nach 1945 von den einzelnen Ländern erlassenen Strafvollzugsordnungen ablöste44. Die Dienst- und Vollzugsordnung war bis zum 16. 03. 1976 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt galt in der Bundesrepublik Deutschland das Strafvollzugsgesetz, das in § 2 StVollzG die (Re-)Sozialisierung der Strafgefangenen als Vollzugsziel ausdrücklich festlegte45 und den Behandlungsvollzug programmatisch in den Vordergrund stellte. In der ehemaligen DDR trat am 12. 01. 1968 das SVWG in Kraft46 • Das bis 1990 geltende Gesetz wurde erst 1974 in seiner endgültigen Fassung verabschiedet, bis dahin enthielt es nur einige Mindestgrundsätze für den Vollzug4 7 . Ab diesem Zeitpunkt waren in § 2 I SVWG als Strafvollzugszwecke neben dem Bewußtsein einer sozialistischen Wertordnung, die Sühne, der Schutz der Allgemeinheit und die Wiedergutmachung aufgeführt. § 2 II 2 SVWG bestimmte, daß die Strafgefangenen "durch eine ( ... ) gesellschaftlich nützliche Arbeit, staatsbürgerliche Erziehung und Bildung ( ... ) erzogen werden, künftig die sozialistische Gesetzlichkeit gewissenhaft zu achten und ihr Leben gesellschaftlich verantwortungsbewußt zu gestalten". Ende der siebzigerbis Anfang der achtziger Jahre war international eine Abkehr von der Behandlungsideologie festzustellen. Ursache hierfür waren weniger rechtliche Erwägungen als empirische Untersuchungen aus Ländern, die den Behand43 Cornel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./Maelicke/ Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 20 f. 44 Inwieweit die DVollzO bloße Verwaltungsordnung war oder aber Rechtsatzcharakter hatte und damit zwingendes Recht darstellte, war während des gesamten Geltungsraumes, bis zum 31. 12. 1976 strittig. Dazu ausführlich Jürgen Baumann, MschKrim 1964, S. 62 ff., Depenbrock, NJW 1983, S. 89 ff. ; Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 28 ff. 45 Zu der Problematik, inwieweit die (Re-)Sozialisierung als alleiniges Vollzugsziel anzusehen ist, vgl. Bemmann, StV 1988, S. 549; Busch, AK-StVollzG, 3. Aufl. 1990, § 2 Rdn. 13; Rebscher, Kriminalistik 1988, S. 10 f. 46 Beide Gesetze durften während der Haftzeit von keinem Gefangenen eingesehen werden, Heyme, "Ich kam mit vor wie'n Tier" - Knast in der DDR, 1991, S. 13. 47 Weis, German Democrarie Republik, in: van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), lmprisonment Today and Tomorrow, 1991, S. 288.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
lungsgedanken bereits sehr früh uneingeschränkt propagiert hatten48. Sie waren zu dem Ergebnis gekommen, daß die Verwirklichung des Behandlungskonzeptes keine bzw. kaum Auswirkungen auf die Rückfallquoten hat49. Gleichzeitig veränderte sich die Gefangenenpopulation, neue Problemgruppen stellten die Möglichkeit eines Behandlungsvollzuges für alle Strafgefangenen in Frage50• Damit war die Hochphase der (Re-)Sozialisierung vorbei. Andere kriminologische Gesichtspunkte rückten in den Mittelpunkt, insbesondere eine verstärkte Blickrichtung auf das Opfer, der Gedanke der Wiedergutmachung51 . Bis heute blieb jedoch die Prävention der herrschende Strafzweck52• Das hängt damit zusammen, daß, auch wenn die präventive Wirkung der Strafe schwer nachzuweisen ist, die Wertordnung des Grundgesetzes nicht mit repressiven Zwecksetzungen der Strafe in Einklang zu bringen ist. Denn wie die Untersuchung zeigen wird, sind die absoluten Strafzwecke mit der Menschenwürde und vor allem dem Sozialstaatsprinzip nicht zu vereinbaren53 . So wird heute "lediglich" um die Gewichtung der verschiedenen präventiven Elemente bei der Ausgestaltung der Strafe und um das Verhältnis von negativer Spezialprävention, Sicherheit vor dem Strafgefangenen, und positiver Spezialprävention, (Re-)Sozialisierung, im Strafvollzug gestritten. Gefördert wird diese Diskussion vor allem durch die Erörterung dieses Spannungsverhältnisses durch das Bundesverfassungsgericht, das verfassungsrechtliche Anforderungen für die Abwägung vom Sicherheit und (Re-)Sozialisierung im Einzelfall gibt54• 48 Zu nennen sind insbesondere die skandinavischen Länder sowie die USA. Dazu KaiseriKemeriSchöch-Kaiser, Strafvollzug, 4. Aufl. 1992, § 2 Rdn. 109; Kaiser, ZfStrVo 1987, s. 26. 49 Vgl. dazu die Zusammenstellungen von Untersuchungen, die zu diesem Befund kommen bei Mathiesen, Gefängnislogik, 1989, S. 59. Zum Jugendstrafvollzug siehe Brunnerl Dölling, JGG-Kommentar, 10. Autl. 1996, § 17 Rdn. 10 f., kritisch Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 37 ff.; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 295 f. 50 Dazu Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 862 ff.; Calliessl Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 30; Müller-Dietz, Strafvollzug einst und jetzt - Eine Bilanz nach 20 Jahren Strafvollzugsgesetz, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.) Wiedereingliederung Straffälliger, 1998, S. 19; Preusker, Neue Klienten des Strafvollzuges- Resozialisierungsvollzug in der Legitimationskrise?, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger, 1998, S. 32 ff. SI Kaiser I Kerner I Schöch-Albrecht, Kleines kriminologisches Worterbuch, Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 3ll f.; Hirsch, 25 Jahre Entwicklung des Strafrechts, 25 Jahre Rechtsentwicklung in Deutschland, in: Universität Regensburg (Hrsg.), Deutschland- 25 Jahre juristische Fakultät der Universität Regensburg 1993, S. 41 ; Kaiser, ZRP 1994, S. 314; MüllerDietz, GA 1985, S. 148; BT-Drucks. 12/6141, S. 8. Auch international zeigt sich dieser Trend beispielsweise bei der von der UN am 29. 11. 1985 verabschiedeten ,,Erklärung über Grundprinzipien der rechtmäßigen Behandlung von Verbrechensopfern und Opfern von Machtrnißbrauch". 52 Exemplarisch: Arloth, GA 1988, S. 405 ff.; Bock, JuS 1994, S. 96; JescheckiWeigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 II. 3. 53 Siehe 2. Kapitell. 2. a). 54 Siehe 3. Kapitell.
II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung
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II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung Im 20. Jahrhundert wurden zunehmend internationale menschenrechtliche Rechtssätze verabschiedet. Diese Rechtsnormen kodifizieren häufig auch bestimmte Grundsätze für den Strafvollzug. Gerade der naturrechtliche Gedanke, daß jeder Mensch ein gemeinschaftsbezogenes Wesen ist, beeinflusste die internationalen Rechtssätze dahingehend, daß sie sich gegen die vollständige Isolation und Abgeschiedenheit der Gefangenen von der Außenwelt wandten. In den Rechtsnormen wurden darüber hinaus verschiedene Rechte der Gefangenen normiert und in diesem Zusammenhang auch auf die (Re-)Sozialisierung eingegangen. Eine Untersuchung dieser internationalen Rechtsgrundlagen ist zum einen von Bedeutung, da die Normen durch ihre Geltung in Deutschland auch die Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens hierzulande beeinflußt haben könnten. Zudem können die Rechtssätze, falls sie über das nationale Recht hinausgehen und unmittelbare Wirkung haben, die Rechte der Gefangenen über das nationale Recht hinaus erweitern. Zum anderen ist die Erörterung der internationalen Rechtsgrundlagen für den später folgenden internationalen Vergleich der Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens erforderlich. Denn auch in den untersuchten Ländern haben die internationalen Rechtsnormen Geltung und könnten damit die Strafvollzugspraxis der Länder beeinflussen. Da eine Bedrohung und Verletzung von Menschenrechten insbesondere in Gefängnissen zu beobachten ist, ist es nicht verwunderlich, daß internationale Menschenrechtsorganisationen und europäische Gremien55 seit Kriegsende in völkerrechtlichen Grundsätzen immer wieder die Rechte Strafgefangener und damit auch den Gedanken der (Re-)Sozialisierung verankert haben. Insbesondere die UN haben seit ihrer Gründung im Jahre 1948 zahlreiche Übereinkommen zum Schutz von verhafteten oder gefangenen Personen verabschiedet56 und sind dabei auch auf das Erfordernis der (Re-)Sozialisierung Strafgefangener eingegangen.
55 Zu den auf internationalen Kongressen vor Kriegsende seit 1847 verabschiedeten Resolutionen vgl. Böhm, in: Festgabe für Wolfgang Preiser, 1983, S. 184 f. 56 Siehe dazu die umfassende Darstellung der Übereinkommen in Tomuschat, Menschenrechte, 1992, S. 253 ff., sowie Neudek, The United Nations, in: van Zyl Smit/ Dünkel (Hrsg.), Imprisonment Today and Tomorrow, 1991, S. 706.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
1. Einheitliche Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen57 Seit 1955 finden alle fünf Jahre Kongresse der UN über Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger statt. Bereits auf dem ersten Kongreß in Genf wurden unter dem Untertitel ,,Beziehungen zur Außenwelt und Nachfürsorge" die "Einheitlichen Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen" beschlossen, die vom Wirtschafts- und Sozialrat der UN mit der Entschließung 663 C (XXIV) 1957 gebilligt und empfohlen wurden. In Deutschland sind die "Einheitlichen Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen" nicht in innerstaatliches Recht transformiert worden, sie haben keine unmittelbare Bindungswirkung und geben nur Zielsetzungen für das deutsche Strafvollzugsrecht Eine unmittelbare Bindung war von den UN auch nicht angestrebt, wie die Vorbemerkung zu den Mindestgrundsätzen zeigt. Hier wird angenommen, daß es bei der Verschiedenheit der Verhältnisse in der Welt augenscheinlich sei, daß nicht alle Grundsätze überall und jederzeit zur Anwendung gebracht werden können. Damit ist festgelegt, daß die Grundsätze keine unmittelbar durchsetzbaren Rechte und Pflichten für die Gefangenen begründen58• In (2) der Vorbemerkung ist ihr Sinn wie folgt festgelegt: ,,Sie sollen jedoch als Anregung dienen für ein stetes Bemühen zur Überwindung der praktischen Schwierigkeiten, die sich ihrer Anwendung entgegenstellen, in dem Bewußtsein, daß sie in ihrer Gesamtheit die Mindestbedingungen darstellen, die von den Vereinten Nationen als geeignet angenommen worden sind." Als Anregung haben die Grundsätze der Strafvollzugspraxis in den Mitgliedsstaaten insbesondere deshalb gedient, weil sie verhältnismäßig früh verabschiedet worden sind. Erst diese Mindestbedingungen haben dazu geführt, daß das Konzept des Strafvollzuges Gegenstand internationaler Debatten und Zusammenarbeit wurde. Der Zusammenhang zwischen den Mindestgrundsätzen und dem Inhalt nationaler Strafvollzugsgesetze ist zwar nicht im einzelnen nachprüfbar. Es ist aber auffallig, daß die in den Grundsätzen festgelegten Bedingungen für eine menschenwürdige Unterbringung Gefangener, ein Mindestmaß an Rechtsschutz, eine sorgfaltige Auswahl des Vollzugspersonals und bestimmte Kontaktmöglichkeiten Gefangener in sämtlichen nach den Mindestgrundsätzen der UN in Kraft getretenen nationalen Strafvollzugsgesetzen zu finden sind. Aktualität bewahren die Grundsätze durch die alle fünf Jahre stattfindenden Kongresse der UN über Verbrechensverhütung, wodurch die Grundsätze in der internationalen Diskussion bleiben. In Deutschland zeigt sich das vor allem darin, s1 Der englische Originaltitel lautet: "Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners". ss Siehe Bemmann, ZfStrVo 1999, S. 204; Rodley, The Treatment of Prisoners under International Law, 1987, S. 222; Treves, The American Journal of International Law, 1990, s. 585.
II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung
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daß die Grundsätze von den nationalen Gerichten zur Auslegung des nationalen Strafvollzugsgesetzes herangezogen werden59. Auch über die nationale Ebene hinaus haben diese Grundsätze Bedeutung. Als erste Kodifikation bestimmter den Strafvollzug betreffender Prinzipien hatten die Grundsätze auch Einfluß auf die Entwicklung europäischer Rechtsgrundlagen betreffend den Strafvollzug. So wurden vom Europarat im Jahre 1973 in enger Anhindung an die Grundsätze der UN die ,,Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen" verabschiedet60• Die "Einheitlichen Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen" regeln neben speziellen Haftbedingungen in den (56)- (64) die Leitprinzipien des Strafvollzuges. Nach (58) 1 ist zunächst das Ziel des Vollzuges der Schutz der Allgemeinheit. Gemäß (58) 2 kann dieses Ziel nur erreicht werden, "wenn die Freiheitsstrafe dazu genutzt wird, soweit wie möglich sicherzustellen, daß der Straftäter bei seiner Rückkehr in die Gesellschaft nicht nur gewillt, sondern auch befähigt ist, ein gesetzestreues Leben zu führen und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten". Nach (60) (2) sollen deshalb vor Ende der Freiheitsstrafe "die notwendigen Vorkehrungen getroffen werden, um dem Gefangenen eine schrittweise Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen". Während der gesamten Haft soll das Ziel der Wiedereingliederung gemäß (65) durch eine Behandlung der Strafgefangenen erreicht werden. Dabei sollen nach (61) 2 die im Sozialbereich tätigen Organisationen nach Möglichkeit herangezogen werden, "um das Anstaltspersonal bei der Aufgabe der Wiedereingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft zu unterstützen". Das in diesen Vorschriften niedergelegte Prinzip der (Re-)Sozialisierung wird durch die 1990 von der UN verabschiedete Anlage "Grundprinzipien für die Behandlung der Gefangenen" ergänzt. Hiernach sind im Vollzug gemäß (8) "Voraussetzungen zu schaffen, die es den Gefangenen ermöglichen, einer sinnvollen bezahlten Arbeit nachzugehen, welche ihre Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Landes erleichtert ( . . . )". Durch das Zusammenspiel dieser Vorschriften wird deutlich, daß die UN den (Re-)Sozialisierungsgedanken nicht nur generell als ein Leitprinzip im Strafvollzug erachten, sondern auch bestimmte Maßnahmen zur Verwirklichung der (Re-)Sozialisierung für grundlegend erforderlich halten.
59 OLG Zweibrücken, NStZ 1982, S. 221; OLG Frankfurt a.M., NStZ 1986, S. 27, OLG Celle, NStZ 1990, S. 379; siehe auch Neubacher; ZfStrVo 1999, S. 214; Michael Walter; Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, Rdn. 356. 60 Doleisch/DübilMeyer; Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen, 1975.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
2. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte61 Das Strafvollzugsziel der (Re-)Sozialisierung ist auch in einem völkerrechtlichen Vertrag der UN verankert worden: in dem "Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte "(IPBPR)62. Die Staaten haben bei der Umsetzung dieses Vertrages autonomen Gestaltungsspielraum63 . Das heißt, es steht ihnen frei, ob sie die Rechte des Paktes in die innerstaatliche Rechtsordnung als unmittelbar anwendbare einfach-gesetzliche Rechte oder verfassungsgesetzliche Grundrechte inkorporieren oder durch den Erlaß von Durchführungsgesetzen transformieren. Sie sind jedoch sowohl nach völkerrechtlichen Grundsätzen, als auch nach Art. 2 des Paktes verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Rechten des Paktes innerstaatliche Wirksamkeit zu verleihen64 • In Deutschland ist der IPBPR im Jahre 1976 nach Art. 59 GG zu innerstaatlichem Recht geworden und hat damit den Rang eines (einfachen) Bundesgesetzes erhalten65 • Das heißt, der Pakt kann von Gerichten und Verwaltungsbehörden ohne weitere Ausführungsgesetze vollzogen werden. Anders ist die Rechtslage in den USA und in Österreich. Hier hat der Pakt ebenfalls "Nachverfassungsrang". Mangels Transformation in innerstaatliches Recht sind die Rechte des Paktes in diesen Ländern aber anders als in Deutschland noch nicht unmittelbar anwendbar. In Österreich können sich die Bürger bei Verletzung der Rechte des Paktes jedoch zumindest seit 1988 nach Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs direkt im Wege der Individualbeschwerde an den UNO-Ausschuß für Menschenrechte wenden. Die größte rechtliche Bedeutung hat der IPBPR in den Niederlanden. Dort kommt dem Pakt aufgrund der dort vertretenen monistischen Verfassungsordnung "Überfassungsrang" zu; die Bestimmungen haben also unmittelbare Wirkung und bieten somit Grundrechtsschutz66 • Der (Re-)Sozialisierungsgedanke ist in Art. 10 III 1 IPBPR kodifiziert. Die Ausrichtung des IPBPR auf das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung geht auf einen französischen Vorschlag aus dem Jahre 1951 zurück67 . Er lautet: "Der Strafvollzug schließt eine Behandlung der Gefangenen ein, die vornehmlich auf ihre Besserung Englischer Orginaltitel: International Covenant on Civil and Political Rights (CCPR). BGBI. 1973 II, S. 1534. 63 Nowak, CCPR-Kommentar 1989, Einführung, Rdn. 22. So hat Österreich beispielsweise keine Ausführungsgesetze erlassen, da es den Standpunkt vertritt, daß alle in den Pakten verankerten Rechte durch die Österreichische Rechtsordnung bereits verwirklicht sind, Jann, EuGRZ 1994, S. 3, 5. 64 Vgl. Art. 2 II IPBPR; Nowak, CCPR-Kommentar 1989, Einführung, Rdn. 14. 65 Tomuschat, Menschenrechte, 1992, S. 14. 66 van Berk, Das Grundrechtsverständnis der niederländischen Verfassung von 1983 im Verhältnis zum deutschen Grundrechtsverständnis, 1992, S. 32, 54; Simons, EuGRZ 1978, s. 451. 67 Nowak, CCPR-Kommentar 1989, Art. 10 Rdn. 6. 61
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II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung
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und gesellschaftliche Wiedereingliederung hinzielt." Diese vorsichtige Formulierung wurde gewählt, um den Strafvollzugsvorstellungen sämtlicher Staaten gerecht zu werden68 . Wie die Behandlung aussehen soll, um diese Ziele zu erreichen, konkretisiert der Pakt nicht näher. Als unabdingbar für die (Wieder-)eingliederung gelten lediglich die Prinzipien des Art. 10 I IPBPR, die menschliche Behandlung sowie die Achtung der Menschenwürde. Ansonsten orientiert sich die positive Gewährleistungspflicht der Vertragsstaaten am jeweiligen Standard allgemein anerkannter Theorien der Kriminalsoziologie. Angesichts der Tatsache, daß sich die Wissenschaft diesbezüglich in einem schnellen Entwicklungsprozeß befindet, wird den Staaten ein besonders großer autonomer Gestaltungsspielraum eingeräumt69. Da die deutschen Strafvollzugsvorschriften - nicht unbedingt der deutsche Strafvollzug in der Praxis70 - bereits weit über die Anforderungen der UN hinausgehen, hat der IPBPR aber nur geringe praktische Bedeutung für den Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern kann nicht festgestellt werden, daß der IPBPR die Entwicklung des Strafvollzugsgesetzes oder die deutsche Rechtsprechung beeinflußt hat. In den anderen in dieser Arbeit untersuchten Ländern, Österreich, den Niederlanden und den USA, ist die praktische Bedeutung des IPBPR ebenfalls gering, da dort auch der in dem IPBPR geforderte Mindeststandard in den nationalen Gesetzen vorgeschrieben ist. Für die Geltung in den USA ist zudem von Bedeutung, daß die Todesstrafe für bestimmte Straftäter ausdriicklich durch Art 6 II IPBPR anerkannt ist. International ist der IPBPR dennoch eine wichtige völkerrechtliche Vereinbarung, da der Menschenrechtsstandard durchaus nicht in allen Mitgliedsstaaten den Anforderungen des IPBPR entspricht. So wurden beispielsweise in Madagaskar und Uruguay Verstöße gegen Art. 10 IPBPR wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen festgestellt71 •
3. Europäische Strafvollzugsgrundsätze72 Auch auf europäischer Ebene ergingen zahlreiche Resolutionen, die sich mit den Anforderungen an den Strafvollzug beschäftigen73 • Viele dieser Erschließun68 Insofern wurde das Wort "vornehmlich" aufgrund eines Antrages von Belgien, Kuba, Frankreich, Spanien und Tunesien eingefügt und damit das Behandlungsziel abgeschwächt. 69 Nowak, CCPR-Kornmentar, 1989, Art. 10 Rdn. 22. 70 Ausführlich zu den Defiziten in der Praxis das 4. Kapitel und das 6. Kapitellll. 3. 71 Dazu Nowak, CCPR-Kornmentar, 1989, Art. 10 Rdn. 11 ff. n Englischer Originaltitel: European Prison Rules (EPR). Zur Problematik der deutschen Übersetzung in "Europäische Gefangnisregeln", bzw. ,,Europäische Strafvollzugsgrundsätze" Doleisch, ZfStrVo 1989, S. 35.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
gen sind auf der Grundlage von Übereinkommen der UN in der Erwägung erlassen worden, daß für einen einheitlichen Wirtschafts- und Kulturraum gemeinsame Aussagen leichter verwirklicht werden können74. Unter dieser Prämisse sind auch 1973 die ,,Mindestgrundsätze für die Behandlung Gefangener" vom Ministerkomitee des Europarates überarbeitet und in einer neuen Fassung als "Europäische Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen" 75 , Entschließung Nr. R (73) 5, verabschiedet worden76• Eine neue Fassung wurde im Jahre 1987 nach einer weiteren Überarbeitung mit dem Titel "Europäische Strafvollzugsgrundsätze", Empfehlung Nr. R (87) 3, in Kraft gesetzt77• Die europäischen Strafvollzugsgrundsätze stellen eine Empfehlung an die Regierungen der europäischen Länder dar78 . Das bedeutet, die Grundsätze begründen keine subjektiven Rechte und Pflichten der Betroffenen und können nicht eingeklagt werden79• Allerdings ist der Einfluß der europäischen Strafvollzugsgrundsätze auf das nationale Recht nicht als gering einzuschätzen. Denn dadurch, daß in den meisten Ländern bei Inkrafttreten der Europäischen Mindestgrundsätze bereits nationale Strafvollzugsgesetze in Kraft getreten bzw. diesbezügliche Planungen abgeschlossen waren, hatte zwar die erstmalige Verabschiedung der Grundsätze keine praktischen Änderungen des Strafvollzuges zur Folge. Jedoch ihre Änderungen im Jahre 1987 hatten bedeutende Folgen, beispielsweise die Änderung Nr. 54 2. der Strafvollzugsgrundsätze dahingehend, daß das Anstaltspersonal nur "gewöhnlich" verbeamtet sein sollte. Die Folge war, daß Frankreich und Großbritannien, zwei Mitgliedsstaaten des Europarates, gesetzliche Grundlagen geschaffen haben, um Privatunternehmen nicht nur die Planung und den Bau, sondern auch den Betrieb von Gefängnissen zu übertragen 80•
73 Vgl. eine Zusammenstellung der Resolutionen in Gonsa, ÖJZ 1981, S. 287 f. und die geschichtliche Entwicklung des Europarates in Sachen Strafvollzug in Grützner, GA 1970, s. 97 ff. 74 Vgl. Böhm, in: Festgabe für Wolfgang Preiser, 1983, S. 185 f. 75 Englischer Originaltitel: European Minimum Standard Rules for the Treatment of Prisoners. 76 Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, 1984, S. 2078; Kaiser, Annales internationales de criminologie, 2811990, S. 151 ff. 77 Zur Geschichte der Überarbeitung vgl. Baechtold/Gonsa/Homann, Europäische Strafvollzugsgrundsätze, 1988, Einführung, S. 11. Zu den einzelnen Unterschieden der alten und neuen Fassung, siehe Doleisch, ZfStrVo 1989, S. 35 ff. 78 Gonsa, ÖJZ 1981, S. 292. 79 Vgl. Doleisch, ZfStrVo 1989, S. 33; ders., Menschenrechte und Strafvollzug, in: Jung I Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug- wie lange noch?, 1994, S. 51; Ca/liess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, Einleitung Rdn. 48; Vagg, Prison Systems, 1994, S. 273. Das OLG Zweibriicken nimmt darüber hinaus an, daß die Europäischen Mindestgrundsätze dem Ermessen der Vollzugsbehörden Grenzen setzen, OLG Zweibriicken, NStZ 1982, S. 221.
II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung
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Daß die Empfehlungen des Europarates auch danach nicht ohne Folgen in den Mitgliedsstaaten blieben, zeigt die Umsetzung der vom Ministerrat des Europaratesam 19. 12. 1992 angenommenen Empfehlung Nr. R (92) 16 über die "Europäischen Grundsätze zu nicht freiheitsentziehenden Sanktionen und Maßregeln". Diese Empfehlung bezüglich alternativer Sanktionen führte in verschiedenen Ländern zur erstmaligen Verankerung bestimmter alternativer eigenständiger Sanktionen, wie der gemeinnützigen Arbeit und dem elektronischen Hausarrest in nationalen Strafgesetzen81 • Das zeigt, daß die europäischen Grundsätze auch als bloße Anregungen zu Änderungen der Straf- und Strafvollzugspraxis in den Mitgliedsstaaten führen können82. Durch die mangelnde Verbindlichkeit der Grundsätze kann eine gerichtliche Überprüfung der Einhaltung der Grundsätze in den Mitgliedsstaaten allerdings nicht stattfinden. Ein europäischer Mindestschutz im Strafvollzug wird lediglich durch die im Jahre 1989 in Kraft getretene "Europäische Konvention zur Verhütung der Folter" gewährleistet. Diese sieht als einmaliger Menschenrechtsschutz Gefangener- anders als das seit 1987 bestehende "Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" der UN - ein präventives Besuchssystem durch den ,,Europäischen Ausschuß zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe"83 bei allen Haftanstalten der Mitgliedsstaaten vor. Ziel der Besuche ist, die Regierungen und Exekutivorgane durch die bloße Möglichkeit, jederzeit einen Besuch in einer Haftanstalt durchführen zu können, davon abzuhalten, Häftlinge zu foltern oder erniedrigend zu behandeln84• Durch das in dieser Kodifikation festgelegte Besuchssystem kann also zumindest kontrolliert werden, daß es in den nationalen Justizvollzugsanstalten keine Folter und unmenschliche Behandlung gibt85 . Weitergehende Überprüfungen hinsichtlich sonstiger Mindestbedingungen finden, mangels der Gewährleistung subjektiver Rechte durch die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, nicht statt. 80 Doleisch, ZfStrVo 1989, S. 36. Zur möglichen Privatisierung des deutschen Strafvollzuges siehe Dünkel, Empirische Forschung im Strafvollzug, 1996, S. 49 f.; Smartt, ZfStrVo 1995, s. 292 f. 81 Best, ZfStrVo 1997, S. 262. 82 Zu dem bedeutenden Einfluß, den die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze auf das Österreichische Strafvollzugsrecht ausgeübt haben, Gonsa, Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze und das Österreichische Strafvollzugsgesetz, in: BMJ (Hrsg.), Menschenrechte und Strafvollzug, S. 56, 76 f. Zu dem Einfluß auf das niederländische Strafvollzugsrecht, Smaers, NJCM-Bulletin 1996, S. 496. 83 Englische Originalbezeichnung: European Cornminee for the prevention of torture and inhuman or de-grading treatment or punishment (CPT). 84 Calliess I Müller-Dietz. StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, Einleitung Rdn. 49. 85 Zur Kritik des CPT an deutschen Haftbedingungen siehe Council of Europe, Report to the Government of the Federal Republik of Germany carried out by the CPT from 8 to 20 December 1991; Council of Europe, Report to the Government of the Federal Republic of Germany carried out by the CPT from 14 to 26 April1996; Die Welt 20. 11. 1999, S. 5.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Inhaltlich ist bezüglich der Strafvollzugsgrundsätze zunächst festzustellen, daß sie - anders als die Mindestgrundsätze der UN bzw. die "Mindestgrundsätze für die Behandlung Gefangener" von 1973 - sich nicht mit dem Zweck und der Rechtfertigung der Freiheitsstrafe befassen. Sie geben lediglich unter dem Abschnitt Grundprinzipien, Nr. 3 das Ziel der Behandlung Strafgefangener an86. Dieses besteht darin, "ihre Gesundheit und Selbstachtung zu erhalten und, soweit es die Vollzugsdauer erlaubt, ihr Verantwortungsbewußtsein zu entwickeln und sie zu befähigen, sich nach der Entlassung wieder in die Gesellschaft einzugliedern, ein gesetzestreues Leben zu führen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten". Damit wird die (Re-)Sozialisierung explizit als Behandlungs-, nicht aber als Strafvollzugsziel genannt. Dies hängt damit zusammen, daß die Grundsätze nicht mehr im Stadium der "Behandlungseuphorie" der sechziger und siebziger Jahre erlassen wurden, sondern man sich der Problematik einer erfolgreichen (Re-)Sozialisierung bewußt war. Das wird auch daran deutlich, daß die zitierte Norm die Grenzen der (Re-)Sozialisierung beschreibt, indem · die Gefahr der Prisionierung und die begrenzten Möglichkeiten einer (Re-)Sozialisierung bei kurzen Freiheitsstrafen sowie die Problematik der Schaffung einer Existenzgrundlage nach Ende der Haft hervorgehoben wird. Hierdurch unterscheiden sich die Vollzugsgrundsätze deutlich von friiher erlassenen Vorschriften über den Strafvollzug. Dies entspricht auch der kriminalpolitischen Entwicklung in Deutschland. Denn in den achtziger Jahren wurde auch in Deutschland voriibergehend vom Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung Abstand genommen, und von Legislative und Judikative wurden andere Strafzwecke als die Spezialprävention als Aufgaben des Vollzuges gesehen87• Zwar wurde in der damaligen Rechtsprechung und in der vorgeschlagenen Änderung des Strafvollzugsgesetzes nicht ausdrucklieh auf die Strafvollzugsgrundsätze Bezug genommen. Jedoch ist davon auszugehen, daß diese nationale Entwicklung auch durch die geänderte Zielsetzung der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze gefördert wurde.
4. Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Die EMRK von 1950 geht in ihrer Kürze nicht explizit auf das Strafvollzugsziel der (Re-)Sozialisierung ein. Sie soll hier dennoch erläutert werden, da sie in Österreich Verfassungsrang88 und in den Niederlanden sogar Vorrang vor den nationalen verfassungsrechtlichen Bestimmungen hat89• Im deutschen Recht hat die EMRK 86
Kritisch dazu Doleisch, ZfStrVo 1989, S. 36.
Dazu siehe 2. Kapitel I. 4. c) aa). 88 Die EMRK wurde in Österreich im Jahre 1964 zu unmittelbarem Österreichischen Verfassungsrecht erklärt, ÖBGBI. 1964, Nr. 59. 89 In den Niederlanden ist die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag nach 92 f. Grondwet im Jahre 1966 ratifiziert worden und in Kraft getreten, Simons, EuGRZ 1978, S. 451. 87
II. Internationale Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung
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keinen Verfassungsrang, sondern "nur" die Qualität eines völkerrechtlichen Vertrages i. S. d. Art. 32, 57 GG und damit nach herrschender Meinung den Rang eines einfachen Bundesgesetzes90. Die EMRK enthält verschiedene Vorschriften, die den Strafvollzug betreffen, Art. 4, 5 EMRK, und das Gebot der Achtung der Menschenwürde, Art. 3 EMRK. Diese Bestimmung wird bei den Rechtsgrundlagen der (Re-)Sozialisierung in Österreich, und den Niederlanden ausführlich erörtert, da aus ihr das Recht der Strafgefangenen auf (Re-)Sozialisierung hergeleitet werden kann91 • Über die Einhaltung der Konvention in allen drei Ländern wachten bis vor kurzem die Europäische Kommission für Menschenrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte92• Mit der Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am 01. 11. 1998 ist der Rechtsschutz der Straßburger Organe nach Art. 19 ff. EMRK aufgrundeiner Empfehlung der parlamentarischen Versammlung vom 06. 10. 1992 vollständig geändert worden. Mit dem 11 . Protokoll ersetzte der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte als ständiges Gericht Kommission, Gerichtshof und Ministerkomitee. Damit entfällt das Vorpriifungsverfahren der Europäischen Kommission für Menschenrechte bei Individualbeschwerden, Art. 34 f. a.F. EMRK. Auf diese Weise soll ein verbesserter Rechtsschutz bei Menschenrechtsverletzungen gewährt werden. Die Entscheidungen der Straßburger Organe betreffend den Strafvollzug beziehen sich primär auf Haftbedingungen, wie die Zulässigkeil von Isolationshaft, oder die Überpriifung, ob Mißhandlungen stattgefunden haben. Nur zweimal ist die Europäische Kommission für Menschenrechte bisher auf (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten im Vollzug eingegangen. In einem Fall hatte die Beschwerde eines deutschen Häftlings, dessen Verlegung in eine andere Anstalt und den damit verbundenen Abbruch seiner Teilnahme an einem "(Re-)Sozialisierungsprogramm" zum Gegenstand93 . Die Kommission stellte keine unmenschliche Behandlung des Gefangenen und auch sonst keine Verletzung irgendwelcher dem Beschwerdeführer nach Konventionsrecht zustehender Rechte fest, so daß sie die Beschwerde abwies. 90 Vgl. Ganter; Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte auf dem Gebiet des Strafvollzuges, 1974, S. 42; Vogler; ZStW 82 (1970), S. 745; kritisch Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 389. 91 Siehe 5. Kapitel I. 2. a); III. 2. a). Eine Erörterung der EMRK hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Resozialisierung in Deutschland erübrigt sich, da das GG wesentlich präziser ist als die EMRK und sich aus ihm umfassend die Resozialisierung herleiten läßt. Allgernein ist das GG hinsichtlich des Grundrechtsschutzes weitgehender als die EMRK, Frowein/Ulsamer; Europäische Menschenrechtskonvention und nationaler Rechtsschutz, 1985, S. 36; Frowein, EuGRZ 1980, S. 231. 92 Zur Rechtsprechung der europäischen Organe auf dem Gebiet des Strafvollzuges Ganter; Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte auf dem Gebiet des Strafvollzuges, 1974; Kaiser; Annales internationales de crirninologie 28/1990, S. 158; Reynaud, Human Rights in Prison, 1986, S. 40 ff. Strittig ist die Frage nach der Bindungswirkung der Urteile des EGMR, dazu Bleckmann, EuGRZ 1995, S. 387 ff. 93 Application No. 3819/68 -Co!!. 32, 32/26.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
In einem anderen Fall, dem sogenannten "Golder-Case", machte ein Engländer unter anderem das Recht geltend, in einem anderen Gefangnis untergebracht zu werden, welches bessere Haftbedingungen habe und in welchem er an (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen teilnehmen könne94. Die Kommission wies die Klage mit folgender knapper Begründung ab: "( ... ) whereas the Commission is of the opinion that the circumstances in which the applicant was detained in prison can in no way be said to constitute such treatment and indeed the Convention does not guarantee certain privileges in the treatment ofprisoners". Die Europäische Kommission für Menschenrechte ging also davon aus, die EMRK garantiere keine bestimmten Privilegien betreffend der Behandlung Strafgefangener im Vollzug. Damit nahm sie implizit kein Recht der Strafgefangenen auf (Re-)Sozialisierung an, da aus einem solchen Recht ein Mindestmaß humaner Haftbedingungen und Maßnahmen zur Integration hergeleitet werden könnte. Insofern sind die Straßburger Organe bislang nicht davon ausgegangen, daß die EMRK ein Recht auf (Re-)Sozialisierung gewährt. Das entspricht der sonstigen Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Strafvollzug, die in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen ist, daß die Beschränkungen der Rechte Gefangener ein Wesensmerkmal gewöhnlicher Haft seien. Bzw. hat die Kommission den Beschwerden Strafgefangener entgegengehalten, der Eingriff in die Grundrechte sei dadurch gerechtfertigt, daß es sich um eine in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensbekämpfung notwendige Maßnahme handele95 . Damit war die Rechtsprechung der Straßburger Organe im Strafvollzug bislang wesentlich restriktiver als die des Bundesverfassungsgerichts96 und ist auch nicht über die Gewährleistung von Rechten Strafgefangener durch Österreichische und niederländische Gerichten hinausgegangen. Das hängt damit zusammen, daß der Menschenrechtsstandard in allen drei Ländern im Vergleich zu sonstigen Staaten sehr hoch ist und in allen Ländern gleiche Kriterien bei der Prüfung angewandt werden müssen, inwieweit die Rechte Gefangener verletzt sind. Bedeutung hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber dennoch auch in diesen Staaten. Zum einen haben die Gerichte der Vertragsstaaten die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreApplication No. 3868168, Decision of25. 5. 70, Coll. Dec. 34. Vgl. Application 279511966, CD 30, 23; 391411969, CD 34, 20; 616611973, DR 2, 58; 6038 I 1973, EuGRZ 1976, S. 108; 7572 I 1976; 7586 I 1976; 7587176, EuGRZ 1978, S. 321. 96 Vgl. Ganter; Die Spruchpraxis der Europäischen Kommission für Menschenrechte auf dem Gebiet des Strafvollzuges, 1974, S. 84 ff.; Machacek, in: Festschrift für Franz Pallin, 1989, S. 236 f.; ebenso Lohinger; Strafvollzug und Menschenrechte, 1997, S. 31 ; Probst, Berücksichtigung der Menschenwürde und der Personwürde als Bezugspunkte im Strafvollzug, in: ÖJT (Hrsg.), Strafvollzug im Spannungsfeld zwischen Grundrecht und Zielvorstellungen, 1992, S. 87. 94
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III. Zwischenergebnis und Ausblick
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tene Auslegung der EMRK vorrangig zu beachten, zum anderen dient die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der nationalen Grundrechte97 • In Deutschland ist eine Auslegung deutscher Grundrechte anhand der EMRK im Bereich des Strafvollzuges allerdings noch nicht vorgekommen. Die EMRK hat für das deutsche Strafvollzugsrecht und die deutsche Rechtsprechung im Strafvollzug durch das umfangreiche Strafvollzugsgesetz und den Menschenrechtsstandard des Grundgesetzes bislang keine praktische Relevanz erlangt.
111. Zwischenergebnis und Ausblick Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß sich der (Re-)Sozialisierungsgedanke im Laufe der Jahrhunderte unter dem Einfluß politischer, ökonomischer, naturrechtlicher und philosophischer Strömungen zu einem leitenden Strafzweck entwickelt hat. Je mehr die absoluten und repressiven Strafzwecke in den Hintergrund traten, um so bedeutender wurden die präventiven Strafzwecke und damit auch die (Re-)Sozialisierung, bzw. Vermeidung von Entsozialisierung. Heute ist die (Re-)Sozialisierung in den Vollzugsgesetzen fast aller Länder und auch in zahlreichen europäischen, bzw. internationalen Rechtsquellen verankert. Dennoch gewähren die internationalen Rechtsnormen keine durchsetzbaren Ansprüche der Straftäter auf (Re-)Sozialisierung. Denn sie haben alle keine unmittelbare Wirkung, sondern müssen erst von den einzelnen Mitgliedsstaaten transformiert werden. Damit kann ein (re-)sozialisierender Strafvollzug nicht per se durch diese Rechtsgrundsätze völker- oder europarechtlich erzwungen werden. Lediglich die Rechte Gefangener, die in solchen internationalen Rechtsnormen kodifiziert sind, welche in nationales Recht transformiert worden sind, können von den Gefangenen in den jeweiligen Ländern eingeklagt werden. Jedoch hat das für die Durchsetzung etwaiger Rechte auf (Re-)Sozialisierung wenig praktische Relevanz. Denn insgesamt sind diese Rechtsnormen so offen formuliert, daß die nationalen Strafvollzugsgesetze der hier untersuchten Länder den Gefangenen wesentlich mehr konkrete einklagbare Rechte garantieren. Alles in allem sind die Internationalen Rechtsgrundlagen damit lediglich als Mindestgarantien eines humanen Strafvollzuges anzusehen. Die internationalen Rechtsgrundlagen und der internationale Rechtsschutz im Strafvollzug sind somit nicht überzubewerten. Dennoch sind diese Rechtsquellen nicht vollends wirkungslos. Sie geben allen Ländern Anhaltspunkte für die Gestaltung des Strafvollzuges und fördern als Anregungen für die Vollzugspraxis eine staatsübergreifende Ver97 Siehe BVerfGE 74, 358, 370; EGMR, Urt. vom 7. 7. 1989- Nr. 1/19891161/217, NJW 1990, S. 2189; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Auf!. 1998, Einleitung Rdn. 46; Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, 1991, S. 22.
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1. Kap.: Internationale Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedank.ens
einheitlichung von Vollzugsgrundsätzen98 und eine Annährung der Vollzugspraxis, wie die zunehmende Zahlländerübergreifender Projekte99, sowie die vergleichenden Studien 100 des ,,Europäischen Komitees bezüglich Kriminalitätsproblemen" 101 und die regelmäßige Konferenz der "Directors of Prison Administrations" 102 zeigen. Der ständige Gedankenaustausch auf internationalen Kongressen fördert die Entwicklung des Strafvollzuges, indem die auf den Konferenzen entstehenden Anregungen in das nationale Strafvollzugsrecht mit einfließen. Entsprechend der zunehmenden Rechtsangleichung in Buropa ist davon auszugehen, daß auch in Zukunft weitere Übereinkommen betreffend des Strafvollzuges getroffen werden. Aufgrund der internationalen Entwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens ist allerdings nicht davon auszugehen, daß sie sich primär mit dem (Re-)Sozialisierungsgedanken als Vollzugsziel beschäftigen werden, sondern vielmehr mit alternativen Sanktionen, durch die eine Entsozialisierung Gefangener im Vollzug vermieden werden soll 103 .
Böhm, in: Festgabe für Wolfgang Preiser, 1983, S. 207. Beispielsweise das "Prison 1\vinning Project", die Projektwoche ,,Making Standards Work", das "European Prison Industries Forum", sowie die Projektgruppe "European Offender Employment Group". Zu den europäischen Strafvollzugsprojekten siehe insbesondere die umfassende Darstellung von Best, ZfStrVo 1997, S. 259. 100 Siehe insbesondere den Report, European Committee on Crime Problems (Hrsg.), The criminal record and rehabilitation of convicted persons, 1984. JOJ Englische Originalbezeichnung: ,,European Cornmittee on Crime Problems", CDPC. Vorbereitet werden die Studien von dessen Unterausschuß für strafvollzugliehe Zusammenarbeit, des Councils for Penological Co-operation. 102 Vgl. Council of Europe: Prison Information Bulletin. 103 Ausführlich dazu 6. Kapitel 111. 3. d), e); IV. 1. c) cc) (2). 98 99
2. Kapitel
Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck 1. Legitimation der staatlichen Strafe unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten Die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Bedeutung der (Re-)Sozialisierung als Strafzweck und die Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe als solcher bedingen einander. Zum einen kann der verfassungsrechtliche Bezug zur (Re-)Sozialisierung als Strafzweck nur dann geklärt werden, wenn feststeht, inwieweit die Strafe als solche durch das Grundgesetz legitimiert ist. Zum anderen hat der Strafzweck der (Re-)Sozialisierung Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Legitimation der Strafe. Denn aus der (Re-)Sozialisierung ergeben sich bestimmte Anforderungen für die Vollstreckung der Strafe. Strafe gibt es seit den Anfängen der Menschheitskultur. Sie stellte also, bereits bevor sie durch die ersten Verfassungen legitimiert wurde, eines der wichtigsten staatlichen Machtmittel dar und gehört als Ausdruck des Rechtszwangs zu jeder auf Rechtsnormen gegründeten Gemeinschaft 1• Mit der Aufnahme der staatlichen Strafgewalt in Verfassungen wurde deutlich, daß der Staat sich nicht des staatlichen Machtmittels bedient, weil er ein bestimmtes Verhalten im Rahmen einer Beurteilung als sittlich verfehlt beurteilt. Der Staat darf vielmehr zur Strafe greifen, weil er verfassungsrechtlich das Recht und die Pflicht hat, die Friedensordnung, die auf einer klar umrissenen Wertordnung aufbaut, zu gewährleisten und zu schützen2 . I Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 81. 2. a). 2 Vgl. BVerfGE 39, 1, 73; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 III. 4.; Häberle folgert aus dieser staatlichen Pflicht sogar, daß das Strafrecht als Konsequenz der grundrechtliehen Freiheit erscheine; Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1983, S. 26; siehe auch Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, 1963, S. 63.
5 Leyendecker
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Ausdrücklich ist dies im Grundgesetz jedoch nicht bestimmt. Die Strafe ist in der Verfassung nur fragmentarisch geregelt, lediglich wenige Vorschriften des Grundgesetzes nehmen auf das Strafrecht Bezug und geben Anhaltspunkte auf die verfassungsrechtliche Legitimation der Strafe. Zu nennen sind hier insbesondere Art. 74 Nr. 1 und Art. 103 II GG. Art. 74 Nr. 1 GG erklärt das Strafrecht zu einem Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung. Der Verfassungsgesetzgeber räumt dem Bundesgesetzgeber also ausdrücklich eine Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts ein. Dennoch enthält Art. 74 Nr. 1 GG keine materiell-rechtliche Bedeutung für das Strafrecht. Die Befugnis zu strafen wird in dieser Norm vorausgesetzt3 • Anders ist es mit Art. 103 II GG. Das in dieser Vorschrift normierte Rückwirkungsgebot wird als einzige auf das materielle Strafrecht bezogene Verfassungsgarantie angesehen4 • Aber auch sie gibt dem Staat nicht explizit das Recht und die Pflicht zu strafen. Sucht man im Grundgesetz nach einer Norm, die sich ausdrücklich mit staatlichen Rechten und Pflichten beschäftigt, so stößt man auf das Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20, 28 GG. Teilweise wird angenommen, daß sich insofern auch die Befugnis des Staates zu strafen aus diesem Prinzip ergibt5 . Dagegen muß jedoch eingewandt werden, daß das Rechtsstaatsprinzip lediglich als Bindung staatlicher Organe an Gesetz und Recht aufzufassen ist, die dem Strafrecht Schranken setzt, es aber nicht rechtfertigt6 . Insofern gibt es keine Grundgesetznorm, welche die staatliche Strafe ausdrücklich rechtfertigt. Das Grundgesetz billigt dem Staat das "Recht" zu strafen also nur indirekt zu, indem es eine Reihe von Bestimmungen enthält, welche die staatliche Strafgewalt betreffen, die dieses "Recht" implizit bestätigen7 • Klose zieht aus der fehlenden expliziten Ermächtigungsgrundlage die Konsequenz, daß die staatliche Strafsanktion verfassungswidrig sei. Er sieht die "verfassungskonformere" Beschaffenheit eines reinen Maßnahmerechts als "evident" an. Dem muß jedoch mit Lagodny entgegengehalten werden, daß "dann konsequenterweise eine verfassungsrechtliche Ermächtigung für ein Maßregelrecht gefordert werden müßte. Die Befugnis zum Erlaß von Eingriffsermächtigungsnormen steht dem Gesetzgeber aber allgemein, nicht nur für die Strafe zu"8 . Das ergibt sich schon aus der Existenz Vgl. Arloth, GA 1988, S. 411; Klose, ZStW 86 (1974), S. 59 f. Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 39; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 3; Appel (Verfassung und Strafe, 1998, S. 109) nimmt darüber hinaus noch an, daß Art. 103 m GG eine materiell-rechtliche Garantie der Strafe darstellt. 5 Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, 1963, S. 63. 6 Dagegen auch Klose, ZStW 86 (1974), S. 53. 7 Insgesamt wird die staatliche Strafe in folgenden Grundgesetznormen vorausgesetzt: Art. 9 II, ll II, 26 I 2, 42111, 44 II, 46 I, II, IV, 47, 60 II, 74 Nr. l, 96 II, V, 101 II, 102, 103 II, III, 104 GG. s Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 32, vgl. auch Paulduro, Die Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnorrnen, 1992, S. 89. 3
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I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck
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von Gesetzesvorbehalten. Folglich kann mit dem Argument Kloses nicht die Verfassungswidrigkeit staatlicher Strafgewalt begriindet werden. Geht man von dem verfassungsmäßigen Recht des Staates zu strafen aus, muß man sich mit der Frage beschäftigen, ob dieses Recht ein subjektives Recht zu strafen darstellt: einen "Strafanspruch". Dies war lange Zeit umstritten. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an bis in die dreißiger Jahre ging man allgemein von einem subjektiven Recht des Staates gegen den Straftäter aus9 • Heute lehnt die Literatur einen solchen Anspruch überwiegend ab 10• Gegen die Anerkennung eines Strafanspruchs wurde bereits Ende der sechziger Jahre eingewendet, daß mit einem subjektiven Recht begrifflich die Vorstellung einer günstigen Rechtsposition verbunden sei, die allerdings die staatliche Strafgewalt nicht begriindell. Des weiteren wird heute gegen einen solchen Einspruch vorgebracht, daß ein Anspruch grundsätzlich durch eine im Belieben des Berechtigten stehende Willensmacht gekennzeichnet sei 12. Aus dem Verdacht eines Deliktes ergebe sich aber aufgrund des Legalitätsprinzips in der Bundesrepublik Deutschland für den Staat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Strafverfolgung. Somit bleibt festzustellen, daß die Verfassung zwar die staatliche Kompetenz zu strafen voraussetzt, der Staat jedoch aus der Verfassung keinen Anspruch, kein subjektives Recht auf Strafe, herleiten kann. Bezüglich der Ausgestaltung der Strafe fehlen - abgesehen von dem Verbot der Todesstrafe nach Art. 102 GG - ebenfalls konkrete Vorschriften in der Verfassung. Das Grundgesetz läßt aber an verschiedenen Stellen erkennen, daß es die Freiheitsstrafe - den Strafvollzug als Vollstreckung der Strafe durch den Staat - anerkennt13. Die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug ist in Art. 74 Nr. 1 GG normiert. Nach Art. 2 II 3 GG ist ein Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit durch ein förmliches Gesetz, wie das Strafvollzugsgesetz, möglich. Im Grundrechtskatalog ist der Begriff "Freiheitsentziehung" in Art. 12 III GG kodifiziert. Damit ist die Institution der Freiheitsstrafe in der Verfassung abgesichert 14. Wie die Freiheitsstrafe auszusehen hat ist hierdurch aber nicht entschieden. GenauDazu Hilde Kaufmann, Strafanspruch, Strafklagerecht, 1968, S. 71 ff. Verwendet wird der Begriff "Strafanspruch" noch von Dölling, JZ 1992, S. 493, jedoch nicht näher erläutert. Der Terminus "Recht auf Strafe" wurde Mitte der 70er Jahre noch von Klose verwendet, Klose, ZStW 86 (1974), S. 33 ff. ll Vgl. Hilde Kaufmann, Strafanspruch, Strafklagerecht, 1968, S. 69. 12 Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 216. 13 Dazu Jung, Zur Problematik der Legitimation längeren Freiheitsentzuges, in: Jung I Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug- wie lange noch?, 1994, S. 33; Paulsen, Gefangenen- und Entlassungsfürsorge in Schleswig-Holstein, 1964, S. 44; Rössner, Muß Freiheitsstrafe sein?, in: Sievering (Hrsg.), Behandlungsvollzug - Evolutionäre Zwischenstufe oder historische Sackgasse?, 1987, S. 117 ff.; Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, s. 97. 14 Dies wurde vorn BVerfG im Jahre 1977 durch die Entscheidung 45, 187 explizit auch für die lebenslange Freiheitsstrafe bestätigt. 9
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
er bestimmt dies Art. 104 I 2 GG, der als Ausprägung und Spezifizierung des Art. 2 II 2 GG gilt 15 : "Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden." Daneben enthält das Grundgesetz keine weiteren Normen hinsichtlich der Ausgestaltung der Strafvollstreckung. Es besteht aber Einigkeit, daß die Ausgestaltung der Strafvollstreckung durch einzelne Wertentscheidungen der Verfassung, wie die Menschenwürde, das Rechtsstaatsprinzip und das Soziaistaatsprinzip mitbestimmt wird 16• Für die Vollstreckung von Strafe hat vor allem die Menschenwürde nach Art. 1 I GG besondere Bedeutung. Sie wird als "oberste Wertentscheidung", als "höchster Rechtswert" der Verfassung bezeichnet 17• Das Bundesverfassungsgericht bedient sich zur Feststellung von Verstößen gegen das Gebot der Menschenwürde der Dürig'schen Objektformel, wonach der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handeins gemacht werden darf18. Objekt im Staat wird der Mensch insbesondere dann, wenn der Staat nicht jenes Existenzminimum gewährt, welches ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht 19• Dieses Existenzminimum muß auch bei der Strafvollstreckung, insbesondere im Strafvollzug, garantiert sein. Dabei sind die Anforderungen, die sich einem menschenwürdigen Strafvollzug stellen, abhängig von dem Aspekt des zivilisatorischen Niveaus, den wirtschaftlichen Verhältnissen und der Finanzausstattung des Staates20• In Deutschland gehört zu einem menschenwürdige Strafvollzug die Möglichkeit der (Re-)Sozialisierung, wie die Untersuchung zeigen wird21 . Bei der Vollstreckung von Strafe ist weiterhin das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20, 28 zu beachten. Das Rechtsstaatsprinzip wird durch eine Reihe von Ein15 Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller 1984, S. 309; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 14. Aufl. 1998, Rdn. 419; Maunz/Dürig-ders., GG-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 104 Rdn. 1. 16 Calliess!Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, Einleitung Rdn. 29; vgl. auch Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 131 ff. Zu der Frage, inwieweit diese 3 Prinzipien im StVollzG nicht verwirklicht sind, Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 264 ff., 332 ff.; Feest, JA 1990, S. 227; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 27 f. 17 BVerfGE 5, 85, 204; 6, 32, 36; 30, 1, 39; 33, 1, 10; 35, 202, 220; 37, 57, 65; 45, 187, 227; Hofmann, FAZ 5. 8. 1988, S. 47; Hoffmeyer Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 83. ts In Ansätzen Dürig erstmals, JR 1952, S. 259; Maunz/ Dürig-ders., GO-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 1 Rdn. 34; BVerfGE 9, 89, 95; 27, 1, 6; 45, 187, 228; 57, 250, 275. 19 Hofmann, FAZ 5. 8. 1988, S. 47; du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 21 ; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 19; von Münch/ Kunig-ders., GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 1 Rdn. 30; GrafVitzthum, JZ 1985, S. 204. 20 Teilweise wird der Strafvollzug sogar als Zivilisationskriterium angesehen. So geriet der Satz: "Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefangnisse dessen Urheberschaft Churchill, Orwell oder Dostojewski zugeschrieben wird, zum "Schlachtruf" bei Forderungen nach Gefangnisreformen, vgl. van Dijk, MschKrim 1989, S. 437; Dünkel, GA 1996, S. 538; Machacek, in: Festschrift für Franz Pallin, 1989, s. 223. 21 Siehe 2. Kapitel li. 2.
I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck
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zelelementen geprägt22. Für die Strafe sind insbesondere die Gewährleistung persönlicher Grundrechte, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Vertrauensschutz, die Erforderlichkeil staatlichen Handeins und die Verhältnismäßigkeit hervorzuheben. Für den Strafvollzug ist entscheidend, daß Strafgefangene nicht grenzenlos Grundrechtsbeschränkungen unterworfen werden können, da das Rechtsstaatsprinzip eine rationale Begründung für die Begrenzung von Verhaltensspielräumen der Straffälligen erfordert23 . Des weiteren ist das in Art. 20, 28 GG normierte Sozialstaatsprinzip bei der Vollstreckung der Strafe von Relevanz. Das Sozialstaatsprinzip wird als Auftrag verstanden, "soziale Gerechtigkeit" zu verwirklichen, das heißt, soziale Gefälle auszugleichen und eine gerechte Teilhabe jedes Einzelnen an den Gütern der Gesellschaft zu ermöglichen24. Adressat des Sozialstaatsprinzips ist in erster Linie der Gesetzgeber25 , so daß die inhaltliche Präzision des Sozialstaatsgedanken in weitem Umfang legislatorischer Entscheidung überlassen ist. Dabei setzt das soziale Prinzip dem Gesetzgeber eine Orientierungsmarke, in welche Richtung die sozialgestaltende Tätigkeit des Staates im Bereich der Strafrechtspflege verlaufen soll (und dart) 26. Dadurch, daß das Sozialstaatsprinzip besonders bei sozial bedingten Notlagen praktisch werden soll, ist es gerade im Strafvollzug von Bedeutung, weil in ihm typische rechtliche Gefährdungen mit typischen sozialen Bedingungen der Hilflosigkeit, Schwäche und Ungleichheit zusammentreffen27 • Für die (Re-)Sozialisierung als Vollzugsziel hat das Sozialstaatsprinzip darüber hinaus eine besondere Bedeutung, die später ausführlich erörtert wird28 . 22 Ausführlich zu den einzelnen Elementen des Rechtsstaatsprinzips, Degenhard, Staatsrecht I, 1998, 214 ff.; von Münch/Kunig-Schnapp, GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Rdn. 21 ff.; Schmidt-Bleibtreu-Klein-ders., GG-Kommentar, 7. Aufl. 1990, Art. 20 Rdn. 9 ff.; siehe auch BVerfGE 45, 187,246. 23 V gl. Bemmann, Strafvollzug im sozialen Rechtsstaat, in: ders. I Manoledakis (Hrsg. ), Probleme des staatlichen Strafens, 1989, S. 36; Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 10 f., vgl. auch Hoffmeyer; Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 52; Michael Walter; Strafvollzug, 1999, Rdn. 350. 24 Maunz/Dürig-Herzog, GG-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 20, Vill Rdn. 10, ebenso Degenlumi, Staatsrecht I, 1998, Rdn. 355; Koller, in: Gedächtnisschrift für Illmar Temmelo, 1984, S. 96 ff.; Richter/Schuppert, Casebook, 3. Aufl. 1996, Art. 20 A. 1., 2., Schmidt-Bleibtreu-Klein-ders., GG-Kommentar, 7. Aufl. 1990, Art. 20 Rdn. 20; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 19. 25 BVerfGE 50, 57, 108; Müller-Dietz, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 82, 85; von Münch/ Kunig-Schnapp, GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 19. 26 Vgl. Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 15; ebenso Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 75. 27 Vgl. Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Falter 1984, S. 311; Müller-Dietz, Strafvollzugsgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 94; ders., Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, s. 16. 2s Siehe 2. Kapitel II. 1.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Damit nehmen diese Wertgrundsätze nicht ausdrücklich auf die Ausgestaltung der Strafe Bezug. Die Verfassungsbestimmungen geben nur Hinweise darauf, welche Kriterien verfassungsrechtlich bei der Vollstreckung der Strafe beachtet werden müssen. Innerhalb dieses Rahmens hat der Gesetzgeber bei der Schaffung und Änderung der strafrechtlichen Vorschriften Gestaltungsspielraum. Indem, wie unten erläutert wird, das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde die (Re-)Sozialisierung Strafgefangener verfassungsrechtlich gebieten29, muß der Gesetzgeber bei Vorschriften hinsichtlich der Vollstreckung der Strafe diese Verfassungsbestimmungen auch hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung beachten. Gleichzeitig hat die Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus diesen verfassungsrechtlichen Normen zur Folge, daß sich die staatliche Strafe nur legitimieren läßt, wenn bei der Vollstreckung der Strafe das Recht auf (Re-)Sozialisierung beriicksichtigt wird. Somit konkretisiert und begrenzt die (Re-)Sozialisierung die staatliche Strafgewalt.
2. Zweck der Strafe unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten Von der Legitimation der Strafe ist die Frage nach dem Sinn und Zweck der Strafe zu unterscheiden. Hier geht es darum, welchen Zweck die Strafe gegenüber dem Einzelnen und der Allgemeinheit erfüllt und inwieweit andere Sinngebungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zulässig sind. In den im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Straftheorien wurden verschiedene Strafzwecke entwickelt: die Vergeltung als absoluter Strafzweck sowie die Zwecke der Generalund Spezialprävention. Für die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Strafzwecks der (Re-)Sozialisierung muß auch die Verfassungsmäßigkeit der anderen Strafzwecke untersucht werden. Denn durch die verfassungsrechtliche Würdigung dieser Zwecke kann festgestellt werden, ob die (Re-)Sozialisierung verfassungsrechtlich als alleiniger Strafzweck zulässig ist bzw. welche Bedeutung dem Strafzweck der (Re-)Sozialisierung in bestimmten Stadien der Strafe gegenüber anderen Strafzwecken verfassungsrechtlich zukommt. a) Verfassungsmäßigkeit absoluter Straftheorien
Nach den absoluten Straftheorien darf der Strafe kein bestimmter Zweck zugemessen werden. Der Rechtsgrund der Strafe soll aus Gerechtigkeitserwägungen allein in der Vergeltung bestehen30. Siehe 2. Kapitel II. 1., 2. Zur Problematik des Begriffes der Gerechtigkeit im Rechtsstaat vgl. Koller, in: Gedächtnisschrift für Illmar Temmelo, 1984, S. 96 ff. ; von Münch, JR 1952, S. 263; von Münchl Kunig-Schnapp, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 22. 29
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Vom Rechtsgrund der Strafe ist ihr Wesen zu unterscheiden. Über das Wesen der Strafe besteht Einigkeit. Das Wesen der Strafe als solche ist Vergeltung 31 . Strafe meint die Zufügung eines Übels als Ausdruck der Mißbilligung eines vorangegangenen Fehlverhaltens32• Ein Recht der Unrechtsfolgen, dem kein erkennbarer Maßstab der Vergeltung mehr zugrunde läge, wäre kein Strafrecht mehr, es könnte staatliche Willkür sein oder sinnvolle Therapie. Strafe an sich - läßt man ihre Zwecke außer Betracht - ist also repressiv, ist Vergeltung. Dies gilt unabhängig davon, daß gerechte Vergeltung vielleicht weder möglich33 noch wünschenswert ist34. Aber auch wenn die Strafe als solche Vergeltung ist, heißt dies nicht, daß der Sinn der Strafe die Vergeltung ist. Die absoluten Straftheorien nach Kant und Hegel, die den Rechtsgrund der Strafe allein in der Vergeltung sahen35 , werden in reiner Form heute nicht mehr vertreten. Grund dafür ist die Verfassung. Es wird davon ausgegangen, daß diese Theorien mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, da die Vergeltung kein "von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckter gemeinschaftsbezogener Zweck" der Strafe sei36• Die Rechtfertigung der Strafe allein durch das Prinzip der Vergeltung widerspricht verschiedenen Verfassungsbestimmungen. Zunächst ist das in der Verfassung in Art. 20, 28 GG verankerte Sozialstaatsprinzip zu nennen. Dieses legt für den Staat das Gebot sozialen Verhaltens fest. Diesem Gebot steht eine Strafe mit dem Rechtsgrund der Vergeltung insofern entgegen, als daß der Rechtsstaat, der den einzelnen einer abstrakten Vergeltung überläßt, eine Ausstoßung und Unterdrückung des Schwachen herbeiführt und damit nicht mit sozialstaatliehen Grundsätzen vereinbar ist37• Des weiteren wird in der Literatur angenommen, daß die Vergeltung dem Gerechtigkeitsprinzip als einer Seite des Rechtsstaatsprinzips38 entgegen stehe, da die BVerfGE 22, 125, 132; 95, 96, 140; Baratta, Philosophie und Strafrecht, 1985, S. 257. Exemplarisch Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 217; Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 39; Kindhäuser, GA 1989, S. 493; Müller-Dietz, in: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 815. 33 Ob Vergeltung überhaupt möglich ist, bezweifelt Roxin, JuS 1966, S. 378 mit den Worten ,,Es ist nicht einzusehen, wie man ein begangenes Übel dadurch tilgen kann, daß man ein zweites Übel, das Strafleiden, hinzufügt"; siehe auch Michelet, Naturrecht oder Rechts-Philosophie als die praktische Philosophie enthaltende Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre, 1966, s. 244 f. 34 Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 98. 35 Zu der Entwicklung der absoluten Theorien und ihrer Begriindung durch Kant und Hege1 vgl. 1. Kapitel I. 3. 36 Müller-Emmert, DRiZ 1976, S. 66; vgl. auch BGHSt 24, 40, 42; Beckmann, NJW 1983, s. 541. 37 Vgl. Cremer-Schäfer, Im Namen des Volkes?, 1992, S. 35; ebenso Bemmann zur Vergeltung als Vollzugsziel, StV 1988, S. 549. 38 BVerfGE 7, 89, 92; 13, 261, 271; 20, 323, 331; 23, 322, 329; 25, 269, 290; 27, 297, 305 f.; 35, 41, 47; 41, 323, 326. 31 32
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Strafe individuell unterschiedlich empfunden werde. So fragt Schüler-Springorum, ob nicht gerade die Idee der gerechten Vergeltung verlange, daß die zu gleicher Strafe Verurteilten nicht nur ein gleiches, sondern gleich leiden 39. Er geht davon aus, daß es kein gleiches Leiden gebe und im Zweifel die Gefangenen, die die Härte des Vollzuges "verdienen" aufgrundihrer Unempfindlichkeit, weniger leiden als andere Straffällige40. Weiterhin verletzt der Strafzweck der Vergeltung aufgrund seiner repressiven Struktur auch das Recht auf individuelle Freiheit und ihrer Entfaltung i. S. d. Art. 2 I GG41 . Zwar kann die Freiheit nach der Verfassung eingeschränkt werden, dennoch darf nach Art. 19 II GG der Wesensgehalt des Freiheitsrechtes nicht verletzt werden. Diese Gefahr besteht aber bei einer allein an der Vergeltung orientierten Bestrafung. Inwieweit die Vergeltungstheorie darüber hinaus auch der Menschenwürde widerspricht, ist fraglich. Gingen doch Kant und Hegel davon aus, daß die Vergeltungstheorie die einzige Theorie sei, die den bestraften Menschen nicht als Mittel zu einem Zweck benutze. Dem Grundsatz, daß niemand allein aus Gründen der kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit bestraft werden d&t2 , sollte nach Auffassung der beiden Philosophen gerade durch die Vergeltungstheorie Rechnung getragen werden. Der Argumentation von Kant und Hegel wird heute aber entgegengehalten, daß gerade ein Vergeltungsstrafrecht den Menschen zum Objekt degradiere, indem es den Straftäter als Asozialen brandmarke und auf diese Weise sich die Gesellschaft in versteckter Form von ihren kriminellen Potenzen befreien könne43 . Ob durch die Vergeltung tatsächlich eine Brandrnarkung, Stigmatisierung erfolgt, hängt von der Art der Vollstreckung ab. Das heißt, ist mit der Strafe eine Erniedrigung des Straftäters verbunden, wird er an den Pranger gestellt, dann liegt eine Stigmatisierung des Straffälligen vor. Es stellt sich die Frage, wie bei der Vergeltung die Vollstreckung auszusehen hat. Eine tatsächliche Vergeltung des Unrechts würde zu einer Vollstreckung nach dem Grundsatz "Auge um Auge, Zahn um Zahn" bei Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit führen und wäre bei den meisten anderen Delikten vollends undurchführbar44• In der Form des "Auge um Auge, Zahn um Zahn" und der damit verbundenen grausamen Bestrafung und Erniedrigung müßte man einen Verstoß gegen die Menschenwürde annehmen45 . 39 Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 140; siehe auch Michelet, Naturrecht oder Rechts-Philosophie als die praktische Philosophie enthaltende Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre, 1966, S. 244. 40 Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 139, 142. 41 Vgl. Roxin, ZStW 1969, S. 644. 42 Dazu Frister; Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, 1988, S. 28m. w. N. 43 Vgl. Neufelder; GA 1974, S. 291; Lüderssen, JA 1991, S. 225. 44 Ernst, Der Verkehr des Strafgefangenen mit der Außenwelt, 1972, S. 5, siehe auch Michelet, Naturrecht oder Rechts-Philosophie als die praktische Philosophie enthaltende Rechts-, Sitten- und Gesellschaftslehre, 1966, S. 244 ff.
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Somit ist festzustellen, daß die Vergeltung als alleiniger Strafzweck, abhängig von der angestrebten Vollstreckung, mit dem heutigen Verständnis der Menschenwürde unvereinbar ist und weiterhin gegen das Sozialstaatsprinzip, Art. 20, 28 GG und das Freiheitsrecht nach Art. 2 II GG verstößt; außerdem können rechtsstaatliehe Bedenken geltend gemacht werden. Damit sind die absoluten Straftheorien verfassungswidrig.
b) Verfassungsmäßigkeit relativer Straftheorien aa) Verfassungsmäßigkeit der Theorien der Generalprävention (1) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der negativen Generalprävention
Vertreter der Theorie der negativen Generalprävention sehen den Sinn der Strafe darin, daß durch die Furcht vor Strafe jedermann vor der Begehung strafbarer Handlungen abgeschreckt werde46 • Das verfassungsrechtliche Problem der Theorie der negativen Generalprävention liegt darin, daß der Tater bestraft wird, um andere von Straftaten abzuhalten, und damit als Mittel zu dem Zweck der Abschreckung anderer benutzt wird47 . Damit besteht die Gefahr, daß der Straffailige bei der Abschreckung als Zweck der Strafe zum Objekt staatlichen Handeins gemacht und so in seiner Menschenwürde beeinträchtigt wird48 . Des weiteren gehen Teile der Literatur davon aus, daß die Abschreckung mit dem Gerechtigkeitsprinzip kollidiere. So bezweifelte Roxin schon vor mehr als 30 Jahren, wie es gerecht sein könne, "daß man dem einen etwas Übles antut, damit andere etwas Übles unterlassen"49 • Damit bestehen wegen möglicher Verstöße gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip starke verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Theorie der negativen Generalprävention als alleinigem Strafzweck50. 45 Zu dem Verstoß gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde Altenhain, ZfStrVo 1988, S. 158; Hofrrumn, FAZ 5. 8. 1988, S. 48; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 26. 46 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 11; dazu Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 III. 3 a). 47 Vgl. Arloth, GA 1988, S. 407; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 288; Bock, JuS 1994, S. 96; Cremer-Schäfer, Im Namen des Volkes?, 1992, S. 45; Roxin, JuS 1966, S. 380; kritisch Hardwig, MschKrim 1959, S. 12; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 302. 48 Siehe Preußer, Tagungsbeitrag bei Reindl, ZfStrVo 1999, S. 101. 49 Roxin, JuS 1966, S. 380; Schmidhäuser folgert hieraus die Sinnlosigkeit der Strafe im Verhältnis zum Bestraften, Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 1971, S. 80. so Plack führt darüber hinaus noch an, daß die Angst vor Entdeckung erst zu einer Verdeckungstat führt, Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 106. Da
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
(2) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der positiven Generalprävention Vertreter der positiven Generalprävention sehen den Zweck der Strafe darin, daß die Allgemeinheit durch die Strafverhängung vor sozialschädlichem Verhalten geschützt werde, indem das Rechtsbewußtsein gestärkt und stabilisiert wird51 • Verfassungsrechtlich birgt die Theorie der positiven Generalprävention die gleichen Schwächen in sich wie die der negativen Generalprävention. Es ergibt sich wiederum das Problem der Gerechtigkeit, indem Menschen bestraft werden, um andere in ihrer rechtstreuen Haltung zu bestärken52. Mit dieser .,Verwendung" des Straftäters als Mittel zum Zweck ist zugleich eine Beeinträchtigung der Menschenwürde nach Art. 1 I GG verbunden. Die Gefahr eines Verstoßes gegen das Gebot zur Achtung der Menschenwürde wird bei der positiven Generalprävention sogar noch gravierender als bei der negativen Generalprävention angesehen, da bei der positiven Generalprävention der Zweck, der mit der Bestrafung verfolgt wird, der Allgemeinheit gerade nicht ins Bewußtsein treten soll53 • Die Strafverhängung erfolgt zum Zweck einer .,latenten", unbewußten Beeinflussung der Bevölkerung. Würde diese Beeinflussung mit einer inneren Unterwerfung der Bürger unter das Recht gleichgesetzt und versucht, die rechtstreue Gesinnung der Bürger gewaltsam durchzusetzen, wären die Grenzen der Gewissensfreiheit überschritten und es würde gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde verstoßen54. Damit sprechen gegen die Theorie der positiven Generalprävention verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich etwaiger Verstöße gegen das Gerechtigkeitsprinzip und die Menschenwürde.
bb) Verfassungsmäßigkeit der Theorien der Individualprävention (1) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der negativen Individualprävention
Nach der Theorie der negativen Individualprävention soll der einzelne Straftäter durch die Verhängung der Strafe von weiteren Straftaten abgehalten und dadurch die Allgemeinheit vor dem konkreten Täter geschützt werden55 •
dieses Argument jedoch nur für die geringe Anzahl von Verdeckungstätern gilt, hat es nur ein geringes Gewicht bei der Diskussion um die negative Generalprävention. 51 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 10; dazu Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 111. 3 a). 52 Siehe Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. ll7. 53 Bock, JuS 1994, S. 97. 54 Vgl. Santiago, ZStW (102) 1990, S. 923,925. 55 Dazu Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 III. 3 b).
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Verfassungsrechtlich problematisch ist an dieser Theorie insbesondere, daß die ,,Sicherung der Allgemeinheit" ein dehnbarer Begriff ist. Es ist nicht präzisierbar, welcher Täter in welchem Maße gefährlich ist, und insofern unklar, in welcher Form und vor allem wie lange die Allgemeinheit vor ihm zu schützen ist. Damit kann der Sicherungszweck der Strafe die staatliche Macht im Bereich des Strafrechts mangels der Möglichkeit der Präzision unkontrollierbar erweitern56. Der staatliche Eingriff ist unbestimmt und gerät damit in Konflikt mit dem in Art. 20, 28 GG kodifizierten Rechtsstaatsprinzip. Gleichzeitig wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als weitere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips betroffen. Denn dadurch, daß in der Praxis nur ein Bruchteil der Gefangenen als wirklich gefährlich angesehen wird, nicht aber hinreichend genau prognostizierbar ist, wer zu dieser Gruppe gehört, ergibt sich das Problem des unverhältnismäßigen Eingriffs gegenüber den nicht gefährlichen Straffalligen57 . Somit können auch gegen diese Theorie verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht werden.
(2) Verfassungsmäßigkeit der Theorie der positiven Individualprävention Bei der Theorie der positiven Individualprävention wird die Tat nicht mehr als Rechtsgrund, sondern als Anlaß der Bestrafung gesehen und als Rechtsgrund allein das (Re-)Sozialisierungsbedürfnis. Ob, wie lange und in welcher Form das (Re-)Sozialisierungsbedürfnis bei den Tatern besteht, ist vom Einzelfall abhängig. Damit ergibt sich das gleiche Problem wie bei der Theorie der negativen lndividualprävention: die Unbestimmtheit. Das Problem der Unbestimmtheit besteht nach Roxin bei dieser Theorie sogar noch mehr als beim vergeltenden Schuldstrafrecht, da es dazu neige, "den Einzelnen dem staatlichen Zugriff schrankenlos preiszugeben"58. Es gibt keine zeitliche Begrenzung des staatlichen Eingriffs und keine exakten Strafvoraussetzungen. Ist die Schuld nicht mehr die Grundlage und Grenze der Strafe, sondern nur noch das (Re-)Sozialisierungsbedürfnis, geht ein unentbehrliches Stück der Rechtssicherheit verloren59 • Denn das (Re-)Sozialisierungsbedürfnis ist nicht ohne weiteres feststellbar und in seinem Ausmaß bestimmbar, es ist veränderlich. Die Schuld hingegen ist unveränderlich, so daß eine an der Schuld bemessene Strafe in wesentlich höherem Maße Rechtssicherheit als eine auf (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit basierende Strafe gewährleistet. Vgl. Naucke, Strafrecht, 9. Aufl. 2000, § 1 Rein. 173; Roxin, JuS 1966, S. 379. Es gibt keine genauen Gefährlichkeitsprognosen - sonst gäbe es vermutlich auch nicht das Problem der Überbelegung in geschlossenen Vollzugsanstalten. Insgesamt wird der Anteil gefährlicher Strafgefangener an der Gefängnispopulation als sehr gering eingeschätzt, vgl. Bierschwale, ZfStrVo 1997, S. 69; Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 190 f.; CremerSchäfer; Im Namen des Volkes?, 1992, S. 44; Voß, Gefängnis, für wen?, 1979, S. 58. 58 Roxin, JuS 1966, S. 378. 59 Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 III. 4.; Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 554; Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 34 f. 56 57
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Gleichzeitig besteht die Gefahr, daß die aus Gründen der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit erfolgenden Eingriffe aufgrund ihrer Unbestimmtheit an die Grenzen der Verhältnismäßigkeit stoßen60. Denn die Eingriffe müßten in der Dauer und Intensität erfolgen, wie es der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit entspricht. Diese ist aber nicht präzise feststellbar, so daß leicht die Grenzen des Notwendigen überschritten werden können. Die Verhängung und das Maß der Strafe kann also nicht von der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit abhängen, sondern muß durch andere Kriterien präzise bestimmbar sein. Bestimmbar wird das Ausmaß der Strafe durch die Ausrichtung des Strafmaßes an der Schuld. Der Schuldgedanke ist zur Begrenzung des Strafrechts unentbehrlich, so daß aus Gründen des Rechtsstaates Strafen verfassungsrechtlich der Schuld als Rechtsgrundlage bedürfen. Der Grundsatz "nulla poena sina culpa", keine Strafe ohne Schuld, hat insofern Verfassungsrang, wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung feststellt61 • Folglich verstößt die Theorie der positiven Individualprävention im Stadium der Strafverhängung, wenn sie die Schuld des Täters außer Acht läßt, gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit, also gegen das Rechtsstaatsprinzip. Damit sind die spezialpräventiven Theorien allein als Zweckbestimmung für die Strafe nicht tauglich, weil sie ihre Voraussetzungen und Folgen nicht umgrenzen können und damit gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Bei den generalpräventiven Theorien besteht die Gefahr von Kollisionen mit der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip. Verfassungsrechtlich können somit gegen alle Theorien Einwände geltend gemacht werden. Hieraus ist aber nicht zu folgern, daß sämtliche Strafzwecke verfassungswidrig sind. Denn dann bliebe nur das "zweckfreie" Strafen, die absoluten Straftheorien sind aber in keiner Weise mit dem Grundgesetz vereinbar. Aus der verfassungsrechtlichen Überprüfung der einzelnen Straftheorien kann lediglich gefolgert werden, daß kein Strafzweck verabsolutiert werden darf. Denn bei der Ausschließlichkeit eines einzigen Strafzweckes kommen die verfassungsrechtlichen Bedenken voll zum Tragen. Es kann nur um einen Kombination der einzelnen Strafzwecke gehen, so daß weder die (Re-)Sozialisierung noch ein anderer Strafzweck alleiniger Zweck der Strafe sein darf.
cc) Verfassungsmäßigkeit der Vereinigungstheorien
Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die einzelnen Theorien führten insofern zur Bildung sogenannter Vereinigungstheorien, die versuchen, die Anti60 So auch BVerfG in der Entscheidung 20, 180, 220, in der es feststellte, daß eine Unterbringung auf unbestimmte Dauer den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. 61 So das BVerfG bereits 1952 in der Entscheidung 6, 389, 439; bestätigend BVerfGE 9, 167, 169;20, 323,331;25, 269,285;28,378,391 ; 41, 121, 125;50, 125, 133;57, 250,275; 73, 206,253; 80,244,255;86,288,313;95,96, 140.
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nomie der Strafzwecke dadurch zu überwinden, daß die Strafzwecke miteinander kombiniert werden. Vertreten werden diese Vereinigungstheorien nicht nur in der Literatur62, sondern auch in der Rechtsprechung63 . So stellte beispielsweise der Bundesgerichtshof fest, daß die Vorschrift des § 26 a.F. StGB "zwar ersichtlich die reibungslose Eingliederung der Verurteilten in die Rechtsgemeinschaft (Resozialisierung) fördern (will), aber doch nur insoweit, daß der Gedanke der Sühne und Abschreckung nicht über Gebühr leidet"64. Zwar ergeben sich aus diesen Kombinationen Probleme für die Strafrechtspraxis, da die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Strafzwecke besteht. Jedoch ist die Verknüpfung verschiedener Zwecke für die Verfassungsmäßigkeit der Strafe notwendig. Denn die Verabsolutierung eines einzigen Zwecks birgt die Gefahr, daß hier, wo das Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft und zum Staat in Rede steht, die strikte Durchführung eines einzigen Ordnungsprinzips Unfreiheit und Willkür im Gefolge hat und insofern gegen verfassungsrechtliche Prinzipien verstoßen wird65. Eine Verabsolutierung des Strafzwecks der Vergeltung wäre, wie bereits erläutert, menschenunwürdig. Die Verfolgung von allein generalpräventiven Zwecken führte zu einem Verstoß gegen Art. 1 I GG, weil der Mensch als Zweck benutzt wird. Die Verfolgung allein spezialpräventiver Zwecke begründete durch die Unbestimmtheit des Eingriffs eine Kollision mit dem Rechtsstaatsprinzip und durch eine zwanghafte Änderung der Person die Gefahr der Kollision mit der Menschenwürde. Eine Kumulation der einzelnen Strafzwecke berücksichtigt demgegenüber, daß die einzelnen Auffassungen brauchbare Gesichtspunkte enthalten, deren Verabsolutierung fehlerhaft wäre. Der Versuch, den Mängeln dadurch abzuhelfen, daß man verschiedenartige Konzeptionen einfach nebeneinanderstellt, muß allerdings scheitern. Die einzelnen Fehler der Theorien heben sich durch eine Vereinigung zunächst keineswegs auf, sondern summieren oder multiplizieren sich66. Entscheidend ist, die Strafzwecke derart zu verknüpfen, daß die verfassungsrechtlichen Bedenken der einzelnen Theorien nicht summiert werden, sondern die Bedenken durch einen Kompromiß weitgehend aufgehoben werden. Wichtig bei diesem Kompromiß ist, daß durch eine Addition der einzelnen Zwecke der Schwerpunkt nicht willkürlich general- bzw. spezialpräventiv unterschiedlich gesetzt wird. Denn 62 Exemplarisch Arloth, GA 1988, S. 409; von Münch, JZ 1958, S. 73; Roxin, JuS 1966, S. 387; Schönke/Schröder-Stree, StOB-Kommentar, 25. Aufl. 1997, Vorbem. §§ 38 ff. Rdn. 2; Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 135 ff.; siehe auch BT-Drucks. 12/6141, s. 8. 63 Exemplarisch: OLG Hamm, NJW 1967, S. 2024; OLG Karlsruhe, JR 1978, S. 214; ders., ZfStrVo SH 1978, S. 9 ff.; OLG Frankfurt, NStZ 1983, S. 141; OLG Stuttgart, NStZ 1984, S. 526; BGH, NStZ 1995, S. 495. 64 BGHSt 6, 215, 217. 65 Roxin, JuS 1966, S. 387. 66 Dazu Arloth, GA 1988, S. 409; Naucke, Strafrecht, 9. Aufl. 2000, § 1 Rdn. 174; Roxin, JuS 1966, S. 381.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedank:ens
dann ergibt sich bei den Vereinigungstheorien verfassungsrechtlich die Gefahr einer Kollision mit dem Prinzip der Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips. Sinnvoll erscheint insofern für die einzelnen Stadien der Strafe den jeweiligen Zweck zu bestimmen. Denn in den drei Stufen der Strafe, der Strafandrohung, Strafverhängung und der Strafvollstreckung bestehen durchaus nicht die gleichen Zielsetzungen67 .
c) Das Bundesverfassungsgericht und die Straftheorien
Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Rechtsprechung mit den Strafzwecken mehrfach auseinandergesetzt In seiner friihen Rechtsprechung hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst die (Schuld-)Vergeltung klar in den Vordergrund gestellt68. Erst in dem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe ging es von anderen Strafzwecken aus und erteilte den absoluten Zwecken eine eindeutige Absage69• Die Vereinbarkeit der Strafzwecke mit der Verfassung wurde dort unter dem von ihm besonders hervorgehobenen Topos "verfassungsrechtliches Gebot sinn- und maßvollen Strafens" angesprochen. Das Bundesverfassungsgericht führte aus: ,,Das geltende Strafrecht und die Rechtsprechung folgen weitgehend der Vereinigungstheorie, die - allerdings mit verschieden gesetzten Schwerpunkten - versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Dies hält sich im Rahmen der dem Gesetzgeber von Verfassung wegen zukommenden Gestaltungsfreiheit, einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen. Demgemäß hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nicht nur den Schuldgrundsatz betont, sondern auch die anderen Strafzwecke anerkannt."70 Ausdrucklieh gebilligt hat das Gericht namentlich die negative und positive Generalprävention71 . In der ersten Entscheidung zu § 57 a StGB hat das Gericht klargestellt, daß es mit der Billigung der Vergeltung als Strafzweck nicht mit seiner eigenen Praxis in Widerspruch gerate, wonach Strafe nicht Selbstzweck sein dürfe72. Der Einsatz der Strafe unterliege vielmehr der Entscheidung des Gesetzgebers. Dies wird so verstanden, daß Schuldvergeltung als zu setzender Zweck unproblematisch sei, während man von Ausführlich 2. Kapitell. 4. Vgl. BVerfGE 21, 391, 404; 28, 264, 272; 32, 98, 109. 69 Vgl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 302; T!edemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 21. 70 BVerfGE 45, 187, 253; 91, 1, 31; BVerfG, Beschl. vom 16. 3. 1994-2 BvR 202/93, NStZ 1994, S. 578; BVerfG, Beschl. vom 2. 11. 1994-2 BvR 268/92, NJW 1995, S. 1081. 71 BVerfGE 39, 1, 57 f.; 45, 187, 256. n BVerfGE 72, 105, 114; siehe auch schon BVerfGE 24, 40, 42; 39, 1, 46. 67 68
I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck
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Selbstzweck erst sprechen könne, wenn gar kein Zweck mehr verfolgt werde, wie bei den absoluten Straftheorien Kants73 . Hinsichtlich der relativen Strafzwecke bezeichnete das Gericht Schuldausgleich, Prävention und (Re-)Sozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht, als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion74. Der einzige Strafzweck, der von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als verbindlich vorgegeben wird, ist interessanter Weise jener der (Re-)Sozialisierung für den Strafvollzug75 . Dariiber hinaus sieht das höchste Gericht - wie es explizit in der Entscheidung vom 21. 06. 1977 - feststellt, keinen Grund, "sich mit den in der Wissenschaft vertretenen Straftheorien auseinanderzusetzen. Es kann nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, den Theorienstreit in der Strafrechtswissenschaft von Verfassung wegen zu entscheiden"76. Damit räumt das höchste Gericht dem Gesetzgeber einen weitreichenden Gestaltungsspielraum bei der Zwecksetzung der Strafe ein, der nach Appel "im Strafrecht aufgrund der Unsicherheit über die Wirkung von Strafe regelmäßig (noch) weiter ausfallt als in anderen Bereichen"77 • Damit hat die Untersuchung ergeben, daß sich das Bundesverfassungsgericht für die Notwendigkeit einer Vereinigungstheorie ausspricht und insbesondere eine absolute Straftheorie für verfassungswidrig erklärt hat. Allerdings läßt sich aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung keine Lösung für die Problematik der Gewichtung der Strafzwecke entnehmen. Das Gericht hält die Einbeziehung aller relativen Strafzwecke für verfassungsmäßig und überläßt dem Gesetzgeber die Schwerpunktsetzung der einzelnen Zwecke in den verschiedenen Stufen der Strafe. Das Bundesverfassungsgericht gibt lediglich die (Re-)Sozialisierung für das Stadium der Strafvollstreckung als verbindliches Ziel vor.
3. Empirische Erkenntnisse bezüglich der Strafzwecke Bei der Untersuchung der Strafzwecke dürfen neben der Narrnativität empirische Zusammenhänge nicht unberücksichtigt bleiben. Denn das Verfolgen eines verfassungsmäßigen Strafzwecks ist sinnlos, wenn der Zweck der Strafe in der Praxis nicht erreicht werden kann. Eine absolute Gewißheit, daß ein Strafzweck eine bestimmte Wirkung besitzt, ist allerdings nicht zu erreichen, da die Wirkung der Strafe von zu vielen Variablen bestimmt wird. Dennoch sollte ein Strafzweck für ein Stadium der Strafe nur maßgebend sein, wenn ein hoher Grad an WahrV gl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 302. BVerfGE 28, 264, 278; 32, 98, 109. 75 BVerfGE 35, 202, 245; vgl. auch BVerfGE 36, 174, 188; 40, 276, 284; 45, 238 ff.; BVerfG, Beschl. vorn 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121; BVerfG, Beschl. vorn 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vorn 22. 3. 19982 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 78. 76 BVerfGE 45, 187, 253. 77 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 97. 73 74
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
scheinlichkeit besteht, daß mit der jeweiligen Straftheorie der verfolgte Strafzweck erreicht werden kann. Es bestehen bei allen Theorien Zweifel hinsichtlich ihres Ursachen- und Wirkungszusammenhanges. Gegen die Theorie der negativen Generalprävention kann geltend gemacht werden, daß durch eine Bestrafung des Täters andere nicht zwingend von der Begehung von Straftaten abgehalten werden. Aufgrund der bei den meisten Delikten bestehenden niedrigen Aufklärungsquoten geht der Straftäter gewöhnlich davon aus, daß er für seine Tat nicht bestraft wird78 . Die fehlende Abschreckungswirkung belegt bereits die Verbrechensstatistik mit ihren steigenden Kriminalitätsziffern79. Auch der Ursache-Wirkungszusammenhang der Theorie der positiven Generalprävention wird bezweifelt. So geht Lüderssen davon aus, daß es sich keineswegs beweisen lasse, "daß die Bestrafung eines Menschen geeignet ist, die ernstliche Beeinträchtigung der Rechtstreue der Bevölkerung oder die Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen zu verhindern"80. Schöch ist in seiner umfassenden Untersuchung zu den empirischen Grundlagen der Generalprävention darüber hinaus zu dem Ergebnis gekommen, daß für den Bevölkerungsdurchschnitt die Begehung von Straftaten wegen der hohen moralischen Verbindlichkeit von Strafrechtsnormen so fern liegt, "daß selbst bei minimalem Entdekkungsrisiko oder bei mildester Strafzumessungspraxis keine verbreitete Neigung zur Deliktsbegehung besteht81 " . Zweifel am Funktionieren der negativen Individualprävention ergeben sich schon aus den langen Zeitabständen zwischen Tat und Sanktion, wie sie häufig vorkommen, wenn der Täter erst spät gefaßt wird und I oder das Verfahren sehr lange dauert82. Des weiteren wird in der Wissenschaft davon ausgegangen, daß bei der individuellen Abschreckung als Mittel gegen rückfällige Täter, der Gewöh78 So schon Krohne, Lehrbuch der Gefangniskunde, 1889, S. 286, siehe auch Ernst, Der Verkehr des Strafgefangenen mit der Außenwelt, 1972, S. 6; Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 24; Kindhäuser bezeichnet diese Einschätzung als "Kosten-Nutzen-Kalkulation" des Taters, Kindhäuser, GA 1989, S. 498; BTDrucks. 10/5828, S. 2. 79 Statistisches Bundesamt, Zahlen zur Rechtspflege, www.statistik-bund.de/basis/ d/ recht/rechts3.htm; vgl. auch die immer wiederkehrenden Untersuchungen zur (fehlenden) abschreckenden Wirkung der Todesstrafe, beispielsweise Amnesty International, Wenn der Staat tötet, 1989, S. 24 ff.; Martis, Die Funktionen der Todesstrafe, 1991, S. 139 f.; Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974, S. 105. 80 Lüderssen, JA 1991, S. 223. 81 Schöch, in: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 1102. 82 Schüler-Springorum, in: Festschrift für Werner Maihofer, 1988, S. 509, zweifelnd an der Wirkungsweise der Abschreckung auch Lüderssen, JA 1991, S. 223; Naucke, Strafrecht, 9. Aufl. 2000, § 1 Rdn. 172; demgegenüber kritisch Böhlk, FAZ 6. 5. 1997, S. 8 und Tipke, Innere Sicherheit und Gewaltkrirninalität, 1998, S. 256 f., die eine Abschreckungswirkung annehmen.
I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck
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nungseffekt den Abschreckungseffekt bei weitem überwiege, weil die Hemmschwelle trotz härterer Strafe in der Praxis von Straftat zu Straftat sinke83 . Die empirischen Bedenken gegen die Theorie der positiven Individualprävention driicken sich in den Zweifeln aus, ob und inwieweit Menschen (re-)sozialisiert werden können 84• Somit kann bei keiner Straftheorie ausgeschlossen werden, daß sie die angestrebte Wirkung - die Verhinderung von Straftaten - nur bedingt oder bei manchen potentiellen Straftätern gar nicht erreicht. Es wurden gegen sämtliche Strafzwecke empirische Zweifel erhoben. Sind aber nur die relativen Straftheorien verfassungsmäßig, so muß auch im Hinblick auf die empirischen Wirkungen dieser Theorien ein Weg gefunden werden, wie durch präventive Strafzwecke Straftaten zumindest weitgehend verhindert werden. Aufgrund der begrenzten Wirkung einzelner Theorien sollte die Verhinderung von Straftaten nicht durch einen einzelnen Strafzweck allein verfolgt werden, kein Strafzweck absolutiert werden. Hier bietet sich wiederum an, die Strafzwecke sinnvoll zu kombinieren, indem sie in den einzelnen Stadien der Strafe unterschiedlich gewichtet werden. Demnach sind die Vereinigungstheorien sowohl verfassungsrechtlich als auch aus empirischen Griinden der beste Weg des Rechtsgüterschutzes.
4. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen Strafzwecken Indem die einzelnen Strafzwecke in Vereinigungstheorien kombiniert werden, ist die Strafe nie allein an spezialpräventiven Gesichtspunkten orientiert. Dadurch gerät die (Re-)Sozialisierung regelmäßig mit den anderen Strafzwecken in ein Spannungsverhältnis. Dieses Spannungsverhältnis ist - wie bereits oben erläutert nicht durch eine einfache Addition aller Strafzwecke zu beheben85 . Erforderlich ist vielmehr eine Differenzierung der Strafzwecke in den verschiedenen Stadien der Strafe, wie dies von der dialektischen Vereinigungstheorie bzw. Stufentheorie gemacht wird. Insofern muß zwischen dem Stadium der Strafdrohung, der Strafverhängung und der Strafvollstreckung unterschieden werden.
a) Mit der Strafdrohung verfolgte Strafzwecke Die Spezialprävention i. S. d. die (Re-)Sozialisierung, hat in dem "Aggregatzustand"86 der Strafdrohung keine Bedeutung. Die Strafdrohungen können sich 83
Schüler-Springorum, in: Festschrift für Wemer Maihofer, 1988, S. 509.
Ausführlich dazu 6. Kapitel III. 3. a). Siehe 2. Kapitell. 2. b) cc). 86 Der Begriff stammt von Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 129; aufgegriffen von Lichtenberger, Die Arbeit im Strafvollzug als Mittel der Resozialisierung, 1971, s. 20 f. 84 85
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
nur an den potentiellen Täter wenden. Ihm soll deutlich gemacht werden, daß der Staat eine verbindliche Schutzordnung aufstellt, die dem Bürger seine lebensnotwendigen Rechtsgüter garantiert und ihm vorgibt, welche Eingriffe er bei Strafe zu unterlassen hat87 . Folglich sollen die gesetzlichen Straftatbestände potentielle Täter unter Hinweis auf die Rechtsfolgen vor der Begehung von Straftaten warnen und davon abhalten. Damit muß die Strafdrohung generalpräventive Zwecke verfolgen88. Dagegen sprechen auch nicht die oben dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken. Denn daß die Strafe einzelner Täter aus Griinden der Generalprävention gegen Gerechtigkeitserwägungen verstößt und der Zweck der Generalprävention aus der Sicht der Person des Täters aus Griinden der Menschenwürde nicht zu rechtfertigen ist, beriihrt die Strafbestimmungen als solche noch nicht89. Mit der Strafdrohung werden nämlich alle potentiellen Täter in gleichem Maße angesprochen, keiner wird durch eine Strafdrohung aus der Masse hervorgehoben und in irgendeiner Form degradiert.
b) Mit der Strafverhängung verfolgte Strafzwecke Komplizierter ist die Gewichtung der Strafzwecke in dem Stadium der Strafverhängung. Auch hier müssen primär generalpräventive Strafzwecke bedacht werden. Dies zeigt bereits der Gesetzestext des Strafgesetzbuches. Der Staat hat im Strafgesetzbuch für alle Bürger eine verbindliche Schutzordnung aufgestellt, die ihm aufzeigt, welche Verhaltensweisen er bei Strafe zu unterlassen hat90. Das Strafgesetzbuch will damit die Allgemeinheit durch die Strafverhängung vor sozialschädlichem Verhalten schützen und zugleich das Rechtsbewußtsein der Gesellschaft stärken. Bei der Strafverhängung steht die Schuld des Täters im Mittelpunkt. So orientieren sich die im Allgemeinen Teil normierten Grundsätze der Strafzumessung an den Strafrahmen des Besonderen Teils, die durch die Tatschwere, das heißt durch das Gewicht des verletzten Rechtsgutes bestimmt werden. Konkret bedeutet dies, daß der Richter bei der Verhängung der Strafen die Schwere der Rechtsgutsverletzung bestimmen muß, wobei die Schuld des Täters nach § 46 I 1 StGB Grundlage der Strafzumessung ist91 . Die lndividualprävention, insbesondere der (Re-)Soziali87 Dietl, Sollen Strafzwecke wie Schuldausgleich, Sühne, Verteidigung der Rechtsordnung in den Strafvollzug hineinwirken?, in: Schwind/Steinhilper/Böhrn (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz 1988, S. 57; Roxin, JuS 1966, S. 383. 88 Haberstroh, Strafverfahren und Resozialisierung, 1979, S. 100; Lüderssen, JA 1991, S. 222; Schönke/Schröder-Stree, StOB-Kommentar, 25. Aufl. 1997, Vorbem. §§ 38 ff. Rdn. 12. 89 Roxin, JuS 1966, S. 383. 90 Roxin, JuS 1966, S. 383. 91 Dem Grundsatz, daß jede Strafe Schuld voraussetzt, hat das BVerfG Verfassungsrang zugemessen, BVerfGE 6, 389, 439; 9, 167, 169; 20, 323, 331; 25, 269, 285; 28, 378, 391; 45, 187,259 f.; 50, 133; 86,288, 313; 91, I, 27; 95, 96, 140.
I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck
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sierungsgedank:e, ist im Strafgesetzbuch also nicht ausschlaggebend für die Verhängung der Strafe. Bedeutsam ist die (Re-)Sozialisierung hingegen für die Maßregeln der Besserung und Sicherung,§§ 61 ff. StGB. Diese dienen nicht dem Ausgleich für begangenes Unrecht, sondern ausschließlich der Prävention durch die (Re-)Sozialisierung des Täters oder durch die Sicherung der Allgemeinheit92 • Für die Strafen hat die Individualprävention dagegen nur für die Strafbemessung im engeren Sinne Bedeutung. So sollen bei der Bemessung der Strafe die Wirkungen der Strafe für das Leben des Täters in der Gesellschaft nach § 46 I 2 StGB berücksichtigt werden, also die Möglichkeit der (Re-)Sozialisierung des Straffälligen bzw. die Gefahr einer Entsozialisierung93 • Dadurch, daß das Strafgesetzbuch auf dem Schuldprinzip fußt, kann die (Re-) Sozialisierung bei der Verhängung von Strafen somit nur in den Grenzen versucht werden, welche durch die Tatschuld abgesteckt sind94. Es gibt also im Strafgesetzbuch keine relativ unbestimmten Strafen, die von der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit bzw. dem (Re-)Sozialisierungserfolg abhängen95 • Eine Verhängung der Strafe aufgrund der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit des Täters wäre nicht nur kaum zu bestimmen, sie wäre auch unzulässig. Sie widerspräche gleich mehreren Verfassungsbestimmungen. Zum einen könnte das Verhängen der Strafe ohne Berücksichtigung der Schuld aufgrund der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit der betreffenden Person nur zum Ziel haben, auf eine Gesinnungsänderung der betroffenen Person hinzuwirken. Das würde den Gefangenen aber zu einem Objekt degradieren und verstieße damit gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde und würde zudem zu einer Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechtes führen96• Zum anderen widerspräche eine solche Indoktrination bestimmter Wertvorstellungen der Wertoffenheit sozialisierender Entwicklungen im sozialen Rechtsstaat. Folglich muß im Stadium der Strafverhängung die Generalprävention im Vordergrund stehen. Aufgrund der starken empirischen Zweifel an der negativen Generalprävention sollte der Schwerpunkt auf der positiven Generalprävention liegen. Fraglich ist, wie diese Generalprävention erreicht werden kann. 92 Exemplarisch Paulduro, Die Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnormen, insbesondere der Normen des Strafgesetzbuches, 1992, S. 226; anders nur bei der Unterbringung in eine Entziehungsanstalt, hier darf nur der Zweck Besserung, bzw. der (Re-)Sozialisierung, nicht der Sicherung verfolgt werden, BVerfGE 92, 1, 56. 93 Laclmer I Kühl-Lackner, StOB-Kommentar, 23. Aufl. 1999, § 46 Rdn. 27. 94 So die herrschende Spielraumtheorie, die besagt, daß innerhalb des von der Schuld nach oben und unten fixierten Spielraums bei der Bemessung der Strafe die einzelnen Strafzwecke zu berücksichtigen seien. 95 Anders ist es bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB. Hier findet zwar alle zwei Jahre eine Überprüfung der Fortdauer der Maßregel statt, die Gesamtdauer der Unterbringung ist jedoch unbestimmt. 96 Dazu siehe auch 2. Kapitel V. I. a). 6*
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2. Kap.: Verlassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedank:ens
Grundsätzlich erfordert der durch generalpräventive Zwecke angestrebte Rechtsgüterschutz bei der Verhängung der Strafe, daß durch die konkrete Ahndung der Straftat die Bestandskraft der Rechtsordnung gewährleistet wird. Hier greift der Gedanke von der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung, der besagt, daß es für einen Rechtsstaat entscheidend ist, daß die Rechtsordnung im Bewußtsein der All-· gemeinheitgewahrt wird97 • Ist Zweck der Strafe der Rechtsgüterschutz durch die Gewährleistung der Rechtsordnung, so setzt dies hinsichtlich der Strafverhängung gerechte Strafen voraus. Nur eine gerechte Strafe hat eine präventive Wirkung auf die Allgemeinheit, indem sie von dieser akzeptiert wird und von der Begehung von Straftaten abhält. Nur die gerechte Strafe ist es auch, die von dem Verurteilten als Reaktion einer mit ihm verbundenen Gemeinschaft und zugleich als Appell an sein Rechtsbewußtsein verstanden wird98 • Willkürlich verhängte Strafen, die als nicht "gerecht" empfunden und akzeptiert werden, dienen nicht der Anerkennung der Rechtsordnung, sie sind dysfunktional und verstoßen zudem gegen die Freiheitsrechte und das Verhältnismäßigkeitsprinzip99. Folglich müssen Strafen gerecht sein, das heißt das Schuldprinzip und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Wenn die staatliche Strafgewalt diese Grenzen beachtet und ihr so ein derartig ausgewogener Rechtsgüterschutz bei der Strafverhängung gelingt, erfahren die Rechtsgüter maximalen Schutz oder, wie Roxin es ausdrückt, "einen doppelten Schutz: durch das Strafrecht und vor dem Strafrecht" 100. Damit erfordert eine generalpräventive Wirkung der Strafverhängung eine auf Grundlage der Schuld basierende subsidiäre Strafe. Eine solche gerechte und ausgleichende Strafe wirkt auf die Allgemeinheit als sittenbildende Kraft und kann auch auf den Verurteilten gerade wegen ihres an das Verantwortungsgefühl appellierenden Maßprinzips warnend wirken und ihn vor weiteren Straftaten abhalten. Auf diese Weise kann die positive Generalprävention als integrierender Begriff wirken, der mittels einer gerechten Strafe eine Überwindung der Antinomie der Strafziele ermöglicht 101 . Ergebnis ist ein auf gerechte Weise erzielter Vorbeugungserfolg zum Ausgleich der Schuld wegen des begangenen Verbrechens des Straffalligen.
97 Vgl. Dietl, Sollen Strafzwecke wie Schuldausgleich, Sühne, Verteidigung der Rechtsordnung in den Strafvollzug hineinwirken?, in: Schwind/ Steinhilper I Böhm (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz 1988, S. 57; Roxin, JuS 1966, S. 383; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 6. Aufl. 1958, S. 3. 98 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8 II. 4.; vgl. auch Müller-Dietz, in: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 819. 99 Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 217. 100 Roxin, JuS 1966, S. 382. 101 Vgl. Santiago, ZStW (102) 1990, S. 925.
I. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlich zulässiger Strafzweck
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c) Mit der Strafvollstreckung verfolgte Strafzwecke aa) Kodifizierte Zwecke der Strafvollstreckung
Die (Re-)Sozialisierung hat primäre Bedeutung bei der Strafvollstreckung, insbesondere im Strafvollzug. So wird die (Re-)Sozialisierung als Aufgabe, als Ziel des Strafvollzugs, bezeichnet, selten jedoch als Strafzweck. Das hängt damit zusammen, daß im Vollzug der Freiheitsstrafe an die Stelle der Strafzwecke die Aufgaben des Vollzuges treten. Dies ergibt sich aus der Nichterwähnung der Strafzwecke im Strafvollzugsgesetz, deren Aufnahme in das Strafvollzugsgesetz während der Gesetzesberatung mehrheitlich ausdrucklieh abgelehnt wurden 102• Einfachgesetzlich gibt § 2 StVollzG die Aufgaben des Strafvollzuges vor. Dabei muß diese Vorschrift nach Art. 20 111 GG den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Das heißt, die hier kodifizierten Aufgaben müssen mit den Vorschriften des Grundgesetzes übereinstimmen. § 2 StVollzG hat also insofern Bedeutung, als er konkret die Aufgaben des Strafvollzuges regelt, wohingegen verfassungsrechtliche Bestimmungen zwar den Strafvollzug betreffen, jedoch nicht explizit konkrete Anforderungen an die Justizvollzugsbehörden stellen. Nach dem Wortlaut des § 2 StVollzG sind neben der (Re-)Sozialisierung und der Sicherheit keine anderen Vollzugsaufgaben als die Spezialprävention, die (Re-)Sozialisierung und der Schutz der Allgemeinheit vom Gesetzgeber in das Strafvollzugsgesetz aufgenommen worden. Dabei sind nicht beide Aufgaben als Vollzugsziel deklariert, sondern lediglich die (Re-)Sozialisierung. Das Vollzugsziel entspricht nicht dem VollstreckungszieL Das Ziel der Vollstreckung besteht darin, dem Straftäter entsprechend dem richterlichen Urteilsspruch die Freiheit für eine bestimmte Zeit zu entziehen. Das Vollzugsziel hingegen betrifft die inhaltliche Ausgestaltung des Strafvollzugs. Es gibt vor, was im Strafvollzug erreicht werden soll, das heißt, für alle Maßnahmen, die die Justizvollzugsanstalten und den Strafvollzug betreffen, soll die (Re-)Sozialisierung maßgebend sein. Die Einrichtung und Struktur der Justizvollzugsanstalten soll sich nach dem Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung richten. Die Aktivitäten im Vollzug sollen zur Erreichung dieses Zieles förderlich sein, die im Vollzug Tätigen sind dem Vollzugsziel verpflichtet. In ausländischen Vollzugsgesetzen ist die (Re-)Sozialisierung häufig nicht einziges VollzugszieL So fallen beispielsweise in Österreich nach § 20 StVG die Vollzugsziele mit den Strafzwecken zusammen. Als Grund dafür wird die Vermeidung eines Bruches in den verschiedenen Stadien, die Gewährleistung der Einheit der Rechtsordnung, angegeben 103 . Es ist aber die Frage, "ob ein solcher Bruch über1o2 BT-Drucks. 7/1998; BT-Drucks. 10/ 5828; BVerfGE 45, 187, 253; Beckmann, StV 1984, S. 165; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 73. 103 Dazu Gonsa, ÖJZ 1981, S. 288; Machacek, in: Festschrift für Franz Pallin, 1989, s. 243.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
haupt vermieden werden kann und ob nicht die künstliche Harrnonisierung unterschiedlicher Blickrichtungen (oder gar Gegensätze) noch mehr Schaden stiften würde" 104• Man könnte umgekehrt nämlich auch sagen, daß eine Berücksichtigung der verschiedenen, von der Vereinigungstheorie angenommenen Strafzwecke im Strafvollzug Rechtsunsicherheit und permanente Zielkonflikte zur Folge hätte 105. Es ergibt sich schon aus den Strafgesetzen, daß zwischen der Verhängung der Strafe und ihrem Vollzug ein tatsächlicher "Bruch" besteht. Wahrend nach § 46 StGB bei der Strafzumessung die Schuld des Taters die Grundlage bildet und Schuldgesichtspunkte in erheblichem Umfang zu berücksichtigen sind, ändert sich der Blickwinkel im Vollzug in entscheidender Weise. Das ergibt sich zunächst aus § 57 StGB. Wenn der in § 57 StGB vorgesehene Zeitablauf eingetreten ist, dürfen Gesichtspunkte der Generalprävention, aber auch der Schuldschwere nicht mehr in Rechnung gestellt werden; § 57a I Nr. 2 StGB stellt insofern eine Ausnahme dar106. Des weiteren gibt das Strafvollzugsgesetz selbst keine Hinweise auf generalpräventive Zielsetzungen, wie Abschreckung, Schuld oder Sühne. Das zeigt, daß der Gesetzgeber bei Schaffung des Strafvollzugsgesetzes die von der Vereinigungstheorie vertretenen Strafzwecke nicht als Aufgaben des Vollzuges deklariert hat, sondern von der Individualprävention ausgeht 107• Insbesondere in den achtziger Jahren wurden jedoch generalpräventive Strafzwecke neben individualpräventiven Zwecken als Aufgaben des Vollzuges erachtet. So gab es eine Anzahl oberlandesgerichtlicher Entscheidungen, in denen die Schwere der Schuld auch bei Strafvollzugsentscheidungen berücksichtigt wurde108. Typisch war insofern die folgende Urteilspassage des OLG Karlsruhe: "Daß das Vollzugsziel in § 2 1 StVollzG unter dem Gedanken der Resozialisierung definiert ist, bedeutet nicht, daß die weiteren zu der Resozialisierung im Sinne einer positiven Spezialprävention hinzutretenden Zwecke, die mit der Verhängung der Freiheitsstrafe vergolten werden, mit dem Beginn des Vollzuges wegfielen und damit zwischen der Verhängung der Strafe und ihrem Vollzug in dem Sinne ein Bruch bestünde, daß die Verhängung und Bemessung der Strafe anderen Zwecken dienen würden als ihr Vollzug ( ... )." 109 Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 42. Müller-Dietz, Mit welchem Hauptinhalt empfiehlt es sich ein Strafvollzugsgesetz zu erlassen?, 1970, S. C 17. 106 Arloth, GA 1988, S. 417 f.; Peters, JR 1978, S. 178; vgl. auch Roxin, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns, 1978, S. 193 f.; BT-Drucks. 8/3218, S. 7. 107 Vgl. Meier-Beck, MDR 1984, S. 448 f.; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 99 f. 1os Vgl. OLG Frankfurt, ZfStrVo SH 1979, S. 28; ders., NStZ 1983, S. 140; ders., ZfStrVo 1984, 373; OLG Karlsruhe, JR 1978, S. 213; OLG Nürnberg, NStZ 1984, S. 92; OLG Stuttgart, NStZ 1984,429, 525; ausführlich zu der damaligen Rechtsprechung Calliess/MüllerDietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 22; Michael Walter, Strafvollzug, 1999, Rdn. 56 ff. 109 OLG Karlsruhe, JR 1978, S. 214; ebenfalls Arloth, GA 1988, S. 421; Bandell, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, S. 55; Grunau, DRiZ 1977, S. 310. 104
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Auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. 06. 1983 deutet an, daß es im Vollzug generalpräventive Zielsetzungen geben darf. In der Entscheidung bestätigte das Gericht die oberlandesgerichtliehen Entscheidungen nicht eindeutig. Jedoch erklärte es in einem obiter dictum, daß die Resozialisierung "vornehmliches", also nicht einziges Vollzugsziel sei; es erkannte eine Berücksichtigung der Schwere der Schuld auch bei Strafvollzugsentscheidungen an 110• Dabei hatte das höchste Gericht zehn Jahre zuvor noch folgendes festgestellt: "Es widerspricht dem Resozialisierungsgedanken, die Bewertung des Interesses an der Wiedereingliederung des ( ... ) Täters von dem Ausmaß seiner Schuld an der Straftat abhängig zu machen." 111 Allerdings verlangte das höchste Gericht in der Entscheidung aus dem Jahre 1983 keine Änderung des § 2 StVollzG, es erkannte - mangels entsprechender Ausführungen in der Entscheidung - die Vorschrift als solche als verfassungsmäßig an. Solange eine Vorschrift nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, gilt sie weiter, auch wenn der Norm widersprechende Entscheidungen vom Gericht als verfassungsmäßig anerkannt werden. Das heißt, die drei Gewalten hatten sich auch nach dieser Entscheidung weiter an den Wortlaut des Gesetzes zu halten, wonach es nur ein Vollzugsziel gibt. Schließlich wurde versucht, das Strafvollzugsgesetz hinsichtlich der Kodifikation der Strafzwecke zu ändern. Vertreter des Bundeslandes Bayern stellten im Jahre 1987 im Bundesrat einen Antrag, welcher darauf abzielte, § 2 StVollzG um den Satz zu ergänzen: "Die sonstigen Zwecke der Freiheitsstrafe sind zu berücksichtigen."112 In den anderen Bundesländern fand sich jedoch keine Mehrheit, die bereit gewesen wäre, die kriminalpolitische Zielsetzung des Strafvollzugsgesetzes in dem angestrebten Sinn zu ändern 113 • no BVerfGE 64, 261, 275; Das Land Baden-Wiirttemberg verfaßte nach Bekanntgabe des Urteils 1985 eine Allgemeinverfügung, nach der die Schwere der Tatschuld bei der Gewährung von Vollzugslockerungen berücksichtigt werden soll, Die Justiz 1985, S. 118 f. n1 BVerfGE 35,202, 241. ll2 Siehe Protokoll der Sondersitzung des Strafvollzugsausschusses der Länder vom 9.12. Februar 1987 in Würzburg. Zur Rechtfertigung dieser Forderung Bayerns vgl. Dietl, Sollen Strafzwecke wie Schuldausgleich, Sühne, Verteidigung der Rechtsordnung in den Strafvollzug hineinwirken?, in: Schwind I Steinhilper I Böhm (Hrsg.}, 10 Jahre Strafvollzugsgesetz 1988, S. 57 ff.; Bayern vertritt auch weiterhin diese Auffassung, wie die Informationsbroschüre Strafvollzug in Bayern, Übersicht, Stand Mai 1999, S. 10 zeigt. Danach dürfen aufgrund der Entscheidung des BVerfG im Vollzug grundsätzlich auch der Gesichtspunkt der Tatschuldschwere, sowie der Schuldausgleich und weitere allgemeine Strafzwecke berücksichtigt werden. 113 Vgl. Pressemitteilung der Staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Harnburg vom 10. Februar 1989, ZfStrVo 1989, S. 238; Calliessl Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 5. Ausführliche Argumente gegen die Berücksichtigung der Schwere der Schuld finden sich bei Freimund, Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen 1989, S. 37 ff.
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In der Wissenschaft herrschte zu jener Zeit keine Einigkeit darüber, inwieweit der Strafvollzug auch generalpräventive Aufgaben zu erfüllen habe. Teilweise wurde argumentiert, daß der Gesetzgeber eine Beriicksichtigung der Schuld auch im Strafvollzug gewollt habe. Als Kodifikation der Schuldschwere im Strafvollzugsgesetz wurde § 13 III StVollzG angeführt, wonach ein zu lebenslanger Haft Verurteilter erst dann beurlaubt werden darf, wenn er sich zuvor zehn Jahre lang im Vollzug befunden hat 114• Denn eine Regelung, die den Gefangenen per se für einen bestimmten Zeitraum von einer Behandlungsmaßnahme ausschließt, könne nicht mit spezialpräventiven Erwägungen begriindet werden. Dagegen wurde § 13 IV StVollzG ins Feld geführt 115 • Die Norm bestimmt, daß Gefangenen, die sich für den offenen Vollzug eignen, nach den für den offenen Vollzug geltenden Vorschriften Urlaub erteilt werden kann. Da auch zu lebenslanger Haft verurteilte Gefangene jederzeit in den offenen Vollzug verlegt werden können, gilt für sie die Zehnjahreschranke des § 13 III StVollzG nicht. Waren nun bei gesetzgebetischer Festlegung dieser Zeitschranke tatsächlich auch Schuldgesichtspunkte mitbestimmend gewesen, wäre es inkonsequent, die Zeitschranke nicht bei allen zu lebenslänglicher Haftstrafe Verurteilten anzuwenden. Darüber hinaus ging man davon aus, daß der gerechte Schuldausgleich ohne Zweifel ein Strafzweck sei, da Strafe Vergeltung auf Grundlage der Schuld sei 116 und durch die Freiheitsstrafe die Strafe vollzogen werde. Dennoch werde die Schuld bereits im Urteil beriicksichtigt und könne nicht noch als Entscheidungsfaktor bei Vollzugslockerungen herangezogen werdenll7. Diese Ansicht, daß der Schuldausgleich kein Zweck des Vollzuges sei und dem Vollzug allein spezialpräventive Aufgaben zukämen, setzte sich Ende der achtziger Jahre in der Literatur durch 118• Nachdem der Gesetzgeber im Jahre 1988 bekräftigte beizubehalten, daß die (Re-)Sozialisierung alleiniges Vollzugsziel darstellt 119, kehrte auch das Bundesverfassungsgericht zu dieser Auffassung zuriick 120. Explizit erklärte es in den neunziger Jahren die (Re-)Sozialisierung wieder als "das" Ziel, also nicht bloß Arloth, GA 1988, S. 419. Müller-Dietz, JR 1984, S. 356; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 101; LG Heilbronn, NStZ 1986, S. 380. 116 Folglich stellte das BVerfG bereits mehrmals das Gebot schuldangemessenen Strafens als verfassungsrechtliche Pflicht heraus, BVerfGE 6, 389, 439; 45, 187, 253; 73, 207, 253, ebenso BGHSt 29, 319. l17 Vgl. Freimund, Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen, 1989, S. 44; Hili, ZfStrVo 1986, S. 145; Müller-Dietz, Schuldschwere und Urlaub aus der Haft, JR 1984, S. 361. 11s Exemplarisch Hili, ZfStrVo 1986, S. 139 ff.; de With, Ist eine Reform des Strafvollzuges gegenwärtig notwendig?, in: Schwind/ Steinhilper /Böhm (Hrsg.), 10 Jahre Strafvollzugsgesetz, 1988, S. 43. 119 BT-Drucks. 11/3694. 12o BVerfG Beschl. vorn 29. 6. 1995-2BvR 2631194, NStZ 1995, S. 613; BVerfGE 98, 169, 183. !14
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"ein" Ziel des Strafvollzuges 121 • Damit herrscht heute Einigkeit, daß gemäß § 2 StVollzG einziges Vollzugsziel die (Re-)Sozialisierung ist.
bb) Verfassungsmäßigkeit möglicher Aufgaben im Vollzug
Sind im Strafvollzugsgesetz auch nur spezialpräventive Strafzwecke als Aufgaben des Vollzuges deklariert, so ist dennoch fraglich, inwieweit sonstige mögliche Aufgaben des Vollzuges, die an die Stelle der Strafzwecke treten 122, verfassungsmäßig sind. Die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht insgesamt alle relativen Strafzwecke für verfassungsmäßig erklärt hat, bedeutet nicht, daß sämtliche Strafzwecke gleichzeitig als Vollzugsaufgaben verfassungsrechtlich zulässig sind. Die generelle Verfassungsmäßigkeit der Strafzwecke muß von der Verfassungsmäßigkeit in dem betreffenden Stadium der Strafe unterschieden werden.
(1) Verfassungsmäßigkeit der (Re-)Sozialisierung als Aufgabe des Strafvollzuges Aus der Verfassung, insbesondere aus dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürde, wird vom Bundesverfassungsgericht und der Literatur ein Recht der Strafgefangenen auf (Re-)Sozialisierung hergeleitet 123 . Damit ist die (Re-)Sozialisierung als Aufgabe des Strafvollzuges verfassungsmäßig verbindlicher Strafzweck im Strafvollzug.
(2) Verfassungsmäßigkeit des Schutzes der Allgemeinheit als Aufgabe des Strafvollzuges Der Schutz der Allgemeinheit könnte insofern eine verfassungsmäßige Aufgabe des Strafvollzuges sein, als sich aus der Verfassung für den Staat Schutzpflichten gegenüber dem Bürger ergeben, wonach er verpflichtet ist, seine Bürger vor rechtswidrigen Angriffen Dritter zu verteidigen. Ihm obliegt zur Wahrung des Rechtsfriedens und des Rechtsgüterschutzes die Aufgabe der Gefahrenabwehr 124. Die generelle Schutzpflicht des Staates ergibt sich aus Art. 1 I GG sowie daraus, daß der Staat nicht nur verpflichtet ist, die Grundrechte (negativ) zu achten, sondern 121 BVerfG, Beschl. vom 29. 10. 1993-2 BvR 672/93, StV 1994, S. 147; BVerfG, Beschl. vom 16. 5. 1995 - 2 BvR 1882/92, 365/93, NStZ 1996, S. 55; ebenso BVerfGE 98, 169, 200. 122
BT-Drucks. 7/3998; 10/5828; BVerfGE 45, 187, 253; siehe auch 2. Kapitel I. 4) c)
aa). 123
Siehe 2. Kapitel li.
Vgl. Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 89; siehe auch BVerfGE 90, 145, 201. 124
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auch (positiv) zu schützen 125 • Bestimmte Schutzaufträge sind explizit in der Verfassung normiert, beispielsweise in Art. 6 I, IV, 9 GG. Die Sicherungsaufgabe des Strafvollzuges ist nicht speziell kodifiziert, wird aber im Grundgesetz mit dem Institut der Strafe in der Verfassung als Aufgabe staatlicher Organisation in Art. 2 II 2 und 3, I2 III, 74 Nr. I und I04 GG als ein "absolut" gewährleistetes Institut angesehen 126• Ob sich über die Pflicht des Staates zur Gewährleistung der Sicherheit hinaus aus dem Grundrechtskatalog der Art. 2 ff. GG bzw. aus der Schutzpflicht des Staates nach Art. I I 2 GG ein Grundrecht, ein Menschenrecht auf Sicherheit ergibt, ist umstritten 127• Fest steht jedenfalls, daß das Sicherungsbedürfnis der Bevölkerung ein absolut geschütztes öffentliches Interesse der Verfassung darstellt128. Folglich muß diesem Sicherungsbedürfnis auch im Strafvollzug Rechnung getragen werden. Das heißt, die Allgemeinheit muß vor weiteren Straftaten von Strafgefangenen geschützt werden. So dürfen gefährliche Täter nicht unbeaufsichtigt ohne entsprechende Vorbereitung im Vollzug Ausgang und Urlaub bekommen. Dies widerspräche der Schutzpflicht des Staates. Allerdings wäre es verfassungswidrig, den Schutz der Allgemeinheit als einzige Aufgabe des Strafvollzuges anzusehen, denn dann würde sich der Strafvollzug als reiner Verwahrvollzug darstellen. Ein Verwahrvollzug verstieße gegen den rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsatz der Zweckgebundenheit hoheitlichen Handeins und insoweit auch gegen den (objektiv verstandenen) Menschenwürdeschutz aus Art. 1 I GG 129• Darüber hinaus widerspräche er auch dem Gebot der grundrechtliehen Effizienz, da er langfristig nicht die Allgemeinheit vor Straftaten schützte, sondern mit seinen dissozialisierenden Wirkungen selbst eine wichtige soziale Ursache für die Entstehung, Bestätigung und Verfestigung krimineller Persönlichkeitsstrukturen darstellte 130. Cremer-Schäfer nimmt insofern an, daß "das Einsperren die urunittelbare und aktuelle Sicherheit der freien Gesellschaft vor dem Straftäter ohne weiteres gewährleisten ( . .. ), die mittelbaren Folgen die Unsicherheit in 125 Vg!.lsensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 33; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 187, 195; siehe auch Chevalier, Die Einschränkbarkeil von Folgegrundrechten, 1992, S. 65; 1iedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 53; Das BVerfG nahm eine solche Schutzpflicht in folgenden Entscheidungen an: BVerfGE 39, 1, 41 f.; 45, 187, 255; 46, 160, 164; 49, 89, 141 f.; 52, 324, 343; 53, 30, 57; 56, 54, 81; 77, 170, 171; 85, 191,212;88,203,251;90, 107, 126;92,26,46;97, 125,146. 126 Vgl. Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 142. 127 Dafür Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 142; /sensee, Das Grundrecht auf Sicherheit 1983, S. 33; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 15 ff. ; Stolpmann, NStZ 1997, S. 319; 1ipke, Innere Sicherheit und Gewaltkrirninalität, 1998, S. 16; Wassennann, Gestörtes Gleichgewicht, 1995, S. 163; dagegen Wolter, in: Gedächtnisschrift für Karl-Heinz Meyer, 1990, S. 506. 128 BVerfGE 51, 324, 343, Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 148; 1ipke, Innere Sicherheit und Gewaltkriminalität, 1998, S. 16. 129 Vgl. Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 149, 152; Michael Walter, Strafvollzug, 1999, Rdn. 52, siehe auch Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Auf!. 1998, Einleitung Rdn. 28. 130 Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 153.
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der Gesellschaft (aber) durch neue Straftaten und Rückfälligkeit verstärken" könne 131 • Folglich kann der Schutz der Allgemeinheit aus verfassungsrechtlichen Gründen keine alleinige Aufgabe des Strafvollzuges sein. Das heißt, der Strafvollzug muß der Sicherheit dienen, in der Ausgestaltung aber andere Ziele als die reine Sicherheit verfolgen. Der Schutz der Allgemeinheit darf insofern nicht durch Verwahrung, sondern muß auch durch die (Re-)Sozialisierung angestrebt werden. Somit ist der Schutz der Allgemeinheit nur gemeinsam mit der (Re-)Sozialisierung eine verfassungsmäßige Aufgabe des Strafvollzuges. Demgegenüber wäre die (Re-)Sozialisierung auch als ausschließliche Vollzugsaufgabe verfassungsmäßig, da die (Re-)Sozialisierung anstrebt, daß der ehemals Straffällige künftig keine Straftaten mehr begeht und damit auch dem Schutz der Allgemeinheit gerecht wird. (3) Vergeltung und Abschreckung als verfassungsmäßige Aufgaben des Strafvollzuges Bei der Erläuterung der Zwecke der Verhängung von Strafe ist bereits festgestellt worden, daß der Strafzweck der Vergeltung gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde verstößt und damit nicht mit der Verfassung zu vereinbaren ist132 . Der Strafzweck der Abschreckung ist zwar nicht generell verfassungswidrig, er birgt aber zahlreiche verfassungsrechtliche Probleme. Für den Vollzug ergibt sich die Gefahr der Verfassungswidrigkeit beider Strafzwecke-Vergeltungund Abschrekkung - in besonderem Maße. Denn würde der Strafzweck der Abschreckung auch im Stadium des Strafvollzuges Anwendung finden, mit dem Ziel, durch die Ausgestaltung des Strafvollzuges die Allgemeinheit vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, würde dies zu einer Furcht und schreckensverbreitenden Vollzugsgestaltung nötigen und durch die Grausamkeit der Vollstreckung die Menschenwürde der Strafgefangenen beeinträchtigen 133 • Darüber hinaus würde eine über den Freiheitsentzug als solchen hinausgehende Abschreckung das Übermaßverbot verletzen, da ihre Notwendigkeit nicht begründet werden könnte 134. Ein den Zweck der Vergeltung verfolgender Strafvollzug würde zu einer Vollzugsgestaltung nötigen, die in der Ausübung eines unterschiedlich starken Leidensdruckes bestände 135• 131 Cremer-Schäfer, Im Namen des Volkes?, 1992, S. 53; vgl. auch Jürgen Baumann, DRiZ 1970, S. 3; Brusten, Resozialisierung als Problem der Gesellschaft, in: Schmidtobreick (Hrsg.), Kriminalität und Sozialarbeit, 1972, S. 16. 132 Siehe 2. Kapitell. 2. a), b) aa) (1). 133 Bemmann, StV 1988, S. 551; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, s. 79. Zur Verfassungswidrigkeit siehe auch Hartwig, Der Einfluß der "allgemeinen" Strafzwekke im Strafvollzug, 1995, S. 267; Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, Einleitung Rdn. 28. 134 Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 11; Michael Walter, Strafvollzug, 1999, Rdn. 52. 135 Bemmann, BewHi 1988, S. 454.
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Insgesamt müßte ein Strafvollzug, der auf Abschreckung oder Vergeltung abzielte, über das Übel des Freiheitsentzuges hinaus mit weiteren Übeln angereichert werden. Phantasie hinsichtlich möglicher Übel bewies Funck im Jahre 1986: "Die Temperatur des Wasch- und Duschwassers läßt Spielarten zu", "Speisen und Getränke lassen sich unterschiedlich temperieren", "den Speisen und Getränken für die betreffenden Gefangenen lassen sich besondere Bitterstoffe beimischen" 136• Eine derartige bloße Zufügung eines Übels um des Übels willen im Vollzug und durch ihn kann aber kein von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckter gemeinschaftsbezogener Zweck sein. Derartige zweck- und sinnfreie Eingriffe der staatlichen Gewalt in die Rechtsstellung des Gefangenen lassen sich nicht legitimieren137. Ein so verstandener Strafvollzug würde gänzlich zur "Biegung" entarten; er verstieße gegen die Menschenwürde 138 und das Sozialstaatsprinzip 139. Somit wären Vergeltung und Abschreckung als Aufgaben des Strafvollzuges verfassungswidrig.
(4) Schuldausgleich als verfassungsmäßige Aufgabe des Strafvollzuges Problematischer ist die Frage, ob der Schuldausgleich neben der Spezialprävention eine verfassungsrechtlich zulässige Aufgabe des Vollzuges sein könnte. Dafür, daß sich die Bedeutung der Schuld keineswegs in ihrer strafbegrenzenden Funktion begrenzt, sondern vielmehr der Schuldgedanke auch einen Einfluß auf die Strafvollstreckung hat, könnten Aspekte der Gerechtigkeit sprechen. So sind es vor allem gesellschaftliche Erwartungen und Vorstellungen in bezug auf eine gerechte Strafe, auf ,,richtigen" Strafvollzug, die den Gedanken des Schuldausgleichs qua negativer Vollzugsentscheidungen tragen 140• Fraglich ist aber, ob der insbesondere bei eigener Betroffenheit bestehende Wunsch nach Schuldausgleich, ebenso wie der nach Vergeltung tatsächlich gerecht ist, oder ob er sich nicht vielmehr als ein nicht endgültig zu bewältigender "emotionaler Widerspruch beim Umgang mit der Freiheitsstrafe" 141 darstellt. Ein Widerspruch insofern, als die vergeltende Strafe bei einem unbekannten Dritten als gerecht empfunden wird, bei einem selber oder Angehörigen aber nicht. Gerecht kann aber eine Strafe nur dann sein, wenn man bereit ist, die Strafe selbstbejahend als Beitrag auf sich zu nehmen, der
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Funde, ZRP 1985, S. 138 f. Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 11. Vgl. Bemmann, BewHi 1988, S. 454; Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979,
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Vgl. Bemmann, in: Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 894; ders., StV 1988,
136 137
s. 149. s. 549.
Müller-Dietz, ZfStrVo 1985, S. 218. Rössner, Muß Freiheitsstrafe sein?, in: Sieverlog (Hrsg.), Behandlungsvollzug- Revolutionäre Zwischenstufe oder historische Sackgasse?, 1987, S. 134; siehe auch Beckmann, 140 141
NJW 1983, S. 540.
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um der Gemeinschaft willen gefordert wird, wenn wir die Strafe "auch für die Menschen als angemessen anerkennen, die uns die liebsten sind" 142. Wenn dieser Gedanke berücksichtigt wird, ist fraglich, inwieweit die Berücksichtigung der Schuldschwere im Strafvollzug verfassungsmäßig sein kann. Die Heranziehung der Schwere der Schuld bei Vollzugsentscheidungen stellt sich nicht als Ausgleich der Schuld dar, sondern ist vielmehr eine Ausübung von Leidensdruck im Sinne von "intendierter Übelzufügung" 143 . Nach Schüler-Springorum verbirgt sich hinter der Schuld vor allem Vergeltung; sie verstärke den Eindruck vom moralischen Hochmut der anderen, der kriminal-justiziellen Seite 144• Denn die Freiheitsstrafe ist allein durch den Entzug der Freiheit Strafe an sich. Sie bleibt als solche ein Übel, auch wenn sie human vollzogen wird 145 • Es ist zu bedenken, daß der Verlust der Freiheit heute schwerer wiegt als in früheren Epochen. "Noch nie war die Freiheit des Menschen so groß wie heute. Auf was alles kann der Mensch heute verzichten, wenn er seine Strafe antritt? Der Mensch, der als Leibeigener oder in Knechtschaft lebte verlor, wenn er seine Freiheit einbüßte, nicht eben viel. Der freie Mensch jedoch, der Mensch der Gegenwart mit seiner hohen Sensibilität gegenüber Beschränkungen seiner Freiheit, erleidet die Freiheitsstrafe als ein schweres Übel." 146 Zudem würde die Berücksichtigung der Schuld bei der Ausgestaltung des Vollzuges gegen die im Strafgesetzbuch gesetzlich normierte Konzeption der Einheitsstrafe verstoßen. Denn würde die Behandlung des Gefangenen auch von der Schwere seines Tatunrechts und Verschuldeos abhängig gemacht, käme man zu einer schulddifferenzierenden Vollzugsgestaltung entsprechend der Differenzierung hinsichtlich Zuchthaus und Gefängnis, wodurch ein unterschiedliches Maß von Tatunrecht und Schuld zum Ausdruck gebracht werden sollte 147• Gleichzeitig bestände die Gefahr, daß durch eine schulddifferenzierende Vollzugsgestaltung die Menschenwürde der Strafgefangenen beeinträchtigt wird. Denn Schmidhiiuser. Vom Sinn der Strafe, 1971, S. 109. Müller-Dietz, GA 1985, S. 156; Das OLG München forderte sogar eine "Vertiefung seiner Schuldeinsicht", da der Vollzug "die gezielte Zufügung schweren Übels bedarf, weil es des durch den Freiheitsentzug erzeugten Leidensdruckes zur Erreichung des Vollzugszieles bedarf", OLG München, ZfStrVo SH 1979, S. 67. 144 Schüler-Springorum, StV 1989, S. 265; vgl. auch Beckmann, StV 1984, S. 165, er sieht in dem Begriff des "gerechten Schuldausgleichs" nur eine freundlichere Vokabel des Vergeltungsgedankens. 145 Vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG-Kommmentar, 7. Aufl. 1998, § 3 Rdn. 1; Grunau!T!esler. StVollzG-Kommentar, 2. Aufl. 1982, § 3 Rdn. 1; Winfried Hartmann, BewHi 1991, S. 152; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 75. 146 Bemmann, BewHi 1988, S. 453; siehe auch Schumann, Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, in: ders./ Steinert/ Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs, 1988, S. 19; Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 81. 147 Bemmann, BewHi 1988, S. 454; Kaiser. u. a.-Schöch, Strafvollzug, 1992, § 4 Rdn. 41; Müller-Dietz, JRI984, S. 358; ders.; Anmerkung zu OLG Stuttgart, NStZ 1984, S. 526; ders. GA 1985, S. 163. 142 143
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eine schulddifferenzierende Vollzugsgestaltung würde bei einigen Gefangenen zu einem Verwahrvollzug führen, der, wie erläutert, die Menschenwürde beeinträchtigt148. Zudem würde eine solche Vollzugsgestaltung bei einigen Gefangenen zu grausamen Bestrafungen und Erniedrigungen führen, welche ebenfalls gegen das Gebot zur Achtung der Menschenwürde verstoßen 149. Eine an Schuldausgleich- und Sühnegedanken orientierte Entscheidungspraxis der Vollzugsverwaltung würde sich insgesamt zu einer permanenten Anklage verwandeln. Eine solche Anklage durch eine einseitig auf die Vergangenheit bezogene Betrachtungsweise im Vollzug steht aber im Widerspruch zum gesetzlich gebotenen, in die Zukunft weisenden VollzugszieL Denn wenn den Gefangenen aus Gesichtspunkten der Schuldschwere Vollzugsmaßnahmen verweigert werden, die aus (Re-)Sozialisierungsgründen geboten sind, wird das Strafvollzugsziel umgangen150, das in § 2 StVollzG festgeschrieben ist und damit für Vollzugsverwaltung und Gerichte aufgrund des Vorrangs des Gesetzes nach Art. 20 lli GG bindend ist und zudem vom Verfassungsgericht verbindlich vorgegeben 151 . Sehr anschaulich formulierte Hili die Gefahr der Vernachlässigung des Vollzugszieles durch Berücksichtigung der Schuld. Er stellt sich die (Re-)Sozialisierung als das gemeinsame Zurücklegen eines Weges vor. "Wenn man die Schuld wie einen gewaltigen Felsblock in diesen Weg rollt, wird das Gehen schwerer oder ganz unmöglich - für beide Seiten: für Rechtsbrecher und Gesellschaft, die sich ( ... ) auf halben Wege entgegenkommen müssen." 152 Da das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde die (Re-)Sozialisierung gebieten 153, fordert die Bestimmungen auch den (Re-)Sozialisierungsprozeß aller Straftäter154 nicht zu beeinträchtigen - auch nicht durch einen gerechten Schuldausgleich im Vollzug 155 • Auch andere verfassungsrechtliche Bedenken sprechen gegen eine Berücksichtigung der Schuld im Strafvollzug. Wollte die Vollzugsbehörde die Schuld tatsächlich im Strafvollzug berücksichtigen, müßte sie ein eigenes Raster entwickeln, in 148 Vgl. Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 331; Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 152; Lüderssen, KJ 1997, S. 180. 149 Zu dem Verstoß gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde Altenluzin, ZfStrVo 1988, S. 158; Hofmann, FAZ 5. 8. 1988, S. 48; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 26. 150 Calliess/ Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 35; du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 84; OLG Nürnberg NStZ 1984, S. 93. 151 Siehe BVerfGE 45, 187, 223 f. ; 86, 288, 329; Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 5; Meier-Beck, MDR 1984, S. 447. 152 Hill, ZfStrVo 1986, S. 146. 153 Siehe 2. Kapitel II. 154 Da für jeden Täter das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung gilt, darf auch bei keinem auch nicht bei einem zu lebenslanger Haft verurteilten Tater - die Schwere der Schuld für Vollzugsentscheidungen herangezogen werden. Anders OLG Frankfurt, ZfStrVo SH 1978, S. 10; ZfStrVo 1979, S. 28; vgl. auch Müller-Dietz, ZfStrVo 1985, S. 219. 155 Vgl. Bemmann, BewHi 1988, S. 454 f.
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung
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welchen Fällen die Schuld des Straftäters einen Urlaub ermöglicht und in welchen nicht. "Die Vollzugsbehörde müßte eine Art nachträgliche vollzugseigene Strafzumessung" betreiben 156• Damit würde die Vollzugsbehörde aber einerseits entgegen dem Rechtsstaatsprinzip in richterliche Kompetenzen nach Art. 92, 104 II 1 GG eingreifen, weil die Schuld- und Strafzumessung Sache des Richters ist 157, andererseits würde eine solche Vollzugspraxis das Bestimmtheitsgebot der Rechtsfolge einer Straftat verletzen 158 • Damit ist auch der Strafzweck des Schuldausgleichs kein verfassungsmäßiges Kriterium für die Gestaltung des Strafvollzuges 159• Folglich sind allein die in § 2 StVollzG kodifzierten spezialpräventiven Strafvollzugsaufgaben, die (Re-)Sozialisierung und der Schutz der Allgemeinheit, mit der Verfassung vereinbar. Eine Kodifizierung anderer Strafzwecke als Aufgaben des Vollzugs wäre somit verfassungswidrig.
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung Mit der Verfassungsmäßigkeit der (Re-)Sozialisierung als Aufgabe des Strafvollzuges ist die Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung eng verbunden. Denn indem das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung aus dem Grundgesetz hergeleitet wird, ist die (Re-)Sozialisierung nicht nur in der Verfassung verankert, sondern ein nicht (re-)sozialisierender Strafvollzug sogar verfassungswidrig.
1. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Sozialstaatsprinzip Die für die (Re-)Sozialisierung wichtigste Verfassungsbestimmung ist das Sozialstaatsprinzip. Aus dieser Staatszielbestimmung wird seit fast vierzig Jahren die (Re-)Sozialisierung hergeleitet. Zwar wird der Beginn einer verfassungsrechtlichen Herleitung der (Re-)Sozialisierung in den meisten wissenschaftlichen Arbeiten erst mit Anfang der siebziger Jahre datiert 160, als Würtenberger und Müller-Dietz auf Müller-Dietz, JR 1984, S. 358. Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 65, 262, 293 f.; Beckmann, StV 1984, S. 165 f., dazu siehe BVerfGE 22, 49, 81. 158 Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 65, 262, 295; Beckmann, StV 1984, S. 165 f. 159 Vgl. Beckmann, NJW 1983, S. 540; Calliessl Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 8; Kaiser; u. a.-Schöch, Strafvollzug 1992, § 4 Rdn. 39; Müller-Dietz, Grundfragen des staatlichen Sanktionssystems, 1979, S. 108; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 105. 160 Vgl. Chevalier; Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 62; Koepsel, Strafvollzug im Rechtsstaat, 1985, S. 7; Müller-Emmert, DRiZ 1976, S. 65. 156 157
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
die sozialstaatliche Grundlegung des auf Behandlung von Rechtsbrechern ausgerichteten Strafvollzuges aufmerksam machten 161 . Doch der (Re-)Sozialisierungsgedanke wurde schon zu Beginn der sechziger Jahre erstmals mit dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung gebracht. So schrieb Bauer bereits im Jahre 1960: "Der soziale Rechtsstaat, den unser Grundgesetz gebietet, erfordert, wie mir scheint, die Resozialisierung des Täters." 162 1963 nahm Hamann an, daß "dem Sozialstaatsprinzip ( ... ) im Hinblick auf die Resozialisierung des Täters Bedeutung zukomrnt"163. Näher führte dies Woesner im Jahre 1966 aus. Er verknüpfte das Sozialstaatsprinzip insofern mit dem (Re-)Sozialisierungsgedanken, als er davon ausging, daß der Sozialstaatsgrundsatz dem Staat die Verpflichtung auferlegt, "den Rechtsbrecher als unvollkommenes Glied der Gesellschaft zu behandeln und ihm entweder durch geeignete Fürsorgemaßnahmen den Weg zur sozialen Wiedereingliederung zu bereiten oder ihn von weiterer gesellschaftlicher Betätigung auszuschließen"164. Damit wurde das erste Mal- wenn auch nur eingeschränkt- eine Fürsorgepflicht des Staates gegenüber den Strafgefangenen aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet. In den siebziger Jahren wurde dieser Gedankengang dann von Würtenberger und Müller-Dietz weiter ausgeführt. So schrieb Würtenberger im Jahre 1970: "Der Sozialstaat sieht den Rechtsbrecher in enger Verflechtung in größere soziale Zusammenhänge. Leitend ist der Gedanke, daß im sozialen Bereich der eine auf den anderen angewiesen ist. ( ... ) Im Rechtsverhältnis zwischen Staat und Gefangenen geht es um die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten. Der Verpflichtung des Staates zur Fürsorge und Hilfe für den Gefangenen entspricht eine rechtliche Verpflichtung des Gefangenen zur aktiven Mitwirkung am Bemühen um seine soziale Eingliederung. Daher muß ein neuer am Sozialstaatsgedanken ausgerichteter ,sozialer Integrationsstatus' des Gefangenen ( ... ) anerkannt werden." 165 MüllerDietz benannte im gleichen Jahr den Strafvollzug als "einen exemplarischen Fall für die Anwendung des Sozialstaatsprinzips". Aufgrund dessen müsse dem Gefangenen "in weitestmöglichem Umfang ,Hilfe zur Selbsthilfe' geleistet werden, indem der Staat die geeigneten und erforderlichen Mittel zur Sozialisation bereitstellt"166. Drei Jahre später schrieb er, daß im Strafvollzug "soziale Leistungen des Staates, sein Angebot zu helfen" ihre "(verfassungsrechtliche) Grundlage im Sozialstaatsprinzip" haben. Das Sozialstaatsprinzip "verlangt wenigstens die Ein161 Würtenberger, JZ 1970, S. 452; ders., JZ 1967, S. 238 f.; Müller-Dietz, Mit welchem Hauptinhalt empfiehlt es sich, ein Strafvollzugsgesetz zu erlassen?, 1970, S. C 13; ders., Strafvollzugsgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 98. 162 Bauer, Die Rückkehr in die Freiheit - Probleme der Resozialisierung, in: Freudenfeld (Hrsg.), Schuld und Sühne, 1960, S. 149. 163 Hamann, Grundgesetz und Strafgesetzgebung, 1963, S. 21. 164 Woesner, NJW 1966, S. 1730. 165 Würtenberger, JZ 1970, S. 454. 166 Müller-Dietz , Mit welchem Hauptinhalt empfiehlt es sich, ein Strafvollzugsgesetz zu erlassen?, 1970, S. C 13.
Il. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung
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beziehung (re-)sozialisierender Zielsetzungen in die Bestimmung der Vollzugsaufgaben"167. Gefördert wurde die Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung vor allem durch die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Da diese Rechtsprechung für die Herleitung des (Re-)Sozialisierungsgedankens aus der Verfassung durch die Literatur unabdinglich war, soll an dieser Stelle vorab die im dritten Kapitel ausführlich zu erörternde Rechtsprechung des Verfassungsgerichts herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1973 bestätigt, daß das Sozialstaatsprinzip die (Re-)Sozialisierung fordert, und diesen Ansatz in gewissem Umfang konkretisiert und weiterentwickelt 168. Wortlieh führt es aus: "Vom Tater aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung' aus seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. I I GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet, verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfahigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen. Nicht zuletzt dient die Resozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft selbst; diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, daß der Tater nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigt." 169 Daraus wird für den Strafvollzug gefolgert: "Dem Gefangenen sollen Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden, er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen." 170 In einer späteren Entscheidung konkretisiert das Bundesverfassungsgericht diese staatliche Verpflichtung. Danach verpflichtet das Sozialstaatsprinzip den Staat, "den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugszieles ( ... ) erforderlich ist. Er hat auch die Aufgabe die erforderlichen Mittel für den Personal- und Sachbedarf bereitzustellen" 171 . Mit diesen Entscheidungen wurde das, was bis dahin in der Literatur hinsichtlich des Sozialstaatsprinzips als Rechtsgrundlage der (Re-)Sozialisierung erarbeitet worden war, höchstrichterlich abgesichert. Fortan wurde das Sozialstaatsprinzip in der Literatur zu einer nicht mehr wegzudenkenden Grundlage des (Re-)Sozialisierungsgedankens 172. Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1970, S. 16 f. Ausführlich zur dieser und anderer Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 3. Kapitel I. 169 BVerfGE 35, 202, 235 f.; bestätigend BVerfGE 88, 288, 312; 96, 100, ll5; BVerfG, Karnmerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht); BVerfG, Beschl. vom 7. 6. 1993-2 BvR 1907/91, StV 1994, S. 94. 11o BVerfGE 35, 202, 235; ebenso BVerfGE 40, 276, 284. 171 BVerfGE 40, 276, 284; bestätigend BVerfG, Karnmerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröfffentlicht). 167 168
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Aufgegriffen wurde insbesondere der vom Bundesverfassungsgericht ausgeführte Gedanke des Gemeinwohls als Verbindungsglied zwischen dem Soziaistaatsprinzip und der (Re-)Sozialisierung. Das Sozialstaatsprinzip und das Menschenbild der Verfassung gehen von dem Menschen als sozialem Wesen aus 173 • Sozialität bedeutet die Pflicht gegenseitiger, gemeinsamer Verantwortung 174. Diese gemeinsame Verantwortung führt dazu, daß die Interessen der Allgemeinheit, also das Allgemeinwohl notfalls gegen Einzel- oder Gruppenwünsche durchgesetzt werden. Der (Re-)Sozialisierungsgedanke hat ebenso diesen Gemeinwohlbezug, indem er auf Gegenseitigkeit angelegt ist 175 . Maelicke formulierte diesen Gedankengang im Jahre 1977 folgendermaßen: Das Sozialstaatsprinzip hat seinen Ursprung "in der für den Bestand eines Gemeinwesens notwendigen, sozialen Solidarität, die die Mitverantwortung des einzelnen für den Sozialisationsprozeß der anderen deutlich macht" 176. Es besteht Einigkeit darüber, daß das Sozialstaatsprinzip primär den Gesetzgeber verpflichtet 177 . Da die Sozialisation aber auf Gegenseitigkeit angelegt ist, ist - wie das Bundesverfassungsgericht feststellte - für die (Re-)Sozialisierung auch die Wiederaufnahmebereitschaft der Gesellschaft erforderlich 178• Die aus der Sozialität hergeleitete Pflicht zur gegenseitigen Verantwortung besteht jedoch nicht zwischen dem einzelnen Bürger und dem Strafgefangenen, denn das Grundgesetz entfaltet keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten. Die Gemeinschaft trägt jedoch als Träger der Staatsgewalt Verantwortung. Sie muß bereit sein, den Straffälligen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Jedoch kann das Verfassungsrecht keine Bereitschaft der Gesellschaft herstellen, es kann keine Achtung und Aufnahmebereitschaft gegenüber ehemaligen Straffälligen erzwingen. Das Verfassungsrecht kann dem Staat "nur" den Verfassungsauftrag geben, "soziale Gerechtigkeit" i. S. d. Art. 20, 28 GG zu verwirklichen. Dieser 172 Stellvertretend Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 268 f.; Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 25; Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl. 1992, § 4 1. b); Dünkel, Vom schuldvergeltenden Strafvollzug zum resozialisierenden Justizvollzug, in: Sievering (Hrsg.), Behandlungsvollzug - Evolutionäre Zwischenstufe oder historische Sackgasse?, 1987, S. 202; du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 19; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 51 f. 173 Vgl. BVerfGE 12, 45, 51; 28, 175, 189. 174 V gl. Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Fal1er, 1984, S. 313; von Münch/ Kunigvon Münch., GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Vorbem. Art. 1-19. Rdn. 57; Würtenberger, Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970, S. 222. 175 Vgl. du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 20. 176 Maelicke, Entlassung und Resozialisierung, 1977, S. 24. 177 von Münch/Kunig-Schnapp, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 19 f.; Schmidt-Bleibtreu/Klein-ders., GO-Kommentar, 7. Aufl. 1990, Art. 20 Rdn. 20; vgl. auch schon BVerfGE 1, 97, 105. Zur Verpflichtung des Gesetzgebers zur (Re-)Sozialisierung explizit vgl. BVerfGE 33, 1, 10; 98, 163,204. 178 BVerfGE 35, 202, 235 f.; ebenso Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 318; Kampen/Rasehom, ZRP 1972, S. 21; Kury, Die Einstellung der Bevölkerung zum Rechtsbrecher und Strafvollzug, in: ders. (Hrsg.), Strafvollzug und Öffentlichkeit, 1980, S. 114; Münchbach, Strafvollzug und Öffentlichkeit, 1973, S. 2.
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung
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Auftrag richtet sich primär an den Gesetzgeber, der versuchen muß, mit seinen Gesetzen "soziale Gerechtigkeit" zu verwirklichen. Dem Gesetzgeber selbst ist dabei ein weiter Gestaltungsraum gegeben; welche Maßnahmen er ergreift 179, wie er die knapper werdenden Finanzmittel verteilt, bleibt ihm überlassen. Das Soziaistaatsprinzip fordert zwar nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, daß der Gesetzgeber in seinen Gesetzen dem (Re-)Sozialisierungsgedanken Rechnung trägt, es fordert aber keine konkreten Maßnahmen. Dafür ist das Sozialstaatsprinzip zu vage 180• Der Gesetzgeber wird durch die Herleitung der (Re-)Sozialisierung durch das Sozialstaatsprinzip nur dazu verpflichtet, die Rahmenbedingungen für die (Re-)Sozialisierung zu schaffen, indem er Regelungen erläßt, welche insbesondere die menschlichen Bindungen der Strafgefangenen fördern, damit diese nach der Entlassung einen Anknüpfungspunkt zur Eingliederung finden 181 • Bezüglich der menschlichen Bindungen ist dann wieder die Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte gefragt, welche zur Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens unverzichtbar sind. Schon hier wird deutlich, daß allein Verfassungsbestimmungen keinen (re-)sozialisierenden Strafvollzug herbeiführen können.
2. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Menschenwürde und der ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte Neben dem Sozialstaatsprinzip werden auch die Menschenwürde und die ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte zur Herleitung der (Re-)Sozialisierung herangezogen. Die Menschenwürde wird nicht klar definiert, sondern nach herrschender Meinung vor allem durch folgende drei Prinzipien konkretisiert: das Verbot systematischer Diskriminierung oder Demütigung, die Wahrung der menschlichen Subjektivität, die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz 182• Für den Strafvollzug sind alle drei Ausprägungen von großer Bedeutung. So steht die Menschenwürde häufig im Vordergrund, wenn sich Rechtsprechung und Literatur mit der Problematik von Strafvollzug und Verfassung beschäftigen. Dabei wird die Menschenwürde insbesondere bei der Beurteilung von Haftbedingungen heran179 von Münch/Kunig-Schnapp, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn.19; Degenhard, Staatsrecht I, 1993, Rdn. 358; Müller-Emmert, DRiZ 1976, S. 67; Schmidt-BleibtreuKlein-ders., GO-Kommentar, 7. Aufl. 1990, Art. 20 Rdn. 20. Zum Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Erfüllung des (Re-)Sozialisierungsauftrages vgl. BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht); BVerfGE 98, 169,204. 180 Siehe BVerfGE 31, 97, 105; BVerfGE 27, 253; bestätigend BVerfGE 38, 154, 170; 42, 126, 154; BVerfGE 50, 57, 108; Bieback, Jura 1987, S. 230, 236; Katzenstein, Das Soziaistaatsprinzip in der Rechtsprechung des BVerfG, ZSR 1985, S. 200 ff.; Merten, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1979 I 1980, S. 166. 181 Vgl. Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Fa11er, 1984, S. 319. 182 Exemplarisch Hofmann, in: FAZ 5. 8. 1988, S. 48; Maunz/ Dürig-ders., GO-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 1 Rdn. 41, 43; GrafVitzthum, JZ 1985, S. 204.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
gezogen 183 . Allen voran stellte das Bundesverfassungsgericht mehrfach fest, "daß die menschliche Würde unmenschliches, erniedrigendes Strafen verbietet, und daß der Täter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt der Vollstreckung herabgewürdigt werden darf.J 84• ,,Für den Strafvollzug bedeutet dies, daß die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen dem Gefangenen auch in der Haft erhalten bleiben müssen." 185 Anfang der siebziger Jahre wurde die Menschenwürde erstmals auch zur Herleitung der (Re-)Sozialisierung herangezogen. Den ersten Schritt machte das Bundesverfassungsgericht. Es entschied, daß die (Re-)Sozialisierung eines straffällig gewordenen Menschen "dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft entspricht, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt ( ... ). Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muß der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. I GG" 186. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete hier das aus Art. 2 I i.V.m. Art. I GG hergeleitete allgemeine Persönlichkeitsrecht als Grundrecht, das den Schutz der Menschenwürde gewährleistet. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht soll "die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen" 187 . Dariiber hinaus stellte das Bundesverfassungsgericht fest, "die Resozialisierung eines Straftäters ist ein genuin persönlichkeitsrelevantes Anliegen von hohem Rang" 188 . Das Persönlichkeitsrecht fordert insbesondere deshalb die (Re-)Sozialisierung Gefangener, weil die Persönlichkeit des Menschen auf Gemeinschaft ausgerichtet ist, ihm also diese auch in der Haft nicht vollständig vorenthalten werden kann. Damit hat das Bundesverfassungsgericht hier ebenso wie beim Sozialstaatsprinzip mit der lnbezugnahme auf das Persönlich183 Vgl. BVerfG Beschl. vom 16. 3. 1993-2 BvR 202193, NStZ 1993, S. 404 f.; OLG Hamm, NJW 1967, S. 2024; OLG Zweibriicken, NStZ 1982, S. 221; OLG Frankfurt, NStZ 1985, S. 572 f.; OLG Celle, NStZ 1990, S. 379; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 333 ff.; von Hinüber, StV 1994, S. 212 ff.; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 27 f. 184 BVerfGE 28, 386, 391; 45, 187, 228; 50, 125, 133; 50, 205, 215; 72, 105, 116. 185 BVerfG Beschl. vom 16. 3. 1993-2 BvR 202193, NJW 1993, S. 3190. 186 BVerfGE 35, 202, 235 f.; bestätigend BVerfGE 66, 337, 360; BVerfGE 86, 288, 312; BVerfG, Beschl. vom 7. 6. 1993-2 BvR 1907191, StV 1994, S. 94; BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547184 (unveröffentlicht); BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267195, StV 1997, S. 30; BVerfG, eschl. vom 2. 3. 1998-2 BvR 77197, NStZ 1998, s. 374. 187 BVerfGE 54, 148, 153. 188 BVerfG, Beschl. vom 25. 11. 1999- 1 BvR 348 I 98 und 755 I 98, NJW 2000, S. 1860.
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung
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keitsrecht den Aspekt der Gemeinschaft hervorgehoben. Hofmann drückt dies wie folgt aus: ,,Das gegenseitige Versprechen, uns als in gleicher Weise würdige Mitglieder des Gemeinwesens anzuerkennen, schließt es ( ... ) aus, irgend jemandem die Befugnis zuzugestehen, einem anderen Individuum diesen Status - aus welchen Gründen auch immer- prinzipiell abzuerkennen." 189 Damit hängt die Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus Art. 1 I GG und den sie konkretisierenden und entfaltenden Grundrechten ebenfalls mit der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit dieser Grundrechte zusammen 190• Dieser Aspekt hat zur Folge, daß trotz des faktischen Ausschlusses des Gefangenen aus der Gesellschaft während der Haft, ihm auch in der Justizvollzugsanstalt Möglichkeiten gegeben werden müssen, sich in einer Gerneinschaft zu betätigen. Das heißt, die Gerneinschaftsbezogenheit der die Menschenwürde gewährleistenden Grundrechte schließt einen reinen Verwahrvollzug, also vollständige Vorenthaltung der (Re-)Sozialisierung, aus 191 • Die Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Menschenwürde und der ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte ist mittlerweile allgernein anerkannt 192• Bedeutender ist allerdings das Sozialstaatsprinzip, weil dieses bestimmte Leistungsrechte beinhaltet. Dabei richtet es sich primär an den Gesetzgeber, der den (Re-)Sozialisierungsgedanken in den Gesetzen verankern muß. Demgegenüber beinhaltet die Menschenwürde weniger eine leistungsrechtsähnliche Fürsorgepflicht des Staates als vielmehr eine Abwehr von demütigenden Eingriffen und eine Mißachtung der menschlichen Subjektivität. So wird die Menschenwürde von der Literatur auch nicht in erster Linie als Grundlage, sondern als Grenze des (Re-)Sozialisierungsgedankens behandelt 193 . Danach verbietet das Gebot zur Achtung der Menschenwürde einen Zwang zur (Re-)Sozialisierung, sowie eine Indoktrination des Straffälligen in Richtung bestimmter Wertvorstellungen oder Weltanschauungen. Diese Verknüpfung von (Re-)Sozialisierung und Menschenwürde wird im 2. Kapitel unter V. ausführlich erörtert.
Hofmann, FAZ 5. 8. 1988, S. 48. Siehe Schewick, BewHi 1985, S. 5; vgl. auch BVerfGE 12, 45, 51; 28, 175, 189; 27, 253,282. 191 Vgl. Altenhain, ZfStrVo 1988, S. 160; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 331; Hoffrneyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 152; Lüderssen, KJ 1997, S. 180; siehe auch BVerfGE 33, 303, 334; 45, 187,227. 192 Stellvertretend Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 844 f.; Altenhain, ZfStrVo 1988, S. 160; Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 309; Feest, JA 1990, S. 223; Rössner, Muß Freiheitsstrafe sein?, in: Sievering (Hrsg.), Behandlungsvollzug- Evolutionäre Zwischenstufe oder historische Sackgasse?, 1987, S. 141. 193 Altenhain, ZfStrVo 1988, S. 160; Hoffrneyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 86 ff.; Lüderssen, KJ 1997, S. 179 ff.; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 28 ff. 189
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
3. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Rechtsstaatsprinzip Neben dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürde wird auch das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20, 28 GG mit dem (Re-)Sozialisierungsgedanken in Verbindung gebracht. So wird in der Literatur teilweise davon ausgegangen, daß, indem der Staat dem Straffälligen als Rechtsstaat gegenübertritt, ein erster Ansatz für dessen (Re-)Sozialisierung liege 194 . Es wird allerdings nicht hinreichend deutlieh, ob das Rechtsstaatsprinzip dabei als Voraussetzung oder aber als Rechtsgrundlage für die (Re-)Sozialisierung gesehen wird. Benda schreibt, "daß nicht nur Verbot und Strafdrohung für den Straftäter gelten, sondern ebenso der Schutz der rechtsstaatliehen Garantien, des Übermaßverbotes und eines geordneten Verfahrens dem Straffälligen in seiner Situation zukommen, ist Voraussetzung dafür, daß er sich überhaupt erst als Glied der Gesellschaft ftihlen kann. Das Ziel der Resozialisierung wäre im Ansatz verfehlt, könnte sich der Gefangene nicht darauf verlassen, daß die Rechtsordnung auch für ihn gilt" 195• Später führt Benda aus, daß "die staatliche Pflicht zur Resozialisierung vor allem auch aus dem sozialstaatliehen Auftrag des Grundgesetzes" folgt 196• Die Verwendung des Wortes "auch" deutet darauf hin, daß Benda das Rechtsstaatsprinzip neben dem Sozialstaatsprinzip zur Herleitung der (Re-)Sozialisierung mit heranzieht; erläutert dies jedoch nicht näher. Du Menil übernimmt die Worte Bendas, fUhrt die Verbindung zwischen Rechtsstaatsprinzip und (Re-)Sozialisierung jedoch nicht weiter197 . Gegen die Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Rechtsstaatsprinzip spricht, daß dies zu einer Ausuferung des ohnehin sehr komplexen Rechtsstaatsprinzips fUhrt. Es wird aus den Ausfrihrungen von Benda und du Menil nicht hinreichend deutlich, welche Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips eine (Re-)Sozialisierung Straffälliger garantieren sollen. Das Rechtsstaatsprinzip hat somit für die Herleitung der (Re-)Sozialisierung jedenfalls keine tragende Bedeutung. Es besteht aber dennoch eine Verknüpfung zwischen Rechtsstaatsprinzip und (Re-)Sozialisierungsgedanken. So ist das Rechtsstaatsprinzip eine unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens. Das Rechtsstaatsprinzip fordert die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlichen Handeins sowie die Möglichkeit des Rechtsschutzes. Lediglich durch diese Begrenzungen staatlichen Handeins wird ein rechtmäßiger, humaner Strafvollzug gewährleistet, der so wenig wie notwendig in die Rechte Strafgefangener eingreift. Ein solcher Strafvollzug ist Voraussetzung für eine erfolgreiche (Re-)Sozialisierung 198 . Darüber hinaus liegt die eigentliche 194 Berula, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 310; du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 19. 195 Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 310. 196 Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 310. 197 du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 19.
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung
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Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips in der Begrenzung der durch die (Re-)Sozialisierung erfolgenden Eingriffe in die Grundrechte der Strafgefangenen. Denn durch (Re-)Sozialisierungsbemühungen wird auch immer in die Rechte der Straffalligen eingegriffen, beispielsweise indem dem Gefangenen bestimmte Gegenstände weggenommen werden, die den (Re-)Sozialisierungsprozeß hindern. Diese Eingriffe dürfen aber nicht schrankenlos erfolgen, sondern bedürfen bestimmter Grenzen, die durch das Rechtsstaatsprinzip vorgegeben werden 199. Damit ist das Rechtsstaatsprinzip sowohl Voraussetzung für den (Re-)Sozialisierungsprozeß als auch die bedeutendste Grenze für Grundrechtseingriffe, die im Rahmen staatlicher (Re-)Sozialisierungsbemühungen einzuhalten sind. Für die Herleitung der (Re-)Sozialisierung erscheint das Rechtsstaatsprinzip jedoch ungeeignet.
4. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Schutzpflicht des Staates Das Bundesverfassungsgericht hat die (Re-)Sozialisierung ausschließlich aus dem Sozialstaatsprinzip und der Menschenwürde hergeleitet. Jedoch könnte man auch daran denken, daß aus der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates200 eine verfassungsrechtliche Aufgabe des Staates zur (Re-)Sozialisierung der Gefangenen gegenüber den Bürgern erwächst. Eine erfolgreiche (Re-)Sozialisierung verhindert den Rückfall und gewährt damit der Gesellschaft Schutz vor dem ehemals Straffruligen. Damit dient die (Re-)Sozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft vor Straftaten. Die Sicherheit der Bevölkerung gebietet insofern geradezu eine (Re-)Sozialisierung. Jedoch ist diese Form der Prävention nicht der einzige Weg für den Staat, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Theoretisch besteht die Möglichkeit, ehemals Straffrulige lebenslänglich einzusperren oder aber die Todesstrafe wieder einzuführen. Auch hierdurch würde die Gesellschaft geschützt und der Schutzpflicht des Staates Genüge getan. Der Staat ist aber nur generell zur Gewährleistung des Schutzes der Allgemeinheit verpflichtet. Auf welche Weise die Sicherheit der Bevölkerung im einzelnen sichergestellt wird, ist Sache legislatorischer Entscheidung201 . Denn darüber, welche Vorkehrungen vom Gesetzgeber zu treffen sind, um der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht Genüge zu tun, enthält die Verfassung keine inhaltlichen Regelungen202. Die Entscheidungsfreiheit des Gesetz198 Vgl. Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 10 f.; ebenso Ho.ffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 52. 199 Dazu siehe 2. Kapitel V. 2. 200 Dazu siehe 2. Kapitel I. 4. c) bb) (2). 2o1 BVerfGE 39, 1, 44; 46, 160, 164; 56, 54, 80; 77, 170, 215; 88, 203, 262 ff.; 92, 26, 46. 202 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 70 f.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
gebers wird lediglich durch die Wertgrundsätze der Verfassung begrenzt. Innerhalb des dadurch entstehenden Rahmens kann der Gesetzgeber die Mittel, die zur Zweckerreichung für erforderlich gehalten werden, selbst bestimmen203 . Folglich ergibt sich aus der staatlichen Schutzpflicht nicht gleichzeitig die staatliche Aufgabe, Straffällige zu (re-)sozialisieren. Die Pflicht kann auch auf andere Weise erfüllt werden. Somit kann aus der Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern keine staatliche Aufgabe zur (Re-)Sozialisierung hergeleitet werden.
5. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem Erziehungsauftrag des Staates In Betracht könnte auch eine Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus dem staatlichen Erziehungsauftrag kommen. Wie bereits erläutert, geht es bei der Betreuung der meisten Straffälligen nicht um eine Wiedereingliederung, sondern um eine erstmalige Eingliederung in die Gesellschaft204 • Die meisten Straftäter hatten in ihrer Jugend kaum Kontakt mit Sozialisationsinstitutionen. Dadurch, daß dem Staat ein Erziehungsauftrag gegenüber Jugendlichen zukommt, könnte er zu ihrer Sozialisation verpflichtet sein. Aus der fehlgeschlagenen Sozialisation vieler Jugendlicher könnte sich wiederum eine Art "Wiedergutmachungspflicht" des Staates auf (Re-)Sozialisierung gegenüber den nicht sozialisierten Straffälligen ergeben. Der Sozialisationsprozess ist ein lang andauernder komplexer Entwicklungsvorgang, der vielen Störungen unterliegen kann205 . Zahlreiche Kinder leben in Haushalten, in denen die Eltern arbeitslos sind, viele Jugendliche sind selbst arbeitslos, und fast 7000 Kinder und Jugendliche sind dauerhaft obdachlos oder leben in ähnlich stigmatisierenden Verhältnissen206• In dieser Umgebung werden Sozialisationprozesse gestört, bzw. findet zumeist gar keine Primärsozialisation statt. Dabei gibt es nach § I KJHG ein Recht des Kindes auf Erziehung, das die Sozialisation, die Befähigung, die persönlichen Fähigkeiten innerhalb der Gemeinschaft zu nutzen und die ihnen entsprechende soziale Rolle in der Gesellschaft zu finden urnfaßt207. Siehe 3. Kapitel 11. 2. Siehe Einführung D Il. 205 Carspecken, Resozialisierung und Jugendhilfe; ihre Möglichkeiten der Sozialerziehung, in: Deimling I Becker (Hrsg.), Sozialisation und Rehabilitation sozial Gefährdeter und Behinderter, 1973, S. 20. 206 Siehe Dünkel, Neue Kriminalpolitik 1/1994, S. 10 f.; Löwer; SZ 08. 06. 1999, S. 40; Schwind, Hat unsere Gesellschaft die Gewalttäter, die sie verdient?, in: BKA (Hrsg.), Aktuelle Phänomene der Gewalt, 1994,S. 31 f.; Strathenwerth, Die Woche 23. 07. 1999, S. 28. 207 Siehe von Münch/Kunig-von Münch, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 6 Rdn. 44; Wemer; Sozialisation als Bildungsauftrag, in: Deimling/Becker (Hrsg.), Sozialisation und Rehabilitation sozial Gefährdeter und Behinderter, 1973, S. 34. 203
204
II. Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung
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Diese einfachgesetzliche Regelung ergibt sich verfassungsrechtlich aus Art. 6 und 7 GG. Art. 7 I GG beinhaltet ein Recht zur schulischen Erziehung, einen "staatlichen Erziehungsauftrag" 208• Durch diesen Erziehungsauftrag stellt die öffentliche Schule i. S. d. Art. 7 GG eine wichtige Sozialisationsinstanz dar, so daß der Staat durch die verfassungsrechtliche Schulaufsicht verpflichtet ist, die Kinder und Jugendlichen zu sozialisieren209. Zu der generellen Erziehungsaufgabe durch die Schule kommt im Einzelfall hinzu, im Bedürfnisfall helfend, überwindend, stützend und fördernd durch bestimmte Maßnahmen oder Einrichtungen einzutreten, um die Eltern bei der Erziehung zu unterstützen210• Allerdings hat der Staat neben der Erziehung durch die Schule weder die Pflicht noch das Recht, Kinder und Jugendliche außerhalb der Schulen zu erziehen. Verfassungsrechtlich obliegt die Erziehung zunächst den Eltern, erst wenn diese versagen, darf der Staat nach Art. 6 III GG eingreifen. Dann besteht eine "gemeinsame Erziehungsaufgabe" von Eltern und Schule. Insgesamt hat der Staat dadurch "lediglich" ein Wächteramt zum Wohl des Kindes inne, das ihn zur Fürsorge und Unterstützung der Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben verpflichtet211 . Die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Erziehungsauftrages erfolgt durch eine effektive Sozialpolitik des Staates, durch die Bereitstellung von Sozialisationshilfen durch die Schule und die öffentliche Jugendhilfe212. Durch diesen Einfluß muß der Staat versuchen, Einflüssen der sogenannten Straßensozialisation und dem massenmedialen und Videobereich213 entgegenwirken. Aber auch wenn der Staat aus Art. 6 f. GG ein Erziehungsauftrag zukommt, der die Sozialisation beinhaltet, kann hieraus nicht im Umkehrschluß gefolgert werden, daß der Staat dadurch auch zur (Re-)Sozialisation verpflichtet ist. Eine Art "Wiedergutrnachungspflicht" könnte nur dann angenommen werden, wenn der Staat durch seine fehlende Hilfe zur Sozialisation der Jugendlichen die Straffälligkeitherbeigeführt hat. Unabhängig davon, wie stark man den Einfluß des Staates bei der Straffälligkeit der Bürger sieht214, kann doch nicht jegliche Straffälligkeit von Münch/Kunig-Hemmrich, GO-Kommentar 4. Aufl. 1992, Art. 7 Rdn. 14 f. Weschke, BewHi 1993, S. 261; zu den Schwierigkeiten durch die Schule zu (re-)sozialisieren, siehe Schwind, Hat unsere Gesellschaft die Gewalttäter, die sie verdient?, in: BKA (Hrsg.), AktuellePhänomene der Gewalt, 1994, S. 32 f. 210 Carspecken, Resozialisierung und Jugendhilfe; ihre Möglichkeiten der Sozialerziehung, in: Deimling/Becker (Hrsg.), Sozialisation und Rehabilitation sozial Gefährdeter und Behinderter, 1973, S. 20. 211 von Münch/Kunig-von Münch, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 6 Rdn. 44; Maunz/ Dürig-Maunz, 36. Lieferung 1999, Art. 6 Rdn. 26. 212 Dazu Gaschke, Die Zeit, 11. 05. 2000, S. 6; Simon, taz 28. 09. 1999, S. 17. 213 Dazu Schwind, Hat unsere Gesellschaft die Gewalttäter, die sie verdient?, in: BKA (Hrsg.), Aktuelle Phänomene der Gewalt, 1994, S. 28 ff.; Weschke, BewHi 1993, S. 272. 214 Dazu siehe Eser, in: Festschrift für Karl Peters 1974, S. 506 f., Münchbach, Strafvollzug und Öffentlichkeit, 1973, S. 131; Sessar, ZStW 81 (1969), S. 372 ff.; vgl. auch Klee, Resozialisierung, 1973, S. 45; Kury, Die Behandlung Straffailiger, 1986, S. 45. 208
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
auf ein Versagen der Gesellschaft und damit ein Versagen des Staates bei der Sozialisation zurückgeführt werden. Zum einen sind die Ursachen für Kriminalität sehr vielfältig215 . Zum anderen geht das Grundgesetz von einem freiverantwortlichen Menschen aus, der in der Lage ist, selbst Entscheidungen für sich und sein Leben zu treffen, und seine Zukunft nach eigener Wahl zu gestalten und zu verantworten216. Diesem Menschenbild würde es widersprechen, wenn dem einzelnen jede Verantwortung für die Wechselfälle des Lebens abgenommen würden und die Straffälligkeit des Einzelnen allein auf staatliches Versagen bei der Sozialisation zurückgeführt würde. Damit hat der Staat zwar eine Pflicht zur Sozialisation, aber hieraus kann keine "Wiedergutmachungspflicht" zur (Re-)Sozialisierung hergeleitet werden. Die verfassungsrechtliche Aufgabe der (Re-)Sozialisierung kann somit nur aus dem Sozialstaatsprinzip, Art. 20, 28 GG, und der Menschenwürde mit den ihren Schutz gewährleistenden Grundrechten, Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, hergeleitet werden. Eine Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip, der staatlichen Pflicht zum Schutz der Allgemeinheit der zur Sozialisation ist auch bei extensiver Auslegung der Verfassung nicht möglich.
III. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlicher Anspruch des StrafTälligen
1. Anspruch des StratTälligen auf (Re-)Sozialisierung Indem der (Re-)Sozialisierungsgedanke direkt aus der Verfassung hergeleitet wird, besitzt das (Re-)Sozialisierungsziel des Strafvollzuges Verfassungsrang217 . Es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen dieser Verfassungsrang für den einzelnen Strafgefangenen hat, welche Folgen sich für diesen aus dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebot ergeben. Das Bundesverfassungsgericht entschied erstmals im Jahre 1977, daß jedem Straffälligen "ein Anspruch auf Resozialisierung" zustehen muß218 ; zwanzig Jahre 21s Ausführlich dazu Kerner I Kury I Sessar; Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle 1983; Ostendorf, Informationen zur politischen Bildung 3/1995, S. l0ff. 216 Vgl. Ho.ffmeyer; Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 94; Katzenstein, Das Soziaistaatsprinzip in der Rechtsprechung des BVerfG, ZSR 1985, S. 205; Merlen, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1979/1980, S. 173 f.; siehe auch 2. Kapitel V. 1. c); siehe auch Schmidhäuser; Vom Sinn der Strafe, 1971, S. 68. 217 Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 25; Michael Walter; Strafvollzug, 1999, Rdn. 351; Feest, JA 1990, S. 223. 218 BVerfGE 45, 187, 239; ebenso BVerfGE 96, 100, 101; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997, NStZ 1998, S. 121; BVerfGE 98, 169,200.
111. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlicher Anspruch des Straff3.11igen
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später nahm es sogar ein "grundrechtlich geschütztes Interesse auf (Re-)Sozialisierung" an219• In der Literatur wird teilweise die Formulierung des "Anspruches" übernommen 220• Teilweise wird die (Re-)Sozialisierung auch explizit als "Grundrecht" bezeichnet221 , oder es wird von einem "Interesse" des Straffälligen an der (Re-)Sozialisierung gesprochen222• Unabhängig von der genauen Bezeichnung, hat der Gefangene ein verfassungsrechtliches Recht, einen Anspruch auf (Re-)Sozialisierung gegenüber dem Staat, indem aus dem Grundgesetz eine staatliche Aufgabe zur (Re-)Sozialisierung und ein verfassungsrechtliches Interesse des Straftäters auf (Re-)Sozialisierung hergeleitet wird223• Dieser verfassungsrechtliche Anspruch auf (Re-)Sozialisierung begründet allerdings noch keinen Anspruch der Strafgefangenen auf konkrete (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen. Die Verfassung fordert "lediglich", daß bei staatlichem Handeln der (Re-)Sozialisierungsgedanke beachtet wird und vor allem der Gesetzgeber in seinen Gesetzen der im Strafvollzug verfassungsrechtlich verbindlichen Aufgabe zur (Re-)Sozialisierung Rechnung trägt. Aus der inhaltlich relativ unbestimmten Staatszielbestimmung des Sozialstaatsprinzips und der Menschenwürde ergeben sich keine Anhaltspunkte, durch welche konkreten Maßnahmen ein (Re-)Sozialisierungsvollzug zu verwirklichen ist. Das Strafvollzugsgesetz ist dementsprechend innerhalb eines weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers entwickelt worden. Es enthält verschiedene Rechte der Strafgefangenen, welche die (Re-)Sozialisierung betreffen; ein einfachgesetzlicher Anspruch auf (Re-)Sozialisierung ist dagegen im Gesetz nicht kodifiziert. Aufgrund des Gestaltungsspielraumes der Legislative ist diese nicht dazu verpflichtet, ein generelles Recht Strafgefangener zur (Re-)Sozialisierung zu normieren. Sie muß auch nicht alle denkbaren Maßnahmen zur (Re-)Sozialisierung aufführen und den Gefangenen einen Anspruch auf diese gewähren. Vielmehr ergibt sich aus der Gestaltungsfreiheit und Einschätzungsprärogativeder Legislative, daß diese im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben selbst entscheiden kann, welche Maßnahmen sie für die (Re-)Sozialisierung erforderlich hält224• Sie ist lediglich an die vom Bundesverfassungsgericht BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133. So Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 298; Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 25; Britz, ZfStrVo 1999, S. 198. 221 Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 154 ff.; Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, S. 53 ff. Dagegen Heghmanns, ZStW 1999, S. 670, er geht davon aus, daß die (Re-)Sozialisierung nur einen Reflex aus den Gefahren der Grundrechtsbeeinträchtigung durch längerfristigen Freiheitsentzug darstellt, bestreitet aber einen verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsauftrag. Dies erscheint aber unter Berücksichtigung der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung zur (Re-)Sozialisierung nicht überzeugend. 222 Siehe du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 20. 223 Siehe 2. Kapitel Il. 224 Ausführlich dazu 3. Kapitel II. 2. 219 22o
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
aufgestellten Mindestanforderungen hinsichtlich eines das Ziel der (Re-)Sozialisierung verwirklichenden Strafvollzug gebunden. So hat die Legislative folgende Rechte Strafgefangener normiert, die die Ansprüche auf (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen gewähren: Gemäß §§ 11 ff. StVollzG darf der Vollzug gelockert werden, wenn nicht zu befürchten ist, daß der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen wird. Nach § 17 II StVollzG können sich die Gefangenen während der Freizeit in der Gemeinschaft mit anderen aufhalten. Gemäß § 19 StVollzG dürfen Gefangene ihren Haftraum in angemessenem Umfang mit eigenen Sachen ausstatten. Nach § 23 ff. StVollzG hat der Gefangene das Recht, mit Personen außerhalb der Anstalt durch Besuche, Schriftund Fernmeldeverkehr zu verkehren. Den Gefangenen soll nach § 29 StVollzG gestattet werden, einem freien Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Anstalt nachzugehen. Gemäß § 67 ff. StVollzG dürfen die Gefangenen bestimmte Freizeitbeschäftigungen ausüben. Nur wenn das Bundesverfassungsgericht diese Maßnahmen nicht für ausreichend erachtet und weitere (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen fordert, muß der Gesetzgeber diese normieren225 • Bis zur entsprechenden Kodifikation kann sich der Strafgefangene gegenüber der Exekutive lediglich auf die bisher normierten Rechte hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung berufen. Allerdings begründen auch diese Rechte nicht unbedingt Ansprüche auf bestimmte (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen gegenüber den Behörden. Denn zahlreiche Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes, insbesondere solche, die Vollzugslockerungen betreffen, stehen im Ermessen der Justizvollzugsanstalten. Ist der Strafgefangene hinsichtlich dieser Maßnahmen der Ansicht, eine (Re-)Sozialisierungsmaßnahme sei ihm rechtswidrig versagt worden, hat er gegenüber der Verwaltung nur ein Recht auf sachgerechte Ermessensausübung226• Bezüglich aller (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen hat der StraffaJ.lige aber zumindest das Recht, über die für ihn vorgesehenen Maßnahmen unterrichtet zu werden. Mit dem Strafgefangenen ist die Planung der Behandlung nach§ 6 III StVollzG zu erörtern, am besten zu erarbeiten227• Werden bestimmte Maßnahmen daraufhin im Vollzugsplan festgelegt, hat der Gefangene auf diese Maßnahmen einen verbindlichen Anspruch, es sei denn, daß der Gefangene selbst durch sein Verhalten im Vollzug Anlaß zu Abweichungen vom Vollzugsplan gibt228. 225 So beispielsweise die angemessene Entlohnung Strafgefangener als (Re-)Sozialisierungsrnaßnahrne, welche das BVerfG in der Entscheidung BVerfGE 98, 169 forderte. 226 Vgl. BVerfGE 89,315, 322 ff.; 96, 100, 115. 227 Dazu Kaiser; u. a.-Schöch, Strafvollzug, 1992, § 5 Rdn. 34; Müller-Dietz Grundfragen des strafrechtlichen Sank:tionssysterns, 1979, S. 141; Schwind/ Böhm-ders., StVollzG-Kornrnentar, 2. Aufl. 1999, § 4 Rdn. 11. 22s OLG Frankfurt, ZfStrVo 1985, S. 111; OLG München, StV 1992, S. 589; anders Kamann, StV 1994, S. 461.
III. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlicher Anspruch des Straffalligen
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Schlußfolgernd ist somit festzustellen, daß jeder Gefangene verfassungsrechtlich einen Anspruch auf (Re-)Sozialisierung als solches hat, jedoch nicht auf bestimmte (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen. Ein Recht auf bestimmte Behandlungen ergibt sich jedoch aus dem Strafvollzugsgesetz. Danach hat der Strafgefangene zum einen einen Anspruch auf die im Strafvollzugsgesetz normierten (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen, die einer gebundenen Entscheidung der Behörden unterliegen; bei anderen gesetzlich kodifizierten Maßnahmen, besteht nur ein Recht auf sachgerechte Errnessensausübung. Zum anderen hat der Strafgefangene einen gebundenen Anspruch auf die im Vollzugsplan kodifizierten Behandlungsmaßnahmen. Ein darüber hinausgehendes Recht auf sonstige (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen kann weder der Verfassung noch dem Strafvollzugsgesetz entnommen werden.
2. Durchsetzbarkeit des Anspruchs des Straff'älligen auf (Re·)Sozialisierung Nachdem festgestellt wurde, daß die Verfassung einen generellen Anspruch auf (Re-)Sozialisierung beinhaltet, ist fraglich, inwieweit dieser Anspruch durchsetzbar ist, inwieweit also ein subjektives Recht der Straffälligen auf (Re-)Sozialisierung besteht. Dies ist in der Literatur umstritten. Veith geht hinsichtlich der Durchsetzbarkeil dieses Anspruchs auf (Re-)Sozialisierung am weitesten. Er schließt aus der Formulierung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1977, daß der (Re-)Sozialisierung der Status eines sozialen Grundrechts zuerkannt werden muß229• Er begriindet die Stellung der (Re-)Sozialisierung als soziales Grundrecht damit, daß das Bundesverfassungsgericht aus der Verfassung einen staatlichen Anspruch auf staatliche Fürsorge zur Sicherung des Existenzminimums herleitet. Eine Ausprägung dieser staatlichen Pflicht zur Fürsorge ist nach verfassungsrechtlicher Rechtsprechung die (Re-)Sozialisierung Strafgefangener. Veith geht auch deshalb von einer grundrechtliehen Verbürgung staatlicher Leistungen zur Resozialisierung aus, weil nach ihm aufgrund der angesichts unverändert hoher Rückfallzahlen im "Normalvollzug" nachweislich eine Notwendigkeit staatlicher Hilfe zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung besteht230• Veith will allerdings die grundrechtliche Gewährleistung nicht auf die Schaffung optimaler Voraussetzungen zur Verwirklichung der (Re-)Sozialisierung ausdehnen, sondern auf die Garantie eines ,,Minimalstandards" beschränken231 • 229
Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993,
230
Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993,
231
Veith, Sicherungsmaßnahmen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993,
s. 57. s. 56.
s. 57.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Die Auffassung Veiths ist insofern auffallend, als insgesamt - unabhängig von der (Re-)Sozialisierung - eine ablehnende Haltung gegenüber der Anerkennung sozialer Grundrechte besteht. Bereits der Parlamentarische Rat hat bewußt von der Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung abgesehen232. Auch die "Gemeinsame Verfassungskommission" entschied sich nach der Wiedervereinigung gegen eine Aufnahme sozialer Grundrechte ins Grundgesetz233 . Die Ablehnung sozialer, über sozialstaatliche Basisanforderungen hinausgehender Grundrechte wird heute, neben deren liberal-staatlicher Herkunft, vor allem auf gewaltenteilig-demokratische Überlegungen gestützt. Die Entscheidung über die Gewährung leistungsstaatlicher Rechtspositionen des Bürgers unterliegt wegen der weitreichenden politischen und ökonomischen Konsequenzen der Verteilung der beschränkten finanziellen Ressourcen der staatlichen Aufgabenerfüllung des Parlaments234. Dies sei, so die herrschende Meinung in der Literatur, nicht nur aus Gründen der Gewaltenteilung erforderlich, sondern ergebe sich bereits aus ihrer unvermeidlichen tatbestandeichen Weite, aufgrund derer sich keine konkreten Anspruchsinhalte ableiten lassen235 . Infolgedessen versagt die ganz h.M. in der Literatur der (Re-)Sozialisierung den Status eines sozialen Grundrechts. Das heißt jedoch nicht, daß das Recht auf (Re-)Sozialisierung nur als Abwehrrecht verstanden wird. Da die Grundrechte auch eine objektive Wertordnung enthalten236, müssen sie reale Freiheit gewährleisten. Das erfordert nötigenfalls auch positive, fördernde Maßnahmen des Staates. Deswegen ergibt sich aus den Grundrechten eine umfassende Schutzpflicht des Staates, die sich nicht im Unterlassen von Eingriffen erschöpft, sondern sich auch auf die Gewährleistung eines Mindestmaßes notwendiger Maßnahmen erstrecken kann237 . Generell bleiben die Grundrechte dieser Ansicht nach jedoch auf 232 Vgl. BVerfGE 31, 97, 104 f.; BT-Drucks. 12/6000, S. 75; Bieback, Jura 1987, S. 236; Breuer, Jura 1979, S. 403; Anders die Europäische Sozialcharta, sie enthält eine Katalog mit verschiedenen sozialen Grundrechten, dazu Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung 1969, s. 59 ff.\ 233 BT-Drucks. 12/6000, S. 77 ff. 234 Grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 289; vgl. auch BT-Drucks. 12/6000 S. 80; Breuer; Jura 1979, S. 403; Brohm, JZ 1994, S. 216; Försterling, Methoden sozialtherapeutischer Behandlung im Strafvollzug und die Mitwirkungspflicht des Gefangenen, 1981, S. 69; Hoffmeyer; Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 157; Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform, 1970, S. 95 f.; siehe auch BVerfGE 22, 303, 333 f. 235 Brohm, JZ 1994, S. 216; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 289; Veith, Sicherungsmaßnalunen und Resozialisierung im Erwachsenenvollzug, 1993, s. 53 f. 236 BVerfGE 21, 362, 392; 33, 1, 12; 77, 170, 214; BVerfG, Beschl. vom 9. 2. 1998-1 BvR 2234/97, NJW 1998, S. 2962; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 71; Breuer; in: Festschrift für Konrad Redek, 1993, S. 51. 237 Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 81 f.; SchülerSpringorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 86; BVerfGE 33, 303; anders noch BVerfGE 1, 97.
III. (Re-)Sozialisierung als verfassungsrechtlicher Anspruch des Strafflilligen
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institutionelle, objektiv-rechtliche Verpflichtungen begrenzt, so daß die (Re-)Sozialisierung nicht als umfassender subjektiv-rechtlicher Anspruch gerichtlich durchgesetzt werden kann238. Diese Einstellung erscheint vorzugswürdig gegenüber der Ansicht Veiths. Es ist nicht erklärlich, warum das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung eine verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Sonderstellung gegenüber anderen Abwehrrechten und Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips erhalten soll. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können Leistungsansprüche aus dem Soziaistaatsprinzip in der Regel erst nach entsprechendem Tätigwerden des Gesetzgebers entstehen239 • Verfassungsrechtlich steht nur das Ob, die Verpflichtung zu "sozialpolitischer Aktivität"240 fest, nicht aber das Wie, so daß die Entscheidung, auf welche Weise jene sozialstaatliche Verpflichtung einzulösen ist, grundsätzlich nicht in den Zuständigkeitsbereich des Verfassungsgerichts fallen kann241 • Auch die Tatsache, daß Veith eine Begrenzung des Anspruchs auf den Minimalstandard vornimmt, ändert daran nichts. Die Begrenzung führt vielmehr dazu, daß die Grenzen zwischen einem subjektiv-rechtlichen Anspruch des Strafgefangenen und einer objektiv-rechtlichen Verpflichtung des Staates verwischen. Denn auch bei einer objektiv-rechtlichen Verpflichtung darf der Staat das aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitete Vollzugsziel nicht leerlaufen lassen, auch nicht unter Berufung auf finanzielle Erwägungen. Das Bundesverfassungsgericht stellte dies explizit im Jahre 1975 fest, als es entschied, daß "finanzielle Erwägungen oder organisatorische Schwierigkeiten" den Staat nicht daran hindem dürfen, "den Strafvollzug so auszugestalten, wie es zur Realisierung des Vollzugszieles erforderlich ist". Im "Rahmen des Zumutbaren" seien die geeigneten und nötigen gesetzlichen Maßnahmen zu treffen und die notwendigen personellen und sachlichen Mittel bereitzustellen242. Diese Entscheidung zeigt, daß auch das Bundesverfassungsgericht die (Re-)Sozialisierung nicht als soziales Grundrecht ansieht, weil es von einer objektiven Verpflichtung des Staates zur (Re-)Sozialisierung ausgeht, indem es die staatliche Verpflichtung zur (Re-)Sozialisierung durch den ,,Rahmen des Zumutbaren" einschränkt. Zudem zeigt die vom Bundesverfassungsgericht angenommene Verpflichtung des Staates, daß, auch wenn man die (Re-)Sozialisierung "nur" als objektiv-rechtliche Verpflichtung des Staates ansieht, der "Minimalstandard", wie Veith ihn fordert, verfassungsrechtlich hinreichend geschützt ist. Folglich wider238 Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 158; vgl. auch Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974, S. 168. 239 Siehe BVerfGE 27, 253; 31, 97, 105; 38, 154, 170; 42, 126, 154; 50, 57, 108.
BVerfGE 43, 213, 226; 53, 164, 184. Vgl. BVerfGE 44, 70, 89; 44,283, 290; 48,227, 234; 55, 100, 113. 242 BVerfGE 40, 276, 284; bestätigend BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht); siehe auch BVerfGE 36, 265, 275; ebenso KG Berlin, NStZ-RR 1998, s. 192. 240 241
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
spräche es nicht nur der Konzeption der Verfassung, sondern es ist auch nicht notwendig, der (Re-)Sozialisierung die Stellung eines sozialen, einklagbaren Grundrechts einzuräumen. Damit stellt die (Re-)Sozialisierung kein soziales Grundrecht dar, sondern der verfassungsrechtliche Anspruch auf (Re-)Sozialisierung beschränkt sich auf eine objektive Verpflichtung des Staates. Im Rahmen der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes muß das Recht auf (Re-)Sozialisierung aber auch als solche Verpflichtung reale Freiheit gewährleisten, d. h. insbesondere, der Staat darf den Anspruch auf (Re-)Sozialisierung nicht unter Berufung auf finanzielle Engpässe vollständig leerlaufen lassen.
IV. (Re-)Sozialisierung als verfassungsmäßige Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe 1. Geltung der Grundrechte für StrafTällige Die Geltung von Grundrechten für Strafgefangene wird seit jeher kontrovers diskutiert. Für die (Re-)Sozialisierung ist die Geltung von Grundrechten von Gefangenen deshalb von Bedeutung, weil der Anspruch auf (Re-)Sozialisierung voraussetzt, daß die Straffälligen auch im Falle ihrer Inhaftierung ihre Grundrechte nicht verlieren, sondern sich gegenüber den Vollzugsbehörden auf diese berufen können. Bis zum Ende der sechziger Jahre wurde davon ausgegangen, daß der Strafvollzug ein besonderes Gewaltverhältnis zwischen dem Strafgefangener und dem Staat darstellt. Zwar nahm man nicht an, daß durch dieses besondere Gewaltverhältnis die Grundrechtsgeltung nach Art. I III GG außer Kraft gesetzt wurde. Jedoch ging man von einer Modifikation der Grundrechtsgeltung aus, indem das besondere Gewaltverhältnis einen - wenn auch begrenzten - Einschränkungsgrund für die Geltung der Grundrechte darstellte 243 • Die Einschränkung wurde immer bei solchen Maßnahmen angenommen, welche für die Funktionsfähigkeit des Strafvollzuges als notwendig angesehen wurden. Sie hatten einen unbedingten Vorrang gegenüber den Grundrechten der Gefangenen, unabhängig davon, ob den jeweils eingeschränkten Grundrechten ein Gesetzesvorbehalt beigefügt war. Nicht eingeschränkt werden durfte nach dieser Lehre das Gebot der Achtung der Menschenwürde, Art. 1 I GG244• 243 Vgl. Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 17; Krüger, NJW 1953, S. 1372; Peters, IR 1972, S. 489 f.; Stern/Sachs, Das Staatsrecht in der BRD, Bnd. III/1, 1994, § 74 III 5 c); KG Berlin, NJW 1966, S. 1089; OLG Koblenz, NJW 1971, s. 531. 244 Vgl. von Münch, JZ 1958, S. 74; von Münch/Kunig-von Münch, GO-Kommentar, 4. Auf!. 1992, Vorbem. Art. 1- 19 Rdn. 59; Würtenberger. JZ 1967, S. 237.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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Ende der sechziger Jahre wurde dann erstmals in der Literatur eine umfassende Geltung der Grundrechte auch der Gefangenen propagiert245 . Diese Meinung setzte sich in den siebziger Jahren in Literatur und Rechtsprechung durch. Einhellig ging man davon aus, daß auch im Strafvollzug die Grundrechte nur in dem Maße einschränkbar sind, in dem die Schrankensystematik des Grundgesetzes dies zuläßt246 • Konkret bedeutet dies, daß nur in dem Umfang, in dem das Grundgesetz ausdrückliche Gesetzesvorbehalte aufweist bzw. ein Ausgleich mit kollidierendem Verfassungsrecht im Sinne praktischer Konkordanz geboten ist, dem Gesetzgeber ein gewisser Ermessensspielraum für die Ausgestaltung des Strafvollzuges zur Verfügung steht247 • Die Wesensgehaltsperre des Art. 19 II GG und die Menschenwürde, Art. 1 I GG, bilden dabei die absolute Grenze248 . Vor einiger Zeit entstand aber eine Nachfolgekonstruktion des besonderen Gewaltverhältnisses in der Literatur, das sogenannte "Sonderstatusverhältnis"249 • Nach der Lehre von dem Sonderstatusverhältnis stellt der Strafvollzug ein besonderes Lebensverhältnis dar, welches einer besonderen sachlichen Eigengesetzlichkeit unterliegt, die den allgemeinen staatsbürgerlichen Status modifiziert. Folge dieser Modifikation ist eine Beschränkung der Grundrechte über die Schrankensystematik des Grundgesetzes hinaus, und zwar in dem Umfang, der der Aufgabe verhältnismäßiger Zuordnung gerecht wird250 • Dabei soll die Eingriffsintensität dadurch begrenzt werden, daß ein Eingriff nur zulässig ist, soweit die Eigenart des Sonderstatusverhältnisseseine Begrenzung der Grundrechte erfordert, soweit der Umfang der Begrenzung der Aufgabe verhältnismäßiger Zuordnung gerecht wird251 . 245 Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 98; Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreforrn, 1970, S. 44; Würtenberger; JZ 1970, S. 454; ders., NJW 1970, S. 1748; ders., Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970, S. 223. Dieser Auffassung schloß sich 1972 das BverfG in der Entscheidung 33, 1 an, es lehnte die Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnis im Strafvollzug ab, weil dieses zuließe, "die Grundrechte des Strafgefangene in einer unerträglichen Unbestimmtheit zu relativieren". 246 Vgl. Chevalier; Die Einschränkbarkeil von Folgegrundrechten, 1992, S. 6; Feest, JA 1990, S. 223; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 14; Morlok, Strafvollzug und Grundrechte, in: Bernrnann/Manoledakis (Hrsg.), Problerne des staatlichen Strafens unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs, 1989, S. 48 ff.; Michael Walter; Strafvollzug, 1999, Rdn. 360. 247 Anders die Lehre der "Folgegrundrechte", wonach die Beschränkungen des Freiheitsgrundrechts auch für vorbehaltlose "Folgegrundrechte" gelten, vgl. Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreforrn, 1970, S. 92 f. Heute muß diese Auffassung jedoch als überholt gelten. Umfassend zur Problematik der Einschränkbarkeit von vorbehaltlosen "Folgegrundrechten" im Strafvollzug Chevalier; Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992. 248 Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kornrnentar, 7. Auf!. 1998, Einleitung Rdn. 27; vgl. auch BVerfG, Beschl. vorn 8. 12. 1993-2 BvR 736/90, NJW 1994, S. 1401. 249 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Auf!. 1995, Rdn. 322; Merten, in: Festschrift für Kar! Carstens, 1984, S. 739. 250 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Auf!. 1995, Rdn. 325 f. 251 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Auf!. 1995, Rdn. 326; vgl. auch Merten, in: Festschrift für Kar! Carstens, 1984, S. 739.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Die Geltung eines Sonderstatusverhältnisses ist jedoch umstritten252. Die inhaltliche Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen erfolgt nach Teilen der Literatur ausschließlich durch die Gesetzesvorbehalte bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt und bei vorbehaltlosen Grundrechten durch die verfassungsimmanenten Grenzen253 . Eine verfassungsimmanente Beschränkung ergibt sich insofern, als die Wesensgehaltsperre, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie der innere Zusammenhang der Grundrechtsnormen und Verfassungsprinzipien, denen das Bundesverfassungsgericht eine verbindliche Wertordnung entnimmt, auch die Ausübung vorbehaltloser Grundrechte begrenzen254. Für die Entbehrlichkeit des Sonderstatusverhältnisses spricht, daß bereits durch einen Ausgleich im Sinne der praktischen Konkordanz zwischen den Grundrechten der Strafgefangenen und den damit kollidierenden Erfordernissen des Strafvollzuges ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt werden kann. Dieses Ausgleichsprinzip kommt zur Anwendung "beim unmittelbaren Zusammentreffen kollidierender Verfassungsgüter, also insbesondere für den Fall, daß ausdrückliche Ermächtigungen zur Grundrechtsbegrenzung nicht vorhanden sind"255 . Dabei ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jeweils im Einzelfall zu entscheiden, eine situationsabhängige Güterahwägung vorzunehmen 256. Mittels des Ausgleichs im Sinne der praktischen Konkordanz ist eine Grundrechtseinschränkung der Strafgefangenen bereits dann zulässig, wenn die Funktionsfähigkeit des Strafvollzuges eine solche Einschränkung erfordert, wenn sie "unerläßlich" ist257 . Dies entspricht auch dem Wortlaut des§ 4 II StVollzG. Danach dürfen ohne besondere Regelung des Strafvollzugsgesetzes dem Gefangenen nur Beschränkungen auferlegt werden, "die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerläßlich sind". Dieser für nicht voraussehbare Fälle geschaffene Auffangtatbestand ist eng aus252 Siehe Bleckmann, DVBI. 1984, S. 996; Calliess/ Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Auf!. 1998, Einleitung Rdn. 28; Morlok, Strafvollzug und Grundrechte, in: Bemmann/ Manoledak.is (Hrsg.), Probleme des staatlichen Strafens unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs, 1989, S. 48. 253 Siehe Bleckmann, DVBI. 1984, S. 996; Morlok, Strafvollzug und Grundrechte, in: Bemmann/Manoledak.is (Hrsg.), Probleme des staatlichen Strafens unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs, 1989, S. 48. 254 Calliess/ Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Auf!. 1998, Einleitung Rdn. 28; BVerfGE 35, 79, 114. 255 Stern/Sachs, Das Staatsrecht der BRD Bnd.III/2, 1994, § 82 II 4. 256 Siehe BVerfGE 35, 202, 225, dazu auch: Stern/ Sachs, Das Staatsrecht in der BRD, Bnd. III II, 1994, § 82 II 4. 257 BVerfGE 33, 1, 13; 40 276, 284 und sich dieser Auffassung anschließend die Literatur, vgl. Morlok, Strafvollzug und Grundrechte, in: Bemmann/Manoledak.is (Hrsg.), Probleme des staatlichen Strafens unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs, 1989, S. 50 f.; Müller-Dietz, Diskussionsbeitrag in: ÖJT (Hrsg.), Strafvollzug im Spannungsfeld zwischen Grundrecht und Zielvorstellungen, 1992, S. 11; kritisch Stern/Sachs, Das Staatsrecht in der BRD, Bnd.III/1, 1994, § 74 III 5.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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zulegen 258 . "In dubio" gilt es also von der Vollständigkeit der gesetzlichen Regelung auszugehen und "pro libertate" zu entscheiden 259. Eine darüber hinausgehende Einschränkung von Rechten Strafgefangener durch die Konstruktion des Sonderstatusverhältnisses begründet die Gefahr, daß nicht zu hinreichend differenzierten Ergebnissen wie durch einen Ausgleich im Sinne der praktischen Konkordanz gelangt wird, sondern die Grundrechtseinschränkungen pauschal begründet werden260. Damit darf das Sonderstatusverhältnis im Strafvollzug keine Anwendung finden. Die Grundrechte Gefangener sollten ausschließlich durch die allgemeinen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Regeln beschränkt werden können.
2. Notwendigkeit der Eingriffe in Grundrechte Straffälliger Mit dem Verfassungsrang der (Re-)Sozialisierung eng verbunden sind verfassungsmäßige Eingriffe in die Rechte der Gefangenen. Bei diesen Grundrechtseingriffen ist zu differenzieren zwischen Eingriffen in das Recht auf (Re-)Sozialisierung und Eingriffen in andere Grundrechte zum Zweck der (Re-)Sozialisierung. Hier soll es zunächst um die Eingriffe in die Rechte von Straff!illigen aus Gründen der (Re-)Sozialisierung gehen. Anschließend wird die Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen Verfassungsgütern behandelt, die zu Eingriffen in das Recht auf (Re-)Sozialisierung führen kann. § 196 StVollzG bestimmt, daß die Grundrechte nach Art. 2 II 1, 2 GG, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person, sowie nach Art. 10 I GG, das Brief-, Post- und Femmeldegeheirnnis, durch das Gesetz beschränkt werden. Das bedeutet aber nicht, daß alle anderen Grundrechte uneingeschränkt gelten, es gibt eine Reihe von Grundrechtsbegrenzungen, für die das Zitiergebot nicht gilt261 .
Die Notwendigkeit weiterer Grundrechtseinschränkungen ergibt sich einerseits bereits aus der Definition des Strafvollzuges. Dieser bedeutet Vollzug der Freiheitsstrafe262, meint aber begrifflich und inhaltlich Freiheitsentzug. Damit sind 258 Grunau/Tiesler; StVollzG-Komrnmentar, 2. Aufl. 1982, § 4 Rdn. 4; Kaiser u. a.Schöch, Strafvollzug, 1992, § 5 Rdn. 13; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 18 f. 259 Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl. 1992, § 4 1. b). 260 Vgl. Morlok, Strafvollzug und Grundrechte, in: Bemmann/Manoledakis (Hrsg.), Probleme des staatlichen Strafens unter besonderer Berücksichtigung des Strafvollzugs, 1989, s. 51. 261 Dazu Kaiser u. a.-Schöch, Strafvollzug, 1992, § 5 Rdn. 14; Maunz/ Dürig-Herzog, GG-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 19 I, Rdn. 56 ff.; von Münch/Kunig-Krebs, GGKommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 19 Rdn. 16 f. ; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 14. Aufl. 1998, Rdn. 311. 262 Zur Definition siehe Friederich, ZfStrVo 1994, S. 14; Kaiser; u. a.-Müller-Dietz, Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 1993, S. 507.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
notwendigerweise Maßnahmen umfaßt, die dem Schutz vor Ausbruch und Entweichung des Gefangenen dienen263 . Somit werden im Strafvollzug zahlreiche Grundrechte Gefangener aus Gründen der Sicherheit eingeschränkt264• In der Justizvollzugsanstalt wird aber nicht nur aus Sicherheitserwägungen in die Grundrechte Gefangener eingegriffen, sondern Grundrechtseingriffe können auch aus Gründen der (Re-)Sozialisierung erfolgen und gerechtfertigt werden265 . Das ergibt sich schon daraus, daß insbesondere im Strafvollzug die (Re-)Sozialisierung nicht nur Hilfe, sondern zunächst einmal Zwang ist. Für den Betroffenen dürfte der Zwangscharakter der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug sogar im Vordergrund stehen. Zwar besteht nach dem Strafvollzugsgesetz keine Pflicht des Gefangenen zur Mitwirkung an seiner (Re-)Sozialisierung, sondern das Gesetz geht in§ 4 StVollzG lediglich davon aus, daß die (Re-)Sozialisierung die tätige Mitwirkung des Gefangenen erfordert266. Jedoch ist der "(Re-)Sozialisierungsvollzug" im Strafvollzugsgesetz nicht durchweg als zwangsfreier Vorrang konzipiert267 . Chevalier geht sogar davon aus, daß die Verpflichtung des Staates zur (Re-)Sozialisierung eine "völlige Leerformel" wäre, bestünden keine Duldungspflichten des Gefangenen in dem vom Strafvollzugsgesetz vorgegebenen Rahmen aus Gründen (re-) sozialisierungsmotivierender Behandlung268. Diese Duldungspflichten ergeben sich schon dadurch, daß die Strafvollzugsbehörde ihrer aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleiteten Verpflichtung zur (Re-)Sozialisierung der Strafgefangenen nachkommt. Dadurch beschneidet sie die Freiheit des einzelnen Strafgefangenen, sie unterwirft ihn einem zur Erreichung des Vollzugszieles angelegten Tagesablauf und greift so in zahlreiche Rechte der Gefangener ein. Aber nicht nur im Strafvollzug auch bei anderen Formen der Strafvollstreckung werden Eingriffe in die Grundrechte Straffälliger mit der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt.
263 Müller-Dietz, Strafzwecke und Vollzugsziel, 1973, S. 14; BVerfG, Beschl. vom 6. 4. 1976-2 BvR 61/76, NJW 1976, S. 1312 f. 264 Dazu siehe auch 6. Kapitel III. 3. g). 26s BVerfGE 40, 284 f.; 64, 261, 290; OLG Nürnberg, NStZ 1990, S. 377; Volckan, BewHi 1985, S. 25; Michael Walter, Strafvollzug, 1999, Rdn. 361. Eine Zusammenstellung der Vorschriften des StVollzG, welche aus (Re-)Sozialisierungsgründen Grundrechte Gefangener einschränken, finden sich bei Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionssystems, 1979, S. 163. 266 Anders das Österreichische Strafvollzugsgesetz, § 107 I Z 10 i.V.m. § 25 IV StVG sieht eine vollzugsinterne Strafe vor, falls es ein Gefangener unterläßt, die auf seine (Re-)Sozialisierung "gerichteten Bemühungen nach Kräften zu unterstützen". 267 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 847 ff.; Lüderssen, KJ 1997, S. 180; Müller-Dietz, ZfStrVo 1998, S. 328; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 332. 268 Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 64.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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3. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseinschränkungen269 a) Eingriff in Grundrechte StratTiilliger durch die Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung nach §§ 56 tT. StGB Ein Eingriff in die Grundrechte Straffälliger, der aus Gründen der (Re-)Sozialisierung erfolgt, ist die Anordnung eines Bewährungshelfers nach § 56 d I StGB bei der Strafaussetzung zur Bewährung. Das Gericht unterstellt den Verurteilten der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers, wenn dies seiner Auffassung nach angezeigt ist, um ihn vor Straftaten abzuhalten. Der Bewährungshelfer soll auf den Probanden einwirken. Er überwacht, daß der Proband die erteilten Auflagen und Weisungen, insbesondere die Weisung zur Arbeit270, einhält. Bei seiner Tätigkeit ist der Bewährungshelfer nach § 56 d III StGB verpflichtet, dem Gericht in regelmäßigen Abständen über die Lebensführung des Verurteilten zu berichten. Voraussetzung für diesen Bericht ist, daß der Bewährungshelfer die Lebensführung des Verurteilten kennt, verfolgt und falls erforderlich, helfend eingreift. Indem der Bewährungshelfer damit persönliche Lebenssachverhalte des Probanden offenbart, greift er in das aus Art. 2 I GG hergeleitete informationeile Selbstbestimmungsrecht271 ein. Denn das Recht auf informationeile Selbstbestimmung beinhaltet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden272. Diese Entscheidung besteht für den einem Bewährungshelfer unterstellten Verurteilten nicht mehr. Dieser Eingriff müßte verfassungsmäßig sein. Dabei ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, wonach der mit dem Eingriff verfolgte Zweck und das hierfür eingesetzte Mittel als solche rechtmäßig sein müssen und der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks geeignet und notwendig sein muß. Zweck dieses Eingriffs ist eine umfassende Information des Bewährungshelfers, um eine positive Änderung der Verhaltensweisen und Bewältigung der sich ergebenden Probleme erreichen zu können, damit der Straffällige künftig ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten führt. Damit ist der Zweck des Eingriffs 269 Außer Betracht bleiben im Folgenden Eingriffe, die aufgrund des Weisungskataloges des § 56 c StGB erfolgen. Die dort aufgeführten Weisungen sollen dazu beitragen, daß der Verurteilte während der Bewährungszeit keine Straftaten mehr begeht. Zur Verfolgung dieses Zieles greifen die Maßnahmen des Kataloges geringfügig in verschiedene Grundrechte ein; zumeist ist die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG betroffen. 270 Dazu ausführlich Zöbeley, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 346 ff. 271 Siehe dazu: BVerfGE 65, 1; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 14. Aufl. 1998, Rdn. 373. 2n Vgl. BVerfGE 65, 1, 41 f. ; 80, 367, 372.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
in Art. 2 I GG die (Re-)Sozialisierung273 . Diese ist ebenso wie Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung grundsätzlich rechtmäßig. Die Rechtmäßigkeit des Zweck-Mittel-Verhältnisses setzt voraus, daß der Eingriff zur (Re-)Sozialisierung geeignet und notwendig ist. Der Bewährungshelfer beeinflußt den Probanden und ermöglicht ihm eine erfolgreiche Hilfe zur Selbsthilfe, wenn er ihn betreut. Das ist ihm nur möglich, wenn er den Probanden kennt und Informationen über sein Leben hat. Nur dann besteht die Möglichkeit, daß der Verurteilte durch den Bewährungshelfer lernt, künftig eigenverantwortlich sein Leben ohne Straftaten zu führen, also (re-)sozialisiert zu werden. Damit ist der Eingriff zur Erreichung des (Re-)Sozialisierungszieles geeignet und notwendig. Dies wird auch daran deutlich, daß die Rückfallquote von Straftätern, deren Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt ist, wesentlich geringer ist als die Rückfallquote von Strafgefangenen274. Das spricht für eine (re-)sozialisierenden Wirkung der Freiheitsstrafe auf Bewährung. Weiterhin muß der Eingriff in Art. 2 I GG angemessen sein. Vereinbarkeit liegt nur dann vor, wenn sich der Bewährungshelfer auf Eingriffe beschränkt, die für einen erfolgreichen (Re-)Sozialisierungsprozeß unabdingbar sind, das heißt von der Sache her geboten sind und die personale Selbständigkeit des Probanden nicht aufheben. Damit muß sich die Überwachung des Probanden auf die Umstände beschränken, die für ein erneutes Straffälligwerden wichtig sein könnten275 . Eingriffe in die Privatsphäre, die in keinem direkten Zusammenhang mit möglicher Straffälligkeit stehen, müssen unterbleiben. Werden die Eingriffe in das Recht auf informationeile Selbstbestimmung nach Art. 2 I GG dahingehend begrenzt, sind sie angemessen und durch die (Re-)Sozialisierung verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
b) Eingriffe in Grundrechte StrafTalUger durch die Anordnung der Maßregel des Berufsverbotes nach § 70 StGB Durch die Anordnung der Maßregel des Berufsverbotes nach § 70 StGB wird ebenfalls in Grundrechte von Straffälligen aus Gründen der (Re-)Sozialisierung eingegriffen. Gemäß § 70 I 1 StGB kann das Gericht die Maßregel des Berufsverbots für den Straffälligen anordnen, wenn die Gefahr besteht, daß er bei weiterer Ausübung des Berufes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Nach § 70b II StGB kann die Aussetzung und Erledigung des Berufsverbots aus dem gleichen Grunde auch widerrufen werden. 273 Zu den Grenzen der (Re-)Sozialisierung durch einen Bewährungshelfer siehe Biniasch/Kress!Tenhaven, BewHi 1988, S. 19 ff. 274 Siehe Kaiser I Kerner I Schöch-Kemer, Kleines kriminologisches Worterbuch, Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 81; Paulsen, in: Dokumentation der Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion am 30. Januar 1990 in Bonn, Wiedereingliederung Straffälliger durch nicht freiheitsentziehende Mitßnahmen, 1990, S. 40. 275 Schewick, BewHi 1985, S. 8.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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Die Anordnung eines Berufsverbots stellt einen Eingriff in Art. 12 I GG dar. Ein solcher Eingriff kann durch ein verfassungsmäßiges Gesetz nach dem Gesetzesvorbehalt des Art. 12 I GG gerechtfertigt werden. Das Art. 12 I GG einschränkende Gesetz muß seinerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen276. Das einschränkende Gesetz stellt § 70 StGB dar. Hierdurch wird in die Berufsfreiheit zum Schutz der Allgemeinheit eingegriffen. Dabei soll der Schutz der Allgemeinheit dadurch gewährleistet werden, daß es dem Täter unmöglich gemacht wird, begangene Taten, die mit seinem Beruf zusammenhingen, zu wiederholen277 . Es soll somit auch angestrebt werden, daß der ehemals Straffällige nicht wieder rückfällig wird, sondern künftig ein Leben ohne Straftaten führt, also (re-)sozialisiert wird278 • Dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wird dadurch Rechnung getragen, daß in § 70 I 1 StGB eine Abstufung des Berufsverbotes hinsichtlich des Berufes, des Berufszweiges, des Gewerbes und des Gewerbezweiges vorgenommen wird. Außerdem wird das Berufsverbot in einer unterschiedlichen Dauer angeordnet, abhängig von der Gefahr weiterer Straftaten durch den Straffälligen nach § 70 I 2, 3 StGB. Somit wird die Intensität des Eingriffs abhängig gemacht von dem erforderlichen Schutz der Allgemeinheit vor dem einzelnen Täter und damit mit seiner (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit. Im Rahmen strikter Verhältnismäßigkeitkann insofern der Eingriff in die Berufsfreiheit durch § 70 StGB unter Berücksichtigung der (Re-)Sozialisierung als überragendem Gemeinschaftsgut gerechtfertigt werden279. Unter Berücksichtigung der Abstufung des Berufsverbotes sind Eingriffe in die Berufsfreiheit also, geeignet, erforderlich und angemessen, um den Zweck der (Re-)Sozialisierung zu erreichen. Insgesamt ist damit der Eingriff in die Berufsfreiheit durch § 70 StGB aus Gründen der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt.
c) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt aa) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Behandlungsuntersuchung nach § 6 StVollzG Wie bereits dargelegt, erfolgen im Strafvollzug besonders viele Grundrechtseingriffe, um das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung zu erreichen280 • Der erste 276 Dazu Maunz/Dürig-Papier; GO-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 12 Rdn. 317; von Münch/Kunig-Gubelt, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 12 Rdn. 74; siehe auch BVerfGE 33, 303. 277 Siehe Schönke/Schröder-Eser; StOB-Kommentar, 25. Aufl. 1997, § 70 Rdn. 9. 278 Siehe Tröndle!Fischer; StOB-Kommentar, 49. Aufl. 1999, § 70 Rdn. 7; Zöbeley, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 348. 279 BVerfG 55, 28, 31, Zöbeley, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 348; siehe auch BVerfGE 25, 88, 101. 280 Siehe 2. Kapitel IV. 2.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Eingriff erfolgt bereits bei der Einlieferung in den Vollzug. Gemäß § 6 I StVollzG findet zu Beginn der Haft eine Behandlungsuntersuchung statt, erforscht werden die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Gefangenen. Ziel dieser Maßnahme ist es, die nötigen Kenntnisse für eine planvolle Behandlung zu erlangen. Eine planvolle Behandlung besteht grundsätzlich darin, durch bestimmte Maßnahmen das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung zu erreichen. Daß die Erforschung der Lebensverhältnisse des Gefangenen auch durch Datenerhebung und -nutzung geschehen darf, stellen die §§ 179 f. StVollzG klar281 . Die Erforschung der Lebensverhältnisse des Gefangenen zur (Re-)Sozialisierung stellt einen Eingriff in das Recht auf informationeile Selbstbestimmung nach Art. 2 I GG dar. Der Eingriff in Art. 2 I GG hat zum Ziel, Ansatzpunkte dafür zu finden, warum der Straffällige sich in der Tatsituation entsprechend verhalten hat, ob die Tat auf Sozialisationsdefiziten beruht und wenn ja, wie diese zu beheben sind. Diese Kenntnisse sind Voraussetzung für Behandlungsangebote, die auf den einzelnen Gefangenen und seine Bedürfnisse abgestimmt sind, und stellen damit den erster Schritt einer erfolgreichen (Re-)Sozialisierung dar282 • Somit ist der Eingriff für eine (Re-)Sozialisierung während der Zeit des Vollzuges geeignet und erforderlich. Wenn der Eingriff auf die für diese Kenntnisse notwendigen Informationen begrenzt wird und nach § 6 I 2 StVollzG bei einer für (re-)sozialisierende Vollzugsmaßnahmen zu kurzen Haftdauer entfallt, ist der Eingriff auch angemessen. Unter diesen Voraussetzungen ist der Eingriff in das Recht auf informationeile Selbstbestimmung aufgrund der Wichtigkeit der Informationen für die Erreichung der mit Verfassungsrang ausgestatteten Vollzugszieles verfassungsmäßig.
bb) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Verlegung eines Gefangenen nach§§ 8f StVollzG, § 67a StGB Auch durch die Verlegung eines Gefangenen nach §§ 8 f. StVollzG, § 67a StGB erfolgen Grundrechtseingriffe, die durch die (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt werden können. Nach §§ 8 f. StVollzG darf der Strafgefangene in eine andere Anstalt verlegt werden, "wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird". Dabei ist seit 1998 die Zustimmung von Straffälligen, die gegen§§ 174-180, 182 StGB verstoßen, also ein Sexualdelikt begangen haben, bei der Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt nicht mehr erforderlich. Ebenso bestimmt§ 67a StGB, daß der Straffällige in den Vollzug der anderen Maßregel überwiesen werden kann, "wenn die Resozialisierung des Täters dadurch besser gefördert werden kann". Des weiteren ermöglicht § 10 II StVollzG, den Gefangenen trotz Eignung für den offenen Vollzug Ausführlich dazu Vassilaki, BewHi 1999, S. 140 ff. Vgl. Jung, JuS 1986, S. 50; Försterling, Methoden sozialtherapeutischer Behandlung im Strafvollzug und die Mitwirkungspflicht des Gefangenen 1981, S. 48 f.; Würtenberger; Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970, S. 206. 281
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IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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in geschlossenen Anstalten unterzubringen, wenn dies für seine Behandlung notwendig ist. Die Verlegung eines Gefangenen greift grundsätzlich in sein durch den Freiheitsentzug ohnehin beschränktes Recht auf Freiheit nach Art. 2 II 2 GG ein. Ein solcher Eingriff kann durch ein verfassungsmäßiges Gesetz nach dem Gesetzesvorbehalt des Art. 2 II 3 GG gerechtfertigt werden. Die Verlegung des Gefangenen erfolgt nach § 8 f. StVollzG, § 67a StGB. Zweck des Eingriffs in Art. 2 II 2 GG ist die angestrebte (Re-)Sozialisierung des Taters. Durch die Verlegung sollen beispielsweise Besuche der Familie erleichtert werden, um so die Integration zu fördern oder aber bei der Verlegung in eine Entziehungsanstalt die Suchtprobleme, die eine (Re-)Sozialisierung erschweren, gelöst werden. Da Grundlage eines Behandlungsvollzuges eine die (Re-)Sozialisierung des Einzelnen fördernde Einrichtung ist, kann eine Verlegung auch erfolgen, um dem Gefangenen bestimmte (re-)sozialisierungsfördernde Maßnahmen, bspw. Berufsbildungsmaßnahmen, zu ermöglichen. Aus finanziellen Gründen können nicht überall die gleichen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen angeboten werden, so daß die Möglichkeit bestehen muß, den Strafgefangenen in einer Einrichtung unterzubringen, welche die für ihn "passende" (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen anbietet283 • Eine Verlegung aus diesen Gründen ist grundsätzlich geeignet und erforderlich, die (Re-)Sozialisierung des Straftäters zu fördern. Der Eingriff in Art. 2 II 2 GG ist grundsätzlich angemessen, wenn alle für und gegen die (Re-)Sozialisierung sprechenden Faktoren hinreichend abgewogen werden; dazu gehört insbesondere die günstigen Sozialbeziehungen am Ort des Vollzuges bei der Verlegung zu berücksichtigen. Wird eine Verlegung unter diesen Gesichtspunkten vorgenommen, sind die Eingriffe in Art. 2 II 2 GG gerechtfertigt, um dem Gefangenen die Möglichkeit zur (Re-)Sozialisierung zu geben. cc) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Vorenthaltung bestimmter Gegenstände nach §§ 68, 70 StVollzG
Eingriffe in die Grundrechte Gefangener erfolgen auch durch die Vorenthaltung bestimmter Gegenstände nach §§ 68, 70 StVollzG. Nach § 70 II Nr. 2 StVollzG darf der Gefangene bestimmte Gegenstände zur Fortbildung oder zur Freizeitbeschäftigung nicht besitzen, "wenn der Besitz, die Überlassung oder die Benutzung des Gegenstandes das Ziel des Vollzuges ( .. . ) gefährden würde". Gemäß § 68 II 2 StVollzG dürfen dem Gefangenen bestimmte Zeitungen und Zeitschriften vorenthalten werden, wenn diese das Vollzugsziel gefahrden. Die Wegnahme bzw. 283 Dies gilt beispielsweise für das Angebot an Ausbildungsplätzen. Selten haben geschlossene Vollzugsanstalten für den Erwachsenenvollzug mehr als 3-4 Fachrichtungen für Ausbildungsplätze, vgl. die von den Justizministern herausgegeben Broschüren. Beispielsweise für NRW die Broschüre Berufsbildungsangebote in Justizanstalten des Landes NRW (1. 10. 1997-31. 5. 1999), 1997, sowie für Bayern die Übersicht Strafvollzug in Bayern 1999, s. 15 f.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Vorenthaltung bestimmter Gegenstände ist also nach dem Strafvollzugsgesetz möglich, wenn diese Gegenstände eine (Re-)Sozialisierung verhindern. Werden dem Gefangenen aufgrund dieser Vorschriften bestimmte Gegenstände weggenommen, so wird zunächst in das Eigentumsrecht nach Art. 14 I I GG eingegriffen. Der Eingriff in Art. 14 I 1 GG steht nach Art. 14 I 2 GG unter einem Gesetzesvorbehalt Dieser Gesetzesvorbehalt ist durch die §§ 68, 70 StVollzG genutzt worden. Die Vorschriften gestatten einen Eingriff in Art. 14 I GG, wenn dieser Eingriff durch das mit Verfassungsrang ausgestattete (Re-)Sozialisierungsgebot gerechtfertigt ist. Zunächst soll zur einer Wegnahme von Gegenständen im Sinne des § 70 StVollzG Stellung genommen werden. Ein verfassungsmäßiger dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechender Eingriff in Art. 14 I GG setzt wiederum zunächst voraus, daß der Eingriff geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. Der Eingriff in Art. 14 I GG soll vorliegend der (Re-)Sozialisierung dienen. Inwieweit aber Gegenstände, die der Fortbildung und Freizeitbeschäftigung dienen und damit gerade die eigenverantwortliche Entwicklung des Straffälligen fördern, eine (Re-)Sozialisierung des Strafgefangenen verhindern können, erscheint fraglich. Die wenigen Entscheidungen, welche zu dieser Vorschrift ergangen sind, sind stark umstritten284. Auch das Bundesverfassungsgericht befürwortet eine restriktive Auslegung des§ 70 StVollzG. So stellte es in der Senatsentscheidung BVerfGE 41, 329 fest, daß es nicht ersichtlich sei, "inwieweit die Aushändigung einer einem Strafgefangenen zugeschickten unbeschriebenen Ansichtskarte den geordneten Strafvollzug innerhalb der Anstalt oder das Ziel des Strafvollzuges gefährden können sollte. Das ließe sich nicht einmal dann behaupten, wenn die Ansicht des Oberlandesgerichts richtig wäre, daß die Möglichkeit der postalischen Verwendung der Postkarte nicht als ausgeschlossen angesehen werden könnte ( . . . )". Grund für diese Entscheidung ist, daß ein gewisses Maß an Privatsphäre, zu der auch der Besitz von Erinnerungsstücken gehört, sowie eine sinnvolle Beschäftigung der Gefangenen wichtige Voraussetzungen einer erfolgreichen (Re-)Sozialisierung sind. Folglich sind Eingriffe in Art. 14 I GG nur in absoluten Ausnahmefällen geeignet, das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot zu verwirklichen. Das ist nur dann der Fall, wenn es um Gegenstände geht, die in irgendeiner Form mit der begangenen Tat und zu erwartender weiterer Taten zusammenhängen. Die 284 Vgl. die Entscheidungen des OLG Frankfurt, ZfStrVo 1983, S. 314 f.; LG Harnburg, NStZ 1988, 332 f. dar, wonach der "Ratgeber für Gefangene" aus Gründen der (Re-)Sozialisierung nicht ausgehändigt werden darf. Diese Urteile sind jedoch stark umstritten, und es ist fraglich, ob es bei diesen Entscheidungen nicht mehr um die Sicherheit und Ordnung der Anstalt ging. Ähnlich umstritten ist die Entscheidung des OLG Harnm, NStZ 1992, S. 559, ZfStrVo 1992, S. 136 ff., betreffend des Anhaltens der sich an den "Ratgeber für Gefangene" anlehnende Broschüre "Positiv, was nun?". Unter Berufung auf die Sicherheit und Ordnung gibt es demgegenüber zahlreiche Entscheidungen bezüglich der ,,zensurpraxis" bei § 70 StVollzG, vgl. OLG Frankfurt, OLG Celle, OLG Koblenz, NStZ 1989, S. 425 f.; LG Arnsberg, OLG Frankfurt a.M., OLG Harnm, NStZ 1990, S. 381 f.; OLG Harnm, NStZ 1996, s. 253.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung ftir Grundrechtseingriffe
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Vorschrift § 70 II Nr. 2 StVollzG ist also restriktiv auszulegen. Nur wenn die Wegnahme des Gegenstandes zur (Re-)Sozialisierung geeignet ist und im Einzelfall erforderlich und angemessen, kann der Eingriff in Art. 14 I GG durch die Wegnahme von Gegenständen mit dem Ziel der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt werden. Auch ein§ 68 II 2 StVollzG entsprechender Eingriff in Art. 14 I S. I GG ist verfassungsrechtlich kaum zu rechtfertigen. Bei der Rechtfertigung eines solchen Eingriffs fehlt es wieder an der Geeignetheit des Mittels den Zweck der (Re-)Sozialisierung, zu erreichen. Denn inwieweit Zeitschriftenartikel eine (Re-)Sozialisierung tatsächlich gefährden können, erscheint fraglich. Das Interesse der Gefangenen, sich zu informieren, bestimmte Zeitschriften zu abonnieren etc., stellt sich als Schritt in die Eigenverantwortlichkeit der Straffalligen dar und fördert somit eher die (Re-)Sozialisierung, als daß diese gefahrdet wird. Etwas anderes gilt bei Zeitungen, deren Verbreitung mit Strafe bedroht ist. Aber diese Zeitschriften sind bereits nach § 68 II 1 StVollzG ausgeschlossen. Ein Eingriff dahingehend, daß dem Gefangenen Zeitschriften vorenthalten werden, deren Verbreitung nicht mit Strafe bedroht ist, ist daher nicht gerechtfertigt. Damit erscheint ein solcher Eingriff unverhältnismäßig und somit verfassungswidrig285 . Die Vorenthaltung von Zeitungen stellt gleichzeitig einen Eingriff in die Informationsfreiheit nach Art. 5 I 2. HS. GG dar. Dieser Eingriff ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch die dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG entsprechende Norm des § 68 II 2 StVollzG gerechtfertigt. Das höchste Gericht geht davon aus, daß das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung "zu einer Einschränkung der Information über den Inhalt der angehaltenen Zeitschriften auf jene Angaben, die der Gefangene zur Wahrnehmung seiner Rechte benötigt und deren Mitteilung die vollzugliehen Belange nicht gefährdet" führt286. Aber auch hier gilt das bereits zu Art. 14 I GG Aufgeführte. Es ist sehr fraglich, inwieweit Zeitungen eine (Re-)Sozialisierung tatsächlich gefährden können und nicht vielmehr die selbständige Informationsbeschaffung selbständiges Handeln und damit die (Re-)Sozialisierung fördern. Damit ist der Eingriff in Art. 5 I 2. HS. GG durch das Vorenthalten nicht mit Strafe bedrohter Zeitschriften meiner Auffassung nach nicht geeignet, den Zweck, die (Re-)Sozialisierung, zu erreichen, er erscheint unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig287 .
285 Im Ergebnis auch Feest, JA 1990, S. 227; kritisch auch Meyer, ZfStrVo 1968, S. 348; Volckart, BewHi 1985,28. 286 BVerfG Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613; OLG Hamm, NJW 1992, S. 1337. 287 Im Ergebnis auch Feest, JA 1990, S. 227; kritisch auch Meyer, ZfStrVo 1968, S. 348; Volckart, BewHi 1985, S. 28.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
dd) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Überwachung von Post und Telefonaten des Gefangenen nach§§ 29ff. StVollzG
Weitere Grundrechtseingriffe, die mit dem Zweck der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt werden, sind Eingriffe, die durch die Überwachung von Post und Telefonaten des Gefangenen nach§§ 29 ff. StVollzG erfolgen. Nach§§ 29 III, 31, 32 StVollzG ist es der Vollzugsanstalt gestattet, Besuche des Gefangenen, seinen Schriftwechsel sowie die Ferngespräche288 aus Gründen der Behandlung zu überwachen. Gemäß § 34 StVollzG können die daraus erlangten Kenntnisse aus Gründen der Behandlung verwertet werden. Diese Überwachung stellt einen Eingriff in mehrere Grundrechte dar. Zum einen wird in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis gemäß Art. 10 I GG des Gefangenen und seiner Angehörigen, Freunde und Bekannten eingegriffen289• Es handelt sich also hier um einen Eingriff mit "Drittwirkung"290• Zum anderen wird in das aus Art. 2 I GG hergeleitete Recht auf informationeile Selbstbestimmung eingegriffen. Gerechtfertigt werden diese Grundrechtseingriffe in die Rechte Gefangener und ihrer Angehörigen aus Behandlungsgründen mit dem Argument, daß eine Aussicht auf (Re-)Sozialisierung nur dann bestehe, wenn alle pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft würden und dazu eine möglichst genaue Kenntnis des Gefangenen gehöre, die sich nicht zuletzt aus Äußerungen gegenüber der Außenwelt ergeben könne291 • Dennoch werden in der Literatur starke Zweifel bezüglich der Geeignetheit dieser Mittel zur Erreichung der (Re-)Sozialisierung geäußert. Häufig wird davon ausgegangen, daß der ungehinderte geistige Kontakt des Gefangenen mit der Außenwelt seiner (Re-)Sozialisierung - wenn es sich nicht um Kontakte mit anderen Straftätern handelt- nur dienlich sein werde292 . Folglich wird in der Literatur häufig angenommen, daß es "gute Gründe für die Annahme (gibt),, daß das Verbot von Besuchen, das Anhalten von Schreiben, ( ... ) eher Stolpersteine, als 288 Zur zunehmenden Bedeutung der Fernmeldegespräche anstelle des Briefverkehrs vgl. Dünkel/ Rössner; Federal Republic of Gennany, in: van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Imprisonment Today and Tomorrow 1991, S. 228. 289 Vgl. BVerfGE 90, 255, 259 f. ; Müller-Dietz, Diskussionsbeitrag in: ÖJT (Hrsg.), Strafvollzug im Spannungsfeld zwischen Grundrecht und Zielvorstellungen, 1992, S. 14; ders., Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 33 f.; vgl. auch Benda, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 319; Michael Walter; Strafvollzug, 1999, Rdn. 366; von Kruis/Cassardt, NStZ 1995, S. 522 f., 574. 290 So Mül/er-Dietz, Menschenrechte und Strafvollzug, in: Jung I Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug- wie lange noch?, 1994, S. 45. 291 von Münch, JZ 1958, S. 75. 292 Vgl. von Kruis/Cassardt, NStZ 1995, S. 522; von Münch, JZ 1958, S. 75; OLG Frankfurt, NStZ 1982, S. 221.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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Hilfen auf dem Weg zum Vollzugsziel sind"293 . Auch das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß der Vollzug dazu beitragen kann, daß sich Strafgefangene und in Freiheit lebende Anhörige tiefgreifend entfremden, so daß die zuständigen Behörden die erforderlichen und zurnutbaren Anstrengungen unternehmen müssen, um in angemessenem Umfang Besuche zu ermöglichen294. Daraus läßt sich folgern, daß in Art. 2 und Art. 10 I GG nur in dem Maß eingegriffen werden darf, in dem es unabdingbar ist. Die Eingriffe sind also nicht geeignet, eine (Re-)Sozialisierung zu fördern, wenn der Kontakt zur Außenwelt generell verboten oder vollständig überwacht wird, sondern nur dann, wenn die begründete Gefahr der Kontaktaufnahme mit anderen Straftätern besteht. Dies ist im Strafvollzugsgesetz auch entsprechend geregelt worden. So ist nach § 23 S. 2 StVollzG der Verkehr mit Personen außerhalb der Anstalt zu fördern. Weiterhin wird in den §§ 23 ff. StVollzG grundsätzlich die Kommunikation und das Recht auf informationeile Selbstbestimmung unbeschränkt gewährleistet. Es darf nur in Ausnahmefallen in diese Rechte eingegriffen werden. Das bedeutet, Briefe dürfen nicht grundsätzlich gelesen werden, sondern nur dann, wenn der Verdacht besteht, bestimmte Kontakte mit der Außenwelt könnten die (Re-)Sozialisierung erschweren295. Die Überwachung des Schriftverkehrs muß sich auf eine Überprüfung nach Fluchtrnitteln, Drogen o.ä. beschränken. Werden diese Voraussetzungen eingehalten, sind die Eingriffe in Art. 2, 10 I GG geeignet, erforderlich und angemessen die (Re-)Sozialisierung zu fördern und damit insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt.
ee) Eingriffe in Grundrechte Strafgefangener durch die Anordnung von Zwangsarbeit nach§ 411 StVollzG Besondere Bedeutung hat die Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe, die durch die Anordnung von Zwangsarbeit nach§ 41 I StVollzG erfolgen. Nach§ 41 I StVollzG ist der Gefangene verpflichtet, eine ihm zugewiesene Beschäftigung auszuüben. Wahrend die Arbeitspflicht in Vollzugsanstalten jahrhundertelang als selbständiges Strafübel galt, ist sie erst in diesem Jahrhundert zu einem Sinnfaktor hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung geworden296. Heute wird die Arbeitspflicht 293 Hassemer; ZRP 1984, S. 296; siehe auch Feest, JA 1990, S. 223; Freimund, Vollzugslockerungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Instanzen und Interessen, 1989, S. 13; Müller-Dietz, Wege zur Strafvollzugsreform, 1972, S. 121; Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 107 f.; ablehnend auch Volckart, BewHi 1985, S. 30. 294 BVerfG, Beschl. vom 6. 4. 1976-2 BvR 61176, NJW 1976, S. 1313. 295 Zur Briefzensur siehe auch Dünkel I Rössner; Federal Republic of Germany, in: van Zyl Smit/Dünkel (Hrsg.), Imprisonment Today and Tomorrow, 1991, S. 227. 296 Vgl. Hoffmeyer; Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 264 f. Zur Geschichte der Arbeit umfassend Kaiser; u. a.-Kemer; Strafvollzug, 1992, § 14.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
zumeist im Hinblick auf eine kontinuierliche Lebensführung nach der Entlassung als unerläßlich für eine erfolgreiche (Re-)Sozialisierung angesehen297 . Das hängt damit zusammen, daß die meisten Strafgefangenen vor ihrer Haftzeit keiner geregelten Arbeit nachgegangen sind und ein Zusanunenhang zwischen Kriminalität einerseits, fehlender oder geringer Qualifikation, häufigem Arbeitsplatzwechsel, negativer Arbeitseinstellung und geringer Ausdauer im Arbeitsverhalten andererseits angenommen wird298 . Folglich erhofft man sich von der Arbeit im Gefängnis die Beeinflussung des Ordnungsbewußtseins, die Vermittlung von Sachlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit und sozialer Zusammenarbeit als Voraussetzung einer gewissen Arbeitsmoral299. Als entscheidend wird dabei angesehen, daß bei den Gefangenen das Gefühl geweckt wird, daß sie mit einer bestimmten Arbeit für sich und die Gemeinschaft etwas zu leisten vermögen; es soll ein positives Verhältnis zur Arbeit hergestellt werden300. Dadurch soll sichergestellt werden, daß die Gefangenen nach der Haft in der Lage sind, sich durch eine rechtmäßige Tätigkeit ernähren zu können. Haben die Gefangenen vor der Haft gearbeitet, geht es nicht um das Erlernen eines Berufes, sondern darum, einer Entwöhnung von der Arbeit durch die Tätigkeit in der Justizvollzugsanstalt entgegenzuwirken. Die in§ 41 I StVollzG kodifizierte Zwangsarbeit greift in die Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG ein. Nach Art. 12 III ist die Zwangsarbeit bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung grundsätzlich zulässig301 . Indem die Zwangsarbeit der (Re-)Sozialisierung dienen soll, wird der Eingriff in die Berufsfreiheit durch das mit Verfassungsrang ausgestattet Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt. Jedoch kann die Zwangsarbeit in Vollzugsanstalten nicht generell durch den Zweck der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt werden. Problematisch ist die insbesondere die Geeignetheit des Eingriffs in Art. 12 I GG durch die Zwangsarbeit im Vollzug. Theoretisch soll die Beriicksichtigung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit des Gefangenen im Sinne des § 37 II StVollzG dazu führen, daß er mit 297 Vgl. Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 60; Deimling, ZfStrVo, 1978, S. 9; Zöbeley, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 347; siehe auch BVerfGE 98, 169. Besondere Bedeutung hatte die Arbeit als Integrationsfaktor in den Vollzugsanstalten der ehemaligen DDR, nach § 4 SVWG stand "im Mittelpunkt der Erziehung im Strafvollzug ( . .. ) die Heranziehung der Strafgefangenen zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit. 298 Vgl. Sauter, ZfStrVo 1991, S. 265; Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 115; Zöbeley, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, s. 347. 299 Vgl. Koch, Gefangenenarbeit und Resozialisierung, 1969, S. 87; Plagemann, Gefängnisarbeit in den USA, 1984, S. 51, zu dem kollegialen Miteinander vgl. insbesondere Sigel, ZfStrVo 1990, S. 266 f. 300 Koch, Gefangenenarbeit und Resozialisierung, 1969, S. 87; siehe auch Ortmann, Strafvollzug und Resozialisierung, 1979, S. 350. 301 Trotz der verfassungsrechtlichen Legitimation ist die Zwangsarbeit in der BRD umstritten, vgl. Köhler, GA 1987, S. 145 ff.; ders., Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 645.
IV. (Re-)Sozialisierung als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe
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Interesse diejenige Tätigkeit ausübt, die er leisten kann302. Praktisch aber ist es in der Regel nicht möglich, in jeder Anstalt für jeden Gefangene eine passende und geeignete Tätigkeit zu finden. Da § 37 II StVollzG als Sollvorschrift ausgestaltet ist, hat der Gefangene auch keinen Anspruch auf eine solche Tätigkeit; des weiteren wird der Vollzugsbehörde von vomherein ein weiter Spielraum bei der Wahl der Arbeitsmöglichkeiten eingeräumt303 • Häufig ist es schwierig, überhaupt eine sinnvolle Arbeit für Gefangene zu finden, da die Beschäftigungssituation auch außerhalb der Anstalt stark angespannt ist. In Konkurrenz zur Gefangenenarbeit werden zunehmend Aufträge an Behindertenwerkstätten vergeben. Bei der übrigbleibenden "Beschäftigungstherapie" wird sogar in der Literatur davon ausgegangen, daß die Gefangenen eher lernen, Arbeit zu vermeiden und sich in der Gefängnishierarchie zurechtzufinden, nicht aber, selbständig und verantwortlich tätig zu sein304. Eine solche "Beschäftigungstherapie" ist nicht geeignet, den Zweck der (Re-) Sozialisierung zu erreichen. Das Ziel der (Re-)Sozialisierung durch Zwangsarbeit kann nur dann erreicht werden, wenn die Arbeit so ausgestaltet ist, daß Gefangene Kenntnisse erwerben und sinnvolle Tätigkeiten ausüben, für die nach der Entlassung auf dem Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht. Dann ist ein Eingriff in Art. 12 I GG durch das angestrebte Ziel der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt. Bei einer Arbeit, die den Gefangenen konstant unterfordert und ihm damit immer wieder seine scheinbare Wert- und Nutzlosigkeit zeigt, hat die Arbeit eher entsozialisierende Wirkungen. Sie kann nicht durch das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung gerechtfertigt werden, da sie nicht zur (Re-)Sozialisierung der Strafgefangenen beiträgt. Ob eine Rechtfertigung aus anderen verfassungsrechtlichen Griinden für eine solche Arbeit besteht, bleibt hier dahingestellt.
4. Zwischenergebnis Insgesamt ist damit festzustellen, daß die Grundrechte für Strafgefangene ebenso Geltung haben wie für alle anderen Menschen auch. Es ist nicht notwendig und sachgerecht, die Grundrechte bei Strafgefangenen zu modifizieren. Die Verfassung bietet hinreichende Möglichkeiten, den Besonderheiten des Strafvollzuges bei den einzelnen Grundrechtseingriffen Rechnung zu tragen. 302 OLG Düsseldorf, NJW 1960, S. 1072; Koch, Gefangenenarbeit und Resozialisierung, 1969, s. 16. 303 Vgl. Försterling, Methoden sozialtherapeutischer Behandlung im Strafvollzug und die Mitwirkungspflicht des Gefangenen, 1981, S. 45. 304 Vgl. Calliess/ Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Auf!. 1998, § 37 Rdn. 3; Försterling, Methoden sozialtherapeutischer Behandlung im Strafvollzug und die Mitwirkungspflicht des Gefangenen, 1981, S. 46 f.; kritisch auch Leder, Arbeitsentgelt im Strafvollzug der BRD, 1978; S. 39 f.; Plagemann, Gefängnisarbeit in den USA, 1984, S. 52.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung hat sich herausgestellt, daß bei der Strafvollstreckung zahlreiche Grundrechtseingriffe aus Gründen der (Re-)Sozialisierung erfolgen. Die Tatsache, daß in einigen Fällen die Verfassungsmäßigkeit der Grundrechtseingriffe stark umstritten ist, zeigt aber, daß bei der Würdigung der Eingriffe in Grundrechte Gefangener diffizile Einzelabwägungen erforderlich sind. Vor allem die Schwere der Rechtsgutsverletzung in der besonderen Situation des Strafvollzuges ist zu berücksichtigen sowie die Tatsache, daß die Erfolge von (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen empirisch schwer nachweisbar sind305 . Das hat zur Folge, daß zumindest dann, wenn die (re-)sozialisierende Wirkung vollzugsrechtlicher Behandlungsmaßnahmen nicht nachweislich ist, Eingriffe seitens der Vollzugsbehörden zu unterlassen sind306•
V. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien Neben den Grundrechtseingriffen aus Gründen der (Re-)Sozialisierung gibt es bei der Strafvollstreckung auch Eingriffe in das Recht auf (Re-)Sozialisierung. Denn aus der Tatsache, daß durch die (Re-)Sozialisierung Grundrechtseingriffe gerechtfertigt werden können, ist nicht zu folgern, daß dem verfassungsrechtlich geschützten (Re-)Sozialisierunginteresse stets Priorität gegenüber allen anderen grundgesetzliehen Bestimmungen zukommt. Vielmehr muß im Wege der praktischen Konkordanz das Recht auf (Re-)Sozialisierung immer wieder in Ausgleich mit anderen Verfassungsgütern gebracht werden. Das liegt daran, daß die (Re-)Sozialisierung eingebettet in das Wertesystem des Grundgesetzes ist, das sich aus den Grundrechtsverbürgungen der Art. I - 19 GG sowie aus den in Art. 20 GG zusammengefaßten konstituierenden Staatszielbestimmungen ergibe07 •
1. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde Wichtigste Grenze der (Re-)Sozialisierungsbemühungen ist das in keiner Weise einschränkbare Gebot zur Achtung der Menschenwürde. Wie bereits erläutert, ist die Menschenwürde der höchste Rechtswert der Verfassung und hat als solcher für den Strafvollzug eine besondere Bedeutung308. Siehe 6. Kapitel III. 3. h). Feest, JA 1990, S. 224; vgl. auch Comel, Resozialisierung- Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./ Maelicke I Sonnen (Hrsg. ), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 43; vgl.auch BVerfGE 91, 1, 47. Zur Problematik der Prognose von Gefahren für die (Re-)Sozialisierung siehe Volckart, BewHi 1985, S. 26 ff. 307 Schewick, BewHi 1985, S. 4. 305
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V. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien
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Die Gefahr durch (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen gegen das Gebot zur Achtung der Menschenwürde nach Art. 1 I GG zu verstoßen, besteht insofern, als der Begriff der (Re-)Sozialisierung leicht mit dem Begriff der Erziehung verwechselt wird. Erziehung strebt generell an, daß der zu Erziehende bestimmte Gesinnungen und Verhaltensweisen verinnerlicht. Dabei urnfaßt der Erziehungsbegriff die menschlichen Fähigkeiten in ihrem totalen seelischen, geistigen, sittlichen und körperlichen Bereich309. Erreicht werden soll das Erziehungsziel mit Lob und Tadel, mit Zurechtweisungen bei unerwünschtem Verhalten 310. In einer rechtsstaatliehen Demokratie, in der die Würde und die Freiheit des Einzelnen garantiert werden, besteht kein Recht, bei Erwachsenen bestimmte Gesinnungen durch repressive Maßnahmen anzustreben, sie gegen ihren Willen zu erziehen. Gerade im Strafvollzug darf keine Erziehung angestrebt werden. Denn die Übermittlung von Wertvorstellungen in sämtlichen Lebensbereichen führt zu einer Beeinflussung der Persönlichkeit, die im Strafvollzug in keiner Weise zur Disposition steht. Im Strafvollzug darf es nur um die Verhinderung weiterer Kriminalität gehen, nicht um die Veränderung der Persönlichkeit. Mit einer zwanghaften Erziehung würde in mehrere Rechte des Gefangenen eingegriffen, in die Gewissensfreiheit, die Glaubensfreiheit, die Meinungsfreiheit. Der Straftäter würde insgesamt durch die zwanghafte Erziehung nicht mehr als Subjekt behandelt, sondern zu einem Erziehungsobjekt degradiert. Das Verbot, Erwachsene zu erziehen, hat sowohl Auswirkungen auf die Art der innerlichen Beeinflussung, als auch auf das Ausmaß der (Re-)Sozialisierung: Zum einen dürfen die (Re-)Sozialisierungsbemühungen inhaltlich nicht gezielt auf eine Gesinnungsänderung hin wirken oder eine Indoktrination des Straffälligen in Richtung bestimmter Wertvorstellungen oder Weltanschauungen versuchen. Zum anderen besteht die Gefahr einer Kollision mit der Menschenwürde dann, wenn sich die Straffälligen weigern, an der (Re-)Sozialisierung mitzuwirken, und versucht wird, sie zwangsweise zu (re-)sozialisieren.
a) Inhaltliche Beeinflussung der StratTälligen
Das Verbot der Indoktrination bestimmter Wertvorstellungen ergibt sich bereits aus der in der Einführung entwickelten Inhaltsbestimmung der (Re-)Sozialisierung. Danach bedeutet (Re-)Sozialisierung eine Hilfe zu einem Leben in sozialer, selbständiger Verantwortung in der Gemeinschaft. Folglich fordert die (Re-)Sozialisierung auch eine eigenverantwortliche Wahl der Wertmaßstäbe.
309
Siehe 2. Kapitel I. 1. Peters, in: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 513; vgl. auch Wagner, ZfStrVo 1989,
310
Ausführlich dazu Busch, ZfStrVo 1990, S. 133 ff.; ders., ZfStrVo 1992, S. 15 ff.
308
s. 8.
9 Leyendecker
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Ein anderes Verständnis der (Re-)Sozialisierung wäre auch nicht mit der Verfassung vereinbar. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des pluralistischen demokratischen Rechtsstaates verbieten es, unter (Re-)Sozialisierung die zwangsweise Vermittlung moralischer Grundüberzeugungen zu fassen3 n. Würde man versuchen, dem ehemaligen Straftäter sämtliche Wert- und Moralvorstellungen der Gesellschaft zu vermitteln und damit seine Überzeugungen oder sogar seine Persönlichkeit vollständig zu verändern, würde man den Straffälligen zum bloßen Objekt staatlichen Handeins machen und damit in seiner Menschenwürde beeinträchtigen. Folglich muß es auch im Strafvollzug eine Wertoffenheit sozialisierender Entwicklungen geben. Fraglich ist, ob bereits Versuche einer zwangsweisen Schuldverarbeitung zur (Re-)Sozialisierung, durch die ja bestimmte Wertvorstellungen vermittelt werden sollen, nicht mit der Wertoffenheit sozialisierender Entwicklungen - und damit der Menschenwürde - zu vereinbaren sind. Das hängt davon ab, inwieweit die Schuldverarbeitung eine höchstpersönliche Angelegenheit des Strafgefangenen darstellt und durch den Versuch der Schuldverarbeitung die Persönlichkeit des Gefangenen verändert bzw. der Gefangene zum Objekt staatlichen Handeins degradiert wird. Hierfür ist zunächst eine Klärung des Begriffs der Schuldverarbeitung erforderlich. Zunächst einmal ist Schuldverarbeitung nicht gleichbedeutend mit Schuldausgleich, denn der Schuldausgleich vollzieht sich durch den zeitlich entsprechenden Entzug der Freiheit, nicht aber durch eine eigene Leistung des Gefangenen312 • Die Schuldverarbeitung erfordert hingegen eine persönliche Leistung des Straffälligen; die Schuld zu erleben, zu begreifen und schließlich zu verarbeiten. Nach Artbur Kaufmann beruht das Schulderlebnis "auf dem Bewußtsein, sich wegen des Versagens verantworten zu müssen vor einer persönlichen Instanz: vor dem Vater, vor dem Mitmenschen, vor der Gemeinschaft Gleichgesinnter, vor dem sozialen, politischen, nationalen Verband, vor Gott oder auch allein vor dem eigenen autonomen Gewissen"313 • Das Bewußtsein, sein eigenes Verhalten vor anderen und vor allem vor sich selbst verantworten zu müssen, führt zu einem Prozeß der Verarbeitung, zu Möglichkeiten, mit der eigenen Tat und persönlichen Schuld umzugehen. Damit stellt die Schuldverarbeitung eine höchstpersönliche sittliche Leistung des Täters dar. Ausgehend von dieser Definition würde man dem Täter - sei es durch die Versagung von Vollzugslockerungen aufgrund fehlender Schuldverarbeitung, sei es durch die ständige Konfrontation mit der Schuld auf sonstige Weise - in diesem 311 Vgl. Comel, Resozialisierung - Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 39 f. Peters ist ebenfalls gegen eine Wertevermittlung im Vollzug, da er aufgrund der schwindenden Wertvorstellungen der Gesellschaft eine dahingehende Beeinflussung und damit einen Resozialisierungsvollzug nicht mehr für durchführbar hält, Peters, in: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 515 f. 312 Arloth, GA 1988, S. 415. 313 Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 556.
V. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien
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höchstpersönlichen Bereich die Entscheidung über die Auseinandersetzung mit seiner Tat aus der Hand nehmen. Dies käme einer Entmündigung gleich. Eine solche Entmündigung erscheint als unvereinbar mit der Menschenwürde314. Folglich verstößt der Versuch einer zwangsweisen Schuldverarbeitung gegen die Menschenwürde315. Somit ist Schuldverarbeitung "eine sittliche Leistung von hohem Rang, die gewiß löblich, doch die abzuverlangen dem Staat verwehrt ist"316. Insofern darf eine Schuldverarbeitung nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Eine solche Schuldverarbeitung ohne jeden Zwang, wonach Strafe und Strafvollzug als Angebot zur Sühne zu verstehen sind 317, würde die (Re-)Sozialisierung fördern und geriete nicht in Kollision mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde.
b) Zwangsweise (Re-)Sozialisierung der StratTälligen Eine Gefahr der Beeinträchtigung der Menschenwürde durch (Re-)Sozialisierungsbemühungen besteht nicht nur bei der Indoktrination bestimmter Wertvorstellungen, sondern auch bei dem Versuch zwangsweiser (Re-)Sozialisierung. So wird eine zwangsweise Behandlung im Strafvollzug häufig als Beeinträchtigung des Gebotes zur Achtung der Menschenwürde angesehen. Immer häufiger ist in wissenschaftlichen Abhandlungen statt von (Re-)Sozialisierung nur noch von (Re-)Sozialisierungshilfen oder (Re-)Sozialisierungsangeboten, statt Behandlungsvollzug nur noch von Chancenvollzug die Rede318 . aa) Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu einer zwangsweisen (Re-)Sozialisierung Wenn sich die Literatur mit der Zulässigkeil einer zwangsweisen (Re-)Sozialisierung des Straffälligen auseinandersetzt, wird oftmals die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 22, 180 herangezogen und versucht, aus dieser Hinweise für oder gegen eine zwangsweise (Re-)Sozialisierung zu erlangen. In 314 Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Fo1gegrundrechten, 1992, S. 61; vgl. auch Peters, JR 1978, S. 180. 315 Gleichzeit verstößt er gegen das für die grundgesetzliche Ordnung konstitutive Selbstbestimmungsrecht des Menschen, Art. 2 I GG, vgl. dazu Schewick, BewHi 1985, S. 6. 316 Peters, JR 1978, S. 180; ebenso Bemmann, BewHi 1988, S. 455; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 83; siehe auch Evangl. Kirche, Strafe: Tor zur Versöhnung, 1990,S.57. 317 Vgl. Berukl, in: Festschrift für Hans Joachim Faller, 1984, S. 315; Peters, JR 1978, S. 180; Wienz, Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 28; siehe auch Rössner; BewHi 1994, S. 25. 318 Vgl. Altenhain, ZfStrVo 1988, S. 160; Bemmann, ZfStrVo 1999, S. 204; Calliessl Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Auf!. 1998, § 4 Rdn. 6; Feest, JA 1990, S. 227; Busch, AK-StVollzG, 3. Auf!. 1990, § 2 Rdn. 19; Schwind, Bitburger Gespräche Jahrbuch 2/1986, s. 24.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
diesem Urteil aus dem Jahre 1971 stellte das Bundesverfassungsgericht fest: "Der Staat hat aber nicht die Aufgabe, seine Bürger zu bessern, und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu ,bessern' ohne, daß sie sich selbst oder andere gefährdeten, wenn sie in Freiheit blieben."319 Teilweise wurde hieraus geschlossen, daß es dem Staat gänzlich verwehrt sei, einem unwilligen Straffälligen Behandlungsmaßnahmen zu unterziehen320. Peters schloß aus der Entscheidung sogar, daß "ein Strafrecht, das den Resozialisierungsgedanken im Sinne der Besserung zur Grundlage macht, in Frage gestellt" werde321 . Diese Auffassung unterliegt jedoch starker Kritik. Es wird davon ausgegangen, daß die Bezugnahme auf dieses Urteil im Zusammenhang mit den (Re-)Sozialisierungsbemühungen des Staates aus zwei Gründen fraglich sei. Zunächst ging es in diesem Urteil nicht um Straffällige, sondern um Personen, die aufgrund besonderer Willensschwäche verwahrlost oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt sind322 . Des weiteren habe das Gericht nur die Aufgabe des Staates, also eine Pflicht verneint, nicht aber die Zulässigkeit entsprechender Bemühungen, gerade wenn der Täter sich oder andere gefährden würde 323. Dem ist zuzustimmen, so daß aus dem Urteil kein allgemeines verfassungsrechtliches Verbot bezüglich Besserungsversuchen des Staates hergeleitet werden kann. Gegen ein solches Besserungsverbot des Staates kann heute das Lebach-Urteil des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden, in dem das Gericht die herausragende staatliche und gesellschaftliche Bedeutung der (Re-)Sozialisierung betont324. Dies widerspricht einer generellen bundesverfassungsgerichtliehen Annahme eines Besserungsverbotes. Dennoch können der bundesverfassungsgerichtliehen Entscheidung aus dem Jahre 1971 Anhaltspunkte entnommen werden, wie das Bundesverfassungsgericht eine zwangsweise (Re-)Sozialisierung im Falle eines anhängigen Verfahrens beurteilen würde. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zum einen das Wort "bessern" in Anführungsstriche gesetzt, zum anderen hat es das Recht des Staates, Menschen zu bessern, auch inhaltlich stark eingeschränkt. Das läßt darauf schließen, daß das Bundesverfassungsgericht die Absicht, Menschen zu bessern, eine Gesinnungsänderung anzustreben, für anmaßend hält und die gezielte staatliche Beeinflussung von erwachsenen Personen nur sehr begrenzt für rechtmäßig erachtet. Demnach ist davon auszugehen, daß es nach bundesverfassungsgerichtlicher Auffassung dem Staat verfassungsrechtlich verwehrt ist, mit den ihm zur Verfügung stehenden Zwangsmitteln gezielt auf eine Gesinnungsänderung 319 320 321 322 323 324
BVerfGE 22, 180, 219 f.; bestätigend BVerfGE 30, 47, 53; 91, I, 47. Grunau, DRiZ 1977, S. 309 f.; Peters, in: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 509. Peters, in: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 509. Haffke, MschKrim 1975, S. 249. Vgl. Haffke, MschKrim 1975, S. 249; Müller-Emmert, DRiZ 1976, S. 67. BVerfGE 35, 202.
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hinzuwirken325 . Das bedeutet zunächst, daß entsprechend Art. 2 I GG alle Maßnahmen, die gegen das Selbstbestimmungsrecht verstoßen, da sie darauf gerichtet sind, den Willen des Straftäters unmöglich zu machen, nicht zu seiner (Re-)Sozialisierung eingesetzt werden dürfen. Sehewiek zieht hier die Parallele zu § 136 a StPO, welcher eine Konkretisierung des Art. 2 I GG darstellt, da er im Ermittlungs- und Strafverfahren alle Methoden verbietet, die darauf gerichtet sind, den Willen des Straftäters auszuschalten326. Die Vorschrift des § 136 a StPO ist jedoch eine einfachgesetzliche Norm und kann insofern kein verfassungsrechtliches Verbot einer zwanghaften Gesinnungsänderung begründen. § 136 a StPO führt lediglich exemplarisch bestimmte unerlaubte Vernehmungsmethoden auf. Diese Methoden können zwar Anhaltspunkte dafür geben, welche Maßnahmen zur Erreichung einer Gesinnungsänderung generell unzulässig sind. Jedoch müssen im Einzelfall verfassungsrechtlich immer die Grundrechte, insbesondere Art. 1 I und Art. 2 I GG, beachtet werden und gegen andere Rechte im Sinne der praktischen Konkordanz abgewogen werden. Insgesamt ist festzustellen, daß das dargelegte bundesverfassungsgerichtliche Urteil zwar auf die Art der Beeinflussung durch (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen Bezug nimmt, aber keine Hinweise darauf gibt, ob (re-)sozialisierungsunwillige Straffällige zwangsweisen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen unterworfen werden dürfen oder dies gegen Art. 1 I GO verstößt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in weiteren Entscheidungen mit der Zulässigkeit von Besserungsbemühungen des Staates beschäftigt327 • So hat das Gericht im Jahre 1994 festgestellt, daß die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur dann gerechtfertigt ist, wenn die aus Gründen der (Re-)Sozialisierung erfolgende Maßregel gegenüber Betroffenen vollzogen wird, bei denen die Behandlung noch eine Besserung bewirken kann. "Eingriffe, die auf eine Besserung wirken ( . .. ), sind im Blick auf Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nur bei einer - hinreichend zuverlässigen - Indikation zulässig." 328 Damit stellt das Bundesverfassungsgericht wie in anderen Entscheidungen auch fest, daß (Re-) Sozialisierungsmaßnahmen nur zulässig sind, soweit eine Besserung überhaupt möglich ist und im Umkehrschluß unzulässig, wenn sie erfolglos wären329 . Diese Rechtsprechung entspricht lediglich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach zwecklose Eingriffe verfassungsrechtlich nicht zulässig sind. Die (Re-)Sozialisierung ist auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts notwendig und gestattet, ob sie bei erfolgsversprechenden Maßnahmen auch zwangsweise zulässig ist, hat das Bundesverfassungsgericht bislang nicht entschieden. 325
Vgl. Peters, in: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 509.
Schewick, BewHi 1985, S. 6. Zum Verhältnis von Art. 2 I GG und§ 136 a StPO siehe Neufelder, GA 1974, S. 297. 327 BVerfGE 22, 180, 219 f.; 30, 47, 53; 91, 1, 47. 328 BVerfGE 91, 1, 29. 329 Siehe BVerfGE 22, 180, 219 f.; 30, 47, 53. 326
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
bb) Aussagen der Literatur zu einer zwangsweisen (Re- )Sozialisierung
In der Literatur ist es stark umstritten, ob für den Straffälligen eine Pflicht besteht, an seiner (Re-)Sozialisierung mitzuwirken und er dementsprechend zwangsweise (re-)sozialisiert werden darf. Der Gesetzgeber hat auf die Kodifikation einer Mitwirkungspflicht im Strafvollzugsgesetz verzichtet330 und lediglich für die Vollzugsbehörde in § 4 II StVollzG eine Motivationspflicht normiert. Dennoch geht die Literatur teilweise von einer Mitwirkungspflicht des Strafgefangenen aus: "Der Gefangene hat kein Recht darauf, sich den resozialisierenden Maßnahmen im Vollzug zu entziehen. Das Recht, gegen Absitzen der Strafzeit ein Verbrecher bleiben zu dürfen, in Ruhe gelassen zu werden, neue Kräfte für eine antisozialen Lebenswandel zu sammeln, besteht nicht. " 331 Diese Anerkennung einer Mitwirkungspflicht des Strafgefangenen zur (Re-)Sozialisierung erfolgt insbesondere in bezug auf die verfassungsrechtliche Aufgabe des Staates zur (Re-)Sozialisierung Straffälliger332• So setzt Würtenberger die sozialstaatliche Pflicht der Vollzugsbehörde in ein Gegenseitigkeitsverhältnis zu einer Mitwirkungspflicht des Strafgefangenen, indem er schreibt: "Die Verpflichtung des Staates zur Fürsorge und Hilfe für den Gefangenen entspricht einer rechtlichen Verpflichtung des Gefangenen zur aktiven Mitwirkung am Bemühen um seine soziale Eingliederung. " 333 Die Gegenposition geht davon aus, daß zu keiner Zeit ein formeller oder informeller Zwang auf den Gefangenen ausgeübt werden darf, wenn es um die Teilnahme an Behandlungsprogrammen gehe34. In den Worten Bemmanns bedeutet dies: Der Strafgefangene "hat auch das Recht, am Resozialisierungsprogramm nicht teilzunehmen; er muß verlangen dürfen, in Ruhe gelassen zu werden"335 . Eine Zwangsbehandlung hat zu unterbleiben336• Begründet wird diese Auffassung pri330 Vgl. Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 331; Calliess I MüllerDietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 4 Rdn. 3; Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl. 1992, § 4 l. a); Müller-Dietz, Strafvollzugsrecht, 1977, § 6 m. 1.; Eine Mitwirkungspflicht wurde bereits im Alternativentwurf abgelehnt, vgl. Jung I Müller-Dietz. Vorschläge zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973, S. 15. 331 Haberstroh, MschKrim 1982, S. 260; Schwind I Böhm-ders., StVollzG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, § 4 Rdn. 4. 332 Daneben wird die Rechtmäßigkeit des Behandlungszwanges mit der Notwendigkeit für den Straffaltigen begründet, vgl. Chevalier, Die Einschränkbarkeit von Folgegrundrechten, 1992, S. 59; Lüderssen, KJ 1996, S. 184. 333 Würtenberger, IZ 1970, S. 454; ders., Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970, S. 219; ähnlich Försterling, Methoden sozialtherapeutischer Behandlung im Strafvollzug und die Mitwirkungspflicht des Gefangenen, 1981, S. 72. 334 Vgl. Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 847 f.; Cremer-Schäfer, Im Namen des Volkes?, 1992, S. 48; Feest, JA 1990, S. 227; Jung, ZfStrVo 1987, S. 40 f. 335 Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 332 f.; Kaiser, Annales internationales de criminologie 2811990, S. 173 f.; Schneider, JZ 1972, S. 196. 336 Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 332 f.; ders., ZfStrVo 1999, S. 204; ebenso Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 847 f.; Comel, Resozialisierung-
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mär mit dem Verstoß zwangsweiser (Re-)Sozialisierung gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde337• So schreibt Hoffmeyer: Zwangsweise "Erziehung ( ... ) als Re-Sozialisation kann gegen den Achtungsanspruch individueller Würde verstoßen, weil es sich um eine gewaltsam organisierte Veranstaltung mit dem Ziel der Legalitätsbewährung handelt, die vor allem darauf abstellt, sozial ,funktionsfähige', kriminalrechtlich angepaßte, soziale Interaktionsprozesses nicht-störende Subjekte hervorzubringen'm8 . Weiterhin wird davon ausgegangen, daß bei einer zwangsweisen Behandlung zwischen dem Strafgefangenen und dem Behandler ein Machtgefalle besteht. Der Gefangene würde zum Objekt, der der moralischen Überlegenheit seines wohlmeinenden Interaktionspartner weithin machtlos gegenübersteht. Es widerspräche aber der Menschenwürde, wenn der Gefangene auf diese Weise zum bloßen Objekt der (Re-)Sozialisierungsbemühungen gemacht würde. Damit bleibt der Staat nach dieser Auffassung bei seinen (Re-)Sozialisierungsbemühungen auf "eine Mittlerrolle und Anbieterrolle" beschränkt339.
c) Stellungnahme zur zwangsweisen (Re-)Sozialisierung Artbur Kaufmann stellte bereits im Jahre 1967 fest, daß "eine ,Resozialisierung' gegen den Willen des Verurteilten ( ... )doch kaum etwas anderes (wäre) als Dressur, Abrichtung, Züchtigung ( ... ). Wirkliche Resozialisierung bedarf der Mitarbeit des zu Resozialisierenden, sie ist Aktivierung seines guten Willens (im Gegensatz zum Vergeltungsstrafvollzug, der auf Brechung des bösen Willens gerichtet ist)"340• Wenn versucht wird, einen Gefangenen gegen seinen Willen zu (re-)sozialisieren, wird versucht, seinen Willen zu brechen. Dieses Ziel verfolgen explizit die amerikanischen Lager für jugendliche Straffällige, sogenannte "boot-camps". Sie streben an, den Willen der Jugendlichen zu brechen, um diesen dann wieder neu aufzubauen. Diese angestrebte irreversible Brechung der Persönlichkeit verstößt im deutschen Recht jedoch gegen das Gebot der Achtung 'd er Menschenwürde nach Art. 1 I GG341 . So stellte das Bundesverfassungsgericht fest: "Ein Versuch, Klärung des Begriffs, seines Inhalts und seiner Verwendung, in: ders./ Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 43, 45 f.; Feest, JA 1990, S. 227; Jung, ZfStrVo 1987, S. 40 f.; Kunz, ZStW 101 (1989), S. 102. 337 Daneben wird davon ausgegangen, daß eine wirkliche (Re-)Sozialisierung ohne den Willen des Strafgefangenen gar nicht möglich sei, vg1. Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 331; Schmaller; ÖJZ 1992, S. 223; Wienz, Strafen-Bessern-Heilen?, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 91 f. 338 Ho.ffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 87. 339 Freihalter, Gewissensfreiheit, 1973, S. 137; ebenso Ho.ffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 92; ähnlich auch schon 1iedemann, Die Rechtsstellung des Strafgefangenen nach französischem und deutschen Verfassungsrecht, 1963, S. 153. 340 Arthur Kaufrrumn, JZ 1967, S. 557; ders., Das Schu1dprinzip, 1972, S. 273. 341 Vgl. auch von Hinüber; StV 1994, S. 212 ff. Gegen die Überbetonung der Gesinnungsänderung spricht sich auch der BGH aus (BGHSt 7, 6, 9), indem er feststellt, daß eine Gesin-
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
etwa den Gewissenstäter durch übermäßig harte Strafen als Persönlichkeit mit Selbstachtung "zu brechen" und dadurch in eine innerlich ausweglose Lage zu treiben, daß er gezwungen wird, seine Gewissensentscheidung über jede zurnutbare Opfergrenze hinaus weiter zu verfechten, wäre verfassungswidrig"342. Das Gebot der Achtung der Menschenwürde fordert die Wahrung der menschlichen Subjektivität. Die menschliche Persönlichkeit ist vor allem durch eine Eigenständigkeit, selbstbestimmendes Verhalten und Leistung der Identitätsbildung gekennzeichnet. Wenn versucht wird, den Straftäter zwanghaft zu (re-)sozialisieren, werden dem Straftäter bestimmte Wertvorstellungen indoktriniert, die zum Ziel haben, kriminalrechtlich angepaßte Persönlichkeiten zu formen. Dadurch wird aber die Eigenständigkeil sowie die Fähigkeit und das Recht, seine Identität selbst zu bilden, verleugnet. Seine Subjektqualität wird in Frage gestellt und damit die Menschenwürde beeinträchtigt. Folglich darf der Strafvollzug nicht zu einer "Zwangserziehung"343 der Strafgefangenen gemacht werden. Damit ist festzustellen, daß das Bundesverfassungsgericht zwar bislang eine zwangsweise (Re-)Sozialisierung noch nicht für verfassungswidrig erklärt hat. Allerdings kommt man bei Würdigung der unterschiedlichen Auffassungen der Literatur dazu, daß eine zwanghafte (Re-)Sozialisierung zu einer Brechung der Persönlichkeit führt und damit gegen das Gebot der Achtung der Menschenwürde verstößt. Somit ist zwar einerseits eine zwanghafte (Re-)Sozialisierung nicht verfassungsmäßig, andererseits fordert das Grundgesetz einen Behandlungsvollzug. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen kann dadurch entsprochen werden, daß die Justizvollzugsanstalten einen Angebotsvollzug gewährleisten, bei dem die Behandlungsmaßnahmen auf Hilfsangebote beschränkt werden, die freiwillig angenommen oder ohne Nachteil ausgeschlagen werden können.
2. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit dem Rechtsstaatsprinzip Weiterhin muß das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot mit dem Rechtsstaatsprinzip in Ausgleich gebracht werden. Indem die (Re-)Sozialisierung primär aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet wird, sich aber das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip begrenzen und gegenseitig zum Ausgleich zu bringen sind, zeichnet sich auch bei der (Re-)Sozialisierung das generell bestehende Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat ab. Es kann in dieser Arbeit nicht zu dem Streit Stellung genommen werden, inwieweit eine generelle nungsänderung nicht ausschlaggebend für die Entscheidung ist, ob Strafaussetzung gewährt werden kann. 342 BVerfGE 23, 132, 134. 343 SoAltenhain, ZfStrVo 1988, S. 160.
V. Kollision der (Re-)Sozialisierung mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien
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Unvereinbarkeit beider Prinzipien besteht344. Vielmehr wird mit der mittlerweile herrschenden Ansicht davon ausgegangen, daß eine wechselseitige Abhängigkeit besteht: weder der Rechtsstaat noch der Sozialstaat kann für sich allein existieren345. Diese Abhängigkeit besteht insofern, als daß das Sozialstaatsprinzip vor allem bei der Abwehr und Behebung bestimmter sozial bedingter Notlagen, also auch insbesondere im Strafvollzug, praktisch werden soll und das Rechtsstaatsprinzip der Abwehr bestimmter Gefährdungen des individuellen Freiheitsbereiches dient. Die bloße Aussparung von Freiheitsräumen hilft dem einzelnen nicht, wenn er von ihnen keinen Gebrauch machen kann. Die Freiheit von staatlichen Eingriffen besagt wenig, wenn sie aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen nicht realisiert werden kann346. Gerade im Strafrecht und Strafvollzug wird dieses Verhältnis von der Freiheit des Einzelnen zu den staatlichen Eingriffen besonders deutlich 347. Denn "die in den Straftatbeständen rechtsstaatlich beschriebenen Eingriffsbedingungen in den Bereich der Persönlichkeitsentfaltung lassen nur die Reaktion auf die Tat und nicht auch die Interaktion mit dem Tater zu. Demgegenüber zwingt aber die Einsicht in die sozialen Ursache der Kriminalität, die strafrechtlichen Sanktionen in ihren sozialen Funktionen und individuellen Verpflichtungen zu begreifen"348 . Das Rechtsstaatsprinzip zwingt zunächst dazu, die im Strafgesetzbuch normierten Rechtsfolgen unabhängig davon zu beachten, ob der Straftäter (re-)sozialisierungsbedürftig ist. Denn es gehört nach Art. 20 III GG zu den unverzichtbaren Elementen des Rechtsstaates, daß die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung dem Gesetz unterworfen sind. Wo gesetzliche Bestimmungen bestehen sind diese anzuwenden. Weder der Strafrichter, noch die Strafvollzugsbehörde haben das Recht, im Interesse einer möglichst effektiven (Re-)Sozialisierung von der Anwendung geltender Gesetze abzusehen 349. Wird eine Norm hinterfragt und ihre Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Recht auf (Re-)Sozialisierung bezweifelt, kann die Legislative das Gesetz ändern. Für die anderen beiden Gewalten besteht zunächst die Möglichkeit, die (re-)sozialisierungsfeindliche Norm verfassungskonform aus344 Dazu Maunz/Dürig-Herzog, GO-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 20, VIII Rdn. 30; von Münch/ Kunig-Schnapp, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 28; Menen, Verfassungsstaat und Sozialstaat, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1979/80, S. 166 f. 345 Lüderssen, JA 1991, S. 225. 346 Müller-Dietz, Strafvollzugsgebung und Strafvollzugsreforrn, 1970, S. 94 f.; vgl. auch Würtenberger, NJW 1969, S. 1749 f. 347 Nach Forsthoff bestätigt sogar gerade das Strafrecht auf das Nachdrücklichste die These, .,daß sich Rechtsstaat und Sozialstaat nicht zu einem übergeordneten Rechtsbegriff, dem des ,sozialen Rechtsstaates' verschmelzen lassen", Forsthoff, VVDStRL 1954, S. 25 ff.; ebenso Anhur Kaufmann, JZ 1967, S. 556; ders., Strafrecht und Strafvollzug, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die Strafvollzugsreforrn, 1971, S. 44. 348 Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 77. 349 Schewick, BewHi 1985, S. 4; vgl. auch Volckan, BewHi 1985, 24; Würtenberger, JZ 1967, s. 236.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
zulegen. Eine verfassungskonforme Auslegung ist immer dann möglich, wenn das Gesetz ohne die Heranziehung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte eine Auslegung zuläßt, die mit der Verfassung vereinbar ist, oder wenn ein mehrdeutiger oder unbestimmter Inhalt des Gesetzes durch Inhalte der Verfassung bestimmt wird350. Der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung ergibt sich aus der Einheit der Rechtsordnung, um dieser Einheit willen müssen Gesetze, die unter der Geltung des Grundgesetzes erlassen worden sind, im Einklang mit der Verfassung ausgelegt, bzw. dem Recht einer neuen Verfassungslage angepaßt werden351 . Zudem entspricht es dem Prinzip richterlicher Zuordnung gegenüber dem Gesetzgeber und als ein Prinzip des Vorrangs des Gesetzgebers bei der Konkretisierung der Verfassung352• Läßt die Norm keinen Auslegungsspielraum zu, kann die Exekutive zunächst einen Rechtsstreit bezüglich der Anwendbarkeit der Norm herbeiführen. Dabei sind die einfachen Gerichte ebenso verpflichtet, zunächst die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift zu priifen353 . Daraus ergibt sich ein gewisser Bestandsschutz für das Strafvollzugsgesetz354. Ist eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich und wird angenommen, daß eine Strafvollzugsbestimmung das grundrechtlich gesicherte (Re-)Sozialisierungsinteresse eines Strafgefangenen verletzt, muß die Norm dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 I GG vorgelegt werden, da das Bundesverfassungsgericht das Verwerfungsmonopol inne hae 55 • Stellt dieses fest, daß die Strafvollzugsbestimmung das verfassungsrechtlich gesicherte (Re-)Sozialisierungsinteresse des Strafgefangenen verletzt, verwirft es die Norm. Solange die Nichtigkeit aber nicht festgestellt ist, sind die Bestimmungen des entsprechenden Gesetzes von der Exekutive und Judikative zu beachten. Das hat für das Strafrecht zur Folge, daß sich die konkret verhängte Strafe nach dem gesetzlich kodifizierten Tatbestand und der Schuld des Straftäters356 richtet357• Zeit350 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 80; siehe auch Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 166. 351 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 81. 352 Siehe Piazolo, Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 246; Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, 1981, S. 17. 353 Zur Verpflichtung der Gerichte zur verfassungskonformen Auslegung vgl. BVerfGE
41, 65,86;53, 135, 147;60,242;61, 1, 10;86,288,348.
354 V gl. von Münch/ Kunig-von Münch., GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Vorb. Art. 1- 19, Rdn. 66. 355 Vgl. Schewick, BewHi 1985, S. 4. 356 Die Nichtbeachtung des Grundsatzes ..nulla poena sine lege" verstößt zum einen aufgrund der einfach gesetzlichen Kodifikation gegen das Rechtsstaatsprinzip. Zum anderen kommt dem Grundsatz Verfassungsrang zu, vgl. BVerfGE 6, 389, 439; 9, 167, 169; 20, 323,
331; 25,269, 285; 28,378,391;41, 121, 125;50, 125, 133;57,250,275; 73,206,253; 80, 244, 255; 86,288, 313; 95, 96, 140; ebensoNeufelder, GA 1974, S. 290. 357 V gl. Arthur Kaufmann, JZ 1%7, S. 556.
VI. Zwischenergebnis
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lieh unbefristete Strafen, deren Dauer ausschließlich von dem (Re-)Sozialisierungsprozeß des Täters abhängen, sieht das Strafgesetzbuch nicht vor. Folglich ist zum einen eine - aufgrund der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit eines Straftäters über das Maß der Schuld und über die Schwere der Straftat hinausgehende Bestrafung unzulässig358 • Zum anderen ist es aufgrund des Vorranges des Gesetzes nach Art. 20 III GG unzulässig, die Freiheitsstrafe entgegen des Strafgesetzbuches bei nicht (re-)sozialisierungsbedürftigen Tatern nicht zu vollziehen. Damit setzt das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20, 28 GG dem aus dem Soziaistaatsprinzip hergeleiteten (Re-)Sozialisierungsinteresse Schranken. Denn unabhängig von der (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit der Täter sind gemäß dem Rechtsstaatsprinzip die gesetzlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuches anzuwenden. Allerdings begrenzt das Sozialstaatsprinzip auch das Rechtsstaatsprinzip hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung. Denn (re-)sozialisierungsfeindliche gesetzliche Normen müssen von den drei Gewalten, soweit dies möglich ist, im Hinblick auf die (Re-)Sozialisierung verfassungskonform ausgelegt werden. Erst wenn eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist, können die (re-)sozialisierungsfeindlichen Normen im Rahmen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verworfen werden.
VI. Zwischenergebnis Es ist festzustellen, daß zwischen der (Re-)Sozialisierung und dem Verfassungsrecht zahlreiche Zusammenhänge bestehen. Diese Zusammenhänge sind allerdings nicht explizit in der Verfassung nominiert. Im Grundgesetz ist weder die staatliche Strafgewalt ausdrücklich kodifiziert, noch sind bestimmte Strafzwecke, insbesondere die (Re-)Sozialisierung nominiert. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht für einen bestimmten Strafzweck entschieden, sondern lediglich die (Re-)Sozialisierung als einen Strafzweck verbindlich vorgegeben, indem es den (Re-)Sozialisierungsgedanken aus dem Grundgesetz herleitet. Durch diese Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip hat die (Re-)Sozialisierung Verfassungsrang erhalten. Das hat zur Folge, daß Straftäter - unabhängig von der Verankerung der (Re-)Sozialisierung in einfachen Gesetzen - einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf (Re-)Sozialisierung haben. Dieser Anspruch stellt allerdings kein soziales Grundrecht dar, sondern er beschränkt sich ebenso wie die anderen Rechte des Grundgesetzes auf eine objektive Verpflichtung des Staates. Weiterhin hat die Untersuchung ergeben, daß mit der (Re-)Sozialisierung nicht nur Rechte, sondern auch Eingriffe in die Rechte von Straftätern verbunden sind. Insbesondere zur Erreichung des Vollzugsziels im Strafvollzug wird in den Justiz358
Benda, in: Festschrift für Hans Joachirn Faller, 1984, S. 323.
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2. Kap.: Verfassungsrechtliche Fundierung des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Vollzugsanstalten in die Grundrechte Gefangener eingegriffen und dies mit dem (Re-)Sozialisierungsgedanken gerechtfertigt. Bei jedem dieser Eingriffe muß eine Einzelfallabwägung erfolgen zwischen der (Re-)Sozialisierung und anderen Verfassungsgütem. Denn die (Re-)Sozialisierung ist nur ein verfassungsrechtliches Recht von vielen und muß somit in Ausgleich gebracht werden mit sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes, den Grundrechten und - wie soeben erläutert vor allem mit dem Gebot zur Achtung der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip.
3. Kapitel
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern I. Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur (Re-)Sozialisierung Stratiälliger Bei der Untersuchung der verfassungsrechtlichen Seite der (Re-)Sozialisierung hat die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur (Re-)Sozialisierung besondere Bedeutung. Im Rahmen dieser Arbeit soll sie nicht allein maßgebend für die Entwicklung eines (Re-)Sozialisierungskonzeptes sein. Jedoch ist eine Berücksichtigung der Entscheidungen für die Entwicklung eines an verfassungsmäßigen Leitlinien orientiertes (Re-)Sozialisierungskonzeptes unabdingbar. Schon hier soll allerdings darauf hingewiesen werden, daß die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sich nicht mit allen Facetten des (Re-)Sozialisierungsgedankens beschäftigt hat und deshalb sämtliche (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen verbindlich vorgegeben hat. Sondern das Verfassungsgericht hat sich lediglich mit Einzelfällen beschäftigt, aus denen die anderen Gewalten Anhaltspunkte für vergleichbare Probleme entnehmen können. So hat das Gericht mit den unterschiedlichen Entscheidungen einen Rahmen für die Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens vorgegeben, der von den drei Gewalten auszufüllen ist. Insgesamt hat das Bundesverfassungsgericht den Staatsgewalten immer einen sehr großen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens gelassen und nur als "Notbremse" eingegriffen, wenn eine Intervention unabdingbar war. Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Strafvollzug kann in drei Phasen unterteilt werden 1• In einem ersten Stadium hat das Bundesverfassungsgericht eine materielle Grundlage für den Strafvollzug gefordert und verfassungsrechtliche Vorgaben für das zu schaffende Strafvollzugsgesetz konkretisiert. In der zweiten Phase hat dieses Gericht Einzelregelungen und -fälle des materiellen Vollzugsrechts einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen. Ab den neunziger Jahren hat sich das Verfassungsgericht dann zunehmend mit dem formellen I Die Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden Gefangener ist interessanter Weise mit 7, 6% höher als die Quote sonstiger Verfassungsbeschwerden, Dünkel, GA 1996, S. 527; siehe auch Heghmanns, ZStW 1999, S. 668.
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozia1isierung von Straftätern
Vollzugsrecht beschäftigt. Die (Re-)Sozialisierung war Gegenstand aller drei Phasen. Im Folgenden soll ein einführender Überblick über die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur (Re-)Sozialisierung gegeben werden. Denn auch wenn der Rechtsprechung kein verfassungsrechtliches (Re-)Sozialisierungskonzept entnommen werden kann, zeigt erst die Fülle der unterschiedlichen Urteile zur (Re-)Sozialisierung die Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht dem Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung beimißt Gleichzeitig bestätigen die einzelnen Entscheidungen immer wieder die These von Müller-Dietz: ,,Das Bundesverfassungsgericht sorgt manchmal bei unerwarteten Gelegenheiten im Bereich des Strafvollzuges dafür, daß das Grundgesetz im Alltag ernst genommen wird." 2 Die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung zur (Re-) Sozialisierung begann am 14. 03. 1972. Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich mit der Rechtmäßigkeit des Anhaltens eines Briefes an einen Gefangenen. Es entschied, daß auch die Grundrechte von Strafgefangenen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden können. Dabei kommt eine solche Einschränkung nur in Betracht, "wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerläßlich ist"3 . Damit verabschiedete sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung von der Lehre des besonderen Gewaltverhältnisses und forderte vom Gesetzgeber eine gesetzliche Grundlage für den Strafvollzug. Dariiber hinaus wurde in diesem Urteil erstmals zwischen dem Zweck der Strafe - Abschreckung, Vergeltung, Sühne und Besserung - und dem Ziel des Strafvollzuges differenziert, das in der ,,Eingliederung des Verurteilten in die Rechtsgemeinschaft" gesehen wurde4 • Mit diesem Urteil war der Grundstein für das der (Re-)Sozialisierung Strafgefangener verpflichtete Strafvollzugsgesetz gelegt. Von nun an stand die (Re-)Sozialisierung im Mittelpunkt fast aller bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen, die sich mit den Grundrechten Gefangener im Strafvollzug beschäftigten. Indem das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte Gefangener mit der (Re-)Sozialisierung in Verbindung brachte, gab das Gericht einen neuen Maßstab für die Beurteilung von Grundrechtseingriffen vor. Jeder Grundrechtseingriff mußte fortan unter anderem daran gemessen werden, ob er zweckmäßig ist, das Strafvollzugsziel zu erreichen. Folge dieses Maßstabes ist zum einen, daß bestimmte Grundrechtseingriffe im Strafvollzug erfolgen dürfen, wenn dadurch der Gefangene (re-) sozialisiert werden kann. Zum anderen dürfen Eingriffe in Grundrechte Gefangener dann nicht erfolgen, wenn sie dem Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung entgegenstehen. Somit wurde durch diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2 Müller-Dietz ein einem Gespräch mit Kerscher, SZ 8. 3. 1995, S. 3; vgl. auch ders., NIW 1976, S. 913; Peters, JR 1978, S. 180. 3 BVerfGE 33, 1. 4 BVerfGE 33, 1, 8.
I. Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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das Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten und dem Recht auf (Re-)Sozialisierung begründet. Dieses Spannungsverhältnis kann bei Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt dadurch gelöst werden, daß geprüft wird, inwieweit das dem Eingriff zugrunde liegende Gesetz dem Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung dient oder diesem entgegensteht. Wird das Gesetz der mit Verfassungsrang ausgestatteten (Re-)Sozialisierung nicht gerecht, ist der Eingriff verfassungswidrig. Fördert das Gesetz hingegen die (Re-)Sozialisierung und ist der auf dem Gesetz beruhende Eingriff verfassungsmäßig, ist der Eingriff rechtmäßig. Bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt kann das Spannungsverhältnis nur im Einzelfall mittels eines im Sinne praktischer Konkordanz erfolgenden Ausgleichs gelöst werden. Es kommt weder der (Re-)Sozialisierung, noch dem Grundrecht verfassungsrechtlich Priorität zu, sondern im Einzelfall muß entschieden werden, welchem Verfassungsgut der Vorrang eingeräumt wird, der (Re-)Sozialisierung oder dem betroffenen Grundrecht. Ein Jahr später am 05. 06. 1973 ging das Bundesverfassungsgericht erneut auf den (Re-)Sozialisierungsgedanken ein. Gegenstand des sogenannten LebachUrteils war die Zulässigkeit der Berichterstattung von Rundfunk- oder Fernsehanstalten über bestimmte Straftäter und ihre Taten im Hinblick auf eine Gefährdung der (Re-)Sozialisierung5 . Dabei entschied das höchste Gericht, daß es nicht zulässig ist, sich zeitlich unbeschränkt mit der Person des Straftäters und seiner Privatsphäre zu befassen. Eine Gefährdung der (Re-)Sozialisierung ist nach dieser Entscheidung regelmäßig dann anzunehmen, wenn eine den Täter identifizierende Sendung nach seiner Entlassung oder in zeitlicher Nähe zu der bevorstehenden Entlassung ausgestrahlt werden soll6 . "Als maßgebender Orientierungspunkt für die nähere Bestimmung der zeitlichen Grenzen kommt das Interesse an der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, an seiner Resozialisierung in Betracht"7 . Wieder hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die (Re-)Sozialisierung in Verbindung mit Grundrechten des Gefangenen gebracht. Es hat hier nicht die Verfassungsmäßigkeit des Grundrechtseingriffs als solchen von der (Re-)Sozialisierung abhängig gemacht, sondern die Verfassungsmäßigkeit der Dauer dieses Eingriffs von dem dadurch beeinträchtigten (Re-)Sozialisierungsinteresse. Das zeigt, daß die (Re-)Sozialisierung nicht nur Grundrechtseingriffen als solchen entgegenstehen kann, sondern auch maßgebend für die zulässige Intensität von Eingriffen in Grundrechte Gefangener ist. s BVerfGE 35, 202. BVerfGE 35, 202, 237 f. Handelt es sich um eine Ausstrahlung, die einige Jahre nach der Entlassung stattfindet, scheidet eine Gefährdung der (Re-)Sozialisierung nach dem OLG Saarbrücken hingegen aus, OLG Saarbrücken, Urt. vom 14. 1. 1998, NJW-RR 1998, S. 747; das BVerfG bejahte hingegen 1999 die Möglichkeit einer Gefahrdung der Resozialisierung auch ohne zeitliche Nähe zur Haftentlassung, BVerfG, Beschl. vom 25. 11. 1999-1 BvR 348/98 und 755/98, NJW 2000, S. 1860. 7 BVerfGE 35, 202, 235. 6
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
Zudem hat das Verfassungsgericht in dieser Entscheidung der (Re-)Sozialisierung erstmals Verfassungsrang zugemessen, indem es feststellte: "Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muß der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach VerbüBung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG"8 • Die vom Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung erstmals vorgenommene Herleitung der (Re-)Sozialisierung aus der Verfassung war für die Fortentwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens in der Literatur ganz entscheidend9 . Indem durch die Entscheidung der in der Wissenschaft teilweise schon angenommene Verfassungsrang der (Re-)Sozialisierung bestätigt wurde und das Bundesverfassungsgericht hieraus staatliche Pflichten ableitete, wurde der Verfassungsrang der (Re-)Sozialisierung Grundlage aller wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem (Re-)Sozialisierungsgedanken beschäftigten. Die drei Gewalten sind seitdem ausdriicklich verpflichtet, dem (Re-)Sozialisierungsgedanken gerecht zu werden. Denn der Staat wurde mit dieser Entscheidung zur (Re-)Sozialisierung Gefangener verpflichtet. Er hat dafür zu sorgen, daß eine (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug möglich ist. Viele Verfassungsbeschwerden von Gefangenen konnten seit dieser Entscheidung insofern positiv beschieden werden, als vom höchsten Gericht festgestellt wurde, daß vor allem die Exekutive ihrer Verpflichtung zur (Re-)Sozialisierung im konkreten Fall nicht nachgekommen ist. Die nächste Entscheidung zur (Re-)Sozialisierung erging am 29. 10. 1975. Noch einmal ging das Bundesverfassungsgericht auf die geforderte Verabschiedung eines Strafvollzugsgesetzes ein. Es stellt fest: "Finanzielle Erwägungen oder organisatorische Schwierigkeiten, die ein Strafvollzugsgesetz mit sich bringen mag, dürfen eine Verabschiedung nicht unangemessen verzögern. Vielmehr muß der Staat den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels erforderlich ist." 10 Gegenstand der Entscheidung waren- ebenso wie in der Entscheidung vom 14. 03. 1972- Eingriffe in die Grundrechte von Gefangenen. Konkret ging es um die nicht erfolgte Aushändigung der vom Gefangenen bestellten "St. Pauli-Nachrichten" und anderer Gegenstände an diesen. Diese Eingriffe in die Grundrechte des Gefangenen rechtfertigte das Gericht damit, daß sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerläßlich sind. "Unerläßlich sind solche Maßnahmen, ohne die ( ... )der Zweck des Strafvollzuges ernsthaft gefährdet würde. Unerläßlich ist s BVerfGE 35, 202, 235 f.; bestätigend BVerfGE 66, 337, 360; 86, 288, 312; BVerfG, Beschl. Vom 7. 6. 1993-2 BvR 1907/91, StV 1994, S. 94; BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30; BVerfG, Beschl. vom 2. 3. 1998-2 BvR 77/ 97, NStZ 1998, S. 374. 9 Siehe 2. Kapitel II. 10 BVerfGE 40, 276, 284; bestätigend BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986- 2 BvR 547/84 (unveröffentlicht).
I. Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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insbesondere das Bemühen um die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft."ll Damit hat das Bundesverfassungsgericht erstmals die (Re-)Sozialisierung nicht als Recht des Straffälligen verstanden. Es hat die (Re-)Sozialisierung vielmehr als Rechtfertigung für Eingriffe in die Rechte Gefangener begriffen und damit im konkreten Fall das Spannungsverhältnis zwischen (Re-)Sozialisierung und Grundrechten zugunsten der (Re-)Sozialisierung gelöst. Eines der umstrittensten Urteile des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des (Re-)Sozialisierungsgedankens erging am 21. 06. 1977 12 . In dieser Entscheidung wurde die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord festgestellt13. Das Gericht ging davon aus, daß die lebenslange Freiheitsstrafe als Sanktion für schwerste Tötungsdelikte zum Schutz des menschlichen Lebens, als einem überragenden Rechtsgut, eine wichtige Funktion erfüllt. "Diese Sanktion steht einer späteren Resozialisierung nicht Rückfall gefährdeter Mörder keineswegs entgegen und entspricht der Schuldausgleichs- und Sühnefunktion der Strafe." 14 Mit dieser Entscheidung hat das Gericht klar gemacht, daß es weiterhin an einer Kombination verschiedener Strafzwecke festhält Bei der Verhängung der Strafe ist für das höchste Gericht die Generalprävention von besonderer Bedeutung. Das Gericht ging in dieser Entscheidung jedoch auch auf den Strafzweck der positiven Spezialprävention ein. So stellte es fest, daß jedem Gefangenen ein Anspruch auf (Re-)Sozialisierung zustehen muß 15 . Das gilt auch dann, wenn erst nach langer StrafverbüBung die Aussicht besteht, sich auf das Leben in Freiheit einrichten zu können. Denn auch in solchen Fällen kann der Vollzug der Strafe die Voraussetzungen für eine spätere Entlassung schaffen und dem Verurteilten die (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft erleichtern. So forderte das Bundesverfassungsgericht neben der Möglichkeit der Begnadigung, aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips, eine gesetzlich kodifizierte Möglichkeit zu schaffen, unter der die lebenslange Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann. Das 20. Strafrechtsänderungsgesetz schuf daraufhin im Jahre 1981 mit den§§ 57a und b StGB die geforderte gesetzliche Möglichkeit der Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe 16• Aus der bundesverfassungsgerichtliehen Feststellung, daß das Vollzugsziel für alle Strafgefangenen gilt, kann aber nicht nur gefolgert werden, daß die Möglichkeit bestehen muß, für alle Gefangenen die Freiheitsstrafe auszusetzen. Vielmehr II BVerfGE 40, 276, 284; ebenso BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613. 12 BVerfGE 45, 187. 13 Ebenso 96, 100, 101; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, 121. 14 BVerfGE 45, 187, 254. 15 BVerfGE 45, 187, 239; bestätigend BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996- 2 BvR 2267/95, NStZ 1996, S. 614. 16 BT-Drucks. 8/3218, S. 3.
s.
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kann aus dieser Entscheidung auch geschlossen werden, daß eine schulddifferenzierende Vollzugsgestaltung verfassungswidrig ist. Das Vollzugsziel gilt nach dem Urteil des höchsten Gerichts für alle Gefangenen, unabhängig von der Schuld. Jedem Gefangenen muß die Möglichkeit eröffnet werden, (re-)sozialisiert zu werden. Jeder Gefangene muß also die Möglichkeit haben, an (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen teilzunehmen. Bedeutung hat dies vor allem für die Gewährung von Vollzugslockerungen. Diese dürfen folglich nicht generell aufgrund hoher Schuld versagt werden, wenn sie für die (Re-)Sozialisierung notwendig sind. Entsprechend der allgemeinen Wende in der Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik in den achtziger Jahren war auch in der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung eine - vorübergehende - Abkehr vom (Re-)Sozialisierungsgedanken festzustellen. So entschied das Gericht am 28. 06. 1983 erstmals, daß die (Re-)Sozialisierung nicht das einzige Ziel des Vollzuges ist17, auch wenn in § 2 StVollzG lediglich dieses Vollzugsziel kodifiziert ist. Dies war möglich, da die Bindung an das Gesetz nach Art. 20 III GG nicht für das Bundesverfassungsgericht gilt. Die fehlende Bindung des höchsten Gerichts an die einfachen Gesetze zeigt sich darin, daß das Gericht die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen feststellen, Normen für nichtig erklären und Gesetzesänderungen fordern kann. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, daß die Entscheidung über die Gewährung von Hafturlaub zwar auch an dem Kriterium der (Re-)Sozialisierung auszurichten sei, jedoch zudem die besondere Schwere der Tatschuld berücksichtigt werden könnte. Hier zeigt sich, daß das Bundesverfassungsgericht sich bezüglich verschiedener Strafzwecke nicht festgelegt hat. Es hat niemals von folgender Aussage Abstand genommen: "Das geltende Strafrecht und die Rechtsprechung folgen weitgehend der Vereinigungstheorie, die- allerdings mit verschieden gesetzten Schwerpunkten - versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Dieses hält sich im Rahmen der dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zukommenden Gestaltungsfreiheit, einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen." 18 Dadurch, daß das Bundesverfassungsgericht die Strafzwecke nicht nach verschiedenen Stadien der Strafe differenziert, schließt es auch die Generalprävention im Vollzug nicht aus. Es überläßt dem Gesetzgeber die Festlegung der Strafzwecke. Dieser muß sich jedoch bei der Festlegung auch an verfassungsrechtliche Grundsätze halten. Wie oben erläutert, ist ein ausschließlich generalpräventiv ausgestalteter Vollzug verfassungswidrig19. Die Entscheidung zeigt aber, daß das Bundesverfassungsgericht zumindest die Berücksichtigung des Schuldgrundsatzes auch im Vollzug für rechtmäßig hält. BVerfGE 64, 261, 275. BVerfGE 45, 187, 253; 91, 1, 31; BVerfG, Beschl. vom 16. 3. 1994-2 BvR 202/93, NStZ 1994, S. 578; BVerfG, Beseht. vom 2. 11. 1994-2 BvR 268/92, NJW 1995, S. 1081. 19 Siehe 2. Kapitel I. 4. c) bb). 17
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Das Gericht hat mit dieser Entscheidung der Exekutive nicht vorgeschrieben, den Schuldgrundsatz bei Entscheidungen im Vollzug anzuwenden, es hat dieses nur gestattet. Zudem waren die Ausführungen nicht nach § 31 I BVerfGG bindend, weil sie die Entscheidung nicht trugen, sondern eine unverbindliche Auslegung einfachen Rechts darstellten20. Somit hat sich das Bundesverfassungsgericht damit formellrechtlich auch nicht in Gegensatz zu seiner vorangegangenen Rechtsprechung gesetzt, wonach die (Re-)Sozialisierung alleiniges Vollzugsziel war21 . Ähnlich restriktiv wie in diesem Urteil entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Kammerbeschluß vom 25. 08. 1986. Gegenstand der Beschwerde war die Nichtaufnahme der Gefangenen in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung. Bei lokrafttreten des Strafvollzugsgesetzes war die Einbeziehung der Strafgefangenen in die Arbeitslosen- Kranken- und Rentenversicherung nach §§ 190195 StVollzG vorgesehen. Nach§ 198 III StVollzG wurden die Vorschriften betreffend Versicherungen nach §§ 190-195 StVollzG jedoch bis zum Erlaß eines besonderen Bundesgesetzes suspendiert. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß diese Suspendierung nicht verfassungswidrig ist. "Bei der ihm (dem Gesetzgeber) allein obliegenden Entscheidung darüber, welche Resozialisierungsmaßnahmen möglich und finanzierbar sind, hat der Gesetzgeber im Rahmen seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung weitreichende Gestaltungsfreiheit Es liegt auch im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit, ein von ihm verfolgtes rechtspolitisches Ziel aus haushaltspolitischen Notwendigkeiten einzuschränken oder zurückzustellen ( ... ). Durch die vorläufige Nichtaufnahme der Gefangenen in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung wird die Resozialisierung als Vollzugsziel jedenfalls nicht in Frage gestellt." 22 Aus dieser Entscheidung ist nicht zu folgern, daß das Bundesverfassungsgericht davon ausging, daß die Aufnahme der Gefangenen in die gesetzlichen Krankenund Rentenversicherung die (Re-)Sozialisierung nicht fördert. Das Verfassungsgericht beurteilt die Aufnahme der Gefangenen in die Rentenversicherung lediglich nicht als verfassungsrechtlich unerläßlich, sondern gestattet dem Gesetzgeber, innerhalb seines Gestaltungsspielraumes zu entscheiden, ob und wann Strafgefangene gesetzlich vollständig in die Sozialversicherung aufgenommen werden. Erst im Jahre 1993 ging das Bundesverfassungsgericht wieder auf die (Re-)Sozialisierung ein. Es beschäftigte sich mit der Entscheidung einer Strafvollzugsbehörde, aufgrund derer einem Strafgefangenen seine externen Lautsprecherboxen trotz Erlaubnis und jahrelanger Duldung von der Vollzugsbehörde weggenommen wurden. Das Verfassungsgericht stellte eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips 2o Vgl. Bemmann, BewHi 1988, S. 456; Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 2 Rdn. 23. 21 BVerfGE 35,202, 235; 45, 187,258. 22 BVerfG, Karnrnerbeschl. vom 25. 8. 1986- 2 BvR 547/84 (unveröffentlicht).
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fest, weil das sich hieraus ergebende Gebot des Vertrauensschutzes nicht beachtet worden sei. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kann ein Verstoß gegen das Gebot des Vertrauensschutzes auch das (Re-)Sozialisierungsgebot beeinträchtigen. ,,Ein Gefangener wird, wenn ihm die durch Überlassung eines Gegenstandes eingeräumte Rechtsposition ( ... ) wieder entzogen wird, ohne daß er in seiner Person hierzu Anlaß gegeben hätte, dies regelmäßig als höchst belastend und ungerecht empfinden. Eine solchermaßen empfundene Behandlung läuft dem Ziel des Strafvollzuges zuwider ( ... ). ,m Demzufolge ist mit der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug auch unabhängig von bestimmten (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen ein bestimmter Umgang mit dem Gefangenen verbunden. Das Gericht ging davon aus, daß gerade der den Vollzug beherrschende (Re-) Sozialisierungsgrundsatz hier große Sensibilität gebietet, da vor allem der sich korrekt verhaltende Gefangene besonders empfindlich auf ihm zugefiihrtes Unrecht reagiere24• Hieraus kann gefolgert werden, daß die (Re-)Sozialisierung in hohem Maße auch vom Verhalten der Vollzugsbediensteten gegenüber den Strafgefangenen abhängt. Sie dürfen den Gefangenen nicht so behandeln, daß dieser das Verhalten der Beamten als ungerecht und belastend empfindet. Folglich sollten trotz der gravierenden Probleme im Vollzug und des Personalmangels die von ihnen gegenüber den Gefangenen angeordneten Maßnahmen konstant sein, und die Beamten sollten schon aus Griinden der (Re-)Sozialisierung den Inhaftierten einen gewissen Anstand und Respekt entgegenbringen. Am 16. 05. 1995 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Zulässigkeit des Anhaltens von Schreiben an Gefangene. Das Gericht bestätigte seine Rechtsprechung aus dem Jahre 1972 und stellte diesbezüglich fest, daß "angesichts der großen Bedeutung, die das Vollzugsziel für die Ausgestaltung der Haft hat, ( ... ) schon die Annahme, der Brief gefährde hinsichtlich des Adressaten das Vollzugsziel, die Anhaltung verfassungsrechtlich (zu) rechtfertigen (vermag)"25 . Damit bestätigt das Verfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des § 31 I Nr. 1 StVollzG, wonach der Anstaltsleiter aus Griinden der (Re-)Sozialisierung Schreiben Gefangener anhalten kann. Gleichzeitig wird durch die Entscheidung nochmals betont, daß Grundrechtseingriffe durch die (Re-)Sozialisierung verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können. Nur knapp sechs Wochen später, am 29. 06. 1995, ging das Bundesverfassungsgericht - wie schon 20 Jahre vorher - wieder auf das Spannungsverhältnis von (Re-)Sozialisierung und Grundrechten des Strafgefangenen ein. Die Justizvollzugsanstalt hatte dem Gefangenen aus Griinden der (Re-)Sozialisierung bestimmte Zeitschriften mit rechtsradikalem Gedankengut nach § 68 II 2 StVollzG vorenthalten. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß "das verfassungsrechtliche 23 24 25
BVerfG, Beschl. vom 29. 10. 1993-2 BvR 672/93, StV 1994, S. 147. BVerfG, Beschl. vom 29. 10. 1993 - 2 BvR 672/93, StV 1994, S. 147 f. BVerfG, Beschl. vom 16. 5. 1995-2 BvR 1882/92,365/93, NStZ 1996, S. 55.
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Gebot des rechtlichen Gehörs zum schonenden Ausgleich zu bringen (sei) mit den gleichfalls verfassungsrechtlich gewichtigen Belangen eines auf Resozialisierung gerichteten Vollzugszieles und der dafür erforderlichen Sicherheit und Ordnung der Anstalt. Das führt zu einer Einschränkung der Information über den Inhalt der angehaltenen Zeitschriften auf jene Angaben, die der Gefangene zur Wahrnehmung seiner Rechte benötigt und deren Mitteilung die vollzugliehen Belange nicht gefährdet". 26 Damit hat das Bundesverfassungsgericht erstmals festgestellt, daß die (Re-)Sozialisierung Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt voraussetzt. Der Terminus der Sicherheit und Ordnung ist im Strafvollzug ein geläufiger Begriff, insbesondere werden viele Grundrechtseinschränkungen damit gerechtfertigt, daß sie für die Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung unabdinglich sind. Der Begriff der Sicherheit bezieht sich auf Gefährdungen von Personal oder Gefangenen innerhalb der Anstalt. Er ist also nicht mit dem Schutz der Allgemeinheit gleichzusetzen. Der Terminus Ordnung bezieht sich auf mögliche Störungen des Anstaltsbetriebes27 . Die Beachtung der Sicherheit und Ordnung im Vollzug ist vonnöten, da menschliches Zusammenleben grundsätzlich die Einhaltung gewisser Regeln erfordert28. Ohne die Einhaltung dieser Regeln kann auch keine (Re-)Sozialisierung funktionieren. Damit beschränkt die Sicherheit und Ordnung die (Re-)Sozialisierung nicht, sondern die Einhaltung der Sicherheit und Ordnung gewährleistet nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die (Re-)Sozialisierung. Hieraus kann gefolgert werden, daß die Justizvollzugsbehörden aus ihrer Pflicht zur (Re-)Sozialisierung der Gefangenen verpflichtet sind, für die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt zu sorgen. Sie dürfen der Sicherheit und Ordnung keine Priorität gegenüber dem Vollzugsziel einräumen, aber müssen für die Einhaltung der Regeln im Vollzug insoweit sorgen, als die (Re-)Sozialisierung die Funktionsfähigkeit zentraler Handlungszusammenhänge voraussetzt. In einem weiteren Urteil, vom 14. 08. 1996, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß mit dem Resozialisierungsziel des Strafvollzuges nach § 2 StVollzG bestimmte Verpflichtungen für die Justizvollzugsanstalten erwachsen: "Die Vollzugsanstalten sind auch bei den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen verpflichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken, sie lebenstüchtig zu erhalten sowie schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs und damit auch und vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken. ( ... ) Werden diese Aufgaben von den Vollzugsanstalten im gebotenen BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613. Wassennann, u. a.-Brühl/Spittler, AK-StVollzG, 3. Aufl. 1990, vor§ 81 Rdn. 2; Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 81 Rdn. l. 28 Siehe 6. Kapitel III. 3. f). 26
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Maß erfüllt, leisten sie einen wesentlichen Beitrag dazu, etwa drohenden Persönlichkeitsveränderungen bei den Gefangenen entgegenzuwirken. " 29 Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht erstmals darauf hingewiesen, daß der Freiheitsentzug nicht unbedingt (re-)sozialisierende, sondern auch entsozialisierende Wirkung haben kann. Das zeigt, daß das Bundesverfassungsgericht die Schwierigkeiten einer (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug erkennt, und daß diese auch bei dem Versuch der (Re-)Sozialisierung Strafgefangener berücksichtigt werden müssen. Daraus ist zu folgern, daß der Staat nicht nur verpflichtet ist, die Gefangenen zu (re-)sozialisieren. Der Staat muß vielmehr Lebensbedingungen bieten, die einerseits die gesellschaftliche Eingliederung fördern, andererseits persönlichkeitsschädigenden Folgen des Freiheitsentzugs entgegenwirken. Gerade im Strafvollzug stehen viele Faktoren der (Re-)Sozialisierung entgegen. Insofern kann der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts auf drohende Entsozialisierungsprozesse im Strafvollzug dahingehend verstanden werden, daß auch andere Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung, vor allem ambulante Maßnahmen, zur (Re-)Sozialisierung von Straftätern berücksichtigt werden müssen. In einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, vom 18. 06. 1997, ging das Gericht auf das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen ein. Es entschied, daß dieses Gesetz ein Verfahren veranlaßt, in dem die Grundrechtsposition des Verurteilten neben dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung zu berücksichtigen ist. ,,Findet ein zweistufiges Verfahren statt, in dem vor der Bewilligungsentscheidung des Bundesministeriums der Justiz die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde die vollstreckungsrechtlichen Belange prüft und eine Überstellung anregt, so muß der Resozialisierungsanspruch des Verurteilten bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berücksichtigung finden." 30 Das heißt, der Anspruch auf (Re-)Sozialisierung "urnfaßt auch die gegenüber dem Strafvollzug eigenständige strafvollstreckungsrechtliche Frage, ob der Verurteilte zur VerbüBung seiner Strafe in seine Heimat überstellt wird". Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft die Frage nach der (Re-)Sozialisierung von Ausländern. Es ist in hohem Maße umstritten, ob die (Re-)Sozialisierung Ausländer auf ein Leben im Herkunftsland oder auf ein Leben in der deutschen Gesellschaft vorbereiten soll und inwieweit Ausländer im deutschen Vollzug überhaupt (re-)sozialisiert werden können. Es ist fraglich, wie sinnvoll eine Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft ist, da zahlreiche Ausländer nach VerbüBung einer Haftstrafe in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, für ein Leben im Herkunftsland aber kaum (re-)sozialisiert werden31 . BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30. BVerfGE 96, 101 f. 31 Aus diesem Grund ist im Dezember 1997 von der Bundesregierung ein internationales Abkommen, das eine Überstellung von Häftlingen auch gegen ihren Willen vorsieht, unter29
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Jedenfalls kann aus der Entscheidung geschlossen werden, daß die (Re-)Sozialisierung Deutsche wie Ausländer betrifft, also ausnahmslos jeder Verurteilte einen Anspruch auf (Re-)Sozialisierung hae2 . Am 14. 08. 1997 ging das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal auf die Rechtmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe im Hinblick auf die (Re-)Sozialisierung Strafgefangener ein. Es entschied, daß "die Androhung der lebenslangen Freiheitsstrafe ihre verfassungsrechtlich notwendige Ergänzung in einem sinnvollen Behandlungsvollzug"33 findet. Bei den sich aus dem Behandlungsvollzug ergebenden Aufgaben handelt es sich um verfassungsrechtlich fundierte Vollzugsaufgaben, die sich aus der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde herleiten. "Werden diese Aufgaben von den Vollzugsanstalten im gebotenen Maß erfüllt, leisten sie einen wesentlichen Beitrag dazu, etwa drohenden Persönlichkeitsveränderungen bei den Gefangenen entgegenzuwirken"34• Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß die Justizvollzugsanstalt und die Strafvollstreckungskammer bei der Entscheidung über die Verlegung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten das (Re-)Sozialisierungsziel und dessen gesetzliche Konkretisierung mit ihrer Auslegung des§ 65 II StVollzG vernachlässigten. Die Entscheidung bestätigt nochmals die Bedenken an den Möglichkeiten einer (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug, die das höchste Gericht bereits in der Entscheidung im Jahre 1996 äußerte. Der Hinweis des Gerichts auf die Gefahr der Entsozialisierung zeigt, daß die Justizvollzugsbehörden schon deshalb versuchen müssen, Strafgefangene zu (re-)sozialisieren, um zu verhindern, daß der Vollzug zu einem Prozeß der eigenen Entfremdung, des Abbaus der Persönlichkeit und zu einer resignativen und apathischen Grundhaltung führt. Mit der Beachtung des (Re-)Sozialisierungsgedankens durch die Judikative beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht am 12. 11. 1997. In der Entscheidung ging das Gericht davon aus, daß der Beurteilungsspielraum der Behörden, die Vollstreckungsgerichte, nicht von ihrer Pflicht entbindet zu priifen, ob die Vollzugsbehörden den ihrem Bescheid zugrundeliegenden Sachverhalt richtig und vollständig ermittelt haben. Das Bundesverfassungsgericht priift bei Entscheidungen, die den Priifungsmaßstab einer Strafvollstreckungskammer betreffen, ob diese der Justizvollzugsbehörde "nicht einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs (Art. 2 I i.V. mit Art. 1 I GG) verkannt hat" und, ob die angegriffene Entscheidung unter Zugrundelegung des fachgerichtlichen Maßstabes schlechthin zeichnet worden. Die Ratifizierung durch den Bundestag und damit das Inkrafttreten steht noch aus, dazu Stunn, Die Welt, 16. 10. 1999, S. 4. 32 Ausführlich zu der Problematik der (Re-)Sozialisierung von Ausländern, Schäfer I Sievering (Hrsg.), Ausländerrechtcontra Resozialisierung?, 1984. 33 BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1997-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 31. 34 BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1997-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 31; ebenso BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997- 2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133.
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
nicht mehr nachvollziehbar ist und damit das Willkürverbot, Art. 3 I GG, verletzt35 • Im konkreten Fall entschied es, daß der (Re-)Sozialisierungsanspruch nicht hinreichend beachtet wurde, da bei dem durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I fundierten (Re-)Sozialisierungsgebot, das Interesse des Gefangenen, möglichst bald wieder seiner Freiheit und Lebenstüchtigkeit teilhaftig zu werden "an Gewicht gewinnt, je länger die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bereits andauert" 36. In dieser Entscheidung übte das Verfassungsgericht erstmals deutliche Kritik an der Rechtsprechung der Strafvollzugskammern hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung. Das Gericht geht davon aus, daß eine Rechtsprechung, die den Beurteilungsspielraum der Justizvollzugsbehörden nicht hinreichend begrenzt, dem (Re-)Sozialisierungsinteresse der Gefangenen schadet. Das Bundesverfassungsgericht bemüht sich insofern um einen effektiveren Rechtsschutz der Gefangenen. Es zeigt auf, daß auch die Strafvollstreckungskammern verantwortlich für die (Re-)Sozialisierung Strafgefangener sind. Denn nur wenn die Gefangenen ihre gesetzlich kodifizierten Rechte auch im Rahmen eines effektiven Rechtsschutzes durchsetzen können, sind die Rahmenbedingungen für eine (Re-)Sozialisierung Strafgefangener gegeben. Wie schon im Jahre 1983 beschäftigte sich der Beschluß vom 13. 12. 1997 des Bundesverfassungsgerichts mit dem Zusammenspiel von Vollzugslockerungen bei lebenslanger Freiheitsstrafe und dem (Re-)Sozialisierungsinteresse37• Diesmal entschied das Verfassungsgericht aber ganz anders als noch im Jahre 1983. Es stellte fest, daß ein Gefangener, der Vollzugslockerungen nach § 11 I StVollzG - in diesem Fall erstmals Ausgang nach 23 Jahren- erstrebt, "durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 I i.V.m. Art. I I grundrechtlich geschützem Resozialisierungsinteresse" berührt wird. Anders als im Jahre 1983 stellte das Gericht bei der Gewährung von Vollzugslockerungen nicht mehr auf die Schwere der Tat ab. Es entschied, daß bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten - soweit die Voraussetzungen des § 57a I 1 Nr. I, 2 StGB gegeben sind- die Aussetzung der Vollstreckung des Rests der Strafe nur noch von der positiven Kriminalprognose abhängen darf. § 57 a I I Nr. I, 2 StGB legt fest, daß der Strafrest bei lebenslanger Freiheitsstrafe ausgesetzt wird, wenn fünfzehn Jahre der Strafe verbüßt sind und nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet. Das Gericht stellte fest, daß bei Vorliegen dieser Voraussetzungen die Versagung der Vollzugslockerungen auch den Schutzbereich des durch Art. 2 II 2 und Art. 104 GG garantierten Freiheitsrechts tangiert. Das Interesse des Gefangenen an Vollzugslockerungen sei dabei um so höher einzuschätzen, je länger die
BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121. BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 122; BVerfG, Beschl. Vom 13. 12. 1997 - 2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 37 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133. 35
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Vollstreckung der Strafe andauere. Das ergebe sich aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit allen staatlichen Handelns38 • Das Urteil zeigt zum einen, welche Bedeutung das Bundesverfassungsgericht Vollzugslockerungen für die (Re-)Sozialisierung zumißt Zum anderen wird aus dieser Entscheidung noch einmal das Spannungsverhältnis der (Re-)Sozialisierung zu dem rechtsstaatliehen Interesse daran, rechtskräftig erkannte Strafen zu vollstrecken und die Allgemeinheit vor Straftaten zu schützen. Die Aussetzung der Vollstreckung des Restes der Strafe setzt voraus, daß die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht gebietet. Nach dem Bundesverfassungsgericht soll bei geplanter Aussetzung des Strafrestes die Versagung von Vollzugslokkerungen das (Re-)Sozialisierungsinteresse beeinträchtigen. Daraus ist jedoch nicht zu folgern, daß das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung zu der Auffassung zuriickkehrte, daß Vollzugslockerungen von der Schwere der Schuld abhängen. Das Gericht hat nicht entschieden, daß bei besonderer Schwere der Schuld die (Re-)Sozialisierung in den Hintergrund tritt. Es geht lediglich davon aus, daß Vollzugslockerungen kurz vor der Entlassung eine besondere Relevanz für die (Re-)Sozialisierung haben. Denn das Bundesverfassungsgericht schätzt das Interesse der Gefangenen an Vollzugslockerungen um so höher ein, je länger die Freiheitsstrafe andauert. Vollzugslockerungen als (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen gewinnen an Bedeutung, je näher der Zeitpunkt der Entlassung und damit die angestrebte (Wieder-)Eingliederung riickt. Die Grenzlinie für ihre Gewährung verläuft dann erst dort, wo das Risiko des Mißbrauchs "unvertretbar" wird39. Damit kann sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Grenze der Vertretbarkeit je nach VerbüBungsdauer verschieben40. Dies erscheint auch sachgerecht, wenn man beriicksichtigt, daß mit der Dauer der Haft die Persönlichkeit der Gefangenen zunehmend beeinträchtigt wird und in immer größerem Maße eine Entsozialisierung des Gefangenen droht, so daß Vollzugslockerungen als (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen bereits zur Gegensteuerung zu dem Entsozialisierungsprozeß in der Haft erforderlich sind. Am 22. 03. 1998 befaßte sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit Vollzugslockerungen Strafgefangener. Es stellte fest, daß "dem durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I fundierten Resozialisierungsgebot ( ... ) sein (das des Gefangenen) Interesse, möglichst bald wieder seiner Freiheit und Lebenstüchtigkeit teilhaftig zu werden an Gewicht gewinnt, je länger die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bereits andauert"41. Dabei kritisierte das Gericht die Praxis der Vollzugsbehörden hinsichtlich der Gewährung von Lockerungen. Es stellte fest, daß sich "die Vollzugsbehörde nicht ohne hinreichenden Grund - etwa nur auf der Grundlage bloßer pauschaler Wertungen oder mit dem Hinweis auf eine abstrakte Flucht- oder Miß38 39
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BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. Ausführlich dazu Heghmanns, ZStW (111) 1999, S. 665. BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998 - 2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375.
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brauchsgefahr- jene Vollzugslockerungen verweigern (darf), die regelmäßig einer Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe vorausgehen"42. Ein zweites Mal in seiner Rechtsprechung spricht das Bundesverfassungsgericht hier die Problematik des Beurteilungsspielraums der Vollzugsbehörden an. Indem Vollzugsbehörden sich bei der Versagung von Vollzugslockerungen auf ihren Beurteilungsspielraum berufen und pauschale Wertungen vornehmen, umgehen sie die nach § 11 ff. StVollzG erforderliche Einzelfallwertung. Gerade dadurch, daß Vollzugslockerungen wichtige (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen darstellen, wird insofern durch die generelle Versagung von Vollzugslockerungen das (Re-)Sozialisierungsinteresse der Strafgefangenen mißachtet. Am 01. 04. 1998 bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung. Dabei betonte es die Bedeutung von Vollzugslockerungen für die (Re-)Sozialisierung Strafgefangener. Es stellte fest, "daß die Vollzugslockerung dazu dient, die Erreichung des Vollzugszweckes (Resozialisierung) zu fördern"43 • Konkret hatte nach Auffassung des Gerichts die Strafvollstreckungskammer unbeanstandet gelassen, daß die Vollzugsbehörde nur jene Gefangene für einen Besuchsausgang geeignet erachte, die sich bereits im offenen Vollzug bewährt hatten. "Damit schließt die JVA die Gewährung von Besuchsausgang als Resozialisierungsrnittel generell für den geschlossenen Vollzug aus, obwohl dies weder einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzes noch dessen irgendwie errnittelbarem Willen entspricht. Es kann dem Gesetz nämlich nicht entnommen werden, daß für eine große Zahl von Gefangenen, für die aus den verschiedensten Gründen der offene Vollzug nicht in Betracht kommt, das Resozialisierungsrnittel des Besuchsausgangs von vornherein nicht zur Verfügung stehen soll. ( ... ) Die Strafvollstreckungskammer hat das Gewicht des Resozialisierungsprinzips auch insoweit verkannt, und damit ihren eigenen Prüfungsmaßstab verfehlt, als sie die von der Vollzugsbehörde vorgetragene Erwägung hinnimmt, es bestünden Sicherheitsbedenken im Hinblick auf die zeitliche Ferne des Strafendes."44 Zunächst zeigt die Entscheidung, daß das Verfassungsgericht den offenen Vollzug nicht für alle Strafgefangenen in Betracht zieht. Deutlich wird in dieser Entscheidung zudem nochmals das Spannungsverhältnis von Sicherheit und (Re-)Sozialisierung. Nach dem Bundesverfassungsgericht kommt der Sicherheit nicht unmittelbarer Vorrang gegenüber der (Re-)Sozialisierung zu. Die unter Umständen die Sicherheit geflihrdende Vollzugslockerungen dürfen nicht pauschal für Gefangene des geschlossenen Vollzuges ausgeschlossen werden. Vielmehr gilt das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung für alle Strafgefangenen unabhängig davon, wo sie inhaftiert sind. Für die Vollzugspraxis bedeutet das, daß für jeden Gefangenen 42 BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375; siehe auch BVerfG, Beschl. Vom 24. 10. 1999-2 BvR 1538/99 (unveröffentlicht). 43 BVerfG, Beschl. vom 1. 4. 1998-2 BvR 1951/96, NStZ 1998, S. 431. 44 BVerfG, Beschl. vom 1. 4. 1998-2 BvR 1951/96, NStZ 1998, S. 431.
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unter Berücksichtigung des (Re-)Sozialisierungsinteresses im Einzelfall entschieden werden muß, wann welche Vollzugslockerung in Betracht kommt. Ein weiteres Urteil zur (Re-)Sozialisierung fiel am 01. 07. 1998. In dieser Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht fest: "Arbeit, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muß nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muß aber geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. "45 Da die Gefängnisarbeit keine derartige Anerkennung darstelle, forderte das Gericht eine Korrektur der Entlohnungsregelung des§ 200 I StVollzG46 • An dieser Korrektur wird mittlerweile gearbeitet. Seit Juli 1999 sind in einer Bund-Länder Arbeitsgruppe verschiedene Entlohnungsmodelle erarbeitet worden, die der Bundesregierung am 10. 11. 1999 vorgestellt worden sind und ab Januar 2000 von dieser überprüft wurden. Das Ergebnis wurde auf der Justizministerkonferenz im Mai 2000 vorgestellt. Das Bundesjustizministerium schlug vor, den Gefangenenlohn auf 15 Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes aller Rentenversicherten zu erhöhen, also auf etwa 650,- DM monatlich47 • Die Länder forderten hingegen mit Blick auf ihre finanziellen Belastungen nur eine Erhöhung von 7 Prozent. Bis Ende des Jahres muß aufgrund der Entscheidung des Verfassungsgerichts eine Einigung gefunden werden. Gleichzeitig beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht in dem Urteil mit der Nichtaufnahme der Gefangenen in die Rentenversicherung. Es entschied ähnlich wie schon im Jahre 1986: Die Aufnahme der Gefangenen in die Rentenversicherung ,,ist weder vom verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot gefordert ( ... )noch vom Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) geboten"48 • Damit stellte das Gericht klar, daß es dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers obliegt, durch welche Maßnahmen er eine angemessene Anerkennung der Gefangenenarbeit gewährleistet. BVerfGE 98, 169. § 200 II StVollzG sieht vor, bis zum 31. 12. 1980 über eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes zu befinden. Dies ist jedoch bis heute trotz zahlreicher Entwürfe nicht geschehen. Erstmals wurde am 11. 6. 1981 ein Entwurf zur Fortentwicklung des Strafvollzuges beschlossen, der eine Erhöhung der Eckvergütung von 5% auf 10% forderte; dieser scheiterte jedoch im Bundesrat. Im Jahre 1988 wurde ein Bundesratsentwurf zur Änderung des StVollzG entwickelt, der unter anderem auch eine Erhöhung der Eckvergütung von 5% auf 6% der Bemessungsgrundlage vorsah. Doch auch dieser Entwurf misslang unter Berufung auf die hohe Kostenlast, BR-Drucks. 270/88 S. 1; BT-Drucks. 11/3694; S. 4, 13. Ein erneuter Versuch der Verankerung einer angepaßten Entlohnung Strafgefangener wurde durch die Anfrage der Fraktion ,,Die Griinen" im Jahre 1989, sowie im Jahre 1996 gestartet. Sie scheiterten ebenfalls unter Berufung auf die angespannte Haushaltslage, BT-Drucks. 11 I 4302, S. 2 f.; 13/6683, s. 4 ff. 47 SZ 25. 05. 2000, S. 5.; Ave resch, BZ 25. 05. 2000, S. 6. 48 BVerfGE 98, 169, 212. 45
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Im Rahmen dieser Entscheidung übte das Gericht harte Kritik am Gesetzgeber. Es stellte fest, daß das Strafvollzugsgesetz insgesamt das (Re-)Sozialisierungskonzept der siebziger Jahre "nur als Torso" verwirklicht49 • Gerade diese Äußerung der Richter demonstriert sehr deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht bis heute - entgegen der aktuellen internationalen Entwicklung - am (Re-)Sozialisierungsgedanken festgehalten hat. Zudem deutet die Entscheidung darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht vermutlich in den nächsten Jahren weitere Änderungen des Strafvollzugsgesetzes zur Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens fordern wird. Das Spannungsverhältnis von Sicherheit und (Re-)Sozialisierung war erneut Gegenstand einer Entscheidung vom 24. 08. 1998. Hier stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß die Entscheidung über die bedingte Entlassung nach der Neufassung des § 57 I 1 Nr. 2 StGB eine Abwägung über das (Re-)Sozialisierungsinteresse des Rechtsbrechers und das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit erfordert. "Hierbei sind das Gewicht bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes des Verurteilten im Vollzug und die Persönlichkeit des Verurteilten zu berücksichtigen. Bei Zweifeln kommt dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit Vorrang vor dem Resozialisierungsinteresse zu. " 50 Mit dieser Entscheidung bestätigte das Bundesverfassungsgericht zum einen die Verfassungsmäßigkeit der Änderung des§ 57 StGB. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung das Spannungsverhältnis von (Re-)Sozialisierungsinteresse und Sicherheit zugunsten der Sicherheit gelöst. Mit dieser Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht in Widerspruch zur vorherigen Rechtsprechung gesetzt. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung ebenso, wie im vorherigen Urteil, auf den Gesetzestext abgestellt. Nach der Neufassung des§ 57 I 1 Nr. 2 StGB vom 26. 01. 1998 kommt die bedingte Entlassung nach zwei Dritteln einer Freiheitsstrafe nur dann in Betracht, wenn "dies unter Beriicksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann". Durch diese veränderte Fassung des Gesetzestextes soll klargestellt werden, daß nunmehr bei der Abwägung zwischen dem (Re-)Sozialisierungsinteresse des Verurteilten und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit letzterem besondere Bedeutung zukommt. Das Bundesverfassungsgericht konnte die Regelung insofern als verfassungsmäßig anerkennen, als es sich niemals für einen Strafzweck entschieden und dem Gesetzgeber insofern Gestaltungsspielraum eingeräumt hat. Zudem hat es in seiner gesamten Rechtsprechung anerkannt, daß bei der bedingten Entlassung generalprä-
BVerfGE 98, 169, 208. BVerfG, Beschl. vom 24. 8. 1998-1 Ws 159/98, NJW 1999, S. 439; so auch OLG Saarbrücken, NJW 1999, S. 439; anders OLG Bamberg, NJW 1998, S. 3508. 49
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ventive Erwägungen zu berücksichtigen sind51 • Das Gericht hat immer zwischen dem (Re-)Sozialisierungsgedanken bei Vollzugslockerungen und dem (Re-)Sozialisierungsgedanken bei der bedingten Entlassung differenziert. Es hat in einer Entscheidung angenommen, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen des§ 57a I l Nr. l die Versagung der Vollzugslockerungen den (Re-)Sozialisierungsanspruch des Straffälligen beeinträchtigt52. Anders als bei der Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe ist die Aussetzung bei § 57 StGB nicht von der Schwere der Schuld abhängig. Die Wahl der Kriterien obliegt dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich anerkannt, daß es aufgrund der dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zukommender Gestaltungsfreiheit diesem obliegt, "einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen" 53 . Es erscheint auch sachgerecht, anders als bei den Vollzugslockerungen, bei der bedingten Entlassung stärker generalpräventive Gesichtspunkte einzubeziehen. Denn eine bedingte Entlassung führt zu wesentlich größeren Gefahren für die Sicherheit der Bevölkerung als die Gewährung von kurz andauernden Vollzugslockerungen. Am 25. 11. 1999 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht nochmals mit der Ausstrahlung eines Filmes über den Soldatenmord von Lebach. Diesmal entschied es, daß die Berichterstattung über dieses Verbrechen und die Täter zulässig sei. Das Verfassungsgericht stellte fest: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt zwar auch vor stigmatisierenden Darstellungen, die die Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft wesentlich zu erschweren drohen. Das Grundrecht vermittelt Straftätern aber keinen Anspruch darauf, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr mit der Tat konfrontiert zu werden. " 54 Dadurch, daß der Fernsehsender anders als die Fernsehanstalt im Jahre 1973 keinen Dokumentarfilm, sondern einen den Täter nicht identifizierenden Bericht geplant hatte, sah das Bundesverfassungsgericht die Resozialisierung der mittlerweile aus der Haft entlassenen Straftäter nicht als gefährdet an. Es entschied, daß aufgrund der verfremdeten Darstellungsweise von dem Film keine Prangerwirkung ausgeht, so daß der Rundfunkfreiheit Vorrang vor den Persönlichkeitsbelangen des Klägers zukommt. Die Entscheidung zeigt gerade in Zusammenhang mit dem Lebach-Urteil aus dem Jahre 1973 die diffizile Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Rundfunkfreiheit und dem Recht auf (Re-)Sozialisierung. Der Ausgleich fordert eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, bei denen das Recht auf (Re-)SoBVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133. BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. 53 BVerfGE 45, 187, 253; 91, 1, 31; BVerfG, Beschl. vom 16. 3. 1994-2 BvR 202/93, NStZ 1994, S. 578; BVerfG, Beschl. vom 2. 11. 1994- 2 BvR 268/92, NJW 1995, S. 1081. 54 BVerfG, Beschl. vom 25. 11. 1999-1 BvR 348/98 und 755/98, NJW 2000, S. 1860. 51
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zialisierung angemessen berücksichtigt werden muß, aber nicht überbewertet werden darf. Die vom Bundesverfassungsgericht im Jahre 1973 entwickelten Grundsätze zur Berichterstattung über Straftäter gelten weiterhin55 . Sie fordern eine interessengerechte Abwägung zwischen der Pressefreiheit und den Grundrechten der Strafgefangenen. Ein Eingriff in die Pressefreiheit ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine Berichterstattung die (Re-)Sozialisierung ernsthaft gefährdet. Die dargelegte Rechtsprechung zeigt, daß sich das Bundesverfassungsgericht im Bereich des Strafvollzuges mit sehr unterschiedlichen Aspekten des (Re-)Sozialisierungsgedanken beschäftigt hat. Es hat nicht nur die Herleitung des grundrechtlieh geschützen (Re-)Sozialisierungsinteresse entwickelt, sondern auch die Spannungsverhältnisse von Vollzugs- und allgemeinen Strafzwecken aufgezeigt, Grundrechtseingriffe erläutert sowie sich mit einzelnen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen wie Vollzugslockerungen oder Arbeit befaßt. Insgesamt hat es zunächst die Entwicklung des Strafvollzugsgesetzes vorangetrieben, indem es eine gesetzliche Grundlage für Grundrechtseingriffe bei Strafgefangenen gefordert hat. Danach hat es die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bestätigt und nur in einigen Fällen Verfassungsverstöße festgestellt. Dabei wurden die Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an die drei Gewalten gestellt hat, immer detaillierter. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die an gesetzliche Regelung und Vollzugspraxis mittlerweile angelegt werden, erscheinen deutlich verfeinerter und differenzierter, als die der siebziger Jahre. Dies ist wohl eine Folge der wachsenden Komplexität der Strafvollzugsmaterie selbst, aber auch der heutigen Lebensverhältnisse, die einen (Re-)Sozialisierungsvollzug erschweren56 .
II. Einfluß des Bundesverfassungsgerichts auf die drei Staatsgewalten hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straffälliger Wie der Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits gezeigt hat, hat das Gericht an die drei Gewalten bei der Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens bestimmte Anforderungen gestellt. Diese Anforderungen haben entscheidend zur Fortentwicklung des (Re-)Sozialisierungsgedankens beigetragen. Vorliegend soll untersucht werden, welchen konkreten Einfluß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die einzelnen Gewalten hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung hatte.
55 Zur Kodifikation dieser Grundsätze in den publizistischen Grundsätzen des Pressekodexes siehe 4. Kapitel III. 4. 56 Vgl. Müller-Dietz, JuS 1999, S. 957; Siehe auch 6. Kapitel Ill. 3.
II. Einfluß des Bundesverfassungsgerichts auf die drei Staatsgewalten
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1. Stellung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den drei Staatsgewalten Nach§ 1 BVerfGG ist das Bundesverfassungsgericht "ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes". Das Verfassungsgericht hat umfassende Kontrollbefugnisse gegenüber den drei Gewalten. Da der Zugang zum Verfassungsgericht und dessen Prüfungskompetenz jedoch beschränkt sind, kann das Gericht nur punktuell und im Rahmen seiner Prüfungsbefugnis zu den ihm vorgelegten Fragen Stellung nehmen. "Für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Strafrecht bedeutet dies, daß vor allem einzelne Stellungnahmen des Gerichts zu entscheidungserheblich gewordenen Fragen vorliegen, nicht hingegen ein in jeder Hinsicht durchgängiges und in sich geschlossenes verfassungsrechtliches System des Strafrechts. " 57 Innerhalb seiner Möglichkeiten hat das Verfassungsgericht dafür Sorge zu tragen, daß die Vollzugswirklichkeit soweit wie möglich mit der Verfassung übereinstimmt. Das Gericht hat dabei eine sehr schwierige Position, weil es einerseits den Anforderungen der sich ständig ändernden Verhältnisse und andererseits den Anforderungen der zu bewahrenden Verfassung gerecht werden muß5 8 • Die dadurch entstehenden Probleme löst es durch eine zurückhaltende Rechtsprechung gegenüber den anderen Staatsgewalten - vor allem gegenüber dem Gesetzgeber. Das Gericht unterläßt es also, "Politik zu betreiben", das heißt, in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Es zielt darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten59 • Die Folge ist, daß das Bundesverfassungsgericht das Handeln der drei Gewalten nicht darauf überprüft, ob die Gewalten von ihrem durch die Verfassung eingeräumten Ermessen einen zweckmäßigen Gebrauch gemacht haben. Vor allem setzt es nicht seine sachlichen Erwägungen an die Stelle der Erwägungen der anderen Verfassungsorgane60.
57
Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 61.
Vgl. Hinkel, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1984, S. 20; Lee, Schonung des Gesetzgebers bei Normenkontrollentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 50; Limbach, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor, 1995, S. 15. 59 BVerfGE 36, I, 14 f. 60 Vgl. Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, 3. Auf!. 1981, S. 17. 58
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2. Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Legislative hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung StratTälliger Das Bundesverfassungsgericht gewährt dem Gesetzgeber in seiner Rechtsprechung grundsätzlich eine sehr weitreichende Einschätzungsprärogative. Das Verfassungsgerlebt spricht gewöhnlich von dem "gesetzgeberischen Ermessen" oder aber von der "Gestaltungsfreiheit" des Gesetzgebers61 • Nach dem Bundesverfassungsgericht ,,hängt die Einschätzungsprärogative im Einzelnen von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter"62 • Insgesamt ,,hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ( ... ) bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrundegelegt, die von einer Evidenzkontrolle, über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiven inhaltlichen Kontrolle reichen"63 . Das Bundesverfassungsgericht nimmt allerdings in ständiger Rechtsprechung keine Zweckmäßigkeitskontrolle gegenüber Legislativakten vor: "Ob der Gesetzgeber ( ... ) die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden habe, könne das Bundesverfassungsgericht nicht überprüfen, es habe lediglich darüber zu wachen, daß die Entscheidung des Gesetzgebers im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Werteordnung stehe und auch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspreche. "64 ,,Der Gesetzgeber muß bei der Ausübung der ihm erteilten Ermächtigung sowohl die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG), das oberste Prinzip der verfassungsmäßigen Ordnung, als auch weitere Verfassungsnormen, insbesondere den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und des Gebot der Rechts- und Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) beachten"65. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht darf dem Gesetzgeber nur dann entgegentreten, wenn die Legislative diese Wertentscheidungen ganz außer acht gelassen hat oder gänzlich untätig geblieben ist. Weiterhin darf das Gericht vom Gesetzgeber bestimmte Maßnahmen fordern, wenn die bisher getroffenen Maßnahmen evident unzureichend sind oder die Art und Weise ihrer Realisierung offensichtlich falsch ist66. Das Gericht prüft nur, ob das eingesetzte Mittel zur Realisie61 Vgl. BVerfGE 4, 7, 18; 27, 253; 79, 174, 202; 77, 170, 171; 82, 60, 81; 85, 191, 212; 90, 286; 91, 1, 32; 92, 26; 98, 169; BVerfG, Karnmerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/ 84 (unveröffentlicht); BVerfG, Beschl. vom 19. 9. 1996-1 BvR 1767/92; NJW 1997, S. 247; BVerfG, Beschl. vom 9. 2. 1998-1 BvR 2234/97, NJW 1998, S. 2962. 62 BVerfGE 50, 290, 332 f.; 77, 170, 215. 63 BVerfGE 50, 290, 333; vgl. auch BVerfGE 72, 105, 115; siehe auch Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 99; Eckart Klein, in: Festschrift für Ernst Benda, 1995, S. 144. 64 BVerfGE 80, 182, 186; siehe auch BVerfGE 27, 18, 30; 27, 375, 389 f.; 37, 201, 212; 45,272,289;51,60, 74;80,244,255;90, 145,173. 65 BVerfGE 45, 202, 223.
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rung der Wertentscheidung "objektiv untauglich", "objektiv ungeeignet" oder "schlechthin ungeeignet" ist. Für das (Re-)Sozialisierungsinteresse bedeutet dies, daß der Gesetzgeber bei der Schaffung von Gesetzen zwar das verfassungsrechtlich geschützte (Re-)Sozialisierungsgebot beachten muß, jedoch die Maßnahmen, durch die das (Re-)Sozialisierungsinteresse verwirklicht werden soll, frei wählen darf; solange sie nur geeignet sind, die ehemals Straffälligen zu (re-)sozialisieren. Hat der Gesetzgeber sich für eine bestimmte Rechtsvorschrift entschieden, durch die dem (Re-)Sozialisierungsgebot Rechnung getragen werden soll, und läßt diese Norm mehrere Auslegungen zu, von denen eine verfassungswidrig ist, die andere aber verfassungsmäßig, erklärt das Verfassungsgericht die Rechtsvorschrift in der verfassungsmäßigen Auslegung für gültig. Denn "der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt (Art. 20 Abs. 2 GG) gebietet es ( ... ), in den Grenzen der Verfassung das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat. Er fordert mithin eine verfassungskonforme Auslegung der Norm, soweit diese durch den Wortlaut des Gesetzes gedeckt ist und die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers wahrt"67 • Die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes sind also im Sinne des verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebotes auszulegen, das heißt, daß bei unbestimmten Vorschriften, wenn die Gefahr der Verfassungswidrigkeit besteht, über den Wortlaut der Vorschriften hinaus, der (Re-)Sozialisierungsanspruch der Straffälligen berücksichtigt werden muß. Diese restriktive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dazu geführt, daß die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung bislang lediglich selten und nur in besonders gelagerten Fällen festgestellt worden ist. In den Entscheidungen zur (Re-)Sozialisierung stellte das Bundesverfassungsgericht nur zweimal fest, daß der Gesetzgeber diese Grenzen überschritten hat. Die erste Entscheidung fiel am 21. 06. 197768 . In dieser Entscheidung nahm das Gericht an, daß der Gesetzgeber mit den bisherigen Regelungen zur lebenslangen Freiheitsstrafe den Anforderungen an das Rechtsstaatsprinzip nicht gerecht geworden ist. So forderte das Bundesverfassungsgericht, neben der Möglichkeit der Begnadigung eine gesetzlich kodifizierte Möglichkeit zu schaffen, unter der die lebenslange Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann. Es begründete dies damit, daß jedem Strafgefangenen ein Anspruch auf (Re-)Sozialisierung zusteht und folglich auch jedem Gefangenen die Chance gegeben werden muß, seine Freiheit wiedererlangen zu können69 • Darüber hinaus nahm es auf die Verpflichtung der Vollzugs66 Vgl. BVerfGE 39, 1, 73; 56, 54, 81; 77, 170, 215; 79, 174, 202; BVerfG, Beschl. vom 9. 2. 1998-1 BvR 2234/97, NJW 1998, S. 2962; BVerfG, Beschl. vom 24. 10. 1999- 2 BvR 1538/99 (unveröffentlicht); Lee, Schonung des Gesetzgebers bei Normenkontrollentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, 1993, S. 215; Säcker; Das Bundesverfassungsgericht, 3. Aufl. 1981, S. 17. 67 BVerfGE 86, 288, 320. 68 BVerfGE 45, 187. 69 BVerfGE 45, 187, 239; bestätigend BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30.
II Leyendecker
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
behörden Bezug, haftbedingte Persönlichkeitsveränderungen der Gefangenen zu vermeiden und stellte die Möglichkeiten, dieser Verpflichtung nachzukommen, in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. So wies das Verfassungsgericht darauf hin: "Es ist Aufgabe des Staates, die Vollzugsanstalten so auszustatten, daß sie der gesetzlichen Verpflichtung zu derartigen Maßnahmen nachkommen können. Welche Maßnahmen im einzelnen in Betracht kommen, ist eine Frage des Strafvollzuges und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden."70 In einer weiteren Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen außer acht gelassen hatte. In der Entscheidung vom 01. 07. 1998 nahm das Gericht an, daß die bisherige Entlohnungsregelung des § 200 I StVollzG dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebot nicht gerecht wird und forderte den Gesetzgeber zu einer Gesetzesänderung auf. Konkrete Vorgaben, wie diese Änderung auszusehen habe, machte das Verfassungsgericht nicht71 • Es stellte fest, daß sich die geforderte Anerkennung der Leistung Gefangener keineswegs in einem "monetären Konzept" erschöpfen muß72• Der Gesetzgeber kann "bei der Regelung dessen, was angemessen ist, die typischen Bedingungen des Strafvollzugs, insbesondere auch dessen Marktferne in Rechnung stellen. Auch spielen die Kosten der Gefangenenarbeit für die Unternehmen und die Konkurrenz durch andere Produktionsmöglichkeiten auf dem Hintergrund des jeweiligen Arbeitsmarktes eine Rolle. Deshalb hat der Gesetzgeber hier einen weiten Einschätzungsraum'm. Darüber hinaus stellte das Gericht verallgemeinernd fest: "Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot legt den Gesetzgeber nicht auf ein bestimmtes Resozialisierungskonzept fest; vielmehr ist ihm für die Entwicklung eines wirksamen Konzeptes ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Er kann unter Verwertung aller ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisse, namentlich auf den Gebieten der Anthropologie, Kriminologie, Sozialtherapie und Ökonomie, zu einer Regelung gelangen, die - auch unter Beriicksichtigung von Kostenfolgen - mit dem Rang und der Dringlichkeit anderer Staatsaufgaben in Einklang steht."74 "Die Verfassung weist die Ausgestaltung der Sozialordnung ( ... ) und die Entscheidung über die Gewährung bestimmter Vergünstigungen dem Gesetzgeber als sozialstaatliehe Aufgabe zu. Es steht grundsätzlich in seiner Gestaltungsmacht, Art und Umfang sozialer Sicherungssysteme und den Kreis der hierdurch berechtigten Personen nach sachgerechten Kriterien zu bestimmen." 75 Der Gesetzgeber kann nach Auffassung des höchsten Gerichts unter Verwertung aller ihm zu Gebote stehenden 70 BVerfGE 45, 187, 241; siehe auch BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547 I 84 (unveröffentlicht). 71 Zu den theoretischen Möglichkeiten einer besseren Anerkennung der Gefangenenarbeit durch finanzielle und andere Formen siehe Britz, ZfStrVo 1999, S. 199. n BVerfGE 98, 169, 202. 73 BVerfGE 98, 169, 202 f. 74 BVerfGE 98, 169, 201. 75 BVerfGE 98, 169, 204; vgl. auch schon BVerfGE 27, 253, 283.
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Erkenntnisse zu einer Regelung gelangen, die - auch unter Berücksichtigung von Kostenfolgen - mit dem Rang und der Dringlichkeit anderer Staatsaufgaben in Einklang zu bringen ist76• Aus dem Sozialstaatsprinzip lassen sich somit nur Rahmenbedingungen ableiten, deren nähere Ausgestaltung von den aktuellen ökonomischen und sozialen Bedingungen sowie sonstigen staatlichen Aufgaben des Gesetzgebers abhängt. Diese Einschätzung ergibt sich schon aus "Natur der Sache". Denn es besteht eine starke Abhängigkeit sozialstaatlicher Leistungssysteme von gesellschaftspolitischen Wertentscheidungen und ökonomisch-sozialen Veränderungen77 . Zudem entsprechen die gesetzgebensehen Spielräume verfassungsrechtlich dem Gebot der Gewaltenteilung und dem Demokratieprinzip. Denn wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber detaillierte Anweisungen für zukünftige Regelungen der unterschiedlichsten Lebensbereiche gäbe, würde allmählich das Parlament zu einem Vollstreckungsausschuß des Bundesverfassungsgerichts78 . Somit hat der Gesetzgeber die Wahl, die Mittel und Einrichtungen zu bestimmen, die dem Verfassungsauftrag der (Re-)Sozialisierung gerecht werden. Das bedeutet, daß der Gesetzgeber den Umfang an sozialstaatliehen Leistungsangeboten - also (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten für Straffällige - selbst bestimmen darf79• Zwingend fordert das Sozialstaatsprinzip nur, daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger schafft, für die Gefangenen dementsprechend ein Mindestmaß (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten. Dabei muß der Staat nicht eigene Organe einsetzen, um diese Mindestvoraussetzungen zu gewährleisten, sondern es steht dem Gesetzgeber frei, zur Erfüllung der verfassungsrechtlichen Anforderungen auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorzusehen80. Für die (Re-)Sozialisierung heißt das, daß der verfassungsrechtliche Auftrag der (Re-)Sozialisierung auch durch den gesetzlich kodifizierten Einsatz privater Straffälligenvereine erfüllt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat neben diesen beiden Entscheidungen keine weiteren Urteile gefällt, in denen es den Gesetzgeber zu bestimmten (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen aufforderte. Es ist aber davon auszugehen, daß das Bundesverfassungsgericht in nächster Zeit weitere Forderungen zur zeitgemäßen Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens im Strafvollzugsgesetz an den Gesetzgeber stellen wird. Denn in der eben dargestellten Entscheidung stellten die Richter fest, daß der Gesetzgeber mit dem Strafvollzugsgesetz insgesamt das (Re-)Sozialisierungskonzept der siebziger Jahre "nur als Torso" verwirklicht BVerfGE 98, 169, 201. Bieback, Jura 1987, S. 235. 78 Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 82; siehe auch Katzenstein, Das Sozialstaatsprinzip in der Rechtsprechung des BVerfG, ZSR 1985, S. 200. 79 Vgl. BVerfGE 27, 253, 282; 40, 121, 133; 82, 60, 80; siehe auch Müller-Dietz, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 78 f. 80 Richter/Schuppert, Casebook, 3. Aufl. 1996, Art. 20 B II. 76 77
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habe81 • Diese Äußerung spricht dafür, daß das Gericht bei der Überpriifung anderer Vorschriften weitere Verstöße gegen das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot feststellen und insofern aus dem (Re-)Sozialisierungsgedanken weitere Vorgaben zur verfassungsmäßigen Gesetzesänderung herleiten wird. Mögliche Kritikpunkte des Verfassungsgerichts könnten sich auf den siebenten Titel des Strafvollzugsgesetzes beziehen. Hier sind zahlreiche Übergangsvorschriften kodifiziert, wonach bestimmte Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes für Anstalten, mit deren Errichtung vor Inkrafttreten des Gesetzes begonnen wurde, nicht gelten. Diese Übergangsregelungen gelten nun seit mehr als 20 Jahren. Aus finanziellen Griinden sind sie niemals abgeschafft worden, sie erschweren die (Re-)Sozialisierungsprozesse. Folglich ist damit zu rechnen, daß das Bundesverfassungsgericht hier Verfassungsverstöße feststellen wird82 . Weiterhin ist es gut möglich, daß das Bundesverfassungsgericht eines Tages die Verfassungsmäßigkeit des § 4 II 2 StVollzG überpriifen wird. Danach dürfen den Strafgefangenen auch gesetzlich nicht kodifizierte Beschränkungen auferlegt werden, wenn diese zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerläßlich sind. Damit können zahlreiche Eingriffe in die Rechte Gefangener zur Erfüllung der Vollzugsaufgabe der Sicherheit gerechtfertigt werden. Das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung wird aber in der Vorschrift nicht erwähnt, so daß die Gefahr besteht, daß bei Eingriffen das (Re-)Sozialisierungsgebot außer acht gelassen wird83 . Bei Würdigung der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, vor allem der Bedeutung die das Bundesverfassungsgericht der (Re-)Sozialisierung zurnißt, ist folglich damit zu rechnen, daß das Gericht weitere Verstöße der Legislative gegen das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot feststellen wird.
3. Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Exekutive hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung StratTälliger Das Bundesverfassungsgericht hat die Vollzugspraxis nachhaltig durch auf den (Re-)Sozialisierungsgedanken bezogene Strafvollzugsentscheidungen beeinflußt. Dadurch, daß das Gericht im Jahre 1972 erstmals den (Re-)Sozialisierungsgedanken als einziges Vollzugsziel benannte84 und im Jahre 1973 die (Re-)Sozialisierung BVerfGE 98, 169, 208. Ausführlich dazu 6. Kapitel IV. l. a). 83 Ausführlich zu Verfassungswidrigkeiten und notwendigen Änderungen des StVollzG siehe 6. Kapitel IV. 1. 84 BVerfGE 33, 1, 8. 81
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das erste Mal aus der Verfassung ableitete85 , wurde die verfassungsrechtlich geforderte Priorität der (Re-)Sozialisierung auch für Vollzugsentscheidungen deutlich. Das Verfassungsgericht konkretisierte die Geltung des verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebots für die Vollzugsbehörden in zahlreichen Entscheidungen, indem es aus dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsinteresse Rechte und Pflichten für die Exekutive herleitete. Die Rechte der Exekutive, die sich aus dem (Re-)Sozialisierungsgebot ergeben, beziehen sich zunächst auf die Möglichkeit zu Grundrechtseingriffen aus Griinden der (Re-)Sozialisierung. So nahm das Verfassungsgericht im Jahre 1975 erstmals eine Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen zur Erreichung des Vollzugszieles, der (Re-)Sozialisierung an. Es entschied, daß solche Grundrechtseinschränkungen unerläßlich sind, "ohne die ( ... ) der Zweck des Strafvollzuges ernsthaft gefährdet würde. Unerläßlich ist insbesondere das Bemühen um die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft"86. Bestätigt wurde diese Rechtsprechung am 16. 05. 1995. In dieser Entscheidung, in welcher es um die Konfiszierung eines Briefes ging, stellte das Verfassungsgericht zunächst fest, daß "angesichts der großen Bedeutung, die das Vollzugsziel für die Ausgestaltung der Haft hat, ( ... ) schon die Annahme, der Brief gefährde hinsichtlich des Adressaten das Vollzugsziel, die Anhaltung verfassungsrechtlich rechtfertigen (vermag)" 87 • Nur einen Monat später entschied das Gericht hinsichtlich der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen, daß "das verfassungsrechtliche Gebot des rechtlichen Gehörs zum schonenden Ausgleich zu bringen (sei) mit den gleichfalls verfassungsrechtlich gewichtigen Belangen eines auf Resozialisierung gerichteten Vollzugszieles und der dafür erforderlichen Sicherheit und Ordnung der Anstalt''88 . Die Folge dieser Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist, daß die Vollzugsbehörden zahlreiche Grundrechtseingriffe mit der Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt rechtfertigen und diese Eingriffe als Voraussetzung für die (Re-)Sozialisierung ansehen 89. Es ist aber nicht nur so, daß das Bundesverfassungsgericht alle Grundrechtseinschränkungen der Vollzugsbehörden mit dem Argument der (Re-)Sozialisierung rechtfertigt, sondern umgekehrt erklärt es auch bestimmte Grundrechtseingriffe aus Griinden der (Re-)Sozialisierung für unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht erklärt solche Eingriffe in die Grundrechte Gefangener für verfassungswidrig, bei denen nicht im Wege der praktischen Konkordanz ein verfassungsmäßiger Ausgleich zwischen dem (Re-)Sozialisierungsgebot und anderen Verfassungsgütern BVerfGE 35, 202, 235 f. BVerfGE 40, 276, 284; ebenso BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613. 87 BVerfG, Beschl. vom 16. 5. 1995-2 BvR 1882/92,365/93, NStZ 1996, S. 55. 88 BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613. 89 Vgl. OLG Frankfurt, ZfStrVo 1983, S. 314 f.; LG Hamburg, NStZ 1988, 332 f.; OLG Hamm, ZfStrVo 1992, S. 136 ff. 85
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
vorgenommen wird, sondern das verfassungsrechtlich geschützte (Re-)Sozialisierungsgebot Außeracht gelassen wird. Bei dem größten Anteil der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit Eingriffen der Vollzugsbehörden in die Rechte Gefangener beschäftigten, wurde die (Re-)Sozialisierung vom Gericht insofern nicht als Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe verstanden. Vielmehr wurde mit dem Eingriff in Grundrechte Gefangener durch qie Vollzugsbehörde häufig auch ein unzulässiger Eingriff in das Recht auf (Re-)Sozialisierung angenommen. Beispielsweise in der oben erläuterten Entscheidung betreffend der Wegnahme von Lautsprecherboxen90 stellte das Verfassungsgericht eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips fest und betonte, daß gerade der den Vollzug beherrschende (Re-)Sozialisierungsgrundsatz hier besondere Sensibilität gebietet, da insbesondere der sich korrekt verhaltende Gefangene empfindlich auf ihn zugeführtes Unrecht reagiert91 . Mehrere Eingriffe in das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsinteresse stellte das Bundesverfassungsgericht bei seinen Entscheidungen betreffend der Versagung von Vollzugslockerungen und Besuchen fest. So entschied das Verfassungsgericht am 12. 11. 1997, daß bei der Versagung einer Ausführung des Gefangenen der (Re-)Sozialisierungsanspruch nicht hinreichend beachtet wurde. "Bei dem durch Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG fundierten Resozialisierungsgebot, gewinnt das Interesse des Gefangenen, bald wieder seiner Freiheit und Lebenstüchtigkeit teilhaftig zu werden an Gewicht, je länger die Vollstreckung der Freiheitsstrafe bereits andauert" 92. "Der pauschale Vortrag der JVA, der Beschwerdeführer sei "kerngesund, ausgesprochen vital, kräftig und zukunftsorientiert", weshalb keine Besorgnis bestehe, der bisherige Strafvollzug hätte bei ihm zu schädlichen Folgen geführt, genügt nicht den Anforderungen des oben dargelegten Resozialisierungsgebots, wonach jedenfalls in den Fällen langjährig inhaftierter Gefangener eine Gesamtwürdigung der für und gegen die Gewährung von Vollzugslockerungen sprechenden Gesichtspunkte von Verfassungs wegen geboten ist" 93 • Einen knappen Monat später ergänzte das Verfassungsgericht diese Entscheidung dahingehend, daß ein Gefangener, der Vollzugslockerungen nach § 11 I StVollzG erstrebt, "durch deren Versagung in seinem durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I grundrechtlieh geschützem Resozialisierungsinteresse berührt" wird94. Bei der Gewährung von Vollzugslockerungen darf sich die Justizvollzugsanstalt insofern nicht "auf bloße pauschale Wertungen oder auf den Hinweis einer abstrakten Flucht- oder Siehe 3. Kapitel I. BVerfG, Beschl. v. 29. 10. 1993-2 BvR 672/93, StV 1994, S. 147. 92 BVerfG, Beschl. vorn 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 122; BVerfG, Beschl. vorn 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vorn 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 93 BVerfG, Beschl. vorn 12. 11. 1997-2 BvR615/97, NStZ-RR 1998, S. 123. 94 BVerfG, Beschl. vorn 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; vgl. auch Beschl. vorn 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121. 90
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Mißbrauchsgefahr i. S. von § 11 II StVollzG beschränken. Sie hat vielmehr im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht oder Mißbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren"95 • Weiterhin forderte das Verfassungsgericht im Jahre 1976 die zuständigen Behörden auf, die erforderlichen und zurnutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um in angemessenem Umfang Besuche für die Gefangenen zu ermöglichen, da der Vollzug dazu beitragen kann, daß sich Strafgefangene und in Freiheit lebende Angehörige tiefgreifend entfremden96• Der "Resozialisierungsauftrag"97 der Strafvollzugsbehörden kann nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts sogar gebieten, den Gefangenen in eine Justizvollzugsanstalt in Heimatnähe zu verlegen, wo wegen der Nähe seiner Angehörigen günstigere Bedingungen für den Wiederaufbau persönlicher Kontakte gegeben scheinen98 • Diese Förderung der Kontakte Gefangener durch die Justizvollzugsbehörden ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts schon deshalb sehr wichtig, weil im Gefängnis die Gefahr der Entsozialisierung, die Gefahr von Haftschäden sehr groß ist. So entschied das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1996: "Die Vollzugsanstalten sind auch bei den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen verpflichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken, sie lebenstüchtig zu erhalten sowie schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges und damit auch und vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken. ( ... ) Werden diese Aufgaben von den Vollzugsanstalten im gebotenen Maß erfüllt, leisten sie einen wesentlichen Beitrag dazu, etwa drohenden Persönlichkeitsveränderungen bei den Gefangenen entgegenzuwirken."99 Dabei handelt es sich nach dem Bundesverfassungsgericht, um eine "verfassungsrechtlich fundierte Vollzugsaufgabe" 100, die sich aus der in Art. 1 I GG garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde herleitet. Diese bundesverfassungsgerichtliehen Entscheidungen zeigen zum einen den Stellenwert, den das Bundesverfassungsgericht den Kontakten Strafgefangener zur Außenwelt im Hinblick auf die (Re-)Sozialisierung einräumt. Zum anderen wird aus den Entscheidungen auch deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht einen ganz konkreten (Re-)Sozialisierungsauftrag der Vollzugsbehörden für die tägliche Vollzugspraxis annimmt. Dieser (Re-)Sozialisierungsauftrag hat für die Exekutive zur Folge, daß sie bei sämtlichen Entscheidungen im Vollzug die Auswirkungen berücksichtigen muß, die die Entscheidungen auf die (Re-)Sozialisierungsmöglich95 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134, bestätigt BVerfG, Beschl. Vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 96 BVerfG, Beschl. vom 6. 4. 1976-2 BvR 61/76, NJW 1976, S. 1313. 97 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. 98 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134; anders LG Düsseldorf, NStZ 1988, S. 354. 99 BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30. IOO BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 31.
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keiten der Gefangenen haben können. Denn durch den verfassungsrechtlich fundierten (Re-)Sozialisierungsauftrag der Vollzugsbehörden erwächst bei Ermessensentscheidungen im Bereich des Strafvollzuges dem Verurteilten ein Anspruch darauf, daß die Behörden ihr Ermessen pflichtgemäß unter Berücksichtigung des (Re-)Sozialisierungsgedankens ausüben 101 • Das führt zum einen dazu, daß Gefangene Grundrechtseingriffe der Vollzugsbehörden zur Erreichung des Vollzugszieles der (Re-)Sozialisierung hinnehmen müssen. Zum anderen verpflichtet das Verfassungsgericht die Vollzugsbehörden zu bestimmten (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen - wie die Förderung von Außenkontakten. In der Vollzugspraxis ist allerdings nicht festzustellen, daß die Gerichte den vom Bundesverfassungsgericht geforderten (Re-)Sozialisierungsgedanken effektiv in den Justizvollzugsanstalten umsetzen. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen, daß die Behörden die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern nicht umsetzen und den Entscheidungskonsequenzen auszuweichen, etwa indem der Gefangene kurzerhand verlegt oder das Urteil angesichts gesetzlich nicht vorgesehener Vollstreckungsmittel schlicht ignoriert wird 102• Dadurch werden (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen nicht durchgeführt, das (Re-)Sozialisierungsinteresse Gefangener nicht wirksam durchgesetzt. Eine Untersuchung von Lesting und Feest gelangte zu dem Ergebnis, daß die Vollzugsbehörden zudem zahlreiche Maßnahmen gegen die Gewährung des effektiven Rechtsschutzes durchführen 103. Ausgegangen wird von der Ausübung von Druck, der Manipulation verfahrensrelevanter Fakten, der Nutzung informeller Kontakte zu Gerichten und der konsequenten Ausnutzung des Faktors Zeit 104• Ob tatsächlich in dem Maße Renitenz, Widergesetzlichkeit von Justizvollzugsanstalten und Aufsichtsbehörden 105 zu finden ist, wie Feest und Lesting, aber auch Kamann behaupten 106, kann hier nicht überprüft werden. Hinweise für eine gewisse Widersetzlichkeit der Vollzugsbehörden gibt aber die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Während bereits mehrmals generell entschieden wurde, daß die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV auch Vorwirkungen auf das Verwaltungsverfahren zeigt 107, wurde im Strafvollzug ausdrücklich festgestellt, daß das verwaltungsinterne Verfahren nicht darauf angelegt werden darf, "den gerichtlichen Rechtsschutz zu vereiteln oder unzumutbar zu erschweren" 108• BVerfGE 89, 315, 322 ff.; 96, 100, 114. Lesting/Feest, ZRP 1987, S. 392 f.; Rotthaus, ZfStrVo 1996, S. 9. Dünkel stellte fest, daß die Petitionen von Gefangen trotz fehlender Weisungsbefugnis gegenüber der Vollzugsanstalt eher zum Erfolg zu führen scheinen als der gerichtliche Rechtsschutz, Dünkel, GA 1996, s. 530. 103 Lesting I Feest, ZRP 1987, S. 390 ff. 104 Kamann, ZfStrVo 1993, S. 206. 105 Dazu Kamann, ZfStrVo 1993, S. 209. 106 Feest, Totale Institution und Rechtsschutz, 1997, S. 11; Lestingl Feest, ZRP 1987, S. 390 ff. ; Kamann, ZfStrVo 1993, S. 206 ff. 107 BVerfGE 22, 49, 81 f.; 61, 82, 110; 69, 1, 49. 108 BVerfG, Beschl. vom 30. 4. 1993-2 BvR 1605/92 und 1710/92, NStZ 1993, S. 508. 101
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Das heißt: "Stellt ein Gefangener einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, so hat die JVA den Antrag unverzüglich weiterzuleiten, um dem Beschleunigungsgebot zu genügen." 109 Es ist somit festzustellen, daß die Vollzugsbehörden das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot, dessen Durchsetzung einen effektiven Rechtsschutz voraussetzt, nicht hinreichend in der Vollzugspraxis verwirklichen. Das Bundesverfassungsgericht versucht dem entgegen zu wirken. Es greift aber erst dann ein, wenn das Strafvollzugsgesetz nicht richtig angewendet wird, insbesondere der (Re-)Sozialisierungsgedanke bei der Auslegung der entsprechenden Normen nicht hinreichend beachtet wird. Diese Hilfe ist fiir den StraffaJ.ligen sehr spät und sollte insofern eigentlich nur ausnahmsweise notwendig sein. Zur effektiven Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens in den Justizvollzugsanstalten sind die Vollzugsbehörden die Stelle, an der Korrekturen ansetzen müssen 110•
4. Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Judikative hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung StratTälliger a) Rechtsschutz der Strafgefangenen vor den Strafvollstreckungskammern Der Einfluß bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung auf die Judikative hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung setzt einen kurzen Überblick über die Rechtsschutzmöglichkeiten Gefangener voraus. Den Strafgefangenen stehen nach den §§ 108 ff. StVollzG grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Rechte zur Verfügung: eine verwaltungsinterne und eine gerichtliche Überprüfung von Vollzugsmaßnahmen. Verwaltungsintern können die Gefangenen nach § 108 I StVollzG ein Gespräch mit dem Anstaltsleiter erzwingen, ein gerichtliches Verfahren vermeiden und versuchen, auf informellem Weg ihren Anspruch auf (Re-)Sozialisierung durchzusetzen. Ist diese informelle Konfliktschlichtung gescheitert, besteht nach § 108 II StVollzG eine weitere Beschwerdemöglichkeit bei einem Vertreter der Aufsichtsbehörde. Schließlich kommt die Dienstaufsichtsbeschwerde nach § 108 III StVollzG in Betracht. Durch dieses verwaltungsinterne Verfahren kann der Gefangene versuchen, sein Recht auf (Re-)Sozialisierung möglichst schnell bei den zuständigen Behörden durchzusetzen. Neben dem verwaltungsinternen Rechtsweg gibt es im Strafvollzug einen externen Rechtsweg nach§ 109 StVollzG, dessen Ausschöpfung Voraussetzung für die 109 HO
BVerfG, Beseht. vorn 30. 4. 1993-2 BvR 1605/92 und 1710/92, NStZ 1993, S. 508. So auch Rotthaus, ZfStrVo 1996, S. 7.
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist. Bei dem verwaltungsexternen Rechtsweg klagen die Strafgefangenen vor speziellen Gerichten, sogenannten Strafvollstreckungsgerichten, § 78a GVG. Das Bundesverfassungsgericht stellte bezüglich der Strafvollstreckungskammern fest: "Mit den Strafvollstreckungsgerichten hat der Gesetzgeber Spruchkörper geschaffen, bei denen die Zuständigkeit für alle während der Strafvollstreckung anfallenden für die Wiedereingliederung des Taters wesentlichen Entscheidungen konzentriert ist. Damit soll die Einheitlichkeit des auf die Wiedereingliederung gerichteten Handeins gewährleistet und insoweit die besondere Erfahrung und Entscheidungsnähe der Strafvollstreckungskammern genutzt werden." 111 Somit haben die Strafvollstreckungskammern nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine besondere Bedeutung für die (Re-)Sozialisierung. Sie beschäftigen sich mit allen Exekutivakten, die die (Re-)Sozialisierung der Strafgefangenen betreffen. Durch diese Konzentration von Strafvollzugsangelegenheiten bei den Strafvollstreckungskammern kommt ihnen eine besondere Sachnähe und Kompetenz für Entscheidungen zu, die die (Re-)Sozialisierung betreffen. Gleichzeitig soll so ermöglicht werden, daß die Entscheidungen der Strafvollzugskammern einheitlich ausfallen und damit der Anspruch auf (Re-)Sozialisierung für alle Strafgefangene gleichermaßen bei allen Justizvollzugsanstalten gewährleistet wird. Es ist somit festzustellen, daß der Katalog der Rechtsbehelfe den Strafgefangenen unterschiedlichste Möglichkeiten gibt, ihr Recht auf (Re-)Sozialisierung durchzusetzen. Gleichzeitig wird dem Rechtsbehelfskatalog eine positive psychologische Bedeutung für die Gefangenen zugemessen und präventive Effekte bezüglich der Ausgestaltung der Vollzugspraxis der Exekutive angenommen 112• Im Ausland wird die Bundesrepublik Deutschland insofern auch in puncto Rechtstaatlichkeit und Rechtsschutz im Strafvollzug auf normativer Ebene als ,,Musterland" angesehen 113 • Dennoch wird der Rechtsschutz für Strafgefangene in der Praxis vom Bundesverfassungsgericht häufig bemängelt.
b) Kritik des Bundesverfassungsgerichts an der Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern hinsichtlich der (Re-)Sozialisierung Straft'"älliger Das Bundesverfassungsgericht übt gerade in den letzten Jahren vermehrt Kritik an der Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammem. Grundsätzlich ist die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts sowie die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts den Fachgerichten vorbehalten BVerfGE 86, 288, 318. Dünkel, GA 1996, S. 537. m Kaiser; ZfStrVo 1987, S. 28; siehe auch van Deutekom, ZfStrVo 1992, S. 221.
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und der verfassungsrechtlichen Überprüfung nur begrenzt zugänglich 114• Das heißt, das Berufungsgericht überprüft lediglich, ob die an sich verfassungskonformen Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes auch unter Beachtung der in den Grundrechten erhaltenen Wertordnung ausgelegt und angewendet werden und auch elementare Verfassungsgrundsätze, wie insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, bei Interventionen gewahrt bleiben 115 • Das Verfassungsgericht greift erst dann ein, wenn der Rechtsauslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Strafvollstreckungskammer eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte zugrunde liegt 116• Im Bereich des Strafvollzuges hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere seit den achtziger Jahren des öfteren einen Verstoß der einfachen Gerichte gegen das (Re-)Sozialisierungsinteresse Gefangener angenommen. Seit dieser Zeit ist eine "Wende" in der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte zu verzeichnen. Die Durchsetzbarkeit der Rechtspositionen, die der Gefangene vor allen in den siebziger Jahren erlangt hat, ist seitdem weitgehend durch die Rechtsprechung einfacher Gerichte aufgeweicht worden 117• So wird davon ausgegangen, daß die Gerichte gegen die mangelnde Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens im Vollzug nicht hinreichend vorgehen 118 • Kamann redet gar von "Waffen, die die Oberlandesgerichte für den Kampf gegen einen liberalen Vollzug geschmiedet hätten" 119. Er geht davon aus, daß die Richter "grundsätzlich ( ... ) eine Position fixieren, die dem Rechtsschutzbegehren des Gefangenen keine Chance läßt ( ... ) Justitia ist blind, weil sie nicht sehen will" 120• Auch andere Strafvollzugswissenschaftler deuten die Rechtsprechung im Strafvollzug dahingehend, weil die Entscheidungen der Gerichte insgesamt immer weniger Rechte Strafgefangener gewähren als noch in den siebziger Jahren 121 . Die einfachen Gerichte haben in ihrer 114 BVerfGE 18, 85, 92; 72, 105, 115; Clemens, Das Bundesverfassungsgericht im Rechtsund Verfassungsstaat, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 21. 115 Vgl. BVerfGE 7, 198, 207; 12, 113, 124; 13, 318, 325; 18, 70, 92; 80, 182, 185. 116 BVerfGE 18, 70, 92 f., 35, 202, 218; 62, 189, 192 f.; 65, 262, 283; 72, 105, 115; 82, 236, 259; 89, 1, 14; 89, 316, 323; 95, 96, 128; BVerfG, Beschl. vom 14. 6. 1993-2 BvR 157/93, ZfStrVo 1994, S. 114; BVerfG, Beschl. vom 25. 11. 1999-1 BvR 348/98 und 755/ 98, NJW 2000, S. 1861; kritisch zu dieser verfassungsrechtlichen Priifungsweise im Einzelfall Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 101 f. 117 Comel/ Maelicke, Einführung in das Recht der Resozialisierung, in: ders. (Hrsg.), Recht der Resozialisierung, 4. Auf!. 1998, S. 21. Insgesamt wird in der Literatur von einer Erfolgsquote der Beschwerden Gefangener vor der Strafvollstreckungskammer in Höhe von nur 3-5,4% ausgegangen. 118 Vgl. Kamann, ZfStrVo 1993, S. 210. 119 Kamann, Neue Kriminalpolitik 2/1996, S. 17, ders., StV 1994, S. 460; entgegengesetzt Böhlk, er geht von einer Menschenverachtung der zu liberalen Strafjustiz nur gegenüber dem Opfer aus, Böhlk, FAZ 6. 5. 1997, S. 8. 12o Kamann, Neue Kriminalpolitik 2/1996, S. 18. 121 Vgl. Comel/ Maelicke, Einführung in das Recht der Resozialisierung, in: ders. (Hrsg.), Recht der Resozialisierung, 4. Aufl. 1998, S. 21; Müller-Dietz. NStZ 1987, S. 5; ders., Neue Kriminalpolitik 1 I 1992, S. 29.
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG ftir die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
Rechtsprechung von der ausgeprägten Rechtsposition Gefangener und dem (Re-) Sozialisierungsgedanken Abstand genommen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen gibt es im Strafvollzug seit den achtziger Jahren sehr viele Probleme, vor allem eine rapide zunehmende Zahl von Drogenabhängigen und Ausländern, wodurch eine (Re-)Sozialisierung erschwert wird 122. Zum anderen wird der Schwerpunkt in der Kriminalpolitik nicht mehr auf (Re-)Sozialisierung gesetzt, sondern auf andere kriminalpolitische Gesichtspunkte, wie bspw. auf einen besseren Opferschutz123 . Eine weitere Ursache ist nach Müller-Dietz ein Wandel in der Einstellung der Gesellschaft zu den Problemen der Kriminalität 124• Das läßt sich dadurch erklären, daß gerichtliche Entscheidungen immer einer gewissen Akzeptanz der Bevölkerung bedürfen und die Ausrichtung von Entscheidungen am (Re-)Sozialisierungsgedanken nicht mehr den gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht 125 • Das Bundesverfassungsgericht ist ersichtlich bemüht, der Rechtsprechung der Strafvollstreckungskammern entgegenzusteuern. Denn aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts sind es Mängel in der Auslegung und praktischen Handhabung des Rechts, die auf eine unzureichende Wahrnehmung und Konkretisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen an das (Re-)Sozialisierungsgebot schließen lassen 126. Beispielhaft für die kritische Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gegenüber den Gerichten ist der wiederholt beanstandete justizielle Umgang mit Eilanträgen im Sinne des § 114 II StVollzG. Auffallend ist dabei bereits, in welchem Umfang das Bundesverfassungsgericht Anlaß hatte, sich mit den in § 114 II StVollzG geregelten Problemen des Eilrechtsschutzes zu befassen und wie groß der Anteil erfolgreicher Verfassungsbeschwerden in diesem Kontext war. Das Bundesverfassungsgericht betonte in zahlreichen Entscheidungen die Bedeutung, die der Eilrechtsschutz im Strafvollzug hat. Im Jahre 1993 faßte das Bundesverfassungsgericht zunächst einen Beschluß, wonach der vorläufige gerichtliche Eilrechtsschutz nach § 114 II StVollzG aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht erst dann einsetzt, wenn der Gefangene Widerspruch eingelegt hat 127 . Nur sechs Wochen später rief das Verfassungsgericht den Vollzugsbehörden und Strafvollstreckungskammer ihre Pflichten bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit der Vollziehung von Arrestmaßnahmen in Erinnerung 128 . In einer weiteren Entscheidung erklärte das Bundesverfassungsgericht, daß der Eilrechtsschutz des§ 114 II StVollzG 122 123 124 125 126 127 128
Siehe 6. Kapitel III. 3. e). Siehe 1. Kapitel I. 4.
Müller-Dietz, NStZ 1987, S. 5; vgl. auch Kamann, ZfStrVo 1993, S. 209. Zur gesellschaftlichen Einstellungen zur Strafflilligen siehe 3. Kapitel III. 3. b). Siehe Müller-Dietz, in: Festschrift für Gerhard Lüke, 1997, S. 522. BVerfG, Beschl. vom 16. 3. 1993-2 BvR 202/93, NJW 1993, S. 3190. BVerfG, Beschl. vom 30. 4. 1993 - 2 BvR 1605/92 und 1710/92, NStZ 1993, S. 507.
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den verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Gewährung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes entspricht 129. Das Gericht stoppte allerdings in diesem Beschluß die gängige Praxis der Strafvollstreckungskammern, wonach bei vorläufigem Rechtsschutz generell die Vorwegnahme der Hauptsache angenommen wurde 130• Es entschied, daß die Aussetzung belastender Maßnahmen schon dann in Betracht kommt, wenn die unter Berücksichtigung möglicher Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren vorzunehmende Interessenahwägung ergibt, daß die Umsetzung der Maßnahme zeitweilig verhindert werden könne. Art. 19 IV GG gebiete dieses Vorgehen, ohne daß mit der Vorwegnahme der Hauptsache argumentiert werden dürfe. Denn der Rechtsschutz darf sich "nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichtes erschöpfen ( ... ), sondern muß zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen" 131 • Folglich müssen sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes, nach Art. 19 IV GG Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz ergeben. Infolgedessen forderte das Bundesverfassungsgericht, daß die Gerichte entsprechende Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren ergreifen müssen, insbesondere, wenn die Sachautklärung durch die Justizvollzugsanstalt verzögert wird 132. Für die (Re-)Sozialisierung ist dies insofern von Bedeutung, da nur wenn die Rechte der Gefangenen wirksam und schnell durchgesetzt werden, auch der (Re-)Sozialisierungsprozeß nicht behindert wird und damit das Recht auf (Re-)Sozialisierung hinreichend gewährleistet. Denn schon eine länger andauernde Versagung von (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen - beispielsweise von Außenkontakten oder aber eine Beeinträchtigung des (Re-)Sozialisierungsprozesses durch entsozialisierende Haftbedingungen, beispielsweise dauerhafte Überbelegung der Haftzelle kann den (Re-)Sozialisierungsvorgang hemmen und den Gefangenen entsozialisieren133. Das Verfassungsgericht stellte aber nicht nur Fehler der Judikative im Bereich des Eilrechtsschutzes fest, sondern beanstandete auch die von den einfachen Gerichten vorgenommene Kompetenzabgrenzung gegenüber der Exekutive. Dabei kritisierte das Bundesverfassungsgericht insbesondere die Entscheidungspraxis der einfachen Gerichte hinsichtlich der Gewährung von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen gegenüber der Exekutive. Grundsätzlich beschränkt sich die ge129 BVerfG, Beschl. vorn 9. 11. 1993 - 2 BvR 2212/93, NJW 1994, S. 717; ebenso BVerfG, Beschl. Vorn 16. 8. 1994-2 BvR 2171/93, ZfStrVo 1996, S. 46. 130 BVerfG, Beschl. vorn 9. ll. 1993-2 BvR 2212/93, NJW 1994, S. 717. 131 BVerfGE 40,272, 275; 61, 82, lll; 67, 43, 58; BVerfG, Beschl. vorn 30. 4. 1993-2 BvR 1605/92 und 1710/92, NStZ 1993, S. 508; BVerfG, Beschl vorn 7. 9. 1994-2 BvR 1958/93, ZfStrVo 1995, S. 371; vgl. auch BVerfG, Beschl. vorn 14. 12. 1993-l BvR 361/ 93, NJW 1994, S. 718. 132 BVerfG, Beschl vorn 7. 9. 1994-2 BvR 1958/93, ZfStrVo 1995, S. 373. 133 AusfUhrlieh dazu 6. Kapitel ill. 3. d), e).
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
riebtliehe Kontrolle zahlreicher Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes entsprechend§ 116 V StVollzG sowie allgemeiner verwaltungsrechtlicher Grundsätze darauf, ob die Vollzugsbehörde die gesetzlichen Ermessensgrenzen überschritten hat oder ob ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt 134. Denn es gibt im Strafvollzugsgesetz sehr viele Bestimmungen, die Entscheidungen in das Ermessen der Vollzugsbehörde stellen 135 • In diesen Fällen ergeht grundsätzlich nur ein Bescheidungsurteil, wenn keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Das führt dazu, daß die Vollzugsbehörde den Strafgefangenen gewöhnlich nur erneut unter Beachtung der rechtlichen Auffassung zu bescheiden hat, so daß es bei Ermessensentscheidungen sehr lange dauern kann, bis der Gefangene erreicht hat, was ihm vielleicht von Anfang an zustand 136. Die einfachen Gerichte haben in den letzten Jahren diese Ermessensspielräume der Vollzugsbehörden nicht nur stark erweitert, sondern den Vollzugsbehörden auch weite Beurteilungsspielräume bei unbestimmten Rechtsbegriffen betreffend Prognoseentscheidungen zugebilligt 137• Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich insofern seit einiger Zeit bei den Prognoseentscheidungen von Vollzugsbehörden darauf, ob diese die richtigen Wertmaßstäbe anwenden und ob die Grenzen des Beurteilungsspielraumes eingehalten werden 138 . Eine solche eingeschränkte gerichtliche Kontrolle findet vor allem bei §§ 11 II, 25 StVollzG statt 139• Diese Vorschriften machen die Gewährung von (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen von bestimmten Prognosen abhängig, der Wahrscheinlichkeit einer Mißbrauchs- oder Fluchtgefahr bei der Gewährung von Lockerungen und der Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt bei Besuchen 140• 134 Dünkel/Kunkat, Neue Kriminalpolitik 2/1997, S. 25; Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, 1979, S. 243; Schwind/ Böhm-Schuler; StVollzG-Kommentar, 2. Auf!. 1999, § 115 Rdn. 19 f. 135 Die zahlreichen in dem StVollzG kodifizierten Ermessensspielräume sind insofern ungewöhnlich, als bereits die vielen Kannbestimmungen der DVollzO - stark kritisiert wurden, vgl. Jürgen Baumann, MschKrim 1964, S. 71 . 136 Böhm, ZfStrVo 1992, S. 40. 137 Ausschlaggebend war dabei vor allem das Urteil BGHSt 30, 320; wonach die Strafvollstreckungskarnmern nur insofern zur Sachaufklärung verpflichtet ist, als sie prüft, ob die Behörde von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, den richtigen Begriff des Versagungsgrundes zugrunde gelegt hat und ob sie dabei die Grenzen des Beurteilungsspielraums eingehalten hat. 138 BGHSt 30, 320, 327; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997 - 2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121; BVerfG, Beschl. vom 24. 10. 1999 - 2 BvR 1538/99 (unveröffentlicht); Dünkel, GA 1996, S. 524; die Existenz von Entscheidungsfreiräumen generell bezweifelnd Dopslaff, ZStW 100 (1988), S. 567 ff. 139 Explizit hat das BVerfG den Beurteilungsspielraum bei § 11 II als verfassungsrechtlich unbedenklich bezeichnet, BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 140 Zur Problematik zuverlässiger Prognosen bei Vollzugslockerungen Heghmanns, ZStW 1999, s. 657 ff.
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Durch diese Gewährung von weiten Beurteilungsspielräumen ist die verfassungsrechtlich gebotene Enumerationsklausel des § 4 II 1 StVollzG hinsichtlich der Beschränkung von Rechten Gefangener geschwächt worden 141 . Die Folge der Ausweitung des Beurteilungsspielraumes der Exekutive war insofern, daß der Beurteilungsspielraum jeder ..willkürlichen Anstaltsentscheidung als Schutzschild" dienen konnte 142 und nur ein Bruchteil der Beschwerden Strafgefangener Erfolg hatte 143• Durch den gestalterischen Freiraum, der den Vollzugsbehörden von der Judikative zugebilligt wurde, hing es von der Bereitschaft der jeweiligen Justizvollzugsbehörde ab, den Behandlungsvollzug, die (Re-)Sozialisierung, umzusetzen 144• Dieser Rechtsprechung wurde vom Bundesverfassungsgericht Einhalt geboten. Zwar hat das Verfassungsgericht grundsätzlich die Rechtsprechung der einfachen Gerichte hinsichtlich des Beurteilungsspielraumes bestätigt und festgestellt, "daß der Versagungsgrund der Flucht- oder Mißbrauchsgefahr ( ... ) geeignet ist, einen - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - prognostischen Beurteilungsspielraum zu eröffnen, in dessen Rahmen die Vollzugsbehörde mehrere Entscheidungen treffen kann, die gleichermaßen rechtlich vertretbar sind" 145 . "Legt das Vollstreckungsgericht diesen Maßstab seiner Entscheidung zugrunde, so prüft das Bundesverfassungsgericht nur nach, ob es der Vollzugsbehörde nicht einen zu weiten Beurteilungsspielraum zugebilligt und damit Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs (Art. 2 I i.V. mit Art. 1 I GG) verkannt hat ( .. . )." 146 Das Gericht hat jedoch betont, daß der Beurteilungsspielraum die Vollstreckungsgerichte indes nicht von ihrer rechtsstaatlich fundierten Prüfungspflicht entbindet, "den Sachverhalt umfassend aufzuklären und dabei festzustellen, ob die Vollzugsbehörde als Voraussetzungen ihrer Entscheidung alle Tatsachen zutreffend angenommen und den zugrundegelegten Sachverhalt insgesamt vollständig ermittelt hat" 147. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren des öfteren festgestellt, daß in der restriktiven Rechtsprechung der einfachen Gerichte bestimmte Erwägungen der Justizvollzugsanstalt ohne eigene rechtliche Würdigung übernommen worden sind und das verfassungsmäßige Recht auf (Re-)Sozialisierung nicht hinreichend berücksichtigt worden ist 148 . Müller-Dietz, Neue Kriminalpolitik 1/1992, S. 28. Kamann, Neue Kriminalpolitik 2/1996, S. 14. 143 Dünkel, GA 1996, S. 526. 144 Dünkei/Kunkat, Neue Kriminalpolitik 2/1997, S. 25. 145 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. 146 BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 122. 147 BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 122; vgl. auch BVerfGE 70,297, 308. 148 So nahm das BVerfG beispielsweise in der Entscheidung BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121 an, daß das Gericht den langjährigen 141
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So wies das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1997 zunächst darauf hin, daß Art. 19 IV GG einen gerichtlichen Rechtsschutz zur Prüfung verbürge, ob die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat 149. Auf dieser Grundlage stellte das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen fest, "daß die JVA und die Strafvollstreckungskammer das dem Strafvollzug gesetzte Resozialisierungsziel und dessen gesetzliche Konkretisierung vernachlässigten" 150. Das Verfassungsgericht entschied, daß der Strafvollstreckungsrichter sich "nicht damit abfinden darf, daß die Vollzugsbehörde ohne hinreichenden Grund - etwa auf der Grundlage bloßer pauschaler Wertungen oder mit dem Hinweis auf eine abstrakte Flucht- der Mißbrauchsgefahr - sich der Gewährung jener Vollzugslockerungen verweigert, die regelmäßig einer Entscheidung über die Aussetzung der Vollstrekkung einer lebenslangen Freiheitsstrafe vorausgehen" 151 • Es stellte fest, daß die Gerichte in dem verfassungsrechtlich zu fordernden Maß weder ihrer Aufklärungspflicht nachgekommen sind, noch in Rechnung gestellt haben, daß bei der Prognoseentscheidung ein vertretbares Risiko einzustellen ist 152• "Den Vollstreckungsgerichten hätte es als unvertretbar erscheinen müssen, daß sich die Vollzugsbehörde mit derartigen Erwägungen von vornherein jeglicher Bemühungen entpflichtete, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Vollzugslockerungen die Resozialisierungsfähigkeit des Beschwerdeführers zu testen und ihn allmählich auf die Freiheit vorzubereiten". Ähnlich entschied das Bundesverfassungsgericht in einer anderen Entscheidung des gleichen Jahres. Es stellte fest: ,,Die StVK darf nicht eine Vollzugsgestaltung akzeptieren, bei der die Gewährung von Ausgang für Gefangene im geschlossenen Vollzug ausgeschlossen ist" 153 • Im Jahre 1999 bemängelte das Bundesverfassungsgericht erneut die pauschale Wertung von Vollzugsentscheidungen und konkretisierte darüber hinaus die Anforderungen an die richterliche Aufklärungspflicht im Strafvollzug: Das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung "verlangt, daß der Richter die Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet, verbietet mithin, daß er die Bewertung einer anderen Stelle überläßt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, daß er sich ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft" 154. Die Entscheidungen zeigen, daß das Bundesverfassungsgericht gerade in jüngster Zeit bemüht ist, einen effektiven Rechtsschutz der Gefangenen und damit auch die Durchsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens im Strafvollzug zu gewährFreiheitsentzug aus Gründen der Schuldschwere ( § 57 a I 1 StGB) selbst hätte würdigen müssen. 149 BVerfGE 96, 100, 114. ISO BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1997 - 2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 31; ebenso BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. ISI BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 1s2 BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 153 BVerfG, Beschl. vom 1. 4. 1998-2 BvR 1951/96, NStZ 1998, S. 430. 154 BVerfG, Beschl. vom 24. 10. 1999-2 BvR 1538/99 (unveröffentlicht).
III. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung
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leisten 155 . Das Gericht beanstandet zwar aufgrund des Gestaltungsspielraumes, den das Verfassungsgericht allen Gewalten gewährt, nicht die Gewährung von prognostischen Beurteilungsspielräumen durch die Judikative. Das Verfassungsgericht greift jedoch dann in die Rechtsprechung ein, wenn die Judikative pauschale Wertungen vornimmt und keine umfassende, schnelle Sachaufklärung und Würdigung des Einzelfalls. Auf diese Weise versucht das Gericht, die im Strafvollzugsgesetz angelegte Rechtsposition des Gefangenen zu gewährleisten und damit auch dem Vollzugsziel Geltung zu verschaffen. Denn nur wenn der Gefangene seine gesetzlich kodifizierten Rechte, auch auf (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen, im Rahmen eines effektiven Rechtsschutzes durchsetzen kann, sind die Rahmenbedingungen für eine (Re-)Sozialisierung Strafgefangener gegeben.
111. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung 1. Verfassungsrechtliche Verpflichtung der drei Staatsgewalten zur (Re-)Sozialisierung von Straftätern Die Übersicht über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat gezeigt, daß das Gericht die Staatsgewalten verfassungsrechtlich verpflichtet, Straftäter zur (re-)sozialisieren. Das Verfassungsgericht fordert nicht nur die Abwehr von (re-)sozialisierungsfeindlichen Eingriffen, sondern es verlangt entsprechend des status positivus der Grundrechte 156, daß der (Re-)Sozialisierung durch bestimmte Leistungen des Staates Wirksamkeit verliehen wird. Dabei bestimmt das Bundesverfassungsgericht aber nicht die einzelnen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen, indem es als Ersatzgesetzgeber handelt, sondern es gibt den Staatsgewalten für die Verpflichtungen zur (Re-)Sozialisierung einen Gestaltungsspielraum, innerhalb derer die (Re-)Sozialisierung umgesetzt werden muß. Das Gericht greift erst dann in diesen Entscheidungsspielraum ein, wenn es unabdinglich ist, um dem (Re-) Sozialisierungsgebot Wirksamkeit zu verschaffen. Gewöhnlich ist dies erst der Fall, wenn die Leitlinien des Strafvollzugsgesetzes hinsichtlich des Vollzugszieles mißachtet werden. Dann versucht das Verfassungsgericht die "Auswüchse" (re-)sozialisierungsfeindlicher Maßnahmen einzudämmen. Auch dabei greift es nur in sehr begrenztem Maß in die Entscheidungsspielräume der Staatsgewalten ein. Es stellt die Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Maßnahme fest, läßt 155 Vgl. BVerfG, Beschl. vom 30. 4. 1993-2 BvR 1605/92 und 1710/92, NStZ 1993, S. 507; BVerfG, Beschl. vom 9. 11. 1993-2 BvR 2212/93, NStZ 1994, S. 101 ; BVerfG, Beschl. vom 14. 12. 1993-1 BvR 361/93, NJW 1994, S. 717. 156 Dazu Breuer; Jura 1979, S. 402; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 288.
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
dann aber der Staatsgewalt Gestaltungsfreiheit, auf welche Weise die Verfassungswidrigkeit beseitigt wird. Besteht eine Vorschrift des Strafvollzugsgesetzes zur entsprechenden Frage, dann muß diese Norm angewendet werden und im Hinblick auf das (Re-) Sozialisierungsgebot so weit wie möglich ausgelegt werden 157• Bislang haben die Strafvollstreckungskammer allerdings soweit ersichtlich noch keine Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes verfassungskonform ausgelegt. Das hängt damit zusammen, daß das Strafvollzugsgesetz kaum unbestimmten Regelungen enthält. Unbestimmte, mehrdeutige Regelungen, die auslegungsfähig wären, sind lediglich bei den unbestimmten Rechtsbegriffen im Rahmen von Prognoseentscheidungen vorhanden. Diese Begriffe bedürfen jedoch keiner Auslegung, da sie - wie bereits erörtert - nach Auffassung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsmäßig sind, also nicht gegen das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot verstoßen. Änderungen fordert das Bundesverfassungsgericht erst dann, wenn das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot vollständig ignoriert wird, insbesondere wenn die Gefahr droht, daß der Vollzug zu einem Verwahrvollzug wird. So verpflichtet das Verfassungsgericht die Exekutive nur zu Maßnahmen, die zur (Re-)Sozialisierung "unerläßlich" sind158. Dazu gehört vor allem, die Außenkontakte hinreichend zu fördern 159, die Vollzugsanstalten so auszustatten, daß eine (Re-)Sozialisierung möglich ist 160, und bei Eingriffen in die Grundrechte Gefangener das Vollzugsziel hinreichend zu beachten 161 • Der Gesetzgeber wird dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsinteresse nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur dann nicht gerecht, wenn bestimmte Normen eine (Re-)Sozialisierung verhindern. So hält das Gericht es bspw. für verfassungswidrig, wenn die Entlohnung der Gefangenenarbeit so gering ist, daß es erschwert wird, nach der Entlassung aus der Haft ein Leben ohne Straftaten zu führen 162• Weiterhin muß die Legislative dafür sorgen, daß jeder Gefangene aufgrund seines Rechts auf (Re-)Sozialisierung die Möglichkeit hat, daß seine Freiheitsstrafe ausgesetzt wird 163• BVerfGE 86, 288, 320. Dazu siehe auch 2. Kapitel II. 3. Siehe BVerfGE 40,276, 284; ebenso BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 1995-2 BvR 2631/ 94, NStZ 1995, S. 613; BVerfG, Beschl. vom 16. 5. 1995-2 BvR 1882/92,365/93, NStZ 1996, S. 55. 159 BVerfG, Beschl. vom 6. 4. 1976-2 BvR 61/76, NJW 1976, S. 1313; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 123; BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998 - 2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 160 BVerfGE 45, 187, 241; BVerfG, Kammerbeseht vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht). 161 BVerfG, Beschl. v. 29. 10. 1993-2 BvR 672/93, StV 1994, S. 147. 162 Siehe BVerfGE 98, 169. 163 BVerfGE 45, 187, 239; bestätigend BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996-2 BvR 2267/ 95, StV 1997, S. 30. 157
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III. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung
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Von der Rechtsprechung fordert das Bundesverfassungsgerichts vor allem eine Würdigung des Einzelfalles und verbietet pauschale Wertungen 164. Dabei fordert das Verfassungsgericht, der (Re-)Sozialisierung durch einen ausreichenden Rechtsschutz Geltung zu verschaffen, damit die Gefangenen ihr Recht auf (Re-)Sozialisierung auch durchsetzen können 165 . Dazu gehört vor allem zu überpriifen, ob die Vollzugsbehörden die Bedeutung und Tragweite des (Re-)Sozialisierungsanspruchs nicht verkannt haben166. Gestützt werden diese verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zur (Re-)Sozialisierung auf das Gebot zur Achtung der Menschenwürde und auf das Sozialstaatsprinzip entsprechend der verfassungsrechtlichen Herleitung sowie auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Bei der Verpflichtung der Exekutive, das (Re-)Sozialisierungsinteresse von Straftätern hinreichend zu verwirklichen, betont das Bundesverfassungsgericht insbesondere die Menschenwürde. Aus dem Gebot zur Achtung der Menschenwürde verpflichtet das Verfassungsgericht die Verwaltung zu der verfassungsrechtlich fundierten Vollzugsaufgabe der (Re-)Sozialisierung. Das hängt mit den Haftbedingungen zusarnrnen, für die Art. 1 I GG eine besondere Bedeutung hat, da die Menschenwürde systematische Diskriminierung oder Demütigung verbietet, der Sicherung einer menschenwürdigen Existenz dient 167 und gerade im Strafvollzug eine Gefahrdung dieser Rechtsgüter besteht 168• Zusätzlich hat das allgemeine Freiheitsrecht nach Art. 2 GG bereits begrifflich im Strafvollzug - und damit für die Vollstreckungsbehörden - eine besondere Bedeutung, so daß bei der Verpflichtung der Exekutive zu verfassungsrechtlich unerläßlichen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen auch auf diese Bestimmung zurliekgegriffen werden muß 169• 164 BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 123; BVerfG, Beschl. Vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134, bestätigt BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 165 Siehe BVerfGE 40, 272, 275; 61, 82, 111; 67, 43, 58; BVerfG, Beschl. vom 9. 11. 1993-2 BvR 2212/93, NJW 1994, S. 717; BVerfG, Beschl. vom 16. 3. 1993 - 2 BvR 202/93, NJW 1993, S. 3190; BVerfG, Beschl. vom 30. 4. 1993-2 BvR 1605/92 und 1710/ 92, NStZ 1993, S. 508; BVerfG, Beschl. vom 16. 8. 1994-2 BvR 2171/93, ZfStrVo 1996, S. 46; BVerfG, Beschl vom 7. 9. 1994-2 BvR 1958/93, ZfStrVo 1995, S. 371; BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1997-2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 31; BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 166 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. 167 Exemplarisch Hofmann, in: FAZ 5. 8. 1988, S. 48; Maunz/Dürig-ders., GG-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 1 Rdn. 41, 43; GrafVitzthum, JZ 1985, S. 204. 168 Siehe 2. Kapitel II. 2.; BVerfGE 28, 386, 391; 45, 187, 228; 50, 125, 133; 50, 205, 215; 72, 105, 116; BVerfG Beschl. vom 16. 3. 1993-2 BvR 202/93, NStZ 1993, S. 404 f.; OLG Harnm, NJW 1967, S. 2024; OLG Zweibrücken, NStZ 1982, S. 221; OLG Frankfurt, NStZ 1985, S. 572 f.; OLG Celle, NStZ 1990, S. 379; Bemmann, Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 1996, S. 333 ff.; von Hinüber, StV 1994, S. 212 ff.; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 27 f. 169 Siehe 4. Kapitell. 2. b) bb) (4).
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
Für die Legislative ist für eine Umsetzung des verfassungrechtlichen (Re-)Sozialisierungsinteresses nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts insbesondere das Sozialstaatsprinzip von Bedeutung. Diese Staatszielbestinunung verpflichtet den Gesetzgeber - als primären Adressaten der Sozialstaatsklausel 170 -, die notwendigen rechtlichen Regelungen zur (Re-)Sozialisierung von Straftätern zu schaffen. Nur sekundär richtet sich das Sozialstaatsprinzip auch an die anderen Staatsgewalten, indem es für diese eine verbindliche Auslegungsregel darstellt 171 und insoweit in die Entscheidungspraxis der Gerichte und Verwaltungsbehörden einfließt. Primär obliegt aber dem Gesetzgeber die Entscheidung dariiber, in welcher Weise er seinen sozialstaatliehen Gestaltungsauftrag - dem (Re-) Sozialisierungsgebot Wirksamkeit zu verschaffen - nachkonunt. Bedeutung für die Verpflichtung des Gesetzgebers zur (Re-)Sozialisierung haben aber auch das Gebot zur Achtung der Menschenwürde und die Grundrechte. Wie die Untersuchung zeigen wird, muß bei verfassungsrechtlich unerläßlichen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen aufgrund der Unbestinuntheit des Sozialstaatsprinzips auch auf diese Bestinunungen zurückgegriffen werden 172• Für die Judikative ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insofern - abgesehen von der verfassungskonformen Auslegung - weniger das Sozialstaatsprinzip, sondern vielmehr das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 IV GG von Relevanz. Denn die Gefangenen können ihr Recht auf (Re-)Sozialisierung nur durchsetzen, wenn die Gerichte den möglichen rechtswidrigen Eingriff in das (Re-)Sozialisierungsinteresse schnell und umfassend prüfen. Somit leitet das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung der drei Staatsgewalten zur (Re-)Sozialisierung von Straftätern aus verschiedenen Verfassungsbestinunungen ab, wobei das Verfassungsgericht insgesamt nur dann eine Entscheidung der Staatsgewalten als verfassungswidrig einstuft, wenn diese dem (Re-)Sozialisierungsgebot in keiner Weise Rechnung trägt.
2. Verfassungsmäßiger Ausgleich zwischen der (Re-)Sozialisierung und anderen Verfassungsgütern Wenn das Bundesverfassungsgericht die drei Staatsgewalten verpflichtet, das (Re-)Sozialisierungsgebot umzusetzen, fordert es gleichzeitig, einen Ausgleich zwischen der (Re-)Sozialisierung und anderen Verfassungsgütern herzustellen. Die Notwendigkeit dieses Ausgleichs ergibt sich aus der Fülle unterschiedlichster Ver170 BVerfGE 50, 57, 108; Müller-Dietz, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 82, 85; von Münch/ Kunig-Schnapp, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 19. 171 Maunz/Dürig-Herzog, GO-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 20, VIII Rdn. 24 ff. ; Müller-Dietz, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 83; von Münch/ Kunig-Schnapp, GO-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 20 Rdn. 20. l72 Siehe 4. Kapitell. 2. b) bb) (1) b).
III. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung
181
fassungsbestimmungen, die einander nicht ausschließlich ergänzen, sondern auch miteinander kollidieren 173 . Diese Spannungslage erfordert eine Begrenzung der (Re-)Sozialisierung durch Herstellung praktischer Konkordanz mittels einer "verhältnismäßigen" Zuordnung von Grundrechten und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern 174. Fraglich ist, ob bei dieser Zuordnung von den Staatsgewalten ein Optimum an (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten erstrebt werden muß. Es könnte das aus dem Verwaltungsrecht, vor allem aus dem Planungsrecht, bekannte Optimierungsgebot Anwendung finden. Angeregt durch die Prinzipien-Theorie Alexys 175 wird von dem Optimierungsgebot immer häufiger auch im Verfassungsrecht Gebrauch gemacht176. Das Optimierungsgebot hat sich auf der Grundlage der Erkenntnis entwickelt, daß die Grundrechtsnormen über den Schutz der in subjektiven Rechten verkörperten Freiheit auch den Charakter von objektiven Garantien und Grundsätzen annehmen177. Durch ihren materiellen Gehalt erheben die Grundrechte den Anspruch, die Gesetzgebung mit Direktiven zu versehen und damit Schutzmaßstäbe zu setzen, die den Grundrechtsschutz konkretisieren 178. Nach Alexy stellen die Grundrechte dariiber hinaus Prinzipiennormen mit Optimierungstendenz dar179. Das ergibt sich für ihn daraus, daß die Grundrechte in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können, wobei das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt, die von gegenläufigen Prinzipien und Regeln bestimmt werden180. Dabei verkörpern für Alexy Prinzipien - im Unterschied zu Regeln Normen, "die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird" 181 . Bei einer Prinzi173 Siehe Isensee/Kirchhof-Starck, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII 1992, § 164 Rdn. 7; Schewick, BewHi 1985, S. 4. 174 Zur praktischen Konkordanz siehe Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 317 f. m Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 71 ff. 176 Siehe Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Aufl. 1995, Rdn. 72; Isensee/ Kirr:hhof-/sensee, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII, 1992, § 162 Rdn. 45; Hans H. Klein, Bitburger Gespräche Jahrbuch 1/1995, S. 94; Stern/Sachs, Das Staatsrecht in der BRD, Bnd. III /2, 1994, § 84 IV 7. 177 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 71; Breuer; in: Festschrift für Konrad Redek, 1993, S. 51; siehe auch BVerfGE 21, 362, 392; 33, 1, 12; 39, 1, 41; 49, 89, 140; 53, 30, 57; 77, 170, 214; BVerfG, Beschl. vom 9. 2. 1998-1 BvR 2234/97, NJW 1998, S. 2962. 178 Isensee/ Kirchhof-Badura, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII, 1992, § 159 Rdn. 34; zum Schutzmaßstab ausführlich: Eckart Klein, in: Festschrift für Ernst Benda, 1995, s. 142 ff. 179 Siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75 f. 180 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 76. 181 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75.
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozia1isierung von Straftätern
pienkollision muß demnach nach Alexy eine Abwägung erfolgen, welchem der abstrakt gleichrangigen Belange im konkreten Fall das höhere Gewicht zukommt und die Belange dann dahingehend optimiert werden 182. Von Teilen der Literatur ist dieser Gedanke aufgegriffen worden. Nach Stern dient der Optimierungsgedanke der Auflösung von Grundrechtskollisionen, so daß die praktische Konkordanz für ihn eine Optimierungs-Abwägung darstellt, bei der es um die Herstellung optimaler Verhältnismäßigkeit geht183. Hesse bekräftigt die Auffassung, daß die Optimierungsaufgabe für die praktische Konkordanz maßgeblich sei. Für ihn stellt das Prinzip der Einheit der Verfassung die Aufgabe einer Optimierung, so daß den betroffenen Rechtsgütern Grenzen gezogen werden müssen, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können 184. Nach dieser Auffassung müßten die Staatsgewalten das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsinteresse optimieren, das heißt unter Abwägung anderer Verfassungsgüter das höchsterreichbare Maß an (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten erreichen 185. Die Staatsgewalten wären verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, für die Straftäter ein Optimum an (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten zu schaffen, andere politische Belange würden - solange sie nicht verfassungsrechtlich kodifiziert sind - vollständig dahinter zurücktreten, verfassungsrechtliche Belange müßten so durchgesetzt werden, daß die (Re-)Sozialisierung und auch die anderen Verfassungsgüter optimal verwirklicht werden. Das Optimierungsgebot im Verfassungsrecht ist jedoch stark umstritten 186. Hauptkritikpunkt ist die durch das Optimierungsgebot erfolgte Eingrenzung der Kompetenzen des Gesetzgebers. So geht Böckenförde davon aus, daß eine Optimierung von Verfassungsbestimmungen zu einem"verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" und zu einer Entmachtung des Gesetzgebers auf dem Feld der rechts- und sozialstaatlich ausgewogenen Verfassungskonkretisierung führen würde187. Auch Badura sieht die Gefahr, durch das Optimierungsgebot die Normativität der Verfassung zu weit in das Feld der politischen Entscheidung und selbst den Gesetzesvollzug durch die Exekutive vorzuschieben 188. Siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 80. Stern/Sachs, Das Staatsrecht in der BRD, Bnd. III/2, 1994, § 84 IV 7. 184 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der BRD, 20. Auf!. 1995, Rdn. 72. 185 Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 208. 186 Böckenförde, VVDStRL 30, 1972, S. 165; Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 197 ff.; Isensee!Kirchhof-Badura, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII, 1992, § 159 Rdn. 33; Isensee/ Kirchhof-Starck, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII, 1992, § 164 Rdn. 4 ff. Breuer wendet sich gegen das Optimierungsgebot bei Grundrechten, befürwortet es hingegegen beim Sozialstaatsprinzip, Breuer; in: Festschrift für Konrad Redek, 1993, s. 52 ff. 187 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 69; siehe auch Breuer; in: Festschrift ftir Konrad Redek, 1993, S. 52. 188 Isensee/Kirchhof-Badura, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII, 1992, § 159 Rdn. 33. 182 183
III. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung
183
Weiterer Kritikpunkt ist die praktische Umsetzbarkeit des Optimierungsgebotes. So geht Lerche davon aus, daß eine Annäherung an einen ideellen Punkt, wie es das Optimierungsgebot anstrebt, nicht möglich ist 189. Nach Breuer ist der Optimalstandard der Verteilgerechtigkeit ebenfalls "nicht bestimmbar" 190. Indem durch das Optimierungsgebot zudem suggeriert wird, daß der Gesetzgeber verfassungsrechtlich die Pflicht hat, die der Verfassungs innewohnenden Werte in möglichst optimaler Weise zu erfüllen, tritt nach Lerche außerdem eine um so nachhaltigere Ernüchterung über ein permanent nicht erfülltes Grundgesetz ein 191 . Nach dieser Auffassung ist bei einem Ausgleich zwischen (Re-)Sozialisierungsgebot und anderen Verfassungsgütern nicht ein Optimum zu erreichen, sondern innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens hat der Gesetzgeber bei der Abwägung politischer, gesellschaftlicher und sozialer Belange einen weiten gesetzgebensehen Gestaltungsspielraum. Er ist zwar verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, das (Re-)Sozialisierungsgebot zu verwirklichen, in welchem Maße er dies jedoch tut bleibt ihm überlassen, solange er den Straftätern notwendige (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen gewährt. Auch die anderen Staatsgewalten müssen dem (Re-)Sozialisierungsgebot zwar Rechnung tragen, das heißt zumindest die gesetzlichen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen beachten und die Gesetze entsprechend der (Re-)Sozialisierung auslegen, sie müssen aber nicht darüber hinaus die (Re-)Sozialisierung fördern. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht mit dem Optimierungsgebot im Verfassungsrecht auseinandergesetzt Es löst Grundrechtskollisionen allein mittels der praktischen Konkordanz indem es bspw. im Lebach-Urteil feststellte, es sei "unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat" 192• Alexy sieht hier zwar Anhaltspunkte für das Optimierungsgebot Das Urteil nimmt jedoch nur Bezug auf die verfassungsimmanenten Schranken, wonach die betroffenen Verfassungsgüter in angemessenen Ausgleich zu bringen sind; daß dabei ein Optimum erreicht werden muß, fordert das Verfassungsgericht jedoch nicht. Bei Würdigung der unterschiedlichen Ansichten ist eine Anwendung des Optimierungsgebotes im Verfassungsrecht und damit auch hinsichtlich des verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsinteresses abzulehnen. Es kann nicht drauf ankommen, ob eine gesetzliche oder gerichtliche Vorentscheidung die Grundrechtsordnung oder die Staatszielbestimmungen optimal verwirklicht. Dies ist mit den 189
Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 203.
Breuer, in: Festschrift für Konrad Redek, 1993, S. 52. 191 Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 201 ; siehe auch Böckenförde, Redebeitrag, in: Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Jahrestagung 1971, Grundrechte im Sozialstaat, VVDRstL 1972, S. 165. 192 BVerfGE 35, 202, 225. 190
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3. Kap.: Vorgaben des BVerfG für die (Re-)Sozialisierung von Straftätern
Richt- und Grenzwerten und der Kompetenzverteilung der Verfassung nicht begrundbar. Vor allem darf die einfachgesetzliche Rechtsordnung nicht als Verwirklichung der Verfassung verstanden werden, so daß das Grundgesetz durch Optimierung der einfachgesetzlichen Ordnung schrittweise zu realisieren ist. Hierdurch würde der dem Gesetzgeber vorbehaltene Bereich politischer Verantwortung und selbständiger Regelung in Frage gestellt, so daß die Optimierung eine Übersteigerung der Verfassung zu Lasten des Gesetzgebers darstellen würde 193• Der Gestaltungskraft des Gesetzgebers wird das Optimierungsgebot somit nicht gerecht. Folglich ist die Verfassung als Rahmenordnung zu begreifen 194• Innerhalb dieses Rahmens hat der Gesetzgeber die einfachen Gesetze zu entwickeln, dabei muß er sich aber nicht an einem nicht existenten ideellen Punkt, dem Optimum bestimmter Verfassungsbestimmungen orientieren, sondern es reicht aus, wenn er sich bemüht, den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen .,nach besten Kräften" Rechnung zu tragen 195 • Gewahrt werden muß lediglich der Minimalstandard, damit die Menschenwürde und die grundrechtliche Freiheit Bestand haben 196. Nur so wird auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen. Zwar wendet sich das Verfassungsgericht nicht ausd!Ücklich gegen das Optimierungsgebot, aber die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts und vor allem der Gestaltungsspielraum, den das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber in zahlreichen Entscheidungen einräumt, widerspricht einer Optimierung der Verfassung durch die Staatsgewalten 197 • Damit muß keine Optimierung des (Re-)Sozialisierungsinteresses stattfinden. Das Spannungsverhältnis zwischen (Re-)Sozialisierung und anderen Verfassungsgütern kann von den Staatsgewalten durch die verhältnismäßige Zuordnung im Sinne der praktischen Konkordanz innerhalb eines weiten Gestaltungsraumes gelöst werden.
3. Zwischenergebnis Insgesamt ist somit festzustellen, daß das Bundesverfassungsgericht die drei Staatsgewalten nur zu einem Mindestmaß, zu den unerläßlichen Maßnahmen der So auch Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 208. Böckenförde, Redebeitrag, in: Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Jahrestagung 1971, Grundrechte im Sozialstaat, VVDRstL 1972, S. 165; Isensee/ Kirchhof-Starck, Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bnd. VII, 1992, § 164 Rdn. 4 ff.; kritisch dazu Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 203 f. 195 Siehe dazu auch Lerche, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 203. 196 Breuer, in: Festschrift für Konrad Redek, 1993, S. 52. 197 Vgl. BVerfGE 4, 7, 18; 27, 253; 79, 174, 202; 77, 170, 171; 82, 60, 81; 85, 191, 212; 90, 286; 91, 1, 32; 92, 26; 98, 169; BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547 I 84 (unveröffentlicht); BVerfG, Beseht. vom 19. 9. 1996-1 BvR 1767 /92; NJW 1997, S. 247; BVerfG, Beseht. vom 9. 2. 1998-1 BvR 2234/97, NJW 1998, S. 2962. 193 194
III. Schlußfolgerungen aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung
185
(Re-)Sozialisierung verpflichtet. Die Staatsgewalten können innerhalb ihres weiten Gestaltungsspielraumes entscheiden, inwieweit sie durch welche Maßnahmen dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebot Rechnung tragen. Sie dürfen sich bei ihren Entscheidungen nicht ausschließlich am (Re-)Sozialisierungsgebot orientieren, sondern müssen einen verfassungsmäßigen Ausgleich zwischen der (Re-)Sozialisierung und anderen Verfassungsgütern herstellen. Dabei istjedoch keine optimale Verwirklichung der einzelnen Rechte erforderlich. Notwendig ist aber zumindest, die Einhaltung der Gesetze, so daß die Vollzugspraxis nicht hinter den Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes zuriicksteht. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist dies aber des öfteren der Fall, so daß das Gericht dann in die Entscheidungsfreiheit von Exekutive und Judikative eingreift. Insofern beschreibt Preusker die Rolle, die das Bundesverfassungsgericht bei der Umsetzung des (Re-)-Sozialisierungsgedankens einnimmt, treffend in den Worten: Das Bundesverfassungsgericht erscheint als "einziger Verbündeter" bei der Umsetzung des gesetzlichen Reformgeistes in die Praxis. Angesichts einer desinteressierten Politik und einer emotionalisierten Öffentlichkeit braucht es den Druck aus Karlsruhe, um "fällige Verbesserungen zu beschleunigen" 198 .
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Preusker in einem Gespräch mit Kerscher, SZ 8. 3. 1995, S. 3.
4. Kapitel
Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens I. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Verhängung der Strafe Wie im dritten Kapitel erläutert, verpflichtet das Bundesverfassungsgericht die drei Staatsgewalten, das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot zu verwirklichen. Denn das (Re-)Sozialisierungsgebot gelangt nur dann zur Wirksamkeit, wenn es in der Praxis umgesetzt wird, das heißt, von Legislative, Exekutive und Judikative hinreichend beachtet wird. Das bedeutet aber nicht, daß das Verfassungsgericht alle einzelnen (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen aus dem Grundgesetz herleitet. Die Verfassung gebietet die (Re-)Sozialisierung, gibt aber nur wenig Hinweise, auf welche Art und Weise die Gewalten innerhalb ihres Entscheidungsspielraumes den Strafzweck der (Re-)Sozialisierung durchsetzen müssen. Die Verfassung gibt lediglich den Rahmen für die Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens vor. So fordert das Bundesverfassungsgericht von den Staatsgewalten nur die Verwirklichung der zur (Re-)Sozialisierung "unerläßlichen" Maßnahmen. Zudem ist vom Bundesverfassungsgericht anerkannt worden, daß die einzelnen Strafzwecke, auch die (Re-)Sozialisierung, nicht in allen Stadien der Strafe gleichermaßen Anwendung finden müssen1• Das Gericht stellte fest: ,,Das geltende Strafrecht und die Rechtsprechung der deutschen Gerichte folgen weitgehend der sogenannten Vereinigungstheorie, die - allerdings mit verschieden gesetzten Schwerpunkten - versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Dies hält sich im Rahmen der dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen zukommenden Gestaltungsfreiheit, ( ... ) Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet"2 • Das Bundesverfassungsgericht läßt damit offen, inwieweit der Strafzweck der (Re-)Sozialisierung in den einzelnen Stadien der Strafe zum Tragen kommt, lediglich für das Stadium der Strafvollstreckung gibt das Verfassungsgericht die (Re-)Sozialisierung als verbindI Siehe BVerfGE 45, 187, 253; 91, 1, 31; BVerfG, Beschl. vom 16. 3. 1994-2 BvR 202/ 93, NStZ 1994, S. 578; BVerfG, Beschl. vom 2. 11. 1994-2 BvR 268/92, NJW 1995, s. 1081. 2 BVerfGE 45, 187, 253 f.
I. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Verhängung der Strafe
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liehen Strafzweck vo~. Somit ist vor allem zu prüfen, ob die (Re-)Sozialisierung in dieser Stufe der Strafe entsprechend verfassungsgerichtlicher Vorgaben hinreichend verwirklicht wird. Gleichzeitig ist aber auch zu untersuchen, inwieweit die (Re-)Sozialisierung in den anderen Strafstadien verwirklicht wird. Dadurch läßt sich feststellen, welche Änderungen zur umfassenden Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens erforderlich sind.
1. Rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung a) Vorschriften des Strafgesetzbuches als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung Da der Gesetzgeber aufgrund der Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung nach Art. 20 III GG verpflichtet ist, in seinen Gesetzen das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot - soweit wie es verfassungsrechtlich unerläßlich ist - zu berücksichtigen, ist zunächst zu untersuchen, inwieweit die (Re-)Sozialisierung in den Gesetzen betreffend die Strafverhängung verankert ist. Gesetzliche Grundlagen für die Verhängung der Strafe sind primär die Regelungen des Strafgesetzbuches. Dieses enthält jedoch keine Umschreibung der Strafzwecke und ebenso nicht des Vollzugszieles der (Re-)Sozialisierung. Da sich das Strafgesetzbuch auf alle drei Stadien der Strafe: Strafandrohung, Strafverhängung und Strafvollstreckung bezieht, werden mit den einzelnen Vorschriften verschiedene Strafzwecke verfolgt. Im Hinblick auf die Verhängung der Strafe stellt das Strafgesetzbuch - wie oben dargestellt - nicht die (Re-)Sozialisierung, sondern die Generalprävention in den Vordergrund4 •
b) Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung Anders ist der Schwerpunkt der Strafzwecke beim Jugendgerichtsgesetz aus dem Jahre 1923. Dieses für jugendliche Strafgefangene geltende Jugendgerichtsgesetz wird historisch als das erste Gesetz bezeichnet, durch das (Re-)Sozialisierung bzw. Erziehung geregelt werden sollte5. Dies geschah durch die Verknüpfung von 3 BVerfGE 35, 202, 245; vgl. auch BVerfGE 36, 174, 188; 40, 276, 284; 45, 238 ff.; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121; BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 19982 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 78. 4 Siehe 2. Kapitell. 4. b). s Comell Maelicke, Einführung in das Recht der Resozialisierung, in: ders. (Hrsg.), Recht der Resozialisierung, 4. Aufl. 1998, S. 17.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Zwang bzw. Strafe und Erziehung6 . Insgesamt enthält das Jugendgerichtsgesetz ein ausschließlich spezialpräventiv und erzieherisch ausgerichtetes Täterstrafrecht, das nur in geringem Maße mit dem Prinzip der Tatschuld als Rechtsfolgenorienterung zu vereinbaren ist7 • Der Grund für die Verankerung des Erziehungsgedankens in diesem Gesetz liegt in der Annahme, daß die Entwicklung der jungen Menschen, die zumeist erhebliche Sozialisationsmängel aufweisen, noch keineswegs abgeschlossen ist, so daß die Jugendlichen noch prägbar und spezialpräventiv ansprechbar sind8 • Folglich soll ihnen durch "Sonderregelungen zur Milderung der Rechtsfolgen" die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglicht werden9 • Die Betonung der Spezialprävention geht so weit, daß generalpräventive Aspekte weder bei der Verhängung, noch Bemessung der Jugendstrafe eine Rolle spielen dürfen 10• Das bedeutetet zunächst, daß generell eine Jugendstrafe nur dann verhängt werden darf, "wenn dies aus erzieherischen Gründen erforderlich ist" 11 • Weiterhin werden nach § 5 I, II JGG aus Anlaß der Straftat eines Jugendlichen grundsätzlich Erziehungsmaßregeln nach §§ 10 ff. JGG angeordnet; die Straftat wird nur dann mit Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen. Somit gilt der Grundsatz der Subsidiarität der Strafe im Jugendstrafrecht 12 . Im Falle der Verhängung einer Jugendstrafe ist diese gemäß § 18 II JGG so zu bemessen, "daß die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist". Inwieweit diese erzieherische Einwirkung tatsächlich dahingehend gegeben ist, daß in der Praxis künftige Straffälligkeit der Jugendlichen vermieden wird, ist fraglich. Nicht nur die hohen Rückfallquoten jugendlicher Straftaten sprechen dagegen 13 . Auch Rechtsprechung und Literatur neigen seit einiger Zeit zu der Ansicht, "daß außerhalb einer Jugendvollzugsanstalt besser erzogen werden kann" 14• Daraus wird teilweise geschlossen, daß - entgegen der aktuellen Ausgestaltung des Ausführlich dazu Ostendorf, Informationen zur politischen Bildung 3/1995, S. 38 f. Dünkel, Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990, S. 18; dazu Peter-Alexis Albrecht, ZStW 97 (1985), S. 841 ff. s Brunner, Anmerkung zu BGH, Beschl. vom 22. 12. 1982-3 StR 437 /82 (LG Mosbach), NStZ 1983, S. 219; vgl. auch Landesministerium der Justiz NRW (Hrsg.), Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen, 1997, S. 51; Streng, GA 1984, S. 162; Ostendorf, Informationen zur politischen Bildung, 3/1995, S. 38. 9 BGHSt 31, 189, 191; Eisenberg, JGG-Kommentar, 8. Auf!. 2000, § 106 Rdn. 2. 10 Dünkel, Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990, S. 20; vgl. auch BGHSt 5. 5. 1982, StV 1982, S. 335. Eine Ausnahme stellt 17 II JGG dar, wonach ausnahmsweise die Jugendstrafe auch wegen der Schwere der Schuld unter dem Gesichtspunkt der positiven Generalprävention verhängt wird. II BGHSt 16, 261, 263. 12 Dieser Grundsatz hat internationale Geltung, wie Nr. 1, 5, 17.1 der Mindestgrundsätze für die Jugendgerichtsbarkeit der UN zeigen, abgedruckt in ZStW 99 (1987), S. 258 ff. 13 Vgl. Brunnerl Dölling, JGG-Kommentar, 10. Auf!. 1996, § 17 Rdn. 10; Dünkel, Freiheitsentzug für junge Rechtsbrecher, 1990, S. 620. 14 Vgl. OLG Sch!HOLG, StV 1985, S. 420; Kury, ZfStrVo 1982, S. 211 ; Papendorf, KrimJ 1982, S. 141; Streng, GA 1984, S. 156. 6
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I. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Verhängung der Strafe
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Jugendgerichtsgesetzes -die Jugendstrafe nicht mehr mit dem Zweck der (Re-)Sozialisierung verhängt werden darf. Sie soll nur verhängt werden, um den Sicherungsinteressen der Gesellschaft für gewisse Zeit, im Sinne einer negativen lndividualprävention, zu genügen oder um ausnahmsweise unter Beachtung des Schädigungsverbotes, dem Strafbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung zu tragen 15 • Die Durchsetzung dieser Auffassung "wir bestrafen nicht (mehr), um zu (re-)sozialisieren, sondern wenn wir schon bestrafen müssen, versuchen wir, zu resozialisieren"16, führte wohl auch im Jahre 1990 dazu, daß entsprechend einer internationalen Tendenz die unbestimmte Freiheitsstrafe für Jugendliche - ehemals in § 19 JGG geregelt- abgeschafft wurde 17 . Damit hat auch im Jugendgerichtsgesetz die (Re-)Sozialisierung, zumindest bei der Strafverhängung, mit der Desillusionierung der Behandlungsforschung an Bedeutung verloren.
2. Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung bei der Verhängung der Strafe Wie bereits aus den Rechtsgrundlagen betreffend der Verhängung der Strafe und aus der Erörterung der Strafzwecke hervorgeht, ist der Anwendungsbereich der (Re-)Sozialisierung bei der Verhängung der Strafe nur gering 18. Insoweit können die Richter keine Strafen aufgrund einer (Re-)Sozialisierungsbedürftigkeit des Straftäters verhängen, sondern "nur" aufgrund der begangenen Rechtsgutverletzung, wobei die Schuld des Täters Grundlage der Strafzumessung sein muß. Eine verfassungsrechtliche Bedeutung kommt der (Re-)Sozialisierung in diesem Stadium gar nicht zu, da die Verfassung keine Anhaltspunkte für eine (Re-)Sozialisierung bei der Strafverhängung gibt und das Bundesverfassungsgericht den Strafzweck der (Re-)Sozialisierung ausschließlich für den Strafvollzug als verbindlich vorgegeben hat.
15 V gl. Brunner I Dölling, JGG-Kommentar, 10. Aufl. 1996, § 17 Rdn. 11, Streng, GA 1984, s. 165. 16 Brunnerl Dölling, JGG-Kommentar, 10. Aufl. 1996, § 17 Rdn. 11; siehe auch Michael Walter Tagungsbeitrag bei Reindl, ZfStrVo 1999, S. 101. 17 In anderen Ländern wurde die unbestimmte Jugendstrafe bereits Mitte der siebziger Jahre abgeschafft, vgl. Papendorf, Freiheit der Strafe, Gründe für die Abschaffung der Freiheitsstrafe bei Jugendlichen, in: Schumann/Steinert/Voß (Hrsg.), Vom Ende des Strafvollzugs, 1988, S. 129. 18 Siehe 4. Kapitel I. vor 1., 2. Kapitel I. 4. b).
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung 1. (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug a) Rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug aa) Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re- )Sozialisierung im Strafvollzug
Wichtigster Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens ist der Strafvollzug. Das wird bereits dadurch deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht die (Re-)Sozialisierung nur für das Stadium des Strafvollzuges verbindlich vorgibt19 und für den Strafvollzug zahlreiche verfassungsrechtliche Vorgaben macht20. Zudem zeigt die Bedeutung der (Re-)Sozialisierung für den Strafvollzug bereits das auf (Re-)Sozialisierung ausgerichtete, am 01. 01. 1977 in Kraft getretene, Strafvollzugsgesetz. Auf eine Erörterung dieses Gesetzes wird an dieser Stelle verzichtet, da das Strafvollzugsgesetz bereits oben ausführlich erörtert wurde21 . Auf spezielle Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes, die für den praktischen Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens entscheidend sind, wird bei der Erörterung der zahlreichen Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug eingegangen22. bb) Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug
Für jugendliche Strafgefangene neben dem Strafvollzugsgesetz ergänzend das Jugendgerichtsgesetz23 . Dieses normiert in § 91 I JGG die erzieherische Einwir19 BVerfGE 35, 202, 245; vgl. auch BVerfGE 36, 174, 188; 40, 276, 284; 45, 238 ff.; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 121; BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 19982 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 78. 2o Siehe BVerfGE 40, 276, 284; BVerfG, Beschl. vom 6. 4. 1976-2 BvR 61176, NJW 1976, S. 1313; BVerfG, Beschl. vom 29. 10. 1993-2 BvR 672/93; BVerfG, Beschl. vom 16. 5. 1995-2 BvR 1882/92,365/93, NStZ 1996, S. 55; BVerfG, Beschl. vom 29. 6. 19952 BvR 2631/94, NStZ 1995, S. 613; BVerfG, Beschl. vom 14. 8. 1996- 2 BvR 2267/95, StV 1997, S. 30; BVerfG, Beschl. vom 12. 11. 1997-2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 122; BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 21 Siehe 2. Kapitel I. 4. c) aa), zusätzlich 2. Kapitel IV. 4. 22 Siehe 4. Kapitel II. 1. b ). 23 Das StVollzG gilt, soweit sich gemäß § 2 JGG aus dem JGG keine Abweichungen ergeben, auch für den Jugendstrafvollzug. Um die Jugendstrafe in den verschiedenen Bundes-
II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung
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kung als eigenes Vollzugsziel in § 91 I JGG. Danach soll durch den Vollzug der Jugendstrafe "der Verurteilte dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenden und verantwortungsbewußten Lebenswandel zu führen". Damit knüpft das Jugendgerichtsgesetz an § 2 StVollzG an, geht jedoch über die im Erwachsenenstrafvollzug stärker im Sinne einer Angebotslösung zu verstehenden (Re-)Sozialisierungshilfen mit der Betonung des Zwangscharakters hinaus.
b) Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung im Strafvonzug aa) (Re-)Sozialisierung in bestimmten Formen des Vollzuges
( 1) (Re-)Sozialisierung in sozialtherapeutische Einrichtungen Indem das Verfassungsgericht entsprechend seiner sonstigen Rechtsprechung der Exekutive einen weiten Entscheidungsspielraum bei der Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedanken einräumt, hat die Verwaltung dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebot durch unterschiedlichste Maßnahmen Rechnung getragen. Eine der bedeutendsten Maßnahmen für die (Re-)Sozialisierung im Strafvollzug sind die sozialtherapeutischen Anstalten. Verfassungsrechtlich vorgegeben ist die Errichtung sozialtherapeutischer Anstalten zwar nicht. Jedoch liegt in der Sozialstaatsklausel die Ermächtigung, hilfsbedürftigen Strafgefangenen durch sozialtherapeutische Anstalten spezielle (Re-)Sozialisierungsangebote zu machen24 • Von dieser Ermächtigung hat der Gesetzgeber mit Schaffung des -mittlerweile weggefallenen - § 65 StGB Gebrauch gemacht. Eine Definition der Sozialtherapie ist gesetzlich nicht kodifiziert. Weder in § 65 StGB noch im Strafvollzugsgesetz wird näher erläutert, was unter einer Sozialtherapie zu verstehen ist und welche Bestandteile sie umfaßt. Sieht man die Sozialtherapie als eine Form der Behandlung an, so umfaßt sie generell vor allem die Psychotherapie, die tiefgehende Erfassung der Persönlichkeit und psychodynamischen Zusarnmenhänge25 . Dariiber hinaus wird die Sozialtherapie als ein Sammelbegriff für alle Methoden der Verhaltens- und Einstellungsänderungen bei Inhaftierten mit dem Behandlungsziel der (Re-)Sozialisierung verstanden26•
Iändern nach einheitlichen Grundsätzen zu vollziehen, haben die Justizverwaltungen der Länder Verwaltungsvorschriften vereinbart. Sie sollen aber lediglich die Zeit bis zum Erlaß umfassender rechtlicher Regelungen überbrücken. Derartige Gesetzesregelungen sind immer wieder entworfen worden. Zuletzt hat das BMJ im November 1991 und Aprill993 Gesetzesentwürfe zu einem Jugendstrafvollzugsgesetz vorgelegt. Bis heute ist aber noch kein Entwurf verabschiedet worden. 24 Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 103. 25 Ortmann, Resozialisierung im Strafvollzug, 1987, S. 18. 26 Schmitt, Zur "Bewährung" der Sozialtherapie im Strafvollzug - Bedeutung, Effekte und Perspektiven, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger, 1998, S. 85.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Konzipiert war die Sozialtherapie nach § 65 StGB für eng umgrenzte Tatergruppen, die aufgrund eines richterlichen Urteils in die besonderen Abteilungen aufgenommen und dort sozialtherapeutisch behandelt werden sollten. Ihnen sollte eine besondere Betreuung, Entlassungsvorbereitung und Nachbetreuung zukommen. Mit der Einführung dieser Vorschrift verband sich somit die Hoffnung, neue Grundsätze in den allgemeinen Strafvollzug zu bringen und so die Rückfälligkeitsquote Strafgefangener drastisch zu verringem27 • Jedoch haben die sozialtherapeutischen Anstalten nicht die Bedeutung und den Erfolg erlangt, die man zur Zeit der Strafrechtsreform von ihnen erhofft hat28. Folglich ist die Maßregel der sozialtherapeutischen Anstalt, § 65 StGB, niemals in Kraft getreten und wurde im Jahre 1985 durch § 9 StVollzG abgelöst. Danach kommen Sexualstraftäter in eine sozialtherapeutische Anstalt, wenn die Behandlung in einer solchen angezeigt ist, sowie andere Strafgefangene auf eigenen Wunsch mit Zustimmung des Anstaltsleiters. Durch diese "Kann-Bestimmung" wurde dem Gericht die Entscheidung über die Einweisung des Täters in eine sozialtherapeutische Anstalt genommen. Die sozialtherapeutischen Anstalten wählen sich ihre "Klienten" selbst aus. Sie entscheiden damit, wem die speziellen Behandlungsangebote zukommen und welchem Bewerber sie versagt werden. Dies wird von Teilen der Literatur stark kritisiert und als "Ungleichverteilung der Zuteilung von Freiheitschancen" bezeichnet29• Die meisten Bewerber unter den Strafgefangenen müssen wegen fehlender Plätze in den Anstalten abgelehnt werden. Es gibt zur Zeit in den deutschen sozialtherapeutischen Einrichtungen nur knapp 900 Plätze30. Unter Berücksichtigung der Ausbaupläne der nächsten 10 Jahre kann später mit ca. 1200 Plätzen gerechnet werden. Damit ist man noch weit entfernt von dem in den siebziger Jahren für die alte Bundesrepublik geschätzten Bedarf von ca. 5000 Plätzen in sozialtherapeutischen Einrichtungen31 . Folglich werden die (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten, die die sozialtherapeutischen Anstalten als besonders ausgestattete 27 Ortmann, Resozialisierung im Strafvollzug, 1987, S. 18; Schultz. in: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 800. Zu den einzelnen Rückfälligkeitsuntersuchungen vgl. Dolde, ZfStrVo 1985, S. 148 ff. 28 Dünkel/Nemec/Rosner, MSchrKrim 1986, S. 1; Hirsch, 25 Jahre Entwicklung des Strafrechts, 25 Jahre Rechtsentwicklung in: Universität Regensburg (Hrsg.), Deutschland25 Jahre juristische Fakultät der Universität Regensburg 1993, S. 40; vgl. auch Dünkel, ZfStrVo 1983, S. 8; über mögliche Ursachen des fehlendes Erfolges siehe Dünkel/Nemec/ Rosner, MschKrim 1986, S. 4; Müller-Dietz. Grundfragen des strafrechtlichen Sanktionssystems, 1979, S. 228 f. Eine umfassende Darstellung bisheriger Untersuchungen zu Wirkungen der Sozialtherapie findet sich bei Ortmann, ZStW 106 (1994), 782 ff. 29 Köhler, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1997, S. 646; kritisch auch Dünkel/Nemec/Rosner, MschKrim 1986, S. 2; de With, Ist eine Reform des Strafvollzugsgesetzes gegenwärtig notwendig?, 1988, S. 41; positiv demgegenüber Horstkotte, "Behandlung als Legitimation von Freiheitsentzug, in: Steiler /Dahle/Basque (Hrsg.), Straftäterbehandlung, 1994, S. 257. 30 Siehe BT-Drucks. 13/9329 S. 8. 31 Schmitt, Zur "Bewährung" der Sozialtherapie im Strafvollzug- Bedeutung, Effekte und Perspektiven, in: Kawamura/Reindl (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffälliger, 1998, S. 92.
II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung
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und intensiv auf (Re-)Sozialisierung hin orientierte Vollzugseinrichtungen bieten, nicht in möglichem Maße genutzt. Verfassungswidrig ist dies jedoch nicht, da diese Anstalten nicht zu den unerläßlichen Maßnahmen zur Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens gehören. Eine (Re-)Sozialisierung ist auch ohne Einweisung in eine sozialtherapeutische Anstalt möglich. (2) (Re-)Sozialisierung im offenen Vollzug Eine besondere Bedeutung haben die (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten im offenen Vollzug. Das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung gilt zwar für den gesamten Strafvollzug. Jedoch vermag der offene Vollzug wesentlich stärker die (Re-)Sozialisierung der Strafgefangenen zu fördern als der geschlossene Vollzug. Allerdings ist die besondere (Re-)Sozialisierungschance durch den offenen Vollzug verfassungsrechtlich nicht verbindlich vorgegeben und fällt auch nicht unter den Begriff einer "verfassungsrechtlich unerläßlichen Maßnahme". Das belegt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1998. Das Gericht entschied, daß "für eine große Zahl von Gefangenen ( .. . ) aus den verschiedensten Griinden der offene Vollzug nicht in Betracht kommt'm. Die (Re-)Sozialisierung Gefangener kann auch anders erreicht werden, so daß es im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers liegt, ob Straftätern der offene Vollzug als (Re-) Sozialisierungsmaßnahme angeboten wird. Der Gesetzgeber hat sich für den offenen Vollzug als (Re-)Sozialisierungsmaßnahme entschieden. Damit hat er sich auf die in der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes enthaltene Ermächtigung gestützt, ein sozial integratives Strafvollzugsrecht zu schaffen33 • Sozial integrativ insofern, als es der offene Vollzug anders als der Geschlossene ermöglicht, dem Straffälligen die Freiheit nicht gänzlich zu nehmen und Verantwortlichkeit in Freiheit nicht von heute auf morgen zu verlangen34. Von Beginn an wird dem Gefangenen wesentlich stärker als im geschlossenen Vollzug Eigenverantwortung abverlangt35 • Er wird besonderen Verpflichtungen unterworfen, indem sein Tagesablauf weitgehend nicht geregelt ist und er gleichzeitig an fast allen Angelegenheiten des Vollzugsablaufes aktiv beteiligt wird. Der Gefangene muß im offenen Vollzug also verstärkt bestimmte Erwartungen erfüllen. Dies ergibt sich auch daraus, daß die in § 2 2 StVollzG festgeschriebene Vollzugsaufgabe des Schutzes der Allgemeinheit auch für den offenen Vollzug gilt. So bestimmt § 141 II StVollzG: "Anstalten des geschlossenen Vollzuges sehen eine sichere Unterbringung vor, Anstalten des offenen Vollzugs keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen". "Während im geschlossenen Vollzug BVerfG, Beschl. vom 1. 4. 1998-2 BvR 1951196, NStZ 1998, S. 431. Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 105. 34 Ostendorf, ZfStrVo 1991, S. 85. 35 Heinrich, JA 1995, S. 81, Müller/Wulf, ZfStrVo 1999, S. 3 f.; siehe auch Dünkel/Kunkat, Neue Kriminalpolitik 2/1997, S. 26. 32 33
13 Leyendecker
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
also die Sicherheit durch äußere Vorkehrungen ( ... ) gewährleistet ist, beruht die Sicherheit der offenen Anstalten auf sozialen Erwartungen. " 36 Anders als oftmals von der Öffentlichkeit behauptet, stellt sich der offene Vollzug also nicht vorrangig als Erleichterung für den Gefangenen dar. Indem im offenen Vollzug- insbesondere durch die Förderung der Eigenverantwortung - günstigere Voraussetzungen für die (Re-)Sozialisierung als im geschlossenen Vollzug gegeben sind, ist der offene Vollzug nach dem Strafvollzugsgesetz als Regelvollzug ausgestaltet37 . Denn § 10 StVollzG legt zunächst die Voraussetzungen des offenen Vollzugs fest und fügt dann ergänzend hinzu: "Im übrigen sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug unterzubringen." Dennoch ist in der Praxis nicht der größte Teil der Straftäter im offenen Vollzug untergebracht. Während im geschlossenen Vollzug Überbelegung herrscht, ist der offene Vollzug nur durchschnittlich zu 80 Prozent belegt38 . Zum einen wird er als Übergangsvollzug für Gefangene genutzt, die einen Teil ihrer Strafzeit im geschlossenen Vollzug zugebracht haben. Zum anderen wird bestimmten, als wenig gefährlich eingeschätzten Gefangenengruppen ermöglicht, ihre Strafzeit ganz im offenen Vollzug zu verbringen39• Damit ist der Anteil des offenen Vollzugs deutlich unterrepräsentiert40• Trotz der Regelung des§ 10 StVollzG ist dies rechtmäßig. Nach der Übergangsvorschrift des§ 201 Nr. 1 StVollzG ist eine durch Anstaltsverhältnisse erforderliche ausschließliche Unterbringung im geschlossenen Vollzug ausdrücklich für Anstalten gestattet, mit deren Errichtung vor dem 01. 01. 1977 begonnen wurde. Schüler-Springorum beschreibt diese Situation wie folgt: "Gefangene dürfen im geschlossenen Vollzug sein, obwohl sie im offenen sein sollten, wo selbst sie freilich auch heute schon ihre Strafe verbüßen dürfen, wenn sie dies tatsächlich können und zu denen gehören, die nach § 10 im offenen Vollzug sein sollten ...." 41 Aufgrund des§ 201 Nr. 1 StVollzG ist der offene Vollzug somit in der Praxis bis heute nicht zum Regelvollzug geworden. Die in den siebziger Jahren erkannten Chancen und Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung durch eine Unterbringung im offenen Vollzug werden in der Praxis nicht ausgiebig genutzt. Dies ist aber nicht verfassungswidrig, da der offene Vollzug nicht aus der Verfassung hergeleitet werden kann und das Bundesverfassungsgericht auch nicht entschieden hat, daß der Calliess, Strafvollzugsrecht, 3. Aufl. 1992, S. 89; Heinrich, JA 1995, S. 80. Anders nur Müller/Wulf, ZfStrVo 1999, S. 4. 38 BT-Drucks. 13/9329 S. 18. Siehe auch Frankfurter Neue Presse, 1. 10. 1999, S. 3. 39 Zu den verschiedenen Tätergruppen im offenen Vollzug vgl. Böhm, NStZ 1986, S. 204. 40 Im August 1998 betrug das Verhältnis der im offenem Vollzug Inhaftierten zu den Gefangenen im geschlossenen Vollzug 38.499 zu 10.585 Gefangenen, SZ 10. 11. 1999, S. 2. Weitere Statistiken finden sich bei Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzuges in der BRD seit 1970, 2. Aufl. 1982, S. 344; Heinrich, JA 1995, S. 80. Zum Jugendstrafvollzug siehe Ostendorf, ZfStrVo 1991, S. 86. 41 Schüler-Springorum, in: Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 883. 36 37
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offene Vollzug für die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebotes unerläßlich ist. bb) Maßnahmen zur (Re-)Sozialisierung innerhalb aller Vollzugsformen
( 1) (Re-)Sozialisierung durch (Aus )Bildung, Arbeit und Entlohnung (a) (Re-)Sozialisierung durch (Aus)Bildung
Kann das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung auch verstärkt in sozialtherapeutischen Anstalten und Anstalten des offenen Vollzugs erreicht werden, gibt es in allen Vollzugsformen - auch im geschlossenen Vollzug - zahlreiche Möglichkeiten zur (Re-)Sozialisierung. Die einzelnen Justizvollzugsanstalten bieten unterschiedliche Maßnahmen zur (Re-)Sozialisierung an. Das Angebot einzelner Maßnahmen steht grundsätzlich in ihrem Ermessen, solange die Maßnahmen nicht gesetzlich kodifiziert sind oder verfassungsrechtlich vorgegeben. Da die Bildung als wesentlicher Punkt der Sozialisation angesehen wird, kommt ihr auch im Rahmen der (Re-)Sozialisierung Strafgefangener eine nicht unerhebliche Bedeutung zu42. Die beruflichen Bildungsmaßnahmen im Strafvollzug können wie folgt unterteilt werden: Nachholung schulischer Abschlüsse, berufliche Erstausbildung und berufliche Umschulung sowie sonstige Förderung beruflicher Kenntnisse. Kurse zur Berufstindung und Berufsvorbereitung, spezifischer Berufsfachunterricht und der allgemeine berufsbegleitenden Unterricht sowie Sprachund Computerkurse. Für Gefangene mit Hochschulberechtigung kommt daneben noch ein Fernstudium an der Universität Hagen in Betracht. Gesetzlich sind sämtliche Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung in § 37 III StVollzG festgeschrieben. Damit ist die Exekutive nach dem Prinzip des Vorranges des Gesetzes verpflichtet, Maßnahmen zur Weiterbildung anzubieten. Eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Verpflichtung ergibt sich jedoch nicht. Nach§ 37 III StVollzG stehen die Bildungsmaßnahmen der normalen Arbeitszuweisung gleich. Jedoch beruhen alle Bildungsmaßnahmen auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit und Selbstverantwortlichkeit der Gefangenen43 . Sie setzen somit ihre Zustimmung nach § 41 II StVollzG voraus. Des weiteren zählen Unterricht, Lehrgänge und sonstige Veranstaltungen zur Weiterbildung nach § 67 I StVollzG zur Kategorie der Freizeitbeschäftigung. Das hat zu Folge, daß die einzelnen Gefangenen keinen Anspruch auf die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen haben44 • 42 Siehe BT-Drucks. 13/9329 S. 4; Arbeitsgruppe des Berufsfortbildungswerkes, Berufliche Bildungsmaßnahmen im Jugendvollzug, ZfStrVo 1983, S. 99. Zum Einfluß von Bildungsmaßnahmen auf die Rückfalligkeitsquote Karl-Heinz Baumann, ZfStrVo 1977, S. 31 ff.; Berkhauer/Hasenpusch, MschKrim 1092, S. 325 ff. 43 du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 174. 44 Diese Regelung wird insofern in der Literatur stark kritisiert, vgl. du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 190.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozia1isierungsgedankens
Die Bedeutung der Bildung für die (Re-)Sozialisierung Gefangener ergibt sich zunächst daraus, daß qualifizierte Kenntnisse es erleichtern können, nach der Entlassung einen Arbeitsplatz zu finden. Bildung in Form von Schulabschlüssen und weiterer Ausbildung fehlen den meisten Gefangenen45 . Folglich wird im Strafvollzug versucht, den Gefangenen durch Bildungsmaßnahmen notwendige Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, die auf ein geordnetes Erwerbsleben mit besseren Erwerbschancen vorbereiten und so die (Re-)Sozialisierungmöglichkeiten zu verbessern46. Allerdings reicht angesichts des schnellen Wandels der technologischen und sozialen Entwicklung bei diesen verschiedenen Bildungsmaßnahmen nicht die reine Wissensvermittlung aus. Die Bildung Strafgefangener muß daneben ein überfachliches Lernen, sogenannte "Schlüsselqualifikationen" im Auge haben und "die Fähigkeit und Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und die Kompetenz, Lernprozesse selbst zu steuern"47. Nur so können die Gefangenen erlernen, nach der Haft eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten. Weiterhin fördert die Bildung auch insofern die (Re-)Sozialisierung, als sie ein gewisses Selbstwertgefühl vermittelt und die Stabilisierung der Gesamtpersönlichkeit unterstützt48 . Gerade eine erfolgreiche Berufsausbildung wirkt als Beitrag zur Erhöhung des bei Straftätern oft beeinträchtigten Selbstwertgefühls49 . So kann die Vermittlung bestimmter Kenntnisse an Gefangene diese spüren lassen, daß man sich um sie bemüht. Das kann zur Folge haben, daß sich die Gefangenen offen und bereitwillig gegenüber (Re-)Sozialisierungsbemühungen verhalten5°. In der Praxis muß dieser Effekt als bedeutender eingeschätzt werden als das Erlernen eines Berufes. Denn in deutschen Justizvollzugsanstalten gibt es zahlreiche Bildungsangebote für Gefangene, jedoch nur wenige Ausbildungsplätze in Lehrgängen mit Abschlussprüfungen. Das Angebot an Ausbildungsmöglichkeiten ist begrenzt. Es kann nicht in hohem Maße auf die individuellen Fähigkeiten der Strafgefangenen Rücksicht genommen werden51 • Hinzu kommt, daß fast alle Ausbildungsplätze in Anstalten des offenen Vollzuges liegen, weil die praktische und theoretische Ausbildung diese Gewahrsamslockerung angezeigt erscheinen läßt52• 45 Vgl. GTWUJu, IR 1977, S. 52; Harbordt, Die Subkultur des Gefängnisses, 1972, S. 39; Neu, Betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Aspekte einer tariforientierten Gefangenenentlohnung, 1996, S. 38; Sauter, ZfStrVo 1991, S. 265. 46 Vgl. Deimling, ZfStrVo 1978, S. 10. 47 Vgl. Bierschwale, ZfStrVo 1997, S. 74; Calliess, Strafvollzug, Institution im Wandel, 1971, S. 99; Deimling, ZfStrVo 1977, S. 11. 48 Berkhauer/ Hasenpusch, MschKrim 1992, S. 327. 49 du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 187.
so Bierschwale, ZfStrVo 1997, S. 72; vgl. auch Michael Walter, Resozialisierung durch darstellendes Spiel in der Vollzugsanstalt, 1970, S. 20. 51 Vgl. Michael Walter, Resozialisierung durch darstellendes Spiel in den Vollzugsanstalten, 1970, S. 22 f. 52 Vgl. Grunau, JR 1977, S. 52.
Il. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung
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Unabhängig davon kommt bei einem Großteil der Gefangenen - abgesehen von ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen - keine Teilnahme an einer beruflichen Bildungsmaßnahme in Betracht. Denn grundsätzlich werden die Ausbildungsmaßnahmen im Vollzug nur dann als sinnvoll erachtet, wenn sie während der Inhaftierung abgeschlossen werden können. Konkret ist für die (Re-)Sozialisierungsmaßnahme der Berufsausbildung neben einem jugendlichen Alter eine Vollzugsdauerzwischen 6 und 24 Monaten erforderlich. Folglich hängt die Verwirklichung von Weiterbildungswünschen wesentlich vom Alter, von Persönlichkeitsdefiziten, von der Strafzeit53 und vom Geschlecht ab. Eine besondere Problematik für Ausbildungsplätze ergibt sich zudem für weibliche Gefangene. Aufgrund ihres geringen Anteils an der gesamten Strafflilligenpopulation, den wenigen Frauenabteilungen, gibt es bei diesem Klientel nur ein sehr begrenztes Angebot an Ausbildungsmaßnahmen54. Da der Anspruch der Straftäter auf (Re-)Sozialisierung verfassungsrechtlich aber - wie oben erläutert - bestimmten Grenzen unterliegt, sind (Re-)Sozialisierungsangebote nur im Rahmen des finanziell Zurnutbaren zu schaffen, es müssen nur die notwendigen personellen und sachlichen Mittel für eine (Re-)Sozialisierung bereitgestellt werden55. Es ist nicht davon auszugehen, daß die Bildungsmaßnahmen für die (Re-)Sozialisierung unbedingt notwendig sind. Allerdings muß aufgrund der einfachgesetzlichen Kodifizierung in § 37 III StVollzG nach dem Grundsatz des Vorranges des Gesetzes ein Mindestmaß an berufsbildenden Maßnahmen von den Justizvollzugsanstalten angeboten werden. Waren die Maßnahmen aber nicht gesetzlich in § 37 III StVollzG kodifiziert, müßten die Anstalten verfassungsrechtlich keine Bildungsmaßnahmen anbieten. Die Berufsbildung kann nicht als unerläßlich zur Erreichung des Vollzugszieles beurteilen werden.
(b) (Re-)Sozialisierung durch Arbeit im Strafvollzug Wie bereits oben erläutert, herrscht in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit, daß die Arbeit im Strafvollzug (re-)sozialisierende Wirkung hat56. Dies rührt daher, daß die Arbeit im Vollzug die Einstellung der Strafgefangenen gegenüber der Annahme einer Arbeit nach der Haft als Basis für ein sozial verantwortliches Leben positiv beeinflußt. Denn ein fester Arbeitsplatz stellt die wichtigste Möglichkeit dar, um auch auf lange Sicht kontinuierlich - ohne kriminelle Aktivitäten -über Geld zu verfügen57 . Es reicht nicht aus, daß der ehemals Straffällige seine du Menil, Die Resozia1isierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 188. von den Driesch, Frauenstrafvollzug - Entwicklung, Situation und Perspektiven, in: Kawamura/Reindl, (Hrsg.), Wiedereingliederung Straffruliger, Freiburg 1998, S. 120; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 188. 55 BVerfGE 40, 276, 284; bestätigend BVerfG, Kammerbeschl. vom 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht); siehe auch BVerfGE 36, 265, 275; ebenso KG Berlin, NStZ-RR 1998, S. 192. 56 Siehe 2. Kapitel IV. 3. c) ee). 53
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Einstellung im Vollzug hinsichtlich eines sozial verantwortlichen Lebenswandels ändert. Vielmehr muß der Strafvollzug auch von der wirtschaftlichen Seite her die Voraussetzungen für ein künftiges Leben in sozialer Verantwortung schaffen58 • Sollen Strafgefangene nach der Entlassung aus dem Vollzug die Möglichkeit eines festen Arbeitsplatzes haben, dann sollten sie auch während des Vollzuges auf dieses Leben vorbereitet werden, indem die Arbeitsleistung im Strafvollzug an die Anforderungen der Wirtschaft angeglichen wird5 9 • Das bedeutet, daß die konkrete - vom Gefangenen ausgeübte - Tätigkeit ihn auf ein geordnetes Erwerbsleben und auf die am Markt bestehende Nachfrage vorbereiten soll. Erforderlich ist die Vermittlung von dazu notwendigen Kenntnissen und Fertigkeiten in Abgrenzung zu integrationshemmender Gefängnisarbeit, die für das berufliche Weiterkommen nach der Entlassung wertlos ist60• Am ehesten gelingt die Vorbereitung auf ein geordnetes Erwerbsleben im offenen Vollzug. Hier besteht die Möglichkeit, daß Strafgefangene während des sogenannten Freiganges einer Arbeit auf der Grundlage eines freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt nachgehen61 . Der Entscheidung der Vollzugsbehörde über die Gestattung des freien Beschäftigungsverhältnisses wird unmittelbarer Bezug zum verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebot zugemessen. Denn nach dem Bundesverfassungsgericht ist die Vollzugsbehörde gehalten, die Möglichkeit eines freien Beschäftigungsverhältnisses gerade angesichts der besonderen (Re-)Sozialisierungschancen zu prüfen, die diese Beschäftigungsfonn bietet62. Der Freigang fördert insofern in besonderem Maße die (Re-)Sozialisierung, als die Gefangenen finanzielle Verpflichtungen wieder erfüllen können, Kontakte aufrechterhalten, soziales Verhalten einüben und eine gewisse Freizügigkeit ausüben können63 . Die Strafgefangenen erleben die an einem nonnalen Arbeitsplatz auftauchenden Probleme und haben im Idealfall die Gelegenheit, in der Anstalt abends ihre Sorgen und etwaigen Schwierigkeiten mit einem Betreuer zu besprechen. Der Freigang wird insofern auch als "Lebenstraining" vor dem Stadium der Entlassung bezeichnet64• Es wird davon ausgegangen, daß sich der Gefangene erst 57 Baumeister; ZfStrVo 1988, S. 323; du Menil, Die Resozialisierungsirlee im Strafvollzug, 1994, S. 186; Opp, Strafvollzug und Resozialisierung, 1979, S. 350. 58 Zimmermann, Die Verschuldung Strafgefangener, 1981, S. 5. 59 Deimling, ZfStrVo 1977, S. 10; Leder; Arbeitsentgelt im Strafvollzug der BRD, 1978, S. 27; Nass, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung und Resozialisierung als Grundprobleme der Krirninalpolitik, in: ders. (Hrsg.), Kriminalität vorbeugen und behandeln, 1971, S. 8; Seidler/Schaffner/Kneip, ZfStrVo 1988, S. 329. 60 Vgl. Deimling, ZfStrVo 1977, S. 10; Harbordt, Die Subkultur des Gefängnisses, 1972, S. 39. Leder; Arbeitsentgelt im Strafvollzug der BRD, 1978, S. 39. 61 Jürgen Hartmann, Keine Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung, Die Sozialversicherung 1993, S. 197. 62 BVerfGE, 98, 169, 210. 63 Müller!Wulf, ZfStrVo 1999, S. 5. 64 Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl. 1986, S. 186; siehe auch BT-Drucks, 13/9329, S. 14; Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 103.
II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung
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durch den länger andauernden Freigang den subkultureilen Einflüssen des Gefängnisses nachhaltig entziehen kann und er mit den Leistungsanforderungen der Gesellschaft konfrontiert wird65 . Für die (Re-)Sozialisierung ist die Arbeit außerhalb der Justizvollzugsanstalt also eine wichtige Maßnahme. Aber auch wenn sich das Verfassungsgericht bislang noch nicht mit den Arbeitsmöglichkeiten innerhalb den Justizvollzugsanstalten beschäftigt hat, sind die Beschäftigungsangebote im Vollzug ebenfalls verfassungsrechtlich von Bedeutung. So ergibt sich nach Leder die Pflicht der Vollzugsbehörden, den Gefangenen eine aktive, produktive und sozialbezogene Tätigkeit zu ermöglichen aus dem Soziaistaatspostulat des Grundgesetzes66• Dem ist zuzustimmen. Denn eine Beteiligung am sozialen Leben ist nur über Arbeit möglich. Ein Vollzug ohne Arbeitsmöglichkeiten könnte schnell zu einem verfassungswidrigen Verwahrvollzug werden67 . Somit fordert das verfassungsrechtlich geschützte (Re-)Sozialisierungsinteresse die Vorbereitung auf ein erwerbswirtschaftliches Leben nach der Haft, und hierzu ist die Arbeit im Vollzug eine unerläßliche Maßnahme. Zu beachten ist weiterhin Art. 12 GG. Nach Art. 12 I 1 GG haben alle Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen, allerdings gewährleistet Art. 12 GG ebenso wie die entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen keinen Anspruch auf Arbeit68 . Damit kann der Gefangene zwar nicht direkt aus Art. 12 I 1 GG fordern, eine Arbeitsstelle im Vollzug zu erhalten. Dennoch können aus Art. 12 I 1 GG Anhaltspunkte für die Möglichkeit der Arbeit im Vollzug entnommen werden. Denn die im Grundgesetz kodifizierte Berufswahl- und die Berufsausübungsfreiheit verdeutlicht die verfassungsrechtliche hohe Bedeutung der Arbeit. Zudem sind die Vater des Grundgesetzes davon ausgegangen, daß im Vollzug gearbeitet wird, wie die Kodifikation der Zwangsarbeit in Art. 12 Ill GG zeigt. Aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Bedeutung der Arbeit, sollte die Berufsfreiheit zur Konkretisierung des als solchen inhaltlich nicht präzisen Sozialstaatsprinzips69 genutzt werden. Das führt zu Folgendem: Wenn das Sozialstaatsprinzip die (Re-)Sozialisierung der Gefangenen fordert, die Arbeit verfassungsrechtlich von hoher Bedeutung ist und für einen erfolgreichen (Re-)Sozialisierungsprozeß unerläßlich, dann verlangt auch die aus dem Sozialstaatsprinzip 6s Vgl. Böhm, NStZ 1986, S. 202 f.; Dolde, Vollzugslockerungen im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsversuch und Risiko für die Allgemeinheit, in: Jung/ Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug- wielange noch?, 1994, S. 108. 66 Leder, Arbeitsentgelt im Strafvollzug der BRD, 1978, S. 39. 67 Zur Verfassungswidrigkeit eines reinen Verwahrvollzuges siehe 2. Kapitel I. 2. bb) (2); vgl. auch Calliess/Müller-Dietz., StVollzG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, Einleitung Rdn. 28; Ho.ffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 149, 152 f.; Michael Walter, Strafvollzug, 1999, Rdn. 52. 68 BVerfG 84, 133, 146; BayVGH, DöV, 1961, S. 7120; Maunz/Dürig-Scholz, GG-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 12 Rdn. 43; Münch/ Kunig-Gubelt, GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 12 Rdn. 1. 69 Siehe 2. Kapitell. 1.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
hergeleitete Fürsorgepflicht des Staates gegenüber den Gefangenen, diesen durch die Möglichkeit der Arbeit im Vollzug die Grundlage für eine unabhängige Existenzerhaltung und eigenverantwortliche Lebensführung zu schaffen. Somit kann die notwendige Möglichkeit der Arbeit im Vollzug verfassungsrechtlich aus dem Sozialstaatsprinzip i.V.m. Art. 12 GG hergeleitet werden. Der Gesetzgeber hat diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen durch § 37 II StVollzG Rechnung getragen. Er hat festgelegt, daß die Vollzugsbehörde dem Gefangenen wirtschaftlich ergiebige Arbeit zuweisen soll. Damit hat sich die Legislative an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gehalten, wonach die Arbeit für die (Re-)Sozialisierung unerläßlich ist. Zur Zeit kann allerdings nur etwa die Hälfte der Gefangenen beschäftigt werden70. Jeder Gefangene, der nicht erwerbswirtschaftlich tätig ist, kann jedoch an sozial- oder arbeitstherapeutischen Maßnahmen teilnehmen. Ebenso sind diese arbeitstherapeutischen Konzeptionen für die (Re-)Sozialisierung von großer Bedeutung71 • Auch dabei können charakterliche Fähigkeiten so gefördert werden, daß die Strafgefangenen nach der Entlassung in der Lage sind, sozial angepaßt zu leben72 . So können Geduld, Ausdauer, Versagungstoleranz erlernt werden. Dadurch kann die soziale Integration nach der Entlassung erleichtert werden. Die Erziehung zur Arbeit darf aber nicht mit einer Allgemeinerziehung durch Arbeit gleichgesetzt werden. Denn Defizite, die Gefangene in anderen Bereichen wie Freizeitbeschäftigung oder personalen Kontakten haben, lassen sich nicht durch Arbeit abbauen, sondern können auch immer wieder zur Straffalligkeit nach der Entlassung führen73 . Damit kann die Arbeit in hohem Maße den (Re-)Sozialisierungsprozeß fördern. Der Arbeit ist für den (Re-)Sozialisierungsprozeß sogar eine solche Bedeutung zuzumessen, daß das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot die Vollzugsanstalten verpflichtet, den Strafgefangenen Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei darf die Arbeit darf aber nicht - wie in früheren Jahrhunderten - die ausschließliche Beschäftigung der Gefangenen darstellen, da diese die Gefangenen nur einseitig fördert. Erforderlich ist ein Ausgleich, z. B. durch Freizeitaktivitäten74.
Preusker, Neue Kriminalpolitik 2/1997, S. 36. Vgl. du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 186. 72 Vgl. Calliess I Müller-Dietz. StVolizG-Kommentar, 7. Aufl. 1998, § 38 Rdn. 7; Nass, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung und Resozialisierung als Grundprobleme der Kriminalpolitik, in: ders. (Hrsg.), Kriminalität vorbeugen und behandeln, 1971, S. 2. 73 du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 186. 74 Siehe 4. Kapitel II. 1. b) bb) (2). 70
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II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung
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(c) (Re-)Sozialisierung durchfinanzielle Maßnahmen
(aa) (Re-)Sozialisierung durch Entlohnung Ein weiteres Mittel zur (Re-)Sozialisierung Strafgefangener sind finanzielle Maßnahmen. Zu diesen finanziellen Maßnahmen gehört primär die Arbeitsentlohnung. Wie bereits oben erläutert, wird davon ausgegangen, daß die Entlohnung im Strafvollzug den (Re-)Sozialisierungseffekt der Arbeit unterstützt75 bzw. sogar erst hervorruft76• Im Strafvollzugsgesetz ist die Entlohnung in den §§ 43 ff. StVollzG geregelt. Bei Inkrafttreten des Gesetzes war die Einführung einer vollwertigen Arbeitsentlohnung und entsprechender Surrogate vorgesehen77 • Das heißt, die Gefangenen sollten für jeden Arbeitstag den 250sten Teil von 80 Prozent der Summe erhalten, die im Durchschnitt auf jeden Versicherten, abzüglich der Auszubildenden, im vorangegangenen Jahr in Deutschland entfallen ist (Ortslohn). Einen kleinen Teil des monatlichen Einkommens sollten die Gefangenen für den Einkauf in der Anstalt erhalten. Geplant war, daß sie der Versicherungspflicht unterliegen und angehalten werden sollen, einen Unterhaltsbeitrag für die unterhaltsberechtigten Angehörigen zu zahlen. In den Gesetzesmaterialien zum Strafvollzugsgesetz heißt es, die Gewährung eines Arbeitsentgeltes sei "als ein wesentliches Mittel der Behandlung selbst zu verstehen, weil sie dem Gefangenen die Früchte seiner Arbeit vor Augen führt" 78 • Aus finanziellen Gründen ist dieses Modell zunächst nur mit erheblichen Abstrichen eingeführt worden. Dem Gefangenen wurde in § 43 StVollzG ein Rechtsanspruch auf ein Arbeitsentgelt und in§ 47 StVollzG ein Minimum von 30 DM an Hausgeld für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse zuerkannt sowie die Zahlung eines Unterhaltsbeitrages nach§ 49 StVollzG für die Angehörigen des Gefangenen. Darüber hinaus wurde in§ 51 StVollzG das Überbrückungsgeld zur Sicherung des notwendigen Lebensunterhaltes des Gefangenen und seiner unterhaltsberechtigten Familienangehörigen für in die ersten vier Wochen nach der Entlassung geregelt. Die entscheidenden Übergangsregeln der § 198 f. StVollzG wurden bis heute nicht in Kraft gesetzt, so daß sich die Bemessung des Arbeitsentgelts gemäß § 43 I 2 StVollzG nach dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung des vorangegangenen Kaiendetjahres richtet. Von diesem jährlich Vgl. 3. Kapitel II 2. Vor Inkrafttreten des StVollzG ging man demgegenüber davon aus, daß der Charakter der Freiheitsentziehung als Strafe dadurch erhalten bliebe, daß die Arbeitsbelohnung knapp bemessen werde, vgl. OLG Münster, NJW 1966, S. 607. 77 Ausführlich zum Modell der Arbeitsentlohnung im StVollzG siehe Leder. Arbeitsentgelt im Strafvollzug der BRD, 1978, S. 30 ff.; Müller-Dietz, JuS 1999, S. 953; Neu, Betriebwirtschaftliche und volkswirtschaftliche Aspekte einer tariforientierten Gefangenenentlohnung, 1995, S. 19 ff. 78 BT-Drucks. 7/918, S. 67. 75
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
ermittelten Betrag erhält der Gefangene nach der derzeitigen Übergangsregelung gemäß § 43 I 2 i.V.m. § 200 I StVollzG seit dem Jahre 1977 nur fünf Prozent des Ortsohnes als Eckvergütung79 • Das ergibt umgerechnet einen Stundenlohn von ca. 1,20 DM, einen durchschnittlichen Monatslohn von 213, 50 DM80• Es wird davon ausgegangen, daß das Arbeitsentgelt in dieser geringen Höhe teilweise nicht einmal die Bildung des ohnehin gering bemessenen Überbrückungsgeldes nach § 51 StVollzG ermöglicht81 • Bei dieser aktuellen Gesetzeslage muß die (re-)sozialisierende Wirkung der Entlohnung bezweifelt werden. Das bisherige Arbeitsentgelt Gefangener wird als zu gering angesehen, um eine Motivation für eine Arbeit nach der Entlassung als Grundlage des (Re-)Sozialisierungsprozesses zu schaffen82• Bei dieser Entlohnung kann den Gefangenen ihre soziale Verantwortung gegenüber Angehörigen und sich selbst nur schwer nahe gebracht werden83 . Zudem wird davon ausgegangen, daß Gefangene nur dann ein positives Verhältrlis zur Arbeit entwickeln, wenn ihnen auch der normale Nutzen der Arbeit, das heißt der entsprechende Lohn gewährt wird. Gefordert wird insofern seit langem ein Rechtsanspruch des Gefangenen auf ein der Arbeit entsprechendes Arbeitsentgelt84• Ein solches Arbeitsentgelt würde allerdings nach einem im Auftrag der Landesjustizverwaltungen erstellten Gutachtens das Zehnfache der bisherigen Ausgaben der Länder für die Gefangenenentlohnung betragen85 . Angesichts der ohnehin angespannten Haushaltslage der Länder sah die Bundesregierung insofern bisher keine Möglichkeit zur Erhöhung des Gefangenenarbeitsentgeltes 86. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 01. 07. 199887 zwingt jetzt aber den Gesetzgeber dazu, spätestens bis zum 31. 12. 2000 neue Entlohnungsregelungen zur Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens zu schaffen. 79 Es gibt allerdings schon heute erste Projekte zur leistungsgerechten Entlohnung, beispielsweise das Ende 1991 eingeführte Hamburger Modell, dazu Hagemann, MschKrim 1995, s. 343 ff. 80 Wrage, ZRP 1997, S. 436; siehe auch Britz, ZfStrVo 1999, S. 195; Averesch, BZ 25. 05. 2000, S. 6. Zum Tariflohn außerhalb des Gefängnisses vgl. Neu, Betriebswirtschaftliehe und volkswirtschaftliche Aspekte einer tariforientierten Gefangenenentlohnung, 1995, S. 27. 81 BR-Drucks. 270/88 S. 37; BT-Drucks. 11/3694, S. 108; Dünkel, ZfStrVo 1990, S. 107. 82 Vgl. Wrage, ZRP 1997, S. 435 f.; siehe auch Müller-Dietz, JuS 1999, S. 954. 83 Vgl. Biete, ZStW 1956, 231; Harbordt, Die Subkultur des Gefängnisses, 1972, S. 39; Jürgen Hartmann, Die Sozialversicherung 1993, S. 198; Lichtenberger. Die Arbeitsentlohnung im Strafvollzug als Mittel der Resozialisierung, 1971, S. 38 ff., 58; du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 194; Neu, ZfStrVo 1995, S. 154. 84 Ein solches Arbeitsentgelt würde auch im Einklang mit Nr. 76.1 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen stehen, wonach die Arbeit der Gefangenen "gerecht zu vergüten" ist. 85 BT-Drucks. 13/9329 S. 13. 86 Siehe BT-Drucks. 13/9329 S. 13. 87 BVerfGE 98, 169.
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Das Verfassungsgericht hat die Entlohnungsregelung des § 200 I StVollzG - mangels einer für die (Re-)Sozialisierung erforderlichen Anerkennung geleisteter Arbeit - als verfassungswidrig eingestuft. Eine verfassungsmäßige Auslegung war nicht möglich, da die Vorschrift explizit bestimmt, daß die Gefangenen eine Eckvergütung von fünf Prozent erhalten. Die Norm ist damit derart bestimmt, daß es keine Auslegungsmöglichkeiten gibt. Somit diskutieren jetzt Bund und Länder verschiedene Vorschläge für eine neue Gesetzesregelung88• Wie die gesetzliche Neuregelung genau aussehen wird, ist Sache des Gesetzgebers. Ihm ist, wie oben ausführlich erläutert89, vom Bundesverfassungsgericht ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt worden90. In Betracht für eine Neuregelung kommt eine grundsätzliche Umstrukturierung der Arbeitsentlohnung in der Weise, daß die Gefangenen volltariflich entlohnt werden und einen Haftkostenbeitrag für Unterkunft und Verpflegung bezahlen91 • Zum Abbau der Verschuldung wird auch eine Erhöhung des Hausgeldes und die Verwendung eines Teiles des zusätzlichen Einkommens für Rücklagen vorgeschlagen, über die der Gefangene erst nach Haftentlassung verfügen darf; sowie ein sofortiger Lohnabzug für die Versorgung der Familie und Wiedergutmachung des Schadens92• Augenblicklich sieht es aber so aus, daß der Gesetzgeber keine Umstrukturierung der Entlohnung vornehmen wird, sondern "lediglich" eine Verdopplung des Gefangenenlohnes93 . (bb) (Re-)Sozialisierung durch Abbau der Verschuldung Eng verknüpft mit der (Re-)Sozialisierung durch die Arbeitsentlohnung ist die Förderung der (Re-)Sozialisierung durch den Abbau der Verschuldung. Anders als die Entlohnung sind Entschuldungsmaßnahmen aber verfassungsrechtlich nicht als unerläßlich einzustufen. Denn durch die Arbeitsaufnahme nach der Haft wird Straftätern schon die Möglichkeit der Entschuldung eingeräumt, somit umfaßt die Vorbereitung auf das Erwerbsleben bereits den Abbau der Verschuldung. Dariiber hinausgehende Maßnahmen sind verfassungsrechtlich für die (Re-)Sozialisierung nicht zwingend. Dennoch ist der Abbau der Verschuldung durch Entschuldungsmaßnahmen eine wichtige Möglichkeit, die (Re-)Sozialisierung zu fördern, die von allen Justizvollzugsanstalten genutzt wird. Entschuldungsmaßnahmen sind deshalb so relevant, weil hohe Schulden die soziale Eingliederung des Strafgefangenen erheblich erSiehe 3. Kapitel I.; SZ 25. 05. 2000, S. 5.; Averesch, BZ 25. 05. 2000, S. 6. Siehe 3. Kapitel II. 2. 90 Siehe BVerfGE 98, 169. 91 Dünkel, ZfStrVo 1990, S. 108; siehe auch du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 194 f. 92 Zu den verschiedenen Möglichkeiten vgl. Averesch, BZ, 25. 05. 2000, S. 6; Lichtenberger, Die Arbeitsentlohnung im Strafvollzug als Mittel der Resozialisierung, 1971, S. 138 ff.; Neu, ZfStrVo 1995, S. 153; BVerfGE 98, 169,202 ff. 93 Siehe SZ 25. 05. 2000, S. 5.; Averesch, BZ 25. 05. 2000, S. 6. 88
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schweren können94. So werden Schulden als häufige Ursache für die erstmalige Begehung von Straftaten - insbesondere im Rahmen der Beschaffungskriminalität bei Drogendelikten95 - und den Rückfall von ehemals Straffeilligen angesehen 96• Laut verschiedener Untersuchungen haben Gefangene im Jugendstrafvollzug Schulden in Höhe von durchschnittlich 10.000 DM; erwachsene Straftäter 20.000 DM bis 45.000 DM97. Durch den Strafvollzug kommen zu den schon bestehenden Schulden weitere hinzu. Die Schulden ergeben sich häufig unmittelbar aus den Straftaten, den Schadensersatzverpflichtungen nach §§ 823 ff. BGB, Gerichts- und Anwaltskosten, Geldauflagen und -bußen; hinzu kommen Unterhaltsverpflichtungen98. Werden die ehemaligen Straftäter mit diesem Schuldenberg aus dem Gefangnis entlassen, ist die soziale Integration für sie sehr schwierig. Zum einen können hohe Schulden die Motivation des Strafgefangenen zur Aufnahme längerfristiger Arbeit nach der Haftentlassung verhindern99. Zum anderen erschwert der Schuldenberg auch, daß die ehemaligen Strafgefangenen einen Arbeitsplatz finden, da etwaigen Arbeitgebern offenbart werden muß, daß ihnen als Schuldnern Pfandungen drohen100. Als Flucht aus den Problemen wird in dieser Situation häufig der Weg zuriick in die Kriminalität gewählt. Um den Rückfall aus Geldnot zu vermeiden, gehört die Schuldenberatung zu den als Hilfe während des Vollzugs gemäß § 73 StVollzG, und zur Entlassungs94 Best, ,.Resozialisierungsfonds" in Niedersachsen, in: Schwind/Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 228; Müller-Dietz, Resozialisierung durch Strafvollzugsprogramme und Entlassenenhilfe unter Einbeziehung der Opfer, in: Janssen/Kemer (Hrsg.), Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz, 2. Aufl. 1986, S. 251; Zimmermann, Die Verschuldung der Strafgefangenen, 1981, S. 2; Bündnis 901 Die Grünen, in: BT-Drucks. 13/6683, S. 5. 95 Vgl. Zimmermann, Resozialisierung und Verschuldung, in: Comel/ Maelicke I Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 282. 96 Zimmermann, Die Verschuldung der Strafgefangenen, 1981, S. 73; siehe auch Best, ,.Resozialisierungsfonds" in Niedersachsen, in: Schwind I Steinhilper (Hrsg. ), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 245. 97 Freytag, ZfStrVo 1990, S. 259; Kühne, Die Schuldensituation bei Strafgefangenen, in: Schwind/ Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 204 ff.; Neu, ZfStrVo 1995, S. 155. 98 Baumeister; ZfStrVo 1988, S. 324; Lichtenberger; Die Arbeitsentlohnung im Strafvollzug als Mittel der Resozialisierung, 1971, S. 143; Zimmermann, Resozialisierung und Verschuldung, in: Comel/Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Handbuch der Resozialisierung, 1995, S. 280 f.; Neu, ZfStrVo 1995, S. 155; Quitmann, Haftentlassung und Reintegration, 1982, s. 37. 99 Hasse/busch, ZfStrVo 1999, S. 97; Kühne, Die Schuldensituation bei Strafgefangenen, in: Schwind/ Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, s. 203. IOO Best, ,,Resozialisierungsfonds" in Niedersachsen, in: Schwind/ Steinhilper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 221; Hasse/busch, ZfStrVo 1999, S. 97.
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Vorbereitung gemäߧ 74 StVollzG, geregelten Aufgaben des Strafvollzuges. Mittlerweile bieten die Justizvollzugsanstalten sämtlicher Länder Schuldenberatung an 101 , die zumeist zu bestimmten Entschuldungsmaßnahmen führen. Diese EntSchuldungsmaßnahmen beginnen während des Vollzuges und werden nach der Entlassung durch Schuldnerberatungsstellen, Rechtsanwälte oder Bewährungshelfer fortgeführt 102 . Als Entschuldungsmaßnahmen kommen sogenannte "(Re-)Sozialisierungsfonds"103 und Bürgschaften in Betracht. Bei den (Re-)Sozialisierungsfonds werden den Strafgefangenen zinslose Darlehen gewährt. Dadurch soll eine Schadensregulierung herbeigeführt werden, indem der Gläubiger zumindest teilweise befriedigt wird und dem Straffälligen ein Neuanfang in wirtschaftlich geordneten Verhältnissen ermöglicht wird 104. Mit diesem Schritt in die Bigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung kann eine erneute Straffälligkeit verhindert werden und damit das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung besser erreicht werden 105.
(2) (Re-)Sozialisierung durch sinnvolle Freizeitgestaltung Den größten Anteil der Zeit verbringen Strafgefangene im deutschen Strafvollzug aufgrund der fehlenden Arbeit in den Justizvollzugsanstalten nicht mit erwerbswirtschaftlichen Tätigkeiten, sondern mit Freizeitgestaltung. Diese kann aber ebenso wie die Arbeit eine Entsozialisierung der Gefangenen vermeiden und (re-)sozialisierende Wirkung haben. Da beide Bereiche ganz andere Eigenschaften und Fähigkeiten des Gefangenen fördern, ist es entscheidend, daß den Strafgefangenen die Möglichkeit von Arbeit und Freizeitgestaltung eingeräumt wird. Die in den Justizvollzugsbehörden angebotenen unterschiedlichsten Freizeitaktivitäten auf Grundlage der§§ 67 ff. StVollzG zeigen deutlich den Gestaltungsspielraum, den das Verfassungsgerlebt Legislative und Exekutive bei der Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens einräumt. So gibt es in den Vollzugsanstalten zahlreiche Sportangebote, die Möglichkeit künstlerischer Betätigung sowie Koch-, Theater-, Musik- und Glaubensgruppen, Chöre, Skat- und Schachtreffen 106. Alle diese Betätigungen sollen vor allem die 101 BT-Drucks. ll/4302, S. 19; ausführlich zur Schuldnerberatung Hasselbusch, ZfStrVo 1999, s. 98 f. 102 Dazu Baumeister; ZfStrVo 1988, S. 327; Hasselbusch, ZfStrVo 1999, S. 99. 103 Vgl. die Projektberichte von Baumeister; ZfStrVo 1988, S. 323 ff.; Best, "Resozialisierungsfonds" in Niedersachsen, in: Schwind/ Steinhitper (Hrsg.), Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung, 1982, S. 221 ff.; Brause, BewHi 1991, S. 201 ff.; Freytag, ZfStrVo 1990, S. 259 ff.; Mezger; BewHi 1991, S. 198 ff. 104 Freytag, ZfStrVo 1990, S. 265; Pressemitteilung des Ministeriums der Justiz Baden Württernberg, ZfStrVo 1991, S. 304; Müller-Dietz, Resozialisierung durch Strafvollzugsprogramme und Entlassenenhilfe unter Einbeziehung der Opfer, in: Janssen/Kemer (Hrsg.), Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz, 2. Aufl. 1986, S. 251. 105 Brause, BewHi 1991, S. 202. 106 Siehe Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 143; Sauter; ZfStrVo 1991, S. 265.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Entsozialisierung Gefangener vermeiden, indem durch sie die Gesamtdeprivationen des Freiheitsentzuges gemildert und Selbstbespiegelung und Abstumpfung verhindert werden 107• Zusätzlich kann eine organisierte Freizeitgestaltung im Vollzug zur (Re-)Sozialisierung insofern beitragen, als sie die Gefangenen zu sinnvollen Freizeitaktivitäten nach der Entlassung anregen kann und bestirnrnte positive Eigenschaften des Strafgefangenen fördern. Zum Alltag nach der Entlassung gehört nicht nur die Arbeit, an die sich die Strafgefangenen gewöhnen sollen. In der heutigen Zeit hat die Freizeitbewältigung mindestens den gleichen Stellenwert wie die Bewährung im Arbeitsleben 108• Bei vielen Gefangenen sind im Bereich der Freizeitgestaltung große Defizite festzustellen. Untersuchungen zeigen, daß Gaststättenbesuche, häusliche Trinkgelage und Autofahren für die meisten Gefangenen die hauptsächlichen Freizeitbeschäftigungen vor ihrer Inhaftierung waren 109• Aufgabe der Vollzugsanstalten muß es somit auch sein, den Gefangenen zu diesen Handlungsweisen Alternativen aufzuzeigen. Besondere Bedeutung hat dabei der Sport. Denn das Ausüben verschiedener Sportarten auch nach Beendigung der Haft kann den ehemals Straffalligen helfen, ihre Freizeit zu gestalten; ihnen unter Umständen Zugangschancen zu Gruppen und Vereinen nach der Entlassung zu eröffnen110. Zudem kann durch Sport die soziale Verantwortung erlernt und damit die (Re-)Sozialisierung gefördert werden. Denn in einem Team haben Straffällige die Möglichkeit, Beziehungen zu anderen aufzunehmen, sich an ihnen zu messen, sich einzuordnen und gemeinsam zu organisieren und zu planen. Durch die Erfahrung in der Gruppe erhofft man sich, daß dadurch bisherige sozial störende Verhaltensweisen der Strafgefangenen zugunsten neuer, sozial verantwortlicher aufgegeben werden 111 • Aber auch durch die Beteiligung an anderen Gruppenaktivitäten übernehmen die Teilnehmer Verantwortung, Verpflichtung und Rechte. Sie erproben ihre physische Belastbarkeit, haben Erfolgserlebnisse, führen Gespräche und erleben Konkurrenz112. Damit kann auch durch die Freizeitgestaltung in der Anstalt ein Beitrag zur (Re-)Sozialisation der Strafgefangenen geleistet werden 113 • Aus der positiven Wirkung der Freizeitgestaltung für die (Re-)Sozialisierung aber eine verfassungsrechtliche Verpflichtung der Justizvollzugsbehörden zu einem angemessenen Freizeitangebot für Gefangene zu begreifen, ginge über die 107 Vgl. Michael Walter, Resozialisierung durch darstellendes Spiel in den Vollzugsanstalten, 1970, S. 26 f. 108 Vgl. Calliess, Strafvollzug, Institution im Wandel, 1971, S. 99; Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 146. 109 Vgl. Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 142; siehe auch Sauter, ZfStrVo 1991, s. 265. 110 Siehe Opp, Strafvollzug und Resozialisierung, 1979, S. 351. 111 Kojler, Sport und Resozialisierung, 1976, S. 120; Neumann, FAZ 5. 5. 1999, S. 78. 112 du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 174. 113 Opp, Strafvollzug und Resozialisierung 1979, S. 351.
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Verfassung hinaus. Das Sozialstaatsprinzip - aus dem die (Re-)Sozialisierung primär hergeleitet wird - darf nicht derart überspannt werden, daß alle denkbaren die (Re-)Sozialisierung fördernden Maßnahmen als verfassungsrechtlich unerläßlich angesehen werden. (3) (Re-)Sozialisation durch soziales Training Hervorzuheben ist weiterhin der Versuch der (Re-)Sozialisation durch soziales Training. Das soziale Training ist ebenso wie die Freizeitgestaltung nicht als verfassungsrechtlich unerläßlich für die (Re-)Sozialisierung einzustufen und soll deshalb nur kurz als eine häufige (Re-)Sozialisierungsmaßnahme der Vollzugsanstalten dargestellt werden. Durch das soziale Training soll Rückfallgefährdungen entgegengewirkt werden, da Straffällige oftmals Defizite in angemessener Lebensbewältigung haben 114• Das Training stellt eine Breitbandbehandlungsmaßnahme dar, bestehend aus Elementen der Information, des Modellernens, der Verhaltensübung und der Verstärkung. Es dient dazu, beim Gefangenen eine soziale Kompetenz zu entwickeln, das heißt Probleme und Defizite in der Alltagsbewältigung von Insassen nach deren Haftentlassung aufzufangen; durch praktisches Üben neuer Verhaltensweisen aus Erfahrung lernen 115 • Es knüpft also an den Verhaltensauffalligkeiten Straffälliger im Alltag an und versucht, bei den Gefangenen ein adäquates, verantwortungsbewußtes, nicht delinquentes Verhaltensrepertoire aufzubauen 116. Entscheidend ist, daß der ehemals Straffällige das Bewußtsein der Verantwortung für sein Verhalten vermittelt bekommt. Ziel ist also, über eine Verhaltensänderung letztendlich eine Einstellungsänderung zu erreichen. So soll der Rückfall verhindert und damit die (Re-)Sozialisierung gefördert werden. Aufgrund dieser positiven Wirkungen des sozialen Trainings wird es mittlerweile in fastjeder Justizvollzugsanstalt angeboten 117• (4) (Re-)Sozialisierung durch Intensivierung von Außenkontakten Verfassungsrechtlich und für die Vollzugspraxis bedeutender ist die (Re-)Sozialisierung durch die Intensivierung von Außenkontakten im Vollzug. ,,Jeder Mensch braucht Kontakte, Beziehungen zu seinen Mitmenschen, zu seiner Umwelt, um nicht geistig zu veröden und abzusterben. Gerade erst durch den ständigen Dialog, durch fortwährenden Gedankenaustausch bewahrt sich der Mensch vor Abstumpfung und Verfall, vor dem Verlust seiner Individualität. ( ... ) Der Strafgefangene Rössner, ZfStrVo 1984, S. 132; Wauro, ZfStrVo 1992, S. 280. Dünkel!NemeciRosner, MschKrim 1986, S. 8; Wauro, ZfStrVo 1992, S. 281; siehe auch du Menil, Die Resozialisierungsidee im Strafvollzug, 1994, S. 175. 116 Rössner, ZfStrVo 1984, S. 131 f. 117 Ausführlich zur Angebotsverteilung von Sozialen Trainingskursen Dünkel I Geng I Kirstein, Neue Kriminalpolitik 1/1999, S. 34 ff. 114
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
ist gleichermaßen, wenn nicht sogar noch mehr als andere Menschen auf diesen Dialog angewiesen. Gleichzeitig wird er aber durch den Entzug seiner Freiheit von seiner Umwelt abgeschnürt."ll 8 Die Folge der Reduzierung und Beschränkung der Beziehungen zur Außenwelt ist Lebensuntüchtigkeit und Persönlichkeitsabbauu9. Der Konflikt zwischen der Persönlichkeitsverkümmerung des Strafgefangenen aufgrund fehlender Kontakte und der angestrebten (Re-)Sozialisierung ist vom Bundesverfassungsgericht gesehen worden. So weist das Verfassungsgericht in zahlreichen Urteilen immer wieder auf die Notwendigkeit von Außenkontakten während des Vollzugs der Freiheitsstrafe hin 120. Es begreift die Förderung von Außenkontakte als verfassungsrechtlichen "Resozialisierungsauftrag" 121 der Strafvollzugsbehörden. Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Außenkontakte ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde, die alle drei besonders gemeinschaftsbezogene Bestimmungen des Grundgesetzes darstellen. Diese Gemeinschaftsgebundenheit fordert den Kontakt mit anderen Menschen zur Erhaltung und Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit. Wie oben erläutert, gehen das Menschenbild der Verfassung und insbesondere das Sozialstaatsprinzip von dem Menschen als sozialem Wesen aus 122. Auch das Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 I GG gewährleistet eine sozialgebundene Freiheit, also die Möglichkeit der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft und setzt damit die Möglichkeit des Kontaktes mit anderen Menschen voraus123. Insofern fordert der Gemeinwohlbezug des Persönlichkeitsrechts auch die (Re-)Sozialisierung, so daß das Verfassungsgericht feststellte: "die Resozialisierung eines Straftäters ist ein genuin persönlichkeitsrelevantes Anliegen von hohem Rang" 124. Weiterhin ist die Menschenwürde nach Art. 1 I GG insofern für die verfassungsrechtliche Herleitung der Außenkontakte von Belang, als sie die Sicherung individuellen und sozialen Lebens gewährt, wobei zu sozialem Leben immer auch der Umgang mit anderen Menschen gehört 125 . Damit kann die Möglichkeit von Außenkontakten verfassungsrechtlich aus dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20, dem Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 I und dem Gebot zur Achtung der Menschenwürde nach Art. 1 I GG hergeleitet werden. Folglich sind die Behörden verfassungsrechtlich verpflichtet, den Gefangenen Außenkontakte zu gewähren. Ernst, Der Verkehr des Strafgefangenen mit der Außenwelt, 1972, S. 1. Müller-Dietz, Wege zur Strafvollzugsreforrn, 1972, S . 121. 12o Siehe BVerfG, Beschl. vom 6. 4. 1976-2 BvR 61176, NJW 1976, S. 1313; BVerfG, Beschl. Vom 12. 11.1997 - 2 BvR 615/97, NStZ-RR 1998, S. 123; BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; BVerfG, Beschl. vom 22. 3. 1998-2 BvR 77/97, NStZ 1998, S. 375. 121 BVerfG, Beschl. vom 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134. 122 Siehe 2. Kapitel II. 1., vgl. auch BVerfGE 12, 45, 51; 28, 175, 189. 123 SieheMaunz/Dürig-ders., GO-Kommentar, 36. Lieferung 1999, Art. 2 I Rdn. 25. 124 BVerfG, Beschl. vom 25. 11. 1999-1 BvR 348/98 und 755/98, NJW 2000, S. 1860. 125 Siehe Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 14. Aufl. 1998, Rdn. 410. 118
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Somit fordert das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot den Erhalt, bzw. die Herstellung von Außenkontakten des Straftäters. (a) (Re-)Sozialisierung durch die Gewährung von Besuchen Eine verfassungsrechtliche unerläßliche Maßnahme mit dem Ziel, den Verkehr mit Personen außerhalb der Anstalt zu fördern, ist es den Gefangenen zu ermöglichen, in der Anstalt Besuch empfangen zu können. Da nicht alle Gefangenen Ausgang und Urlaub bekommen, ist die Möglichkeit, Besuch zu empfangen zum Erhalt der Außenkontakte zwingend notwendig. So forderte das Verfassungsgericht bereits im Jahre 1976 die zuständigen Behörden auf, die erforderlichen und zuroutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um in angemessenem Umfang Besuche für die Gefangenen zu ermöglichen, da der Vollzug dazu beitragen kann, daß sich Strafgefangene und in Freiheit lebende Angehörige tiefgreifend entfremden 126. Vor einigen Jahren entschied das Gericht darüber hinaus, daß der "Resozialisierungsauftrag" der Strafvollzugsbehörden es sogar gebieten kann, den Gefangenen in eine Justizvollzugsanstalt in Heimatnähe zu verlegen, wo wegen der Nähe seiner Angehörigen günstigere Bedingungen für den Wiederaufbau persönlicher Kontakte gegeben scheinen 127. Der Gesetzgeber hat die Förderung von Außenkontakten durch Besuche in §§ 23 f. StVollzG geregelt. Nach § 23 I StVollzG wird dem Gefangenen ein Rechtsanspruch auf eine monatliche Mindestbesuchszeit von einer Stunde gewährt. Gemäߧ 24 I StVollzG soll der Besuch grundsätzlich unüberwacht stattfinden. Mit diesen Vorschriften hat der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich erforderliche Förderung der Außenkontakte hinsichtlich der Besuchsregelungen hinreichend konkretisiert. Dennoch wird entgegen dem Gesetz und damit im Widerspruch zu dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes in der Praxis der Besuch aus Sicherheitsgründen fast immer überwacht. Darüber hinaus sind die Besuchszeiten in der Praxis relativ kurz. So soll zwar in Nordrhein Westfalen nach 4.2. Informationen zum Strafvollzugsgesetz Nordrhein Westfalen die Mindestbesuchszeit von einer Stunde überschritten werden, "wenn sie die Behandlung oder Eingliederung des Gefangenen fördert". In der Regel bleibt es aus Gründen der zeitlichen Organisation oder des Personalmangels zumeist bei einer Stunde. Wiertz geht davon aus: "Die Beschränkung auf eine Stunde Besuchszeit ist für viele Menschen genauso schlimm, zuweilen schlimmer als die Verweigerung jeglichen Besuchs. Eine Stunde im Monat - das reicht gerade hin, um die gegenseitige Entfremdung spüren zu lassen."128 Durch diese Besuchspraxis kann die (Re-)Sozialisierung Gefangener kaum gefördert werden. Allerdings ist es verfassungsrechtlich nicht erforderlich, daß der BVerfG, Beschl. vorn 6. 4. 1976-2 BvR 61/76, NJW 1976, S. 1313. BVerfG, Beschl. vorn 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1134; anders LG Düsseldorf, NStZ 1988, S. 354. 128 Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, s. 108. 126 127
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Gesetzgeber eine bestimmte Anzahl von Besuchsstunden festlegt, dies würde die Grenzen gesetzgebenscher Entscheidungsfreiheit überschreiten. Der Gesetzgeber entscheidet selbst, wie und in welchem Umfang er Gefangenen ein Besuchsrecht einräumt. Die Exekutive kann darüber hinaus bestimmte Maßnahmen anbieten. So gibt es die schon vor Jahren geforderte Langzeitbesuchszelle 129 mittlerweile in zahlreichen deutschen Vollzugsanstalten, obwohl sie gesetzlich nicht kodifiziert ist. Gefangene haben durch die Langzeitbesuchszelle die Möglichkeit, einen längeren Zeitraum mir Ihrer Familie ohne Aufsicht zu verbringen, die Außenkontakte werden gefördert und damit auch Chancen der (Wieder-)Eingliederung nach der Haft erhöht.
(b) (Re-)Sozialisierung durch Pakete, Brief- und Fernmeldeverkehr Zu erwähnen ist weiterhin eine Förderung der (Re-)Sozialisierung durch Pakete, Briefe und Telefonate nach §§ 28, 32 f. Dadurch haben die Gefangenen die Möglichkeit, ihre Beziehungen außerhalb der Anstalt aufrechtzuerhalten, um nach der Entlassung wieder Anknüpfungspunkte zur Eingliederung zu finden 130. Der Post-, Brief- und Fernmeldeverkehr fördert also im Regelfall die (Re-)Sozialisierung; folglich darf eine Einschränkung, wie oben erläutert, gesetzlich auch nur in eng geregelten Ausnahmefällen erfolgen 131 • Diese Maßnahmen sind aber nur eine weniger bedeutende Möglichkeit der Förderung der Außenkontakte und stellen - anders als die Besuche und Vollzugslockerungen - keine verfassungsrechtlich unerläßlichen Maßnahmen zur Förderung der Außenkontakte und damit zur (Re-)Sozialisierung dar. Wichtiger als der Brief- und Fernmeldeverkehr für die (Re-)Sozialisierung sind die persönlichen Kontakte.
(c) (Re-)Sozialisierung durch Vollzugslockerungen Vollzugslockerungen sind die wichtigste Möglichkeit, der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur (Re-)Sozialisierung durch die Förderung von Außenkontakten Rechnung zu tragen. Das Verfassungsgericht hat sich im Rahmen seiner Rechtsprechung häufig mit der Versagung von Vollzugslockerungen beschäftigt. Das zeigt nicht nur die Bedeutung, die Vollzugslockerungen für Gefangene haben, sondern auch der Stellenwert, den das Verfassungsgericht den Vollzugslockerungen beimißt 132. So wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Strafgefangene durch die Versagung von Vollzugslockerungen "in seinem durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I grundrechtlich geschützem Resozialisierungsinteresse 129 Vgl. Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 202; Koepsel, Strafvollzug im Sozialstaat, 1985, S. 153. 130 Zur besonderen Bedeutung der Post vgl. die Erfahrung einer Strafgefangenen der JVA Köln-Ossendorf, Aufschluß 1998 Nr. 17, S. 40 f. 131 Siehe 2. Kapitel IV. 3. c) dd). 132 Siehe 3. Kapitell. 1.
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berührt" 133• Damit hat das Verfassungsgericht entschieden, daß die Möglichkeit von Vollzugslockerungen zur Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgebots unerläßlich ist. Das bedeutet allerdings nicht, daß jedem Gefangenen von Beginn der Haft an, Vollzugslockerungen gewährt werden müssen. Die Ausgestaltung der Gewährung von Vollzugslockerungen obliegt dem Gesetzgeber. Er kann entsprechend seiner Gewichtung von dem Strafzweck des Schutzes der Allgemeinheit und dem Strafzweck der (Re-)Sozialisierung unterschiedliche Regelungen über die Gewährung von Vollzugslockerungen treffen. Verfassungsrechtlich notwendig ist nur die Kodifizierung einer effektiven Möglichkeit auf die Gewährung von Vollzugslockerungen. Vollzugslockerungen haben zum Ziel, die schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges im Rahmen des Möglichen zu begegnen 134. Die Vollzugslockerungen als "Ausflüge in die Freiheit" sind vor allem bei längeren Freiheitsstrafen unverzichtbar, sollen die Gefangenen nicht vollständig die Orientierung und die Fähigkeit verlieren, sich draußen im Alltagsleben zurechtzufinden 135 . "Der Abbau der ,pains of imprisonment' ist ( . .. ) nicht verharmlosend als "Hafterleichterung" zu interpretieren, sondern als ein bewußt eingesetztes Mittel zur Erreichung des Vollzugsziels." 136 Folglich dienen der Ausgang, der Urlaub und der Freigang als Erprobungsfeld für ein sozialverantwortliches Leben nach der Haft. Hinzu kommt, daß durch Vollzugslockerungen, insbesondere durch den Urlaub, Bindungen zu Angehörigen und nahestehenden Personen neu geknüpft und gestärkt werden 137 • All diese Wirkungen tragen zur (Re-)Sozialisierung der Strafgefangenen bei. Der Gesetzgeber hat sich an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gehalten, indem er in den §§ 11 ff. StVollzG verschiedene Lockerungen kodifiziert hat. Die Exekutive nutzt alle diese Möglichkeiten der Förderung der Außenkontakte, indem sie die Vollzugslockerungen gewöhnlich stufenweise gewährt. Dies ermöglicht die Gefangenen mit immer größerer Verantwortlichkeit zu konfrontieren und sie so nach und nach (wieder) "gesellschaftsfähig" zu machen. Begonnen wird mit den Lockerungen im engeren Sinne, die in§ 11 StVollzG aufgezählt sind138 • Diese 133 BVerfG, Beschl. vorn 13. 12. 1997-2 BvR 1404/96, NJW 1998, S. 1133; vgl. auch Beschl. Vorn 12.11.1997-2BvR615/97,NStZ-RR 1998, S. 121. 134 Vgl. BVerfGE 64, 261, 277; BVerfG, Beschl. vorn 14. 8. 1996-2 BvR 2267/95, StV 1997, s. 30. 135 Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, S. 109; siehe auch Peters, JR 1978, S. 179. 136 Dolde, Vollzugslockerungen im Spannungsfeld zwischen Resozialisierungsversuch und Risiko für die Allgemeinheit, in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Langer Freiheitsentzug wielange noch?, 1994, S. 107; Freimund, Vollzugslockerungen -Ausfluß des Resozialisierungsgedankens?, 1990,S.234. 137 Vgl. OLG Frankfurt, ZfStrVo SH 1979, S. 28; OLG Koblenz, NStZ 1987, S. 94. 138 Vgl. KG Berlin, ZfStrVo 1989, S. 375; LG Harnburg, ZfStrVo 1977, S. 1; gegen eine generelle "Stufenpraxis", wenn keine Flucht oder Mißbrauchsgefahr besteht OLG Celle, StV 1988, s. 349.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
Lockerungen betreffen alle Möglichkeiten, im Rahmen derer der Gefangene die Anstalt für einen bestimmten Zeitraum verlassen darf, also Außenbeschäftigung, Freigang, Ausführung und Ausgang. Sind die Lockerungen nach § 11 StVollzG positiv verlaufen, das heißt, nicht vom Gefangenen mißbraucht worden, wird dem Gefangenen Urlaub nach § 13 StVollzG gewährt. Dabei ist der Urlaub durch die Erprobung und Bewährung erworbener oder geänderter Fähigkeiten und Einstellungen in einem längeren Zeitraum von herausragender Bedeutung für die (Re-)Sozialisierung 139. Folglich ist bei jeder Entscheidung über die Gewährung von Urlaub das Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung zu beachten 140. (5) (Re-)Sozialisierung durch die Förderung von Sozialbeziehungen innerhalb der Anstalt
Für die (Re-)Sozialisierung ist auch die Kontaktpflege mit Personen innerhalb der Anstalt von Bedeutung. Die Förderung Sozialbeziehungen innerhalb der Anstalt ist allerdings nicht als verfassungsrechtlich unerläßlich einzustufen. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet die Vollzugsanstalten lediglich, die Ausstattung des Strafvollzuges am Vollzugsziel der (Re-)Sozialisierung zu orientieren 141 . Einzelne Maßnahmen zur Ausstattung der Justizvollzugsanstalten, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit von Sozialbeziehungen innerhalb des Vollzuges, gibt das Verfassungsgericht aufgrund der Kompetenzabgrenzung zur Legislative nicht vor. Unabhängig davon, daß Sozialbeziehungen innerhalb der Justizvollzugsanstalt verfassungsrechtlich nicht unerläßlich zur Erreichung des Vollzugszieles sind, sind sie dennoch für die (Re-)Sozialisierung wichtig, weil der Gefangene Monate, vielleicht Jahre seines Lebens auf diese Kontakte angewiesen ist. Die Stärkung partnerschaftlicher Verhaltensweisen und sozialer Kompetenzen ist eines der wichtigsten (Re-)Sozialisierungsziele. Folglich sollte dem Gefangenen auch Gelegenheit gegeben werden, beides zu üben und in für ihn bedeutsame Beziehungen einzubringen142. Das bezieht sich zunächst auf den Kontakt zu Bediensteten. So hängt die Rückfälligkeit Gefangener auch davon ab, daß im Gefängnis ein vernünftiger und fairer Umgang mit den Strafgefangenen stattfindet 143. 139 Vgl. Haberstroh, MschKrirn 1982, S. 262; Peters, JR 1978, S. 179; OLG Karlsruhe, ZfStrVo SH 1978, S. 9; OLG Frankfurt, ZfStrVo SH 1979, S. 28. 140 Calliess I Müller-Dietz, StVollzG-Kornrnentar, 7. Auf!. 1998, § 13 Rdn. 26; OLG Nümberg, ZfStrVo 1984, S. 114. 141 BVerfGE 45, 187, 241; BVerfG, Karnrnerbeschl. vorn 25. 8. 1986-2 BvR 547/84 (unveröffentlicht). 142 Wiertz, Strafen-Bessern-Heilen, Möglichkeiten und Grenzen des Strafvollzugs, 1982, s. 104. 143 Preusker, Neue Krirninalpolitk 2/1997, S. 36.
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Wichtig ist aber auch der Kontakt zu den Mitinsassen. Denn Gefangene sollen während der Haft auch erlernen, gemeinsam mit anderen zu leben und soziale Verantwortung zu übernehmen. Demzufolge sind nach§ 143 II StVollzG die Vollzugsanstalten so zu gliedern, daß die Gefangenen in überschaubaren Betreuungs- und Behandlungsgruppen gefaßt werden können. Im Vollzugsplan ist nach § 7 II Nr. 3 StVollzG die Zuweisung zu bestimmten Wohn- und Behandlungsgruppen festzuschreiben. Zwar sind noch lange nicht alle deutschen Vollzugsanstalten in überschaubare, kleine Vollzugseinheiten und Abteilungen unterteilt. Jedoch wird der Wohngruppenvollzug in der Praxis, vor allem in Abteilungen der Sicherungsverwahrung, immer stärker verwirklicht. Neue Vollzugseinheiten werden als Wohngruppen ausgestaltet, in denen das Leben in der Gemeinschaft erprobt wird und zudem mehr Spielraum für eigene Entscheidungen besteht, da die infantilisierende Totalversorgung aufgelockert wird 144. Allerdings sind die Kontakte innerhalb dieser Wohngruppen wie auch sonst im deutschen Strafvollzug gewöhnlich auf das eigene Geschlecht begrenzt. Denn anders als z. B. in Dänemark gibt es in Deutschland noch keinen koedukativen Vollzug. Nach § 140 2 StVollzG sind Männer und Frauen zwingend getrennt unterzubringen. Erlernt werden kann also nur eine zunehmende Selbstverantwortung in Gemeinsamkeit mit anderen zumeist männlichen Gefangenen. Wichtig sind diese Kontakte aber dennoch für die (Re-)Sozialisierung vor allem für Straftäter, die längere Haftstrafen abbüßen, damit sie sich nicht an ein vollständig isoliertes Dasein gewöhnen, sondern lernen nach der Entlassung (wieder) ein Leben in sozialer Gemeinschaft mit anderen zu führen.
cc) Zwischenergebnis
Die Untersuchung hat gezeigt, daß im Vollzug zahlreiche Möglichkeiten zur (Re-)Sozialisierung Gefangener bestehen. Die (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen sind nicht allein betrachtet nicht von großer Bedeutung, sondern aufgrund der Unterschiedlichkeit der Straftäter und der Vielfältigkeit der Ursachen der Kriminalität ist ein vielfaltiges (Re-)Sozialisierungsangebot im Vollzug wichtig. Das heißt aber nicht, das sämtliche (Re-) Sozialisierungsmaßnahmen verfassungsrechtlich unabdingbar sind und aus dem Grundgesetz hergeleitet werden können. Das würde zu einer Überinterpretation der Verfassung führen. So stellt Müller-Dietz fest: "Der unmittelbare Rückgriff auf die Verfassung bildet die Ausnahme; er figuriert gewissermaßen als Notbehelf zur Sicherung existentieller Bedürfnisse des Einzelnen." 145 Zunächst müssen die Gesetze angewendet und ausgelegt werden, d. h. für die Verwirklichung des (Re-)Sozialisierungsgedankens im Strafvollzug ist zunächst eine Umsetzung des Strafvollzugsgesetzes verfassungsrecht144
145
Siehe Evangl. Kirche, Strafe: Tor zur Versöhnung, 1990, S. 110. Müller-Dietz, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 83.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
lieh erforderlich. Das fordert der Grundsatz vom Vorrang der Gesetzes nach Art. 20 III GG. Zudem verlangt das Bundesverfassungsgericht die Verwirklichung der zur (Re-)Sozialisierung unerläßlichen Maßnahmen. Damit verlangt das Bundesverfassungsgericht, daß das verfassungsrechtliche (Re-)Sozialisierungsgebot nicht leerläuft, läßt aber die Gewalten selbst innerhalb ihres Entscheidungsspielraumes entscheiden, welche Maßnahmen sie für die (Re-)Sozialisierung Gefangener wählen. Aus dem Sozialstaatsprinzip, aus dem die (Re-)Sozialisierung hergeleitet wird, läßt sich "grundsätzlich kein konkret abrufbarer Leistungs- und Regelungskatalog entnehmen, den es dann lediglich noch in Gesetzesform zu gießen gälte" 146. Der Gesetzgeber entscheidet, wie er dem verfassungsrechtlichen (Re-)Sozialisierungsgebot Rechnung trägt, und muß dabei auch - wie oben erläutert - kein Optimum an (Re-)Sozialisierungsmöglichkeiten anstreben 147•
2. (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung a) Rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung
aa) Rechtliche Regelungen im Strafgesetzbuch als Grundlagen der (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung
Die (Re-)Sozialisierung ist nicht nur Vollzugsziel, sondern es wird auch angestrebt, durch eine bedingte Verurteilung die Straftäter zu (re-)sozialisieren. Die vielfältigen Möglichkeiten der bedingten Verurteilung sind nicht ausschließlich im Strafgesetzbuch geregelt. Im Strafgesetzbuch ist die Verwarnung mit Strafvorbehalt, §§ 59 ff. StOB, und die Strafaussetzung zur Bewährung nach§§ 56 ff. StOB geregelt. In der Strafprozeßordnung ist die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens unter Auflagen und Weisungen in § 153 a StPO kodifiziert. Die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe ist in §§ 27-30 JGG geregelt. Im Folgenden soll nur auf die für die (Re-)Sozialisierung besonders bedeutsame Strafaussetzung zur Bewährung eingegangen werden. Nach § 56 StOB kann die Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren auf Bewährung ausgesetzt werden, wenn unter anderem die Persönlichkeit des Verurteilten dieses gebietet und zu erwarten ist, daß er künftig keine Straftaten mehr begehen wird. Durch das Abstellen auf die Persönlichkeit des Täters kommt deutlich der Gedanke der positiven Individualprävention, der (Re-)Sozialisierung, zum Ausdruck. Der Gesetzgeber hat diesen Gedanken in seinen Gesetzesänderungen der§§ 56 ff. StPO immer wieder hervorgehoben. So wurde bereits im 1. StRG das Gesetz dahingehend geändert, daß die Freiheitsstrafe auf Bewährung nicht nur 146 147
Müller-Dietz, in: Festschrift für Hanns Dünnebier, 1982, S. 83. Siehe 3. Kapitel. III. 2.
II. Bedeutung des (Re-)Sozialisierungsgedankens für die Strafvollstreckung
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wegen der Schuld des Taters oder der Allgemeinabschreckung zu versagen ist. Das 23. StRG führte im Jahre 1986 zur Erweiterung der Strafaussetzung auf Bewährung von einem Jahr auf bis zu zwei Jahren. Grund hierfür war die kriminalpolitische Erkenntnis, daß die Vollstreckung derartiger Freiheitsstrafen vielfach spezialpräventiv nicht angezeigt ist bzw. keine weitere Vollstreckung vonnöten ist 148 . Nach § 57 I StGB kann nach der VerbüBung von zwei Dritteln der Strafe der Rest unter bestimmten Voraussetzungen ausgesetzt und der Strafgefangene bedingt entlassen werden. § 57 I 2 StGB legt fest: "Bei der Entscheidung sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten des Verurteilten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind". Damit hängt die Aussetzung ebenso wie die Verurteilung einer Freiheitsstrafe auf Bewährung auch von individualpräventiven Aspekten ab. Es ist also für die Strafaussetzung auch entscheidend, inwieweit der Straffallige nach der VerbüBung von zwei Dritteln der Strafe (re-)sozialisiert ist. Im Jahre 1981 wurde § 57a StGB eingeführt, wonach der Strafrest auch bei lebenslänglich Verurteilten ausgesetzt werden kann. Diese Vorschrift stellte - wie bereits erläutert - die Umsetzung verfassungsrechtlicher Anforderungen in die Praxis dar149. Begründung hierfür war, daß auch dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten ein Anspruch auf (Re-)Sozialisierung zusteht, auch wenn für ihn auch erst nach langer StrafverbüBung die Aussicht besteht, sich auf das Leben in Freiheit einzurichten. Ebenso wie bei anderen Straftätern kann der Vollzug in diesen Fällen die Voraussetzungen für eine spätere Entlassung schaffen und dem Verurteilten die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtem 150• Damit gibt es im Strafgesetzbuch verschiedene Vorschriften, die einen Zusammenhang zwischen (Re-)Sozialisierung und bedingter Verurteilung aufzeigen.
bb) Vorschriften des Entwuifes eines Bundesresozialisierungsgesetzes als rechtliche Grundlagen der (Re-)Sozialisierung
Da die Möglichkeiten der bedingten Verurteilung bislang in unterschiedlichen Gesetzen geregelt sind und das Strafgesetzbuch nur die Voraussetzungen für eine bedingte Verurteilung festlegt, wurde versucht, ein spezielles Gesetz für die bedingte Entlassung zu entwickeln. So ist am 30. 01. 1990 der "Entwurf eines Gesetzes zur Wiedereingliederung Straffalliger durch nicht freiheitsentziehende Maß148 BT-Drucks. 10/1116, S. 2, 7; Ventzke, StV 1988, S. 367. Zu der Entwicklung der Erweiterung der Strafaussetzung zur Bewährung vgl. Roxin, Strafrecht, AT, Bnd. I, 3. Aufl. 1997, § 4 Rdn. 37 ff. 149 Siehe 3. Kapitell. 1so BVerfGE45, 187,239.
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4. Kap.: Anwendungsbereich des (Re-)Sozialisierungsgedankens
nahmen" (BResoG) im Bundestag erörtert worden. Entwurfsverfasser war die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen. Der Gesetzesentwurf war der erste und bislang einzige Versuch in Deutschland, die (Re-)Sozialisierung durch ambulante soziale Hilfen festzuschreiben. Ausgehend davon, daß die (Re-)Sozialisierung im Vollzug nur bedingt möglich sei, regelte der Gesetzesentwurf eine Vielzahl von Hilfen zur Wiedereingliederung Straffcilliger in die Gesellschaft durch nicht freiheitsentziehende Maßnahmen 151 • Durch diese Hilfen sollten nach § 2 BResoG Straftaten verhütet und der Proband befahigt werden, "ein Leben ohne Straftaten zu führen und den durch die Tat entstandenen Schaden wiedergutzumachend". Die Hilfen sollten dazu beitragen, die "Haft zu vermeiden oder zu verkürzen". Dieses Ziel soll durch verschiedene Maßnahmen erreicht werden: Am Vorbild der Bewährungshilfegesetze Österreichs, der Niederlande und Englands 152 sollten die ambulanten (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen durch das Gesetz strukturiert und so ein einheitlicher sozialer Dienst geschaffen werden 153 • Wert gelegt wurde weiterhin auf eine stärkere Einbindung der Gesellschaft sowie auf eine Ausweitung der Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung 154 . Das Bundesresozialisierungsgesetz ist jedoch bis heute nicht vom Bundestag verabschiedet worden. Zwar ist verfassungsrechtlich die Schaffung eines solchen Gesetzes nicht zwingend erforderlich. Denn dem Gesetzgeber ist nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung ein weiter Gestaltungsraum gegeben, wie er dem (Re-) Sozialisierungsgebot praktische Wirksamkeit verschafft. Er kann das (Re-)Sozialisierungsgebot auch durch Regelungen im Strafgesetzbuch und Strafvollzugsgesetz umsetzen. Aber auch, wenn ein Bundesresozialisierungsgesetz verfassungsrechtlich nicht erforderlich ist, so wäre das Inkrafttreten eines solchen Gesetzes nicht nur aufgrund der kodifizierten (Re-)Sozialisierungsmaßnahmen von Bedeutung. Vielmehr könnte bereits die Verabschiedung eines solchen Gesetzes, durch die damit verbundene öffentliche Diskussion, die Bereitschaft der Gesellschaft zur Wiederaufnahme der Straffälligen fördern.
151 Umfassend die Dokumentation der Anhörung der SPD Bundestagsfraktion am 30. 1. 1990, Wiedereingliederung Straffälliger durch nicht freiheitsentziehende Maßnahmen, 1990; Maelicke, Alternativen zur Kriminalpolitik der Ausgrenzung, in: Ortner (Hrsg.); Freiheit statt Strafe, Plädoyer für die Abschaffung der Gefängnisse - Anstöße machbarer Alternativen, 1986, S. 28. 152 Zu der Reform der sozialen Dienste in der Justiz und der ambulanten Straffälligenhilfe vgl. Maelicke, ZRP 1986, S. 205. 153 Vgl. Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Wiedereingliederung Straffälliger durch nicht freiheitsentziehende Maßnaltmen, 1990, S. 38. 154 Zur Aussetzungsfähigkeit von Freiheitsstrafen auf Bewährung vgl. die bei Pieplow, BewHi 1990, S. 177 ff., in Auszügen wiedergegebene Anhörung im Bundestag.
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b) Möglichkeiten der (Re-)Sozialisierung bei der bedingten Verurteilung
Die bedingte Verurteilung hat insofern Einfluß auf den (Re-)Sozialisierungsprozeß, als sie zur Haftvermeidung bzw. Haftverkürzung führt und damit eine drohende Entsozialisierung vermeiden kann. Der Gesetzgeber selbst stellte fest, daß durch den Strafvollzug "der Tater aus seinen sozialen Bindungen herausgerissen wird; er wird unter Umständen kriminellen Einflüssen durch Mitgefangene ausgesetzt; er soll unter den Bedingungen eines Lebens in Unfreiheit und umfassender Versorgung für ein späteres Leben in Freiheit und Eigenverantwortung lernen" 155 • Im Umkehrschluß dazu werden durch eine bedingte Verurteilung die prisonierenden, entsozialisierenden Wirkungen und kriminogenen Einflüsse des Strafvollzuges vermieden. Es setzt sich verstärkt die Ansicht durch, daß eine Behandlung in Freiheit in der Regel eine weit günstigere Erfolgsprognose als der Strafvollzug hat, weil die weitgehend schädliche Trennung von Familie, Arbeitsplatz und sozialem Umfeld unterbleibt 156• Insofern soll eine Strafaussetzung zur Bewährung immer dann erfolgen, "wenn eine ,Resozialisierung' des Taters ohne Strafvollzug aussichtsreich erscheint" 157 . Dementsprechend werden in Deutschland bislang wesentlich mehr Freiheitsstrafen mit Bewährung als ohne Bewährung verhängt. Durch die im Jahre 1998 beschlossenen Erhöhungen des Strafrahmens verschiedener Delikte kann sich das Verhältnis zwischen bedingter und unbedingter Verurteilung aber zukünftig ändern. Die bedingte Verurteilung vermeidet im Idealfall nicht nur etwaige entsozialisierende Wirkungen des Freiheitsentzuges. Vor allem die Strafaussetzung zur Bewährung kann durch die Beiordnung eines Bewährungshelfers die (Re-)Sozialisierung des ehemals Straffalligen fördern. So unterstellt das Gericht nach § 56 d StGB den Verurteilten der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um ihn von Straftaten abzuhalten. Der Bewährungshelfer soll eine positive Änderung der Verhaltensweisen und Bewältigung der sich ergebenden Probleme erreichen und wenn möglich das in der Anstalt begonnene Behandlungsprogramm fortsetzen bzw. durch ambulante Maßnahmen unterstützen 158. Insgesamt soll er ihm helfen, die sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu überwinden, die zu neuen Straftaten führen können und somit die (Re-)Sozialisierung förBT-Drucks. 10/1116, S. 5. Kury, ZfStrVo 1982, S. 211 ; vgl. auch BT-Drucks. 10/1116, S. 5. Zu den wesentlich geringeren Rückfallzahlen bei der Freiheitsstrafe zur Bewährung im Vergleich zur unbedingten Verurteilung siehe Kaiser I Kerner I Schöch-Kemer, Kleines kriminologisches Wörterbuch, Kriminologie, 3. Aufl. 1993, S. 81 ; Krieg, in: Dokumentation der Anhörung der SPDBundestagsfraktion am 30. Januar 1990 in Bann, Wiedereingliederung Straffälliger durch nicht freiheitsentziehende Maßnahmen, 1990, S. 47; Paulsen, in: Dokumentation der Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion am 30. Januar 1990 in Bonn, Wiedereingliederung Straffälliger durch nicht freiheitsentziehende Maßnahmen, 1990, S. 40. 157 BGHSt 7, 6, 10; siehe auch BGHSt 20, 203 f. 158 Kury, ZfStrVo 1982, S. 210. 155 156
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dern 159. Somit verhindert die bedingte Verurteilung nicht nur eine in Haft stattfindende Entsozialisierung, sondern kann auch einen (Re-)Sozialisierungsprozeß fördern. Fraglich ist, inwieweit die Strafaussetzung zur Bewährung eine verfassungsrechtlich unerläßliche Maßnahme zur (Re-)Sozialisierung darstellt. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Umsetzung des (Re-)Sozialisierungsgedankens bei der Strafaussetzung zur Bewährung lediglich gefordert, eine gesetzlich kodifizierte Möglichkeit zu schaffen, unter der die lebenslange Freiheitsstrafe ausgesetzt werden, da jedem Gefangenen ein Anspruch auf (Re-)Sozialisierung zustehen muß 160. Damit sieht das Verfassungsgericht die Strafaussetzung zur Bewährung von Straftätern, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind, als verfassungsrechtlich unerläßliche (Re-)Sozialisierungsmaßnahme an. Das Gericht leitet die Strafaussetzung zur Bewährung bei der lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Sozialstaatsprinzip ab. Denn das Sozialstaatsprinzip verlangt die staatliche Vor- und Fürsorge von Gefangenen, zu der die Möglichkeit der (Wieder-)Eingliederung für jeden Gefangenen gehört161 . Das Bundesverfassungsgericht gibt damit aber keine Auskunft über das verfassungs rechtliche Erfordernis der Strafaussetzung zur Bewährung als solcher. Vor allem lassen sich aus der bundesverfassungsgerichtliehen Rechtsprechung hinsichtlich der Diskussion, inwieweit das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung erweitert werden sollte 162, keine Anhaltspunkte entnehmen. Derartige Aussagen des Verfassungsgerichts wären auch nicht möglich, da sie kompetenzwidrig in den Gestaltungsspielraum der Legislative eingreifen würden163 . Somit ist die Strafaussetzung zur Bewährung eine wichtige Maßnahme zur (Re-)Sozialisierung, gerade durch die Vermeidung der entsozialisierenden Haft. Als verfassungsrechtlich unerläßlich kann aber nur die Strafaussetzung zur Bewährung für Straftäter eingestuft werden, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind, da auch ihr Anspruch auf (Re-)Sozialisierung nicht leerlaufen darf. Inwieweit ansonsten eine Strafaussetzung zur Bewährung für andere Straftäter gesetzlich kodifiziert wird, unterf