Rückblick und Perspektiven [Reprint 2021 ed.] 9783112422786, 9783112422779


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Rückblick und Perspektiven [Reprint 2021 ed.]
 9783112422786, 9783112422779

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Exilforschung • Ein internationales Jahrbuch • Band 14

EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 14 1996 RÜCKBLICK U N D PERSPEKTIVEN Herausgegeben im A u f t r a g der Gesellschaft f ü r Exilforschung / Society for Exile Studies von Claus-Dieter K r o h n , Erwin R o t e r m u n d , Lutz W i n c k l e r u n d W u l f Koepke

edition text + kritik

Anschriften der Redaktion: Claus-Dieter Krohn Mansteinstraße 41 20253 H a m b u r g Lutz Winckler Vogelsangstraße 26 72131 Ofterdingen

Die deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e Rückblick u n d Perspektiven / hrsg. im Auftr. der Gesellschaft Hir Exilforschung von Claus-Dieter Krohn ... — M ü n c h e n : edition text + kritik, 1996 (Exilforschung ; Bd. 14) ISBN 3 - 8 8 3 7 7 - 5 2 9 - 0 NE: Krohn, Claus-Dieter [Hrsg.]

Satz: Fotosatz Schwarzenböck, H o h e n l i n d e n D r u c k u n d Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf, M ü n c h e n © edition text + kritik, M ü n c h e n 1996 ISBN 3 - 8 8 3 7 7 - 5 2 9 - 0

Inhalt

Vorwort

Bernhard Spies

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Exilliteratur - ein abgeschlossenes Kapitel? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung

Sibylle Q u a c k

lrmela von der Lühe

Sven Papcke

11

Die Aktualität der Frauen- und Geschlechterforschung für die Exilforschung

31

» U n d der M a n n war oft eine schwere, undankbare Last«. Frauen im Exil — Frauen in der Exilforschung

44

Exil der Soziologie / Soziologie des Exils

62

*

WulfKoepke

Dieter Schiller

Einhart Lorenz

Anmerkungen zur Kontinuität der Exilliteraturforschung in Nordamerika

75

Z u r Exilliteraturforschung in der D D R . Ein Rückblick aus persönlicher Sicht

95

Exilforschung in Skandinavien. Geschichte, Stand, Perspektiven

119

*

Stephan Braese

Fünfzig Jahre >danachSatire nach AuschwitzLiteratur des Exils< so gut wie abgeschlossen, und seine Resultate, die für durchaus achtbar gehalten werden, stehen gleichsam zur Archivierung an. Der Hochachtung vor dem wissenschaftlich Erreichten entspricht eine gewisse H e r a b s t u f u n g des Gegenstandsbereichs >ExilEinheit der Exilliteratur D e n wissenschaftlichen Auftrag, der von A n f a n g an die g e m e i n s a m e Klammer der unterschiedlichen Ansätze bildete, hat W u l f Koepke im Jahr 1982 als einen noch zu erfüllenden formuliert: »Wieweit das g e m e i n s a m e Los des erzwungenen Exils einheitsbildende Kraft g e h a b t hat, m u ß von der Exilliter a t u r f o r s c h u n g noch b e s t i m m t werden.« 2 G e s u c h t war u n d ist also die Einheit der Exilliteratur 3 , eine g e m e i n s a m e Q u a l i t ä t , in der die Literatur exklusiv auf das Exil z u r ü c k g e f ü h r t werden k a n n , u n d zwar in einem zugleich reaktiven u n d aktiven Sinn: D i e Literatur soll auf die historisch-politischen U m s t ä n d e , die das Exil verursachen u n d seinen Verlauf b e s t i m m e n , so reagieren, d a ß das Exil wie ein A u f t r a g an die Literatur u n d das gesamte C o r pus der im Exil verfaßten Schriften wie die Bewältigung dieses Auftrags verstanden werden k ö n n e n . D i e weitreichende E r w a r t u n g , welche die Suche nach einer solchen Einheit an die Literatur heranträgt, k a n n sich im Fall des deutschsprachigen Exils der Jahre 1933 bis 1945 zweifellos auf das Selbstverständnis der meisten A u t o r e n berufen. Sehr viel zweifelhafter fällt die B e r u f u n g auf deren P r o d u k t i o n aus. Das zeigen die vorliegenden A n t w o r t e n auf die Frage nach der Einheit der Exilliteratur. Die Formulierungen dessen, worin die identitätsstiftende Q u a l i t ä t der Exilliteratur zu suchen sei, variieren in aller Regel drei Tendenzen.

E x i l l i t e r a t u r - ein a b g e s c h l o s s e n e s Kapitel?

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1. Die eine erblickt diese Identität in einer moralisch-politischen Intentionalität, die aller Exilliteratur nolens volens eigentümlich sei. Sie wird eröffnet durch Walter Berendsohns Pionierarbeit Die humanistische Frontfortgeführt durch Hans Albert Walters einflußreiche Arbeiten 1 ' und polemisch zugespitzt in den Versuchen der frühen siebziger Jahre, Exilliteratur geradezu mit politischem Antifaschismus gleichzusetzen; eine Gleichsetzung, von der die Exilforschung in der D D R von vornherein ausging. Inzwischen hat sie an Pathos, nicht aber an Verbreitung eingebüßt. 6 Die offenkundige Problematik des politisch-moralischen Einheitskriteriums wird von seinen Vertretern meist eingestanden: Niemand leugnet, daß nur die Minderzahl der im Exil entstandenen Schriften »Front«-Charakter aufweist — gleichgültig, von welchem politischen oder moralischen Interpretenstandpunkt aus die Kampflinie gezogen wird, an der die Exilliteratur sich formiert haben soll. Die unterschiedlichen Versuche, die offenkundige Differenz zwischen der Literatur des Exils und ihres noch nicht gefundenen, aber methodisch vorausgesetzten Einheitsprinzips zu überbrücken, haben das Problem nur verschoben oder sogar ausgeweitet. Die frühe Uberblicksdarstellung von Alexander Stephan kann die politisch-moralische Einheit der Literatur der Flüchtlinge vor dem NS-Staat nur negativ festhalten: Sie rechnet der Exilliteratur ihre politische Uneinheitlichkeit und organisatorische Zerrissenheit vor, macht mithin die politisch-moralische Einheitlichkeit als den adäquaten Maßstab der Exilliteratur geltend, aber nur, um fortwährend seine Unwirksamkeit festzustellen. 7 Das Muster eines zweiten Lösungsversuchs wird schon von Berendsohn vorgegeben: Alle Exilliteratur wird zur littérature engagée gegen die nationalsozialistische Barbarei, indem der politisch-moralische Inhalt des Engagements so weit gefaßt wird, daß alle Unterschiede der Schriften und Autoren verblassen; was der Einheitsbegriff an Umfang gewinnt, das verliert er an Inhalt. 8 Einen dritten Ausweg hat nicht allein, aber am nachdrücklichsten die in der D D R betriebene Forschung vorexerziert, nämlich die Dialektik von Vereinnahmung und Ausgrenzung: Z u m Kanon werden nicht nur die Schriften gezählt, die seiner Definition tatsächlich entsprechen; so manche Schriftsteller—beispielsweise Max Herrmann-Neisse und Else Lasker-Schüler - werden unter das politische Telos subsumiert, indem man ihre Texte selektiv rezipiert und ihnen eine beschränkte Funktion innerhalb der >Gesamtbewegung< zugesteht 9 , andere Autoren hingegen werden als nicht existent behandelt oder ausdrücklich aus dem Kreis »humanistischen Kultur exkommuniziert. 2. Die zweite Tendenz, die Exilliteratur als in sich geschlossene Einheit zu begreifen, setzt dort an, wo die politisch-moralische Einheitsvorstellung ihre entscheidende Schwäche hat: Auch ihr geht es um die Einheit der Exilliteratur, aber der Versuch, diese als politisch-moralische zu konzipieren, muß

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Bernhard Spies

die ästhetisch-literarische Beschaffenheit der Texte, die sie ausmachen, zunächst ausblenden. Dagegen wenden sich die Bestrebungen, eine literarischästhetische Einheit der Exilliteratur dingfest zu machen. Sie verstehen sich teils als Ergänzung, teils als Korrektur der ersten Tendenz. Die meisten dieser Arbeiten entwerfen Typologien, die versuchen, grundlegende Wahrnehmungs- und Produktionsmuster zu beschreiben, die als literarische >Antwort< auf die Situation des Exils identifizierbar sind. Werner Vordtriede (1968) erblickt die konstituierenden literarischen Muster von Exildichtung vor allem im Anspruch auf »absolute Authentizität«, dem hohes Pathos ebenso naheliegt wie das Verstummen, in der Ausprägung einer »Heimwehdichtung« mit dem Gegenstück einer »exilbedingten Haßdichtung« und schließlich in einer »spezielle[n] Exilkomik« 10 . Vordtriedes materialreiche Untersuchung offenbart sogleich eine Schwierigkeit, mit der alle Typologien zu kämpfen haben: Die in der Dichtung der Exilanten verbreiteten literarischen Muster ordnen sich nicht von selbst zu einem in sich konsistenten Modell von Exilliteratur; deshalb führen die Typologien Aspekte unterschiedlicher Provenienz — thematische, psychologische und ästhetische - zusammen, die methodisch auf ganz verschiedenen Ebenen liegen und die zudem nur teilweise exilspezifisch sind. Das Problem der Fülle schwerlich kommensurabler Aspekte umgeht ein grundlegender Essay von Harry Levin, der einige Jahre vor Vordtriedes Untersuchung entstand. Er erhebt eine - nach Levins Einschätzung die Grunderfahrung des Exils zum strukturbildenden Muster der Exilliteratur insgesamt: »Alienation from the heart« und »from home«, das heißt Selbstentfremdung und Heimatlosigkeit, lassen eine Dichtung entstehen, die den »archetype of a Paradise Lost« aktualisiert". Levins Abhandlung, wie diejenige Vordtriedes komparatistisch angelegt, wurde von der germanistischen Exilforschung kaum rezipiert, aber ihr >Rezept< wurde zunehmend befolgt: Generalisierbare Aussagen über die literarischen Konstituenten von Exilliteratur sind nur durch entschlossene Reduktion zu gewinnen. Nach diesem Motto verfahren Untersuchungen wie diejenigen von Stern 12 , Trommler 13 oder Frühwald 14 , die konstante Motive bzw. kohärente Motivreihen auffinden oder - wie Strelka 15 - einen Corpus markanter Topoi zusammenstellen. Diese Arbeiten verschaffen Einblicke in Vorstellungswelt und Produktionsweise von Exilschriftstellern, aber der Aufschluß, den sie gewähren, bleibt unbefriedigend gerade im Hinblick auf das Anliegen, literarische Konstanten zu ermitteln, welche eine ästhetische Einheit der Exilliteratur konstituieren. Es stellt sich nämlich bald heraus, daß die ermittelten literarischen Typen und Motive keineswegs dem Exil vorbehalten sind. Neben der oft hervorgehobenen Rückwendung der Schriftsteller zur Tradition finden sich Anknüpfungen an nahezu alle literarischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts, und es ergeben sich auch Verbindungslinien zur Nachkriegsliteratur. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Auch die typologischen Untersuchungen bezie-

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hen offen oder insgeheim den politischen Grund des Exils ein. Wenn Frank Trommler fragt: »Soll er [der Literaturhistoriker des Exils; B.S.] die Exilliteratur in der Kontinuität der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts aufgehen lassen und damit ihre einmalige moralisch-politische Leistung zurückstufen?« 16 , dann formuliert er eine bloß rhetorische Frage. Die Suche nach der ästhetischen Einheit der Exilliteratur hat die politische Abgrenzung des Exils längst einbezogen, ohne daß in der ästhetischen Faktur der Texte ein genuin ästhetisches Äquivalent für diese Abgrenzung dingfest zu machen wäre. So bringt die zweite Tendenz der Exilforschung ein merkwürdiges Spiegelbild der ersten hervor: Beiden Anstrengungen zerfällt die gesuchte Einheit der Exilliteratur in zwei Aspekte, die sich zugleich bestreiten und bedingen. 3. Die dritte Tendenz, die psychologisch-anthropologische Deutung&er Exilliteratur, gewinnt eine Vorstellung von der Einheit dieser Literatur, verliert darüber aber jede Trennschärfe in der Vorstellung des Exils. Harry Levin, der - wie bereits angeführt - im Motiv des »Paradise Lost« den Archetypus aller Exilliteratur vom Alten Testament bis zu Pasternak sieht, bespricht diese von Anfang an aus dem Blickwinkel der »timelessness of this theme« 17 . Nun liegt seit den siebziger Jahren ein großangelegtes Werk über die Weltgeschichte des Exils vom biblischen Judentum bis zu den postkolonialen Vertreibungen vor, Paul Taboris beeindruckende Studie The Anatomy ofExile18, und dieses Buch zeichnet die Geschichte der Expatriierungen keineswegs als überzeitliches Einerlei - aber abgesehen vom historischen Einwand gegen die anthropologische Abstraktion: der Literaturhistoriker, der das Exil als eines von vielen möglichen Beispielen für die ewige conditio humana betrachtet, muß sich fragen lassen (und wird sich bald selbst fragen), weshalb er sich überhaupt des Exils annimmt, da dieser Objektbereich gerade aus der anthropologischen Perspektive kein spezifisches Interesse begründen kann. Mutatis mutandis gilt Analoges auch für Überlegungen, die sich durchaus auf die Besonderheit der Exilliteratur im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert einlassen und den anthropologischen Rückschluß partiell historisieren, das heißt ihn auf die Moderne beschränken. Als Beispiel seien die Arbeiten von Egbert Krispyn angeführt. In seinen Augen zerstört das Exil durch seine politischen und materiellen Umstände die Dichtung, und umgekehrt kann Dichtung, die unter solchen Umständen entsteht, nur noch diese Destruktion bezeugen - und eben darin bringe sie den aktuellen Zustand der conditio humana, die Zerstörung jeglicher Individualität, zum Ausdruck. 19 Auch hier gilt: Wenn die Exilliteratur nur als extremes Beispiel für eine andernorts ebenso abzulesende Tendenz gesehen wird, dann erhöht das vielleicht ihren Ausstellungswert, keineswegs aber ihren Wert als Untersuchungsobjekt. Tendenziell verliert das Exil den Status eines Untersuchungsgegenstands, um in einer mehr oder minder universellen Metapher zersetzt zu werden. 20

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Bernhard Spies

Konrad Feilchenfeldt hat versucht, diese Art, die Exilforschung zu beenden, für sie fruchtbar zu machen: In Abgrenzung gegen eine »moralisierende Exilforschung« legt er eine Gesamtdeutung der Exilliteratur »im Zeichen eines, anthropologisch erklärbaren, neuen Zeitbewußtseins« vor. 21 Dieses Zeitbewußtsein faßt er - in Anlehnung an eine Formulierung von Günther Anders - als eine gerade Exilanten aufgenötigte lebenslange »Pubertät«, die in einem doppelten Verzicht bestehe: erstens auf die lebensgeschichtliche Einheit des Individuums, zweitens auf den Anspruch, ihre Schriften repräsentierten überindividuelle, moralisch-politische Ansprüche. 22 Als adäquate Exilliteratur gilt ihm daher nur diejenige, die sich - wie sein Kronzeuge Thomas Mann — auf kulturelle Repräsentation beschränkt und die politische Selbstdefinition durch freischwebende mythische Identifikationsspiele ersetzt habe. Man kann darüber streiten, ob Thomas Mann, der im Verlauf des Exils einen immer stärkeren Anspruch auf politische Repräsentation ausprägte, einen guten Zeugen für diese Sichtweise abgibt; wichtiger ist das methodische Problem, das sie aufwirft. Es liegt darin, daß sie in der Bedeutungszuweisung an den Mythos die existentielle und ästhetische Einheit der Exilliteratur nur dadurch behaupten kann, daß sie die meisten Exilanten vor ihr blamiert; zugespitzt gesagt hat es selten eine dem Exil inadäquatere Literatur gegeben als in den Jahren 1933 bis 1945. 23 So wichtig Feilchenfeldts Hinweise auf die Bedeutung des experimentierenden Umgangs mit dem Mythos in der Exilliteratur sind, aufs Ganze gesehen stellt seine Auffassung das umgekehrte Spiegelbild der ersten Tendenz dar, die den politisch-moralischen Impetus vieler Schriftsteller und Schriften des Exils verabsolutiert. Sie akzeptiert die Spaltung der Exilliteratur in die Fraktion der wahrem Exilschriftsteller, die dem epochal Gebotenen gerecht geworden sind, und die übrigen, die nur als Kontrastfolie gelten können, und nimmt bloß die gegensätzliche Wertung vor. Die theoretische Einseitigkeit und das Moralisieren, das Feilchenfeldt der Exilforschung - keineswegs zu Unrecht — vorwirft, wird auf diese Weise nicht beendet, sondern mit umgekehrten Vorzeichen fortgeführt. Der Überblick über die langjährige Bemühung um die Bestimmung dessen, was die Exilliteratur ausmache, läßt eine Bilanz zu. Diese Bemühungen haben - auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Maß - Erhellendes über die im Exil verfaßte Literatur zutage gefördert. Unergiebig sind sie allesamt im Hinblick auf das methodische Bedürfnis, das eine und alle literarische Produktion des Exils einende Prinzip dingfest zu machen. Die Suche danach ist ohne Resultat geblieben, aber leider nicht ohne Wirkung: Die literarische Exilforschung hat ein wissenschaftsinternes Spannungsfeld zwischen einander ebenso ausschließenden wie bedingenden Einseitigkeiten eröffnet, in dem sie sich methodisch verstrickt hat, so daß ihr gegenwärtiger >Stand< sich mehr aus den Problemen erklärt, die sie mit sich selbst hat, als

Exilliteratur — ein abgeschlossenes Kapitel?

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aus ihrem T h e m a . Es wäre mithin an der Zeit, das oben zitierte Fazit aus W u l f Koepkes Bericht über die Exilforschung aus d e m Jahr 1982 neu zu formulieren: Das »gemeinsame Los des erzwungenen Exils« hatte keine »einheitsbildende Kraft«. 2 4 Die eine Größe, in der alle Exilliteratur sich zusammenfaßt, ist kein verborgener Tatbestand derselben. Es war von A n f a n g an ein Ideal der danach Suchenden, eine Projektion der Literaturwissenschaft auf die Literatur des Exils. Aber woher kam diese verbreitete Gewißheit, d a ß ein alle literarischen Anstrengungen des Exils einigender Fluchtpunkt gegeben sein müsse? Im Grunde aktivierte die literarische Exilforschung damit ein traditionelles Konzept, die emphatische Idee der Epoche. Dieses Konzept ist nicht damit zufrieden, Gemeinsamkeiten zu konstatieren oder überindividuelle Entwicklungslinien aufzudecken, soweit sie eben in der Literatur der Exilanten vorliegen. Vielmehr richtet es die literarhistorische Forschung darauf aus, die gesamte Literatur jener Zeit aus einem Legitimationszirkel zu rekonstruieren: Das Ideal der epochalen Einheit konzipiert die Literatur vorweg als eine in sich konsistente geistig-ästhetische Größe, die allgemein verbindlich ausdrückt, was ihre Zeit ausmacht, und dadurch der Zeit zu einer verbindlichen geistig-ästhetischen Signatur verhilft. Diese wechselseitige Verbindlichkeitserklärung legitimiert die Literatur mit ihrem Entsprechungsverhältnis zur materiellen historischen Wirklichkeit und die historische Wirklichkeit als in letzter Instanz >geistgemäßErstarrung< poetischer Sprache, des bloß technischen Rückgriffs auf Errungenschaften früherer Experimentierfreude, aber auch eine bewußt herbeigeführte artifizielle Formalisierung oder ihr Gegenstück, forcierte Kunstlosigkeit, eigenständige ästhetische Phänomene darstellen, in denen die spezielle Intention der Schriftsteller und ihr individuelles poetisches Vermögen mit dem historischen Allgemeinzustand von Sprache zur Deckung kommen. Zu den meisten angeblich der Exilliteratur vorbehaltenen ästhetischen Entwicklungen lassen sich Gegenstücke in der Literatur der zeitgenössischen Welt finden, so daß auch hier der Blick über die Sprachgrenzen nur produktiv sein kann.

1933 bis 1945? In einem Aufsatz mit dem Titel »Einige Bemerkungen zur Kategorie ExilLiteratur« äußerte Michael Hamburger sein Befremden darüber, »daß die Germanistik das Phänomen Exil-Literatur als ein zeitlich begrenztes und abgeschlossenes behandelt«: »Daß für manche Schreibende die Zugehörigkeit zur Exil-Literatur überhaupt erst nach 1945 begann, für andere die Nachkriegstätigkeit nichts anderes als eine Fortsetzung des Exils bedeuten konnte, wurde weder erwähnt noch beachtet.« , 8 Hamburger spricht hier für sich und seine Generation, diejenigen, die in ihrer Jugend vor Hitler fliehen mußten und erst im Exil oder nach 1945 zu schreiben begannen: Paul Celan, Wolfgang Hildesheimer und andere. D a ß die Exilforschung sich durch die Suggestion der Daten irreführen ließ, ist auch in einer anderen Hinsicht merkwürdig, denn in der längst abgeschlossenen Diskussion um den >Exilbruch< und die >Stunde Null< hatte sich herausgestellt, daß die politischen Jahreszahlen keine klare kultur- und literarhistorische Abgrenzung ergeben. Das gilt vor allem für die magische Zahl 1945. Die Exilforschung sollte die Konsequenz aus der Tatsache ziehen, daß viele Schriftsteller aus der Erfahrung von Verfolgung und Exil und wohl auch aus der Beobachtung der Verhältnisse in den neu entstehenden deutschen Staaten eine Bilanz zogen, die nicht minder dringlich für die Fortsetzung des Exils sprach als zuvor die unmittelbare Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Es geht dabei auch um die Schwierigkeiten, die den Rückkehrwilligen gemacht wurden, in erster Linie aber um eine nachhaltig wirkende innere Notwendigkeit.

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Sie m a c h t sich nicht allein, aber vor allem bei Autoren jüdischer Herkunft geltend - man denke nur an Hans Sahl, Jean Amery, Michael Hamburger, Georges-Arthur Goldschmidt und Erich Fried. W e n n die Sondersituation des Exils der Literatur, die unter ihren Bedingungen entstand, eine eigentümliche Aussagefähigkeit verleiht, dann gilt das für das jüdische Exil vor wie nach 1945 in besonderer Weise. Diesen Autoren ist die singuläre Erschütterung, als die jeder Exilant seine Situation empfindet, durch den zu Kriegsende in seinem ganzen A u s m a ß offengelegten Holocaust in einer Weise gegenwärtig, die nicht mehr erlaubt, n u n m e h r zu einer Tagesordnung überzugehen, die eine vom Druck des Nationalsozialismus befreite Unschuld fortschreiben könnte. Die meisten aus der Gruppe derer, die zumindest auf etliche Jahre am Exil nach d e m Exil festhielten, aber auch nach Deutschland Zurückgekehrte ersetzten die feindliche Z u o r d n u n g zum J u d e n t u m durch den Versuch einer positiven Identifikation. Diese Selbst-Einordnung erinnert der Form nach an die früheren Anstrengungen von Exilschriftstellern, durch Anschluß an ein politisches Kollektiv oder eine metaphysische Gewißheit einen Rückhalt zu gewinnen. In der formellen Analogie wird aber ein völlig anderer Inhalt realisiert. Der Rückhalt >jüdische Identität< ist weder machtgesichert — ganz im Gegenteil —, noch kann und will er sich auf eine fixe metaphysische Position stützen. 5 9 Er ist ein Musterbeispiel für einen modernen Identitätsentwurf, der den Inhalt, mit d e m das ohnmächtige Indiv i d u u m sich zusammenschließt, erst konzipiert, ohne die O h n m a c h t zu leugnen, an die es sich nicht verlieren will. Dieser Vorgang geht den Literarhistoriker des Exils etwas an, und zwar nicht nur deshalb, weil er seinen Ursprung im Exil hat: Die Literatur, die auf diese Weise entstand, entfaltet jene eigentümliche ästhetische Produktivität, von der im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Problem der Sprache im Exil bereits die Rede war.

1 Auch dieser Rückschlag hat noch ironische Qualitäten, insofern nämlich, als auch die frühere Anerkennung der Exilforschung als Schwerpunkt von fast fragloser Bedeutung, die sich in den siebziger Jahren durchsetzte, auf eine politisch induzierte Konjunktur zurückging. — 2 Wulf Koepke: »Probleme und Problematik der Erforschung der Exilliteratur«. In: Das Exilerlebnis. Verhandlungen des vierten Symposiums über deutsche und österreichische Exilliteratur. Hg. v. Donald G. Daviau und Ludwig M. Fischer. Columbia, South Carolina 1982, S. 3 3 8 - 3 5 2 , Zit. S. 350. — 3 Das gilt nicht nur für die Befassung mit den Autoren, die vor Hitler flohen, sondern für den größten Teil der Beschäftigung mit den Schriften von Exilanten, seit Georg Brandes sie unter dem Terminus der »Emigrantenliteratur« zusammenfaßte. G. B.: Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts. Bd. 1. Leipzig 1872. — 4 Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur. Zürich 1946. — 5 Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa. Darmstadt 1972. Ders.: Deutsche Exilliteratur 1933-50. Bd. 4: Exilpresse. Stuttgart 1978. — 6 Vgl. den Sammelband Wider den Faschismus. Exilliteratur ab Geschichte. Hg. v. Sigrid Bauschinger u. Susan L. Cocalis. Tübingen und Basel 1993. — 7 Alexander Stephan: Die deutsche Exilliteratur 1933—1945• Eine Einfuhrung. München

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Bernhard Spies

1979 (=Beck'sche Elementarbücher). — 8 Dieser unspezifische Begriff literarischen Engagements gegen den Nationalsozialismus kann geradezu als Standard des >Faches< angesehen werden: Nicht nur unter Exilforschern herrscht ein stillschweigendes Einverständnis darüber, daß jeder exilierte Autor als Gegner des Nationalsozialismus und jeder im Exil verfaßte Text als ein antifaschistisches Dokument anzusehen ist — wie und wodurch auch immer. Der Konsens in dieser Hinsicht bildet auch die Grundlage für die auffallend starke Neigung der Exilforschung zur Biographie. — 9 Klaus Jarmatz: Literatur im Exil. Berlin 1966, S. 56—62. — 1 0 Werner Vordtriede: »Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur« (1968). In: Wulf Koepke/Michael W i n k l e r (Hg.): Exilliteratur 1933-1945. Dannstadt 1989 (= WdF 647), S. 2 3 - 4 3 . Zit. S . 2 5 , 29, 39. — 1 1 Harry Levin: »Literature and Exile«. In: H. L : Refractions. Essays in Comparative Literature. New York 1966, S. 6 8 - 7 4 , Zit. S. 68, 74. — 1 2 Guy Stern: »Prolegomena zu einer Typologie der Exilliteratur«. In: Alexander Stephan/Hans Wagener (Hg.): Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933 — 1945. Bonn 1985, S. 1 —17. — 1 3 Frank Trommler: »Prüfstein Tragik. Fragestellungen zur F^xilliteratur«. In: Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche von 1930 bis 1960. Hg. v. Wulf Koepke und Michael Winklcr. Bonn 1984, S. 12 —24. — 1 4 Wolfgang Frühwald: »Odysseus wird leben«. In: Werner Link (Hg.): Schriftsteller und Politik in Deutschland. Düsseldorf 1979, S. 1 Ol — 1 13 - Frühwald reduzierr die exilspezifische MotivikaufdasOdysseus-Motiv, »die Auseinandersetzung um List, Mut und Uberwindung der Angst« (S. 1 10). — 15 Joseph P. Strelka: Exilliteratur. Grundprobleme der Theorie. Aspekte der Geschichte und Kritik. Bern/Frankfurt/M./New York 1983, S. 5 1 - 6 6 . — 1 6 'Frömmler, a . a . O . , S.12. — 1 7 Levin, a . a . O . , S.62. — 18 Paul Tabori: The Anatomy of Exile. A SemanticandHistoricalStudy. London 1972. — 19 Vgl. das Fazit seines Buchs AntiNazi Writers in Exile: »Exile literature in its entirety as a politicai and aesthetic fiasco reconfirms the fact that artistic creation cannot be subordinateci to anv other perceptual perspective. In retrospect the story of the literary emigration is valuable as an object lesson that the progressive politicization of lite in all its manifestations ultimately is the doom of civilization as a multifacted synthesis of individuai existences.« Egbert Krispyn: Anti-Nazi Writers in Exile. Athens, Georgia 1978, S. 172. — 2 0 Es sei nicht bestritten, daß auch darin eine interessante Perspektive liegen kann - das zeigen die Studien von Emmanuel Lévinas, zuletzt in deutscher Übersetzung: Maurice Blanchot — der Blick des Dichters. Eigennamen, München 1988; umgekehrt ist schwer abzustreiten, daß der historischen Besonderheit des jeweils zur Rede stehenden Exils keine große Bedeutung mehr zuerkannt wird, wenn es als eines von vielen Möglichkeiten von »Nomadentum« betrachtet wird (Lévinas, S . 3 9 ) . — 2 1 Konrad Feilchenfeldt: Deutsche Exilliteratur 1933-1945. Kommentar zu einer Epoche. München 1986, S. 8. — 2 2 Ebd., S. 9 5 - 9 7 . — 2 3 Das zeigt sich auch daran, daß Feilchenfeldt Ingeborg Bachmanns Gedicht »Exil« (1957) für ein adäquateres Beispiel für die »semantische I.iterarisierung des Exils« hielt als thematisch einschlägigere Gedichte von Nelly Sachs oder Else Lasker-Schüler. Vgl. ebd., S. 133 f. — 2 4 Koepke (1982), a . a . O . — 2 5 Die präziseste Formulierung dieser Idee findet sich bei Wilhelm Dilthey, und zwar im VII. Kapitel der 1910 erschienenen Abhandlung Der Auflau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (W. D.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Hg. v. Bernhard Groethuysen, Leipzig 1927). Wer sich auf das Modell der Epoche in diesem emphatischen Verstand einläßt, muß sich konsequenterweise entscheiden, ob er die so konstruierte geistesgeschichtliche Einheit historisch als 'unmittelbar zu Gotti, das heißt in sich selber berechtigte Entität, oder als konstruktiven Beitrag zu einem epochenübergreifenden historischen Telos konstruieren will. — 2 6 Er fungiert als eines von mehreren Mitteln der bewußten nationalen Traditionspflege »im Zeichen internationaler Konkurrenz und von Prioritäts- und also Superioritätsfragen«. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. M ü n chen 1989, S. 291, generell S. 282 ff. — 2 7 Die folgenden historischen Bemerkungen zur Geschichte der Exilforschung stützen sich auf den Abriß in Wulf Koepke/Michael W i n k l e r (Hg.): Exilliteratur 1933-1945, a . a . O . , Einleitung der Herausgeber, S. 1 - 2 3 , bes. 4 - 1 3 . — 2 8 Das gilt gewisser Weise auch für die D D R . Zwar wurden die in den östlichen Staat remigrierten Exilanten - vor allem die >Größen< wie A. Seghers, Becher, Brecht, A. Zweig -

Exilliteratur — ein abgeschlossenes Kapitel?

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dort demonstrativ geehrt, aber die Exilliteratur gab weder das Modell für die aktuell erwünschte Literatur noch dasjenige »Erbe« ab, zu dessen Pflege eine sozialistische Literaturwissenschaft etabliert wurde. Das bereits angeführte Buch von Jarmatz, mit dem erst eine nennenswerte Exilforschung begonnen wurde, indiziert insofern eine Öffnung. — 2 9 Diese Einschätzung erhellt die Schwierigkeiten, die in Deutschland den zur Rückkehr entschlossenen Schriftstellern gemacht wurden. Vgl. Rückkehr aus dem Exil. Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945• Essays zu Ehren von Ernst Loewy. Hg. v. Thomas Koebner und Erwin Rotermund. Marburg 1990. An ihr hatte sich bis weit in die sechziger Jahre nichts geändert. — 3 0 Ein zweites Motiv dieser Aufwertung spricht Erhard Bahr an: »Dem Mangel an antifaschistischer Vergangenheit und Gegenwart sollte hier durch Traditionspflege der Exilliteratur abgeholfen werden.« E. B.: »Deutsch-jüdische Exilliteratur und Literaturgeschichtsschreibung«. In: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Hg. v. Itta Shedletzky und Hans Otto Horch, Tübingen 1993, S. 2 9 - 4 2 , Zit. S. 30. — 3 1 Jarmatz, a.a.O., S . 6 , 65. — 3 2 So zum Beispiel von Wulf Koepke (1982), a . a . O . — 3 3 Die letzte Ausnahme machten die Literaturhistoriker, die nach den Vorgaben des Historischen Materialismus argumentierten. Wie jede Geschichtsteleologie mußte der »Histomat« Geschichtsabschnitte konstruieren, die im Hinblick auf das angenommene Geschichtsziel als sinnvolle Einheiten gelten können und daher auch untereinander im Verhältnis sinnvoller Abfolge stehen müssen. — 3 4 Exile in Literature.. Ed. by Maria-Ines Lagos-Pope, Lewisburg 1988, Lagos-Pope: Introduction, p. 7. — 35 Die Umkehrung dieses Mißtrauens, ein geradezu archaisches Vertrauen in die Macht des die offizielle Ideologie bekräftigenden Worts, wird in dem Aufwand deutlich, mit dem die Literatur gefördert wird, die dem Regime genehm ist. — 3 6 Brandes (a.a.O.) bemerkt das Phänomen, das sich von der persönlichen Verbannung einzelner Dichter wie Ovid oder Dante unterscheidet, und prägt den Terminus. — 3 7 Auch wenn die aus der DDR ausgebürgerten Schriftsteller nicht unter die Kategorie des literarischen Exils fallen, ist in diesem Zusammenhang eine Arbeit über diese Ausbürgerungen erwähnenswert, weil sie zeigt, wie ertragreich die Untersuchung der spezifischen Intoleranz eines totalitären Staates ausfallen kann: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Ubersiedlungen von 1961 bis 1989. 2 Bde., Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995, hier v.a. Bd. 2: Studie. — 3 8 Joseph Brodsky: »The Condition We Gall lExilei«. In: Literature in Exile. Ed. by John Glad, Durham, London 1990, S. 102. — 3 9 Ebd., S. 103. — 4 0 Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit. Hamburg, Zürich 1991, S. 21.31 (Erstes Buch, Kap. 3). — 41 An der Expressionismusdebatte etwa könnte deutlicher werden, daß die Kontrahenten, v. a. G. Lukäcs und E. Bloch, sich in einem entscheidenden Gesichtspunkt einig sind: in der Überzeugung, daß eine zeitgemäße und zugleich auf eine bessere Zukunft hinwirkende Literatur entscheidend vom Verfahren ästhetischer Wahrnehmung und Produktion abhänge. Ihr Dissens ergibt sich wesentlich aus der gegensätzlichen Einschätzung dessen, was als gültige bürgerliche Literatur anzuerkennen und daher fortzuschreiben sei. So führt das Exil den um die Jahrhundertwende begonnenen und auch nach 1945 nicht abgeschlossenen Streit um die Avantgarde fort. — 4 2 Vgl. Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten. Stuttgart 1991. Die Studie führt nicht nur vor, wie langwierig und kompliziert der Prozeß der Lösung aus der politischen Loyalität ist, sondern auch, daß mit der politischen Abkehr das moralische Sonderverhältnis zur Sowjetunion nicht beendet ist. — 4 3 Als Beispiel sei nur Horväths Wandel im Exil angeführt: Der Dramatiker, der vor 1933 dem realistischen Volksstück zu einem neuen Aufschwung verhalf, verschreibt sich im Exil der theatralischen Projektion eines kaum mehr faßbaren, nur noch im Rückgriff auf Metaphysik formulierbaren Prinzips von Humanität. Die formalen Rückgriffe auf früher entwickelte dramaturgische Mittel bzw. — in den Erzählungen — auf tradierte Erzählmuster soll dem radikal subjektiven Humanitätsideal eine neue, ästhetische Fundierung verschaffen; mit welchem Erfolg, sei an dieser Stelle dahingestellt. — 4 4 Manfred Briegel/Wolfgang Frühwald (Hg.): Die Erfahrung der Fremde. Kolloquium des Schwerpunktprogrammes »Exilforschung« der deutschen Forschungsgemeinschaft. Forschungsbericht. Weinheim 1988, S. 1 — 12 (Einleitung). — 4 5 Der regelrechte Kulturschock, den deutsche Exilanten in den USA erfuhren, gibt durchaus noch Rätsel auf: Sie waren kei-

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Bernhard Spies

neswegs uninformiert über die soziale Wirklichkeit wie die Kultur der USA, einige von ihnen zählten in den zwanziger Jahren zu den neusachlichen Verehrern der amerikanischen Konkurrenzgesellschaft, und der Unterschied zwischen bloß theoretischer Information bzw. Idealbild auf der einen Seite und persönlicher Erfahrung auf der anderen erklärt weder das Ausmaß des Schocks noch den neuen Eurozentrismus vieler Flüchtlinge. Nur wenige Exilanten wie Herbert Marcuse und Hans Sahl entdeckten die Rolle des Kulturvermittlers, und auch diese beiden entdeckten sie erst nach einer beträchtlichen Vorlaufzeit. — 4 6 Hélène Roussel/Lutz Winckler: »Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 7 (1989): Publizistik im Exil, S. 1 1 9 - 1 3 5 , Lutz Winckler: »Zum Paris-Mythos der deutschen Emigration. Texte aus dem Pariser Tageblatt und der Pariser Tageszeitung«. In: Bernhard Spies (Hg.): Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Würzburg 1995, S. 119 — 134. — 47 Vgl. die Untersuchung von Michaela Enderle-Ristori: Markt und kulturelles Kräftefeld. Literaturkritik im Feuilleton von Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung (1933—1940). Diss. Tübingen 1994 (im Druck). — 48 Wulf Koepke: »Die Wirkung des Exils auf Sprache und Stil. Ein Vorschlag zur Forschung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 3 (1985), S. 2 2 5 - 2 3 7 , Zit. S. 225. Die angeführten Äußerungen von Schriftstellern enden nicht mit dem Exil. F. C. Weiskopfs Überblick über die Exilliteratur Unter fremden Himmeln ( 1947) widmet ihm drei Kapitel, in denen die meisten wichtigen Gesichtspunkte bereits angesprochen werden. — 49 Helene Maimann: »Sprachlosigkeit. Ein zentrales Phänomen der Exilerfahrung«. In: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder (Hg.): Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933—1945- Hamburg 1981, S.31—38. — 50 Manfred Durzak spricht vom »zur Trivialität absinkenden traditionellen Erzählduktus eines I.ion Feuchtwanger« und »den Grenzen der Verständlichkeit streifenden Sprachstauungen Hermann Brochs«. M.D.: »Laokoons Söhne. Zur Sprachproblematik im Exil«. In: Akzente, H. 1, Februar 1974, S . 6 2 . — 51 Koepke (1985), S . 2 2 5 . — 52 Dieter Lamping: ».Linguistische Metamorphosen«. Aspekte des Sprachwechsels in der F^xilliteratur«. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik undKomparatistik. DFG-Symposion 1993. Stuttgart, Weimar 1995, S. 5 2 8 - 5 4 0 , Zit. S. 532. — 53 Koepke (1985) schließt seinen Aufsatz mit der Bemerkung: »Die Aufgabe, im Bereich von Sprache und Stil zu prüfen, welche Folgen das erzwungene Exil gehabt hat, ist weitgehend noch ungelöst.« A.a.O., S . 2 3 6 . — 54 Koepke, ebd. — 55 Grundsätzlich ist es ein für die mit den verschiedenen Exilen befaßten Nationalphilologien wie für die Komparatistik unfruchtbarer Zustand, wenn die Spezialisten für die deutsche Exilliteratur ganz auf die negative Seite des Sprachverlusts abheben, während die anderen nicht minder einseitig die produktiven Folgen der Heimatlosigkeit wie der Konfrontation mit anderen Sprachen und Kulturen in den Vordergrund stellen. Letzteres geschieht z. B. in der bereits angeführten Arbeit von Levin und in den Beiträgen zum Sammelband von David Bevan (ed.): Literature and Exile. Amsterdam/Atlanta 1990. Dort heißt es im Vorwort des Herausgebers: »(...) whether painful or exhilarating, exile appeares in the essays which follow as singularly energising, intensifying and colouring all that touches (...)« (S. 4). — 56 Die irischen Exilanten und darunter vor allem James Joyce stehen der Annahme eines geradezu automatischen Verlusts an sprachlicher Potenz durch die Trennung vom Herkunftsland entgegen; daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ihr Exil nicht aus einem der Verfolgung durch den NS-Staat vergleichbaren äußeren Zwang verursacht wurde. Vgl. George O'Brien: »The Muse of Exile: Estrangement and Renewal in Modern Irish Literature«. In: Lagos-Pope (ed.), a. a. O., S. 8 2 - 1 0 1 . Auf der anderen Seite findet sich die Parallele, daß sie aus der Fremde die Beziehung zum Heimatland in ähnlicher Weise intensivierten wie viele deutsche Exilanten. — 57 Lamping, a . a . O . , bes. S. 534, 535, 538. — 58 Michael Hamburger: Literarische Erfahrungen. Aufsätze. Darmstadt, Neuwied 1991, S. 97 (erstmals in: Literatur und Kritik, H. 128, Sept. 1978). — 59 Itta Shedletzky weist darauf hin, daß die Rückwendung zur jüdischen Tradition »nicht auf fundamentalistisch-religiöser, sondern auf säkularisiert-universeller Basis« stattfindet. Itta Shedletzky: »Existenz und Tradition. Zur Bestimmung des .Jüdischen« in der deutschsprachigen Literatur«. In: Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert, a.a.O., S . 3 - 1 4 , Zit. S . 9 .

Sibylle Quack

Die Aktualität der Frauen- und Geschlechterforschung für die Exilforschung

Wer über Frauen im Exil und in der Emigration forscht, sieht sich oft mit folgenden - verdeckten oder unverdeckten — Widerständen konfrontiert: Die Ergebnisse einer solchen Fragestellung seien bereits weitgehend bekannt und drohten sich zu wiederholen; eigentlich handele es sich bei diesem Ansatz um Politik und nicht um Wissenschaft; und schließlich bilde Frauenforschung nur eine Untergruppe innerhalb der Exilforschung und sei daher auch nur von begrenzter, eher randständiger Bedeutung. 1 Diese Widerstände gegen die Frauen- und Geschlechterforschung gibt es nicht nur unter Exilforschern und -forscherinnen, sie sind auch aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen wohlbekannt. Sie beruhen vor allem auf der Tatsache, daß der Blick auf die Geschlechterverhältnisse immer wieder die Strukturen von Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen preisgibt; Verhältnisse, die freilich in Phasen der Krise, der Not, der Verfolgung, Vertreibung und des Aufbruchs durcheinandergeraten, sich verändern und wandeln. Auf diesen Wandel schauen wir angstbeladen oder hoffnungsfroh: je nach Perspektive. Sein Studium kann sowohl eine Quelle der Bedrohung und des Verdrusses wie auch der Kraft und des Engagements bilden. Da die Fragestellung selbst vor allem aus der Frauenbewegung der siebziger und frühen achtziger Jahre stammte, war die Befürchtung, es könne sich dabei auch um Politik handeln, gar nicht so weltfremd. Für die Entstehung der Frauen- und Geschlechterforschung bildete die Frauenbewegung eine ebenso wichtige Quelle wie die Studentenbewegung für die Exilforschung. Zu kurz greift aber der Vorwurf, nur weil Engagement beteiligt sei, könne es nicht um Wissenschaft gehen. W i r kennen die Debatten um die Zusammenhänge zwischen sozialen Bewegungen und wissenschaftlichen Denkansätzen und Methoden vor allem aus den USA. Der Prozeß der Herausbildung, Etablierung und Institutionalisierung neuer wissenschaftlicher Denkansätze vollzog sich auch dort selbstverständlich nicht ohne die bohrenden Fragen nach der wissenschaftlichen Objektivität. 2 Im Gefolge von Bürgerrechtsbewegung und Frauenbewegung haben sich an den amerikanischen Hochschulen inzwischen neue Studiengänge, Lehrstühle und Forschungseinrichtungen etabliert (Black Studies, Women bzw. Gender Studies), haben Paradigmenwechsel stattgefun-

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Sibylle Q u a c k

den, werden die Chancen und Herausforderungen gerade auch der feministischen Fragestellungen für die Geisteswissenschaften von Forschern und Forscherinnen in weit größerem Maße erkannt als in Deutschland.

Zentrale Fragestellung Auch die Exilforschung kann von der Frauen- und Geschlechterforschung profitieren. Und zwar besonders dann, wenn sie diese nicht mehr nur marginal und als Untergruppe wahrnimmt, sondern sie in das Zentrum ihrer Fragestellungen einbezieht - ob es nun um Länderstudien, die Erforschung einzelner Berufsgruppen, um Identitätsfragen oder um die Akkulturation im Emigrationsland geht. Dazu bedarf es allerdings einiger Denkarbeit, die noch nicht allerorten geleistet wird. Eine wichtige Voraussetzung für die Einbeziehung der Gender Studies ist die stärkere und selbstverständlichere Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen und bei allen einschlägigen Forschungsprojekten - bei geplanten neuen wissenschaftlichen Reihen zum Beispiel nicht nur als Autorinnen, sondern auch als Herausgeberinnen. Wie bei dem dornen reichen Weg der Exilforschung selbst, die aus politischen Gründen lange auf sich warten ließ, handelt es sich bei der Frauenund Geschlechterforschung um eine relativ neue, aber auch längst überfällige Forschungsrichtung, deren Ergebnisse noch nicht genügend genutzt werden; gleichzeitig muß sie von denen, die damit arbeiten, noch weiter vorangetrieben werden. In der Zukunft wird zum Beispiel deutlicher zutage treten, daß es um beide Geschlechter geht. Die Geschlechterforschung hat die Frauenforschung weiterentwickelt, ohne indessen deren Erkenntnisinteresse überflüssig zu machen. 4 Das gilt auch für ihre Anwendung im Rahmen der Exilforschung. Da Frauen in der Exilforschung als autonome Wesen zunächst nicht vorkamen oder allenfalls am Rande und ausschließlich in Relation zu »ihren« (berühmten) Männern, mußten ihre Biographien zunächst einmal aufgearbeitet werden. Diese Aufgabe ist keineswegs abgeschlossen, sondern wird auch heute noch fortgeführt. Hinzukommen müssen Studien, die nach den Exilerfahrungen von Frauen und Männern fragen und diese zusammenführen. Allerdings geht es nicht nur um das Hinzufügen von weiblichen Erfahrungen; sondern vielmehr darum, die Methoden der Geschlechterforschung auf die Exilforschung anzuwenden. Wenn wir Geschlecht als historische Kategorie verstehen, mit deren Hilfe wir die gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Handlungsspielräume erkennen können, die sich an die physiologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen geknüpft haben 5 , werden wir der historischen Realität der Exilierten in sehr viel größerem Maße gerecht werden können als bisher.

Die A k t u a l i t ä t der Frauen- u n d G e s c h l e c h t e r f o r s c h u n g für die Exilforschung

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Wer wollte zum Beispiel heute noch leugnen, daß nicht nur das Alter, sondern auch die Geschlechtszugehörigkeit bei der Entscheidung zur Emigration eine überaus wichtige, ja oft entscheidende Rolle gespielt hat? 6 Zu solch wichtigen und differenzierten Forschungsergebnissen können wir nur gelangen, wenn die männlichen Erfahrungswelten nicht länger als »allgemein« vorausgesetzt werden, und wenn wir die Fragen der Geschlechterforschung in unsere Analysen einbeziehen. Das beginnt mit der Frage nach den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Nazi-Verfolgung und setzt sich fort mit der Frage nach möglichen auf die Geschlechter bezogenen Einwanderungsbestimmungen der Exilländer. Der geschlechtsspezifische Ansatz bezieht sich auf alle Phasen von Exil und Emigration. Er muß - als Erkennungsmittel — durchgehend angewendet werden, um Chancen und Benachteiligungen von Frauen und Männern sowohl vor als auch während ihres Exils besser zu verstehen. Zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen wurde der Entschluß zur Auswanderung gefaßt? Welche Bedingungen spielten bei dem Entschluß zur Emigration ein Rolle? Es erscheint fast banal, diese Fragen noch einmal zu stellen, da sie längst in unzähligen Untersuchungen erforscht wurden. Doch es liegen zu wenige Ergebnisse vor, die die Kategorie des Geschlechts berücksichtigen. In der Phase der sozialen und politischen Deklassierung, der Verfolgung und des Terrors standen jüdische Frauen und Männer vor neuen Anforderungen, bildeten sich neue Aufgabenverteilungen innerhalb und außerhalb der verfolgten Familien heraus und, damit verbunden, auch ein Wandel ihres Selbstverständnisses. Wenn wir uns dafür interessieren, welche Aspekte für das Selbstverständnis der Verfolgten vor und während des Exils bedeutend waren, dann können wir schnell feststellen, daß es nicht nur berufliche, nationale, kulturelle, religiöse und politische, sondern eben auch geschlechtsbezogene Aspekte sind, die die Identität von Männern und Frauen in Exil und Emigration bildeten.

Bisherige Ergebnisse Implizit enthielten die frühen Studien und Untersuchungen der Exilforschung wichtige und interessante Hinweise auf Leben und Werke von Frauen. Doch Frauen standen bei den Forschungsprojekten der ersten Zeit keineswegs im Mittelpunkt des Interesses. Das war nicht nur ein Ausdruck der Tatsache, daß sich die Forschung zu Beginn vor allem auf »geistige Eliten« und berühmte Namen der deutschsprachigen Emigration und des Exils konzentrierte 7 ; auch breiter angelegte Forschungen wie die von Hans Albert Walter oder Herbert Strauss aus den siebziger und achtziger Jahren enthielten meistens nur Hinweise auf die wichtige Rolle, die Frauen im Exil für das

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Sibylle Q u a c k

Überleben spielten. Diese Arbeiten fragten jedoch nicht systematisch nach den verschiedenen Erfahrungen von Frauen und Männern und thematisierten die Geschlechterbeziehungen allenfalls am Rande. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen standen männliche Erfahrungen; sie waren der Maßstab, an dem die »anderen« gemessen wurden. Demgegenüber war eine Phase der Aufarbeitung und Focussierung des weiblichen Exils dringend geboten. Gabriele Kreis verdanken wir die erste Buchveröffentlichung. 8 Ihre Arbeit, 1984 erschienen, beruhte auf Interviews mit Emigrantinnen und auf der Kenntnis vieler Exilromane. Auch Heike Klapdor-Kops Studie, die ein Jahr später herauskam, setzte sich kritisch mit den Frauenbildern in von männlichen Autoren geschriebenen Exildramen auseinander und überprüfte sie an der Lebenswirklichkeit von Frauen im Exil. 9 Renate Walls Pionierarbeit bestand im Aufspüren von Schriftstellerinnen, die ins Exil gezwungen wurden; ihr Lexikon ist soeben in der dritten Auflage erschienen und stellt mit seinem inzwischen auf 202 angewachsenen Lebensläufen eine unverzichtbare Quelle für Literaturwissenschaft und Exilforschung dar.10 Seit diesen ersten Arbeiten sind vor allem in der Literaturwissenschaft, aber auch in anderen Disziplinen viele Einzeluntersuchungen zum Werk und zu den Biographien von Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen im Exil entstanden." Christine Backhaus-Lautenschläger unternahm in ihrer 1991 erschienenen Studie erstmals den Versuch, ein sozialgeschichtliches »Gruppenportrait« deutschsprachiger Emigrantinnen in den USA zu zeichnen. Sie bot einen umfassenden Überblick über die wissenschaftliche Literatur, die sich mit der Emigration in die USA befaßte, und analysierte sie im Hinblick auf das Leben von Frauen im Exil. Ihre Arbeit stellte eine wichtige Ergänzung zu den Arbeiten von Kreis, Klapdor und anderen dar.12 Beate Schmeichel-Falkenbergs Engagement und dem Arbeitskreis »Frauen im Exil« in der Gesellschaft für Exilforschung ist es zu verdanken, daß seit 1990 jährliche Tagungen zum Thema »Frauen und Exil« stattfinden. Der Arbeitskreis greift neue Entwicklungen innerhalb der Exilforschung im Hinblick auf die Frauenforschung auf, benennt »weiße Flecken« und bringt neue Forschungsansätze in die Diskussion. Der Schwerpunkt der zusammen mit der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft vorbereiteten Tagung 1996 in Wuppertal behandelte das Schicksal von Emigrantinnen in Palästina — ein Desiderat in der Forschung, denn erst langsam erscheinen auch Länderstudien, die das weibliche Exil berücksichtigen oder zum Thema haben. 13 Es ist allerdings dringend notwendig, daß die Ergebnisse dieser Tagungen in Zukunft veröffentlicht werden können. Im letzten Jahr ist in den USA bzw. England ein breit angelegter Sammelband zur Sozialgeschichte von Frauen in der Emigration erschienen. >Between Sorrow and StrengthWomen in the Emigration After 1933s 25 —27.11.1991 in Washington«. In: Feministische Studien, 10. Jg. 1992, Nr. 1, S. 150. — 39 Äußerungen von Ilo Höppner auf der Konferenz »Women in the Emigration After 1933«, Washington, D.C., 25.-27.11.1991. Ähnliche Beobachtungen auch bei Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, die mit ihrer Mutter verschiedene Konzentrationslager überlebte und später in die USA emigrierte. — 40 Siehe das Gespräch zwischen C. Ascher, R. Bridenthal, M . Kaplan, A. Grossmann: »Fragments of a GermanJewish Heritage«, in: Abraham J. Peck (Hg.): The German-Jewish Legacy in America 1938-1988. From Bildung to the Bill of Rights. Detroit 1988, S. 1 8 4 - 1 8 6 . — 41 Ebd., S. 186. — 42 Ebd., S. 194f. — 4 3 Siehe zum Beispiel die ganz klar geschlechtsspezifischen Antworten auf die Frage, ob und inwieweit die Kinder der Eingewanderten sich »anders« fühlten, Ruth Neubauer: Differential Adjustment, a.a.O., S. 139.

Irmela von der Lühe

»Und der Mann war oft eine schwere, undankbare Last« Frauen im Exil - Frauen in der Exilforschung

In ihrer 1947 erschienenen Textsammlung Bilder und Gedichte aus der Emigration schildert Irmgard Keun ein Berliner Arztehepaar und seine unterschiedlichen Reaktionen auf die Erfahrung des Exils: »Keinerlei A r m u t hätte ihr den M u t nehmen können, wohl aber wurde er allmählich zerstört durch die täglichen und nächtlichen Selbstmordgespräche des Mannes, der ihr Leben genauso hoffnungslos und verzweifelt sehen wollte wie sein eigenes. Und sie sah immer noch zu ihm auf und würde es niemals wagen, sich von ihm zu lösen. Eigentlich gefiel ihr das Neue und Fremde mit all seinen Unsicherheiten und dunklen Rätseln. Aber das wagte sie kaum noch sich selbst einzugestehen, und kaum noch wagte sie, sich einmal verstohlen zu freuen, wenn die Sonne voll leuchtender Glut schien und das Meer in blanker Heiterkeit erglänzte.« 1 Die Ambivalenz der Exilerfahrung zwischen Verlustempfinden, materieller Not und Neugier auf die Fremde zeigt sich in dieser kleinen Begegnung auch als geschlechtertypische Differenz. Während der ehemalige Arzt die verlorenen heimatlichen Verhältnisse verklärt und auf die exilbedingte N o t und soziale Deklassierung mit Depressionen und Suizidphantasien reagiert, kann seine Frau den neuen Lebensumständen durchaus etwas abgewinnen, ohne sich jedoch dieses Empfinden wirklich zuzubilligen. Das Erlebnis seiner Verzweiflung beherrscht auch ihr Empfinden, und was sie alltäglich im Exil erfreuen könnte, macht ihr im Blick auf seine Schmerzen ein schlechtes Gewissen. Irmgard Keuns knappe Erzählung aus dem Alltag des Exils bezeugt eine doppelte Differenz: eine, die zwischen den Geschlechtern hinsichtlich der Exilerfahrung selbst existiert; eine zweite, die im Empfinden und Erleben der Ehefrauen in Reaktion auf das Empfinden ihrer Ehemänner aufbricht. Der Dialektik der Fremdheitserfahrung korrespondiert die Dialektik der Gefühlsverarbeitung: verstohlen nur freut sich die Emigrantin am Anblick des Meeres, der Alltag wird beherrscht vom Verlusterlebnis des Mannes. Die zitierte Episode aus Irmgard Keuns Sammlung entwirft ein Bild vom materiellen u n d vom »Gefühls«alltag der Geschlechter im Exil, und seine Analyse kaniri als Beitrag zu der neuerdings von verschiedener Seite gefor-

F r a u e n i m Exil — F r a u e n in d e r E x i l f o r s c h u n g

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d e r t e n »methodisch a u ß e r o r d e n t l i c h k o m p l e x e ( n ) Alltagsforschung des Exils« 2 verstanden w e r d e n . In seinen »Prolegomena zu einer T h e o r i e des Exils« hat W o l f g a n g F r ü h w a l d konstatiert, m a n habe Kultur, Bildung u n d Wissenschaft im Exil in d e n letzten zwanzig Jahren hinlänglich erforscht, aber »der Alltag — a u c h im Sinne unserer täglichen E r f a h r u n g im Exil — wartet n o c h auf die Erforschung.« 3 Das deutschsprachige Exil der Jahre 1933 bis 1945 gilt F r ü h w a l d als eine »kulturell-politische Modell-Epoche« 4 , an der sich insbesondere die historische A n t h r o p o l o g i e u n d mit ihr neue M e t h o d e n u n d Paradigmen kulturwissenschaftlicher Forschung e r p r o b e n ließen. Das Exil zwischen 1 9 3 3 u n d 1945 als »Kulturepoche« mit Modellcharakter verweise seinerseits z u r ü c k auf eine fast z w e i h u n d e r t j ä h r i g e neuzeitliche E n t wicklung, die m i t j e n e m zu E n d e gegangen sei, u n d stelle zugleich E r k e n n t nisse bereit, die zur »Bewältigung des m o d e r n e n Exils«, das heißt der gegenwärtigen u n d f ü r die Z u k u n f t zu e r w a r t e n d e n M i g r a t i o n s s t r ö m e genutzt werden k ö n n t e n . Ein ähnliches Plädoyer für die E r f o r s c h u n g des Exilalltags in praktischpolitischer Absicht begegnet — trotz unterschiedlicher wissenschaftspolitischer O r i e n t i e r u n g - a u c h bei Lutz Winckler."> D i e d u r c h die Ereignisse des Jahres 1989 ausgelöste kritische A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t »klassischen« M y t h e n der Exilforschung, den Leit- u n d O r d n u n g s b e g r i f f e n Antifaschismus, Realismus u n d d e u t s c h e K u l t u r - N a t i o n , f ü h r t ihn zu Fragen der Alltagsforschung einerseits u n d in literaturwissenschaftlicher H i n s i c h t andererseits zu solchen » M e t h o d e n u n d F o r m e n literarischen Engagements«, die im Zwischenbereich von Literatur u n d Politik, von literarischen u n d außerliterarischen T e c h n i k e n angesiedelt s i n d / ' N u n waren alltagsgeschichtliche Fragestellungen u n d U n t e r s u c h u n g e n zu literarischen F o r m e n im S c h n i t t p u n k t operativer Techniken f ü r die Erfors c h u n g des Exils von Frauen bereits zu einem Z e i t p u n k t m e t h o d i s c h u n d thematisch relevant, d a von einer »Krise der Exilforschung« u n d der N o t wendigkeit eines m y t h e n k r i t i s c h e n Paradigmenwechsels n o c h n i c h t die Rede war. In der F o r s c h u n g über das Exil der Frauen ist seit l a n g e m darauf hingewiesen w o r d e n , d a ß mit d e n inzwischen als M y t h e n d e m o n t i e r t e n Kategorien des Realismus u n d Antifaschismus Realität u n d alltagspraktische Aktivität von Frauen n u r schwer zu erfassen sind. 7 A u c h läßt sich das Verhältnis zwischen Exilforschung u n d Forschung über Frauen im Exil schwerlich in Termini v o n »allgemein« u n d »besonders« fassen, so als sei die allgem e i n e Exilforschung zu ergänzen u m eine b e s o n d e r e F r a u e n f o r s c h u n g , w o m i t allgemeine G e s c h i c h t e als M ä n n e r g e s c h i c h t e u n d Frauengeschichten als deren Derivat oder E r g ä n z u n g erschiene. Vielmehr ist m i t d e m Blick auf Frauen in der G e s c h i c h t e auch die klassische Hierarchie der Begriffe »allgemein« u n d »besonders«, »typisch« — »spezifisch«, »politisch« — »privat« in Frage gestellt. 8

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Irmela von der Lühe

Die eingangs zitierte Episode aus Irmgard Keuns »Bilder und Gedichte aus der Emigration« mag dies ebenso verdeutlichen wie die Analyse des folgenden Gedichts von Berthold Viertel 9 : Die Frauen Die durchs Exil uns trugen, Die Frauen, uns verbunden, Die törichten und klugen Haben den Weg gefunden. Der ging über Berge und Meere, Im endlosen Trott und mit Hast. Und der M a n n war oft eine schwere, Undankbare Last. Ihn schulternd, Leib und Seele, Fanden sie keine Ruh, Den fremden Staub in der Kehle Und die eigenen Tränen dazu. Das Geld war aufzuspüren, wo es sich listig verbarg. Und Wirtschaft war zu führen Enger als ein Sarg. Und Kinder zu gebären, Von Wehen heimgesucht, Als ob wir zuhause wären Auf der ziellosen Flucht. Nester zu baun und zu räumen, Wie es dem Zufall gefällt. Und von Z u k u n f t zu träumen In zerfallender Welt. »Und der M a n n war oft eine schwere, undankbare Last«, heißt es in diesem vermutlich 1940 entstandenen Gedicht des Schriftstellers und berühmten Regisseurs, das sich in seinen sechs Strophen konsequent des Präteritums bedient. Obwohl die Bedrängnisse durch Exil und Krieg noch alltägliche Gegenwart waren, entwirft sie das Gedicht als bereits vergangen und gleichsam bewältigt. Daß die Schwierigkeiten des Exilalltags Vergangenheit wer-

Frauen im Exil - Frauen in der Exilforschung

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den konnten, daß Häuslichkeit, Geborgenheit und Zukunftsträume auch im Exil haben möglich werden können, ist denen zu danken, die - wie es in der ersten Zeile der ersten Strophe heißt — »durchs Exil uns trugen«. Es waren »die Frauen«, die diese »schwere Last« auf sich genommen haben. Der Text des Gedichts stellt für die vielzitierte Anpassungs-, Uberlebens- und Akkulturationsfähigkeit der Frauen eher archaisierende Bilder und Motive bereit: der Weg ins und durch das Exil ist ein Weg »über Berge und Meere«, »im endlosen Trott oder mit Hast«; ein Weg, der ohne geographische oder lokale Details auskommt, dem alle realen Konturen fehlen u n d der statt dessen Elementares benennt - »fremden Staub in der Kehle«, hat die Frau eine »schwere«, noch dazu »undankbare Last« geschultert; Odnis und Endlosigkeit prägen das im Gedicht entworfene Bild der vergangenen Zeit des Exils. Dem archaisierenden Sprachduktus des Textes korrespondiert die passivische Satzstruktur der drei letzten Strophen, die, statt anschaulich von dem zu sprechen, was die Frauen taten, nämlich Geld verdienen, wirtschaften, Kinder gebären und die Vision des Lebens und der Z u k u n f t garantieren, eher normierend und entpersonalisierend konstatieren: »Das Geld war aufzuspüren«, »Wirtschaft war zu führen«. Die elliptisch-passivische Form bringt das reale Tun der Frauen zum Verschwinden und macht die Objekte ihrer Aktivität zum grammatischen Subjekt. Das »Geld«, »die Wirtschaft«, »die Kinder«, die »Nester« beherrschen das lyrische Geschehen in den letzten drei Strophen, deren gleichsam dekretorischer Ton zur heroisierenden Intention des gesamten Textes in eigenartigem Kontrast steht. Auffällig und für den archaisierenden Charakter des Gedichts bezeichnend ist schließlich, was man die Polarisierung der Geschlechter nennen könnte. Der anonymisierende Plural des Titels »Die Frauen« wird an keiner Stelle des Gedichts durchbrochen, als Geschlechtswesen agieren die Frauen in diesem Text, indem sie, bepackt mit schweren Lasten, Berge u n d Meere durchqueren, Nester bauen, Heimat stiften und trotz ständiger eigener Ruhelosigkeit in »zerfallender Welt« von der Z u k u n f t träumen. Ihnen steht im Text eine Personengruppe, unschwer als »Die Männer« dieser Frauen zu identifizieren, gegenüber, die im Plural der 1. Person erscheint: »uns« sind diese Frauen verbunden, und »als ob wir zuhause wären« gebären sie auch in den schweren Zeiten der Flucht Kinder. Man mag diesem Gedicht im lyrischen Werk Berthold Viertels keinen besonderen Wert beimessen, auch vermag ein einzelnes, eher konventionelles Beispiel die Wertigkeit eines literarischen Giuvres insgesamt gewiß nicht zu tangieren, und so ist denn an eine Analyse - und wohl gar eine negativwertende - der literarischen und kulturpolitischen Bedeutung Viertels im Exil hier und im folgenden nicht gedacht. 10 Diktion u n d Intention, lyrische Form u n d außerliterarische Absicht, Bildlichkeit des Textes u n d Wirklichkeit bilden einen auffälligen Gegensatz.

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Durch Begriffe wie Anonymisierung, Archaisierung und Heroisierung kann dieser Gegensatz, der im übrigen in Literatur und Publizistik des Exils häufig begegnet, genauer erfaßt werden. Das Bewußtsein dafür, in welchem Maße Frauen in der Extremsituation der Flucht das Überleben garantierten, praktisch und pragmatisch, zupackend und frei von Eitelkeiten organisierten und improvisierten, das Bewußtsein von diesen »Leistungen« der Frauen war im Exil durchaus vorhanden. Es gibt dafür zahllose zeitgenössische Zeugnisse, eines sei genannt. Die in New York erscheinende Wochenzeitung Der Aufl/au widmete den »Frauen in der Emigration« am 1. März 1940 einen Leitartikel und annoncierte zugleich eine einige Tage später beginnende Konferenz zum gleichen T h e m a . In dem erwähnten Leitartikel heißt es: »Die Last, die auf den Schultern der Emigrantenfamilie liegt, ist schwer. Sie ist nicht immer gleich verteilt u n d sehr häufig fällt der schwerste Teil auf die Schultern der Frau ... Das Schicksal einer Familie in der Emigration hängt sehr häufig mehr von der Frau und ihrer seelischen Spannkraft ab als vom Mann. Gelingt es ihr, die Hindernisse zu überwinden, so wird die Familie wieder vorwärts kommen, stürzt sie, so wird sie die übrige Familie mit sich reißen« 1 Angesichts der auffälligen Ubereinstimmung in der Wortwahl könnte man fast vermuten, Berthold Viertel habe diesen Artikel gekannt bzw. die einige Tage später beginnende Konferenz zum T h e m a verfolgt. Auf diesem Hintergrund liest sich das Gedicht wie die Literarisierung eines Leitartikels, womit neuerlich die operative und alltagspraktische Intention des Textes unterstrichen würde. Der Artikel im Auflau enthält noch einen anderen Gesichtspunkt, der die These stützen kann, daß das Exil eine entschiedene Polarisierung der Geschlechter und gleichzeitig eine Dynamisierung in den Geschlechterbeziehungen mit sich brachte, auf die die Geschlechter ihrerseits ganz unterschiedlich reagierten. Es geht dabei ums Geld und u m die Möglichkeit, im Exil Arbeit zu finden bzw. angebotene Arbeit anzunehmen. Im Aufoau heißt es: »Schon im gewöhnlichen Leben hat es die Frau im Bürgertum schwerer, sobald erst Kummer und Sorge eingezogen sind. Ans Haus gefesselt, fehlen ihr die Möglichkeiten, die inneren Spannungen abzureagieren, die der M a n n in seinen vielfältigen Kontakten mit der Außenwelt so viel leichter entladen kann. Dazu kommt, daß die Einwanderin, wenn sie körperlich dazu imstande ist, im Haushalt und in den ungelernten Arbeitssparten leichter ein paar Dollars verdienen kann als der M a n n , der nach differenzierterer Arbeit sucht und - was er auch immer anfangen will — auf einen höheren Wochenlohn Anspruch erheben m u ß (und deshalb schwerer Arbeit findet)«12. Die letzten Sätze sind ein klassisches Beispiel dafür, daß ökonomische und soziale Hierarchien zwischen den Geschlechtern auch in Extremsituationen

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wie dem Exil unangetastet bleiben, obwohl sie dem gesunden M e n s c h e n verstand und den Uberlebensnotwendigkeiten zuwiderlaufen. Sozial weniger angesehene und entsprechend gering bezahlte Arbeit war dem M a n n e nicht zuzumuten, eine Tätigkeit als Haushaltshilfe bzw. ungelernte und gering bezahlte Arbeitskraft kann indes der »bürgerlichen« Frau, die in der H e i m a t womöglich selbst Dienstkräfte hatte, gar nichts anhaben; allenfalls fehlt es ihr an körperlichen Kräften dazu. Erinnert man sich an die poetischen Bilder Berthold Viertels, so scheint es den Frauen an körperlichen Kräften kaum gemangelt zu haben, und auch ihre W ü r d e war offenbar nicht tangiert, wenn es um sozial und ökonomisch wenig angesehene Tätigkeiten ging. »Und Wirtschaft war zu f ü h r e n / E n g e r als ein Sarg« - ein etwas schwieriges Bild, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es für den M a n n gleichsam tödlich gewesen wäre, unterhalb seines Status oder außerhalb seines angestammten Metiers zu arbeiten. Es war im übrigen Salka Viertel, die als Drehbuchautorin bei M G M das Geld verdiente, das Berthold Viertel in London die Fortsetzung seiner Arbeit als Schriftsteller erlaubte; und dies durchaus auf Initiative und mit ausdrücklichem Einverständnis seiner Frau. In einem Brief Berthold Viertels heißt es dazu: »Und doch ist die Arbeit eines M a n nes eine der Grundbedingungen seines Lebens und Sterbens, und deshalb alles, was ihm die Arbeitsmöglichkeit schafft, wichtig. Gar nicht erschreckt bin ich über die Möglichkeit, nur zu schreiben. Es ist D e i n e G r ö ß e , D e i n Genie, D e i n e gerade Linie, daß D u mir das geben willst.« 1 3 D i e Forschung hat inzwischen vielfältige Belege dafür erbracht, daß Frauen qualifizierte Berufe, erfolgreich begonnene Karrieren, aussichtsreiche Stellungen im Exil aufgaben, a u f eine Arbeit als Wissenschaftlerin, Künstlerin, Schriftstellerin verzichteten, um mit anderen Mitteln das Geld für das Ü b e r leben der Familie zu erwirtschaften. 1 4 D i e Diskrepanz zwischen normierender, entpersonalisierender D i k t i o n einerseits und der auf Bewunderung und Dankbarkeit angelegten Intention andererseits kennzeichnen nicht nur Berthold Viertels Gedicht, sondern auch andere Äußerungen zum T h e m a . Ich n e h m e diese Diskrepanz zum Anlaß für einige grundsätzliche Überlegungen bzw. T h e s e n zur Darstellung und Rezeption weiblichen Heroismus im Exil. So wie »Die Frauen« in Viertels G e d i c h t nicht als Subjekte erscheinen und nicht als besondere, individuelle Personen weiblichen Geschlechts in ihren Handlungen und Ansichten sichtbar werden, so weisen auch andere Zeugnisse des Exils eine solche Tendenz zur Typisierung auf, durch die das, was als Ungewöhnliches, Unalltägliches, eben Lebensrettendes erlebt wurde, i m m e r schon als Folge eines selbstverständlichen

weiblichen

Geschlechtscharakters

erscheint;

heroisch

und

bewundernswert sind die Frauen als Gattungswesen, nicht etwa durch singuläre, individuelle Heldentaten. I m Horizont der von M ä n n e r n geschriebenen Geschichte - so könnte man zugespitzt sagen — ist ihre Heroisierung

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an ihre Enthistorisierung und Entindividualisierung gebunden. Mit den Worten der Dialektik der Aufelärung: »In der schwärmerischen Adoration des Liebhabers wie der schrankenlosen Bewunderung, die ihm die Geliebte zollt, verklärte sich stets erneut die tatsächliche Knechtschaft der Frau. Auf Grund der Anerkennung dieser Knechtschaft söhnten die Geschlechter je und je sich wieder aus: die Frau schien die Niederlage frei auf sich zu nehmen, der Mann den Sieg ihr zuzusprechen.« 15 Sieht man in den literarischen, publizistischen und autobiographischen Zeugnissen über die Rolle der Frauen im Exil eine Form der Geschichtsschreibung, so bleiben diese Frauen ohne eigene Sprache und ohne eigenes Gesicht, ihr »Heldentum« ist gleichsam ereignis- und konturlos; es vollzieht sich als Elementar- bzw. Naturereignis, die Kraft, die in ihm wirkt, gewinnt ihre Faszination dadurch, daß sie offenbar fraglos ist und nicht erkämpft werden muß. Ihr aufopferndes Verhalten unter den schwersten Lebensbedingungen zeigt Frauen als anonyme Größen, die keine individuellen Züge tragen; im Gegenteil, sie erweisen sich als Elementarwesen, die dazu bestimmt sind: »Nester zu bauen und zu räumen/Wie es dem Zufall gefällt«. Die Frauen in Exil und Emigration folgen also einer Bestimmung, und wo diese ihren Ursprung bzw. ihre Ursache hatte, danach wird nicht gefragt. Dem Handeln der Frauen, dem doch literarisch und außerliterarisch offenbar dankbare Anerkennung bezeugt werden soll, wird seine aktive Dimension sprachlich geradezu genommen. Im von Frauen garantierten Alltag wirkt eine außeralltägliche Macht, die bei Berthold Viertel literarisch durch die Verwendung der Vergangenheitsform, der passivischen Syntax und der mythisierenden Bilder gewährleistet ist. Den sprachlich und literarisch erzeugten und reproduzierten Bildern von der außer- und überalltäglichen Stärke des »schwachen Geschlechts«, die gerade im Alltag des Exils erscheint, sollte eine alltags- und geschlechtergeschichtlich orientierte Exilforschung zukünftig verstärkte Aufmerksamkeit widmen. Nun fällt es nicht schwer, auf die Frage, was denn den Frauen als kollektiven Wesen die vielgerühmte Stärke und Überlebenskraft gibt, eine Antwort auch in solchen Texten zu finden, die die erwähnte Frage gar nicht explizit stellen. Im vorliegenden Gedicht hilft das Partizip eines kleinen Verbums; »uns verbunden«, heißt es, fanden die Frauen, und zwar alle, »törichte und kluge«, den Weg durchs Exil. Die Bindung an ihre Männer also, nennen wir sie ruhig Liebe, ist der Ursprung weiblicher Stärke; wo der Mann selbst nur »schwere, undankbare Last« ist, bleibt ihm die Erfahrung und das Erlebnis einer alle irdischen Schrecken bewältigenden Liebes- und Bindungsfähigkeit, der im übrigen nicht etwa ein einzelner Mann durch seine besondere Frau, sondern der - in der Situation des Gedichts - alle Männer durch alle Ehefrauen bzw. Mütter teilhaftig werden. Auch andere Texte thematisieren bereits im Exil die Frage nach Ursprung

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und Deutungsmöglichkeit der weiblichen »Uberlebenskraft«, und die Neigung zur Mythisierung begegnet hier ebenfalls - so im wohl 1938 entstandenen Essay »Frauen und Kinder in der Emigration« von Anna Seghers, in dem die Wirkung des Exils auf die Frauen gleichsam kathartisch erlebt wird: »Sobald der Entschluß zur Emigration unweigerlich ist, tritt die Frau ganz auf den Plan. Dieser Entschluß erweckt ihr ganzes Wesen, Teile ihres Wesens, die ein gewöhnliches, alltägliches Leben wahrscheinlich nie gezeigt hätte. (...) Hellwach in ihr ist die Kraft, die vielleicht ihr Leben lang, vielleicht Jahrhunderte verschüttet war, weil niemand ihrer bedurfte. Jetzt ist sie wieder die Frau von Kriegszügen, von Verbannungen, von Völkerwanderungen.« 1 6 Solch mythischer Überhöhung der weiblichen Wesensnatur< 17 wird im bisher unveröffentlichten Essay Erika Manns »Business and professional women in exile« (1938) mit deutlich ironisierender Tendenz begegnet; eine eher seltene Form literarischer Reaktion auf Geschlechterverhältnisse im Exil. 18 Es ist offenkundig, daß die unterschiedliche Erfahrung und Bewältigung des Flucht- und Exilerlebnisses bei beiden Geschlechtern sich in mindestens doppelter Weise, wenn nicht noch vielgestaltiger auswirkte. Da ist zum einen die Verkehrung der traditionellen Geschlechterhierarchie, durch die plötzlich die Frau zur Ernährerin der Familie wurde; die Spannungen, die innerfamilial dabei entstehen und eingefahrene Verhaltens- und Kommunikationsmuster zwischen den Eheleuten auf bisweilen riskante Weise dynamisieren konnten, mag man ermessen, wenn man sich das in Irmgard Keuns Roman Nach Mitternacht subtil parodierte Beschwichtigungskonzept vor Augen hält: »Ich muß mich schwächer zeigen, als ich bin, damit er sich stark fühlen und mich lieben kann« 1 9 , beschließt die Heldin Sanna Moder zu Beginn der Emigration. Andererseits trifft man auch auf die Bekräftigung, die Reaktivierung klassischer Muster, insofern Frauen stärker noch als in »normalen« Zeiten in ihrer beschützenden, fürsorgenden und sich selbst für die Familie aufopfernden Funktion gefragt waren und sich auch fragen ließen. Gelegentlich ist auch — wohl mit Recht - darauf hingewiesen worden, daß die exilbedingte Rückkehr zu konventionellen Formen weiblichen Handelns gewiß von den Männern mit einiger Genugtuung registriert wurde, bedeutete sie doch das Ende oder zumindest den zeitweiligen Verzicht auf emanzipatorische Ideale, wie sie unter dem Stichwort »Neue Frau« in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik populär und zumindest in bürgerlich-liberalen Kreisen identitätsbildend gewesen waren. 20 Gegen diesen Befund ist geltend zu machen, daß beispielsweise die wachsende Repräsentation von Frauen im Journalismus, im Film, in der Mode und im künstlerischen Bereich in den zwanziger Jahren im Exil hat fortgesetzt werden können, daß also vor allem im Bereich des Tagesjournalismus und der Alltagspublizistik Autorinnen im Exil ihre »Karriere« gelegentlich weiterführen konnten. 21 Auch können die Freizügigkeit,

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die materielle und ideelle Unabhängigkeit, die Frauen in den zwanziger Jahren gewonnen hatten, durchaus als positive Voraussetzung für jene Flexibilität angesehen werden, die an den Frauen im Exil so gern gerühmt wurde. Man sieht, mit einfachen Thesen ist nicht viel gewonnen, weder lassen sich die Exilerfahrungen der Frauen diagnostizieren noch helfen Deutungen, die das Exil entweder als Rückkehr zu konventionellen oder als Eröffnung neuer Räume verstehen. Auch werden geschlechterübergreifende Fragestellungen insofern dringlich, als sich der Blick auf Dynamisierungs- und Veränderungsprozesse innerhalb der »Ordnung der Geschlechter« selbst richtet. 22 Fragt man nach bisherigen und zukünftigen Feldern frauen- und geschlechtergeschichtlicher Exilforschung, so ist zunächst festzustellen, daß die Rolle, die Frauen für Leben und Uberleben im Exil gespielt haben, dem zeitgenössischen Bewußtsein zwar durchaus evident, aber nicht eben differenzierter Rede wert gewesen ist. Für die wissenschaftliche Nachwelt war das Thema hingegen lange Zeit weder evident noch der Rede wert. Mitte der achtziger Jahre wurden von Gabriele Kreis und Heike Klapdor die ersten wegweisenden Arbeiten vorgelegt 2 ', die Bilder von Frauen in der Literatur von Männern mit der Realität von Frauen im Exil kontrastierten und die mit den Methoden der Sozialgeschichte und der Ideologiekritik erhobenen Befunde auf ihre Funktion als Instrumente der Verdrängung und Verleugnung hin befragten. Insbesondere der Nachweis, daß die an Verfremdungseffekt und dialektischem Realismuspostulat orientierte Poetik Brechts gleichwohl mit unhinterfragten Frauenmythen arbeitet, hat der Forschung entscheidende Impulse gegeben. Inzwischen zeugen zahllose Monographien, Biographien, Einzelstudien und Aufsätze von der gesteigerten Forschungsaktivität der letzten Jahre. 24 Im Blick auf Themen, Methoden und Disziplinen differenziert sich das Forschungsfeld mehr und mehr, so daß hier einige übergreifende und für die weitere literaturwissenschaftliche bzw. literatur- und kulturgeschichtliche Arbeit relevante Aspekte zusammengefaßt werden sollen. 1. Nach wie vor gilt es, die fraglos erscheinenden Fundamente männlichen Lebens und künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Arbeitens im Exil als eben keineswegs fraglos zu dechiffrieren, das heißt im Rahmen biographischer, mentalitätsgeschichtlicher und alltagsgeschichtlicher Forschung Arbeit und Leben, mentale Dispositionen und geschlechtertypische Konstruktionen sichtbar zu machen, die Leben und Arbeit im Exil garantieren. Dabei muß in der Forschung die falsche Alternative zwischen Verschweigen und Heroisieren unbedingt vermieden werden. Historisierung statt Heroisierung sollte die Maxime sein. Gewiß kann eine solche Forschung nicht mit der Aussicht auf unbekanntes Heldentum legitimiert werden, wohl aber mit dem bereits vor zwanzig Jahren von der amerikanischen Historikerin Joan Kelly Gadol formulierten Grundsatz, daß es darum gehe, »to restore history to women and to restore women to history«.25

F r a u e n i m Exil - F r a u e n in d e r E x i l f o r s c h u n g

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Damit ist eine systematische, methodisch reflektierte Erforschung von Geschlechterverhältnissen im Exil gemeint, denn es geht natürlich nicht nur darum, den Frauen »ihre« Geschichte und der Geschichte »ihre« Frauen wiederzugeben, sondern Frauengeschichte als Bestandteil von Männergeschichte und Männergeschichte als Bestandteil von Frauengeschichte zu untersuchen. Umbruch- und Extremsituationen sind dafür vielleicht besonders ergiebig, was im übrigen die neuerdings erwogene Ausweitung des Blicks vom Exil zwischen 1933 und 1945 auf andere einschneidende Flucht- und Exilperioden einschlösse und zugleich den Blick auf Überlebens-, Widerstands- und Schreibstrategien von Frauen der sogenannten »Inneren Emigration« eröffnete. 26 Im folgenden soll an wiederum einem Beispiel das komplizierte und komplexe Wechselverhältnis zwischen Exilerfahrung, künstlerischem Selbstentwurf und Geschlechtszugehörigkeit beleuchtet und die skizzierte Forschungsperspektive damit modellhaft illustriert werden. Ais im Jahre 1989 Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße erstmals erschien — die einzelnen Erzählabschnitte stammen bekanntlich aus den Jahren 1932 und 1933 - , schrieb Elias Canetti, dem die Ausgabe zu verdanken ist, im Vorwort folgendes: »Mit zwanzig, als ich sie kennenlernte, war ich in einem häuslichen Kampf begriffen, der mich an den Rand des Wahnsinns brachte. Ohne sich selbst zur parteiischen Kämpferin in diesem Zwist zu degradieren, hat sie mich durch ihr bloßes Dasein daraus errettet. Um der hitzig abgründigen Gespräche willen, die wir führten, nahm sie die schlechten Gedichte ernst, die ich ihr während einiger Jahre brachte. Sie wußte es besser und nahm sie doch ernst, so sicher war sie, daß anderes nachkommen würde. Als es dann kam, erschrak sie, denn es drohte uns zu zerstören: sie, mich selbst, unsere Liebe, unsere Hoffnung. Um sich nicht aufzugeben, begann sie selber zu schreiben, und um die Geste des großen Vorhabens, die ich brauchte, nicht zu gefährden, behandelte sie ihr Eigenes als wäre es nichts.« 27 Mit wenigen Sätzen wird hier eine Liebesgeschichte angedeutet, in der Liebe mit Rettung und Verzicht, mit männlicher Befreiung zur Kunst und weiblicher Fähigkeit zum Dienst am Werk des Mannes konnotiert ist. Diese Motiwerknüpfung ist an sich nicht neu, auffällig ist eher der selbstkritische Ton des Erzählers; wobei man sich fragt, ob er auch der mitgeteilten Entscheidung Veza Canettis gilt, »ihr Eigenes« zu behandeln, »als wäre es nichts«, und dies »um die Geste des großen Vorhabens, die ich brauchte, nicht zu gefährden«. Die zitierten Sätze enthalten bekannte Topoi von Liebesgeschichten und erzählen zugleich von den Entstehungsbedingungen des männlichen Kunstwerks. Zu diesen gehört, folgt man den Ausführungen Elias Canettis, die Vision von Größe und Singularität, und diese wiederum bedingt, daß die Frau eine solche Vision übernimmt und nicht etwa durch einen eigenen

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Selbstentwurf gefährdet oder gar zerstört. In der Literaturgeschichte des Exils, und insbesondere in derjenigen von Schriftstellerinnen, begegnet man solchen Verzichtsentwürfen im Namen der Liebe nur allzu oft, und die von Männern häufig und gern funktionalisierte Fähigkeit und Bereitschaft von Frauen, ihr »Eigenes« zu behandeln, »als wäre es nichts«, ist natürlich keineswegs nur unter den Künstlerinnen und Intellektuellen des Exils ein verbreitetes Phänomen. 28 Sie selbst habe, so berichtet Elias Canetti im Nachwort zur wiederum Erstausgabe von Veza Canettis Theaterstück Der Oger, 1990, ihre Arbeit stets für unzulänglich, wenn nicht gar für mißglückt gehalten. Es sei vor allem ihr hoher, gleichsam unerfüllbarer Anspruch an das eigene Werk gewesen, der sie häufig nur für die Schublade hat arbeiten lassen. Mit dem Oger sei sie selbst allerdings wirklich zufrieden gewesen und habe es als tiefe Verletzung empfunden, daß es bis zu ihrem Tode weder gedruckt noch aufgeführt wurde. Der Herausgeber und Ehemann zeigt sich hier von einer ganz anderen Seite. Hatte er im Vorwort zur Gelben Straße noch ironisch dankbar Veza Canettis Orientierung am künstlerischen Selbstentwurf des Ehemannes konstatiert, so erweist er sich nun gleichsam als Retter am Werk seiner Frau. Dieses mußte offenbar vor ihr selbst, vor ihren eigenen überhöhten Ansprüchen bewahrt werden. Das Zirkuläre solcher Bilder und Gegenbilder, in denen Symbole der Liebe, Visionen originärer Schöpferkraft und destruktive (weibliche) Selbstentwürfe sich durchdringen, liegt auf der Hand. An den späten Selbstaussagen Elias Canettis über das Schriftstellerpaar Canetti fällt indes auf, was zukünftiger Forschung in diesem Bereich eine wichtige Orientierung geben könnte. Er nennt seine Abhängigkeit von der Vision originärer Schöpferkraft eine »Geste« und bezeichnet ihre Neigung zur Selbstzensur als eine »Attitüde«29. Der kompensatorische, fiktive, aber vor allem geschlechtertypisch konditionierte Charakter des künstlerischen Selbstentwurfs im Exil wird hier mit seltener Offenheit formuliert. Für die Forschung scheint mir ein weiterer Gesichtspunkt entscheidend. Alle bisher zitierten Aussagen über Veza Canetti und ihr Verhältnis zum eigenen bzw. zum Werk des Mannes stammen aus der Feder Elias Canettis; sie können erweitert werden um Aussagen aus seinen Romanen bzw. Autobiographien, sie können nicht — zumindest bisher nicht — erweitert, ergänzt, korrigiert werden durch Aussagen von Veza Canetti selbst. Hier ist Archivarbeit zu leisten, sind Quellen zu suchen und zu analysieren, in biographischer und werkgeschichtlicher Hinsicht30 ist - wie in so vielen Feldern kulturwissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung - Grundlagenarbeit erforderlich; eine Grundlagenarbeit, gelegentlich unnötig bescheiden als »Spurensuche« ausgegeben, die Frauen selbst zu Wort kommen läßt und die in der Regel gut dokumentierten Fremdbilder durch Selbstentwürfe zu kontrastieren versucht. Es muß nicht betont werden, daß es in diesem Zusammenhang nicht um

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Anklage oder Larmoyanz und auch nicht um die Demontage künstlerischer Leistungen geht, wohl aber lassen sich am Beispiel des Schriftstellerehepaars Canetti weiterführende Forschungsperspektiven illustrieren. Biographische Forschung, wie sie hier nötig wäre, würde über die Ermittlung von Lebensdaten und Lebensumständen hinaus strukturelle Einsichten eröffnen in 1. die Genese des künstlerischen Selbstverständnisses, 2. geschlechtertypisch unterschiedliche Reaktionen auf veränderte Bedingungen künstlerischen Schaffens, 3. argumentative und argumentationsstrategische Unterschiede im Umgang mit der Liebe, das heißt in die lebens- und werkgeschichtliche Funktionalisierung eines Gefühls, das gerade in Krisen- und Umbruchzeiten normativ aufgeladen und zum existentiellen und künstlerischen Überlebensmodus stilisiert wird. 31 Die von Lutz Winckler ebenso überzeugend wie dringlich geforderte Revision klassischer Mythen der Exilforschung würde damit auf den exiltypisch zugerichteten Mythos Liebe sowie den der weiblichen Hingabe und Selbstaufgabe ausgedehnt werden. Das aber bedeutete konsequente Historisierung in der Exilforschung über Frauen, womit einer verbreiteten Enthistorisierung, auf die man bereits im Exil trifft, entgegengearbeitet würde. 2. Will man Exilforschung als Teil einer historisch angelegten Kulturwissenschaft verstehen, die nach Wahrnehmungen, Bildern und Phantasien von Fremdheit, von Alteritäts- und Ausgrenzungserfahrungen fragt, so wird auch hier die geschlechtertypische Perspektive elementar, denn im fiktiven und im faktischen Blick der Geschlechter aufeinander durchdringen sich extrem gegensätzliche Muster. So wie Männer häufig zu Kindern, zu einer »schweren Last« werden, so erscheinen Frauen in ihrer Stärke bisweilen geradezu exotisch und unheimlich. In welchem Maße Frauen auch außerliterarisch in der Fremde zur Personifikation von Heimat werden konnten, inwieweit also die männliche Erfahrung Frauen zu Projektionsflächen für extrem unterschiedliche, meist aber mythisch konturierte Erlebnisweisen machte, zeigt die Äußerung Ernest Bornemanns, der sich beim PEN-Kongreß 1980 bekanntlich öffentlich bei den Frauen bedankt und folgendes hinzufugt hat: »Für den im Exil arbeitenden, politisch tätigen, von Armut und Hoffnungslosigkeit täglich Bedrohten hat die liebende und geliebte Partnerin eine unvergleichlich größere Bedeutung als für den gesicherten Bürger. Die Liebe im Exil ist die täglich wiederholte Entdeckung der Heimat im Körper des geliebten Menschen. In der Erinnerung des anderen lebt die verlorene Stadt weiter, als sei sie nie verloren worden. (...) Ich habe damals den Begriff von der Frau als Heimat im Exil geprägt.«32 Liebe als universales Deutungsmuster schließt ein, daß Frauen mit ihrem Körper die materielle und die ideelle Verlusterfahrung des Exils kompensieren, womit die Asymmetrie der Geschlechter in dieser Verlusterfahrung fortgeschrieben wird. Denn man darf vermuten, daß nicht in dem Maße, wie

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Frauen in der Fremde Heimat gewährleisteten, ihnen selbst aus dieser Funktion die Erfahrung von Heimat und Identität erwuchs - abgesehen von den vielen Frauen, die ohne Männer ins Exil gingen und damit ohne Deutungsmuster der bisher analysierten Art überlebten; unter ihnen Schriftstellerinnen, Wissenschaftlerinnen, Arztinnen, Pädagoginnen, die Masse der »kleinen Frauen« nicht zu vergessen. Wolfgang Frühwalds Hinweis 33 auf den Satz aus Christa Wolfs Erzählung Unter den Linden (1969): »Denn höher als alles schätzen wir die Lust, gekannt zu sein« sei hier aufgegriffen. Das Zitat kann als Anknüpfung an die zentrale Aussage im 10. Kapitel von Anna Seghers' Roman Transit gelesen werden: »Wir kennen dich, wir sagen dir alle dasselbe: Man sagt es dir«34. Bekanntlich ist es diese Erfahrung des »Gekanntseins« in der Fremde, die den Erzähler in Anna Seghers' Roman veranlaßt, sich aus dem »Zug abgeschiedener Seelen«35 zu entfernen und in Frankreich zu bleiben. Der Wunsch und die Sehnsucht danach, in der Fremde gekannt zu sein, nicht bloß geduldet, mit Geld, Nahrungsmitteln, Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitsbewilligung versorgt zu sein, dieser Wunsch ist existentiell und geht, wenn überhaupt, für Männer eher als für Frauen in Erfüllung; insbesondere dann, wenn darunter nicht bloß eine vage soziale Integration oder Akkulturation verstanden wird, sondern die Tatsache, daß jemand als Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Intellektueller in der Fremde wahrgenommen, eben »gekannt« wird. In Vergangenheit und Gegenwart des Exils liegen hier wohl die größten Probleme, und gerade in dieser Hinsicht wirken sich die geschlechtertypischen Deutungs- und Zensurmuster in positiver wie negativer Hinsicht verstärkend aus. 3. Auch die oft gestellte Frage nach einer exilspezifischen Ästhetik, nach exiltypischen literarischen Formen und Schreibweisen 36 und die Akzentuierung der Exilliteraur als Modellfall einer Literatur in politischer Absicht, all diese Versuche, den besonderen literaturgeschichtlichen Ort der Exilliteratur auszumachen, könnten angesichts der schriftstellerischen Arbeit von Frauen im Exil eine neue, zumindest eine veränderte Antwort erfahren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Romane Anna Gmeyners, der multiperspektivische Deutschlandroman Manja und der Roman über das Elend des Exils Café du Dome folgen einem narrativen Konzept, dem am Alltäglichen, am Authentisch-Erlebten, das heißt an einem Anspruch gelegen ist, in dessen Mittelpunkt nicht der Autor und Künstler, sondern das Erlebte und Erzählte selbst stehen. Die literarischen Arbeiten von Frauen sind also weniger ästhetische Selbstentwürfe oder literarische Inszenierungen der Überlebensproblematik als einer ästhetischen Krise, sondern sie sind die narrative Vergegenwärtigung des Alltags und lassen sich von daher als eine Poesie und Poetik des Alltäglichen lesen.37 Daß eine solche Poesie des Alltäglichen die Parodie auf den Alltag einschließt, zeigen die Romane Irmgard Keuns, die

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ihre Originalität eben darin haben, daß sie - so in Kind aller Länder — Alltagsprobleme einer Schriftstellerfamilie im Exil aus kindlich-naiver Perspektive ironisch demontieren. Eine gründliche und vergleichende literaturwissenschaftliche Analyse der Exilromane von Frauen könnte schließlich zeigen, was auch die Analyse von Briefen, Tagebüchern und Autobiographien von Frauen aus dem Exil zeigt: Die im Erzählen und im Erzählten entworfene Vision gilt dem Alltag und seiner Bewältigung, nicht primär dem Uberleben der Kunst bzw. in der Kunst. Das schriftstellerische und womöglich auch das wissenschaftliche Selbstverständnis von Frauen scheint wenig, wenn denn überhaupt, am eigenen Ruhm, am Lob durch die Nachwelt orientiert; statt dessen trifft man auf ein operatives Literaturverständnis im weitesten und anspruchsvollsten Wortsinn, und die Aufgabe der Exilforschung muß es sein, dem kulturellen Gedächtnis solche Dokumente einer Poesie des Alltäglichen zugänglich zu machen bzw. sie zu tradieren. Zum antifaschistischen Paradigma der bundesrepublikanischen und der DDR-Exilforschung gehörte seine Blindheit gegenüber der sozialen, kulturellen und literarischen Kategorie des Geschlechts, und eben diese Blindheit erfordert eine neue Lektüre und Forschung. Dem Umstand, daß sich unter den Bedingungen des Exils die Differenz- und Alteritätserfahrungen von Frauen sowohl radikalisieren als auch nivellieren, daß überkommene und vertraute Lebens- und Kommunikationsmuster zwischen den Geschlechtern fragil werden können, sollte die Exilforschung bei der Analyse literarischer und insbesondere autobiographischer Texte Rechnung tragen. Der fortdauernden kulturellen Marginalisierung steht im Exil häufig die mentale, soziale und ökonomische Aufwertung' 8 und Funktionalisierung von Frauen gegenüber, und in welcher Weise solche Brüche und Ungleichzeitigkeiten in literarische und autobiographische Texte einfließen, sie womöglich konstituieren, verdiente eine genaue Untersuchung. Dazu eine abschließende Überlegung. 4. Wenn man — wie eingangs referiert — das Exil zum Modellfall für eine geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung erklärt, die ihrerseits der historischen Anthropologie und der Alltagsforschung verpflichtet ist, so sind für eine solche Forschung Begriffe wie Erinnerung und Gedächtnis von zentraler Bedeutung. Zugleich geht es um kulturspezifische Unterschiede in den Formen, Ritualen und »Inszenierungen« der Erinnerung. Auch hier wird eine geschlechtertypische Perspektivierung aufschlußreich und weiterführend sein. Untersucht man beispielsweise die autobiographischen Zeugnisse und Aufzeichnungen von Frauen aus dem Exil, so ergeben sich nicht selten folgende Befunde: Die Erzählwürdigkeit ihres eigenen Lebens, das heißt die Frage, ob die eigene Lebensgeschichte der Überlieferung und des Aufschreibens wert sei, pflegen Frauen sehr skrupulös zu prüfen. Häufig fließt solch skrupulöse Prüfung in die schließlich entstandenen Texte selbst ein, zum Beispiel in Form relativierender Floskeln, einschränkender Redewendungen

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oder bagatellisierender Erzählhaltungen, die ihrerseits durchaus parodierend und selbstironisch gemeint sein können. Bekanntlich rechtfertigt die Tatsache, d a ß solche Frauen »berühmte« M ä n n e r hatten, die Abfassung von M e m o i r e n und Autobiographien in ihren Augen noch am ehesten; auch dann aber schwingt häufig mit, woraus Therese Giehse den Titel ihrer Autobiographie machte: »Ich hab nichts z u m Sagen«. 3 9 Diesem Befund, der im übrigen nicht auf Frauen im Exil beschränkt ist, entspricht ein weiterer, der ebenfalls häufig konstatiert, jedoch bei weitem nicht zulänglich erforscht und interpretiert ist. Gemeint ist die Tatsache, daß schriftstellerisch und künstlerisch tätige Frauen an der Tradierung ihrer Werke häufig weniger interessiert sind als an der Tradierung der W e r k e ihrer Männer, Väter, Lebenspartner, Brüder. Das gilt für Henriette Hardenberg wie für A n n a Gmeyner, für Erika M a n n wie für Lili Körber, für Elisabeth Freundlich, Irmgard Keun und Veza Canetti. Die Beispiele ließen sich unschwer vermehren; sie alle indizieren ein für die Exilforschung erhebliches Problem, denn die offenbar tiefsitzende Skepsis von Frauen gegenüber der Dignität ihrer Werke, der möglichen traditionsbildenden Kraft ihrer Arbeit und der Uberlieferungswürdigkeit ihrer Lebensgeschichte korrespondiert auf fatale Weise mit der anfangs analysierten Tendenz zur Heroisierung. An zahlreichen Autobiographien, biographischen Interviews und häufig m ü h s a m zustandegekommenen Lebensberichten ist ablesbar, daß Frauen über ihr Exil, ihre Lebenserfahrungen u n d ihre Erlebnisse nur mit großen Einschränkungen sprechen und schreiben, und dies erst, wenn sie glauben, wirklich etwas zu sagen zu haben. In welchem M a ß e dabei Unterwerfungsgesten, Bescheidenheitstopoi oder die von Canetti diagnostizierten >Attitüden< weiblicher Selbstverkleinerung eine Rolle spielen, die ihrerseits als subversive Inszenierungen, als ironische »Listen der O h n m a c h t « zu interpretieren sind, bedarf genauerer Untersuchung. 4 0 Dabei verdienen vor allem solche literarischen u n d außerliterarischen Formen und Techniken besondere Aufmerksamkeit, die die Geschlechterzuschreibungen zu unterlaufen und die mit ihnen gesetzten M a c h t - und Abhängigkeitsverhältnisse als potentiell veränderbar zu dechiffrieren versuchen.

1 Irmgard Keun: »Bilder und Gedichte aus der Emigration«. In: Dies.: IVenn wir alle gut wären. München 1993, S. 1 0 7 - 1 3 7 ; hier S. 115. — 2 Lutz Winckler: »Mythen der Exilforschung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 13. München 1995, S . 6 8 - 8 1 ; hier S . 7 9 . — 3 Wolfgang Frühwald: »Die gekannt sein wollen. Prolegomena zu einer Theorie des Exils«. In: Hermann Haarmann (Hg.): Innen-Leben. Ansichten aus dem Exil. Berlin 1995, S. 5 6 - 6 9 . — 4 Ebd., S . 6 6 . — 5 Vgl. Anm. 2 . - 6 Ebd., S. 79. — 7 Vgl. u.a. Susan-

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ne Mittag: »>Im Fremden ungewollt zuhaus.« Frauen im Exil«. In: Exil (Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse) 1, 1981, S. 4 9 - 5 6 ; Helmut Pfanner: »Die Rolle der Frau im Exil: im Spiegel der deutschsprachigen Literatur in New York«. In: A. Arnold u.a.(Hg.): Analecta Helvetica et Germanica. Festschrift für H.Boeschenstein. Bonn 1979, S. 3 4 2 - 3 5 9 . Vgl. außerdem Walter Zadek (Hg.): »Mut und Schwermut der Frauen«. In: Ders.: Sie flohen vor dem Hakenkreuz. Selbstzeugnisse der Emigranten. Reinbek 1981.S. 9 3 - 1 3 2 ; Shelley Frisch (Hg.): »Women in Exile«. In: The Germanic Review (Special Issue) Vol.62, N . 3 , 1987, S. 1 0 6 - 1 5 9 . Wegweisend waren schließlich:Heike Klapdor-Kops: Heldinnen. Die Gestaltung der Frauen im Drama deutscher Exilautoren 1933—1945- Weinheim, Basel 1985; Gabriele Kreis: Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit. Düsseldorf 1984. — 8 Zu Problemen und Methoden der historischen Frauen- und Geschlechterforschung vgl. Gisela Bock: »Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte«. In: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, S. 3 6 4 - 3 9 1 , Ute Frevert: » M a n n und Weib, Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München 1995. — 9 Berthold Viertel: Das graue Tuch. Gedichte. Studienausgabe. Bd. 3. Hg. v. Konstantin Kaiser. Wien 1994, S. 331. — 10 Dies wird ausführlich geleistet durch Friedrich Pfäfflin (Hg.): Berthold Viertel 1885-1953. Eine Dokumentation. München 1985; Eberhard Frey: »Berthold Viertel«. In: John M.Spalek /Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2. New York. Teil 2. Bern 1989, S. 9 5 7 - 9 7 6 ; Irene Jansen: Berthold Viertel. Leben und künstlerische Arbeit im Exil. New York u. a. 1992. — 11 »Frauen in der Emigration«. In: Aufbaus. 1.3.1940, Vol. VI, No. 9, S.4. — 12 Ebd. — 13 Zitiert nach: Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz. Ein Leben in der Welt des Theaters, der Literatur und des Films. Hamburg, Düsseldorf 1970, S. 287. — 14 Christine Backhaus-Lautenschläger: »Und standen ihre Frau...«. Das Schicksal deutschsprachiger Emigrantinnen in den USA nach 1933. Pfaffenweiler 1991; Heike Klapdor-Kops: »Uberlebensstrategie statt Lebensentwurf. Frauen in der Emigration«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd.l 1. 1993, S. 12—30. Zur Situation von Wissenschaftlerinnen vgl. den Beitrag von Hiltrud Häntzschel im vorliegenden Band. — 15 Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. V. Hg. v. Gunzelin Schmidt Noerr. Frankfurt/M. 1987, S. 130. — 16 Anna Seghers: »Frauen und Kinder in der Emigration«. In: A. Seghers/W. Herzfelde: Gewöhnliches und gefahrliches Leben. Darmstadt, Neuwied 1986, S. 1 2 8 - 146, hier S.129 und S. 130. — 17 Inhalt und Intention des Seghersschen Essays wird anders gedeutet von: Silvia Schlenstedt: »Überlegungen zu Anna Seghers' >Frauen und Kinder in der Emigration««. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft 2, 1993, S. 1 2 3 - 131. — 18 Eine gekürzte Fassung des insgesamt noch unveröffentlichten Typoskripts findet sich in: Irmela von der Lühe: Erika Mann. Eine Biographie. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1994, S. 160 f. — 19 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. München 1989, S. 129. — 2 0 Katharina Sykora/Annette Dargerloh u.a. (Hg.): Die Neue Frau. Herausforderungfur die Bildmedien der zwanziger Jahre. Marburg 1993; Petra Bock/Katja Koblitz (Hg.): Neue Frauen zwischen den Zeiten. Berlin 1995. Sigrun Anselm: »Emanzipation und Tradition in den Zwanziger Jahren«. In: Sigrun Anselm/Barbara Beck (Hg.): Triumph und Scheitern in der Metropole. Berlin 1987, S. 2 5 3 - 2 7 4 . — 21 Die Notwendigkeit einer systematischen Erfassung und Erforschung von Journalistinnen im Exil betont mit Recht Sonja Hilzinger: »Frauen - Literatur - Exil. Überlegungen zum Thema Exilliteratur unter geschlechterspezifischen Aspekten«. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 4, 1995, S . 6 1 - 7 0 . Exemplarisch dazu Waltraud Strickhausen: »Im Zwiespalt zwischen Literatur und Publizistik. Deutungsversuch zum Gattungswechsel im Werk der Exilautorin Hilde Spiel«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 7. 1989, S. 1 6 6 - 1 8 3 . — 22 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1992. — 2 3 Vgl. die in Anm. 7 genannten Arbeiten. — 2 4 Neben dem Bd. 11 des Jahrbuchsfür Exilforschung (Frauen und Exil) 1993 sind hierzu nennen: Denny Hirschbach/Sonia Nowoselsky (Hg.): Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger und dreißiger Jahre. Bremen 1993. Claudia Schoppmann (Hg.): Im Fluchtgepäck die Sprache. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im Exil. Berlin 1991. Eva-Maria Siegel: Jugend, Frauen, Drittes Reich. Autorinnen im Exil 1933—1945- Pfaffenweiler 1993. Renate Wall (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933—1945. 2 Bde., Freiburg 1995. Die seit fünf Jahren von Beate Schmeichel-Falkenberg organisierten Arbeitstagungen »Frauen im

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Exil« haben nicht nur vielfältige Forschungen angeregt und vorangetrieben, sie dürfen überdies wegen der stets intensiven Begegnungen zwischen Emigrantinnen, Zeitzeuginnen und Wissenschaftlerinnen als singulärer Fall menschlicher und wissenschaftlicher Kooperation gelten. — 25 Joan Kelly-Gadol: »The Social Relation of the Sexes: Methodological Implications ofWomen's History«. In: Signs. Journal ofWomen in Culture and Society 1/4,1976, S. 809 — 824; hier S.809. Vgl. dazu Gisela Bock: »Der Platz der Frauen in der Geschichte«. In: Neue Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Wien 1984, S. 108 — 127. — 2 6 Als Vorbild für einen solchen epochenübergreifenden Blick auf Fluchtbewegungen kann das von Jacques Grandjonc und Klaus Voigt organisierte Ausstellungsprojekt »Emigrés français en Allemagne. Emigrés allemands en France. 1 6 8 5 - 1 9 4 5 « aus dem Jahre 1983 gelten. Hinsichtlich des Verhältnisses von »innerer« und »äußerer« Emigration hat sich die Forschung bisher mit prinzipiellen Feststellungen begnügt, die die Abkehr von avantgardistisch-experimentellen und die Hinwendung zu konventionellen literarischen Formen (Sonett, historischer Roman) betreffen. Differenzierte Forschungen beispielsweise zur Funktion von Tagebüchern nicht-emigrierter Journalistinnen sowie zur »verdeckten« Schreibweise sind dringend erforderlich. Vgl. dazu die einschlägigen Aufsätze in Bd. 12 des Jahrbuchs für Exilforschung. — 2 7 Veza Canetti: Die Gelbe Straße (mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel). München, Wien 1989, S. 5- — 2 8 Vgl. Ulrike Edschmid: Diesseits des Schreibtischs. Lebensgeschichten von Frauen schreibender Männer. Frankfurt/M. 1990. Dies.: Verletzte Grenzen. Zwei Frauen — zwei Lebensçeschichten. München 1992. Gerda Marko: Schreibende Paare. Liebe, Freundschaft, Konkurrenz. Zürich, Düsseldorf 1995. — 2 9 Veza Canetti: Der Oger. München, Wien 1 990. Nachwort, S. 99. — 3 0 Zum literarischen Werk Veza Canctris sei neben dem sehr instruktiven Nachwort von Helmut Göbel zu Die Gelbe Straße (Anm. 27) verwiesen auf Elfriede Czurda: »Veza Canetti: Zwischen Dichtung und Wahrheit«. In: Manuskripte 32, 1992, H. 117, S. 1 1 4 - 1 2 0 ; Dagmar C. Lorenz: »Women's concerns, women's populär drama? Veza Canetti and Marie Luise Fleißer«. In: Modern Austrian LiteraturelG, 1993, Nr. 3/4, S. 115 - 128. Andreas Erb: »Die Zurichtung des Körpers in der Großstadt Wien. Veza Canettis Roman >Die Gelbe Straße««. In: Der Deutschunterricht 47, 1 995, 5, S. 5 5 - 6 8 . — 31 Für diesen Kontext fraglos relevant: Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982; Ulrich Beck/F.lisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt/M. 1990; sowie in einigen Passagen: Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt/M. 1993. — 3 2 Ernest Bornemann: »Vom freiwilligen Exil«. In: Bernd Engelmann (Hg.): Literatur des Exils. Eine P.E.N.-Dokumentation. München 1981, S. 54. — 3 3 Vgl. Anm. 3, hier S. 58, S . 6 3 . — 3 4 Anna Seghers: Transit. Darmstadt 1988, S. 3 2 9 . - 3 5 Ebd., S. 133. — 3 6 Vgl. u.a. J. Peter Strelka: »Was ist Exilliteratur? Zur Begriffsbestimmung der deutschen Exilliteratur seit 1933«. In: Exil(Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse) 1 , 1 9 8 1 , S . 5 - 1 5; Guy Stern: »Exilliteratur. Unterkategorie oder Fehlbezeichnung?« In: Wulf Koepke/Michael Winkler (Hg.): Exilliteratur 1933-1945. Darmstadt 1989, S. 4 4 - 6 1 ; Hans-Albert Walter: »Deutsche Literatur im Exil. Ein Modellfall für die Zusammenhänge von Literatur und Politik«. In: MerkurYXSI, 1971, H. 1, S. 7 7 - 8 4 . — 3 7 Zu Leben und Werk Anna Gmeyners vgl. Heike Klapdor-Kops: »>Und was die Verfasserin betrifft, laßt uns weitersehen.< Die Rekonstruktion der schriftstellerischen Laufbahn Anna Gmeyners«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 3. 1985, S. 3 1 3 - 3 3 8 . Dies.: »Anna G m e y n e r - E i n e Heimkehr, die noch stattzufinden hat?«. In: Johann Holzner/Sigurd Paul Scheichl/Wolfgang Wiesmüller (Hg.): Eine schwierige Heimkehr. Osterreichische Literatur im Exil 1938-1945Innsbruck 1991, S. 2 7 3 - 2 8 3 . Zu Ansätzen einer Poesie und Poetik des Alltäglichen im schriftstellerischen Werk von Frauen im Exil vgl. außerdem: Irmela von der Lühe: »Gegen den Alltag — Erzählungen aus dem Alltag. F^rika Manns >The Lights go down< (1940)«. In: Helmut F. Pfanner (Hg.): Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten. Eine literarische Antwort. Bonn 1991, S. 1 5 9 - 1 6 8 ; Eva-Maria Siegel: Jugend, Frauen, Drittes Reich (Anm. 24), sowie Sabina Becker: »Zwischen Akkulturation und Enkulturation. Anmerkungen zu einem vernachlässigten Autorinnentypus: Jenny Aloni und Ilse Losa«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 13. 1995, S. 1 1 4 - 136. — 3 8 Vgl. in diesem Zusammenhang neuerdings Sibylle Quack: Zuflucht Amerika. Z,ur Sozialgeschichte der

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Emigration deutsch-jüdischer Frauen in die USA. Bonn 1995. — 39 Therese Giehse: »/cA hab' nichts zum Sagen«. Gespräche mit Monika Sperr. Gütersloh 1973; vgl. außerdem schon wegen der Titelgebung: Martha Feuchtwanger: Nur eine Frau. München 1983; Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren. Frankfurt/M. 1974. Häufig entstehen Autobiographien von Frauen im Blick auf Kinder und Enkel, legimitieren sich also primär durch den familiären Kontext und weniger durch die Absicht, einer »Öffentlichkeit« die eigenen Erlebnisse weiterzugeben. Vgl. z. B. Ingrid Warburg-Spinelli: »Die Dringlichkeit des Mitleids und die Einsamkeit, nein zu sagen.» Erinnerungen 1910—1989. Hamburg 1990. Zur Problematik weiblicher Autobiographien im Exil außerdem: Gabriele Mittag: »Erinnern, Schreiben, Uberliefern. Über autobiographisches Schreiben deutscher und deutsch-jüdischer Frauen«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 11. 1993, S. 5 3 - 6 7 . — 4 0 Claudia Honegger/Bettina Heinz (Hg.): Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen. Frankfurt/M. 1981. Zur Problematik einschlägig und instruktiv: Michaela Holdenried: »>Ich, die schlechteste von allen.< Z u m Zusammenhang von Rechtfertigung, Schuldbekenntnis und Subversion in autobiographischen Werken von Frauen«. In: Dies. (Hg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Berlin 1995, S. 4 0 2 - 4 2 0 .

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»Das erste Gesetz, das ich mir von der ersten deutschen Nachkriegsregierung erhofft hatte, wäre das lebenslange Verbot der Teilnahme ehemaliger N S D AP-Mitglieder an den Organen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gewesen. Da kein solches Gesetz je erlassen worden ist, war der moralische Verfall der Bundesrepublik voraussagbar.« Der Kulturpsychologe Ernest Bornemann 1 , der als Achtzehnjähriger aus Berlin »ins freiwillig gewählte Exil« nach England gegangen war, formulierte seine Enttäuschung über die Nachkriegsepoche. Trotz der nationalsozialistischen Erfahrungen habe die Bevölkerung für Erneuerungen wenig Elan aufgebracht. Wohingegen ein Großteil des Exils und des Widerstandes 2 als einzig anständigen Ausweg aus der Schande eine gründliche Reinigungskrise erwartet hatte 3 . Andere Remigranten, unter ihnen der Hannoveraner Sozialpädagoge Willy Strzelewicz 4 , sahen das weniger dramatisch. Verglichen mit jenen Ressentiments, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg die Politik verwüstet hätten, könne von Restauration beziehungsweise Fehlmodernisierung keine Rede sein, vielmehr sei die Wiedereinrichtung der Demokratie eher manierlich verlaufen. Auch sie stimm(t)en freilich der Kritik in dem Punkt zu, daß die S t u n de Null< in vieler Hinsicht vertan wurde. Die Deutschen hatten, trotz aller Unbilden, die die Schlußapotheose des Dritten Reiches begleiteten, auf Kontinuität gesetzt. Die Energien der Bevölkerung kanalisierten sich, wie nach 1990, wirtschafts-, nicht moralpolitisch. Die damit einhergehende Verdrängung, ganz ohne contritio cordis, ist jedoch ein bedenklicher Ausweg gewesen, weil fehlende Erfahrungsaufbereitung nach Sigmund Freud späteren Neurosen den Weg bahnen kann. 5 »Nach dem ersten Rausch des Wiederaufbaus, nach der großen Flucht in das Vergessen des Furchtbaren«, beobachtete Walter Muschg 6 , »gibt es Zeichen dafür, daß man zu erkennen beginnt, wie gefährlich es ist, im Leeren zu hängen«. Im Gegensatz zur üblichen Schönfärberei 7 , wonach schöpferische Defizite durch den braunen Einbruch nun nicht mehr bestünden, bemängelte man die »Verschüttung einer geistigen Generation« (Muschg) und litt unter der Verstocktheit des intellektuellen Klimas, das erst durch die Studentenbewegung 8 aufgelockert wurde. Auch an den Universitäten dominierten die Durchschnittsbürger. Überall im bundesdeutschen Wissen-

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schaftsbetrieb wurde die Behandlung des Dritten Reiches geflissentlich ausgespart. In der Soziologie etwa, die sich der B e o b a c h t u n g der Gesellschaft verpflichtet hat, versäumte man eine Ursachenforschung schon in den Jahren der Weimarer Republik, um die rechtsradikalen Trends in der Bevölkerung zu ergründen 9 , und nach der Befreiung vom Denkzwang, um die Rolle des eigenen Faches im Totalitarismus zu ermitteln. 1 0 I m Nachkriegsdeutschland n a h m man zudem von der Exilsoziologie lange Zeit keine Notiz. 1 1 D e r im Ausland fortentwickelte T h e m e n - und M e t h o denhorizont hiesiger Fachtraditionen fiel somit dem doppelten Bruch von 1 9 3 3 / 1 9 4 5 zum O p f e r und wurde zum Teil später als westliches Neuprodukt (re)importiert. D i e Soziologie ignorierte insgesamt gesehen das Exilp h ä n o m e n . J e n e seinerzeit vorherrschenden Richtungen der Z u n f t in - Frankfurt am M a i n ( T h e o d o r W. A d o r n o / M a x Horkheimer), - Köln (René König), - H a m b u r g ( H e l m u t Schelsky) und - M ü n s t e r / D o r t m u n d ( W i l h e l m B r e p o h l / G u n t h e r Ipsen) zeigten an einer kritischen Aufarbeitung der Vertreibung beziehungsweise an einer kreativen Einbeziehung der Fachfortentwicklung im Exil als Selbstmodernisierung der Disziplin wenig Interesse, wenngleich aus sehr unterschiedlichen G r ü n d e n . 1 2 D a ß sogar die Remigration dieses Feld mied, ist ein Ausdruck von Einschüchterung, denn das G e s a m t t h e m a des Exils war gesellschaftsmental tabuiert. Aus diesem G r u n d sind unzählige Autoren und wichtige W e r k e der sozialwissenschaftlichen Emigration unbekannt geblieben. 1 3 Evelyn Anderson sei hier ebenso genannt wie Reinhold Aris, Paul Roubiczek, Charlotte Luetkens oder auch Frieda Wunderlich, Fritz Pappenheim und/oder ..., die Liste ließe sich seitenlang fortsetzen. M ö g e n viele Exilleistungen oft m i t jahrzehntelanger Verzögerung übersetzt worden sein, die nachhaltige Aktualität der Exilsoziologie mit ihrem zivilgesellschaftlichen H u m a n i s m u s und zeitdiagnostischen Antipositivismus 1 4 jedoch wird nach wie vor verkannt. Folglich sind etwa Fakten (Wanderung, Produktivität, Engagement), Qualitätsraster (Forschungs-, D e n k - und Lehrgestalt) und Formverwandlungen (kulturelle Symbiosen) kaum in Umrissen greifbar, um die Exilsoziologie als kulturelle Leistung historiographisch beziehungsweise innovationstechnisch verorten zu können. Zwar hat nicht allein die Soziologie den Faden ihrer Tradition verloren. In anderen Fächern sieht es zum Teil noch schlechter aus. I m m e r h i n wurde die Karriere der Soziologie ausdrücklich begründet nicht nur mit der Fähigkeit zur sozialen Anamnese und gesellschaftspolitischen T h e r a p i e 1 5 , sondern auch zur historischen Orientierung.

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Soziologie des Exils Der Sozialwissenschaftler Ernst Grünfeld 1 6 , bis z u m Wendejahr 1933 Ordinarius in Halle, wollte die >Aussonderung< z u m eigentlichen Problem/Thema des Exils ernannt wissen. Doch Klaus M a n n 1 7 setzt in seinem »Roman unter Emigranten« einen anderen Schwerpunkt. »Ich glaube kaum«, erklärt in diesem Buch ein geflüchteter Soziologe, »daß es jemals eine so uneinheitliche Emigration gegeben hat wie die unsere«. Im Gegensatz zu anderen Fluchtbewegungen sei keine soziale oder kulturelle Identität auszumachen. Selbst das Ausgestoßensein und die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus überdeckten k a u m die allfällige Diversifizierung. Diese Uneinheitlichkeit bewirkte, d a ß die Solidarisierungsmuster der Emigration politisch wie ideologisch nicht zu vereinheitlichen waren. Aus Gestapo-Sicht »kochten die Exilierten zwar im gleichen Topf« (Feuchtwanger), aber der gemeinsame Feind überbrückte die Unvereinbarkeiten keineswegs. Nicht nur bezogen auf >die deutsche Frage< verhielten sich jene zwanzig- bis dreißigtausend politischen »Gesinnungsemigranten« (Kühner-Wolfskehl) ganz anders als der etwas herablassend mit »Wirtschaftsemigration« betitelte Massenexodus der unpolitischen, wiewohl durch den Rassenwahn existentiell bedrohten jüdischen Mitbürger. Die begriffliche Scheidung in Vertriebene und Flüchtlinge betont diese Unterschiedlichkeiten. Die Masse der Zwangsvertriebenen verlor mit der Assimilierung in der neuen Umwelt nicht nur das Interesse an den alten politischen Fragestellungen, sondern auch an einer Rückkehr. Gleichwohl ist in diesem besonderen Fall der W a n d e r u n g s a n l a ß nachrangig, selbst wenn er für die Forschung großes Gewicht hat. Für das Verlassen des Braunen Reiches, nicht freilich für das Verhalten im Exil, war es letztlich irrelevant, ob man floh, weil die Machthaber ein Denkverbot erteilten oder weil sie das Leben bedrohten. Die geistige Enthauptung vollzog sich nach 1933 auf vielerlei Weise. » T h e titans of German scholarship« gingen ins Exil 18 , da alle Strömungen vernichtet wurden, die d e m modernistischen, aber gegenaufklärerischen R e g i m e mißfielen. Zwar hatten manche Flüchtlinge, um von den Vertriebenen ganz zu schweigen, dem hausgemachten Irrationalismus nahegestanden. Doch bereitete »the uprooting« durch das Exilerlebnis 1 9 allen Flirts mit d e m Völkischen ein Ende. Es wurde eben noch heißer gegessen als gekocht. Eine intellektuelle Verarbeitung dieser Erfahrung war im Reich nicht möglich. »Was wir tun, ist d e m Schutz u n d der Bewahrung der deutschen Sprache und der deutschen Kultur gewidmet«, so beschrieb Joseph Maier 2 0 als Mitarbeiter des in die U S A geflüchteten Instituts für Sozialforschung die Aufgabenstellung des sozialwissenschaftlichen Exils, »und zweitens dem Sturz des Nationalsozialismus, ist drittens ein Beitrag zu einer besser geordneten Welt«.

Exil d e r S o z i o l o g i e / S o z i o l o g i e des Exils

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D i e deutsche Soziologie war vor 1 9 3 3 keineswegs durch ihren Praxisbezug aufgefallen 2 1 , eher schon durch die Abgehobenheit ihrer T h e m e n und Diskurse. Nach dem U m b r u c h bestand das Fach zwar im Reich weiter, aber eben als Disziplin m i t Dienstmagdaufgaben. Sozialwissenschaftliches Potential war weiter vorhanden; es wurde jedoch für die Belange des Gewaltstaates zurechtgestutzt und derart entmündigt, daß laut E m i l Lederer 2 2 wesentliche Bedingungen seiner Entfaltung fehlten. D i e im Reich verbleibende Auftragssoziologie sollte, wie die Soziologie im Sowjetismus 2 3 , ein Krisenmanagement durch Krisenunterdrückung, nicht aber durch Ursachenklärung und Melioration leisten. 2 4 Entsprechend haben die >Tausend Jahre< kein Werk der Soziologie von Rang hinterlassen. D e r Geist ist nur als >Wühlerintellectual impact< zum Beispiel mitnichten darauf aufmerksam, dem Totalitarismus rechtzeitig zu trotzen. Nicht zuletzt diese Gleichgültigkeit war der G r u n d dafür, daß laut Heinz Abosch 34 das Exil wie eine Krankheit wirkte, »die zur Quarantäne der davon Befallenen führte« 35 . Gleichwohl wollten viele Flüchtlinge »die Konfrontation des Spekulativen mit einer sehr ausgebildeten Verantwortung gegenüber dem, was der Fall ist«, als Exilerfahrung nicht missen. 36 Weil die »Flucht den Horizont erweitert« (Kerr), ist dieser »Emigrationsgewinn« (Gustav Mayer) wissenschaftsgeschichtlich als Positivum zu werten. Das gilt nicht nur im Vergleich zur Erlebniswelt im Dritten Reich; vielmehr löste die neue Umgebung das sozialwissenschaftliche Exil aus Argumentationsmustern, mit denen sich selbst die »Modernisten« (Ringer) hierzulande vorher ernsthaft herumzuschlagen hatten, obschon ihnen laut René König nur hätte mit Ironie begegnet werden dürfen. 3 7 Der erzwungene Szenenwechsel, betrachtet vor der Kulisse der Erstickung aller aufgeklärten Denkstile als »Asphaltliteratur« (Goebbels) im Nationalsozialismus, diese Ausgangslage nötigte zu einer grundlegenden Neubewertung der eigenen Arbeit. Die historischen, idealistischen, gefolg- und genossenschaftlichen Verstiegenheiten der Deutschtümelei traten in den Hintergrund, man konnte sich a u f b r e n n e n d e Fragen der Moderne konzentrieren. Diese Umorientierung erlaubte es, von einer deutschen Exilsoziologie zu sprechen, die sich nicht nur von dem unterschied, was derweil zu H a u se getrieben wurde, sondern die über erreichte Bestände der Weimarer Zeit hinausgegangen ist. Während in Deutschland die Schreibtische leer blieben, weil die Knechtschaft höchst real war und auf G e m ü t u n d Intellekt abfärbte 3 8 , fand im Exil eine Umakzentuierung des Faches statt, fraglos gefördert durch die modernitätsproblematisierenden Erfahrungen der Kollektivbiographie sowie die gleich in mehrfacher Hinsicht gegebene Außenseiterlage. Z u d e m sah sich die traditionelle Geisteswissenschaft amalgamiert mit angelsächsischer Pragmatik, was einen fruchtbaren Methodenmix ebenso beförderte wie die größere Weltnähe der Sozialwissenschaften. Viele Exilthemen waren vor 1933 bereits angeklungen, wenn auch oft eher subkutan. Erst der Ortswechsel machte jedoch durch den Wegfall landständiger Deutungskonkurrenzen und durch neue Einflüsse einer offenen Gesellschaft eine tiefergehende Verwestlichung der soziologischen Fragestellungen möglich, die ältere Weltanschauungskonflikte wie Geist versus Intellekt, Zivilisation contra Kultur, objektiver Geist gegen Autonomie oder Gemeinschaft vor Gesellschaft als obsolet erscheinen ließ. 39

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Nicht nur die Soziologie, allgemein die Kulturwissenschaften definierten ihre Rolle im Exil neu. Die Soziologie verstand sich als Gegengewicht zur Macht und sollte vor allem als Aufklärungsarbeit betrieben werden. 40 Ganz in diesem Sinne betonte das Geleitwort der Zeitschrift für Freie Deutsche Forschung{Nr. 1 / Paris 1938), daß wenigstens die Gesellschaftswissenschaft nur in unabhängiger Form kritisch und damit sozial wirksam sein kann. Ein Forschungsbetrieb hingegen, der totalitäre Auflagen hat, drohe nicht nur zu veröden, sondern werde beizeiten durch politische Vorgaben mitschuldig.

Exilsoziologie »Die Infrastruktur einer selbstkritischen deutschen Kultur« fiel den Braunjahren zum Opfer. 41 Ihr Rückimport war mit »dem Fluch des Forcierten geschlagen« und blieb daher »auf akademische Reservate beschränkt«. Auch das ist optimistisch formuliert, selbst in intellektuellen Kreisen blieb das Exil als Problem und Inspiration lange, allzu lange draußen vor der Tür. In den achtziger Jahren erwachte immerhin einige fachgeschichtliche Neugierde für das Exil. Die Exilsoziologie mit ihrer Distanz gegenüber einer »höhnischen Normalität« (Adorno) wäre noch immer ein Gewinn für die Zunft gewesen; sie wurde aber nicht aus dem Exil befreit, auch nicht von der Studentenbewegung, deren Literaturaneignung sich auf Zufallstreffer beschränkte, die ihr in den ideologischen Kram paßten. Unter Rückgriff auf »große Bücher des Soziologie-Exils« hat Rainer Lepsius42 statt dessen später ihr Leistungsvolumen zu bestimmen versucht. Reichen 25 Titel dazu wirklich aus? Werke von Ernst Bramsted, Joseph Dunner, Friedrich Hertz, Paul Honigsheim, Erich von Kahler, Hermann Kantorowicz, Leo Kofier, Siegfried Marek, Willy Strzelewicz, Adolf Sturmthal, Stefan Szende und anderen mehr fehlen, weniger ausschlaggebende Schriften werden aufgeführt. Da transbiographische, also systematisch-analytische Vorarbeiten zur Soziologie in der Fremde fehlen, läßt sich ein derartiges Werkverzeichnis zudem bis heute nicht um die Sozial-, Lehr- beziehungsweise Ideengestalt der Exilsoziologie ergänzen. Immerhin wird erkenntlich, daß die braune Barbarei der Exilsoziologie gleichsam im Gegenzug eine gründliche Humanisierung ihrer Erkenntnistheorie, Demokratisierung ihrer Organisationsformen und Modernisierung der Forschungsmodalitäten vermittelte, mithin jene »Urbanisierung«, von der René König gesprochen hat. Im Exil schien es entgegen dem akademischen Spielverhalten, das man zuhause gepflegt hatte, nicht länger erträglich, Aufregungen im Affekt zu suchen, nachdem geschichtsevident war, was im demokratischen Massenbetrieb daraus werden konnte. Gesinnungstugenden entscheiden zwar nicht über die Breitenwirkung von Theorien, gleichwohl

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läßt sich die Qualität dieser Exilsoziologie exemplarisch an einigen Themenfeldern in Erinnerung rufen. - So erreichte die Faschismusdebatte mit den Analysen von Peter Drucker, Ernst Fraenkel, Emil Lederer, Franz Neumann oder Friedrich Pollock frühzeitig ein Niveau, das die Dynamik jener »mengenhaften Bewußtseinstrübung« (Kurt Baschwitz) als Krisenverarbeitung aufzuhellen verstand. - Als Beitrag zur politischen Pädagogik wurde das Konzept einer freiheitlichen Sozialisation entworfen, wie es Arbeiten von Adorno und Mitarbeitern, Karen Horney oder auch Karl Mannheim in London beweisen. Untersuchungen zur Identitätsstiftung in der neuzeitlichen Komplexumwelt schaffen mit der Kategorie der >Ambiguitätstoleranz< eine Verarbeitungsqualität der wachsenden Unübersichtlichkeit der Sozialverläufe. - In Form des politischen Realismus< gewann die politische Soziologie etwa mit den Arbeiten von J. H. Herz, H. J. Morgenthau oder Arnold Wolfers ein nüchternes, gleichwohl nicht sozialbiologisch eingefärbtes Analyseniveau, das besonders eindrucksvoll die exil-sozialtheoretische Verschmelzung von deutschen Traditionen (Realpolitik) mit angelsächsischen Modernitätsimpulsen (Kommunikationsgesellschaft) demonstriert. 41 - Auch die Kultursoziologie erhält bei Norbert Elias, Erich Fromm, Max Horkheimer, Helmuth Plessner, Karl Polanyi, Eric Voegelin und anderen eine analytische Ausfertigung, die ihren zeitdiagnostischen Wert begründet. - Eine Demokratietheorie, wie sie sich aus den Arbeiten Karl Poppers, Joseph A. Schumpeters oder bei Willy Strzelewicz ergibt, rechtfertigt dieses politische Handlungskonzept als angemessene Grundlage der Konfliktaustragung unter industriewirtschaftlichen Bedingungen. - Hannah Arendt und Friedrich von Hayek, aber auch Ludwig von Mises oder Alexander Rüstow definieren den Totalitarismus als janusköpfige Erscheinungsform einer Moderne, die als Massengesellschaft in vielerlei Hinsicht zur Uberforderung ihrer Mitwelt geführt hat. - Ohne Rücksichtnahme auf pseudo-gemeinschaftliche Überständigkeiten konnte von Karl Landauer, Adolf Löwe oder Wilhelm Röpke der wirtschaftssoziologische Durchbruch zu einer Theorie der Marktvergesellschaftung entworfen werden, womit endlich eine den Steuerungsproblemen des Industrialismus entsprechende Diskussionsebene erreicht wurde. Die Liste der Arbeitsfelder ließe sich fast beliebig ausweiten. Hinweise auf die Soziologie der Massen, Kunst- und Literatursoziologie, Militärsoziologie, Sozialstatistik, die Soziologie des Films, Medizinsoziologie oder Kriminologie wären am Platz. Bei aller regionalen, theoretischen und ideologischen Zersplitterung des sozialwissenschaftlichen Exils bleibt aber ein gemeinsames Ziel. Der New Yorker Soziologe Albert Salomon, bis 1933 Professor in Köln, hat es einer Sammlung seiner Aufsätze (Cleveland/New York 1963) als Titel vorangestellt: In Praise of Enlightenment.

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Nachwirkungen Wer konnte nach Deutschland zurückkehren, fragte Theodor W. Adorno am 20. September 1960 in einem Interview mit Radio Bremen, »wenn er nicht die Verpflichtung... mitbrächte, was immer in seiner Kraft steht dazu zu tun, daß dieses Unsägliche sich unter gar keinen Umständen jemals wiederholen darf.« Mit diesem Vorsatz mögen die wenigen Sozialwissenschaftler heimgekehrt sein. Das Exil stand »für individuelle Autonomie, die Idee der Aufklärung, endlich auch für eine Wissenschaft, die sich aller Scheuklappen entledigt hat« 44 . Die Rückwanderer kamen jedoch spät, bis auf wenige Ausnahmen kamen sie erst lange nach 1950, als die Würfel gefallen waren.4,5 Auch die Soziologie wurde nach 1945 ohne das Exil wiederbegründet. Auf den ersten Nachkriegs-Soziologentagen in Frankfurt am Main (1946), Worms (1948) und Detmold (1950) trat nicht nur die soziologische Elite des Dritten Reiches auf, ohne ein Wort der Reue, sondern es fehlten bis auf Benedikt Kautsky und Herbert Sultan auf diesen Veranstaltungen alle Exilanten. So konnte die sozialwissenschaftliche Remigration in den Anfangsjahren der Bundesrepublik weder eine intellektuelle Druckgruppe bilden noch in meßbarem Umfang den soziologischen main stream beeinflussen, und schon gar nicht die vielerlei Lernprozesse der Disziplin im Exil vermitteln. Die Vernachlässigung ging so weit, daß die Exilerfahrungen von den Remigranten selbst am Ende für unwesentlich erachtet wurden. Fehl(t)en in den Fachlexika bei den Personalangaben der Hiergebliebenen zumeist alle Hinweise auf das Dritte Reich, so spielt auch das Exil kaum eine Rolle. Diese Konturlosigkeit des Exils, das eigentlich nur in Gestalt der erst spät als »Casa Marx« zu Ansehen gelangten »Frankfurter Schule« greifbar war, kann der Blick in einige Fachpublikationen der frühen Nachkriegszeit erweisen. 1. Im Jahr 1948 erschien eine Festschrift für Alfred Weber, den achtzigjährigen Heidelberger Soziologen (Synopsis, Verlag Lambert Schneider), der zwar nicht emigriert war, aber gleichwohl als Gegner des Nationalsozialismus 1933 auf eigenen Wunsch emeritierte. Unter den 2 6 Mitarbeitern, zur Hälfte Exilautoren, finden sich auch Autoren wie Ernst Wilhelm Eschmann, begeisterter Fürsprecher einer braunen Soziologie: für keinen der Mitarbeiter ein Anlaß, Vorbehalte anzumelden. 2. Das gleiche Bild in einer Festschrift zum 80. Geburtstag von Alfred Vierkandt, übrigens ein Jubilar, dessen Schriften keineswegs zu allen Zeiten von seinem aufgeklärten Geist zeugten. Auch hier (Gegenwartsprobleme der Soziologie, Athenaion Verlag, Potsdam 1949) finden sich neben Exilvertretern wie Alfred Meusel oder Theodor Geiger durchaus weltanschaulich problematische Verfasser wie Erich Rothacker oder Richard Thurnwald. 3. Die Festschrift für Leopold von Wiese (Soziologische Forschung in unserer Zeit, Hg. K. G. Specht, Westdeutscher Verlag, Köln, Opladen 1951)

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macht keine Ausnahme: Neben vielen Remigranten schreibt ein Nazi-Apologet wie Carl August Emge. Auch Wilhelm Mühlmann, Wilhelm Brepohl und andere Verfasser wurden beteiligt, die eine einschlägige Vergangenheit hatten. 4. René König zitiert nicht nur zustimmend Hans Lorenz Stoltenberg oder den >Rassen-Günther< als ernstzunehmende Quellen, sondern beteiligt sich an dem ersten, von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky herausgegebenen Nachkriegslehrbuch (Soziologie, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf, Köln 1955), an dem auch Autoren wie Karl Heinz Pfeffer, Gerhard Mackenroth oder Elisabeth Pfeil mitschrieben. Die Nachkriegsära war dem Exil in keiner Hinsicht wohlgesonnen. So unterblieb der etwa von Max Horkheimer geforderte Kehraus an den Universitäten. Im Fach Soziologie machten Mitläufer wie Friedrich Bülow, Hans Freyer, Hans Linde, W. E. Mühlmann, K.V. Müller, Ludwig Neundörfer, Ilse Schwidetzky e tutti quanti nach dem Krieg wieder/weiter Karriere. Da die »geistige Umorientierung« (Alfred Weber) in Wissenschaft und Kultur ausblieb, wirkte die Exilsoziologie zudem wie eine störende Erinnerung und war als kulturpolitische Alternative nicht in die Traditionspflege zu integrieren. Entsprechend mokierte Alfred Vierkandt 46 sich darüber, daß man »den Abstand der damaligen Ausnahmeverhältnisse von den durchschnittlichen Verhältnissen überschätzt«.

Fazit »Es hat mit Denkfehlern begonnen«, so der Publizist Franz Albert Kraemer 47 in einem »geschichtlichen Aufruf zur Selbstbesinnung«, »es kann dementsprechend nur durch richtiges Denken überwunden werden«. Als Einzelstimme reklamierte der Remigrant Richard F. Behrendt noch in seinem Buch Der Mensch im Licht der Soziologie (Stuttgart 1962) dieses Umdenken für sein Fach. Ein utopisches Unterfangen, meinte doch König 48 fast zwanzig Jahre später etwas Neues mit der Absicht zu formulieren, die Soziologie könne /solle vielleicht die zeitgenössischen Verblendungszusammenhänge durchleuchten. Am 10. August 1948 unterstrich Theodor Litt auf dem 9. Soziologentag in Worms, daß jede Wende zum Besseren mit einem intellektuellen Großreinemachen zu beginnen habe. Der Gelehrte blieb mit seiner Forderung isoliert. Viele Belastete standen bald nach 1945 wieder hinter dem Katheder, lange vor dem fürsorglichen Generalpardon, der den »Opfern der Entnazifizierung« später zuteil wurde. Dieser Personenkreis konnte wenig Interesse haben, in der Vergangenheit herumzurühren. 49 Ihr Einfluß erklärt vielleicht das Zaudern vieler Remigranten, sich bei der Vergangenheitsklärung mit dem

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Kulturklima der Mitwelt anzulegen. 5 0 Nicht Aufarbeitung, sondern »Weißwäscherei« (Jahoda) war gefragt, die Exilsoziologie hingegen wurde, falls überhaupt, als nicht relevant wahrgenommen. 5 1 Schon im September 1946 auf dem ersten Soziologentag nach dem Krieg verwahrte man sich in Frankfurt am Main gegen eine Aufarbeitung der Vergangenheit und läutete die Stunde der Gegenwartsanalyse ein. Sie aber bezog ihre empirische Motivation aus dem »antiideologischen Realitäts- und Orientierungsbedürfnis« nach einer Katastrophe, die auf Realitätsverzerrung und Ideenbetrug zurückzuführen war, so hat Helmut Schelsky in seiner Ortsbestimmung der deutschen Soziologie (1959) rückblickend behauptet. Empirismus ist aber nicht nur etwas anderes als Realismus. Er bleibt auch blind, wenn er ohne »Orientierungswissen« (Scheler) auskommen will, denn wertfreie Sozialforschung ist wertlos. Eine auch nur oberflächliche Rezeption der Exilsoziologie hätte dieses Problem entdeckt. Bereits 1938 wies Theodor Geiger nach, daß ein sozialer Wertekatalog und soziale Erkenntnis, auch mittels Empirie, aufeinander angewiesen sind. Und Adorno bemerkte später: »Denken ist nicht die geistige Reproduktion dessen, was ohnehin ist.« 52 Empirie/Methodologie, die nichts sein will als Empirie/Methodologie, gerät leicht zur »geistigen Abbiendung« (Horkheimer). Empirie als Ersatz für geschichtlich-ideologische Klärungen erwies sich als ein erfolgreiches Mittel, um den inhaltlichen Leerlauf der Wissenschaft in totalitären Zeiten zu überspielen.

1 »Erfahrungsberichte deutscher Emigranten«. In: Bernt Engelmann (Hg.): Literatur des Exils. Eine Tagung des P.E.N.-Clubs 1980 in Bremen. München 1981, S. 49 ff., hier S. 59. Wie unwahrscheinlich die Erfüllung solcher Forderungen war, das erweisen gegenwärtig die Probleme der Stasi-Hinterlassenschaft; vgl. Christa Hoffmann: Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989. Bonn, Berlin 1992, S. 205 ff. — 2 Dazu Georg K. Glaser: Geheimnis und Gewalt. Ein Bericht. Stuttgart 1953. — 3 Gustav Stolper: Die deutsche Wirklichkeit, Hamburg 1949, S. 76 f., erläutert immerhin, wieso es dazu nicht kommen konnte, ganz abgesehen davon, ob der politische Wille vorhanden gewesen wäre. — 4 Interview über das Exil vom 12. Januar 1982 in Hannover, Archiv des Verfassers. — 5 Dazu ist es nicht gekommen, gleichwohl hat jene »zweite Schuld« (Giordano) der mangelhaften Aufarbeitung eine Moralisierung der Braunjahre quasi als Ersatzverarbeitung durch die nachwachsenden Generationen befördert, die mit zunehmendem Zeitabstand als Abkehr von der Gegenwart durchaus zum Problem werden könnte. Siehe Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein. Hamburg 1987; Ian Buruma: Erbschaft der Schuld. München 1994. Vgl. Sven Papcke: »Auf der Habenseite«. In: Perspektiven DS, Nr. 2 (1995), S. 144 ff. — 6 Die Zerstörung der deutschen Literatur. München o. J., S. 11 f. — 7 In einer der ersten Kulturbilanzen nach Kriegsende: Joachim Moras/Hans Paeschke (Hg.): Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen. Stuttgart 1954. — 8 Vgl. dazu Christian Graf Krockow: Von deut-

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sehen Mythen. Stuttgart 1995. — 9 Vgl. S. P. Turner/Dirk Käsler (Hg.): Sociology Respondto Fascism. London, New York 1992, S. 88 ff. — 10 Erst vierzehn Jahre nach Kriegsende fand sich in einem Fachblatt ein erster Uberblicksartikel, wer alles im Dritten Reich geistige Vorspanndienste geleistet hatte. Insgesamt erschienen bis 1979 in den einschlägigen Zeitschriften fünf Analysen zu Problemendes Faschismus. Vgl. Rainer Middendorf: Das Thema Nationalsozialismus in soziologischen Zeitschriften und den Protokollen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie von 1946 bis 1983. Examensarbeit, Münster 1985. — 11 Sieht man von dem, wenngleich heuristisch keineswegs unwichtigen, Genre der Gedenk-/ Erinnerungsartikel ab, die jedoch Eindrücke dokumentieren, nicht Analyse/Systematik intendieren. — 12 Während die »Frankfurtisten« (Brecht) an einer Normalisierung ihres Renommees interessiert waren, hielt König die landständigen Fachtraditionen grundsätzlich für obsolet. Schelsky als Belasteter hingegen konnte ebensowenig wie die Vertreter der > Reichssoziologie«, die an der >Sozialforschungsstelle Dortmund« der Universität Münster untergekommen waren, ein Interesse daran haben, daß die problematische Rolle des eigenen Faches in den vergangenen Rauhjahren diskutiert würde, und sei es nur über den Umweg einer Inanspruchnahme der intellektuellen Fortentwicklung der deutschen Soziologie im Kontakt etwa mit den pragmatischen Denkgepflogenheiten der USA. — 13 Weswegen es - sowohl was die Aufbereitung der Daten als auch die Wiederaneignung des sozialwissenschaftlichen Exiloeuvres insgesamt betrifft - wahrlich verfrüht scheint, von einer »zunehmend gesicherten Basis« zu sprechen, die es erlaubte, sich nun einer Soziologie der Exilsoziologie zuzuwenden; vgl. llja Strubar (Hg.): Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945Frankfurt/M. 1988, S. 7. Wer alles wann wohin gegangen ist, woran er im Exil gearbeitet hat, was er wo veröffentlichen konnte, ob (und wenn ja, wie) er politisch tätig war, wann und warum er welche biographische Entscheidung über Wanderungs- bzw. Weiterwanderungswege, Assimilierung oder Rückkehr und ähnliches traf, darüber weiß die Forschung bislang systematisch kaum Bescheid. Und welche Rückwirkungen der erzwungene Milieuwechsel auf die soziologischen Arbeiten im Exil gehabt hat, das bleibt ebenso zu klären wie die wechselseitige Beeinflussung unterschiedlicher Theorieschulen. — 1 4 S. Papcke: »Wo bitte geht es zur Realität? Sozialwissenschaften und Zeitdiagnose«. In: Glaus Leggewic (Hg.): Wozu Politikwissenschaft? Darmstadt 1994, S. 243 ff. Auch Volker Kruse: Historisch-soziologische Zeitdiagnosen. Frankfurt/M. 1994. — 15 Vgl. S. Papcke: »Die Professionalisierung der Soziologie oder über den Verlust an Bodenhaftung«. In: Gabriele Althaus u.a. (Hg.): Uber die Kunst, Experten zu widersprechen. Berlin 1992, S. 167 ff. — 16 Zu Grünfeld vgl. S. Papcke: »Der Soziologe als Außenseiter — Der Außenseiter als Soziologe«. In: Jahrbuch für SoziologieGeschichte 1992. Opladen 1994, S. 171 ff. — 17 Der Vulkan (1939). Reinbek 1981, S. 103 — 18 Anthony Heilbut: Exiled in Paradise. German Refugee Artists and Intellectuals in America ftom the 1930s to the Present. New York 1983, S. 23. — 19 So Walter Laqueur: Vorwort zu Henry Pachter: Weimar Etudes. New York 1982, S. XVI. — 20 In einem Interview über das Exil am 3. Juni 1983 in Frankfurt am Main. — 21 Vgl. S. Papcke: »Weltferne Wissenschaft. Die deutsche Soziologie in der Zwischenkriegszeit«. In: Ders. (Hg.): Ordnung und Theorie. Darmstadt 1986, S. 168 ff. — 2 2 »Ende der Klassengesellschaft? Zur Analyse des Faschismus« (1938/39). In: Jürgen Kocka (Hg.): Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910-1940. Göttingen 1979, S. 238 ff., hier S . 2 4 2 f . — 23 Vgl. Christian Ludz: Mechanismen der Herrschaftssicherung. München 1980. — 24 Sozialanalyse konnte nicht länger Handlungsfaktoren aus der tatsächlichen, sondern durfte diese nurmehr aus der politisch sanktionierten Entwicklungsrichtung ableiten. — 25 Die These jedenfalls, es gebe eine aufklärerische Eigendynamik der wissenschaftlichen Sachbearbeitung, ist schlichter Szientismus. Der Sachverstand allein kann dem Verstand nicht auf die Sprünge helfen. Auf solchen Sachzwang der Komplexität, der sich gegen politische Machtentscheidungen behauptet, hoffte etwa die Konvergenztheorie vergebens. Am Ende war die wirtschaftliche Ineffizienz und mangelnde Motivation, die das System von 1917 kippen ließ. — 26 Zu deren Kriterien vgl. noch immer R. K. Merton: »Science and Democratic Social Structure« (1942). In: Ders.: Social Theory and Social Structure. London 1964, S. 550 ff. — 27 Otthein Rammstedt: Deutsche Soziologie 1933—1945. Die Normalität einer Anpassung.

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Frankfurt/M. 1986. Dieser Boom forderte eine Soziologengeneration, die wiederum die Nachkriegsära beeinflussen sollte. — 28 S. Papcke: »Zur historischen Sozialwissenschaft der Zwischenkriegszeit«. In: Georg Kneer u.a. (Hg.): Soziologie. Zugänge zur Gesellschaft. Münster, Hamburg 1994, S . 8 1 ff. — 2 9 Vgl. stellvertretend sein Wissenschaftsprogramm Gegenwartsaufgaben der Soziologie, Tübingen 1932. Dazu Irma Becerra: Relationale Utopie. Uber das gegenwärtige Dialogpotential der Wissenssoziologie Karl Mannheims in Zeiten der Globalisierung des Antiutopischen. Münster, Hamburg 1996. — 30 René König: »Uber das vermeintliche Ende der deutschen Soziologie vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus«. In: Kölner Zeitschriftfür Soziologie und Sozialpsychologie 36 ( 1 9 8 4 ) , S . 1 ff. Die Soziologie kann daher den anschließenden Kultursturz verdeutlichen, waren doch gut 50 Prozent ihres Bestandes von der Denkverfolgung seit jenem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« betroffen. Entsprechend finden sich auf der ersten >Säuberungsliste< der Universitäten vom 13. April 1933 unter 15 Namen 12 Sozialwissenschaftler. — 31 Das betrifft nicht allein die gesicherte Existenz, sondern auch den politischen Einfluß, der dem Exil im fremdsprachigen Raum genommen wurde. Aber auch die, die Erfolg haben sollten, durchlitten Verfolgung und Not. Fritz Caspari hat vom oft bitteren Kampf um angemessene Beschäftigungen gesprochen, Fritz Neumark vom Heimweh. Vgl. Mathias Greffrath: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Reinbek 1979. — 3 2 S. Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933—1945- Frankfurt/M., New York 1993. — 33 Stuart Hughes: The ObstructedPath. New York 1964, S. 8. — 3 4 »Das unfreiwillige Abenteuer des Exils«, Süddeutsche Zeitung vom 14./15. Juli 1979. — 35 Es wirkt daher überzogen, mit Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland: Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst. Band 1: 1 9 4 3 - 1 9 4 5 , Frankfurt/M. 1982, S. 30 f. aus den Kontakten einiger Sozialwissenschaftler wie etwa Arkadij Gurland, Otto Kirchheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse oder F. L. Neumann zu US-Dienststellen den Einfluß des Exils auf die Politik der Gastländer abzuleiten. Bei Ossip Flechtheim (Interview über das Exil vom 9. Februar 1982 in Berlin, Archiv des Verfassers) oder Henry Jacoby: Davongekommen. 10 Jahre Exil 1936-1946, Frankfurt/M. o.J. (1984), 5. 123 ff. läßt sich demgegenüber erfahren, daß die von Emigration getätigte »Büroermittlung« ohne alle Bedeutung für die politische Praxis der Besatzungsmächte bleiben sollte. Zur Problematik dieser Arbeiten grundsätzlich Petra Marquardt-Bigman: Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942-1949. München 1995. — 36 W i e Adorno es ausdrückte, Auszug des Geistes, Bremen 1962, S. 128. — 37 So Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933. Stuttgart 1983, bes. S. 330 ff. Zu denken ist nicht allein an die Volkstumsphraseologie, heranzuziehen sind allgemein die soziologischen Glasperlenspiele, die die Fachtagungen der Epoche beherrschten. Jener Versachlichungsschub, der sich 1929 ankündigte, konnte sich im Exil nicht nur frei entfalten; der Milieuwechsel läßt sich zudem als »Uberwindung des Provinzialismus« ansehen. Vgl. Paul Tillich: »Mind and Migration.« In: Social Research 4 (1937), S. 295 ff. — 38 Carlo Schmid: Die Forderung des Tages. Stuttgart 1946, S. 129 ff. — 39 Vgl. zu solchen Kontroversen und ihrem Kulturmilieu Dirk Hoeges: Kontroverse am Abgrund. Frankfurt/M. 1994. — 4 0 Entsprechend revidierte Emil Lederer: »Ende der Klassengesellschaft?« In: Jürgen Kocka (Anm. 22), S. 238 ff. in den USA das Konzept der »Werturteilsenthaltsamkeit«, das Max Weber seinem Fach auf den Weg gegeben hat und das in seiner trivialisierten Form oft gegenteilig wirkte. Für Lederer geriet die Freiheit der Wissenschaft selbst zu einem Teil der gesellschaftspolitischen Freiheitsproblematik, die Gelehrtenrepublik konnte nicht länger so tun, als ob sie das politische Geschehen nichts anginge. Diese Position wurde von der Hochschulkonferenz in Marburg vom 12. bis 15. Juli 1946 geteilt; vgl. Kurt Reidemeister: »Über die Freiheit der Wissenschaft«. In: Die Wandlung, 1 (August 1946), S . 7 1 1 ff. — 41 Adolf Muschg: »Arbeit - aufgegeben an uns selbst.« Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. November 1984, S. B 6. — 4 2 »Die Sozialwissenschaftliche Emigration und ihre Folgen.« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 23 /1981, S. 461 ff. — 4 3 Vgl. Christoph Frei: H. J. Morgenthau. Eine intellektuelle Biographie. Bern, Stuttgart, Wien, 2. Auflage 1994. — 44 Max Horkheimer, zit. Heilbut (Anm. 18), S. 333. — 45 Die Rückwanderung in die SBZ

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war ein Alptraum. Mit der Bolschewisierung war eine geistige Diktatur aufgezogen, die auch die Remigration traf. Lange ehe Mitte der fünfziger Jahre alle Parteikader von Leuten >gesäubert< wurden, die sich im westlichen Exil befunden hatten, waren an den Bildungsstätten die eigenständigen Köpfe vertrieben. Das Geschick von Sozialwissenschaftlern wie Henryk Grossmann, Julius Lips oder auch Alfred Meusel, die in die Ostzone zurückkehrten, glich ihren Schicksalen nach 1933: Entweder sie flohen oder sie paßten sich der Geistesversklavung an, die nun freilich die Universitäten ungleich härter in den Griff nahm, als es die Machthaber angesichts der weitgehenden Konformität unter den universitären Mandarinen im Dritten Reich getan hatten. — 4 6 »Die Grundlagen der heutigen Gesellschaftskrise«. In: Wilhelm Bernsdorf/ Gottfried Eisermann (Hg.): Die Einheit der Sozialwissenschaften. Stuttgart 1955, S. 148 ff., hier S. 148. — 4 7 Vor den Ruinen Deutschlands. Konstanz 1945, S. 137. — 4 8 »Gesellschaftliches Bewußtsein und Soziologie«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 21/1979, S. 358 ff. — 4 9 Als erster Soziologe der Nachwuchsgeneration trat Ralf Dahrendorf ausgesprochen fachkritisch auf: »Soziologie und Nationalsozialismus«. In: Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Tübingen 1965, S. 108 ff. — 5 0 Jene »delikateste Frage« nach dem Wiedereindringen zahlloser Nationalsozialisten, von der René König: Leben im Widerspruch. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, S. 189 geredet hat, stellte sich im Alltag eben als gar nicht heikel dar. — 5 1 In der Zunft kam es Anfang der fünfziger Jahre zu einer veritablen Empörung selbst gegen den geringen Einfluß einzelner Emigranten. Gunther Ipsen verlangte einen »Bürgerkrieg in der Soziologie« gegen »Horkheimer und Genossen«; vgl. Johannes Weyer: Westdeutsche Soziologie 1945— I960. Berlin 1984. — 52 Theodor W. Adorno: »Resignation«. In: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt/M. 1971, S. 145 ff., hier S. 150.

WulfKoepke

Anmerkungen zur Kontinuität der Exilliteraturforschung in Nordamerika

Ein Bericht über E x i l f o r s c h u n g k a n n nicht einfach ein F o r s c h u n g s b e r i c h t im ü b l i c h e n S i n n e sein. E x i l f o r s c h u n g o d e r E r f o r s c h u n g der Exilliteratur ist ihrer N a t u r n a c h etwas, was nicht n u r m e h r e r e D i s z i p l i n e n der W i s s e n s c h a f t u m greift, s o n d e r n a u c h die k o n v e n t i o n e l l e Vorstellung v o n » W i s s e n s c h a f t « überschreitet. I m m e r wieder werden S t i m m e n laut, die sagen, m a n m ü s s e die Literatur des Exils in erster Linie als Literatur

ansehen u n d erklären. D o c h

g e r a d e d a n n stellt sich heraus, d a ß diese E r k l ä r u n g o h n e die B e a c h t u n g der Z e i t u m s t ä n d e u n v o l l k o m m e n o d e r s c h i e f ist. D a h e r wird es verständlich, d a ß zu d i e s e m »Spezialgebiet« ein b e s o n d e r e s E n g a g e m e n t gehört, u n d d a ß die W i s s e n s c h a f t e n in dieser F o r s c h u n g m i t einer p a r a d o x e n B e r e c h t i g u n g eine A r t F r e m d k ö r p e r wittern. Es gibt n o c h eine R e i h e anderer Faktoren, die einen solchen B e r i c h t erschweren. E x i l f o r s c h u n g hat m i t G e s c h i c h t e , politischen W i s s e n s c h a f t e n , Literatur, d e n K ü n s t e n u n d der Publizistik zu tun. In d e n U S A gibt es verständlicherweise eine aktive I m m i g r a t i o n s - o d e r E m i g r a t i o n s f o r s c h u n g , die sich z u m Beispiel m i t Fragen der A k k u l t u r a t i o n befaßt; die E r f o r s c h u n g des A n t i s e m i t i s m u s o d e r ü b e r h a u p t d e r j ü d i s c h e n G e s c h i c h t e verläuft g e t r e n n t v o n E x i l f o r s c h u n g , u n d in der G e r m a n i s t i k gibt es die d e u t s c h - a m e r i k a n i schen S t u d i e n , die nicht so recht wissen, wie sie die » D e u t s c h a m e r i k a n e r « v o n 1 9 3 3 integrieren sollen. D i e verschiedenen A n s ä t z e u n d Interessenricht u n g e n ü b e r s c h n e i d e n sich, d o c h Z u s a m m e n a r b e i t oder gar K o o r d i n a t i o n bleibt n a c h wie vor A u s n a h m e u n d G l ü c k s s a c h e . E i n e G e s a m t d a r s t e l l u n g der F o r s c h u n g e n in den U S A , die sich a u f d a s Exil n a c h 1 9 3 3 beziehen, m ü ß te aus einer M e h r z a h l v o n Berichten bestehen. D i e s e r Bericht erhebt keinen A n s p r u c h a u f eine G e s a m t d a r s t e l l u n g u n d k a n n d a h e r längst nicht alle Leistungen und Erkenntnisse würdigen. H i e r soll speziell v o m A n s a t z die R e d e sein, d e n die G e s e l l s c h a f t f ü r Exilf o r s c h u n g vertritt. D a b e i ist zuerst zu b e m e r k e n , d a ß die V e r z a h n u n g der d e u t s c h e n u n d a m e r i k a n i s c h e n Aktivitäten d a s g e s a m t e G e b i e t v o n A n f a n g an beherrscht u n d charakterisiert hat. W e n n viel v o n der F o r s c h u n g in S a m m e l b ä n d e n u n d K o n f e r e n z b e i t r ä g e n d o k u m e n t i e r t ist, so ist n i c h t n u r typisch, d a ß die M e h r z a h l der B ä n d e in D e u t s c h l a n d erschienen s i n d , s o n dern a u c h , d a ß so g u t wie j e d e s m a l a m e r i k a n i s c h e u n d d e u t s c h e K o l l e g e n

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zusammengearbeitet haben, u n d daß englischsprachige und deutschsprachige Beiträge einander abwechseln. Dieses transatlantische Gespräch, dessen Wichtigkeit nicht unterschätzt werden sollte, hat bekannterweise noch eine weitere Dimension, die an dieser Stelle skizziert werden muß. Die Frage ist nämlich: wie »amerikanisch« war und ist die amerikanische Germanistik? Bei der Geschichtswissenschaft erhebt sich diese Frage ebenfalls, wenn auch weit weniger dringlich. In den frühen siebziger Jahren, gerade als die Exilforschung in Bewegung gekommen war, wurde besorgt vor deutscher »Überfremdung« der Germanistik gewarnt. 1 Ein kurzer Blick auf die Geschichte: Vor dem Ersten Weltkrieg war die Germanistik eine echt deutsch-amerikanische Wissenschaft, die voll Stolz die klassische deutsche Kulturtradition verbreitete und sich darauf stützen konnte, daß Deutsch die bei weitem bevorzugte Fremdsprache in Highschools und Colleges war und daß die Kenntnis des deutschen Kanons der Literatur zur Bildung gehörte. An bedenklichen Symptomen fehlte es allerdings nicht; in den Bibliotheken der »deutschen« Orte der USA verstaubten die Klassiker, Deutsch war in Gefahr, die Sprache und Kultur der Vorfahren, der »Alten«, zu werden. Doch die Überlegungen, wie die Germanistik zeitgemäßer werden könnte, wurden gegenstandslos nach dem Donnerschlag von 1917, als mit der Kriegserklärung gegen das deutsche Kaiserreich alles Deutsche verrufen und verhaßt war und sogar in etlichen Staaten der Deutschunterricht verboten wurde. Die Germanistik, die in sehr reduzierter Form überlebte, mußte sich ständig bedroht fühlen und tendierte meist zu einer betont nationalistisch-deutschen Haltung. 2 In ihrer Forschung hielt sie sich gern an die ungefährliche Vergangenheit; doch wenn sie auf die Literatur der Gegenwart einging, so waren die Vorbehalte gegen die »Zivilisationsliteratur« der Moderne deutlich. Das führte nach 1933 dazu, daß in den Zeitschriften im wesentlichen die Autoren vorkamen, die in Deutschland geblieben waren. Erst um 1940 begann die Verehrung T h o m a s Manns. 3 Die Exilgermanisten arbeiteten ebenfalls kaum an Gegenwartsliteratur. 4 Die W e n d u n g nach 1945 kam durch zwei Gruppen. Mit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1941 wurden die schlimmen Folgen der isolationistischen Vernachlässigung des Fremdsprachenunterrichts sichtbar. O h n e die Flüchtlinge aus den von Hitler-Deutschland beherrschten Ländern wäre keine psychologische Kampfführung oder Gefangenenbefragung möglich gewesen. Durch die Notwendigkeit des »Know your enemy« wurde aber auch das Tabu gegen die deutsche Sprache etwas aufgebrochen. Es lohnte sich für heimkehrende GIs deutschsprachiger Herkunft, Germanistik zu studieren. Gewisse Konflikte zwischen der früheren deutsch-amerikanischen Germanistik u n d der Germanistik des Exils blieben eher im Hintergrund. Einen zweiten Impuls gab die Expansion der Fremdsprachen nach dem »SputnikSchock«, also in den sechziger Jahren. Die große Zahl der offenen Stellen

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und Stipendien führte zur Einwanderung einer erheblichen Zahl jüngerer Germanisten und Studenten aus Europa. Natürlich gab es Anfänge einer Exilforschung während des Zweiten Weltkriegs. Exilautoren schrieben über ihre Lage; Klaus und Erika Mann hatten sich bereits 1939 mit Escape to Life an die amerikanische Öffentlichkeit gewandt, um sie aufzuklären, wer da eigentlich ins Land gekommen war. Lion Feuchtwangers Vortrag über den Schriftsteller im Exil von 1943 wurde wiederholt nachgedruckt. F. C. Weiskopfs Anthologie Unter fremden Himmeln war ursprünglich für den Aurora-Verlag in New York gedacht. Und Harold von Hofes Serie »German Literature in Exile« im German Quarterly darf nicht vergessen werden. Peter M. Lindt schrieb 1944 über Rundfunksendungen von Exilautoren in New York.5 Bereits früh fand die akademische/intellektuelle Immigration Aufmerksamkeit, sowohl wegen ihrer Bedeutung als auch wegen ihrer besonderen Akkulturationsprobleme. 6 Dabei wurde die deutsche akademische Immigration durchweg in einem größeren europäischen Rahmen behandelt. Das erste Buch zur Literatur des Exils stammte von William K. Pfeiler, German Literature in Exile. The Concern of the Poets, 1957. 7 Nach einer allgemeinen Einleitung über das literarische Exil ist etwa die Hälfte des Buches der Exillyrik gewidmet, im Stil einer einführenden Übersicht. Der Kalte Krieg und das Vorurteil gegen sozialistische Literatur sind deutlich, doch insgesamt ist das Buch durch eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit gekennzeichnet. Es scheint als erster Band von mehreren gedacht gewesen zu sein; die Einteilung wäre also nach Gattungen erfolgt. Die Exilforschung in den USA ist jedoch im wesentlichen nicht durch Einzelgänger, sondern durch Gruppenarbeiten gekennzeichnet. Das wachsende Interesse kristallisierte sich um 1970 in den ersten Kolloquien und Forschungsprojekten heraus. Die Vorträge des Kolloquiums 1971 in Madison, Wisconsin, erschienen unter dem Titel Exil und innere Emigration (Frankfurt/M. 1972), die des Kolloquiums in Lexington, Kentucky, 1971 führten zum Themenheft der Colloquia Germanica, 1971, Heft 1—2. An die Konferenz in Madison schloß sich eine weitere in St. Louis an, sie erschien als Exil und innere Emigration //(Frankfurt/M. 1973). Diese ersten Diskussionen waren vor allem der Definition des Forschungsgegenstands gewidmet. Wie sollte die Literatur benannt werden, Emigranten- oder Emigrationsliteratur, Exilliteratur oder antifaschistische Literatur? War mit dem Namen bereits ein Programm verbunden? Die Frage war und blieb, was eigentlich als »Exilliteratur« angesehen und Gegenstand der Forschung werden sollte. Auf der einen Seite konnte man gegenüber der »neutralen« und pragmatischen Bestimmung, Exilliteratur sei eben im Exil verfaßte Literatur, eine politische Grenze ziehen und nur das berücksichtigen, was aus einem aktiven antifaschistischen Engagement entstanden war und diesen Widerstand auch direkt gestaltete.8 Andererseits wurde schon früh die Frage der literarischen Wer-

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tung zur Sprache gebracht: nur die Texte seien einer intensiven Beschäftigung würdig, deren ästhetischer Wert außer Frage stehe. Eine ungebührliche Aufmerksamkeit für mittelmäßige oder schlechte Texte schade der Sache und sei auch nicht am Platze. 9 In diesen Positionen ist teilweise ein Echo der gleichzeitigen Auseinandersetzungen in der Germanistik der BRD zu spüren, wo textimmanente Interpretation von mehreren Seiten angegriffen und die Exilforschung als ein Weg zur Erneuerung der Germanistik gesehen wurde. Ausdrücklich ist jedoch die »Grundforschung« gemeint, von beiden Seiten; auch Alexander Stephan will noch ihre Geltung und ihren Anspruch einschränken. 10 Die Exilforschung sah sich bekanntlich vor der Aufgabe, wichtiges Material zu erhalten und zu sammeln, Vergessene oder Unbekannte an die Öffentlichkeit zu bringen und die noch lebenden Zeitzeugen zu befragen. Der Umfang des Materials war nicht bekannt, und Bibliographien und Archivberichte bekamen eine besondere Wichtigkeit. Das wird nicht nur durch die Bedeutung des Handbuches von Sternfeld-Tiedemann klar, sondern zeigt sich bis heute bei allen einschlägigen Forschungen. Ohne die unermüdliche Tätigkeit von John M. Spalek wäre ein wesentlicher Teil der Exilforschung in Nordamerika nicht möglich gewesen. Zu nennen sind das Verzeichnis der Quellen und Materialien der deutschsprachigen Emigration in den USA seit 193311 und die Bibliographien der beiden Bände Deutsche Exilliteratur seit 1933, von denen sogleich zu sprechen sein wird. Der nächste Schritt nach der Sammlung und Beschreibung der Materialien ist ja ihre Sortierung und Klassifizierung. Die Exilforschung begann mit Einführungen und Überblicksdarstellungen, was zur Orientierung unerläßlich war, aber auch etwas wie ein Hemmschuh wurde. Es ist naheliegend, das Exil geographisch, also nach den Asylländern zu gliedern, und die einzige fertiggestellte Gesamtdarstellung, die der DDR-Wissenschaft, folgt diesem Muster. Bei der Darstellung der Texte bietet sich die Klassifizierung nach Gattungen an, die deshalb immer wieder auftaucht. Da die Mehrzahl der Autoren vergessen, unbekannt oder verkannt war, empfahl sich die Biographie als Einstieg. Literaturwissenschaftliche Analysen von Einzelwerken, Themen, Motiven, Topoi, Bildersprache, Stil blieben eher eine Aufgabe der Zukunft, und damit auch die Beantwortung der zentralen Fragen: was ist eigentlich exilspezifisch an Texten des Exils, wie unterscheidet sich »Exil« von ähnlichen Zuständen der Entfremdung, und gibt es gar etwas, was für Exil als solches in allen Epochen und Kulturen charakteristisch ist?12 Eine Bestandsaufnahme des literarischen Exils deutscher Sprache in den USA bieten die zwei monumentalen Bände Deutsche Exilliteratur seit 1933, herausgegeben von John M. Spalek und Joseph Strelka. Der erste Band, seit den späten sechziger Jahren in der Planung und 1976 erschienen, behandelt Kalifornien, der zweite, noch umfangreichere von 1989, New York.13 Neben

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die geographische Anordnung, bedingt durch die beiden eigentlichen Zentren der Exilliteratur, Los Angeles und New York, tritt die Behandlung von Leben u n d Werk einzelner Autoren. Das ergibt 27 Beiträge im KalifornienBand und 72 im Band über New York. Dazu k o m m e n Aufsätze über Drehbuchautoren u n d Filmemacher in Hollywood u n d Sammelaufsätze über andere Lyriker, Erzähler u n d Dramatiker in New York, Berichte über das Theater in New York, einschließlich der Tätigkeit Erwin Piscators, und Darstellungen von Persönlichkeiten, die für die Exilautoren wichtig wurden: von deutschen Verlegern und Kritikern bis zu H a n n a h Arendt und Albert Einstein. Andere Aufsätze beleuchten bestimmte Ereignisse und T h e m e n : das Emergency Rescue Committee, die Kontroversen um das »Freie Deutschland«, den Schriftstellerkongreß 1943 in Los Angeles, die Rezeption der Exilliteratur in der Presse, Verleger, Verlagsprobleme und den Buchmarkt, die Tätigkeit von Exilautoren an Hochschulen und als Ubersetzer, das Leo Baeck Institute und anderes mehr. Diese Auflistung verfolgt einen bestimmten Zweck: hier ist demonstriert, wie die Grundforschung zu weitergehenden Analysen führt, jedoch ihnen auch Grenzen steckt, wodurch tiefergehende literarästhetische Analysen wegfallen, allenfalls T h e m e n verfolgt werden, was allerdings von besonderer Bedeutung sein kann. 1 4 Dabei ist es nicht unnötig zu sagen, daß die Planung und D u r c h f ü h r u n g dieser so umfangreichen TeamArbeit eine ganz besondere Leistung darstellt, die der Exilforschung der USA eine Grundlage bietet, die auf weitere Benutzung wartet. Diese Zusammenarbeit eines großen Kreises von Kollegen war nur möglich bei einer pragmatischen und liberalen Einstellung. Die Kehrseite einer solchen Einstellung wird gerade in Deutschland oft gescholten. Es fehle an Theoriebewußtsein und Methodenreflexion; manche Biographik und Darstellung von Ereignissen sei naiv oder vermische Wesentliches u n d Unwesentliches. Gegenüber der moralischen Wiedergutmachung fehle oft der ästhetische Wertmaßstab. Es ist klar, daß solche Vorwürfe zutreffen können. Doch die Methodenfragen sind bei der Exilforschung, soweit sie nicht einfach geschichtliche oder biographische Tatbestände beschreibt, besonders kompliziert. Das politische Exil nötigt den Schriftsteller oder Künstler, Partei zu ergreifen und politisch aktiv zu werden; zwangsläufig stellt es konventionelle Literatur oder Kunst in Frage. Es verlangt neben dem ästhetischen Wertmaßstab den politischen, u n d es macht aus dem politischen Standpunkt einen moralischen. Ein vollkommenes Kunstwerk kann also ein Verrat an der Sache u n d damit zu verurteilen u n d zu bekämpfen sein. D e r Kritiker u n d Historiker ist aufgerufen, solche mehrfachen Perspektiven zu berücksichtigen. Das ist besonders problematisch, wenn ein Exilant sich für den später zum Feind erklärten Kommunismus einsetzt. 15 Gegenüber der deutschen Exilforschung vor der Wende 1989 hatte die Exilforschung in Nordamerika daher den Vorteil des größeren Abstands,

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selbst wenn eine Aktualisierung der Vergangenheit nicht ausblieb und die deutschen Querelen ihre Spuren hinterließen. Daß eine Forschung über Brecht und Feuchtwanger in den Jahren der amerikanischen »Säuberung« von Kommunisten (oder wer dafür gehalten wurde) ihre Risiken hatte, versteht sich auch. Während Dissertationen und Monographien typischerweise Uberblicke und Gattungsdarstellungen brachten 16 , gingen die Tagungen bald zu spezifischen Themen über, die in den entsprechenden Bänden dokumentiert sind. Eine allgemeinere Einführung für ein amerikanisches Publikum bietet noch der Band Exile: The Writer's Experience, herausgegeben von John M. Spalek und Robert F. Bell. 17 Nach Uberblicken über die literarischen Gattungen 18 folgen vor allem Beiträge zu einzelnen Autoren oder einzelnen Werken. Bei den einführenden Aufsätzen ist vor allem der von James Rolleston bemerkenswert, da er hinter dem Titel »Short Fiction in Exile: Exposure and Reclamation of a Tradition« eine Entdeckung verbirgt, die noch auszumünzen wäre: nämlich das Wiederaufleben und die Um- und Neuformung der Novelle. 1 '' Daß gerade diese streng strukturierte, geschlossene Form solche Anziehungskraft haben könnte, widerspricht den gängigen Anschauungen, paßt jedoch zu der Beobachtung, daß das Exil gern auf die literarische Tradition zurückgriff (gegenüber dem Avantgardismus der Zeit zuvor), und daß auch in der Lyrik strengere Formen häufiger wurden, zum Beispiel das Sonett, wie es Theodore Ziolkowski in seinem bekannten Aufsatz gezeigt hat. 20 Die diversen Formen der Kurzprosa wären ebenso wie die Lyrik ein lohnendes Feld der Forschung; man denke nur an die Frage der »short story«, der Kurzgeschichte; die Reportage, die Anekdote, ganz abgesehen von politischen Zweckformen. Ein Thema, das auch noch der Fortsetzung harrt, ist in Henri R. Pauckers »Exile and Existentialism« angeschlagen. 21 Die Forschung ist von der Typologie der Exilliteratur als solche oder des Exils überhaupt, wie sie 1968 Werner Vordtriede exemplarisch versucht hatte22, zu einer historisch konturierten Bestimmung und Beschreibung des Exils nach 1933 übergegangen. Bei der Betonung des geschichtlichen Kontexts ist die Analyse der Exilbefindlichkeit zu kurz gekommen. Es ist richtig, daß nach einer Zeit der Einfühlung in die Mühen und Leiden des Exils eine sachlichere Beschreibung folgen mußte. Wiederum ist die Analyse des Traumas, des »Herzasthmas« des Exils nur dann sinnvoll, wenn genaue Bestimmungen und Unterscheidungen getroffen werden. Als eine Zeitlang das Wort »Exil« Mode zu werden drohte, wurde jeder Zustand der Entfremdung als Exil bezeichnet, etwa im Stil von: »Nach seiner Rückkehr aus Italien lebte Goethe in Weimar im Exil.« Inzwischen ist oft genug gesagt worden, daß bereits vor 1933 Phänomene bemerkbar waren, die nachher für das Exil typisch wurden und sich - wie etwa der Existenzialismus — nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzten. Das ist ein Aspekt der allgemeinen Frage, wie es

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mit dem diachronischen und synchronischen Zusammenhang des Exils mit der Geschichte steht. Insgesamt läuft die Exilforschung Gefahr, die Isolation des Exils fortzusetzen und es nur für sich zu sehen. So wie der Vergleich verschiedener Gruppen im Exil zu verschiedenen Epochen lehrreich ist, so ist es, was das 20. Jahrhundert betrifft, unbedingt erforderlich, das Exil im Zusammenhang der großen Wanderungs-, Vertreibungs-, Flüchtlings- und Verfolgungsbewegungen zu sehen. Davon später mehr. Carol Paul-Merritts Beitrag eröffnet das weite Feld der Rezeption; hier das Echo des literarischen Exils in der liberalen Presse der USA. 23 Die Aufsätze zu einzelnen Autoren beschreiben teilweise die allgemeine Exilsituation, andere konzentrieren sich auf bestimmte Themen, so zum Beispiel John B. Fuegi: The Exile 's Choice: Brecht and the Soviet Union oder Lore B. Foltin: Franz Werfel's Image of America und Susan E. Cernyak: Anna Seghers: Between Judaism and Communism. Das umfangreichste Programm aller Konferenzen zur Exilliteratur in den USA hatte die erste Tagung in Riverside, Kalifornien, die 1982 unter dem Titel Das Exilerlebnis erschienen ist.24 Der Band enthält 50 Beiträge und ist eingeteilt in einen Teil, den man »Grundforschung« nennen kann, einen zweiten Teil der Analyse von Einzelwerken oder Themen und einen dritten Teil, der weitgehend der Rezeption gewidmet ist. Besonders bemerkenswert sind in diesem Teil die Ansätze zur Analyse der Rezeption oder Nicht-Rezeption im Nachkriegsdeutschland. 25 In den »Länder-Berichten« fällt die einmalige Beteiligung französischer Exilforscher auf: Gilbert Badia, Hélène Roussel und Jean-Philippe Mathieu 26 , ferner erste Berichte über das Exil in Lateinamerika von Rolf Simon und Hilde Damus. Das Exil in Lateinamerika erfuhr sehr bald eine eingehende komparatistische Behandlung in dem von Hans-Bernhard Moeller herausgegebenen Band Latin America and the Literature of Exile.27 Auch in diesem Band wechseln, dem Forschungsstand entsprechend, einführende Artikel mit der Behandlung von einzelnen Autoren oder Themen ab. Ferner wird der Versuch unternommen, die besonderen Bedingungen der verschiedenen Länder, Mexiko, Argentinien und Brasilien vor allem, zu charakterisieren. Auch wenn es sich teilweise um erste Erkundungen handelt, die dann durch weitere Forschungen ergänzt werden mußten 28 , so bietet der Band doch wichtige Perspektiven: neben der vergleichenden Sicht auf die Situation verschiedener europäischer Autoren und Gruppen vor allem auch eine eingehendere Beschäftigung mit der Begegnung oder Nicht-Begegnung der Autoren mit der Kultur und dem Alltagsleben ihres Asyllandes. Der Band ist insofern eine Kuriosität, als er von in Amerika ansässigen Forschern stammt, in Englisch geschrieben ist, aber in Deutschland, nicht in den USA, erschien. Noch einmal zurück zum Exilerlebnis-, es ist notorisch schwierig, einem Sammelband gerecht zu werden, zumal einem so umfangreichen mit in jeder

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Hinsicht so verschiedenen Beiträgen. Vielleicht gibt er gerade deshalb eine besonders gute Ubersicht über die Bandbreite der Exilforschung in Nordamerika. Das ist vor allem bei den Einzelanalysen von Texten und Autoren zu bemerken, die von sehr unterschiedlichen methodischen und inhaltlichen Standpunkten ausgehen. Dabei kommt, meist implizit, auch ein Problem zum Vorschein, das die Exilliteratur seit 1933 beschäftigt hat: wie viel negative Kritik an Autoren und Texten des Exils ist »erlaubt«, und umgekehrt: wie weit hat die Exilforschung die Pflicht, nicht nur ästhetische Wertungen vorzunehmen, sondern auch den politischen und moralischen Standort eines Autors in Frage zu stellen?29 Von Interesse sind immer wieder Untersuchungen der Wirkung des Asyllandes, seines Buchmarktes und seines Theaterlebens, auf die Produktion der Autoren des Exils. Bei eingehenderen Recherchen, für die James K. Lyons Buch Bertolt Brecht's American Cicerone von 1978 richtunggebend wurde 30 , ergaben sich immer wieder Kontakte, Einflüsse und Auseinandersetzungen, die das pauschale Vorurteil einer generellen Isolation dieser Autoren widerlegen oder zumindest in Frage stellen. Die Isolation und das Leiden am Exil, deren Bedeutung außer Frage steht, dürfen nicht absolut genommen werden, auch wenn Briefe oder Autobiographien der Exilanten das zu bestätigen scheinen. Diese Dokumente müssen kritischer gelesen werden als die Exilforschung es vielfach tut. Es empfiehlt sich, an dieser Stelle einen Blick auf den aus der zweiten Konferenz in Riverside entstandenen Band Exil: Wirkung und Wertung zu werfen. 31 Dieser viel schmalere Band (24 Beiträge verglichen mit 50 im vorigen Band) führt die angefangenen Themen fort, besonders Rezeptionsprobleme; er widmet sich jedoch auch mehr als vorher der Wirkung des Exils auf die Produktion. Hier werden Fragen der literarischen Verarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs behandelt 32 und ein Problemkomplex aufgegriffen, der noch längst nicht genügend untersucht worden ist: wie weit sind Texte des Exils direkte Antworten auf Ereignisse und Tendenzen im Dritten Reich, oder was aus der Perspektive des Exils so aussah?33 Als weiterer Aspekt erscheint die Verzahnung von Exil, seiner Rezeption und der »Vergangenheitsbewältigung«. 34 Schließlich muß speziell auf zwei Aufsätze hingewiesen werden: Ehrhard Bahr unterstreicht, daß Exilforschung ohne eine durchdachte Faschismustheorie ein Unding ist, daß die Anwendung dieser Theorien dennoch auf sich warten läßt; und Herbert Lehnert schneidet das Thema der »Vorgeschichte« des Exils vom Thema des Künstler-Führers her an. 35 Bei solchen Beiträgen zeigen sich Fluch und Segen der Konferenzen und Konferenzbände: sie sind anregend, sie bringen wichtige Themen zur Sprache und manchmal eine Debatte in Gang; doch oft bleiben es Samenkörner, die in den Wind gestreut werden und nicht den fruchtbaren Boden (d. i. die Aufmerksamkeit) finden, den sie verdienen. Die Zählung eines vierten und fünften Symposiums ist eher willkürlich.

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Sie beruht darauf, die drei Symposia in South Carolina als die ersten anzusehen. Sie hat insofern Berechtigung, als sie mit dem Entstehen der Gesellschaft für Exilforschung parallel geht und etwas wie eine Gruppenidentität anzeigt, die allerdings nicht eng gefaßt werden darf. Abgesehen von den beiden Konferenzen Exil und innere Emigration gab es ein Symposium in New Hampshire, dessen Referate nicht veröffentlicht wurden, das Symposium an der University of Kentucky, das zu dem Band der Colloquia Germanica führte, und das Symposium in Alabama von 1975, aus dem der Band Protest Form — Tradition entstand.36 Die Mehrzahl der Beiträge sind hier Einzelinterpretationen, vorwiegend von Werken österreichischer Autoren. Bemerkenswert ist der Aufsatz »Poetic Rhythm and the Exile Situation« von Klaus Weissenberger, der hier und an anderen Stellen für eine genauere Analyse der Form, zumal des Rhythmus, in der Exillyrik plädiert, um die Eigenart der Exillyrik zu erkennen. Auch dieser Ansatz wartet weitgehend auf eine Weiterentwicklung und allgemeinere Erprobung. Drei Beiträge befassen sich mit Joseph Roth, einem der außergewöhnlichsten »Fälle« der Exilliteratur, dem ein amerikanischer Germanist, David Bronsen, die bisher gründlichste Biographie gewidmet hat.37 Form — Protest — Tradition regt auch zu einer kurzen Zwischenbemerkung an: Natürlich mußten nach den Schriftstellern aus dem Deutschen Reich spätestens 1938 viele Österreicher ins Exil gehen; andere Deutsch schreibende Autoren stammten aus der Tschechoslowakei und Ungarn. Daher entstand die Sprachregelung »deutschsprachiges Exil«, wobei »deutschsprachig« weit mehr enthält als eine unhandliche Diplomatie. Das Exil repräsentierte zum letzten Mal die traditionelle Ausstrahlung der deutschen Kultur in Ostund Südosteuropa, wie sie exemplarisch aus Joseph Roths Büchern spricht. Während bei Form — Protest — Tradition die Stoßrichtung dahin ging, ästhetische Fragen zu betonen und in der Textinterpretation exilspezifische Merkmale herauszuarbeiten, zum Beispiel in James Rollestons Analyse von Werfeis Stern der Ungeborenen als Antwort eines Europäers auf die Zeitsituation oder Barton Brownings Überlegungen zur Legendenform von Joseph Roths Legende vom heiligen Trinker, hatten die drei Symposien in South Carolina, 1976,1977 und 1979, jeweils inhaltlich festumrissene Rahmenthemen. Das erste Symposium untersuchte Deutsches Exildrama und Exiltheater.38 Entsprechend dem Forschungsstand ergab sich eine Mischung von faktischer Information, Einzelinterpretation und weitergehenden exilspezifischen Perspektiven. Brechts Stücke und ihre amerikanischen Aufführungen bilden den eindeutigen Schwerpunkt; doch behandelt werden auch Berthold Viertel, Ferdinand Bruckner, Carl Zuckmayer, Odön von Horväth, Friedrich Wolf, Lion Feuchtwanger und Sally Grosshut — der überwiegende Teil befaßt sich mit dem Exil in den USA; auch deutsche Theater in New York und Hollywood werden einbezogen. »Deutsches Exildrama in den USA« wäre fast

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ein besserer Titel gewesen. Darüber hinaus muß auf John Spaleks Aufforderung zu komparatistischer Arbeit über das Exil und Hans-Bernhard Moeliers Diskussion der Epochen-Problematik hingewiesen werden. 39 Als Anhang ist ein 20-Minuten-Hörspiel von Hans Sahl von 1942, ein Beitrag zum »war effort«, abgedruckt worden. Ein gezieltes und immer noch aktuelles Thema ging das zweite Symposium an, das das literarische Exil der Literatur im Nationalsozialismus entgegenstellte.40 Der Vergleich hat viele Aspekte, von denen natürlich nur einige aufgegriffen werden konnten. Themen, auf die hier hingewiesen wurde, waren die Darstellung des Bösen, Flucht und Exil, Selbstentfremdung, der Begriff des Volkes; ebenso wurde das Problem »Allegorie« erörtert. Es ergaben sich interessante Rezeptionsfragen, etwa die Klassiker-Rezeption im Reich und im Exil oder die Rezeption Stefan Georges. Andere Studien beleuchteten historische Ereignisse wie Ernst Tollers Auftritt bei der PENKonferenz in Ragusa. Wichtig waren auch die Referate zur Lyrik. Seitdem haben wir ein wesentlich genaueres Bild von der innerdeutschen Literatur; doch von den Wechselwirkungen, Gemeinsamkeiten und der direkten Konfrontation wissen wir immer noch längst nicht genug. Das stößt teilweise auf Tabus, doch gerade deshalb muß hier Klarheit geschaffen werden. Das dritte Symposium, das auf die Frage »Exil und Nachkriegsdeutschland« einging 41 , konnte ebenfalls nur einige Perspektiven bringen, so daß die Schlußdiskussion den Wunsch nach einer Fortsetzung ausdrückte, die allerdings in dieser Form nicht stattgefunden hat, wenn auch das Thema seitdem im Gespräch geblieben ist. Außer der Rückkehrproblematik und Fragen der Rezeption der Exilliteratur in Deutschland und Osterreich kamen auch die zwei Probleme der Produktion der Exilschriftsteller nach 1945 und ihrer positiven Wirkung auf die Nachkriegsliteratur zur Sprache, alles in Ansätzen, notgedrungen. Ein Thema wie »Das Deutschlandbild der Exilschriftsteller um 1945« beispielsweise hat eine umfassende Behandlung in der Marburger Tagung Deutschland nach Hitler gefunden. 42 Die Tradition der thematisch bestimmten Konferenzen hat sich in den USA etabliert. In ihnen hat sich die Exilforschung gesammelt; sie boten Anlaß zu Diskussionen mit Kollegen aus dem Land und aus anderen Ländern, vor allem Deutschland. Die Größe des Landes macht ein solches Forum notwendig. Andere Exil-Seminare haben zum Beispiel im Rahmen der MLA und der German Studies Association stattgefunden. Das Hauptproblem einer derartig um eine Gruppe zentrierten Tätigkeit ist die Erneuerung der Gruppe, um neuen Methoden, Fragestellungen und Einstellungen Platz zu geben. Daneben steht jedoch das Problem der inhaltlichen Kontinuität. Jede Tagung ist ein Vorstoß in eine andere, neue Richtung, auch wenn es oft notwendig wäre, angefangene Themen weiterzuführen, so daß eine merkwürdige Mischung von Kontinuität und Diskontinuität entsteht.

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Die auf die Riverside-Tagungen folgende Konferenz in Houston Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche 1930 bis 1960^$ setzte allerdings eine Reihe von Anregungen der vorhergehenden Konferenzen fort und versuchte sie in das Gesamtthema einzubringen, nämlich die Frage nach der Stellung des Exils innerhalb der Gesamtepoche, eine immer noch nicht zu Ende gedachte Problematik. Zur Sprache kamen Fragen des Vergleichs der Literatur innerhalb und außerhalb des Dritten Reiches, Kontinuität und Diskontinuität 1933 und 1945, Geschichtsdeutung in der Literatur, Faschismus - Antifaschismus, »Geist und Macht« und exilspezifische Themen, Motive, Mythen und Erzählstrukturen, die sich offenbar im Vergleich, synchronisch und diachronisch leichter erschließen als bei einer »exilinternen« Interpretation. Der Band ist dadurch charakterisiert, daß wenig neues »Material« gebracht wird, hingegen ein erheblicher Gewinn an Analyse und Verständnis entsteht. Der anschließende Band Schreiben im ExiM stieß wohl am weitesten auf dem Weg zu einer Ästhetik des Exils vor. So wird etwa die literarische Benutzung des Mythos diskutiert, Brechts episches Theater im Kontext des Exils, die Ästhetik des historischen Romans im Exil, die Frage Ästhetizismus und Engagement bei Klaus Mann und die Ästhetik der Unterhaltungsliteratur. Das sind wichtige Fragen, bei denen sofort die Gegenfrage laut werden muß: was trägt die Exilforschung speziell bei zu solchen Themen, die ja auch anderswo genugsam diskutiert werden? Wie verhält sich eine exilspezifische Forschung über Thomas Mann und Brecht zur Thomas Mann- und Brecht-Forschung insgesamt? Solche Fragen stellen sich nicht bei einem Thema wie Kulturelle Wechselbeziehungen im ExilEs versteht sich, daß bei Autoren, die in einer fremden Kultur und unter Menschen einer anderen Sprache leben, die Beziehungen oder Nichtbeziehungen zur Umwelt einen besonderen Charakter annehmen, zumal, wenn die Autoren gezwungen sind, in Ländern zu leben, zu denen sie wenig Affinität haben. Mitgebrachte Vorurteile, zufällige Begegnungen und Erfahrungen können eine entscheidende Rolle spielen. Auch bei solchen Problemen überschreitet jedoch ein Germanist die Grenzen seines Faches und muß sich auf das notorisch schwierige Gebiet einer vergleichenden Kulturwissenschaft begeben. Immerhin zeigt dieser Band eine beachtliche Vielzahl verschiedener und gültiger Ansätze: das »Bild« des Asyllandes, Sprachwechsel und Zweisprachigkeit, die Darstellung des Asyllandes im literarischen Text, Übersetzung in ihren verschiedenen Bedeutungen, die professionelle Akkulturation in ihrer Wirkung auf die Produktion und die Wirkung des Exils auf das Gastland. Von allen diesen Dingen ist in der Exilforschung ständig die Rede; eine systematischere Behandlung der meisten Probleme steht jedoch noch aus. Noch einmal eine Zwischenbemerkung: Während in den USA und auch

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in Mexiko Exilzentren entstanden und sich Gruppen von Schriftstellern bildeten, selbst wenn der Kontakt unsicher blieb, war die Lage in Kanada grundlegend anders, so daß Schriftsteller, die weiter schreiben wollten, sich nicht nur sprachlich umstellen mußten — sie mußten Immigranten werden. Einige wenige Beiträge in verschiedenen Bänden analysieren diese besondere Situation, die wohl mit der in Australien vergleichbar wäre. 46 Ein weit offenes Feld betritt der Band Exil. Literatur und die Künste nach 1933 von 1990. 47 Während es Veröffentlichungen zu den bedeutenden Architekten, Malern, Komponisten usw. im Exil gibt, ist über persönliche und professionelle Beziehungen und Wechselwirkungen mit der Literatur bisher wenig gesagt worden. Auch ist das Exilspezifische der Musik und der Bildenden Künste weniger in den Blick gekommen. 48 Beiträge des Bandes gehen auf die Wirkung der bildenden Künste auf Exilschriftsteller ein, auf Komponisten wie Schönberg und Hanns Eisler, auf Kabarett und Theater und auf Film und Fotografie. Das sind alles Vorstöße in Gebiete, die weit mehr Untersuchungen erfordern. Gerade hier ist sowohl interdisziplinäre als auch transatlantische Zusammenarbeit unerläßlich, also Teamarbeit in einem neuen Sinn. Es geht ja auch um die Frage, wie sich die Moderne, die Avantgarde der Weimarer Zeit, im Exil fortsetzt oder nicht fortsetzt, verwandelt, und was mit ihr beispielsweise im kulturellen Klima der USA geschieht. Diese verschlungenen Wege zu verfolgen, ist schwierig, aber lohnend. Gleichzeitig kann man der Frage näher kommen, was dieses Exil eigentlich für das Asylland bedeutet hat. Gewiß liegen eine Menge Einzelforschungen vor; sie sind jedoch zu bündeln und auf das Problem »Exil« zu beziehen. Ein methodisch einfacheres und inhaltlich klarer umgrenztes Feld steckte der Band Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten ab. 49 Man kann vier Schwerpunkte feststellen: die Darstellung des innerdeutschen Widerstands: Wunsch und Wirklichkeit; die Tätigkeit der Exilanten im Krieg gegen das Reich der Nazis; der Krieg in Rußland, zumal Stalingrad (natürlich auf Pliviers Roman bezogen); und schließlich die französische Niederlage, die eine erhebliche Zahl von Autoren direkt betraf und auch sonst wohl der größte Schock und, vom Exil her gesehen, die eigentliche Krise des Krieges war. Allerdings fehlt ein Beitrag zu Anna Seghers' sonst viel besprochenem Roman Transit. Es ist ja auffallend, daß diese Erfahrung überwiegend als Erlebnisbericht ihren literarischen Niederschlag gefunden hat, anders als der Spanische Bürgerkrieg. Zum Spanischen Bürgerkrieg erschien 1992 ein weiterer aus einer Tagung hervorgegangener Band: German and International Perspectives on the Spanish Civil War: The Aesthetics of Partisanship.50 Dieser Band versucht eine komparatistische Sicht des Phänomens, die weit über die Perspektive des deutschen Exils hinausgeht. So sind sechs Beiträge der französischen Perspektive gewidmet, sieben Beiträge befassen sich mit spanischen Problemen,

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andere Aufsätze gehen auf englische Reaktionen ein, und es kommen Themen zur Sprache wie die Beziehungen Ernest Hemingways zum deutschen Exil.51 Darüber hinaus behandelt der Band in mehreren Studien den Medienkrieg, den Spanischen Bürgerkrieg als das erste große Ereignis der Massenmedien. In diesem Punkt werden beide Seiten untersucht, der antifaschistische Widerstand und die Nazi-Propaganda. Natürlich werden die Erfahrungen der deutschen Autoren und ihr literarischer Niederschlag besprochen und nicht zuletzt die Nachwirkungen bis zur Ästhetik des Widerstands. Ein besonderes Thema stellt das Schicksal der Spanienkämpfer nach der Niederlage dar, großenteils in französischen und deutschen Lagern, und ihre künstlerische Dokumentation. 52 Der Spanische Bürgerkrieg als Faktum, als Propagandakrieg, als Bewährungsprobe der Volksfront 53 , als Gelegenheit und Nötigung für das intellektuelle Exil zur Tat, als Feld internationaler Solidarität, als Probe und Auftakt zum großen entscheidenden Krieg, alles das verlangt eine differenzierte Analyse aus verschiedenen Perspektiven. Zum Beispiel: allzu oft kommt bei den internationalen Kommentaren und Darstellungen die spanische Perspektive zu kurz - und umgekehrt. Der Spanische Bürgerkrieg kann auch ein Musterbeispiel sein für die Kurzzeit- und Langzeit-Wirkung historischer Ereignisse; übertragen auf das Exil im allgemeinen: wie sehen die literarischen oder allgemein künstlerischen Reaktionen auf solche überwältigenden Vorkommnisse wie auf die Flucht von 1933 und 1940 aus? Wie unterscheidet sich eine schnelle Verarbeitung von einem viel späteren Text? Es ist auffallend, daß in der Exilforschung die Formel »Exil von 1933 bis 1945« (manchmal werden andere Schlußpunkte gesetzt, wie 1949 oder 1950) allmählich der Formel »Exil seit 1933« Platz gemacht hat. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß etliche nach 1945 geschriebene oder erschienene Werke die Exilerfahrung besonders nachdrücklich aussprechen, beispielsweise Thomas Manns Doktor Faustus, und daß das permanente Exil nicht nur eine subjektive Befindlichkeit war. Ferner wäre es absurd, »Nachkriegsautoren« wie Paul Celan, Peter Weiss, Erich Fried nicht zur Exilliteratur zu rechnen. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Formel »1933 bis 1945« eine psychologische Schranke aufgestellt hat, die die Erforschung des Exils nach 1945 erschwert hat. Hier ist über Rückkehr- und Rezeptionsprobleme hinaus noch viel aufzuarbeiten. Das weite Feld der Autobiographie zum Beispiel verlangt noch viel Bearbeitung. 54 Schließlich ist auf den stattlichen Band Die Resonanz des Exils55 hinzuweisen, der 27 Studien zu Fragen der Rezeption vereinigt. Die zwei Schwerpunkte sind die Rezeption deutscher Exilautoren in den USA und die Frage der Rezeption/Nicht-Rezeption im Nachkriegsdeutschland. Dazu kommen Einzelbeiträge zur Rezeption des Exils in Frankreich, Großbritannien und Argentinien — sowie Osterreich, das hier gesondert betrachtet wer-

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den muß. Rezeptionsforschung ist ein weites Feld. »Wirkung« kann auf mancherlei Wegen erfolgen. Die Literaturkritik, zumal in Zeitungen und Zeitschriften, ist nur einer dieser Wege. Gerade in diesem Bereich sind oft mühsame Einzelforschungen nötig, bevor ein Gesamtbild entsteht. Solche Forschungen müssen auf ungewöhnliche Quellen zurückgreifen, zum Beispiel in den USA auf die Akten des FBI. 56 Ebenso wichtig sind Quellen von innerhalb des Dritten Reiches. 57 Zu verfolgen sind natürlich die Phasen des Interesses und Desinteresses, die Rolle der Verlage, der Zeitschriften, der offiziellen Stellen, und nicht zuletzt das Gewicht der Vorurteile, der vorgefaßten Meinungen und der Ideologie. Die Resonanz des Exils ist voll von nützlicher Information und guten Ansätzen. Es braucht nicht eigens betont zu werden, daß sich die nordamerikanische Exilforschung nicht in diesen Sammelbänden erschöpft. Die Kontinuität und Bandbreite ist beispielsweise an Guy Sterns gesammelten Aufsätzen Literatur im Exil58 abzulesen, der von Definitionen der Exilliteratur, Fragen der Akkulturation, Themen in der Literatur, Einzelinterpretationen und Autorenprofilen zu Fragen des Nachlebens und der Rezeption kommt. Besonders interessant ist bei dem letzten Punkt der Beitrag »Das Exil und die amerikanische Gegenwartsliteratur«. Es handelt sich dabei um Texte der Kinder und Enkel von Exilanten, in denen die europäische oder speziell deutsche Herkunft und die Charaktere der Einwanderergeneration eine beherrschende Rolle spielen. Interessante Beiträge enthält auch die Guy Stern gewidmete Festschrift Exile and Enlightenment.^ Wenn es darum ginge, eine Liste der Veröffentlichungen und Leistungen vorzulegen, so wäre hier noch viel zu besprechen. Auch verspricht die von Alexander Stephan herausgegebene Reihe Exilstudien weitere Bereicherung der Forschung zur Exilliteratur. 60 Eine weitere Tagung zum immer noch vernachlässigten Thema der Jugend- und Kinderliteratur ist vorgesehen. An dieser Stelle sollen jedoch noch einige Bemerkungen allgemeinerer Art zur Exilforschung in den USA folgen. Bedauernswert ist nach wie vor die Zersplitterung der Erforschung des Exils aus den deutschsprachigen Ländern nach 1933. Die Geschichtswissenschaft bewahrt weiterhin Zurückhaltung gegenüber diesem Gegenstand, und die Beschäftigung mit der Geschichte des Judentums, dem Holocaust und der Tradition des Antisemitismus verläuft weitgehend auf getrennten Wegen. In der hier beschriebenen Exilforschung kommen Konzentrationslager und Vernichtungslager eher am Rande vor, was gerade in diesem Kreis auf keinen Fall Vorurteilen oder gar Antisemitismus zuzuschreiben sein kann. Dennoch ist der Befund auffallend. 61 Es ist verständlich, daß die amerikanische Forschung zum Judentum trotz des Leo-Baeck-Instituts und seines wichtigen Jahrbuchs weit mehr mit der Einwanderung aus Osteuropa beschäftigt ist. Ebenso zu begreifen ist, daß von der amerikanischen Per-

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spektive aus die akademische Immigration sowie das »Neue Bauhaus« ungleich wichtiger sind als Exilautoren, die sich nur in Ausnahmefällen zu »Amerikanern« entwickelt haben. Auch die amerikanische Germanistik, j e amerikanischer sie wird, verliert die Auswanderer-Perspektive und sieht das Exil aus einer neuen Distanz. Bei allen Versuchen der Gruppenbildung der »Gründer-Generation« der Exilforschung, in Deutschland m a n c h m a l »Altforscher« genannt, hätte erst ein Forschungszentrum mit eigenen Publikationen die Möglichkeit gegeben, eine wirkliche Kontinuität zu erreichen und etwas wie eine »Schule« zu bilden. So bemerkenswert es ist, und das sollte einmal m e h r betont werden, daß sich die Exilforschung über bald drei Jahrzehnte fortgesetzt und entwickelt hat, mit wesentlichen Leistungen, so normal ist es auch, daß n u n m e h r viele der Beteiligten sich anderen Interessen zugewandt oder Abschied von der Forschung g e n o m m e n haben. Eine neue Generation, die sich in gleicher Weise mit neuen Ideen und Perspektiven für dieses Forschungsgebiet engagiert, ist nicht in Sicht - was nicht bedeutet, daß nicht einzelne Forscher weiter arbeiten und wichtige Studien publizieren. D o c h ist die Zeit gekommen zu fragen, wie kurz vor dem Jahre 2 0 0 0 das Andenken dessen, was hier unter »Exil« verstanden wird, weiter getragen werden soll. Jetzt, wo die letzten Zeitzeugen verschwinden und die Nachlässe gesammelt sind, was soll damit geschehen? W i e sich aus diesem Bericht ergeben hat, stecken die Publikationen der nordamerikanischen Exilforschung voll von Anregungen; doch was geschieht mit den ausgestreuten Samenkörnern? Beispiel: I m m e r wieder stößt man in diesen Bänden auf Hinweise auf die deutsche Sozialwissenschaft im Exil, nicht allein die Frankfurter Schule, und etliche Querverbindungen zur Literatur sind evident. Das m u ß zusammengefaßt und aus der heutigen Distanz beurteilt werden. Uberhaupt Beurteilung: Sicherlich kann die Erforschung der Exilliteratur o h n e deutlichere Wertmaßstäbe nicht mehr auskommen, gerade weil »Wert« ein so komplexer Begriff ist. Ein weiterer Punkt: ohne Komparatistik geht es auf keinen Fall. W i e diese auszusehen hat, ist noch zu bestimmen. O d e r : W ä h r e n d allmählich die Forschung zur Frage des Exils nach 1 9 4 5 adäquater wird, ist das Problem der K o n t i n u i t ä t / D i s k o n t i n u i t ä t von 1 9 3 3 , obwohl in verschiedenen Aspekten deutlich, i m m e r noch als Ganzes offen. D a die neuen Literaturgeschichten die Literatur des 2 0 . Jahrhunderts schlicht nach politischen Ereignissen einteilen, wird verdunkelt, wie sich seit 1 9 3 0 eigentlich die Literatur entwickelt hat, natürlich unter der W i r k u n g der Zeitereignisse. D o c h was hatte die deutschsprachige Literatur auch nach 1 9 3 3 gemeinsam, unterhalb der ideologischen Oberfläche? Was bedeutet »Epoche« in diesem Zusammenhang? W e n n Geschichte allein nach politischen Kriterien strukturiert wird, wird die Gefahr um so größer, daß das Exil als isolierte Erscheinung, als ein Blinddarm der Geschichte angesehen wird und im G r u n d e nirgends hingehört. 6 2

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Die Situation des Exils hat ebenso wie zuvor die kurze Phase der Weimarerjahre nicht nur eine Politisierung der Literatur erzwungen, sondern auch eine Kommerzialisierung, und damit die Produktion zweckgebundener Texte, von der Lyrik bis zum Drehbuch, Zeitungsartikel und Roman. Auch diese Situation wartet noch auf ihre Analyse. W i r wissen, daß die Weimarer Republik der H ö h e p u n k t der H o f f n u n g auf die deutsch-jüdische »Symbiose« (oder die Illusion der bereits geschehenen Symbiose) war, eine plötzlich und grausam enttäuschte H o f f n u n g , die aufzugeben schwerfiel. Die Exilforschung hat diesen Punkt nicht gerade betont. 6 3 Vor allem jedoch kann die Exilforschung keine germanistische Spezialität bleiben. Sicherlich bleibt nach wie vor wichtig, das Phänomen des literarischen Exils nach 1933 zu analysieren und einzuordnen; das ist eine begrenzte, wenn auch unterschätzte Aufgabe. Ebenso wichtig ist auch die Erforschung der Geschichte der Germanistik, in Deutschland wie in den Asylländern, in bezug auf das Exil. 64 Doch eine Exilforschung, die ihren Beitrag zum Verständnis des Zeitalters und des Jahrhunderts leisten will, braucht andere Verbindungen und Perspektiven. Wie meine Hinweise gezeigt haben, drängt jede Untersuchung auf interdisziplinäre Arbeit hin, die idealiter im Team angegangen werden sollte. Eine Organisation um Forschungszentren und bestimmte Forschungsschwerpunkte (über ein Projekt wie das akademische Exil hinaus) wäre gewiß wünschenswert und besonders in den USA unerläßlich, wo Zerstreuung und Isolierung der einzelnen Forschung ein Haupthindernis der Forschungsarbeit sind. Ich sehe es vor allem als eine der Hauptaufgaben, das literarische Exil in den Rahmen des antifaschistischen Exils insgesamt zu stellen und die Situation der dreißiger und vierziger Jahre resolut im amerikanischen Kontext zu sehen, um Größe und Elend der deutschen Autoren und ihrer Werke deutlich werden zu lassen. Der historische und sozialwissenschaftliche Zugriff entbindet dabei keineswegs von der Aufgabe, das Exilspezifische im Literarischen der Literatur aufzuspüren oder aber klarzustellen, wo Exilschriftsteller nicht wesentlich oder gar nicht von der Exilsituation betroffen waren. Exilliteraturforschung als Teil der Exilforschung hat ihren besonderen Gegenstand und ihre besonderen Aufgaben. Nach Jahrzehnten Arbeit und Nachdenken wäre die Zeit der Bestandsaufnahme gekommen, um eine neue Orientierung zu gewinnen. Bei allem Verdienst unserer Bemühungen haben wir zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen. Wir sind weit genug entfernt, aber noch nicht zu weit, um ein Gesamtbild zu gewinnen. Exilforschung war bisher weitgehend vom Engagement der Zeitzeugen und der von ihnen direkt Angesprochenen, und nicht zuletzt vom Engagement der Wiedergutmachung getrieben. Damit geht es zu Ende. Wer diese Zeit nur »historisch« betrachtet, sieht auch Literatur in anderer Weise. Wie eine »objektive« Exilforschung aussieht, soll uns die Z u k u n f t lehren.

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1 Ein Echo dieser oft lebhaften Debatten findet sich z. B. noch in German Studies in the United States. Assessment and Outlook. Hg. von Walter F. W. Lohnes und Valters Nollendorfs. Sonderheft der Monatshefie, Madison 1976. Vor allem Jeffrey L. Sammons hat wiederholt dieses Problem und seine Konsequenzen dargestellt. — 2 Das ist inzwischen einige Male dargestellt worden. Vgl. etwa Germanistik in den USA. Neue Entwicklungen und Methoden. Hg. von Frank Trommler. Opladen 1989, bes. die Beiträge von HenryJ. Schmidt und mir. Darin auch Hinweise auf weitere Literatur. Vgl. auch Henry Schmidts ähnlichen Beitrag »The Rhetoric of Survival. The Germanists in America from 1900 to 1925«. In: America and the Germans. An Assessment of a Three-Hundred-Year History. Hg. von FrankTrommler und Joseph McVeigh. Philadelphia 1985, Bd. II, S. 204—216; darin auch weitere einschlägige Beiträge. — 3 Dazu Hinweise in meinem Beitrag »Die Rezeption der Exilliteratur in der amerikanischen Germanistik und der liberalen amerikanischen Presse«. In: Die Resonanz des Exils. Gelungene und mißlungene Rezeption deutschsprachiger Exilautoren. Hg. von Dieter Sevin. Amsterdam 1992, S. 22—33. — 4 Eine bemerkenswerte Ausnahme in der Germanistik insgesamt war die Serie »German Literature in Exile«, die im German Quarterly erschien und fast ausschließlich auf Interviews von Harold von Hofe mit in Los Angeles lebenden Autoren beruhte. — 5 Peter M. Lindt: Schrifisteller im Exil. Zwei Jahre deutsche literarische Sendung am Rundfunk in New York. New York 1944; Nachdruck 1974. — 6 Donald P. Kent: The Refugee Intellectual. The Americanization of the Immigrants 1933-1941. New York 1953; The Cultural Migration. The European Scholar in America. Hg. von William R. Crawford. Philadelphia 1953, gehörten zu den ersten Veröffentlichungen; von deutscher Seite begannen die Darstellungen mit Helge Pross: Die deutsche akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933-1941. Berlin 1955. Diese Untersuchungen haben sich fortgesetzt; prominente Beispiele sind etwa die Arbeiten von Martin Jay, vor allem zur Frankfurter Schule, und natürlich gibt es viel Literatur um und über Albert Einstein. — 7 William K. Pfeiler: German Literature in Exile. The Concern of the Poets. Lincoln, Nebraska, 1957 (University of Nebraska Studies, NS Nr. 16). — 8 Dafür hat sich vor allem Jost Hermand ausgesprochen, der beispielsweise die Texte der Autoren im Exil nach 1933 in »resignierend-eskapistische, kulturbewußt-humanistische und aktiv-antifaschistische Strömungen« eingeteilt hat, und nur die letzte als genuine Exilliteratur gelten lassen will; vgl. in Exil und innere Emigration Jost Hermand: »Schreiben in der Fremde. Gedanken zur deutschen Exilliteratur seit 1789«, S. 16. — 9 Das betont vor allem Joseph P. Strelka programmatisch in seinem Beitrag zu Protest — Form — Tradition. Essays on German Exile Literature. Hg. von Joseph P. Strelka, Robert T. Bell und Eugene Dobson. Alabama 1979; Strelkas Beitrag: »Material Collectors, Political Rhetoricians, and Amateurs: Current Methodological Problems in German Exile Literature Studies« (S. 1-14); Strelkas Aufsätze erschienen gesammelt in Joseph P. Strelka: Exilliteratur. Grundprobleme der Theorie. Aspekte der Geschichte und Kritik. Bern, Frankfurt/M., New York 1983. — 10 Alexander Stephan: Die deutsche Exilliteratur 1933-1945• Eine Einfuhrung. München 1979. — 11 Englischer Titel: Guide to the Archival Materials of the German speaking Emigration to the United States afier 1933. Hg. von John M. Spalek in Verbindung mit Adrienne Ash und Sandra H. Hawrylchak. Charlotteville, Virginia, 1978. — 12 Ein frühes Beispiel für eine exilspezifische Einzelanalyse ist Guy Sterns Aufsatz »The Plight of Exiles - A Hidden T h e m e in Brechts Galileo Galilei«. Zuerst in Brecht Yearbook / (1971),S. 110—116; zuletzt auf Deutsch in Guy Stern: Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959-1989. München 1989, S. 3 1 1 - 3 1 8 . — 13 Band 1: Kalifornien. Bern, München 1976, 868 Seiten, dazu die Bibliographie; Band2: New York. Bern 1989, 1817 Seiten in zwei Teilen, dazu die umfangreiche Bibliographie. Ein dritter Band, der etwa 35 Aufsätze über einzelne Autoren und gut 20 Sammelaufsätze oder Studien über Themen enthalten soll, ist im Entstehen. Der größere Teil des Inhalts wird sich auf die Ostküste beziehen. — 14 Ein besonders typisches T h e m a ist das Bild der Großstadt New York, das bereits vor dem Exil als Stereotyp in Deutschland gegenwärtig war; vgl. Michael Winkler: »Die Großstadt New York als Thema der deutschsprachigen Exilliteratur«. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York, S. 1 3 6 7 - 1 3 8 4 ; dazu ebenfalls Helmut F. Pfanner: Exile in New York. German and Austrian Writers after 1933. Detroit 1983. — 15 Naturgemäß gab es eine Kontroverse um das Buch von David C. Pike: German Writers in

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Soviet Exile 1933-1945• Chapel Hill, North Carolina 1982; gleichzeitig auf Deutsch: Deutsche Schrifisteller im sowjetischen Exil 1933-1945• Frankfurt/M. 1981. Hier ging es in erster Linie um die politischen Probleme von einem dezidiert anti-stalinistischen Standpunkt aus. — 16 Außer Alexander Stephans Darstellung z. B. Egbert Krispyn: Anti-Nazi Writers in Exile. Athens, Georgia, 1978; Anthony Heilbut: Exile in Paradise: German Refugee Artists and Intellectuals in America from the 1930s to the Present. Boston 1983; John Russell Taylor: Strangers in Paradise. The Hollywood Emigrees 1933— 1950. New York 1983; zum Roman Thomas A. Kamla: Confrontation with Exile: Studies in the German Novel. Bern 1975; Bruce M . Broerman: The German Historical Novel in Exile afier 1933. Calliope contra Clio. University Park, Pennsylvania, 1986; über die literarische »Gattung« hinaus geht die Beschäftigung mit der Autobiographie, etwa Richard D. Critchfield: When Lucifer Cometh. The Autobiographical Discourse of Writers and Intellectuals Exiled during the Third Reich. New York 1994. — 17 Exile: The Writer's Experience. Chapel Hill, North Carolina, 1982. — 18 Adrienne Ash: »Lyric Poetry in Exile« stützt sich auf ihre Dissertation von 1971 (!) an der University of'Fexas, Austin, German Poetry in Exile, 1933- 1945. — 19 Behandelte Beispiele sind Klaus Manns Vergittertes Fenster, Hermann Brochs Die Schuldlosen, Gustav Reglers Der Tod in der Michaelskirche, Günther Anders' Der Hungermarsch, Eduard Claudius Das Opfer, Friedrich Wolfs Lucie und der Angler von Paris lind natürlich Leonhard Franks Deutsche Novelle und Stefan Zweigs Schachnovelle. — 20 »Form als Protest. Das Sonett in der Literatur des Exils und der Inneren Emigration«. In: Exil und innere Emigration, a . a . O . , S. 1 5 3 - 1 7 2 . — 21 Vgl. auch Henri R. Paucker: >»Kxil und Existentialismus. Schwierigkeiten einer Wiederbegegnung«. In: Wulf Koepke / Michael Winkler (Hg.): Exilliteratur 1933- 1945. Darmstadt 1989 (Wege der Forschung 647). — 2 2 »Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur«. Zuerst in Akzente 1 5 ( 1 9 6 8 ) , S. 5 5 6 - 5 7 5 . — 23 »The Reception of the German Writers in Exile by the American Liberal Press 1 9 3 3 - 1945: Changes and Trends«, S. 9 5 - 1 18; einschlägige Beiträge in den Bänden Deutsche Exilliteratur seit 1933 sind von Wulf Koepke: »Die Exilschriftsteller und der amerikanische Buchmarkt«, Carol Bander: »Exil und Exilliteratur im Spiegel der deutschsprachigen Presse der Westküste 1933—1949« (Bd. 1: Kalifornien)-, die deutsche Fassung von Carol Paul-Merritts Artikel und Christoph F^ykman: »Manfred George und der Aufbau: Ihre Bedeutung für die deutsche Exilliteratur in den USA«. Zum Band Die Resonanz des Exils s. u. — 24 Das Exilerlebnis. Verhandlungen des vierten Symposiums über deutsche und österreichische Exilliteratur, Hg. von Donald G. Daviau und Ludwig M. Fischer. Columbia, South Carolina, 1982. — 25 Dazu gehören vor allem Ehrhard Bahr: »Das zweite Exil: Zur Rezeption der Exilliteratur in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1959«, Frank Trommler: »Die >wahren< und die wahren Deutschen. Zur Nicht-Rezeption der Exilliteratur«, Siegfried Mews: »Die Rezeption der Exilliteratur in der Neuen Rundschau (1945— 1949)«, Alexander Stephan: »>...ausgesetzt auf dem WeltMeer der Unendlichkeitc Exilliteratur in der SBZ« und Harold von Hofe: »Feuchtwanger, die Sowjetzone und die frühen Jahre der DDR«. — 26 Die so wichtigen und bemerkenswerten französischen Forschungen, wie sie in Les barbeles de l'exil, Exiles en France, Les bannis de Hitler und weiteren Einzelstudien dokumentiert sind, können hier nicht einbezogen werden. — 27 Latin America and the Literature of Exile. A Comparative View of the 20th-century European Refugee Writers in the New World. Hg. von Hans-Bernhard Moeller. Heidelberg 1983 behandelt neben deutschsprachigen Schriftstellern auch spanische, französische, polnische und ukrainische. — 28 Im Fall Mexiko gibt es natürlich die gründliche Studie von Fritz Pohle, für Argentinien von Olga Elaine Rojer: Exile in Argentina 1933-1945. A Historical and Literary Introduction, 1989. In der Reihe Exilstudien ist gerade erschienen: Renata von Hanffstengel: Mexiko im Werk von Bodo Uhse. Das nie verlassene Exil. — 29 Diese Fragen ergeben sich am deutlichsten im Aufsatz von Dagmar Barnouw: »Die Versuchung der Ferne: Broch und das Problem der Masse«. Doch abgesehen von Vorbehalten gegenüber sozialistischen/ kommunistischen Schriftstellern kommt immer wieder die Frage der »Unterhaltungsliteratur« ins Spiel. Hier folgt die Germanistik in den USA mehr deutschen als amerikanischen Kriterien, wenn sie Erich Maria Remarque oder Vicki Baum abqualifiziert. — 30 James K. Lyon: Bertolt Brechts American Cicerone. With an Appendix Containing the Complete

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Gorrespondence between Bertolt Brecht and Ferdinand Reyher. Bonn 1978 und Brecht in America. Princeton 1980; dazu eine größere Zahl weiterer Aufsätze; vgl. James K. Lyon: »Brecht auf dem Broadway«. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 2: New York, S. 1 5 4 9 - 1 564. — 3 1 Exil: Wirkung und Wertung. Ausgewählte Beiträge zum fiinften Symposium über deutsche und österreichische Exilliteratur. Hg. von Donald G. Daviau und Ludwig M. Fischer. Columbia, South Carolina, 1985. — 3 2 Michael Winkler: »Der Intellektuelle als Kreuzritter. Über ein Motiv in Kriegsromanen von Gustav Regler und Stefan Heym«, und Gerhard Schmidt-Henkel (Saarbrücken): »Gustav Reglers Romane Das große Beispiel und Juanita &\s Versuch einer literarischen Verarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs«. — 3 3 Fritz Hackert (Tübingen): »Wider den völkischen Bauernroman. Gustav Reglers Roman Die Saat als Antwort aus dem Exil«, S. 2 2 9 - 2 4 4 . — 3 4 Alexander Stephan: »Spätfolgen des Exils. Zwischenbericht zu Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands«. Aus einer anderen Perspektive: Gerhart Pickerodt (Marburg): »Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster. Ein Beitrag zur >Vergangenheitsbewältigung?TurmzimmerCreative Writing< und Germanistik im Exil«. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York, S. 1 3 2 5 - 1 3 4 0 , wo Namen wie Bernhard Blume, Rudolf Kayser, Ludwig Marcuse, Oskar Seidlin, Ernst Waldinger, Werner Vordtriede, Heinz Politzer u . a . m . auftauchen.

Dieter Schiller

Zur Exilliteraturforschung in der D D R Ein Rückblick aus persönlicher Sicht

Ein Vierteljahrhundert lang habe ich mich vorwiegend mit der Exilliteratur befaßt. Diese Arbeit war eingebunden in die politischen Konfrontationen der beiden Deutschländer, ist aber niemals losgelöst von der internationalen Forschung betrieben worden. Auch innerhalb der zuweilen wenig fairen gegenseitigen Attacken ging der Blick für die Leistungen der einen oder andern Seite selten verloren. Allerdings glaube ich auch heute, daß die in den Vereinigten Staaten oder in der Bundesrepublik veröffentlichten Publikationen zur Exilliteratur zumindest in den siebziger und beginnenden achtziger Jahren von den Forschern in der DDR weitaus sorgfältiger zur Kenntnis genommen worden sind als umgekehrt. Doch das mag mein persönlicher Eindruck sein. Jedenfalls war die Herausforderung durch internationale Forschungstrends besonders in den siebziger Jahren ein wesentliches Stimulans für die forcierten Bemühungen um eine Bündelung der sehr unterschiedlichen Forschungsansätze in der DDR. Von einer homogenen, einheitlichen methodischen Prinzipien folgenden Exilliteraturforschung kann in der DDR zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Ich habe es immer als förderlich empfunden, in einer stabilen Forschungsgruppe der Akademie der Wissenschaften tätig sein, von meinen Kollegen profitieren und mit ihnen zusammen meine eigenen Ideen verfolgen zu können. Dennoch waren selbst in diesem kleinen Kreis so ausgeprägte persönliche Interessen und Herangehensweisen bestimmend, daß wohl keiner von uns sich ohne weiteres auf ein verbindliches Arbeitsprofil der Gruppe hätte festlegen lassen. Es versteht sich, daß die Unterschiede in anderen Institutionen mit anderen Schwerpunkten der Arbeit noch weitaus gravierender waren. Deshalb kann der Versuch eines Rückblicks, wie ich ihn hier unvorsichtigerweise unternehme, nur eine individuelle Sicht vermitteln. Die Erfahrungen und Aspekte, die mir wichtig scheinen, die meine Arbeit geprägt haben, mögen für meine Kollegen einen anderen Stellenwert besitzen. Ich kann nur für mich reden und für niemanden sonst. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich bei allen Zustimmung finden würde mit meiner These, Höhepunkt und bedeutendste kollektive Leistung der Exilliteraturforschung in der DDR sei die Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933—1945• Mit programmatischem Bezug auf Peter Weiss' Ästhetik des Widerstandes wurde diese Reihe von Werner Mittenzwei

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initiiert und von 1978 bis 1981 bei Reclam in Leipzig herausgegeben. Das Konzept wurde etwa 1975 entwickelt, ich selber war erst seit 1978 daran beteiligt, als ein Großteil der Texte bereits vorlag. Bestimmend war das Prinzip der Länderdarstellung, die Konzentration auf die Exilzentren, die Asylbedingungen und die politisch-soziologische Struktur des jeweiligen Exils. Große Aufmerksamkeit wurde der Spezifik der politischen und kulturellen Organisationen innerhalb der Emigrationszentren gewidmet. Der Akzent lag eindeutig auf dem literarisch-kulturellen Leben, Schwerpunkt war die Exilliteratur, aber die Beziehung verschiedener Künste in den jeweiligen Zentren wurde besonders hervorgehoben. Ohne polemisch angelegt zu sein, war das ein Gegenentwurf zu HansAlbert Walters unabgeschlossenem Monumentalwerk Deutsche Exilliteratur. Mittenzweis Idee war die Zusammenführung aller in der DDR zu Exilproblemen Arbeitenden in einem Projekt, das soweit wie möglich auf Quellenarbeit, Nutzung der Archive, Befragung von Zeitzeugen gestützt sein sollte. Ziel war die umfassende Dokumentation möglichst aller Strömungen und Tendenzen im Exil, sofern sie für Kultur und Kunst belangvoll schienen. Ausdrücklich ging es darum, Kontroversen und Widersprüche innerhalb des Kulturexils zu akzentuieren, die in der Öffentlichkeit der DDR oft verschwiegen worden waren. Die Zäsuren und der Wechsel von Schwerpunkten in der Entwicklung von Literatur und Kunst im Exil sollten deutlich benannt, das spezifische Gewicht der Exilzentren innerhalb der einzelnen Phasen des Exils erkennbar gemacht werden. Unverkennbar sind die Unterschiede im Darstellungstyp der einzelnen Bände und mitunter auch innerhalb eines einzelnen Bandes entsprechend der Forschungsinteressen oder Erfahrungen der verschiedenen Autoren, zum Teil Erinnerungsberichte, zuweilen sogar direkte Quellendokumentation. Wesentlich für das Zustandekommen des Unternehmens war das Zusammenwirken von Historikern, Kunstwissenschaftlern, Theaterwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlern. Trotz ausführlicher kollektiver Debatten über jeden Text wurde keine Vereinheitlichung angestrebt, die Selbständigkeit der Autoren nicht angetastet. Für seinen Text behielt jeder die volle Verantwortung, es gab meines Wissens keine redaktionellen Eingriffe der Herausgeber, vom leidigen Problem des Umfangs einmal abgesehen. Das Raster von inhaltlichen und strukturellen Vorgaben war relativ grob, viel Spielraum blieb für individuelle Handschriften und Sichtweisen. Um eine Reglementierung der Autoren zu vermeiden, wurden zuweilen auch Widersprüche zwischen verschiedenen Teilen eines Bandes in Kauf genommen. Das Projekt wäre sicher nicht zustandegekommen ohne das Engagement des Verlegers Hans Marquardt vom Reclam-Verlag. Beteiligt waren Institutionen wie das Zentralinstitut für Literaturgeschichte und die Akademie der Künste, dazu kamen Mitarbeiter von Universitäten, von der Akademie für

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Gesellschaftswissenschaften und vom Institut für Marxismus-Leninismus. Zeitweise gab es freilich eine gewisse Distanz der Institutsleitungen, es ging ja in dem Projekt zum Teil um politisch prekäre Fragen. Das konzeptionelle Zentrum lag bei Werner Mittenzwei im Zentralinstitut für Literaturgeschichte, die Mehrzahl der Mitarbeiter stammte allerdings aus anderen Institutionen, sie bildeten eine lockere Arbeitsgruppe, die von Mittenzwei und den für den jeweiligen Band Verantwortlichen geleitet wurde. Entscheidend für das zügige Zustandekommen des Unternehmens war die erstaunliche wissenschaftsorganisatorische Befähigung des Herausgebers, sein Blick für die Möglichkeiten, die sich aus den umfangreichen Einzelforschungen und den bestehenden Arbeitsgruppen zur Theater- und Kunstgeschichte, zur Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts etc. ergaben. Wie sahen die Voraussetzungen für ein solches Unternehmen aus? Das Interesse für Exilliteratur war in der Öffentlichkeit der DDR schon seit Ende der vierziger Jahre ausgeprägt. Die erste größere Dokumentation von Richard Drews und Alfred Kantorowicz Verboten und verbrannt (1947) war eine wichtige Orientierungshilfe, sie bot das breiteste Spektrum von Namen und Positionen, das jemals in der DDR vorgestellt wurde. Als erster zusammenfassender Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933 bis 1947 erschien 1948 Unter fremden Himmeln von F. C. Weiskopf im Dietz-Verlag. Das Buch war relativ weit verbreitet, es gab ein skizzenhaftes Panorama der Exilsituation, der Zeitschriften und Verlage, der Themenkreise der Exilliteratur. Auch hier war noch ein recht breites Spektrum von Namen und Buchtiteln erfaßt. Exilliteratur schloß für den Prager Deutschen Weiskopf alle deutschschreibenden Autoren ein, die von den Nazis geächtet und vertrieben waren. Später verengte sich der Kreis der öffentlich beachteten Autoren des Exils beträchtlich. Ich habe diese Titel als Student gelesen, natürlich auf dem konzeptionellen Hintergrund der Studie von Georg Lukacs' Deutsche Literatur während des Imperialismus (1945), der ich die theoretischen und methodischen Gesichtspunkte meiner literaturhistorischen Wertung abzugewinnen versuchte. Den Widerspruch, der so offenkundig zwischen der Sicht von Weiskopf und Lukacs auf den literarischen Prozeß besteht, habe ich damals kaum wahrgenommen, zumindest nicht für sehr wichtig gehalten. Die erst 1972 gedruckte Antrittsvorlesung Wieland Herzfeldes in Leipzig Die deutsche Literatur im Exil von 1949 kannte ich als Berliner Student des Jahrgangs 1951 natürlich nicht, Hans Mayers Rede auf der Gedenkfeier des Schutzverbandes deutscher Autoren zum 15. Jahrestag der Bücherverbrennung Die deutsche Literatur und der Scheiterhaufen — im Band Literatur der Ubergangszeit (1949) veröffentlicht - schien mir im großen und ganzen die Sicht Lukacs' zu bestätigen. Sie hat lange Zeit meine Wahrnehmung und Interpretation der Exilliteratur stark gesteuert.

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Wesentliche Probleme, die im Exil debattiert worden waren, wurden mir von der Zeitschrift Aufttau, der Kulturbundzeitschrift, vermittelt. D a ß hier eine bestimmte kulturpolitische Position, die der Kulturbundleitung unter Johannes R. Becher, vertreten wurde, der andere entgegenstanden, zum Beispiel in der Zeitschrift Heute und morgen und vor allem auch in Sinn und Form, ahnte ich hin und wieder, ohne die Implikationen zu Ende zu denken. Die Zeitschrift Ost und West, die immerhin einige Einblicke in Exilprobleme gab, habe ich erst sehr viel später kennengelernt. Sie konnte meine Sicht ebensowenig beeinflussen wie die im Alfred Kantorowicz Verlag erschienenen Bände von Alfred Kantorowicz Porträts. Deutsche Schicksale (1947), Vom moralischen Gewinn der Niederlage (1949) oder die Erinnerungen Maximilian Scheers Begegnungen in Europa und Amerika (1949), die ich als Student nicht in die H a n d bekam. Doch wurde mein Bild von der Exilliteratur in starkem Maße durch die Vorlesungen von Alfred Kantorowicz zur Literatur des 20. Jahrhundert geprägt, auch wenn diese Vorlesungen mir wenig methodisches Rüstzeug geben konnten. Sie gaben aber - neben vielen neuen Autoren und Buchtiteln — etwas, was bei Lukäcs völlig fehlte: Eindrücke eines Beteiligten vom literarischen Leben, Einblicke ins Wechselverhältnis von Biographie und Schaffensprozeß der Autoren, Nachrichten von Asylpraxis u n d Lebensbedingungen in den Asylländern, insbesondere in Frankreich und in den USA. Nicht zuletzt war von Kantorowicz - vor allem später während meiner ersten Assistentenzeit seit 1955 - etwas über die Differenzen und Streitigkeiten zwischen den Gruppen und Cliquen in der Schriftstelleremigration zu hören, soweit ich mich erinnere sogar von der Expressionismus-Debatte, zumindest vom Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukäcs. Das war für mich als Ergänzung und Korrektur der stringenten theoretischen Linie von Lukäcs äußerst wichtig. In gewisser Weise ist sogar hier der G r u n d stein für mein späteres Interesse für proletarisch-revolutionäre Literatur und Exilliteratur gelegt worden. Denn es waren Kantorowicz' sarkastische und oft giftigen Seitenhiebe gegen Becher und manchen anderen seiner Schriftstellerkollegen, die mich noch als Student veranlaßten, im Oberseminar ein Referat über diesen Becher zu halten. Es spricht — finde ich - für den Universitätslehrer Kantorowicz, daß er meine unverhüllte Polemik gegen seine Auffassungen u n d meinen Versuch einer - wie ich glaubte - gerechteren Sicht auf Bechers Dichtung mit kritischem Wohlwollen kommentierte u n d mich später als Assistent an die Humboldt-Universität holte. Eine spezielle Exilliteraturforschung gab es während dieser Jahre in der D D R nicht. Selbst die Arbeit von Kantorowicz an der Heinrich Mann-Ausgabe konzentrierte sich auf die Weimarer Jahre. Damals war wohl die Publikationstätigkeit der DDR-Verlage, insbesondere des Aufbau-Verlages, der mit Abstand wichtigste Beitrag zur Integration von Exilliteratur ins öffent-

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liehe Bewußtsein unseres Landes. Ich habe — beispielsweise - die von Wolfgang Berndt 1956 im Greifenverlag herausgegebenen publizistischen Arbeiten von Feuchtwanger nicht zuletzt wegen der Aufsätze und Essays aus der Exilzeit als eine Sensation empfunden: seine Notizen über jüdische Belange, über den Schriftsteller im Exil und zum Fall André Gide waren Fingerzeige zu mir bis dahin fremden Gegenständen und Sichtweisen. Um vieles mehr noch gilt das für Hans Mayers Thomas Mann-Monographie und seine Thomas Mann-Ausgabe von 1956. Solche Aspekte näher zu verfolgen, wäre aber Aufgabe publikations- und verlagsgeschichtlicher Studien. Ganz gewiß war die Literatur des antifaschistischen Exils, die in den vierziger bis sechziger Jahren schrittweise zugänglich wurde, für die Herausbildung eines antifaschistischen Konsens in der kulturellen Öffentlichkeit der DDR von großem Gewicht. Ob man diesen Antifaschismus nun als verordnet bezeichnet oder nicht, scheint mir weit weniger wichtig als die Selektion, die von Anfang an den offiziellen Antifaschismus in unserm Lande deformiert hat: Ausgeschlossen wurde von vornherein jede Kritik am Stalinismus. Das mag zunächst noch erklärbar sein durch die Anwesenheit der sowjetischen Besatzungsmacht und später des dominierenden Bündnispartners Sowjetunion. Aber im Zug der Instrumentalisierung als staatstragende Idee erfolgte darüber hinaus auch - je nach taktischen Bedingungen mehr oder weniger rigide — eine ausgrenzende Definition des Antifaschismus als Antiimperialismus oder gar Antikapitalismus. Es wurde zur Praxis, Nähe oder Ferne zum Volksfront-Konzept und vor allem zur führenden Rolle der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Partei als Grundkriterium der Wertung zu betrachten. Antifaschismus wurde mit Bereitschaft zum Bündnis auf dieser Basis weitgehend gleichgesetzt. Die Kaschierungs- und Interpretationstechnik, mit der Äußerungen der großen Bezugspersonen dem angepaßt oder einverleibt wurden, wäre ein eigener Untersuchungsgegenstand und er ist kein Ruhmesblatt der DDR-Geschichts- und Literaturwissenschaft. Falsch wäre freilich, sich mit solcher Feststellung zu begnügen. Denn natürlich sollte ein unvoreingenommener Betrachter — ganz im Gegensatz zu den vorurteilsgesteuerten und wenig kenntnisreichen Auslassungen von Antonia Grunenbergs Antifaschismus — ein deutscher Mythos (1993) - nicht übersehen, daß die Bedeutung antifaschistischen Selbstverständnisses vieler Intellektueller der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR gerade darin liegt, daß im Begriff des Antifaschismus verschiedene konzeptionelle Ansätze und Interessenlagen in der Ablehnung faschistischer oder faschistoider Bewegungen und Herrschaftsformen konvergieren und demokratische Alternativen verschiedener Couleur reflektiert werden. Die verhängnisvolle Selbststrangulierung der kommunistischen Bewegung durch die Sozialfaschismusthese hatte sie gerade in diesem entscheidenden Punkt handlungsunfähig gemacht, so daß die Erinnerung daran verschüttet, verdrängt und

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verboten war. Das Konzept einer antifaschistisch-demokratischen Erneuerung war sowjetorientiert und auf gesellschaftliche Umwälzung gezielt, aber zumindest verbal auf nationale Interessen und Integration ausgelegt. Vielleicht wäre es sinnvoller, statt von Antifaschismus lieber von Antifaschismen zu reden, von verschiedenen Alternativ-Konzepten und Vorstellungen politischer Perspektive, die in dem einen entscheidenden Punkt konvergieren, daß die Beseitigung des Faschismus - gegebenenfalls auch ähnlicher autoritärer Herrschaftsformen - Voraussetzung dafür ist, politische und soziale Emanzipation weiterzutreiben. Einen streng definierbaren Antifaschismus gibt es meines Erachtens nicht und hat es niemals gegeben, nur mehr oder weniger konvergierende Vorstellungen von Gegnerschaft und Alternativen zum Faschismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Nicht zuletzt deshalb hat in der Literaturforschung der D D R die Beschäftigung mit den konkreten Gegenständen immer einen Eigenwert besessen. Neben der unzweifelhaft wirksamen Tendenz zur staatslegitimatorischen Einvernahme hat immer auch eine andere Tendenz eine Rolle gespielt, die Tendenz, das Spektrum der untersuchten antifaschistischen Positionen möglichst zu erweitern, das kritische Potential der antifaschistischen Tradition — sei es auch nur punktuell — aufzugreifen und in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Das Konzept Antifaschismus ist im Kern vor allem ein emanzipatorisches, sonst hätte es nicht ein so wirksames Instrument politischer Einvernahme werden können. Antifaschismus ist nicht gleich Stalinismus, im Gegenteil war die Beschäftigung mit einem breiteren Spektrum antifaschistischer Positionen nicht selten für Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, die emanzipatorisches Potential im Realsozialismus freizulegen suchten, ein wesentliches M o m e n t der Sprengung stalinistischer Denkschemata. Es ist deshalb sicher kein Zufall, daß die Beschäftigung mit Exilliteratur u n d Exilproblematik zunächst nicht als spezielle Exilforschung begann, sondern im Rahmen von biographischen und monographischen Arbeiten zu einzelnen Autoren. Gewiß war dabei in der Regel der werkinterpretatorische Aspekt stärker ausgeprägt als die Intensität der Aufschließung exilspezifischer Quellen und Kontexte. Aber die Einordnung ins Gesamtwerk oder in einen bestimmten thematischen Z u s a m m e n h a n g erlaubte doch, die ideologischen Reduktionen zurückzudrängen. Ich nenne hier vor allem Inge Diersens Untersuchungen zu Thomas Mann (1959), die die Bedeutung der Künstlerdarstellung für die Entwicklung des Realismus in seinem erzählerischen Werk behandelte. Natürlich war die Konzentration auf das Realismus-Problem an den literaturpolitischen Vorgaben orientiert, aber das Bemühen, eine allzu enge Sicht des modernen Realismus zu durchbrechen, ist unverkennbar. Im folgenden Buch Seghers-Studien (1965) ist die Autorin diesen Weg weitergegangen und hat - in produktiver Anlehnung an Käthe H a m b u r g e r -

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anhand von Interpretationen von Werken aus den Jahren 1926 bis 1935 den Beitrag der Seghers zur modernen deutschen Epik in ihrer Eigenart zu beschreiben versucht. Heute würde man sicher fragen, warum dabei — beispielsweise - Walter Benjamin völlig ausgeklammert blieb. Aber es war eben kein Buch übers Exil und seine Vorgeschichte, sondern über die erzählerischen Neuerungen der Seghers; behandelt wurde, was für die Werkanalyse wichtig schien. Solche monographischen Arbeiten blieben auch weiterhin ein wesentliches Stimulans für Forschungen zum Exil. Klaus Hermsdorfs Monographie über Thomas Manns Schelme (1968) untersucht Figuren und Strukturen des Komischen mit Blick auf das Exilschaffen. Ein schönes Beispiel, wie exakte werkgeschichtliche Analyse, genretheoretische Problemstellung und Exilliteraturforschung zusammengehen können, ist Hans Dahlkes Caesar bei Brecht (1968). Nachdem sie mit ihrer - leider unveröffentlicht gebliebenen — Dissertation Die Chroniken in den >Svendborger Gedichtem (1959) eine der ersten Spezialuntersuchungen zur Lyrik im Exil vorlegen konnte, hat Silvia Schlenstedt sich immer wieder mit Lyrik und Lyrikern im Exil beschäftigt (u.a. Lyrik im Gesamtplan der Produktion, Weimarer Beiträge (künftig WB) 1978/2, Stephan Hermlin, 1985). Eines der erregendsten Ergebnisse ihrer Forschungen war die Publikation der Spanien-Akte Arendt (1986) mit Texten des Dichters Erich Arendt aus dem spanischen Bürgerkrieg. Exilliteraturforschung im engeren Sinne beschäftigt sich mit dem politischen Exil und seiner Beziehung zur jüdischen Massenemigration, mit Asylbedingungen, Verlags- und Pressesystem, Organisationsformen und Strukturen des kulturellen Lebens, Lebens- und Produktionsbedingungen von Autoren, mit den Querverbindungen zwischen den Exilzentren, aber auch den Beziehungen zur Kultur des Gastlandes. Es ist nicht leicht zu sagen, wann Forschungen solcher Art in der DDR systematisch in Angriff genommen wurden. Seltsamerweise scheint eine der deprimierendsten Perioden im politischen Leben der DDR ein erster Anstoß gewesen zu sein: die tiefgreifende kulturpolitische Wendung um 1957, die dann in den sogenannten »Bitterfelder Weg« mündete. Nach dem ungarischen Aufstand war Georg Lukäcs ins Kreuzfeuer der politischen Kritik geraten und Hans Mayer mit seinem Vortrag Zur Gegenwartslage unserer Literatur (Sonntag, 2.12.1956) heftig attackiert worden. Johannes R. Becher geriet ins politische Abseits und konnte sich nur durch totale Selbstpreisgabe seinen Nachruhm als sozialistischer Klassiker von Ulbrichts Gnaden retten. Die krisenhafte Entwicklung nach dem XX. Parteitag der KPdSU sollte ideologisch .durch Besinnung auf sozialistische Traditionen bewältigt werden. Darauf zielte Alexander Abusch nach Bechers Entmachtung auf der Kulturkonferenz 1957 mit seiner Neuwertung der proletarisch-revolutionären Literatur, die zum Ausgangspunkt einer entstehenden sozialistischen Nationalliteratur erklärt wurde. Erst von

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hier aus wurde dann später das Modell der zwei deutschen Literaturen entwickelt. Konsequenz dieser Entwicklung war unter anderem die Gründung der Abteilung Geschichte der sozialistischen Literatur der Akademie der Künste in Leipzig, die mit einer systematischen Sammlung und Bibliographierung der proletarischen und sozialistischen Literatur vom Ersten Weltkrieg bis in die fünfziger Jahre begann. Die Textdokumentation Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland( 1967) machte Materialien der frühen Exilzeit zugänglich, in der späteren Neuausgabe von 1979 wurde daraus eine der umfassendsten Dokumentationen zur sozialistischen Exilliteratur, von den Herausgebern sorgfältig kommentiert und in den Exilzusammenhang eingeordnet. Bedeutsam für die Exilforschung wurden bibliographische Publikationen, vor allem die Veröffentlichungen deutscher sozialistischer Schriftsteller in der revolutionären und demokratischen Presse 1918—1945 (1966) von Edith Zenker und Deutsche sozialistische Literatur 1918—1945. Bibliographie (1975) von Brigitte Melzwig. Damit war eine bis der Buchveröffentlichungen heute unentbehrliche Arbeitsgrundlage geschaffen, freilich in ihrem Wert begrenzt durch die jeweiligen restriktiven Definitionen, was sozialistische Literatur sei. Eine systematische Exilliteraturforschung entwickelte sich in der DDR weitgehend im Rahmen von Forschungen zur sozialistischen Literatur. Vor allem das unter der Leitung von Silvia Schlenstedt an der Berliner Humboldt-Universität — unabhängig von der Leipziger Arbeitsgruppe — entstandene Lexikon sozialistischer Literatur (1963) wurde zu einem Sammelpunkt für Forscher verschiedener Institutionen, die sich mit Autoren, Themen und Problemen beschäftigt hatten, die auch für die Literatur des Exils Bedeutung besaßen. So war ich selber mit dem Exilwerk von Kuba (Kurt Barthel) befaßt und schrieb den entsprechenden Artikel des Lexikons, Horst Haase, mit seiner Monographie zu Johannes R. Becher beschäftigt, war Autor des BecherArtikels und Horst Eckert, der gerade eine Dissertation Die Beiträge der deutschen exilierten Schriftsteller in der »Neuen Weltbühne« (1962) abgeschlossen hatte, schrieb natürlich darüber. Die Autorenschaft war heterogen, sie reichte von Hans Baumgart, der in seiner Dissertation Der Kampf der sozialistischen deutschen Schriftsteller gegen den Faschismus (1962) sich ganz auf die proletarisch-revolutionäre Literatur orientierte, bis zu Hans Kaufmann, der in seinem Buch Bertolt Brecht — Geschichtsdrama und Parabelstück (1962) einen essayistischen Beitrag zur Theorie des Dramas anstrebte - bei kritischer Wertung von Brechts Theorie. Aus heutiger Sicht scheint mir das Problem des Lexikons, daß letztlich doch ein vergleichsweise enger Begriff von sozialistischer Literatur zugrundegelegt worden war, daß die sogenannten »Renegaten« ausgeklammert blieben und daß viel Kraft darauf verwandt wurde, sozialistische Parteilichkeit

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zu demonstrieren und das Prinzip der Parteiliteratur zu propagieren. Ich will damit nicht sagen, daß das engstirnig geschah. Zwar war kein Platz für Ernst Bloch, O . M. Graf und Willi Münzenberg, aber immerhin für Erich M ü h sam, Kurt Tucholsky und sogar - fälschlicherweise meine ich - für Arnold Zweig. Insgesamt repräsentierte das Lexikon den damaligen Stand der Forschung zur sozialistischen Literatur und ihren Organisationsformen im Exil. Aspekte des literarischen Lebens wurden in die Darstellung stark einbezogen, Organisationen und Verlage wurden charakterisiert, und ausgeprägt war die Aufmerksamkeit auch für Autoren der zweiten Reihe. Obwohl unter Kriterien entstanden, die stark von der aktuellen ideologischen Ausrichtung der S E D bestimmt waren, ist das Bemühen unverkennbar, die Fäden zum literarischen Prozeß insgesamt und vor allem zu avantgardistischen Strömungen nicht abreißen zu lassen, die offiziell oft noch Dekadenz genannt wurden. Die rigiden Tabuierungen von Personen und Vorgängen gehören aus der Rückschau zu den bittersten Schranken der Forschung zum Exil. Sie gingen immerhin so weit, daß Maximilian Scheer in seinem dokumentierenden Erinnerungsbuch So war es in Paris (1964, 2. Auflage 1972) - bis heute eine der wichtigsten quellenfundierten Darstellungen zum Pariser Exil - die Namen Münzenbergs, Koestlers u n d Reglers nicht nannte, obwohl die Personen, freilich bis zur Karikatur verzerrt, mit ihren Vornamen auftauchen u n d vom Insider leicht identifiziert werden konnten. Übrigens ging es mir selber ein Jahrzehnt später nicht besser, freilich aus ganz anderen Gründen. Als ich mein Buch Von Grund auf anders (1974) schrieb, fehlte der N a m e Münzenbergs ebenfalls in meinem Text, was mir - mit Recht - in der Kritik westlicher Kollegen angekreidet wurde. Sie konnten nicht wissen, daß ich eben nicht mehr bereit war, die zentrale Gestalt im Propagandaapparat der Komintern als Karikatur zu zeichnen, aber keinerlei Möglichkeit sah, ein durch Quellen fundiertes reales Bild zu geben. Da ließ ich lieber eine sichtbare Lücke stehen. Die literaturpolitische Orientierung auf proletarisch-revolutionäre Traditionen seit 1957 ist — wie immer man sie werten mag - eng mit der massiven Polemik gegen Georg Lukacs u n d seiner literaturpolitischen Ausgrenzung verbunden, wie sie vor allem in dem Sammelband Georg Lukacs und der Revisionismus (1960) dokumentiert ist. Der meines Wissens erste Versuch einer Gesamtdarstellung Literatur im Exil (1966) von Klaus Jarmatz bis heute immer wieder als repräsentative DDR-Darstellung zitiert - ist im Kern eine polemische Studie gegen Lukacs' Essay über die Literatur im imperialistischen Zeitalter. Gegen das Konzept des großen Realismus wird eine Sicht der Literatur gesetzt, die von einer Annäherung der bürgerlichen Realisten an die sozialistische Literatur ausgeht und von hier aus das Programm einer Volksfrontliteratur entwirft, als deren Prototyp Johannes R. Becher erscheint. Methodisch ist die Arbeit also Lukacs verpflichtet, nur daß in der

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Wertungsskala statt der »großen Realisten« die »Parteiliteratur« den Maßstab abgibt. Ich habe diese Arbeit immer als literaturpolitische Programmschrift aus dem Umkreis des Instituts für Gesellschaftswissenschaften gelesen, weniger als literaturgeschichtliche Studie zum Exil. Einer solchen literaturpolitisch-programmatischen Sicht war schon Erika Hinckels Buch über Gegenwart und Tradition. Renaissance und Klassik im Weltbild Johannes R. Bechers (1964) verpflichtet. Mit ihrer thematischen Beschränkung auf einen isolierten Aspekt der Selbstinterpretation des behandelten Autors, des zu seinem Unglück zum Klassiker ernannten Becher, gelangt die Schreiberin zwangsläufig zu einer apologetischen Fehlinterpretation. Sogar Horst Haases — in der Werkinterpretation solides - Buch über Johannes R. Bechers Deutschland-Dichtung (1964) entgeht dieser Gefahr nicht ganz. Die Isolierung der Werkinterpretation vom tatsächlichen Umfeld der Exil-Wirklichkeit (der stalinistische Terror wird sogar völlig ausgeblendet) wird hier zur rückgreifenden Bestätigung eines Schemas vom Aufstieg der sozialistischen Literatur zur Nationalliteratur, wie es der offiziösen Literaturpolitik jener Jahre in der DDR zugrundelag. Sammelbände und Dokumentationen zu Dichterjubiläen und Gedächtnisschriften mit Erinnerungen, Nachdrucken, Würdigungen etc. haben schon verhältnismäßig früh Hinweise und Anregungen für Exilliteraturforschung gegeben. Ich meine Bände wie Dem Dichter des Friedens Johannes R. Becher{ 1951), Georg Lukdcs zum 70. Geburtstag (1955), Willi Bredel. Dokumente seines Lebens (1961) und vor allem die Sonderhefte von Sinn und Form über Arnold Zweig (1952), Bertolt Brecht (1957), Johannes R. Becher (1959), Willi Bredel (1965) etc. Allein die Bibliographien dieser Heftestießen Tore zur Realität auf, natürlich mit charakteristischen Lücken. Hinzu kommen Anthologien wie erinnerungen an brecht (zusammengestellt von Hubert Witt, 1964) und Erinnerungen an Johannes R. Becher {1968). Ihnen sind Bände zu Weiskopf, Marchwitza, Seghers und Uhse gefolgt. Bemerkenswerte Beiträge zur Quellenerschließung für konkrete Exilliteraturforschung lieferten Nachlaß-Dokumentationen zum 100. Geburtstag Heinrich Manns {Heinrich Mann 1871 — 1950. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, v. Sigrid Anger, 1971) und zum 10. Todestag Arnold Zweigs {ArnoldZweig 1887—1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, v. Georg Wenzel, 1978), Bände, die zum Teil eine grundsätzliche Korrektur von Rezeptionsklischees ermöglicht haben. Man muß bedenken, daß im gleichen Jahr, als der Band über Heinrich Mann erschien, auf der Konferenz der Akademie der Künste Alexander Abusch sein Referat darauf angelegt hatte, Heinrich Mann als einen Autor des sozialistischen Realismus zu reklamieren (Heinrich Mann am Wendepunkt der deutschen Geschichte. Arbeitsheft der DAK 1971), auch wenn er dabei keine Gegenliebe beim Auditorium fand. Mir scheint, daß gerade solche vereinnahmenden und reduktionistischen

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Sichrweisen kulturpolitisch verantwortlicher Leute und die Reglementierungen gegenüber Geschichtsdarstellungen nicht wenige Wissenschaftler auf Bemühungen um Autoren ausweichen ließ, die nicht auf der Hauptlinie der offiziösen Konstruktion von Literaturgeschichte lagen. Beispielsweise hat Maximilian Scheer sich erfolgreich bemüht, das Werk seines Freundes Rudolf Leonhard in vier Bänden herauszubringen ( 1 9 6 1 - 1 9 7 0 ) , die viele erstveröffentlichte Exiltexte enthalten, vor allem den Gedicht-Zyklus Le Vernet. In Halle wurde eine - leider unveröffentlichte - Dissertation von Rudolf Stöber Rudolf Leonhard: Seine literarische und weltanschauliche Entwicklung (1963) verteidigt. Sie eröffnete materialreich, wenn auch mit wenig Verallgemeinerung, Zugang zu diesem bis heute wenig bekannten Dichter. Bemerkenswert ist er durch seine Poetologie, einen literarischen Avantgardismus, der auf kathartischen Prinzipien aufbaut. Im Pariser Exil hat er — wenn auch von Parteibürokraten wenig geschätzt - eine zentrale Rolle gespielt. In der D D R wurde er als ein Westemigrant mit eigenwilligen Ansichten beiseite gedrängt. Besonders intensiv und im Sinne einer Exilliteraturforschung relevant waren die Bemühungen um eine literarische Wiedereinbürgerung von Alfred Döblin. Seine Vorbehalte gegen Marxismus und Kommunismus wurden dabei eher am Rande erwähnt, vor allem ging es um Veröffentlichung und Interpretation seines schriftstellerischen Werkes. Sicher ist Klaus Hermsdorfs Nachwort zu Pardon wird nicht gegebenvon 1961 noch kein spezifischer Beitrag zur Exilforschung, hier ging es darum, dem Roman aus dem Exil erst einmal Anerkennung zu verschaffen. Anders die Biographie von Roland Links, die in der Reihe des Volk und Wissen Verlages Schriftsteller der Gegenwart 1965 erstmals erschienen ist und - stark bearbeitet - 1976 in neuer Auflage herauskam. Diese Neuauflage erfolgte allerdings schon vor dem Hintergrund einer sukzessiven Veröffentlichung der Werke durch Manfred Beyer, der neben dem Publizistik-Band Die Vertreibung der Gespenster (1968) auch die Romantrilogie Amazonas (1973) mit einem interpretierenden Nachwort herausgebracht hatte. H ö h e p u n k t dieser Bemühungen wurde die Veröffentlichung des im Exil geschriebenen vierbändigen Erzählwerks November 1918 (1981), die wegen der historisch anfechtbaren Charakteristik von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nur gegen starke Widerstände durchgesetzt werden konnte. Die sechziger Jahre waren eine Zeit intensiver individueller Arbeiten zur Literatur der zwanziger Jahre u n d des Exils, zu einem beträchtlichen Teil nicht von akademischen Germanisten, sondern von Verlagsleuten betrieben. So widmete sich Ruth Greuner in ihrem Buch Gegenspieler {1969) einer Reihe von linksbürgerlichen Publizisten, die im Exil eine Rolle gespielt hatten, aber in der Öffentlichkeit der D D R kaum zur Kenntnis g e n o m m e n worden waren: Balder Olden, Alfred Polgar, Arthur Holitscher, Hellmuth von Ger-

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lach, Alfons Goldschmidt, Rudolf Olden, Berthold Jacob und Walter Mehring. Deren eigenständige Positionen kenntlich zu machen, die zuweilen von tieferen Einsichten zeugten, als ihre kommunistischen Freunde und Gegner es wahrhaben wollten, war für das Bild des Exils bedeutsam. Dieser ersten zunächst wenig zur Kenntnis genommenen - Pionierleistung folgten dann die Ausgaben von Exilwerken René Schickeies und Balder Oldens. Es versteht sich, daß auch in den siebziger und achtziger Jahren Editionen wenig bekannter Exilautoren ein unverzichtbarer Strang der Exilforschung geblieben sind. Stellvertretend nenne ich hier nur die Bemühungen H. D. Tschörtners um den Nachlaß von Johannes Wüsten und die Herausgabe der Schriften von Maria Leitner durch Helga Schwarz. Als Ende der sechziger Jahre parteioffiziell beschlossen wurde, die Fertigstellung der Geschichte der deutschen Literatur im Volk und Wissen Verlag zu forcieren (Bemühungen in dieser Richtung liefen seit 1952), konnte von einer entwickelten ELxilliteraturforschung in der DDR noch nicht die Rede sein. Spezielle Monographien zu zentralen Themenbereichen fehlten, ebenso Studien zur Presse im Exil und vor allem Länderstudien. Der Kanon der erforschten Einzelgestalten war noch nicht sehr umfangreich, völlig fehlten die sogenannten »Renegaten«. Autoren der »zweiten Reihe« waren bestenfalls innerhalb der Lexikonarbeiten oder der Arbeit zur sozialistischen Literatur bearbeitet worden. Einen - wie ich meine, recht einseitigen - Querschnitt über den Stand der Arbeiten zum Exil gaben Klaus Jarmatz, Wolfgang Kießling, Sigrid Bock, Friedrich Albrecht, Ulrich Dietzel und Helmut Lohse 1972 in ihrem Länderbericht für das II. Internationale Symposium zur Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933 in Kopenhagen. Im Zentrum standen hier Institutionen, deren offizielle Hierarchie die Darstellung und zum Teil sogar die Wertung bestimmte. Festgestellt wurde in dem Bericht — in etwas willkürlicher Interpretation - eine Nähe zur »Grundforschung«. Mit Bezug auf die Arbeit im ZIL hieß es: »Mit der Orientierung auf den Hegemon der Entwicklung, die revolutionäre Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei,« sei »auch für die Exilliteratur ein theoretisches und methodologisches Zentrum erschlossen worden«. Der Blick sei frei geworden für das »Herausarbeiten literarischer Gesetzmäßigkeiten der Gesamtepoche«. Solche Absicherungsprosa gibt freilich wenig Einblick in den tatsächlichen Stand der Forschung, wie er der Literaturgeschichtsarbeit zugrunde lag. Was waren die Dinge, auf die man sich stützen konnte? Aus der Sicht von damals wäre natürlich zuerst die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zu nennen, eine Vorgabe, um die man nicht herum kam. Freilich, obwohl da manches Neue zu lesen war, für die Arbeit an der Literaturgeschichte war es eine Qual, über Jahre hinweg immer wieder über das Verhältnis der autoritär vorgegebenen Periodisierungen in der politischen Geschichte zur Pe-

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riodisierung in der Literaturgeschichte zu diskutieren, statt sich über literarische Strömungen und Handschriften, über Autoren und ihre Werke zu verständigen. Immer wieder mußte um Ubereinstimmung mit den offiziösen Texten gerungen werden, ohne dabei der Literaturgeschichte allzuviel fremde Gesichtspunkte überzustülpen. Wie weit das gelungen ist, kann ich als Beteiligter schwer einschätzen, mein Urteil ist heute sehr viel kritischer als ich damals auch in den bittersten Stunden für möglich gehalten hätte. Eine Vorgabe anderer Qualität war die Skizze zur Geschichte der deutschen Natio-

nalliteratur

von den Anfangen

der Arbeiterbewegung

bis zur

Gegenwart

(WB 1964/5), erarbeitet von einer Gruppe von Germanisten, kein Glanzstück, aber eine Anregung zum Weiterdenken allemal. Ich hatte einiges daran auszusetzen, konnte das sogar in einer Rezension teilweise öffentlich artikulieren (Neues Deutschlandvom 18.6.1965). Aus der Rückschau meine ich, die wichtigsten Anregungen für unsere Arbeiten zur Exilliteratur sind von Hans Kaufmanns Buch Krisen und Wandlungen (1966) ausgegangen, auch wenn dieses Buch Exil-Probleme kaum berührte. Hier gab es Ansatzpunkte für Wertungen, Konzepte und Darstellungsmethoden. Nicht zuletzt konnte Kaufmann im Band 10 der Geschichte der deutschen Literatur als Bandverantwortlicher seine Vorstellungen selber weiterdenken und in die gemeinsame Arbeit einbringen. Die mittsechziger Jahre waren - das geht in berechtigten Akzentuierungen der verhängnisvollen Folgen des 11. Plenums des ZK der SED Ende 1965 zuweilen verloren - auch eine Zeit des intellektuellen Aufbruchs. Natürlich ließ Kurella seine Fledermäuse fliegen und focht gegen die Dekadenz. Aber

es gab Mittenzweis Bertolt Brecht. Von der »Maßnahme«

zu »Leben des Gali-

lei« (1962), ein Buch, mit dem Brecht in den offiziellen Literatur-Kanon eingemeindet werden konnte. Bemerkenswert geblieben sind auch Arbeiten wie Günther Hartungs Bertolt Brecht und Thomas Mann. Uber Alternativen in Kunst und Politik (WB 1966/3) oder Dieter Schlenstedts Studie Satirisches Modell im »Dreigroschenroman« (WB Brecht-Sonderheft 1968), die aus Arbeiten zur Geschichte des modernen Romans an der Akademie der Wissenschaften hervorgegangen ist. Dazu sind in den Weimarer Beiträgen Thesen zum Roman im 20. Jahrhundert von Dieter Schlenstedt und Manfred Hahn erschienen. Wichtigstes Ergebnis dieser Bemühungen waren jedoch die beiden Bände Der deutschsprachige Roman im 20. Jahrhundert (1969), eine Gemeinschaftsarbeit der Arbeitsgruppe zur Literatur im 20. Jahrhundert im Institut für deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften und des Germanistischen Instituts der HumboldtUniversität. Hier wurden Romane aus der Zeit von der Jahrhundertwende bis in die sechziger Jahre analysiert, Romane der Exiljahre waren eingebettet in die Gesamtentwicklung des Genres. Von den beiden Bänden lag die Autorkorrektur bereits vor, als ihr Erscheinen verboten wurde. Stein des

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Anstoßes war, daß Romane aus der D D R und der B R D nebeneinander standen. Das war eine »gesamtdeutsche« Sicht, die nicht sein durfte (Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und »Ästhetik« der Behinderung von Literatur. Katalog 1991, S. 75). Genannt werden m u ß hier auch ein Buch, das sicher nicht direkt zur Exilforschung gehört, aber in starkem Maße mit Material der Exiljahre arbeitete: Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR (1969). So viel man über manche Vereinfachungen lästern mag, hier waren zum erstenmal literaturtheoretische Positionen von Becher, Brecht, Fürnberg, Seghers, Hermlin, Arnold Zweig, Friedrich Wolf, Kurella, Abusch, Rilla, Scholz, Girnus und Werner Kraus als gleichberechtigt behandelt, mit einer Tendenz zur Nivellierung zwar, innerhalb einer Hierarchie, die indirekt weiterwirkte (wie wären sonst Abusch und Girnus ins Buch gekommen). Aber es war ein Buch, das endgültig Schluß machte mit der heimlich immer noch herrschenden Vorstellung, das Schlußwort zur Expressionismus-Debatte sei mit Lukäcs' Briefen an Anna Seghers zum endgültigen literaturtheoretischen Programm der D D R geworden. Weniger glücklich und sehr unzulänglich in seiner Materialbasis und theoretischen Konzeption erscheint mir dagegen der Versuch von R. Weisbach in Wir und der Expressionismus (1972), das schwierige Verhältnis der sozialistischen Kulturbewegung zum Expressionismus darzustellen. Z u den Voraussetzungen der Arbeit an der Literaturgeschichte und insbesondere des Abschnitts zur Exilliteratur gehört die intensive Erschließung neuer Quellen, vor allem der Exilpresse. Mit dem Neudruck der Zeitschrift Das Wort (1968) waren — beispielsweise - die meisten, wenn auch noch nicht alle wichtigen Texte der Expressionismus-Debatte leichter zugänglich und zitierbar geworden. Brechts Schriften zur Literatur und Kunst (1966) u n d Mittenzweis Aufsatz zur Brecht-Lukäcs-Debatte (Sinn und Form 1967/1) erschlossen nicht nur den theoretisch ergiebigsten Textkorpus, sondern kehrten die bisherige Wertung der Positionen nahezu um u n d bewirkten, daß die sozialistische Avantgardeliteratur auch in der Öffentlichkeit den ihr gebührenden Platz erhielt. Auf diesem Hintergrund führte das Verfügbarwerden wichtiger neuer Texte durch die Gedicht- und Prosa-Bände der BecherAusgabe und der Publizistik von Anna Seghers in der Sammlung Uber Kunstwerk und Wirklichkeit (1970) zu einer beträchtlichen Erweiterung des Horizonts der Exilliteraturforschung - leider noch ohne Bechers Publizistik, weil der gründlich entkanonisierende Band 15 erst 1977 veröffentlicht wurde. Schließlich und endlich erschienen auch Informationen über den Umfang der Leipziger Exil-Sammlungen mit den Publikationen von Horst H a l f m a n n : Das Schrifttum der Emigration in der Deutschen Bücherei (Deutsche Bücherei 1912—1962, 1962) und Bibliographien und Verlage der deutschen Exilliteratur (Beiträge zur Geschichte des Buchwesens, Band IV, 1969), später Zeit-

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Schriften und Zeitungen des Exils. Bestandsverzeichnis der DB (1975). Genaugenommen wurde das Bild von der Exilliteratur in diesen Jahren neu geprägt, trat die Exilliteratur endlich aus dem Windschatten der Geschichte der sozialistischen Literatur heraus. Die Forschungsgruppe der Akademie der Wissenschaften zur Deutschen Literatur im 20. Jahrhundert hatte sich Mitte der sechziger Jahre — weil ein weiterreichendes Konzept von den übergeordneten Instanzen schroff abgelehnt worden war - entschlossen, sich auf Exilliteratur zu konzentrieren. Zunächst war eine zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Exilzeitschriften geplant. Für mich war das der Beginn meiner eigenen systematischen Forschungen zur Exilliteratur. Die Aufforderung, den entsprechenden Abschnitt in der Literaturgeschichte des Volk und Wissen Verlages verantwortlich zu übernehmen, kam mir — damals Leiter der Forschungsgruppe deshalb recht gelegen, auch wenn die Leitung des neugegründeten Zentralinstituts für Literaturgeschichte sich skeptisch verhielt und darauf bestand, die Arbeit an der Literaturgeschichte sei eine Sache des Volk und Wissen Verlages und werde lediglich vom ZIL unterstützt. Das Risiko eines ideologischen Scheiterns schien offenbar zu groß. Für den Band lOder Geschichte der deutschen Literatur (1973) konnte unsere Forschungsgruppe die erste geschlossene Darstellung der deutschen Exilliteratur erarbeiten, die in der D D R erschienen ist. Sie gliederte sich nach politischen Periodisierungskriterien und war einem vorgegebenen Schema entsprechend in die Abschnitte »Literaturverhältnisse u n d Standpunkte« (Darstellung von Programmatik und literarischem Leben) und »Wirklichkeitsverhältnis und literarische Gestaltung« (Darstellung der Genreentwicklung, der künstlerischen Verfahrensweisen, der literarischen Strömungen und individuellen Entwicklungen) aufgeteilt. In der Vorbereitungsphase hatte es auch alternative Entwürfe zur Konzeption gegegeben, die aber zugunsten einer Harmonisierung mit der politischen Geschichte aufgegeben werden mußten. Später hat Klaus Hermsdorf einige dieser Überlegungen in der einbändigen Kurzen Geschichte der deutschen Literatur (1981) zu realisieren versucht. Ein Vergleich der Vorzüge und Nachteile wäre sehr aufschlußreich. Wichtige Entscheidungen bei der Konzipierung des Literaturgeschichtsbandes waren, daß der Begriff des Antifaschismus und des Humanismus recht breit gefaßt wurde und daß die Literatur im faschistischen Deutschland wenn auch viel zu knapp im Umfang - in die Darstellung integriert werden konnte. Kritisch würde ich heute feststellen, daß die Konzentration auf die sozialistische Literaturbewegung die Proportionen arg verzerrte u n d das Bekenntnis zur revolutionären Arbeiterbewegung letztendlich als Zielkriterium erschien. In diesem Sinne erfolgte eine ideologisierende, einseitige Ausrichtung auf die Volksfront und das Programm einer sozialistischen Nationalliteratur. D a ß eine solche Sicht durchaus nicht von allen wichtigen

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Autoren geteilt wurde und zudem immer mehr Wunschbild als Realität war, wurde zwar nicht verschwiegen, aber eher an den Rand gerückt. Die Art und Weise, wie der sozialistische Realismus als ein unerreichter Gipfel der Kunst gepriesen wird, hat heute etwas Komisches. Ärgerlicher sind die Tabuierungen, Aussparungen und — nicht zu vergessen — die unübersehbaren Wissenslücken. Trotzdem sehe ich noch heute in diesem Band eine — gemessen an den Voraussetzungen - respektable Leistung. Schmerzlich war, daß wir uns während der Arbeit einbildeten, einen kühnen Durchbruch zu einer neuen Stufe wissenschaftlicher Forschung erreicht zu haben und wenig später feststellen mußten, daß wir bestenfalls die Bilanz einer abgeschlossenen Periode unserer Literaturgeschichtsschreibung repräsentierten. Unser Band 10 war ein Buch mehr von gestern als von morgen. Methodisch ärgerlich war die schroffe Trennung des Exils von seiner Vorgeschichte und von der Nachkriegszeit, war die geringe Beachtung der Exilzentren — bei maßloser Uberschätzung des Moskauer Zentrums — und der Asylbedingungen sowie ihrer Wirkungen auf den literarischen Prozeß. Freilich: das Vorhandensein dieser Darstellung machte es leichter, die Defizite unserer Forschung zu erkennen und ein Programm weiterer Arbeiten zu entwickeln. Jedenfalls hat die Mitarbeit an der Literaturgeschichte offenbar viele Kollegen herausgefordert, sich solchen offen gebliebenen Problemen zuzuwenden. Ich habe selber in meinem Buch Von Grund aufanders (1974) versucht, die recht grobschlächtige Darstellung der Literaturprogrammatik etwas zu differenzieren, vor allem aber bisher unerschlossene Materialien der antifaschistischen Presse auszuwerten. Einen konzeptionellen Neuansatz hatte ich dabei noch nicht gefunden. Auch Werner Herden mit seiner Sammlung von Studien Wege zur Volkfront. Schriftsteller im antifaschistischen Bündnis (1978) hat zwar viel Material aufbereitet, aber eine noch weitaus engere Orientierung am Volksfrontkonzept vorgenommen - ohne zu begreifen, daß es ja eine Volksfront im deutschen Exil nie gab und daß sich unter den Emigranten sicher mehr Skeptiker als Verfechter des kommunistischen Konzepts fanden. Frank Wagners Buch ...der Kurs auf die Realität. Das epische Werk von Anna Seghers 1935—1943 (1975) versuchte in einer Teilmonographie spezifische Schaffensprobleme im Exil zu erörtern und zu dokumentieren. Alle diese Arbeiten deuten in die Richtung auf Quellenerschließung, Dokumentation und Erforschung des literarischen Lebens. Simone Barcks Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion 1935—1945 (1976) ist ein gutes Beispiel dieser Tendenz, die in Quellenpublikationen wie Kritik in der Zeit. Antifaschistische deutsche Literaturkritik 1933—45 (1981) von Jarmatz und Barck und Der Herren eigener Geist. Ausgewählte Schriften von Hans Günther, herausgegeben von Röhr und Barck (1981), fortgesetzt wurde. Besonders der letztere Band war ein Ereignis, das leider kaum gewürdigt worden ist.

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Wann immer man den Beginn systematischer Forschung zur Exilliteratur in der D D R ansetzen will, sicher ist, daß es sie seit Ende der sechziger Jahre gibt. Eine der Grundlagen dafür war die nun zielstrebiger erfolgende Publikation der Zeitschriften (Faksimile-Drucke) Neue deutsche Blätter (1974) mit Kommentar, Bibliographie, Verzeichnissen etc., Freies Deutschland, Mexiko (1975), Gegen-Angriff(1982), Orient (1982) und vor allem als unentbehrliches Hilfsmittel die Reihe der seit 1973 erscheinenden Analytischen Bibliographien deutschsprachiger literarischer Zeitschriften, herausgegeben von der Akademie der Künste (Neue Deutsche Blätter 1973, Orient 1973, Maß und Wert 1973, Die Sammlung 1974, Das Wort 1975, Freies Deutschland 1975, Internationale Literatur 1985), ergänzt durch die - aus einer Qualifizierungsarbeit von 1982 hervorgegangene - Auswahlbibliographie Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung 1933-1940 von Gerda Raßler (1989). Die ersten Länderdarstellungen kamen freilich nicht von Literaturhistorikern. Wolfgang Kießlings Alemania Libre in Mexiko (1974) ist die Geschichte der Bewegung Freies Deutschland, freilich mit starker Betonung der Tätigkeit von Schriftstellern. Das zweibändige Werk ist materialorientiert, wird durch eine umfangreiche Dokumentation aus Zeitungen und Zeitschriften des Exilzentrums Mexiko ergänzt, wobei die besondere Aufmerksamkeit des Verfassers den kulturellen Organisationsformen und Institutionen gilt. So weit ich sehe, ist das der erste Versuch einer komplexen Darstellung eines Länderzentrums. Stärker auf die politische Geschichte konzentriert sind die Bücher von Hans Teubner Exilland Schweiz 1933—1945 (1975) und von Jan Peters Exilland Schweden (1984). In Werner Mittenzweis Exil in der Schweiz (1978) gelang erstmals eine Länderdarstellung mit Schwerpunkt auf dem kulturellen Exil, der Band war ein Modellentwurf für das Gesamtunternehmen Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil. Der 30. Jahrestag des Sieges über den Nazifaschismus markiert ein wichtiges Jahr für die Exilliteraturforschung der DDR. Die Weimarer Beiträgeneröffentlichten im vierten Heft des Jahrgangs 1975 ein Gespräch zur Aktualität der Literatur des Exils, Arbeiten zu Positionsbestimmungen im Exil, zur antifaschistischen Einheit und einen Bericht zur bürgerlichen Exilforschung. Neu in der Fragestellung war ein Versuch, Aspekte zur ästhetischen Wertung der antifaschistischen Literatur zur Debatte zu stellen. Auffällig ist in den breit gefächerten Publikationen eine deutliche Verbreiterung der Thematik: WolfgangGersch, AntifaschistischeFilmarbeit{¥i[mw'iss. Beitr. 1975/1), Kurt Batt, Der Dialog zwischen Anna Seghers und Georg Lukäcs (WB 1975/5), Gudrun Klatt, Arbeiterklasse und Theater(\ 975). Bemerkenswert ist vor allem die Anthologie von Ruth Greuner Zeitzünder im Eintopf (1975), weil hier der Aspekt der Satire im Exil als ein übergreifendes Thema in den Blickpunkt gerückt wurde. Den Versuch einer theoretischen Erörterung der Probleme von Satire und Komik im Exil hat wenig später Günter Härtung anhand

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Konkreter Interpretation in seiner Studie Furcht und Elend des Dritten Reiches als Satire (Erworbene Tradition, 1977) vorgelegt. Daran anschließend hat - sehr viel später - Rolf Tauscher in seiner Arbeit Antifaschistische literarische Satire als Buchpublikationen 1933-1939 (Diss. 1990) einen repräsentativen Querschnitt der einschlägigen Exilpublikationen analysiert. Nach Caesar bei Brecht veröffentlichte Hans Dahlke die erste große Spezialmonographie, die in der D D R zu einem übergreifenden T h e m e n k o m plex der Exilliteratur erschienen ist. Seine Studie Geschichtsroman und Literaturkritik (1976) verbindet die Darstellung der Exildebatten zum Problem des historischen Romans mit detaillierten Analysen von Büchern und Rezensionen. Für mich war das eines der innovativen Bücher zur Exilforschung in unserem Lande, in Präzision und Materialreichtum kaum wieder erreicht. Es unterschied sich deutlich vom Literaturgeschichtskonzept durch eine ausgewogene Vielfalt der untersuchten Positionen. Andere Wege gingen die Herausgeber und Autoren des Bandes Erfahrung Exil. Antifaschistische Romane 1933—1945{ 1979). Hier wurden Roman-Interpretationen als methodischer Zugang zur Analyse von Exilerfahrung genutzt. Die Schwäche des Bandes ist eine einseitige Orientierung auf sozialistische und ihnen nahestehende Autoren, seine Stärke, daß schon in der Einleitung Entstehungsbedingungen, Wirkungsabsichten und Wirkungsmöglichkeiten des Romans im Exil gründlich erörtert wurden. Allerdings wurde dieser Aspekt der Darstellung in den Einzelanalysen nicht immer konsequent weitergeführt. In diesen Jahren geriet die Exilliteraturforschung in den Sog der sogenannten Erbe-Debatte, der Auseinandersetzung darum, welche Traditionen innerhalb der als sozialistisch deklarierten Gesellschaft produktiv und integrierend wirken könnten. Das ist ein Element unmittelbarer Vorgeschichte des großen Siebenteilers zur antifaschistischen Literatur und Kunst. In dieser Debatte artikulierte sich ein verhältnismäßig großes öffentliches Interesse für Probleme der Tradition und der widersprüchlichen Tendenzen von Erbe-Aneignung. So produktiv die Einbindung von Exilforschung in solche Auseinandersetzungen auch war, als problematisch erwies sich, daß sich damit eine neue ideologische Befrachtung verband. Den Auftakt zum Streit um das Erbe bildete Mittenzweis Brechts Verhältnis zur Tradition (1972), eine gezielte Herausforderung gegenüber konservativen kulturpolitischen Haltungen zu Erbe und Tradition. Das Buch stellte detailliert Brechts Positionen dar, war aber vor allem ein Gegenentwurf zu den bis dahin meist an Lukäcs/Becher ausgerichteten Vorstellungen in der Kunstpolitik der D D R . Der Akzent lag bei Mittenzwei nicht auf dem Bekenntnis zur Tradition oder gar zur Nachfolge, sondern auf den Widersprüchen des Erbes, des bürgerlich-humanistischen, besonders des klassischen, aber eben auch des sozialistischen. Mittenzwei entwickelte ein Konzept der kritischen Aneignung, er stellte die Frage nach Methoden und Mitteln, Erbe auf Brauchbarkeit für

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neue gesellschaftliche Zwecke zu prüfen. Verbunden mit dem Konzept der Materialästhetik (vgl. W. Mittenzwei: Brecht und die Schicksale der Materialästhetik. Illusion oder versäumte Entwicklung einer Kunstrichtungen: Dialog75• Positionen und Tendenzen, 1975), war diese Studie eine Herausforderung an Germanisten, das Spektrum der Positionen und Haltungen zu Erbe und Tradition in der sozialistischen Literatur neu zu analysieren, überkommene Wertungen zu überprüfen (Schrifisteller und literarisches Erbe. Zum Traditionsverständnis sozialistischer Autoren, hg. von Hans Richter, 1976; Erworbene Tradition. Studien zu Werken der sozialistischen deutschen Literatur, hg. von Günter H ä r t u n g u.a., 1977). Diese Thematik mündete folgerichtig in eine neue Auseinandersetzung mit Georg Lukäcs. So entstand der Band Dialog und Kontroverse mit Georg Lukäcs. Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller (1975). Das Buch suchte die Literaturdebatten der sozialistischen Literaturbewegung — nicht zuletzt des Exils — nicht als »Fraktionskämpfe«, sondern als Kämpfe unter Gleichgesinnten zu interpretieren. Untersucht werden sollte der kunsttheoretische Erfahrungsschatz, der sich in der Diskussion sozialistischer Künstler mit Lukäcs akkumulierte, natürlich mit dem Ziel, die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhundert in das kunstpolitische Selbstverständnis der offiziellen D D R - K u l t u r zu integrieren. Literaturtheoretisch, nicht exilgeschichtlich orientiert, ging die Arbeit einer Forschungsgruppe der Akademie unter Mittenzweis Leitung dennoch detailliert auf Exilfragen ein. Sehe ich das richtig, so wurde dieses Buch zum konzeptionellen Hintergrund des Großprojekts zum Exil. Die dokumentierten Kontroversen wiesen allzu deutlich auf historische Kontexte und biographische Hintergründe des Streits u m Lukäcs. Gewiß waren die kulturpolitischen Bedingungen für das Projekt Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil weitaus günstiger als wenige Jahre zuvor für die Literaturgeschichte. Aber als entscheidend für den Erfolg des Exilprojekts erwies sich der Umstand, daß hier vom Ansatz her eine innovative Grundidee gefunden worden war: nicht nur die Besonderheiten der verschiedenen Exilländer zu untersuchen, sondern auch den Zusammenhang von Geschichte des Asyls und kultureller Aktivität im Exil darzustellen, die Verflechtung verschiedener Künste im Blick zu behalten und die Probleme ihrer W i r k u n g im Exil so weit wie möglich zu beschreiben. Zwar gab es auch diesmal kaum Vorarbeiten zur Länderdarstellung in der Literaturwissenschaft, aber immerhin lagen umfangreiche Studien zur Theatergeschichte im Exil vor (Peter Dietzel: Exiltheater in der Sowjetunion, 1978; H . Schneider: Exiltheater in der Tschechoslowakei, 1979; W. Mittenzwei: Das Züricher Schauspielhaus, 1979). Eine Zusammenfassung hat Werner Mittenzwei in seinem Vortrag Das Schicksal des deutschen Theaters im £ « 7 ( 1 9 7 8 ) gegeben. In den Kontext der Bemühungen um eine differenziertere Sicht auf das Erbe der Exilliteratur und um einen sachlichen Vergleich mit dem internationalen

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Forschungsstand gehört auch ein Institutskolloquium des Zentralinstituts für Literaturgeschichte zur Exilliteratur, das 1978 mit starker internationaler Beteiligung durchgeführt werden konnte. Weil gerade die Koordinierung der Exilforschung von Stockholm her geplatzt war, herrschte reges Interesse bei Forschern von Moskau bis Wisconsin. Mein Hauptreferat auf dem Kolloquium versuchte gegenüber der Literaturgeschichte einen neuen Ansatz zu formulieren: Literarischer Prozeß und Literaturdebatten (WB 1979/6). In gewisser Weise war das mein konzeptioneller Entwurf für den Kulturteil des Bands Exil in Frankreich (1981), zugleich aber auch eine Selbstverständigung darüber, was von der Länderdarstellung des Projekts Kunst und Literatur im Exil her geleistet und was nicht geleistet werden konnte. Ein Sammelband mit den Konferenzbeiträgen kam bedauerlicherweise nicht zustande. Auch heute sehe ich keinen Grund, zu der siebenbändigen Darstellung der Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil auf Distanz zu gehen. Die Reihe ist die einzige abgeschlossene Darstellung dieser Art geblieben und repräsentiert Stärken und Schwächen der Exilforschung in der DDR gleichermaßen. Natürlich herrscht auch hier eine Orientierung an der KPD-Politik vor, werden von hier aus Schwerpunkte gesetzt, die oft problematisch, zuweilen schlechthin falsch sind. Charakteristische Aussparungen und Harmonisierungen wurden vorgenommen, wie sie im Rahmen der damaligen parteioffiziellen Interpretation der Geschichte schwer vermeidbar waren. Mit Recht hat die Kritik solche Mängel sorgfältig aufgelistet, und was mich anbetrifft, so habe ich derlei Kritik nicht ungern gesehen, denn sie gab Gelegenheit, sich gegenüber den sogenannten wissenschaftsleitenden Organen auf solche Kritik zu berufen und nicht selten dann in späteren Publikationen die eine oder andere Lücke zu schließen. Was selten gewürdigt worden ist, sind die unverkennbaren Bemühungen der Mehrzahl der Autoren der Bände oder Länderdarstellungen, die politische Tabuzone so weit wie möglich einzuschränken. Gelungen ist das auf unterschiedliche Art, auch war das Gewicht der offiziösen Tabuierungen nicht immer gleich stark. Wenn - wie zu hören war - schon die erste Auflage des Bandes Exil in der UdSSR (1979) an der Parteihochschule der SED scharf verurteilt wurde, mag das einen Leser verwundern, der noch die zweite, völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage (1989) als unzureichend empfindet, weil das Ausmaß des stalinistischen Terrors und seiner verhängnisvollen Folgen viel zu zurückhaltend dargestellt erscheint. In der DDR vermittelten diese Bände beachtliche und - soweit Quellen zugänglich waren — auch quellengesättigte Informationen über tragische Emigrantenschicksale und die tatsächlichen Lebens- und Schaffensbedingungen im sowjetischen Exil. Davon hat die westliche Kritik wenig Notiz genommen, die überhaupt dem Aspekt der innersozialistischen Bemühungen um Öffentlichkeit und ideologische Entkrampfung nur sehr sporadisch Beachtung geschenkt hat.

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Eine Apologie des Siebenbänders liegt mir fern, ich weiß, daß die Länderdarstellung zu einer oft nur sporadischen Berücksichtigung der übergreifenden Wechselbeziehungen der Zentren und zur Zurückdrängung von Querverbindungen zwischen ihnen geführt hat - zum Teil haben sich die Autoren oft mit skizzenhaften Andeutungen beholfen, nicht selten sind übergreifende Fragen mehrfach, aber nirgends gründlich behandelt worden. Jeder Leser kann leicht darstellungsmethodische Disproportionen feststellen. All das ändert aber nach meiner Uberzeugung nichts an dem forscherischen Gewinn, an dem Vorstoß auf Neuland, den dieses Projekt — trotz all seiner Mängel - mit sich gebracht hat. Sicher, zehn Jahre später — nach der Wende - geschrieben, wäre es weit weniger angreifbar geworden. Leider hat die Veränderung der Wissenschaftslandschaft nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik die Grundlage beseitigt, auf der ein solches besseres Projekt entstehen könnte. Die Autorengruppe des Exil-Projekts - die sich aus verschiedenen Institutionen rekrutiert hatte - mußte nach Beendigung der sieben Bände zerfallen. Als Basis weiterer systematischer Forschung zur Exilliteratur blieb nur eine kleine Forschungsgruppe zur Exilliteratur übrig, die bis zur Abwicklung der Akademie der Wissenschaften und des Zentralinstituts für Literaturgeschichteweiterbestanden hat. Den hier beschäftigten Forscherinnen und Forschern war klar, daß nach Abschluß des großen Projekts nun übergreifende Problemstellungen stärker akzentuiert werden mußten. Deshalb wurde — unter Leitung von Silvia Schlenstedt — der Versuch gemacht, mit dem Projekt Wer schreibt, handelt. Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933 (1983) eine methodische Neuorientierung zu realisieren. Ein Ziel war dabei, die übliche Fixierung auf polithistorische Einschnitte zu überwinden. So stark die Deformierung der Literaturverhältnisse 1933 auch war, weit einschneidendere literarische Wendepunkte lagen doch offenkundig um 1930 und 1935. Es war notwendig, die Forschung zur sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik weit enger als bisher mit der Exilforschung zu verbinden, beide mit der Analyse der linken Literaturströmungen zu verflechten und den internationalen Kontext der deutschen Literatur stärker in die Betrachtung einzubeziehen. Hinzu kam der Versuch, wirkungsästhetische und rezeptionstheoretische Aspekte zu berücksichtigen, um Wandlungen der literarischen Strategien präziser zu erfassen und überzeugender begründen zu können. Das korrespondierte mit den Bemühungen anderer Kollegen, die traditionellen Fachschranken zu durchbrechen. Einer der Autoren des Bandes, der Romanist Wolfgang Klein, hatte mit seiner umfangreich kommentierten Dokumentation Paris 1935. Erster Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur (1982), erstmalig den tatsächlichen Verlauf, die Vorbereitung und Resonanz des Pariser Kongresses quellenmäßig aufgeschlossen und damit alle bisherigen Darstellungen zu diesem Themenbereich

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grundlegend revidiert. Nicht zuletzt hat er den nationalliterarischen Rahmen gesprengt, bisher meist auf deutsche Literatur konzentrierte Arbeiten grundsätzlich in Frage gestellt und ideologische Klischees gründlich demontiert. Ergänzende Materialien, die Klein zum Teil zunächst nicht veröffentlichen konnte, zum Teil erst später aufgefunden hat, sind 1985 in Nachträge zu Paris 1935 (WB 1985/6) nachzulesen. Daß die Exilforschung ihre Selbstbeschränkung überwinden muß, wurde schon 1978 während eines Gesprächs über Probleme der Erforschung und Vermittlung von Exilliteratur in Frankfurt am Main festgestellt (In: Sammlung. Jahrbuch 2 für antifaschistische Literatur und Kunst, Frankfurt/M. 1979), an dem Sigrid Bock und ich beteiligt waren. Das war übrigens das erstemal seit 1961, daß mir ein kurzer Aufenthalt im N S W (Nichtsozialistischem Währungsgebiet) gestattet worden war. Wir beide artikulierten dort Probleme der Forschungsthematik und methodische Fragen, die sich uns nach einem Jahrzehnt der Arbeit zur Exilliteratur und einer längeren, intensiven Vorbereitung des Kolloquiums zur Exilliteratur 1978 gestellt hatten. Das Bemühen um methodische Selbstverständigung wurde dann durch die Arbeit am Exilprojekt des Reclam-Verlages forciert, die Überlegungen zu neuen Arbeitsrichtungen und Forschungsmethoden verlangte. Wichtig scheinen mir — neben Werner Mittenzweis konzeptionellen Vorträgen - vor allem die Aufsätze von Klaus Hermsdorf Verlage und Verleger im Exil (WB 1981/3), Die Literatur wird durchforscht werden. Neuentdeckungen in der Exilliteratur (WB 1981/10) und Deutsch-jüdische Schriftsteller (ZfGerm 1982/3). Erwähnenswert sind auch die verallgemeinernden Überlegungen von Eike Middell: Exilliteraturforschung. Zur Methodologie (WB 1981/4). Eine öffentliche Debatte kam leider nicht zustande. Im Vordergrund stand für die meisten Autoren die Weiterarbeit an ihren Bänden, da der Reclam-Verlag die Möglichkeit geboten hatte, überarbeitete und ergänzte Neuauflagen zu publizieren. Fertig geworden sind neben dem erwähnten Band zum Exil in der Sowjetunion die Neufassungen der Bände zum Exil in der Schweiz, in Lateinamerika, in den USA und in Großbritannien. Das Projekt Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil hat durch seine Anlage Archiv- und Quellenarbeit gefördert. Fast alle Bände konnten neue Materialien verarbeiten und eine Reihe von Autoren sahen sich veranlaßt, neu zu recherchieren. Für mich selber wurde - um das am Rande zu erwähnen - die zunächst nur auf der Basis von Druckquellen zu Ende geführte Darstellung zum Exil in Frankreich zum Ausgangspunkt langjähriger Archivarbeit, aufgrund derer ich 1984 meine Aufsätze Der Pariser Schutzverband deutscher Schriftsteller. Eine antifaschistische Kulturorganisation (Exilforschung 6, 1988) und Die Deutsche Freiheitsbibliothek {Exilforschung 8, 1990) schreiben konnte. Aber ich habe bei dieser Arbeit auch begriffen, daß ich mich gründlicher dem Problem der sogenannten »Renegaten« zuwenden mußte.

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Der Jahrestag des Spanien-Krieges gab mir dann die Möglichkeit, einen Aufsatz über Gustav Regler unter dem Titel Gläubig an unsere Idee (WB 1986/7) zu publizieren. Zur gleichen Zeit waren übrigens auch erstmals Texte Reglers in Anthologien veröffentlicht worden. Arbeiten zu Manes Sperber und Arthur Koestler konnte ich nicht mehr abschließen und auch eine Neufassung von Exil in Frankreich ist unvollendet geblieben. Unsere Forschergruppe im Zentralinstitut für Literaturgeschichte hat sich nicht auf Bücher wie Wer schreibt, handelt (1983) oder Erfahrung Nazideutschland (1987) - ein Sammelband mit Interpretationen zu in Hitlerdeutschland entstandenen Romanen — beschränkt. Wir waren sehr nachdrücklich bemüht, unsere wissenschaftlichen Anliegen auch in verschiedenen Formen der Öffentlichkeitsarbeit unter die Leute zu bringen, sie — wenn man so sagen d a r f - zu popularisieren. Der broschierte Band Künstler und Künste im antifaschistischen Kampf1933—1935 (1983) war eine Sammlung von Material für eine Konferenz, die zum Jahrestag von Reichtagsbrand und Bücherverbrennung von unserer Arbeitgruppe gemeinsam mit dem Kulturbund veranstaltet worden war. Wir suchten hier vor allem eine Zusammenarbeit mit Historikern und ausländischen Kollegen zu entwickeln. Zwei Jahre später, zum Jahrestag des Pariser Schriftstellerkongresses, fand dann im gleichen Rahmen eine Konferenz statt, deren Ergebnisse unter dem Titel Verteidigung der Kultur. Der internationale Schriftstellerkongreß Paris 1935 und die antifaschistischen Literatur 1935-1939 (1986) vom Kulturbund als Broschüre veröffentlicht wurden. Die Zusammenarbeit mit Historikern, Romanisten, Slawisten und Anglisten m u ß t e diesmal eine wesentlich größere Rolle spielen und erwies sich als äußerst anregend. Wichtig war, daß diesmal auch Probleme des Widerstands christlicher Schriftsteller einbezogen waren. Vorträge wurden gehalten zu Walter Benjamins Passagenwerk u n d zu Peter Weiss' Ästhetik des Widerstandes. Hier zeichneten sich Arbeitsrichtungen ab, die produktiv hätten werden können, zumal sie in individuellen Forschungen schon längere Zeit vorbereitet waren. Von den Plänen für künftige größere Gruppen-Projekte, über die lange Debatten und Vorüberlegungen geführt wurden, nenne ich nur zwei: eine zusammenfassende Untersuchung der literarischen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Faschismus bei deutschen Schriftstellern in den Jahren 1925 bis 1950 und eine Darstellung tatsächlicher Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation zwischen den wichtigsten Zentren des Exils zwischen 1933 und 1939. Eine intensivere Forschung zur Verlagsgeschichte im Exil und zum Prager Exil zeichnete sich ab. Der Zuwachs junger Mitarbeiterinnen ließ auf eine beträchtliche Erweiterung des thematischen Spektrums hoffen, zum Beispiel um feministische Fragestellungen bei Eva-Maria Siegel {Jugend, Frauen, Drittes Reich. Autorinnen im Exil 1933-1945, 1993). Besonders wichtig wurde die Beschäftigung mit

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dem jüdischen Thema. Silvia Schlenstedt widmete sich in ihrem Vortrag Suche nach Halt in haltloser Lage {Sinn und Form 1989/4) der Untersuchung der Kulturarbeit deutscher Juden nach 1933 in Deutschland im Zusammenhang mit dem Werk und dem Schicksal der Dichterin Gertrud Kolmar. Seit Beginn der achtziger Jahre, vor allem aber im Vorfeld des Gedenkens an den Novemberpogrom von 1938 wurde die Ignorierung der Probleme der jüdischen Massenemigration, die langjährige Vernachlässigung der Versuche künstlerisch-literarischer Auseinandersetzung mit dem Schicksal jüdischer Menschen sowie der Debatten über Antisemitismus und Rassenwahn der Nazis in der Exilpresse als eine schwerwiegende Lücke unserer Forschungen erkennbar. Das hat auch mich zu einer systematischen Materialsammlung veranlaßt, deren erstes Ergebnis der Aufsatz Die antifaschistische Publizistik und Rassenwahn der dreißiger Jahre im Kampf gegen Antisemitismus (WB 1988/11) und ein Vortrag über Arnold Zweigs »Bilanz der deutschen Judenheit« (WB 1990/5) waren. Beide Studien sollten ursprünglich der Vorbereitung einer größeren Dokumentation Texte über Antisemitismus und Rassenwahn aus den Jahren des Exils dienen. Wie andere ist auch dieses Projekt in der Wende untergegangen, wurde von mir vielleicht auch nicht mit genügendem Nachdruck verfolgt. Denn zuerst einmal mußten und wollten wir in unserer Forschungsgruppe die seit 1987 intensiv betriebene Neuerarbeitung des Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis I945iyxnx.ti Leitung von S. Barck und S. Schlenstedt) zu Ende führen. Erfreulicherweise hat wenigstens dieses Projekt die Wende überlebt und konnte dank der Unterstützung durch den Metzler-Verlag nach großen Mühen tatsächlich im Jahr 1994 noch als Buch erscheinen. Hier ist viel von der Archiv- und Quellenarbeit der vergangenen Jahrzehnte zur Exilliteratur eingeflossen. Aber die Forschungsgruppe zur Exilliteratur ist längst zerfallen: in der Evaluierung wurde ihr keine Chance gegeben.

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Exilforschung in Skandinavien Geschichte, Stand, Perspektiven

I N u r ein Bruchteil der deutschsprachigen Hitler-Flüchtlinge, etwa 1 %, fand Zuflucht in den drei skandinavischen Ländern. Dänemark und Norwegen fielen nach dem deutschen Uberfall im April 1940 als Exilländer aus, während Schweden eines der wenigen europäischen Länder blieb, in dem politisch und rassisch Verfolgte überleben konnten. Skandinavisches Exil ist indessen weit mehr als das der deutschsprachigen Exilanten. Während vor Kriegsausbruch der Strom der Hitler-Flüchtlinge an Skandinavien vorbeigeströmt war und sich lediglich ein »kleines Rinnsal« nach dort »verirrte« 1 , kamen im Laufe der Jahre 1941 bis 1945 zusätzlich über 40.000 Hitler-Flüchtlinge aus Norwegen 2 und über 10.000 aus Dänemark nach Schweden, außerdem ab 1944 zunehmend auch deutsche und österreichische Militärflüchtlinge und schließlich - nicht zu vergessen - rund 75.000 finnische und fast 40.000 baltische Flüchtlinge. 3 Nach dem Bericht der staatlichen Sandler-Kommission befanden sich im Dezember 1944 rund 195.000 Flüchtlinge in Schweden u n d Anfang April 1945 ca. 145.000 4 , nach anderen Angaben sogar 300.000 Ausländer. 5 N u r ca. 5.000 bis 6.000, also ca. 2 %, gehörten zum deutschsprachigen Exil. Norwegen und D ä n e m a r k hatten ihre eigenen Hitler-Flüchtlinge, mit denen sich vornehmlich die Geschichtswissenschaft beschäftigt hat. Die Studien von Olav Riste über die Exilregierung in London, Ole Kristian Grimnes über die norwegische Flüchtlingskolonie in Schweden und Vidar Haugan über die Norwegische Arbeiterpartei im Exil sind einige Beispiele für die norwegische Exilforschung 6 , während Dänemark im Exil, also die Kolonien in Schweden, in England und den USA oder die Seeleute im Ausland noch kein entsprechend breites Interesse gefunden haben. 7 Es n i m m t also nicht wunder, daß das deutschsprachige Exil eine untergeordnete Rolle in der skandinavischen Forschung einnimmt, obwohl einzelne Repräsentanten Bedeutung für den norwegischen (z. B. Willy Brandt und Hans Holm) u n d dänischen Widerstandskampf^, die schwedische Nachkriegspolitik (z.B. Rudolf Meidner) oder in der Wissenschaft (z.B. Joachim Israel, Leo Eitinger, T h e o d o r Geiger) hatten. Wenn Skandinavien trotz seiner peripheren Bedeutung dennoch für die deutschsprachige Exilforschung so wichtig geworden ist, so ist das den Pio-

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nierleistungen von Walter A. Berendsohn und Helmut Müssener zu verdanken. Berendsohns Berichte, die 1967 erstmals verschickt wurden, seine Anregungen und seine koordinierende Arbeit führten im September 1969 zum ersten internationalen Symposion zur Erforschung des deutschsprachigen Exils in Stockholm, dem 1972 ein weiteres in Kopenhagen folgte. Seine Koordinationsstelle für Exilforschung an der Universität Stockholm, die bis 1975 existierte, gab der weiteren Forschung durch ihre Publikationen und Informationen wesentliche Impulse. Ausstellungen wie Exil in Schweden der Akademie der Künste in West-Berlin und Geflüchtet unter das dänische Strohdach, die in Kopenhagen u n d 1987 in Kiel gezeigt wurden, haben das Exil einem größeren Publikum näher gebracht. Im Z e n t r u m dieser Symposien u n d der ersten Arbeiten stand die Exilliteratur, im Mittelpunkt der Ausstellungen das literarisch-künstlerische Exil. Das Verständnis vom Exil im Norden war damit von Eliten geprägt, nicht von denen, die tatsächlich das Gros der Exilanten bildeten. Zwar hatte man beim 2. Internationalen Symposion in Kopenhagen 1972 festgestellt, daß das Exil als Totalität untersucht werden muß, als Ganzheit, die auch die unbekannten Emigranten umfaßt, deren Schicksale sicher typischer für eine Charakterisierung der Exilsituation sind als die bekannter Schriftsteller oder Politiker 9 , doch prägte diese Erkenntnis zunächst nicht&ie. Forschung. Besonders die dänische Forschung, wie sie in Steffen Steffensens Arbeit zum Ausdruck kam, war von einem genuinen Interesse an den »Geistesarbeitern« geprägt. Exil in Skandinavien wird in Deutschland nicht mit anonymen Flüchtlingen assoziiert, sondern mit Autoren wie Bert Brecht, Nelly Sachs und Peter Weiss, mit Politikern wie Willy Brandt, Bruno Kreisky, Herbert Wehner und Ernst Wollweber, vielleicht auch noch mit Künstlern wie Rolf Nesch, Kurt Schwitters und Hans Tombrock. Uber einige von ihnen ist gearbeitet worden — es genügt, auf die umfassende Literatur über Bert Brecht, Hans H e n n y Jahnn, Nelly Sachs u n d Peter Weiss hinzuweisen und auf skandinavische Forscher wie Ruth Dinesen 1 0 , Helmut Müssener, Birgit S. Nielsen 11 , Hans Chr. N0rregaard 12 und Sissel Lsegreid. 13 Auch die Edition der Briefe von Rolf Nesch 14 , der Briefe und Tagebücher von Wilhelm Reich 15 und die Kataloge der großen Schwitters-Ausstellungen in London (1981), Hannover (1986) und Paris (1995) könnten genannt werden, obwohl hier der norwegische politisch-gesellschaftliche Kontext unberücksichtigt bleibt und die Anmerkungen wesentlicher Nachbesserungen bedürfen. Andererseits sind die Desiderata selbst in bezug auf die Eliten unübersehbar. So fehlen, um nur ein Beispiel zu nennen, Studien über Wissenschaftler wie O t t o Fenichel, Charlotte und Karl Bühler und Viktor Moritz Goldschmidt. Hier warten viele Aufgaben auf ihre Lösung, erst recht, wenn wir die prominenten Schicksale verlassen und uns anonymeren Personen und Gruppen zuwenden 1 6 oder nach

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der Wirkungsgeschichte des Exils fragen, zum Beispiel nach der Bedeutung der Emigranten für die Widerstandsgeschichte, ihrem Engagement in unterschiedlichen Organisationen und gesellschaftlichen Schichten usw.

II Helmut Müsseners Arbeit Exil in Schweden (1971 als Lizentiatenarbeit, 1974 weitgehend verändert und ergänzt als Buch), die auf eine Anregung Berendsohns zurückgeht, verstand sich als Beitrag zur Grundforschung, der es darum ging, »Materialien zur Geschichte der deutschsprachigen Emigration in Schweden zu sammeln, zu sichten, sie übersichtlich darzustellen und somit der weiteren Forschung zugänglich zu machen sowie aus einer ersten Analyse Schlüsse zu ziehen.« Der Germanist Müssener erkannte zeitig, daß die Erforschung der deutschsprachigen Emigration nur interdisziplinär von den Fächern Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Wissenschafts- und Ideengeschichte sowie Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte bewältigt werden konnte. 17 Sein Œuvre 18 , das den meisten Exilforschern bekannt sein dürfte und auf das deshalb hier nicht weiter eingegangen werden muß, war für die Exilforschung ein unschätzbares Stimulans. Seiner Tätigkeit an der Stockholmer Universität verdanken wir vornehmlich literaturwissenschaftliche Studien wie jüngst Helmut Diekmanns Dissertation. 19 Müsseners Arbeit hat nicht nur den Boden für weitere literaturwissenschaftliche Studien gelegt, sondern war auch von Bedeutung für historische Analysen. Vor allem müssen die Studien des Historikers Klaus Misgeld genannt werden, der erst mit seiner Dissertation über die »Kleine Internationale« den Rahmen des deutschen Exils sprengte und die Zusammenarbeit sozialistischer Emigranten in Schweden während des Krieges untersuchte 20 und in weiteren Arbeiten die Bedeutung des Exils für die Nachkriegspolitik analysierte. 21 Misgeld hat, indem er die W i r k u n g des deutschen, österreichischen und tschechischen Exils in einem breiten Kontext — der internationalen Arbeiterbewegung bzw. der schwedischen Außenpolitik — untersuchte, dem Exil einen Platz in der skandinavischen Geschichte gegeben. Nach Misgeld haben sich weitere Historiker mit verschiedenen Aspekten des Exils und Nachexils beschäftigt, von denen zwei hier genannt werden sollen. Jörg Lindner, der über die schwedische Deutschland-Hilfe und das Deutschland-Bild promoviert hat 22 , arbeitet nun an der Universität Umeâ an einer Studie zum Thema »Deutschsprachige Flüchtlinge und die Arbeiterhilfsorganisation 1 9 3 3 - 1 9 5 3 : Eine kollektive Biographie«. Rudolf Tempsch ist im Begriff, in Göteborg eine Dissertation über das sudetendeutsche Exil und Nachexil zu vollenden, nachdem er bereits mehrere klei-

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nere Arbeiten über verschiedene Aspekte des sudetendeutschen Exils in Schweden publiziert hatte. 23 Auch auf das Dissertationsprojekt von Ingrid Lomfors über die jüdischen Kinderflüchtlinge, das ebenfalls an der Universität Göteborg entsteht, kann hingewiesen werden. Müsseners monumentales Werk ist mittlerweile rund 25 Jahre alt. Inzwischen hat sich die Quellenlage wesentlich verbessert, aber wer würde es wagen, heute noch einmal eine Arbeit mit dem Titel Exil in Schweden zu schreiben? Nach Martin Grass, dem wohl besten Kenner der schwedischen Quellen, ist dies aber erforderlich, denn weder Müssener noch Dieter Günther, Jan Peters oder andere 24 konnten wegen der Sperrfristen, die inzwischen aufgehoben wurden, das qualitativ und quantitativ sehr ergiebige staatliche Material oder aber den Bestand der Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung (Arbetarrörelsens Flyktinghjälp) benutzen. Grass kam deshalb 1989 zu dem Schluß: »Die Geschichte des deutschsprachigen Exils in Schweden ist demnach noch nicht geschrieben worden; eine umfassende, systematische Untersuchung sowohl auf der kollektiven als auch der individuellen Ebene steht noch aus, von Spezialuntersuchungen zu verschiedenen Fragestellungen abgesehen.« 2S Zusammenfassend können wir für Schweden feststellen, daß es an verschiedenen Universitäten (Stockholm, Uppsala, Umea, Göteborg) bei Literaturwissenschaftlern und Historikern durchaus ein Interesse am deutschsprachigen Exil gibt und daß diese Forschung, obwohl sie weitgehend von Wissenschaftlern initiiert und betrieben wird, die aus dem deutschsprachigen Raum stammen, national durch Stipendien von Riksbankens Jubileumsfond gefördert ist, nachdem bereits der damalige Humanistiska Forskningsrádet zusammen mit der DFG die Kontaktstelle in Stockholm finanziert hatte.

III Das deutschsprachige Exil fand in Dänemark und noch mehr in Norwegen vergleichsweise weniger Interesse. Ruth Dinesen stellte 1986 in ihrer Einleitung zu dem Tagungsband des Kopenhagener Kolloquiums vom Oktober 1984 fest, daß die dänische Grundforschung »eher von einzelnen, sich oft vereinsamt vorkommenden Forschern oder von kleinen Gruppen betrieben« würde. 26 So fehlt ein Standardwerk über das Exil in Dänemark. Der Titel Exil in Dänemark27 für die wesentlich überarbeitete und verbesserte deutschsprachige Ausgabe von Steffen Steffensens Werk Pä flugt fra nazismen28 darf nicht zu der Erwartung verleiten, daß es sich hier um eine Arbeit handelt, die mit Müsseners verglichen werden kann. Exil in Dänemark konzentriert sich vielmehr nach einer kurzen Einleitung - die nicht dem neuesten Stand der skandinavischen Forschung entspricht —, wie der Untertitel richtig angibt,

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auf deutschsprachige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im dänischen Exil. Zwar gibt es in Dänemark zahlreiche kleinere Arbeiten zur Flüchtlingspolitik, zu den Hilfsorganisationen, 29 zur sozialdemokratischen Emigration 30 sowie die grundlegende Studie von Jorgen Halstrup über die jüdischen Kinder und Jugendlichen 31 , aber das Schwergewicht der bisherigen Forschung liegt im literarisch-intellektuellen Exil. Dank der Arbeiten des Historikers Hans Uwe Petersen haben wir in den letzten Jahren grundlegende, aber vorläufig noch verstreute Arbeiten zur Flüchtlingspolitik, zum kommunistischen Exil, zur Arbeitersolidarität und anderen Themen bekommen 32 , so daß heute auf mehreren Gebieten ein Vergleich mit Schweden und Norwegen möglich ist. Petersens Anregungen verdanken wir auch andere Studien dänischer Historiker, unter anderem Arbeiten über Frauen im dänischen Exil und über sudetendeutsche Flüchtlinge. 33 Hatte bis 1987 vor allem Max Tau das Interesse am deutschsprachigen Exil in Norwegen geweckt — teils durch seine Erinnerungen, teils durch Arbeiten über ihn 34 - so schuf die Konferenz Exil in Norwegen^ 1987 erstmals ein breiteres Interesse am politischen Exil und der Situation jüdischer Flüchtlinge in Norwegen. Hier wurde auch das Archiv der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) vorgestellt, das in Oslo gefunden worden war und das die wichtigste Quelle für meine Studien über Willy Brandts Exiljahre in Norwegen wurde. 1992 folgte meine Monographie über die Lebensbedingungen und Arbeit deutschsprachiger Flüchtlinge in Norwegen, in der nicht nur das politische Exil aufgearbeitet wurde, sondern die ganze Breite und Vielfalt des Exils36, das nun auch Eingang in übergreifende Darstellungen Norwegens im 20. Jahrhundert fand. Das heißt jedoch nicht, daß es keine offenen Fragen mehr gibt. So werden beispielsweise Fragen des Nachexils von mir nicht behandelt. Desiderata, die nicht allein von Historikern gefüllt werden können, die aber für Norwegen dringend einzulösen wären, sind Studien zur norwegischen Wissenschaftsgeschichte, zum Beispiel über die Bedeutung von emigrierten Psychologen, Psychoanalytikern, Mathematikern und Naturwissenschaftlern. Journalistische Arbeiten - Bücher, Radio- und Fernsehprogramme - und einzelne Ausstellungen haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, daß das Schicksal und die Bedeutung von Norwegen-Flüchtlingen wie Kurt Schwitters, dem Physiker Willy Stoffregen, dem Architekten Thilo Schoder, dem Maler Bruno Krauskopf oder dem sudetendeutschen Schuhmacher Karl Meier einem breiteren Publikum bekannt geworden sind 37 , allerdings ohne daß diese Einzelschicksale in einen breiteren historischen Kontext eingeordnet werden. Insgesamt ist das Interesse in Norwegen am deutschsprachigen Exil jedoch gering, was erstens damit zu erklären ist, daß Norwegen ein peripheres Exilland war, in das nur wenig »prominente« Flüchtlinge kamen, zwei-

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tens aber auch die ungünstige Quelienlage eine Rolle spielt. Fast das gesamte Material der Fremdenpolizei und die Archive der Hilfsorganisationen wurden 1940 aus Sicherheitsgründen vernichtet. Daß die isolierten, jeweils auf ein Land begrenzten Einzelstudien überwunden werden mußten und konnten und es am Ende der 1980er Jahre in Skandinavien ein Milieu gab, das Voraussetzungen für eine komparative und interdisziplinäre nordische Forschung über das deutschsprachige Exil mitbrachte, erwies die Bestandsaufnahme nach einer weiteren Konferenz in Kopenhagen im Oktober 1989. 38 So entstand das Forschungsprojekt Hitlerflüchtlinge im Norden, das vom Nordischen Forschungsrat für humanistische Forschung (NOS-H) gefördert wird. Die enge Zusammenarbeit sowohl der Regierungen und sozialdemokratischen Regierungsparteien, der Hilfsorganisationen, aber auch der Exilgruppen, die Fluktuation von Flüchtlingen, anderseits aber auch signifikante Unterschiede in der Behandlung einzelner Flüchtlingsgruppen, legen vergleichende Untersuchungen nahe. Daß die ambitiösen Pläne von 1989 bisher nicht realisiert werden konnten, hing eher mit beruflichen Veränderungen einiger wichtiger potentieller Mitarbeiter zusammen als mit der gedachten Struktur des Projekts. Immerhin handelt es sich nach wie vor um ein Forschungsvorhaben, das die drei skandinavischen Länder und Finnland umfaßt, an dem neben Historikern auch Literatur- und Politikwissenschaftler mitarbeiten und das versucht, das Exil nicht mit den Eliten als Ausgangspunkt zu untersuchen, sondern eine Sozialgeschichte der »anonymen« Flüchtlinge zu erarbeiten, die sowohl als Objekt der Flüchtlingspolitik wie auch als Subjekt innerhalb gegebener Rahmenbedingungen untersucht werden. Dabei bildet, entsprechend der Zusammensetzung des Exils in Skandinavien, das politische Exil einen Schwerpunkt in dem Projekt. So werden beispielsweise zum ersten Mal das Exil und Nachexil der sudetendeutschen Flüchtlinge und die SAP-Flüchtlinge komparativ für die nordischen Länder untersucht. Es waren gerade nicht die »prominenten« Flüchtlinge, die das Exil in Skandinavien prägten, sondern die »anonymen«, »unbekannten« Flüchtlinge hier kann man tatsächlich vom Exil der kleinen Leute sprechen. Die übersichtlichen Verhältnisse in Skandinavien machen es möglich, strukturelle Züge des Exils zu studieren, ohne die Exilierten zu Ziffern und Nummern zu degradieren. In einem kleinen Land wie Norwegen kannten die Minister zahlreiche Flüchtlinge sogar persönlich. Hier war es möglich, sowohl die politischen Führungsschichten zu erreichen wie auch die einfachen Menschen. Für viele Einwohner wurde die Begegnung mit einem Flüchtling, auch wenn man dessen Berichte für übertrieben hielt, ein erster Anstoß zum antifaschistischen Engagement und nach der Befreiung eine Grundlage für eine Wiederannäherung und Normalisierung des Verhältnisses zu Deutschland.

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IV Wenn Ruth Dinesen nach dem Kopenhagener Kolloquium von 1984 feststellte, daß die dänische Forschung wegen der Sprachbarrieren der internationalen Forschung »unbekannt und unzugänglich« geblieben war, das heißt nicht rezipiert wurde, und Klaus Misgeld fünf Jahren später in seinem Schlußwort in Kopenhagen »die Abwesenheit eines großen Teils der Exilforschung der Bundesrepublik« beklagte 39 , stellt sich von Skandinavien aus gesehen die Frage, ob die in Deutschland und Osterreich ansässige Exilforschung überhaupt ein Interesse an länderübergreifender Zusammenarbeit hat. Verläßt man die Literaturwissenschaft, über die ich freilich nicht die gleiche Ubersicht wie über die historische Forschung habe, und wendet sich anderen Fächern zu, stößt man bei deutschen Autoren schnell auf die Folgen fehlender Rezeption, die dann zwangsläufig aus Unkenntnis zu Fehlurteilen und Mißverständnissen führt, die teils ihre Erklärung in sprachlichen Barrieren und einer oberflächlichen Kenntnis der skandinavischen Politik und Gesellschaft haben, teils in fehlenden Quellenstudien und schließlich auch in politischen Vorgaben. Es genügt, auf die Arbeiten von Jörg Bremer, Hans Georg Lehmann und Jan Foitzik über Aspekte des politischen Exils in Skandinavien und den fünften Band des DDR-Projekts Kunst und Literatur im antifaschistischen Exifi0 hinzuweisen. Weit extremere Beispiele, die genannt werden können, sind Beekes Artikel über die Exilpublizistik in Skandinavien, Peter Kochs Brandt-Biographie, Hans-Christof Wächters Sozialgeschichte des Exiltheaters oder Wilfried Wolffs Arbeit über Max Hodann. 41 Eine rühmliche Ausnahme bildet Michael F. Scholz' fundierte Studie über Herbert Wehner im schwedischen Exil. 42 Geht man der Frage nach, wer sich mit dem deutschsprachigen Exil in Skandinavien beschäftigt hat, können wir zwischen Arbeiten unterscheiden, die in Deutschland entstanden sind und bei denen es sich primär um Staatsexamens-, Magister- und Diplomarbeiten handelt, auch um einige Dissertationen, und zweitens der in Skandinavien durchgeführten Forschung. Schweden stand - das kann angesichts des Umfangs des Exils, aber auch wegen der genannten Pionierarbeiten von Müssener und Misgeld wenig überraschen - im Fokus deutscher Forscher. Zu nennen sind neben dem erwähnten Buch von Scholz und den Arbeiten von Jan Peters43 die beiden Studien von Günther über Fritz Tarnow bzw. die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter 44 , Pirntkes Examensarbeit über das Deutschlandbild der schwedischen Gewerkschaftspresse 45 , für Dänemark vor allem Ralf Deppes Arbeit über das politische Exil 46 und für Norwegen Arbeiten von Frank Meyer über die Exilpublizistik. 47 Betrachtet man die »skandinavische« Forschung über das deutschsprachi-

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ge Exil, k o m m t man zu dem Ergebnis, daß es sich mit wenigen Ausnahmen um Wissenschaftler handelt, die aus einem deutsch-skandinavischen Milieu stammen und damit die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, um deutsches und skandinavisches Material adäquat analysieren zu k ö n n e n (Müssener, Misgeld, Lindner, Lorenz, Schulte, Petersen, Tempsch). Bei den Skandinaviern stand dagegen primär die kritische Auseinandersetzung mit der Flüchtlingspolitik des eigenen Landes im Mittelpunkt des Interesses (Skjonsberg, T h o r u d , Johansen, Kolsrud, Mendelsohn in Norwegen 4 8 , H a m m a r , Lindberg und Nordlund in Schweden 4 9 , Melson und Klitgaard in D ä n e mark'' 0 ), in D ä n e m a r k zusätzlich das Schicksal der Juden und ihre Rettung nach Schweden. 5 1

V Es gibt in Skandinavien ein breites Interesse am Exil, allerdings nicht am deutschen. Eine jüngst veröffentlichte Übersicht über schwedische Dissertationen der Jahre 1 9 6 4 bis 1 9 9 3 zeigt, daß in dieser Periode 81 Arbeiten über Fragen der Einwanderung nach Schweden veröffentlicht wurden. 5 2 Das deutschsprachige Exil spielt darin nur eine untergeordnete Rolle, und es m u ß bedenklich stimmen, daß das Interesse skandinavischer Studenten an diesem T h e m a minimal ist. Abgesehen von einigen Germanistik-Studenten in Schweden und jüngst einigen Geschiehts-Studenten in D ä n e m a r k ist es kaum gelungen, einheimische Studenten für entsprechende Examensarbeiten zu gewinnen. Eine Ausnahme in Norwegen bildet der Historiker Lars B o r gersrud, der im R a h m e n seines Interesses für den Widerstand norwegischer K o m m u n i s t e n in einer äußerst materialreichen Studie die Zusammenarbeit deutscher Emigranten und skandinavischer K o m m u n i s t e n in der Wollweber-Organisation dokumentiert hat. 5 3 E i n e Frage, mit der man sich ernsthaft auseinandersetzen m ü ß t e , wäre, wie Studenten und Forscher des Auslandes für Studien des deutschsprachigen Exils gewonnen werden können. Exilforschung mit Interesse für die nordischen Länder (und wohl auch generell das Ausland) müßte, um Gedanken von Klaus Misgeld aufzugreifen, danach fragen, »ob das Exil dazu beigetragen hat, Völker oder Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Ländern einander näherzubringen«, o b man voneinander gelernt hat — und was, o b ein Kultur-, Politik-, Wissenschaftstransfer stattgefunden hat. 5 4 U n d weiter: ob und wie sich die Erfahrungen mit Flüchtlingen und der eigenen Fremdenpolitik auf die heutigen Haltungen zu den Flüchtlingsströmen ganz anderen Ausmaßes niedergeschlagen haben. In der schwedischen Flüchtlingspolitik haben die positiven Erfahrungen mit den sudetendeutschen Flüchtlingen der Vorkriegsjahre dazu geführt, daß sie nach 1 9 4 5 einer weiteren Einwanderung von Sudetendeut-

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sehen die T ü r öffnete, wobei es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Behörden und der Treuegemeinschaft kam. 5 5 U m nur ein Desiderat anzudeuten: Gibt es beispielsweise Verbindungslinien zwischen den restriktiven Haltungen gegen rassisch Verfolgte in den 1930er Jahren, der A u f n a h m e von Displaced persons, besonders kranken und behinderten (»Hard Core«-) Flüchtlingen nach Kriegsschluß und der norwegischen Nahost-Politik? U m Interesse am deutschsprachigen Exil zu wecken, wären nicht neue Beiträge zu den ideologischen Grabenkämpfen der deutschen Linken gefragt, sondern eher Studien, an denen sich strukturelle Züge des politischen Exils verallgemeinern lassen. D a m i t soll, u m Mißverständnissen vorzubeugen, natürlich nicht gesagt werden, d a ß individuelle und kollektive biographische Arbeiten über das politische Exil oder Studien des literarischen oder künstlerischen Exils ohne Bedeutung sind. W i r alle wissen, daß gerade Einzelschicksale die Problematik des Exils einem größeren Leserkreis näher bringen können. Aber vom Ausland her gesehen scheinen mir Studien wichtiger zu sein, die a) den Aufnahmeländern etwas über das »andere« Deutschland sagen, sich b) mit der Wirkungsgeschichte des Exils in den A u f n a h m e l ä n d e r n beschäftigen, c) etwas über die Beziehungen zwischen Deutschland und den Aufnahmeländern in der Nachkriegszeit aussagen u n d nicht zuletzt d) die Fremden- und Asylpolitik der A u f n a h m e l ä n d e r analysieren. Hier liegt meines Erachtens eine wichtige Herausforderung für die Exilforschung nicht nur in Skandinavien. 5 6 Eine Forderung an die deutsche Exilforschung wäre schließlich eine Ausweitung des Begriffs Hitler-Flüchtlinge, so d a ß er nicht nur das deutschsprachige Exil umfaßt, sondern die gesamte Emigration a u f g r u n d der deutschen Expansion und Persekution. Im R a h m e n eines derartigen Programms könnten unterschiedlichste Aspekte wie z u m Beispiel Zusammensetzung, Verhaltensweisen, Organisationsleben, Nachkriegsplanung vergleichend untersucht werden. Vergleichende Untersuchungen mit diesen Schwerpunkt könnten der Exilforschung neue Impulse und Dimensionen geben.

1 Helmut Müssener: »Ernst Moritz Benedikt. Österreicher und Jude.« In: Exil, 9.Jg. (1989), Nr. 1, S. 5. — 2 In dieser Zahl nicht enthalten sind die ca. 10.000 bis 15.000 Norweger, die unmittelbar nach dem 9.4.1940 über die Grenze nach Schweden flüchteten. Grundlegend zum norwegischen Exil in Norwegen: Ole Kristian Grimnes: Etflyktningesamfunn vokserfram. Nordmenn i Sverige 1940—1945• Oslo 1969. — 3 Anders Berge: Flyktingpolitik i stormakts skugge. Sverige och de sovjetryska flyktingarna under andra världskriget. Uppsala 1992. —

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4 Betänkande angäende flyktingars behandling [=SOU 1946:36]. Stockholm 1946, S. 32 ff. Dieser staatliche Untersuchungsbericht ist eine hochinteressante kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Flüchtlingspolitik. — 5 AlfÄberg: Vär svenska historia. Stockholm 1993, S. 530. — 6 Olav Riste: » L o n d o n - r e g j e r i n g a « . Norge i krigsalliansen 1940—1945. 2 Bde. Oslo 1973, 1979; Grimnes, a . a . O . ; Vidar Haugan; Det norske arbeiderparti 1940-1945• Planlegging og gjenreising. Oslo 1983. — 7 Siehe z.B. Finn Lokkegaard: Det danske Gesandtskab i Washington 1940—42. Kobenhavn 1969; Jorgen Grundt Larsen: Modstandsbeviegelsens Kontaktudvalg i Stockholm 1944-1945. Odense 1976; Emil Blytgen-Petersen: Frie danske i London 1940-1945. Kobenhavn 1977; Knudjespersen: Den danske brigade iSverige 1943-1945Kobenhavn 1993, sowie die Beiträge von P Bang-Jensen (»Den frie danske beva:gelse i Amerika«), S.Gudme (»De Danske i England«) und E.Seidenfaden (»Danskerne i Sverige«) in: Broensted: De fem lange Aar. 1940-45. Kobenhavn 1947, und A.Heinberg (»Danske Flygtninge i Sverige«), V. La Cour (»Den danske Brigade«) und P.Palmer (»Danske Frivillige i de allierte Styrker«) in: Danmark under Besiettelsen. Kobenhavn 1946, und Christian Tortzen: »Danskerne matte begynde pä bar bund ... Menigc danske safolks Organisation i England under anden verdenskrig«. In: Ärbok for arbejderbevmgelsens historie ¡994. Kobenhavn 1994, sowie von schwedischer Seite UlfYorell: Hjälp tili Danmark. Militära och politiska förbindelser 1943—1945. Stockholm 1973. — 8 Siehe dazu für Dänemark die Grundforschung von Freddie Nielsen: Tyskerne ogmodstanden 1940— 1945. F.n bibliografi over illegale publikationer udgivetpä tysk eller under medvirken aftyske anti-nazistiske emigranter 1940-1945 (Bibl. h«yskole Kobenhavn 1993). Siehe ferner auch Max Spangenbergs Erinnerungen in Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG), 1 9. Jg. (1977), H.4, sowie Im Blende mit dem Feind. Deutsche auf alliierter Seite. Hg. von Stefan Doernberg. Berlin 1 995, S. 36 ff. — 9 Protokoll des II. Internationalen Symposiums zur Erforschung des deutschsprachigen Exil nach 1933. Stockholm 1972, S. 34. — 10 Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1992; dies.: »Exil als Metapher. Nelly Sachs: Flucht und Verwandlung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 1 1: Frauen im Exil. München 1993; dies, und Helmut Miissener (Hg.): Briefe der Nelly Sachs. Frankfurt/M. 1984. — 11 Birgit S.Nielsen: »Aus dem Emigrantenkreis um Karin Michaelis: Archiv-Materialien zu Ernst Ottwalts Aufenthalt in Dänemark«. In: Text & Kontext. 9. Jg. (1981), H. 1; dies.: Erziehung zum Selbstvertrauen: ein sozialistischer Schulversuch im dänischen Exil 1933—1938. Wuppertal 1985; dies.: »Maria Lazar: eine Exilschriftstellerin aus Wien«. In: Text & Kontext. 1 1. Jg (1983), H. 1; dies.: »Frauen im Exil in Dänemark nach 1933«. In: Hitlerflüchtlinge im Norden. Asyl und politisches Exil 1933—1945- Hg. von Hans Uwe Petersen. Kiel 1991. — 1 2 Ich verweise hier besonders auf die bearbeiteten Versionen von Nielsen und Norregaard in Exil in Dänemark. Deutschsprachige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im dänischen Exil nach 1933. Hg. von Willy Dähnhardt und Birgit S. Nielsen. Heide 1994. — 13 Sissel Legreid: Nach dem Tode - oder vordem Leben. Das poetische Projekt Else Lasker-Schülers. Diss. Univ. Bergen 1995. — 14 Rolf Nesch. Zeugnisse eines ungewöhnlichen Künstlerlebens in turbulenter Zeit. Hg. von Maike Bruhns. Gifkendorf 1993. — 15 Wilhelm Reich: BeyondPsychology. Ed. and with an introduetion by Mary Boyd Higgins. New York 1995. Siehe zu Reichs Jahren in Dänemark und Norwegen außerdem Myron Sharaf: Wilhelm Reich. Der heilige Zorn des Lebendigen. Eine Biografie. Berlin 1994. — 16 Siehe dazu als Beispiel für die wenigen Ausnahmen z. B. Vera Komissar: Nädetid. Norskejßderpä flukt. Oslo 1992, Ingrid Lomfors: »Vem vill ha et judebarn?«. In: Invanddeutschsprachige rare och Minoriteter, 17.Jg. (1990), Nr. 5 - 6 . — 17 Helmut Müssener: Die Emigration nach 1933- Aufgaben und Probleme ihrer Erforschung. Stockholm 1970. — 18 Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974; ders.: Deutschsprachiges Exiltheater in Skandinavien. Schriften des Deutschen Instituts der Universität Stockholm, 7. Stockholm 1977; ders.: »Die Exilsituation in Skandinavien«. In: Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart 1973; ders.: »Den tysk-judiska emigrationen tili Sverige efter 1933«. In: Nordisk Judaistik, 1, 1975; ders.: »>Meine Heimstatt fand ich hoch im Norden« - »Schweden ist gut - für die Schweden«. Aspekte geglückter und mißglückter Integration in Schweden nach 1933«. In: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder (Hg.): Leben im Exil Hamburg 1981; ders.: »> Fhomas Mann ... lind

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ferner liefen ...< Die Problematik der Wirkung deutschsprachiger Exil-Literatur in den Gastländern am Beispiel Schweden«. In: Exil und Wertung. Ausgewählte Beiträge zum 5-Symposium über deutsche und österreichische Exilliteratur. Columbia/South Carolina 1985 (auch in: Text & Kontext, 13.Jg. (1985), H . l ) ; ders.: »Asyl in Schweden. Zeitgeschichtliche Perspektiven, Lerntag über Asylrecht und Asylpraxis: 1933 versus 1986«. In: Lerntage des Zentrums für Antisemitismusforschung III. Berlin 1986 (auch in: Ausblick. Zeitschrifi für deutsch-skandinavische Beziehungen, 26.Jg. (1986) Nr. 1/2, und in: Invandrare och minoriteter, 13.Jg. (1986), Nr.6; ders.: »Exil in Schweden«. In: Ausstellungskatalog Exil in Schweden. Akademie der Künste Berlin 1986; ders.: »>... und stolz nach Kopenhagen als Held der Freiheit ziehnIch lebte eben da«. Peter Weiss im schwedischen Exil«. In: Peter Weiss. Leben und Werk. Hg. von Gunilla Palmstierna Weiss und Jürgen Schutte. Frankfurt/M. 1991; ders.: »>Du bist draußen gewesen«. Bemerkungen zur unmöglichen Heimkehr des Peter Weiss«. In: Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von Julius Fetscher u. a. Würzburg 1991; ders.: »»Wir, denen niemand dankt«. Deutschsprachiges Theater im schwedischen Exil und Hermann Greids Drama >Die andere Seite««. In: Exiltheater und Exildramatik. Hg. von Edita Koch und Frithjof Trapp. Maintal 1991; ders.: »>Wir werden sehen! Weiter!«. Der Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Hermann Greid. Fragmente einer Biographie«. In: Bilanz Düsseldorf '45. Kultur und Gesellschaft von 1933 bis in die Nachkriegszeit. Düsseldorf 1993. — 19 Helmut Diekmann: »Erdbebenjahre«. Von der Volksfrontpolitik bis zum ftnnisch-sowjetischen Winterkrieg. Aspekte der späten dreißiger Jahre im Spiegel der deutschen Exilpresse und Exilliteratur. Stockholm 1994. — 20 Klaus Misgeld: Die »Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten« in Stockholm 1942— 1945- Zur sozialistischen Friedensdiskussion während des Zweiten Weltkrieges. Stockholm, Bonn 1976. — 21 Klaus Misgeld: »Socialistisk internationalism? SAP:s partistyrelse, det internationella samarbetet och Tysklandfrägan«. In: Meddelande frän Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek (MARAB), 5. Jg. (1981), Nr.20; ders.: »Schweden als Paradigma? Spuren schwedischer Politik und Kulturpolitik in der Arbeit ehemaliger politischer Flüchtlinge nach ihrer Rückkehr in die Westzonen/Bundesrepublik Deutschland und nach Osterreich ( 1 9 4 5 - 1960). Grundsätzliche Überlegungen und Beispiele«. In: Aspekte des Kulturaustausches zwischen Schweden und dem deutschsprachigen Mitteleuropa nach 1945. Hg. von Helmut Müssener. Stockholm 1981; ders.: Sozialdemokratie und Außenpolitik in Schweden. Sozialistische Internationale, Europapolitik und die Deutschlandfrage 1945-1955. Frankfurt/M., New York 1984. — 2 2 Jörg Lindner: Den svenska Tysklands-hjälpen 1945-1954. Umea 1988; ders.: »Sverige og Tysklands demokratisering 1 9 4 5 - 1 9 5 1 « . In: Historia nu. 18. Umeäforskare om det förflutna. Umea 1988; ders.: »Alte und neue Auffassungen über Deutschland. Aspekte der schwedischen Nachkriegshilfe für Deutschland 1945—1954«. In: Neuanfang. Beziehungen zwischen Schweden und Deutschland 1945—1954. Red.: Ulf Olsson et al. Umeä 1990; ders.: »Svenska interneringsläger under andra världskriget. Diskriminering, degradering och disciplinering«. In: Arbetarhistoria, 18.Jg. (1994), Nr. 69. — 23 Rudolf Tempsch: »Wer sind die Sudetendeutschen?«. Artikkelserie in Blätter der sudetendeutschen Sozialdemokraten in Skandinavien, 1 9 7 9 - 1 9 8 1 ; ders.: »Sverige och de antinazistiska sudetflyktningerna«. In: Invandrarrapport, 2, 1989; ders.: »En invandrarkommun«. In: Invandrare och Minoriteter, 17.Jg. (1990), Nr. 5 - 6 ; ders.: »Schweden unddieantina/.istischen Sudetenflüchtlinge«. In: Hitlerflüchtlinge im Norden, a. a. O.; ders.: »Intervjuer med sudettyskar i Eskilstuna«. In: Bror-Eric Ohlsson (Red.): Nybyggare i folkhemmet. Eskilstuna 1991. — 24 Dieter Günther: Gewerkschafter im Exil. Die Landesgruppe deutscher Gewerk-

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schafier in Schweiler! von 1938—1945• Marburg 1982; Jan Peters: Exilland Schweden. Deutsche und schwedische Antifaschisten 1933-1945• Berlin ( D D R ) 1984; ders.: »Svensk flyktingpolitik 1 9 3 3 - 1945«. In: Nordiskflyktingpolitik i världskrigets epok. Red. Rune Johansson och Hans-Äke Persson. Lund 1989; Margareta Boman: Socialdemokratiska partiets och LO:s flyktinghjälp 1939 tili 1945• Univ.Stockholm o. J.; Gunnar Lefrell: Den socialdemokratiska flyktinghjälpen 1936-1939. Univ. Stockholm o.J. — 2 5 Martin Grass: »Exil 1 9 3 3 - 1 9 4 5 in Skandinavien: Quellen und Archive in Schweden. Einige Beispiele«. In: Hitlerflüchtlinge im Norden, a . a . O . , S. 297 ff., Zitat auf S. 307. — 2 6 Dinesen: Deutschsprachiges Exil, a . a . O . , S . 7 . — 2 7 Exil in Dänemark, a.a.O. — 2 8 Steffen Steffensen: P ä f l u g t f r a nazismen. Tysksprogede emigranter i Danmark efter 1933. Udgivet af Henriette Riskier Steffensen. Redigeret af Willy Dähnhardt og Birgit S. Nielsen. Kebenhavn 1986. — 2 9 Minna Steffen Pedersen: »Matteotti-Komiteen og Hitler-flygtningene«. In: Ärbogfor Arbejderbev&gelsens Historie 1990. Kobenhavn 1990 (deutsch in: Hitlerflüchtlinge im Norden, a.a.O.); Torben Sterner: Rede Hjalp 1928-1941. Univ. Ärhus 1981. — 3 0 Ralf Deppe: »Sozialdemokratisches Exil in Dänemark und der innerdeutsche Widerstand. Das Grenzsekretariat Kopenhagen der SOPADE Unterstützung der Widerstandsarbeit in Deutschland«. In: Hitlerflüchtlinge im Norden, a . a . O . (dänisch in Arbog for Arbejderbevsgelsens Historie 1990. Kebenhavn 1990). — 3 1 Jorgen Haestrup: Dengang i Danmark. Jedisk ungdom pä trxk 1932— 1945. Odense 1982, siehe auch den Beitrag »Auf dem Weg von Deutschland nach Palästina: Jüdische Kinder und Jugendliche in Dänemark von 1 9 3 0 - 1945«. In: Dinesen: Deutschsprachiges Exil, a . a . O . — 3 2 Hans Uwe Petersen: »Viel Papier, aber wenig Erfolg. Dänemark und die internationale staatliche Hilfsarbeit für Flüchtlinge vor dem deutschen Faschismus«. In: Exil, 4.Jg. (1985), Nr. 2; ders.: »Die dänische Flüchtlingspolitik 1933—1941«. In: Dinesen, Deutschsprachiges Exil, a . a . O . ; ders.: »Danmark og Hitler-flygtningene fra Czekoslovakiet, 1 9 3 8 - 1 9 4 5 « . In: Bent Blüdnikow (Red.): Fremmede i Danmark. 400 ärs fremmedpolitik. Odense 1987; ders.: »De nordiske lande og Hitler-flyktningene«. In: Nordisk flyktingpolitik i världskrigens epok, a . a . O . ; ders. (Hg.): Hitlerflüchtlinge im Norden, a. a. O.; ders.: »Dänemark und die antinazistischen Flüchtlinge (1940—41)«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd.8: Politische Aspekte des Exils. München 1990; ders.: »Pä flugt i 30'erne«. In: Siden Saxo. Magasin for dansk historie, 1, 1987; ders.: »Pä sporet af et internationale samarbejde blandt kedel- og maskinpassere i den anti-fascistiske kamp. Faglig solidaritet med Hitler-lascismens ofre«. In: Arbejderhistorie, 31, 1988; ders.: »Die sozialen und politischen Verhältnisse der Hitlerflüchtlinge im dänischen Exil«. In: L'emigration politique en Europe aux XIXe et XXe Steeles. Roma 1991. - Siehe ferner vom gleichen Autor die Aufsätze »Flyktninge fra Hider-Tyskland. En indforing i eksilforskningen«. In: [Dansk] Historisk tidsskrift, Bd. 85 (1985), H. 2, und »Hitlerflyktningene, eksilforskningen og >Modstandens ajstecikHier oben in Skandinavien ist die Lage ja einigermaßen verschieden ...< Zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) im skandinavischen Exil«. In: Klaus Schönhoven/Dietrich Staritz (Hg.): Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag. Köln 1993. — 3 7 Bengt Calmeyer: Skomakeren fra Sachsenhausen. Oslo 1990, Fernsehprogramme »Merz« (NRK, 21.10.1991), »Thilo Schoder - avantgarde-arkitekten som kom til Norge ogbleglemt« (NRK, 16.8.1990); Radioprogramme »Verdensberomt arkitekt flyttet til Norge - og ble glemt« (NRK, P 1, 18.8.1988), »Tysk flyktning i Norge, men norsk borger i 1941: Willy Stoffregen« (NRK, P 2, 17.3.1987), Ausstellungskatalog Bruno Krauskopf1892-1992. De ferste ärene i Norge, o. O. (Stavanger, Bergen, Oslo) 1992. — 3 8 Siehe dazu den Tagungsband Hitlerflüchtlinge im Norden, a. a. O. — 3 9 Misgeld in Hitlerflüchtlinge im Norden, a. a. O., S. 348 f. — 4 0 Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und Palästina [= Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945, Bd. 5]. Leipzig 1980. — 4 1 Hans-Ludwig Beeke: »Exilpublizistik in Skandinavien«. In: Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1933-1945. Hg. von Hanno Hardt u.a. München, New York, London, Paris 1979; HansChristof Wächter: Theater im Exil. Sozialgeschichte des deutschen Theaters 1933-1945. München 1973; Peter Koch: Willy Brandt. Eine politische Biographie. Berlin, Frankfurt/M. 1988, S. 84 ff.; Wilfried Wolff: Max Hodann (1894-1946). Sozialist und Sexualreformer. Hamburg 1993. Wolff berücksichtigt beispielsweise weder die skandinavischen Artikel Hodanns, dessen Roman Jakob gär over grensen (Oslo 1938), noch die materialreiche Hodann-Studie des Osloer Germanisten Ivar Sagmo in Hitlerflüchtlinge im Norden, a. a. O., S. 181 ff. — 4 2 Michael F. Scholz: Herbert Wehner in Schweden 1941-1946. München 1995 [= Schriftenreihe der Vicrteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 70]. Scholz, der an der Universität Greifswald arbeitet, hat sich in mehreren anderen Arbeiten mit der Arbeit und dem Schicksal von Remigranten aus Schweden in der D D R beschäftigt, so z. B. in den Artikeln »Rudi Wetzel - Schicksal eines ehemaligen Schweden-Emigranten in der SBZ/DDR«, in: Exil, 12. Jg. (1992), Nr. 1, 1992, und »Kurt Viewegs alternative Agrarpolitik 1956«, in: BzG, 36. Jg. (1994), H. 3. — 4 3 Peters: Exilland Schweden, a . a . O . ; ders.: »Svensk flyktingpolitik«, a . a . O . ; sowie dessen Beitrag in Kunst und Literatur, Bd.5, a . a . O . Siehe zu Peters Hauptwerk auch Müsseners Rezension in IWK, 22. Jg. (1986), H. 4. — 4 4 Dieter Günther: Die Tätigkeit Fritz Tarnows im schwedischen Exil 1940- 45. Univ. Marburg 1977; ders.: Gewerkschafter im Exil, a . a . O . — 4 5 Dagmar Pirntke: Das Deutschlandbild in der schwedischen Gewerkschaftspresse von 1945 bis 1955Univ. Bonn 1994. Hinzuweisen ist auch auf eine Dissertation von Henrike Girmond, die Aspekte des Nachexils in Schweden behandelt ( » S o v j e t - T y s k l a n d « . Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands im Spiegel der schwedischen Tagespresse 1945-1959• Frankfurt/M., Berlin, Bern usw. 1995). — 4 6 Ralf Deppe: Exil in Dänemark 1933-1948. Univ. Hamburg 1985 und popularisiert: ders.: »Diesozialdemokratische Emigration in D ä n e m a r k - e i n Überblick«. In: Kurt Hamer u.a. (Hg.): Vergessen und verdrängt. Eine andere Heimatgeschichte. Eckernförde 1984. — 4 7 Frank Meyer: Die norwegisch-sprachige Publizistik des deutschen Exils in Norwegen (1933—1940). Univ. Bochum 1993; ders.: »Vom Zentrum zur Peripherie: die norwegische Gesellschaft und die deutschsprachigen Flüchtlinge ( 1 9 3 3 - 1 9 4 0 ) « . In: Bernhard Glienke/Edith Marold (Hg.): Arbeiten zur Skandinavistik. 10. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik. Frankfurt/M. 1993; ders.: »Interkulturelle Kommunikation im Exil. Zur Analyse der Exilpublizistik in Skandinavien«. In: Helga Grebing/Christl Wickert (Hg.): Das »andere Deutschland« im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Beiträge zur politischen Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur im Exil und im Dritten Reich. Essen 1994. — 4 8 Oskar Mendelsohn: Jedenes

historie

i Norgegjennom

300 är. 2 Bde. Oslo, Ber-

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Einhart Lorenz

gen, Tromso 1969; Harald Skjonsberg: En flyktningepolitik utvikles. Norskpolitikk overfor tyskeflyktninger 1933-40. Univ. Oslo 1981; Per Ole Johansen: Oss selv narmest. Norge ogjedene 1914—1943. Oslo 1984; Espen Thorud: Norsk innvandringspolitikk og arbeiderbevegelsen. Fra äpne derer til innvandringsstopp. Univ. Oslo 1985; Ole Kolsrud: »Framveksten av den norske fremmedlovgivningen«. In: [Norsk] Historisk Tidsskrifi, Bd. 69 (1990), Nr. 1; ders.: »EksilNorge og jodene under 2. verdenskrig«. In: [Norsk] Historisk Tidsskrifi, Bd.73 (1994), Nr.3, 1994. — 49 Tomas Hammar: Sverige ät svenskarna. Invandringspolitik, utlänningskontroll och asylrätt 1900-1932. Stockholm 1964; Hans Lindberg: Svensk flyktingpolitik under internationellt tryck 1936—1941. Stockholm 1973; Sven Nordlund: Invandringen tili Sverige ¡920-1945. Göteborg 1970. — 50 Jens Paludan Melson og Brian Klitgaard: / skyggen af Tyskland. Flygtningepolitikken som et led i dansk udenrigspolitik 1933—1940. Univ. Aalborg 1989. — 51 Siehe dazu Herbert Pundik: Det kan ikke ske i Danmark. Jedernes flugt til Sverige i 1943. Kabenhavn 1994; auch Bent Blüdnikow: Som om de slet ikke eksisterede. Hugo Rothenberg ogkampenfor de tyskejeder. Viborg 1991. — 52 IMER-Nytt, 3. Jg. (1995), Nr. 1/2. i Norge. 2 Bde. Oslo 1995. — 54 Misgeld — 53 Lars Borgersrud: Wollweber-organisasjonen in Hitlerflüchtlinge im Norden, a. a. O., S. 350. — 55 Siehe dazu Rudolf Tempsch: »Sudetendeutsche Antinazisten im Norden 1938 —«. Arbeitspapier im Rahmen des Forschungsprojekts Hitler-flyktninger i Norden (mimeo). — 56 Ansätze finden wir in Arbeiten über die skandinavisch-deutschen Nachkriegsbeziehungen von Klaus Misgeld (»Schweden als Paradigma«, a . a . O . ) und Einhart Lorenz (»>Moralischc Kalorien< für deutsche Demokraten. Norwegische Ansichten über Deutschland am Beispiel der Arbeiterbewegung«. In: Robert Bohn/Jürgen Llwcrt (Hg.): Kriegsende im Norden. Vom heißen zum kalten Krieg. Stuttgart 1995).

Stephan Braese

Fünfzig Jahre >danach< Zum Antifaschismus-Paradigma in der deutschen Exilforschung

Jeder historiographischen Bemühung um die deutsche Exilforschung wird das Moment des Antifaschismus als konstituierendes — und heute, unweigerlich: problematisches - sichtbar werden. >Heute< bezeichnet dabei keineswegs jenes diskurspolitische Klima schadenfroher >Abrechnungen< nach dem zum völkerrechtlichen Fakt gewordenen Zusammenbruch der D D R und der Sowjetunion; >heute< meint hier vielmehr jene besondere, der Exilforschung in dieser Radikalität freilich bisher nicht zugewachsene Chance, Kritik und vor allem Selbstkritik üben zu können entlastet vom Entscheidungs- und Loyalitätsanspruch einer gesellschaftlichen Lage, die als Systemkonkurrenz wahrgenommen wurde. Wenn sich auch abzuzeichnen beginnt - und wohl auch zu hoffen steht - , daß der Weg der deutschen Exilforschung aus ihrer gegenwärtigen Krise über ein umfassendes Projekt der Selbstkritik führen wird, so zielt das folgende doch weniger darauf, dieses Projekt, gar in seinem ganzen Umfang, bereits zu skizzieren, sondern darauf, den neuen Spielraum, den »freien Weg«1 probierend zu nutzen. In einem solchen Versuch mag sichtbar werden, wie eine möglichst entschiedene Arbeit an den Hypotheken der Disziplin >unversehens< zur unmittelbaren Arbeit an den Gegenständen der Exilforschung und einer ihr eigenen spezifischen Erkenntnisfähigkeit werden kann.

I »...einige Änderungsvorschläge...« 2 Ellibro

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Heinrich Mann, 1 2 . 2 . 1 9 4 3

Bereits eine erste Musterung der deutschen Exilforschung verdeutlicht, daß das Antifaschismus-Paradigma eine Vielzahl von Funktionen ausübt, von denen hier drei besonders wirkungsmächtige herausgegriffen seien. Zum einen ist kennzeichnend, daß das Einsetzen der Exilforschung in Westdeutschland ab Ende der sechziger Jahre »wohl mit Recht als >Suche nach (der) politisch-organisatorisch-ideologischen Vergangenheit unter der jüngeren Wissenschaftlergeneration« 3 begriffen wurde. In dieser Perspektive, die die eigene wissenschaftliche Arbeit etwa an der Exilliteratur als Bestandteil

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des »Prozess(es) antifaschistischer Traditionsfindung in der BRD« 4 wahrnahm, setzte eine Identifikation mit dem vermeintlichen antifaschistischen Standort der Exilliteratur ein, die die konkrete, in der Regel von den Bedingungen der Adenauer-Republik gezeichnete »politisch-organisatorisch-ideologische Vergangenheit« der meisten »der jüngeren Wissenschaftlergeneration« entweder ausblendete oder aber »im Gefolge der Studentenbewegung und dem durch sie eingeleiteten Prozeß einer bewußten Politisierung der Intelligenz«5 hinreichend durchgearbeitet wähnte. Die objektive Opposition der westdeutschen Exilforschung gegen die »bis dahin vorherrschende werkimmanente und idealistische Literaturgeschichtsschreibung« 6 war geeignet, diese Identifikation, das heißt: die stilisierende Erweiterung der eigenen konkreten politischen Oppositionsarbeit zur Nachfolge des historischen Antifaschismus, in Betrieb zu halten. Willy Brandts Worte auf dem Bremer PEN-Kongreß 1980: »Es gibt das Bedürfnis nach der guten Tradition«7 hatten einen Sachverhalt bezeichnet, dem auch die westdeutsche Exilforschung in einer Weise ausgeliefert zu sein schien, die jeden analytischen Blick auf dieses Bedürfnis verstellte. Das zweite Moment, das sich über das Antifaschismus-Paradigma der deutschen Exilforschung konstitutiv eingefügt hat, ist die Marginalisierung des Kernereignisses des NS-Faschismus, der Massentötungen in den Vernichtungslagern. Als wohl verbreitetster diskurs->pragmatischer< Modus, der vermeintlich instinktsicher an der Thematisierung der Shoah vorbeizuführen versprach, fungierte hier lange die »strenge Separierung von politischem Exil und (vorwiegend) jüdischer Emigration« 8 , mit nachhaltiger Präferenz zugunsten des politischen Exils. Aus der Fülle der Belege seien hier nur zwei Beispiele angeführt, die gerade in der Beiläufigkeit, in der dort Spurenelemente der Vermeidung aufblitzen, verdeutlichen mögen, auf welch subtile Art das >Problem< der deutschen Exilforschung mit der jüdischen Emigration und ihrem Hintergrund der Vernichtung im wissenschaftlichen Diskurs seine Wirkkraft entfaltete. In einem 1973 in den Akzenten geführten Gespräch über »Die Exilliteratur und ihre Erforschung« heißt es etwa: »Man darf nicht vergessen, daß es eben außer Marxisten und progressiven bürgerlichen Schriftstellern auch einer ganzen Reihe von eher konservativen bis reaktionären Autoren nicht erspart geblieben ist, ins Exil zu gehen. Das ist das eigentliche Problem, und das macht die Heterogenität aus. Man darf ja nicht vergessen, daß der Faschismus nicht nur marxistische, sondern generell auch alle jüdischen Intellektuellen vertrieben hat. Und durch diese sehr unterschiedlichen Kriterien der Verfolgung ist die Spannweite innerhalb der ExilLiteratur sehr groß. Sie reicht von den Marxisten Becher und Brecht bis hin zu einem jüdischen Schriftsteller wie Rudolf Borchardt, der auch im Exil der »blonden Rasse< seine Verehrung gezollt hat.« 9 Wie es sich hier >wie von selbst< fügt, daß als Beispiel für »alle jüdischen Intellektuellen« gerade jemand erfor-

Z u m Antifaschismus-Paradigma in der deutschen Exilforschung

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derlich scheint, der den denunziatorischen Platz rechtsaußen, im Grunde schon bei den Nazis, auszufüllen vermag — das ist direkt aus dem »eigentlichen Problem« heraus gesprochen: der Belastung mit einer Faschismustheorie, deren »weltanschauliche Vorgaben (...) am Ereignis der Massenvernichtung ab(prallten)« ,ü . In welchem Ausmaß gerade die Exilforschung der D D R von dieser Belastung betroffen sein mußte, verdeutlicht ein Blick in das Vorwort zu dem repräsentativen siebenbändigen Werk Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933—1945, in dem es - noch 1979 - erläuternd heißt: »Den Exilbegriff, wie er in diesen Bänden gebraucht wird, leiten wir aus der Gemeinsamkeit des antifaschistischen Widerstands ab, so vielfältig politisch gefächert diese Kampffront auch war. Die verschiedenen Zentren des Exils werden nicht als Fluchtpunkt, sondern als Treffpunkt des antifaschistischen Widerstands verstanden. Die Darstellung will ein Beitrag zu einer Ästhetik des Widerstands sein. Doch mit der Orientierung auf die politischen Grundfragen verschließen wir uns keineswegs den zahlreichen menschlichen Problemen des Exils, der psychischen und geistigen Not derer, die aus der Heimat vertrieben wurden. Deshalb gehört zu unserer Darstellung das Schicksal der Menschen, die ins Exil gingen, weil sie aus rassischen Gründen verfolgt wurden, die sich gegen den Faschismus stellten, um weiterleben zu können.« 11 Nicht nur die umstandslose Umwidmung des Exils als »Fluchtpunkt« zum »Treffpunkt« sei hier beachtet 12 ; symptomatische Bedeutung kommt hier auch dem anschließenden Argumentationsgang zu: Die Drohung der Vernichtung gegen die Juden (»aus rassischen Gründen verfolgt«) firmiert als »menschliche(s) Problem des Exils«, das eigentlich den »politischen Grundfragen« nicht zugehört; behandelt wird es als ein Zusätzliches (»verschließen wir uns keineswegs«). Bemühungen wie diese bilden eines der spezifischen Probleme »traditionellen antifaschistischer Perspektive ab: ihr »vom ökonomistischen Deutungsmonopol« 13 wesentlich bestimmtes Unvermögen, den »Ereigniskomplex« der Vernichtung auch nur »seinem Gewicht nach«14 angemessen zu berücksichtigen: » Die antifaschistische Deutung der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie die antifaschistisch gerichteten politischen Schlüsse aus der Vergangenheit standen der Erinnerung an den negativ radikalen Kern der Massenvernichtung entgegen: Die Vernichtung jenseits aller ökonomischen Verwertung und politischen Unterdrückung galt es zu ignorieren.«15 Ein drittes Moment, das über das Anitfaschismus-Paradigma Eingang in die deutsche Exilforschung gefunden hat und dort folgenreich werden konnte, ist die Neuauflage jener normativen ästhetischen Maßstäbe, die in den Zirkeln und Institutionen des historischen Antifaschismus entwickelt und im öffentlichen Raum des Exils autoritativ propagiert worden waren. Gering-

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Schätzung, wenn nicht offene Verachtung »unpolitische(r) Autoren wie Robert Musil und Hermann Broch« 16 als »sogenannter Avantgarde« 17 , die per se als »politisch >ungefährlichorganisch< neben der Auffassung von einer unmittelbaren Kausalität zwischen »literarische(m) Gelingen oder Scheitern eines Werks« und »der Qualität der politischen Theorie und Prognostik« 19 : »Ist es ein Zufall, daß die bedeutendsten Romane des Genres (Darstellungen des nationalsozialistischen Deutschlands, S. B.) von - pauschal gesprochen - >linken< Autoren geschrieben wurden, während die meisten bürgerlichen Versuche von relativ großer Hilflosigkeit zeugen? Wohl kaum, wenn man berücksichtigt, daß es sich bei den Faschismus-Theorien ebenso verhält« 20 . Zum gleichen Genre wird an anderem Ort festgestellt: »Auf diesem Teilgebiet der Exilliteratur kann man die interessante Beobachtung machen, daß politische Fehlinterpretation und künstlerisches Mißlingen, politische Klarsicht und künstlerische Qualität bisweilen ungemein enge Verbindungen eingegangen sind. Eine theoretische Auffassung, die dem reichsten und reifsten Erkenntnisstand der Zeit entsprach, findet sich hier in der Regel nur bei Schriftstellern, deren Kraft, solche Einsichten literarisch umzusetzen, der Bedeutung dieser Einsichten entsprach. Das verleiht z. B. den Deutschlandromanen von Anna Seghers und Arnold Zweig ihre überragende Bedeutung. Bei einer anderen Gruppe von Werken gleicher Thematik gerät die politische Prognostik in einen Gegensatz zur literarischen Gestaltung; der Realismus der Darstellung dementiert die Thesen, die eigentlich bewiesen und erhärtet werden sollen. Bei einer dritten Kategorie schließlich findet die politische Fehleinschätzung ihre Entsprechung in den Fatalitäten des künstlerischen Mißlingens. Bedient man sich der hergebrachten Interpretationsverfahren, so wird man in den Deutschlandromanen zwar Widersprüche feststellen, aber kaum erklären können. Den Schlüssel liefert erst die Kenntnis der Faschismustheorien und der politischen Prognostik.« 21 Die erkenntnistheoretische Substanz dieser unverändert aus den dreißiger Jahren übernommenen - allerdings von ihrer schon zeitgenössischen kritischen Gegenrede entlasteten - Ästhetik war vollständig geborgen in jenen formelhaften Kategorisierungen der Exilliteratur, die ihre Strömungen einteilten in »resignierend-eskapistische, kulturbewußt-humanistische und aktiv-antifaschistische« 22 oder ihre Autoren in jene, »deren Antifaschismus aus einem streitbaren bürgerlichen Humanismus resultierte, Schriftstellern, die sich von der bürgerlichen Weltanschauung abzulösen begannen und zu sozialistischen Positionen tendierten, und sozialistischen Schriftstellern, die über das konsequenteste und praktikabelste Konzept im antifaschistischen Kampf verfügten« 23 . Der vielleicht problematischste Einschluß, der mit einer Ästhetik wie dieser in die deutsche Exilforschung eingetragen wurde, war zum einen die ungebrochene Sanktionierung all jener ästhetischen Experimente inklusive ihrer Erfolge und ihres Scheiterns auf Seiten »aktiv-antifa-

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schistischer« Autoren, im literaturpolitischen Disziplinierungskontinuum zugunsten der »Parole Realismus« 24 ; zum andern wurde in der Zuschreibung an die »sozialistischen Schriftsteller«, über »das konsequenteste und praktikabelste Konzept im antifaschistischen Kampf« verfügt zu haben, »die Geschichte des Widerstands umerzählt in eine zeitlose Geschichte der Sieger« 25 . Spätestens hier mag deutlich werden, wie innig die verschiedenen Funktionen des Antifaschismus-Paradigmas in der deutschen Exilforschung ineinandergreifen: Eine »Geschichte der Sieger« war freilich von Anbeginn nur unter konsequenter Ausblendung der Massenvernichtung >lesbarRealismus< historisch ab. Indem sie die richtige Antwort auf die Krisenerscheinung der Epoche zu wissen, gar den ästhetischen Maßstab beizubringen schien, verstellte sie von vornherein die Chance einer offenen diskursiven Situation zwischen den literarischen Zeugnissen und ihrer Erforschung: Die — heute nicht anders denn als >historisch< denkbare - Konfrontation mit den Zumutungen, die die Exilliteratur barg - sowohl für eine kritische Philologie wie auch für die deutsche Linke - , blieb aus. Kritik und Selbstkritik der deutschen Exilforschung haben gerade an der Wirkungsmächtigkeit des Antifaschismus-Paradigmas angesetzt. Als eine Ursache für die lange Zeit »weitgehend einseitige Festlegung des Erkenntnisinteresses auf das emphatisch als >antifaschistisch< bezeichnete Exil« 26 hat Ernst Loewy in seiner Wortmeldung »Zum Paradigmenwechsel in der Exilliteraturforschung« den »>nachgeholten Antifaschismus^ 2 7 ausgemacht. Im historiographischen Blick auf die Anfänge der westdeutschen Exilforschung räumt er ein: »Es war nur zu natürlich, daß im Zuge der politischen Bewegung gegen Mitte und Ende der sechziger Jahre — radikaldemokratisch und internationalistisch, wie sie gestimmt war — die überlieferten und durch den Nationalsozialismus diskreditierten nationalistischen Traditionen deutscher Vergangenheit ernsthaft infragegestellt, gleichzeitig aber auch neue Orientierungspunkte, sowohl der älteren wie der jüngeren Geschichte, anvisiert wurden« 2 8 . Loewy muß freilich unversucht bleiben von jenem Modus einer unbegriffenen Identifikation mit dem historischen Antifaschismus, in dem - hier: die westdeutsche - Exilforschung ihren Antifaschismus >nachgeholt< hat. »Das Jahr 1968« gilt für ihn »auch« als »das Jahr, in welchem die Wahrnehmung und Erkenntnis der schlechten Praxis des realen Sozialismus sich von neuem und diesmal unwiderruflich in das Bewußtsein der alten Linken, soweit sie nicht längst davon abgerückt war (oder ihm ohnehin fernstand), eingegraben hatte« 29 . Loewy begreift »das Bedürfnis der Nachgeborenen nach einem nachgeholten Antifaschismus« als Teil jener Krise der Linken, die er mit den Stichworten »>Prager Frühlinglanger Marsch durch die Institutionen^ umreißt, fügt jedoch hinzu: »Skepsis war freilich

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schon damals am Platz hinsichtlich der Frage, ob es sich bei all dem tatsächlich um den Vorgriff auf ein neues Denken oder noch um einen Nachhall von zum Teil in Vergessenheit geratenen, zum Teil überholten linken Positionen handelte.« 30 Er knüpft die Frage an: »Könnte die starke Fokussierung des »antifaschistischem Exils durch unser Erkenntnisinteresse unter weitgehender Ausklammerung der Massenvertreibung (und der Massenvernichtung) der deutschen und europäischen Judenheit nicht auch den Verdacht evozieren, daß eine Art geschichtlicher Deckerinnerung dabei im Spiele war? Etwa, um das gerade noch Ertragbare vor dem Blick auf das Schlimmste abzuschotten? Weil dieses unfaßbar war und in keine wie auch immer geartete rationale Vorstellung paßte?«31 Daß diese Selbstkritik (»unser Erkenntnisinteresse«) von einem deutschen Exilforscher artikuliert wird, der Antifaschismus gerade nicht >nachzuholen< hatte, hat seinerseits freilich Belegcharakter. Doch Loewy erkannte schon, daß ein wesentliches Hemmnis für eine solche selbstkritische Perspektive der deutschen Exilforschung gar nicht allein »das Schlimmste« >für sich< — der Sachverhalt der Shoah — war, sondern mehr noch das in der Massenvernichtung unübersehbar gewordene Dementi »jeden Glauben(s) an die Beständigkeit der westlichen Zivilisation, an den Triumph der Aufklärung, an die Rationalität als einer den Menschen im historischen Prozeß zugewachsenen und irreversiblen Größe« 32 . Mit Blick auf jene Faschismustheorie, die, über das Antifaschismus-Paradigma, in die deutsche Exilforschung Eingang gefunden hatte, formulierte etwa Dan Diner, daß hinter »der Widerlegung der Deutung vom behaupteten grundlegenden Zusammenhang von ökonomischem Nutzen und nationalsozialistischer Massenvernichtung (...) der Schrecken über die damit verbundene Annullierung hoffnungsfroher geschichtsphilosophischer Grundannahmen (drohen)« mußte. 33 Lutz Winckler hat kürzlich diese Befragung zentraler Verabredungen der deutschen Exilforschung fortgesetzt. Seine Darstellung unterstreicht, daß >Antifaschismus< in der Exilforschung vorrangig als Mythos — inklusive seiner genuin erkenntnishemmenden Qualitäten — gewirkt habe. Indem Winckler die »rituelle Wiederholung« des Antifaschismus, etwa in Form der »Freund-Feind-Konstellationen und Ausgrenzungsmechanismen der dreißiger Jahre« 34 , als pathologische »Form des Ausagierens«35 entschlüsselt, knüpft er an Loewys Hinweis auf den »nachgeholten Antifaschismus« an und führt jene Bemühungen weiter, die in die Richtung jenes eingangs erwähnten umfassenden Projekts der Kritik und Selbstkritik weisen. Das produktive Moment, das eine solche Selbstkritik unmittelbar für eine philologische Arbeit an den Texten freisetzt - und der Disziplin tendenziell als Zuwachs an spezifischer Erkenntnisfähigkeit wieder zurückführt - , mag sichtbar werden in der folgenden Problemskizze um Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur. Die Versuchsanordnung greift dabei zunächst auf die

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schon behandelten problematischen Momente des Antifaschismus-Paradigmas zurück, gruppiert sie aber neu; die Eingangsthese lautet, daß die im Antifaschismus-Paradigma der deutschen Exilforschung transportierten Momente einer >nachholenden< Identifikation mit der historischen Partei des Antifaschismus, der Marginalisierung der Massenvernichtung sowie der Wiederholung der normativen Ästhetik der dreißiger Jahre objektiv einer deutschen Literaturpolitik des Nachkriegs zuarbeiteten, die den jüdischen Autor

für die künfiige deutsche NationaLliteratur nicht mehr vorsah.

II »Qualm« 3 6 Rudolf Krämer-Badoni über George Steiners Kritik der deutschen Gegenwartsliteratur, »Das hohle Wunder«, 1963 Als 1977 Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur in einem kleinen Kölner Verlag erscheint, erregt das Buch im deutschen Literaturbetrieb sogleich erhebliches Aufsehen. »Dieser Roman war einfach fällig«' 7 , heißt es bereits in einer ersten Reaktion. Der deutschen Veröffentlichung waren Ubersetzungen des bereits 1968 abgeschlossenen deutschsprachigen Manuskripts unter anderem ins Amerikanische, Französische und Italienische vorausgegangen; eine Rezensentin der amerikanischen Ausgabe hatte schon 1971 den »anspruchsvollsten deutschen Buchverlagen« nahegelegt, sich zu »überbieten, um die deutschen Verlagsrechte für Hilsenraths großen, weit über Amerikas oder Deutschlands Grenzen hinaus bedeutungsvollen Roman zu erwerben« 38 . Hinweise wie diese, aber auch die Bemühungen des Autors und seiner Agentin um eine deutsche Ausgabe blieben unbeachtet. 1976 wurde diese Haltung der deutschen Verlage gegenüber Hilsenraths Roman zum Gegenstand des internationalen Feuilletons. Hilsenraths britischer Verleger hatte in einer Presseerklärung zur Kenntnis gegeben, daß deutsche Verleger das Buch abgelehnt hätten »mit der Begründung, es sei >zu kontrovers< für teutonische Leser« 39 . The Times Literary Supplement und die Neue Zürcher Zeifwwgwiederholten die Frage, »warum (...) Hilsenraths neuem Roman (...) im deutschen Sprachraum nicht einmal (eine) Chance eingeräumt« 4 0 werde. Als Der Nazi & der Friseur im Sommer 1977 schließlich in Deutschland erscheint, trifft Hilsenraths Buch das deutsche Feuilleton denkbar unvorbereitet: » - ist das sein wirklicher Name, was schrieb er sonst?« 41 Es ist der SPIEGEL, der als erstes Blatt auf dieses Defizit biographischer Informationen eine Antwort gibt; nach einem kurzen Abriß der grotesken Romanfabel verrät er: »Der Autor weiß, wovon er handelt: Edgar Hilsenrath, 51, ist Jude.« 42 Sander Gilman hat darauf aufmerksam gemacht, wie sich in vermeintlich

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>sinnfälligen< Kommentierungen wie dieser die Aufhebung der Kategorie des jüdischen Schriftstellers deutscher Sprache im kulturellen Milieu Deutschlands artikuliert. »Identität als Jude und als Schriftsteller« könne in Deutschland nur noch als Parallele, nicht mehr als Einheit begriffen werden.4-' Gilman führt dies zurück auf »die philosemitische Welt deutscher liberaler Meinungen, vertreten durch Schriftsteller, die nach ihrer Selbsteinschätzung und in ihren öffentlichen Aktionen ein idealisiertes Bild der deutschen Literatur in der ungebrochenen Kontinuität des Liberalismus< (lies: Jüdischseins) der zwanziger Jahre (und sogar früher) repräsentierten«. 44 Erst einmal auf diesem Platz, verwendeten diese Schriftsteller, so Gilman, nicht nur »Abbilder des Juden (...), die vergiftet waren«. Darüber hinaus galt ihnen nun die Existenz eines jüdischen Schriftstellers gerade aus liberaler Perspektive als Unding; denn »daß Juden über jüdische Themen schreiben und dennoch diese Inhalte transzendieren und damit >richtige< Schriftsteller sein können — was in der Terminologie des Liberalismus Schriftsteller mit >universellen< Themen bedeutet« - das wurde als unvereinbar empfunden mit der »liberalein) Ansicht (...), daß jeder Partikularismus schlecht i s t « V o n hier aus — dem angemaßten Repräsentanten-Status aus der Mitte einer »ungebrochenen Kontinuität des Liberalismus' (...) der zwanziger Jahre« - erfolgte der »neue liberale Aufschrei, der das Empfinden für die Position des deutsch-jüdischen Schriftstellers in der deutschen Kultur mit dem Stempel des Andersseins, den die Nazis den jüdischen Autoren aufgedrückt haben, verwechselt« 46 ; dieser Aufschrei »zielt dahin, die Kategorie des Juden völlig aufzuheben« und »heutigen deutsch-jüdischen Schriftstellern, die mit (der) komplexen Thematik von zeitgenössischem deutschem Judentum in einer kreativen und wertvollen Weise umgehen, ihre Identität« zu verweigern. 47 Die deutsche Exilforschung stand zum literatur- und diskurspolitischen Fluchtpunkt dieser Liberalismus->Nachfolge< des deutschen Literaturbetriebs - der Aufhebung der Kategorie des jüdischen Schriftstellers deutscher Sprache nach 1945 - absolut komplementär. Mit ihren spezifischen, im Antifaschismus-Paradigma transportierten Dispositionen konnte ihr kein literarisches Werk zum Gegenstand werden, das zwar - wie noch zu zeigen sein wird - unmittelbar zur ästhetischen Erfahrung der deutschen antifaschistischen Exilliteratur stand, aber zugleich in eklatantem Widerspruch sowohl zum Selbstverständnis des Fachs, zu seinem Umgang mit der Massenvernichtung als auch zu seiner ästhetischen Programmatik. 1977 nutzten andere Leser die im Nazi & der Friseur gebotene Chance zur Verunsicherung — etwa Friedrich Torberg und Heinrich Boll; in der Wahrnehmung&izser Chance begann, was lange überfällig war: der Versuch »von Deutschen und Juden, (...) ihre Bilder voneinander neu zu ordnen« 48 . Hilsenraths grotesker Roman erzählt vom Schicksal zweier Freunde, am

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gleichen Tag in der deutschen Kleinstadt Wieshalle geboren: Max Schulz, unehelicher Sohn eines Dienstmädchens, lernt schon früh den Sohn des benachbarten Friseurs Chaim Finkelstein, Itzig, kennen, mit dem ihn rasch eine symbiotische Kinderfreundschaft verbindet. Gleichwohl gerät Max bald unter den Einfluß des zunehmenden Antisemitismus. Ein Auftritt Hitlers wird für Max Schulz zum Schlüsselerlebnis; umgehend tritt er in die Partei ein. Den Krieg verbringt er im K Z Laubwalde, wo er seinen Freund Itzig Finkelstein, wie zahllose andere Juden, hinterrücks erschießt. Nach einer turbulenten Flucht am Ende des Krieges gelingt es ihm, mit Hilfe eines Sackes voller Goldzähne aus seinem KZ eine respektable Schwarzhändler-Existenz in Berlin aufzubauen und zugleich die Identität seines Jugendfreundes anzunehmen, wofür er seine SS-Tätowierung durch eine KZ-Nummer ersetzen und die Beschneidung nachholen läßt. Antisemitischen Angriffen im Nachkriegsdeutschland ausgesetzt, beschließt Schulz/Finkelstein, nach Palästina auszuwandern. Bereits kurze Zeit nach seiner illegalen Einreise erhält er eine Stellung als Friseur; daneben erwirbt er sich einen Ruf als zionistischer Untergrundkämpfer. FLrst im Alter beginnt er sich nach einem Urteil über seine Taten zu sehnen. Doch in Ermangelung einer »Strafe (...), die meine Opfer versöhnen könnte« 4 '', wird ihm in einem inszenierten >Verfahren< mit einem pensionierten deutschen Amtsgerichtsrat ein Freispruch zuteil. Hilsenrath konfrontiert den Leser mit einer Figur, die keinerlei identische Festigkeit hat, sondern sich in den unterschiedlichsten Situationen — und der Bogen dieser Situationen reicht von der Täterseite in den KZs bis zur zionistischen Subversion gegen die britische Mandatarmacht - unterschiedslos zu bewähren versteht. Das Oszillieren zwischen den Identitäten — von dessen eminent suggestiver Darstellung die deutsche Rezeptionsgeschichte des Buches als >Skandalon< seinen Ausgang nimmt — betreibt eine gleichermaßen systematische wie nachhaltige Zerstörung jeder Trennlinie zwischen Tätern und Opfern, Freund und Feind, eine Zerstörung, die satirepoetologisch nicht mehr rückrufbar ist und in die radikale Leugnung eines kategorialen Unterschieds zwischen Satiriker und Objekt, Opfer und Täter mündet. Hilsenraths Metamorphosen sind keine satirischen Simulationen zum Zwecke sinnreicher, didaktischer Effekte; am Ende seiner Satire bleiben die Grenzen zerstoßen. Ein exaktes Studium der ästhetischen Gestalt dieses Prozesses im Roman zeigt ihn als Folge einer genuin satirepoetologischen Disposition im antifaschistischen Kontext: Radikale satirische Arbeit treibt am Gegenstand des NSFaschismus zwingend in eine Selbstbegegnung, vor der zuletzt satirepoetologische Verfügungsmacht erlischt. Indem Hilsenraths Roman diese poetische Bewegung authentisch vollzieht, steht er unmittelbar zur Geschichte der antifaschistischen Satire. Antifaschistische Satire ab 1933 sah sich — als traditionelle Kampfform —

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nicht nur dem eher >konventionellen< Problem einer fast lückenlosen Gefolgschaft der deutschen Bevölkerung gegenüber dem NS-Programm ausgesetzt, sondern darüber hinaus zum einen einer bis dahin nicht bekannten Qualität des Katastrophischen, die zum innersten Kern des NS-Phänomens zu gehören schien, sowie zum anderen dem hochgradig ausdifferenzierten Vorbehalt der — im ganzen Exil einflußreichen - kommunistischen Literaturpolitik gegen das Satirische. Während Tucholsky und Kraus, später auch Bloch in unterschiedlicher Weise den Aspekt der besonderen Qualität des NS in die Exil-Debatte einzubringen versuchten, waren es Michail Kolzow und Brecht, die frühzeitig, jedoch vergeblich, aufeine Kehrtwende der restriktiv gegen das Satirische gerichteten Literaturpolitik der KP drangen. 50 In dieser Situation — die sich zunehmend als konkreter Existenzkampf zu erkennen gab — wurden verschiedene Wege eines antifaschistischen Satirischen eingeschlagen. Geriet etwa Walter Mehring, der die besondere Herausforderung der Satire durch den NS als kritische zwar wahrnahm, durch spezifische Hypotheken seiner Traditionsaneignung jedoch in ein »Abseits der Kämpfeoffen< Gefahr, daß der von ihnen aufgeschlagene Blick auf sich selbst - psychisch, politisch - unaushaltbar werden mochte, »unverantwortlich in der Verantwortung des Kämpfest In Lidice versucht Heinrich Mann, die Selbstbegegnung im satirischen Prozeß als das Problem der antifaschistischen Satire zu entwickeln. Seine Hauptfigur Pavel, die im Auftrag des antifaschistischen Widerstands die Verwandlung in Heydrich auf sich nimmt, stößt vor bis an jene Stelle, wo diese Arbeit sich unweigerlich gegen sich selbst und ihren historischen Sinn kehrt: »»Meine Erfolge rächen sich an mirmußte< die Geschichte dieser Satiren zu einer Geschichte der Widerstände gegen sie werden. Radikale antifaschistische Satire konnte daher schon zu Beginn nur in der Ferne zu den literaturpolitischen Verabredungen und in größtmöglicher subjektiver Unmittelbarkeit zum Vernichtungscharakter des NS entstehen. Gleichwohl schien Hilsenraths Buch >aufgreifen< zu können, was schon für verloren, allenfalls >historisch< gelten mußte. Am Versuch, den verschiedenartigen Fragen nachzugehen, die diese Beobachtungen aufwerfen, könnte eine heutige deutsche Exilforschung gewinnen. Daß sie sich dabei auch vor Fragen gestellt sehen wird, auf die sie wenig vorbereitet ist, wird ihr als Chance erkennbar werden müssen. Sie hätte sich etwa jener umfassenden Problematik - auch methodologisch - zu öffnen, die darin besteht, daß offensichtlich Fragmente einer genuin antifaschistischen ästhetischen Erfahrung auch anders als durch Arbeit an ihren Textzeugnissen tradiert werden. Nicht die Lektüre ist es, die einen Autor wie Hilsenrath an die Arbeit von Brecht und Mann >anschließtHörbarkeit< dieser >Stimme< abhängen m u ß te, und setzte in einer Weise auf den Ton moralischer Empörung, als ob es - gerade mit ihm — noch keine gegenläufigen Erfahrungen gegeben hätte. Der Duktus autoritärer Zurechtweisung, mit dem etwa Peter Rühmkorf auch ein Vertreter genau jenes von Gilman markierten »Liberalismus« in der westdeutschen Nachkriegsliteratur - 1963 eine Kritik George Steiners an der literarischen Produktion in Westdeutschland nach 1945 zu vernichten versuchte, zehrte unzweideutig von der ruhigen Gewißheit, daß eine Einrede >von draußen< in die Belange der deutschen Gegenwartsliteratur im deutschen Publikum ohne Einfluß bleiben mußte. Eine solche Haltung vertraute — 1963: noch >zu Recht< - auf die Tragfähigkeit einer Literaturpolitik, die bereits 1947 umstandslos hatte durchblicken lassen, daß deutsche Literatur - auch von T h o m a s M a n n , auch von Bertolt Brecht - fortan einzig wieder auf deutschem Boden zu schreiben, das Exil mithin beendet sei.V) Aus heutiger Sicht - das heißt auch, nach Lektüre von Hilsenraths Naziwächst einer solchen grotesken Selbsttäuschung Plausibilität zu: Zu viele Autoren deutscher Sprache schrieben im Exil weiter an einer Literatur, die eben »vom Exilblickwinkel weniger Distanz zur NS-Vergangenheit angeboten (erhielt) als vom heimischen Seitenblick zurück« 60 . Die deutsche Nachkriegsliteratur war zu weiten Teilen bereit, auf diesen Zugewinn an Erfahrung zu verzichten, zum Preis »geschichtlicher Leere und Verfahrensarmut« 61 . D a ß nicht alle deutschen Leser diesen Preis >mitunversehens< wieder zwischen literarischen Zeugnissen aus drei Jahrhunderten. Sie alle mögen demonstrieren, woran Mann festhalten mußte: daß die »schauerliche Entartung« Deutschland »nicht ursprünglich bestimmt« gewesen sein könne. Doch zugleich steht diese Sammlung deutscher Texte in Manns Anschauung schon für jene neue, gleichwohl >rückwirkende< unfreiwillige Gemeinsamkeit, der vorläufig auch die künftige deutsche Literatur ausgesetzt sein mußte: Sie alle - »ohne Ausnahme« - sind »mitgenommen worden« an die Orte der deutschen Verbrechen. Manns Krisenauffassung, subjektiv genuin aus der Erfahrung des antifaschistischen Kampfes, jedoch ohne Preisgabe ästhetischer Erkenntnisfähigkeit entwickelt, blieb für die deutschen kulturellen Milieus nach 1947 folgenlos. Die deutsche Kulturpolitik der Wiederaufbauphase entschied sich teils für die >Stunde NullSiegsozialgeschichtlichen< Modus jener Erfahrung machten; ein Exil, das mancher gar erst als »das eigentliche« 76 empfand. Es ist aber dieser bestimmte Ort, von dem aus Autoren wie Edgar Hilsenrath - oder Peter Weiss, Wolfgang Hildesheimer, Paul Celan - ihre Beiträge zu deutschen Literatur verfaßt haben: deutsche Gegenwartsliteratur. Verfaßt unmittelbar zur Verfolgungserfahrung des NS, beharrt sie auf einer Qualität deutscher Literatur, die die deutsche Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur >daheim< aus eigener Kraft nicht mehr einzulösen vermochte - und die Mann noch als ihre »Größe« erinnerte. Er nannte sie »ihr(en) Sinn für Verantwortung«.

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1 Lutz Winckler: »Mythen der Exilforschung?« In: Exilforschung. Ein internationes Jahrbuch 13 (1995), S. 78. — 2 El libro libre an Heinrich Mann, 12.2.1943. In: Wolfgang Kiessling: Alemania Libre in Mexiko. Bd. 2: Texte und Dokumente zur Geschichte des antifaschistischen Exils 1 9 4 1 - 1 9 4 6 . Berlin/DDR 1974, S. 380. — 3 Jan Hans/Werner Röder: »Emigrationsforschung«. In: Akzente. Jg. 20 (1973) H. 6, S. 583. — 4 Lutz Winckler: »Die geistige Krise und die Rolle der antifaschistischen Literatur«. In: Sammlung- Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst 2 (1979), S. 13. — 5 Uwe Schweikert: »>Ofter als die Schuhe die Länder wechselnd« - Notizen zur deutschen Exilliteratur, ihrer Rezeption und Erforschung«. In: Neue Rundschau. Jg. 85 (1974) H.3, S. 495. — 6 Ernst Loewy: »Einleitung«. In: ders. (Hg.): Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933— 1945. Bd. 1. Frankfurt/M. 1981, S.3. — 7 Willy Brandt: »Literatur und Politik im Exil«. In: Literatur des Exils. Eine Dokumentation über die P.E.N.-jahrestagung in Bremen vom 18. bis 20. September 1980. Im Auftrag des P.E.N.-Zentrums Bundesrepublik Deutschland herausgegeben von Bernt Engelmann. München 1981, S. 166. — Diesen Hinweis verdanke ich Lutz Winckler. — 8 Ernst Loewy: »Zum Paradigmenwechsel in der Exiiliteraturforschung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 9 (1991), S. 212. Auf diesen bedeutenden Beitrag Loewys wird noch im folgenden eingegangen werden. — 9 Heinz Ludwig Arnold/Hans-Albert Walter: »Die Exil-Literatur und ihre Erforschung. Ein Gespräch«. In: Akzente. Jg. 20 (1973) H. 6, S.486. — 10 Dan Diner: »Antifaschistische Weltanschauung. Ein Nachruf«. In: ders.: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis. Berlin 1995, S. 79. — 11 Werner Mittenzwei: »Vorwort«. In: Klaus Jarmatz u. a.: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933—1945- Bd. 1. Frankfurt/M. 1979 (westdeutsche Lizenzausgabe), S.5. — 12 Vgl. schon die Kritik Hans-Albert Walters: »Schwierigkeiten beim Kurs auf die Realität. Zum ersten Versuch einer Gesamtdarstellung von Kunst und Literatur im Exil«. In: Sammlung5( 1982), S. 1 0 1 . — 13 Diner 1995 (Anm. 10), S. 90. — 14 Ebd., S.79. — 15 Ebd., S.91. — 16 Schweikert 1974 (Anm. 5), S. 493. — 17 Hans-Albert Walter: »Emigrantenliteratur und deutsche Germanistik. An der deutschen Exilliteratur könnte die deutsche Germanistik den Ausweg aus der Krise proben«. In: Colloquia Germanica (1971) H. 3, S.314. Gleichfalls Hans-Albert Walter: »Exilliteratur — kein rein akademisches Problem« (im Gespräch mit Ulla Hahn). In: Sammlung 1 (1978), S. 129. — 18 Walter 1971 (Anm. 17), S.314. — 19 Hans-Albert Walter: »Bemerkungen zu einigen Problemen bei der Erforschung der deutschen Exilliteratur«. In: Jahrbuch fiir internationale Germanistik 6 (1974), S. 105. — 2 0 Walter 1971 (Anm. 17), S. 318. — 21 Walter 1974 (Anm. 19), S. 105 f. — 2 2 Jost Hermand: »Schreiben in der Fremde. Gedanken zur deutschen Exilliteratur seit 1789«. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.): Exil und innere Emigration. Frankfurt/M. 1972, S. 16 ff. — 2 3 Leonore Krenzlin: »Zur ästhetischen Wertung der antifaschistischen Literatur«. In: Weimarer Beiträge XXI (1975) H . 4, S. 133. — 2 4 Bertolt Brecht an Johannes R. Becher, Anfang 1935- In: ders.: Briefe. Herausgegeben und kommentiert von Günter Glaeser. Frankfurt/M. 1981, S. 232. Der Brief ist bereits authentisches D o k u m e n t der Realismus-Kontroverse. — 2 5 Winckler 1995 (Anm. 1), S.76. — 2 6 Loewy 1991 (Anm.8), S. 208. — 2 7 Ebd., S. 209. — 2 8 Ebd., S. 209 f. — 29 Ebd., S. 210. — 30 Ebd., S.211. — 31 Ebd., S.212. — 3 2 Ebd., S. 211. — 3 3 Diner 1995 (Anm. 10), S. 92 f. — 3 4 Winckler 1995 (Anm. 1), S. 76. — 3 5 Ebd., S 78 f. — 3 6 Sprache im technischen Zeitalter — Sonderheft: Deutsch - gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land? (1963) H. 6, S.460. — 3 7 Werner Hornung: »Schelm & Spießbürger. Die Wandlungen des Max Schulz«. In: Vorwärts, Nr. 32, 11.8.1977, S.27. Ich danke Ursula Hien für den Zugang zu ihrem Archiv. — 3 8 Gerty Agoston: »Ein Mörder in der Haut seines Opfers«. In: Staats-Zeitung und Herold (New York), 5.5.1971. — 3 9 Zitiert nach Neue Zürcher Zeitung, 24.2.1976. — 4 0 Alfred Starkmann: »Scherz mit dem Entsetzen und die Lesegewohnheiten der Briten«. In: Neue Zürcher Zeitung, 24.2.1976; Roy Foster: »Unforgotten, unforgiven«. In: Times Literary Supplement, 16.1.1976. — 41 K. H. Kramberg: »Das zweite Leben des Judenmörders Max Schulz. Edgar Hilsenraths monströse Satire«. In: Süddeutsche Zeitung, 15-10. 1977. — 4 2 (Anonym): »Max & Itzig«. In: Der Spiegel, Nr. 35/1977, 22.8.1977. — 4 3 Sander Gilman: »Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden«. In: ders.: Rasse, Sexualität und Seuche: Stereotype aus der Innenwelt der westlichen

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Kultur. Reinbek 1992, S. 271. — 44 Ebd., S. 276 f. — 45 Ebd., S. 277. — 46 Ebd., S. 278. — 4 7 Ebd. — 48 Jack Zipes: »Die kulturellen Operationen von Deutschen und Juden im Spiegel der neueren deutschen Literatur«. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, 1991, H. 8, S. 43. — 4 9 Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur. Frankfurt/M. 1984, S. 312 f. — 50 Diese Darstellung folgt im wesentlichen meiner Dissertation Das teure Experiment. Satire und NS-Fascbismus, Opladen 1996; die schwer zugängliche Rede Michail Kolzows auf dem Moskauer Allunionskongreß 1934 jetzt auch in kommentierten Auszügen unter dem Titel »>Wir werden uns gegenseitig anschreien müssern. Michail Kolzows Plädoyer für die Satire — eine Intervention gegen die stalinistische Literaturpolitik« (mit Gerhard P. Peringer). In: Weimarer Beiträge, 1994 H. 4, S. 6 0 1 - 6 0 7 . — 51 Walter Benjamin: »Karl Kraus«. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11,1. Frankfurt/M. 1991, S. 346, 350. — 52 Bertolt Brecht: »Über Karl Kraus«. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. VIII. Frankfurt/M. 1967, S . 4 3 2 . — 53 Heinrich Mann: Lidice. Berlin, Weimar 1984, S. 163. — 54 Unter dem Stichwort der »geschichtslosen Epoche« sind diese Überlegungen u.a. dokumentiert in den Notizen sowohl Brechts wie Benjamins vom gemeinsamen Sommer 1938 in Skovsbostrand: Vgl. Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Bd. 1. Frankfurt/M. 1974, S. 14, und Walter Benjamin: »Tagebuchnotizen 1938«. In: ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 51). Bd. VI, S. 538. — 55 Vgl. Heinrich Mann: F.in Zeitalter wird besichtigt. Berlin, Weimar 1982, S. 518. — 56 Vgl. insbesondere den Versuch der Einflußnahme auf Manns Lidice, dokumentiert in Kiessling 1974 (Anm. 2). — 57 Vgl. etwa zuletzt Klaus Briegleb: »>Neuanfang< in der westdeutschen Nachkriegsliteratur — Die .Gruppe 47' in den Jahren 1 9 4 7 - 1 9 5 1 « . In: Birgit Erdle, Sigrid Weigel (Hg.): 50Jahre danach. Zur Nachkriegsgeschichte des Nationalsozialismus. Zürich 1995. — 58 Vgl. Gershom Scholem: »Deutsche und Juden«. In: Abraham Melzer (Hg.): Deutsche und Juden - ein unlösbares Problem. Reden zum Jüdischen Weltkongreß 1966. Düsseldorf 1966, S. 33. — 59 Peter Riihmkorf: »Schau- und Paradestücke eines Denkstils«. In: Sprache im technischen Zeitalter (wie Anm. 36), S. 4 6 9 - 4 7 2 ; Alfred Andersch: »Deutsche Literatur in der Entscheidung«. In: Gert Haffmans (Hg.): Das Alfred Andersch Lesebuch. Zürich 1979, S. 1 1 1 ff., besonders S. 123 und 128. Das Selbstbewußtsein dieses Redens wird in der historischen Plazierung von Anderschs Ausführungen besonders deutlich: 1947 im Ulmer Rathaus gesprochen, waren sie Appelle sowohl an den einen, dessen Rückkehr längst Thema erregter öffentlicher Diskussionen geworden war, wie an den anderen, dessen Abreise aus dem US-amerikanischen Exil Richtung Schweiz wenige T age vor der Ulmer Veranstaltung bekanntgewesen sein wird. — 60 Klaus Briegleb: »Über die Nicht-Rezeption der deutschen Exil-Literatur nach 1933 in der westdeutschen Gegenwartsliteratur«. In: Aktendes VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Hg. von Eijiro Jwasaki. Bd. 8. München 1992, S. 60. — 61 Ebd., S . 6 1 . — 62 Vgl. die genauen Leseprotokolle Heinrich Bolls und Friedrich Torbergs, die darauf deuten, daß auf Verunsicherungen dieser Provenienz schon länger gewartet worden war. Heinrich Boll: »Hans im Glück im Blut«. In: Die Zeit, 9.12.1977; Friedrich Torberg: »Ein Freispruch, der keiner ist«. In: Die Welt, 12.10.1977. — 63 Vgl. Klaus Briegleb: »Negative Symbiose«. In: ders. und Sigrid Weigel: Gegenwartsliteratur seit 1968. München, Wien 1992, S. 128. — 6 4 Edgar Hilsenrath: »Wie man es nicht machen soll oder W i e man sein Buch an den Mann bringt«. In: Die Begegnung 14. Folge (1978/79), S. 165. — 65 Alfred Andersch: »Deutsche Literatur in der Entscheidung« (Anm. 59), S. 127. — 66 Heinrich Mann: »Einführung«. In: Morgenröte. Ein Lesebuch. Hg. von den Gründern des Aurora Verlages. New York 1947, S. 11. — 67 Ebd., S. 21. — 68 Ebd., S. 22. Mann zitiert die legendär gewordene Wortmeldung von Frank Thiess in der Münchner Zeitungvom 18.8.1945, dokumentiert in Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Berlin/West 1979, S . 4 7 . — 69 Mann: »Einführung« (Anm. 66), S . 2 1 . — 7 0 Ebd., S. 13. — 71 Die im Rahmen meiner Dissertation entfaltete Rekonstruktion des Entstehungskontextes von Lidice zeigt auf, wie sich Mann im Durchgang durch sein /./¿¿«'-Projekt zur Revision seines autorbiographisch tief verwurzelten Vertrauens in eine aufklärerische Interventionsfähigkeit von Literatur gezwungen sieht. Manns Verfassung nach dieser Revision ist deutlich dokumentiert in seinen Briefen vor allem an Klaus Pinkus: Heinrich Mann: Briefe an Karl Lemke und Klaus Pinkus. Hamburg 1964, e t w a S . 153 f. (28.12.1945), 158 (20.1 2.1947). — 7 2 Mann: »Ein-

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führung« (Anm. 66), S. 18. — 7 3 Walter Benjamin: »Notizen zu den Thesen >Überden Begriff der Geschichte««. In: ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 51). Bd. 1.3, S. 1240. — 7 4 M a n n : »Einführung« (Anm. 66), S . 2 0 f „ 23, 17 f. — 7 5 Ebd., S. 19. — 7 6 An diese Empfindung vieler nicht zurückgekehrter Exilanten erinnerte Henry Marx - ein Freund und früher Förderer Hilsenraths — in einem Gespräch im Februar 1994 in New York.

Hiltrud Häntzschel

Kritische Bemerkungen zur Erforschung der Wissenschaftsemigration unter geschlechterdifferenzierendem Blickwinkel

Die systematisch betriebene und institutionell etablierte Exilforschung hat Ende der sechziger Jahre, also zu einem Zeitpunkt eingesetzt, als die Universitäten noch keinerlei Notwendigkeit sahen, sich ihrer eigenen Geschichte in der NS-Zeit zu erinnern (und manche tun das bis heute nicht). Die Disziplingeschichten umschifften diese Zeit großräumig oder ließen sie zu einer kleinen vorübergehenden Irritation im Selbstverständnis des Faches zusammenschrumpfen. Und die neue Frauenbewegung begann eben erst, die Deckungsungleichheit von allgemeiner Geschichte und Frauengeschichte wahrzunehmen und durch systematische Forschung zu erhellen, was noch zu erhellen war. Im öffentlichen Bewußtsein waren diese Defizite noch nicht angekommen. Von dieser Ausgangslage her müssen Konzeption und Aufnahmeprinzipien für die Basisarbeit aller weiteren Emigrationsforschung, für das Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, herausgegeben von Werner Röder und Herbert A. Strauss 1 , beurteilt und gewürdigt werden. Wer sich mit der Rolle und der Leistung der ersten Frauengeneration an den deutschen Universitäten und - gezwungenermaßen - auch außerhalb von Institutionen und in der Folge mit ihrem Schicksal nach 1933 beschäftigt, macht die Beobachtung, daß die Wissenschaftspolitik Frauen gegenüber und die Defizite in der Universitätsgeschichtsschreibung in einem verhängnisvollen Wechselverhältnis mit der Emigrationsforschung stehen. Verfolgt man Biographien und Karriereverläufe von Wissenschaftlern nach Männern und Frauen getrennt u n d befragt man hierzu Statistiken, H a n d bücher, Disziplingeschichten, so wird alsbald deutlich, daß Ergebnisse, die für Wissenschaftler richtig sein mögen, für die Frauen unter ihnen deutlich abweichen. Dieser geschlechterdifferenzierende Blick mag für die Wissenschaft selbst unerheblich u n d statistisch zu vernachlässigen sein, für die Frauen ist er es nicht, zumal nicht für die Nachkriegsgeschichte. Um Mißverständnissen zuvorzukommen, sei vorausgeschickt, daß es hier nicht u m die Inhalte der wissenschaftlichen Arbeit von Frauen gehen kann, etwa um andere, eigene Arbeitsweisen, um deren Zerstörung oder deren Transfer in die

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Emigrationsländer, sondern u m das Geschick der Emigrantengruppe >Wissenschaftlerinnen< und deren Präsentation in der Forschung. D a ß es sich, gemessen am gesamten Flüchtlingsstrom, nur um eine winzige und noch relativ privilegierte Gruppe handelt, sollte in Erinnerung bleiben, an der Fragestellung ändert dies nichts. Vielleicht können meine Beobachtungen paradigmatisch auch für andere G r u p p e n von emigrierten Frauen gelten. 2 Beginnt man, sich einen Uberblick über die Wissenschaftsemigration aus einem die Geschlechter unterscheidenden Blickwinkel zu verschaffen, so fallen alsbald für die Frauen unter fünf Aspekten deutliche >Schieflagen< der bisherigen Forschungsergebnisse auf: 1. bei der relativen Quantität der Entlassenen und Emigrierten, 2. bei ihrer Aufnahme in die Handbücher und damit bei ihrer Berücksichtigung in der auf den Handbüchern aufbauenden Forschung, 3. bei der Berücksichtigung und der Bewertung der Vorgeschichten der Emigrantinnen und Emigranten in der Weimarer Republik, 4. bei der Frage nach beruflichem Auf- oder Abstieg im Emigrationsland, 5. bei der Bewertung der Folgen der Wissenschaftsemigration und der Remigration in Nachkriegsdeutschland.

I Z u m quantitativen Anteil der aus dem deutschen Wissenschaftsleben Entlassenen und Emigrierten Wer sich mit der Wissenschaftsemigration beschäftigt hat, weiß, daß die Statistiken über die Entlassungen erheblich voneinander abweichen und daß Zahlenbeweise methodisch um so fragwürdiger bleiben müssen, je kleiner die zu vergleichenden Gruppen sind. Die Gruppe der Universitätslehrerinnen ist — wie gesagt - winzig, u n d kleine Ungenauigkeiten machen hohe Prozentanteile aus. Aber ganz ohne Rechnen k o m m t ein quantitativer Befund nicht zustande. Die Bilanz der ersten Entlassungswelle von Hochschullehrern aufgrund des >Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums< vom 7. April 1933 geht am 1. Dezember 1934 nach Hochschulen getrennt aufgelistet an das Auswärtige Amt 3 : 614 beamtete und nichtbeamtete Professoren und habilitierte Dozenten. Das sind zwischen 10 u n d 12 % aller Hochschullehrer. 17 Frauen sind darunter 4 , das sind 30 % der damals an Universitäten lehrenden habilitierten 56 Frauen. 5 Der Gesamtprozentsatz steigt nochmals erheblich - auf ca. 30 % - nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze, die für die sogenannten >jüdisch Versipptem, für die zumeist unverheirateten Wissenschaftlerinnen aber kaum zutrafen. Sie hatten auch wie viele ihrer männlichen Kollegen von dem sogenannten Frontkämpferbonus, der die Entlassung vorerst aufschob, naturgemäß nicht profitiert. Am Ende, als auch

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Österreich die zunächst dorthin geflüchteten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vertrieben hatte und alle die Entlassung aufschiebenden Mittel wirkungslos geworden waren, sind es 32 Frauen, die aus sogenannten rassischen oder politischen Gründen aus den Universitäten entlassen worden sind, erheblich mehr also als die Hälfte des weiblichen Anteils am Lehrkörper. Von den Ordinarien waren es in Deutschland 100 %, denn es gab nur eine Ordinaria. Das weitere Schicksal dieser Entlassenen: Die erste habilitierte germanistische Sprachwissenschaftlerin, Agathe Lasch, ist auf der Deportation umgekommen 6 , die erste habilitierte Romanistin (in Wien), Elise Richter, ist in Theresienstadt gestorben. 7 Von 27 wissen wir, daß sie emigriert sind. N u n lasse ich die Privatdozenten, -dozentinnen beiseite, und betrachte nur die Professorenebene. Herbert A. Strauss berechnet in seiner Einleitung zu dem Sammelband mit disziplingeschichtlichen Studien Die Emigration der Wissenschaften nach 1933 (1991) 8 : »Von Universitätslehrern vom Rang eines Professors (aller Kategorien) an deutschen Hochschulen dürften etwa 15 % ( 1 1 0 0 - 1500) bis 1940 emigriert sein.« Von den - zufällig wieder - 27 Frauen mit Professorenstatus sind 13 emigriert, fast 50 % also. Wenn auch diese Zahlen in verschiedenen Publikationen variieren, so sind die Unterschiede doch so eklatant, daß sie nicht nivelliert werden können.''

II Die Repräsentanz von Frauen in biographischen Nachschlagewerken Die zweite Schieflage betrifft nicht mehr die historischen Fakten, sondern schon deren Erforschung und Interpretation: Es geht um die längst gründlich monierte Unterrepräsentanz von Frauen in Nachschlagewerken, hier um die Exilantinnen im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration.^0 Von den 27 emigrierten Wissenschaftlerinnen sind mehr als die Hälfte (15) nicht aufgenommen, obwohl sie ihre besonderen Fähigkeiten durch ihre sehr erschwerte Flabilitation in der Weimarer Republik bereits unter Beweis gestellt hatten und in ihren Disziplinen Pionierinnen waren. Vergebens suchen wir im Biographischen Handbuch nach einem Eintrag über die erste habilitierte deutsche Juristin Magdalene Schoch, Spezialistin für internationales Recht, die nach der Zwangsversetzung ihres Lehrers Professor Albrecht Mendelssohn Bartholdy in den Ruhestand freiwillig nach USA emigrierte", über die erste Professorin für deutsche Literatur, Melitta Gerhard, der es in den USA ebenso gut oder so schlecht ging wie ihren männlichen Kollegen 12 , etwa Richard Alewyn. Von Rahel Liebeschütz-Plaut, der ersten habilitierten Medizinerin in Hamburg, erfahren wir nur über den Eintrag ihres Mannes, die beiden ersten habilitierten Biologinnen Gerta von Ubisch 13 , die im Exil in Brasilien weiterarbeitete, u n d Mathilde Hertz 1 4 , die

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auch die Leuchtkraft des berühmten Vaternamens Heinrich Hertz, Entdecker der Radiowellen, nicht geschützt hat, waren nicht der Aufnahme wert. Die Historikerin Hedwig Hintze-Guggenheimer 1 5 , die Spezialistin für die Geschichte der Französischen Revolution in der Weimarer Republik, war den neuen Machthabern und ihren Fachkollegen aus rassischen wie aus politischen G r ü n d e n ein Dorn im Auge. Sie nahm sich an ihrem letzten Exilort Utrecht nach der Besetzung Hollands 1942 das Leben und konnte keine Leistungen mehr erbringen, die sie für die Aufnahme in das Emigrationshandbuch ausgewiesen hätten. Zu den ersten Sozialwissenschaftlerinnen gehören die beiden nichtaufgenommenen Emigrantinnen Käthe Bauer-Mengelberg und Charlotte Leubuscher 1 6 , später Ordinaria emerita der FU Berlin, die in England erfolgreich Forschung und Lehre weiterbetrieb. Einen Grenzfall stellt die Physikerin Maria Göppert-Mayer dar, die nach ihrer Promotion in Göttingen bei Max Born 1930 ihren amerikanischen Kollegen Joseph Edward Mayer heiratete und mit ihm nach USA ging. 1963 erhielt sie zusammen mit dem Heidelberger Hans D. Jensen den Nobelpreis für Physik. In ihrer Promotionsakte lautet die Konfessionsangabe »evangelisch«. 17 Sie galt als erklärte Gegnerin der Nazis. 18 Das Biographische Handbuch erwähnt ausdrücklich die Ausnahme vom Zeitrahmen ab 1933 für die Aufnahme, wenn Wissenschaftler vor diesem Zeitpunkt aus beruflichen Gründen ins Ausland gegangen und nicht mehr nach Nazi-Deutschland zurückgekehrt sind. l y Maria Göppert-Mayer, die bis 1995 einzige deutsche Wissenschafts-Nobelpreisträgerin, hat im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration dennoch keine Aufnahme gefunden. Sucht man im Biographischen Handbuch die emigrierten habilitierten Frauen nach Universitäten, so sieht es so aus, als sei beispielsweise von der Heidelberger oder Kieler oder Frankfurter Universität keine ins Exil getrieben worden, von den Berlinerinnen sind es drei von sechs. N i m m t man eine Disziplin, etwa die Biologie, denn die ist von Ute Deichmann unter dem Titel Biologen unter Hitler20 recherchiert, so findet sich von den dort aufgeführten 3 emigrierten Biologinnen keine im H a n d b u c h . Ihre Zahl m u ß nach der Londoner List of Displaced German Scholars von 1936 21 , die wie Ute Deichmann die Forschungsassistenten der Kaiser Wilhelm Institute miteinbezieht, noch deutlich höher gelegen haben. Das Ergebnis der Recherche läßt sich in der vielleicht überspitzten, aber gewiß erschreckenden Formulierung zusammenfassen: Nach dem Befund der Emigrationsforschung im maßgebenden Handbuch waren die Universitäten auf der Ebene der Lehrenden vor der Machtergreifung fast so >jüdinnenfreischwer vermittelbar< erscheinen ließ, erwies sich als ihr größter Trumpf. Die amerikanische Archäologie, Altphilologie, Kunstgeschichte und vergleichende Sprachwissenschaft brauchten ihr Wissen. Schließlich — und diesen Vorzug teilt sie mit den meisten glücklich etablierten Exilanten - besaß sie bereits vor 1933 internationales Renommee. In der Londoner List of Displaced German Scholars von 1936 gehört sie zu den wenigen »permanently placed scholars« 37 , »the greatest living Etruscan philologist«, wie ihr Förderer Edgar H. Sturtevant in Yale sie emphatisch dem »Emergency Committee« empfohlen hatte, drei Jahre zuvor noch Münchner Hilfskraft, der allerunterste Status, den die Universität an Lehrkräfte zu vergeben hatte. Daß sie seit dieser Liste in allen Verzeichnis-

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sen, auch im Biographischen Handbuch, als Privatdozentin firmiert, mag ein Versehen sein oder eine falsche Angabe von ihr, oder es zeigt, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Der Freund aus Göttinger Studienzeiten, Gerhart Husserl, Professor der Rechte und nun auch Emigrant, nannte es an ihrem Grab die »Tragödie ihres Lebens, dass es gerade dann zum jähen Abbruch kommt, wo eben und zum ersten Mal sich ein Feld der Wirkung eröffnet hatte, das ihren Neigungen, ihrer Begabung und ihren wissenschaftlichen Leistungen entsprach. (...) Amerika gab ihr, was ihr ihr Heimatland immer verwehrt hatte.« Margarete Bieber (Archäologie) und Lise Meitner (Physik), beide nicht beamtete ao. Professorinnen, sind trotz schwieriger Exiljahre in der Emigration zu höheren wissenschaftlichen Ehren gelangt, als sie ihnen in Deutschland vermutlich je zuteil geworden wären. Die Soziologin Julie Meyer-Frank, promoviert 1922, arbeitete in Nürnberg als Dozentin an der Volkshochschule, ehe sie im amerikanischen Exil an der Graduate Faculty der New School for Social Research eine ihren Fähigkeiten angemessene Tätigkeit finden konnte. Gar nicht zu reden von den vielen Studentinnen, Doktorandinnen und Habilitandinnen, die in den USA und in Palästina / Israel Berufswege fanden, die ihnen in Deutschland nie offen gestanden hätten. Es gibt ihn unzweifelhaft, den Aufstiegstrend für emigrierte Wissenschaftlerinnen, denn salopp gesagt, diskriminierender als in Deutschland konnte es gar nirgends zugehen. Noch eine weitere Wahrnehmung - eher atmosphärisch denn meßbar zu belegen — macht diesen Trend glaubhaft: Peter Th. Walther faßt diese Wahrnehmung auf Grund von Interviews, die er mit emigrierten Professoren der Geschichte geführt hatte, zusammen: »Generell waren die Lehrverpflichtungen sehr viel umfangreicher als in Deutschland, die Bezahlung schlechter, und, nicht zuletzt, das gesellschaftliche Ansehen bei weitem nicht so hoch wie in Mitteleuropa.« 38 Nun sind sich Soziologinnen und Soziologen längst darüber einig, daß das Sozialprestige eines Berufs im gleichen Verhältnis sinkt, wie sein Frauenanteil wächst, oder anders ausgedrückt, daß der berufliche Zugang Frauen um so leichter möglich wird, je niedriger das gesellschaftliche Ansehen des angestrebten Berufes eingeschätzt wird. Das extrem hohe Level, auf dem der deutsche Universitätsprofessor rangierte, war ja mit ein Grund, warum die Aussperrung der Frauen im Kaiserreich und noch in der Weimarer Republik so erbittert betrieben worden war. Im Exilland USA spielte demnach diese Hürde eine viel geringere Rolle. Um so bedenklicher, daß sie sich in der Personenauswahl für das Handbuch trotz Frauenbonus wieder eingeschlichen hat. Dennoch klingt der Befund eines Exilgewinntrends der Frauen auch verdächtig, und bringen wir ihn in einen Zusammenhang mit den zu Anfang gemachten Beobachtungen, mit der extrem hohen Entlassungsquote und der niedrigen Aufnahmequote im Handbuch, dann rückt er in ein anderes Licht.

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Verschwunden und vergessen sind ja die Gescheiterten, die, die sich kümmerlich durchschlugen in untergeordneten Posten, mit anderer Brotarbeit, die sich verzweifelt das Leben nahmen. Herbert A. Strauss hat im demographischen Teil seiner Einleitung den Werdegang der >Nachwuchsexilanten< (bis 39 Jahre zum Zeitpunkt der Emigration) genus-spezifisch aufgeschlüsselt: Lehrten vor der Emigration 4 % der Frauen und 9 % der Männer dieser Altersgruppe an Hochschulen (wobei deren Verhältnis 12:88 ist), so veränderte sich das Verhältnis in der Emigration signifikant auf 24 zu 28 Prozent, und er weist gleichzeitig auf ein wichtiges Forschungsdesiderat hin: »A study of the role of women in emigration should clarify male-female roles further. « w Christine Backhaus-Lautenschläger interpretiert diesen Befund in ihrer Untersuchung über die Schicksale und die Lebensbewältigung der USA-Emigrantinnen ... Und standen ihre Frau mit der starken »Sogwirkung, die akademische Lehr- und Forschungsstätten in den USA auf die exilierte weibliche Intelligenz ausübten« 40 . Verständlich wird dieser Befund erst im Kontext der Wertschätzung bzw. Abwertung akademischer Bildung für Frauen in der Weimarer Republik, vom Elternhaus bis zur Hochschulpolitik, und durch die zweierlei Maßstäbe, mit denen hier gemessen wurde. Da Christine Backhaus-Lautenschläger im übrigen ihre Erhebungen ausschließlich auf dem biographischen Material des Handbuchs aufbaut, setzen sich zwangsläufig die zeitgebundenen Blickverengungen in der Auswahl der aufgenommenen Wissenschaftlerinnen fort, und es sieht tatsächlich so aus - und spektakuläre Einzelfälle demonstrieren den Befund —, daß der Weg in die Emigration für eine nicht geringe Zahl von Wissenschaftlerinnen ein Weg nach oben war, im Gegensatz zur Mehrzahl der Wissenschaftler, wie Strauss vermutet. 41 Was bedeutete dies aber für die Wissenschaftsgeschichte in Deutschland?

V Die Bewertung der Folgen der Wissenschaftsemigration für die Situation an den Universitäten in Nachkriegsdeutschland Die von den Universitäten vertriebenen Frauen hinterließen eine Leerstelle, die sich, erweitert um alle jene, die während der NS-Zeit wegen ihres Geschlechts entlassen wurden, schon beinahe flächendeckend ausgedehnt hatte. Barbara Hahn hat es in der Einleitung zu ihrem Band Frauen in den Kulturwissenschaften mit einem anderen Bild veranschaulicht: »In keinem anderen Land gibt es daher in der Geschichte intellektueller Frauen einen so tiefen Riß wie in Deutschland.« 42 Die Remigration von vertriebenen Wissenschaftlerinnen ist kein Thema. Die Frauen, die im Ausland in naturwissenschaftlichen Disziplinen arbeiteten, werden keinen Anreiz gesehen haben, in ein Deutschland zurückzukehren, das in der Wertschätzung weiblicher

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wissenschaftlicher Arbeit nicht weiter war als 1932. DieMehrzahl (nichtalle) der entlassenen Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen war, sensibilisiert durch die Mühen und Diskriminierungen beim Zugang zu universitärem Wissen und Arbeiten, in der geistigen und politischen Einstellung weit progressiver, der Weimarer Republik und sozialgerechtem Denken weit aufgeschlossener gewesen als die etablierten Universitätslehrer. Die Folge: Ihre wissenschaftlichen Arbeiten wurden seit 1933 und auch nach 1945 nicht mehr rezipiert und somit vergessen. Zurückgekehrt sind einzelne Frauen auf Abstellgleise ihrer einstigen Berufe (z.B. Anna Siemsen), zur entwürdigenden Einforderung von Renten- oder Wiedergutmachungsansprüchen (z. B. Gerta von Ubisch) und für ihren Lebensabend. W i r sollten den larmoyanten Ton des Selbstmitleids vermeiden, der uns darüber klagen läßt, was iwVdurch den Kulturexodus verloren haben, aber die Einschätzung der Wissenschaftsremigration, wie sie Horst Möller 4 1 aufgrund diskussionsbedürftiger Kategorien optimistisch korrigiert hat, halte ich doch für beschönigend: Für die Wissenschaftlerinnen gibt es für diese Einschätzung keinerlei Anhaltspunkte, weder in der Bundesrepublik noch in der DDR. Und unter Möllers zahlreich aufgeführten Namen von Remigranten, die in den deutschen Nachkriegsstaaten wieder zu Stellung und Renommee gelangen konnten, ist denn auch keine Wissenschaftlerin zu finden. Zwei Ausnahmebeispiele einer gelungenen Rückkehr und zugleich Exempel dafür, wie bereichernd solche Remigration hätte sein können, sind vielleicht die Germanistin und Philosophin Käte Hamburger, die 1956 nach Stuttgart zurückgerufen worden ist und sich dort mit 60 Jahren noch habilitierte, einen eigenen Schülerkreis aufbauen konnte — freilich immer nur auf einer außerplanmäßigen Professur - und eine herausragende Repräsentantin der westdeutschen Germanistik wurde, und die Ethnologin Eva Lips, der nach ihrer Remigration in die DDR dort eine wissenschaftliche Karriere gelang. Die Frage bleibt, ob diese viele Jahrzehnte dauernde Nachkriegssituation für Frauen in den Wissenschaften als Ursache oder als Folge ihrer nichtangemessenen Berücksichtigung in der Forschung zu bewerten ist. Der Riß jedenfalls ist auch nach fünfzig Jahren noch nicht geschlossen.

1 Werner Röder und Herbert A. Strauss (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. München u.a. Bd. I 1980, Bd. Il, 1 und Bd. 11,2 1983, Bd. III 1983. — 2 Schon eine erste Stichprobe in Bd. I des Biographischen Handbuchs unter der Rubrik »Politische Parteien und Verbände« ergab ein ähnliches Ergebnis: Eine wichtige pazifistische Organisation, die »Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit«, die deutsche

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Sektion der »Women's International League for Peace and Freedom«, die von 1919 bis 1933 engagiert für Abrüstung, Völkerverständigung, Frauenrechte, gegen Antisemitismus, gegen neuentfachtes Koloniebegehren, gegen Gewalt und vor allem gegen den Nationalsozialismus in vielen deutschen Städten agierte, ist nicht erwähnt, demnach auch nicht ihre führenden Persönlichkeiten wie die Münchnerin Constanze Hallgarten, die im März 1933 über Osterreich und die Schweiz nach Frankreich und nach dessen Besetzung weiter in die USA floh; nur ihr Sohn, der Historiker George W. Hallgarten, fand Aufnahme im Handbuch. — 3 Sybille Gerstengarbe: »Die erste Entlassungswelle von Hochschullehrern deutscher Hochschulen aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933«. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 17 (1994) S. 17-39. — 4 Nach Gerstengarbe waren dies von den Universitäten Berlin: Charlotte Leubuscher, Lise Meitner, Mathilde Hertz, Hedwig Hintze, Gertrud Kornfeld, Hilde Pollaczek; Breslau: Hedwig Kohn; Frankfurt: Emmy Klieneberger; Göttingen: Emmy Noether; Halle: Betty Heimann; Kiel: Melitta Gerhard; Düsseldorf: Selma Meyer; Freiburg: Berta Ottenstein; Jena: Mathilde Vaerting; Gießen: Margarete Bieber; Hamburg: Agathe Lasch, Rahel Liebeschüt/.-Plaut. — 5 Nach Elisabeth Boedeker und Maria Meyer-Plath: 50Jahre Habilitation von Frauen in Deutschland. Göttingen 1974 (Schriften des Hochschulverbandes, H. 27). — 6 Agathe Lasch: Ausgewählte Schriften zur niederdeutschen Philologie. Hg. von Robert Peters und Timothy Sodmann. Neumünster 1979, S. XII. — 7 Hans Helmut Christmann: Als Frau und »Jüdin« an der Universität. Die Romanistin Elise Richter. Mainz 1980. — 8 Herbert Strauss u.a. (Hg.): Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien. München u.a.1991, S. 10. — 9 Christian von Ferber: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864—1954. Göttingen 1965, führt in seiner Tabelle 22 »Emigrationsverlust«, S. 143 keine Unterscheidung nach Geschlechtern durch. Er unterscheidet auch nicht zwischen vorzeitigem Ruhestand, Entlassung, Emigration und >natürlichem< Ausscheiden durch Tod. Seine Auflistung ist somit für unseren Zusammenhang unbrauchbar. Die Tabelle V »Die weiblichen Lehrkräfte«, S. 239 f. beginnt (wie die Tabelle 22) mit dem Jahr 1931 und springt dann nach 1938, so daß man für die Entlassungen bzw. Neueinstellungen keine verläßlichen Angaben erhält. — 10 Auch die beiden Dokumentationsbände von Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft / und II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940, Wien, München 1 9 8 7 - 1 9 8 8 geben diesen Sachverhalt augenfällig wieder. Der 1. Band enthält 10 disziplinspezifische Beiträge, und dann folgt ein vor allem auf Einzelbiographien sich stützender, informativer Beitrag zu »Frauen«. Die Autorin Edith Prost ist sich der ^Schiefläge« sehr wohl bewußt: »Ein feministischer Ansatz würde bedeuten, daß in jedem Kapitel zum jeweiligen Wissenschaftsgebiet Frauen und Männer entsprechend ihrem realen Vorhandensein berücksichtigt sind. Da dies aber noch immer nicht mit aller Konsequenz geschieht, überdies die Quellenlage zu Wissenschaftlerinnen sehr gering ist, sei die Tatsache, daß deren Emigrationsgeschichte gesondert dargestellt wird, verantwortet.« — 11 Angela Bottin: Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. Unter Mitarbeit von Rainer Nicolaysen. Berlin, Hamburg 1992, S. 54. — 12 Gesa Dane: »Melitta Gerhard ( 1 8 9 1 - 1 9 8 1 ) « . In: Barbara Hahn (Hg.): Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt. München 1994, S. 2 1 9 - 2 3 4 . — 13 Ute Deichmann: Biologen unter Hitler. Vertreibung, Karrieren, Forschung. Frankfurt/M., New York 1992, bes. S. 3 0 3 - 3 0 9 . — 14 Angelika Timm: »Zur Biographie jüdischer Hochschullehrerinnen in Berlin bis 1933- Nach Materialien des Archivs der Humboldt-Universität zu Berlin«. In: TelAviver Jahrbuchfür deutsche Geschichte 21 (1992, Neuere Frauengeschichte), S. 2 4 3 - 2 5 8 , bes. S . 2 4 9 f . — 15 Ebd., bes. S. 2 5 0 - 2 5 2 und Bernd Faulenbach: »Hedwig Hintze-Guggenheimer (1884-1942)«. In: Barbara Hahn, a.a.O., S. 1 3 6 - 1 5 1 . — 16 Angelika Timm, a . a . O . , bes. S . 2 4 7 - 2 4 9 . — 17 Nach freundlicher Auskunft von Dr. Ulrich Hunger vom Universitätsarchiv in Göttingen vom 24.10.1995; in einem Nachruf von Georg Niffka: »Die >Schönheit von Göttingen« lebt nicht mehr. Zum Tode der Kattowitzer Nobelpreisträgerin Prof. Maria Göppert-Mayer«. In: Schlesische Rundschau 24. Jg., Nr. 11 vom 17. März 1972, S. 8 wird sie als vertriebene Wissenschaftlerin bezeichnet. — 18 Ulla Fölsing: Nobel-Frauen. Naturwissenschaftlerinnen im Porträt. 3. Aufl. München 1994, S. 6 5 - 7 4 , bes. S. 71. — 19 Biographisches Handbuch, a. a.O.,

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Bd. II, 1, S. LXXXVII. — 20 Vgl. Anm. 13. — 21 Herbert A. Strauss u.a.(Hg.): Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung. List of displaced German Scholars. Berlin 1987. — 22 Walther Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie. 10 Bde. München 1995 ff. — 23 Biographisches Handbuch, a . a . O . , Bd. II, 1. S. LXXXVIII. — 24 Ebd., Bd. I, S. LII. — 25 Ludwig-Maximilians-Universität. Ingolstadt, Landshut, München 1472—1972. Hg. von Lätitia Boehm und Johannes Spörl. Berlin 1972. — 26 »Die Studentin«. In: Fliegende Blätter, Nr. 98, 1847. — 27 Claudia Huerkamp: »Frauen, Universitäten und Bildungsbürgertum. Zur Lage studierender Frauen 1 9 0 0 - 1 9 3 0 « . In: Hannes Siegrist (Hg.): Bürgerliche Berufe. Zur Lage der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich. Görtingen 1988; Claudia Huerkamp, »Jüdische Akademikerinnen in Deutschland 1 9 0 0 - 1 9 3 8 « . In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S . 3 1 1 - 331. — 28 Theresa Wobbe: »Mathilde Vaerting ( 1 8 8 4 - 1 9 7 7 ) « . In: Barbara Hahn, a . a . O . , S. 1 2 3 - 1 3 5 . — 29 Hiltrud Häntzschel: »Der Exodus von Wissenschahlerinnen. >Jüdische< Studentinnen an der Münchner Universität und was aus ihnen wurde«. In: Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse 1992, H. 2, S. 4 2 - 5 2 , bes. S . 4 5 f. — 30 Else Lasker-Schüler an Stefanie Hess, 16.3.1927. In: Wo ist unser buntes Theben. Briefe von Else Lasker-Schüler. 2 Bde. München 1969, Nr. 410. — 31 Brief von Käthe Brodnitz-Fröhlich an Paul Raabe vom 27.5.1963. Deutsches Literaturarchiv Marbach. — 3 2 Alice Rühle-Gerstel: Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Mit einem Begleittext von Ingrid Herbst und Bernd Klemm. Nachwort von Stephen S. Kalmar. Frankfurt/M. 1984. — 33 Biographisches Handbuch, Bd. II, 2, S. LXXXVIII. — 3 4 Ebd. — 35 Cordula Tollmien: »>Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann...< Emmy Noether 1 8 8 2 - 1935«. In: Göttinger Jahrbuch38 (1990), S. 1 5 3 - 2 1 9 , Zitat S. 187. — 36 Hiltrud Häntzschel: »Die Philologin Eva Fiesel ( 1 8 9 1 - 1 9 3 7 ) . Porträt einer Wissenschaftskarriere im Spannungsfeld von Weiblichkeit und Antisemitismus«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S . 3 3 9 - 3 6 3 . — 37 Nachdruck in: Herbert A. Strauss u.a. (Hg.), wie Anm. 21. — 38 Peter Th. Waither: »Emigrierte deutsche Historiker in den USA«. In: Berichte aus der Wissenschaftsgeschichte 7 (1984), S. 41 - 52, Zitat S. 46. — 39 Biographisches Handbuch, a.a.O., Bd. II, 1, S. LXXXV. — 40 Christine Backhaus-Lautenschläger: ...Und standen ihre Frau. Das Schicksal deutschsprachiger Emigrantinnen in den USA. Pfaffenweiler 1991, S. 37 f. — 41 Ob der Befund von Herbert A. Strauss, daß die Emigration »für die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler Verzögerungen der Karriere, oft den völligen Verlust der wissenschaftlichen Produktivität oder den Wechsel der beruflichen Orientierung bedeutet hat«, für die Wissenschaftler/'nwHals Gruppe revidiert werden muß, kann aus dem geringen Material noch nicht geschlossen werden, vgl. Strauss (wie Anm. 8), S. 20; eine Veränderung der sozialen Rolle hin zu größerer Selbständigkeit, einen gewissen Exilgewinntrend der akademischen Frau konstatiert Strauss schon in seinem Beitrag »Zur sozialen und organisatorischen Akkulturation deutsch-jüdischer Einwanderer der NS-Zeit in den USA«. In: Wolfgang Frühwald, Wolfgang Schieder: Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933—1945• Hamburg 1981, S. 2 3 6 f. — 4 2 Barbara Hahn, a. a. O., S. 14. — 4 3 Horst Möller: »Die Remigration von Wissenschaftlern nach 1945«. In: Edith Böhne und Wolfgang Motzkau-Valeton (Hg.): Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933-1945. Gerlingen 1992, S. 601 ff.

Regina Weber

Verantwortung für die deutsche Kultur Das Beispiel des emigrierten Germanisten Bernhard Blume

Sind die aus Hitler-Deutschland nach den USA emigrierten Geisteswissenschaftler an der amerikanischen Bildungskrise schuld, die seit den späten 1980er Jahren an den Universitäten ausgetragen wird? Sind sie als geistige Wegbereiter verantwortlich zu machen für die zunehmende Destabilisierung der Western Civilization in Amerika, wie der amerikanische Philosoph Allan Bloom in seinem 1987 erschienenen Buch The Closingof the American Mind1 im zentralen Kapitel »The German Connection« behauptet hat? Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach mit dem Thema Modernisierung oder Überfremdung? Zur Wirkung deutscher Exilanten in der Germanistik der Aufnahmeländer1 nahm die Thesen Allan Blooms zum Anlaß, Rolle und Einfluß der emigrierten Germanisten im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb zu hinterfragen. Egon Schwarz, zur jüngeren Generation der emigrierten Germanisten gehörend, vertrat die Ansicht, daß es bei Blooms Attacken, wie auch die breite Rezeption des Buches in der amerikanischen Öffentlichkeit zeigt, kaum um die deutschen Geisteswissenschaften gehe, geschweige denn um die Germanistik, die seit jeher an amerikanischen Universitäten nur ein Randdasein friste, sondern Blooms Buch gehöre in den Zusammenhang eines »rechtsgerichteten Kreuzzugs für traditionelle Werte«, es sei »Teil einer breit angelegten Kampagne gegen eine humanistische, liberale, pluralistische und kosmopolitische Weltanschauung an amerikanischen Universitäten«. 3 Die seit den Studentenunruhen der sechziger Jahre eingeklagten Rechte von Minderheiten in der amerikanischen Gesellschaft und ihre Durchsetzung an den Universitäten in Gestalt neuer Lehrveranstaltungen und Forschungsprogramme - etwa der Wörnern Studies und Black Studies— scheinen aus der Sicht rechter Kulturphilosophen die Basis des abendländischen Bildungskanons zu gefährden. Den durch die Krise Verunsicherten bot Bloom einen Sündenbock: die unamerikanischen Importe, der unheilvolle Einfluß der deutschen emigrierten Sozial- und Geisteswissenschaftler. Frank Trommler verwies in der Marbacher Diskussion auf einen anderen Zusammenhang. Er sah in Blooms Angriffen auf die deutschen Geisteswissenschaftler ein Symptom für Rivalitätsgefühle, die amerikanische Wissenschaftler gegen den ehemals großen Einfluß der deutschen Wissenschaft auf

Das Beispiel des emigrierten G e r m a n i s t e n Bernhard B l u m e

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amerikanischem Boden hegen. Seit Amerika durch die beiden Weltkriege in die politische Weltmachtrolle gedrängt worden sei, kämpfe es auch im kulturellen Bereich darum, »the best of the Western Civilization« zu sein. Bereits vor Bloom hätten amerikanische Gelehrte wie George Santayana (Egotism in German Philosophy, 1916) u n d John Dewey (German Philosophy and Politics, 1915, 2. rev. Ausg. 1942) die deutsche geistesgeschichtliche Tradition als unamerikanisch abgelehnt, als unvereinbar mit den eigenen demokratischen Werten. 4 Auch auf anderen Gebieten wie der modernen Kunst hatte Amerika mit eigenen Richtungen wie Pop Art und Minimal Art den kulturellen Führungsanspruch vertreten. Amerika habe diese geistige Führungsposition, so Trommler, »zunächst in dem Sinne übernommen, daß ein neues Paradigma für die Interpretation der kulturgeschichtlichen Entwicklung seit der Jahrhundertwende etabliert wurde. Erst durch die Perspektive von Amerika her wurden die >modernen< Bewegungen (die man vorher in Europa nie als geschlossene kulturgeschichtliche Formation wahrgenommen hatte) unter dem Leitbegriff der Modernität (modernity) gebündelt u n d zum Modernism, zur >ModerneWhat's the usedebunking< and >deflating< every kind of ideal... In all this, the creeping poison of nihilism is hidden.« 54 Gegen Hitler und den Faschismus konnte in der deutschen Geistesgeschichte einzig Goethe aufgeboten werden. »Goethe: The Great Syntheses of the German Mind and the Western Civilization«55 war in den folgenden Jahren das Kernstück von Blumes wissenschaftlichen Beiträgen in Forschung und Lehre.

Wirkungsgeschichte Goethes 1955 äußerte sich Blume zu seinen Forschungsschwerpunkten: bis etwa 1950 stand für ihn »Wirkungsgeschichte, particular of Goethe« im Vordergrund, die dann durch sein zunehmendes Interesse an der Symbolismus- und Motivforschung (»especially the symbolism of water«) zurückgedrängt worden sei.

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Seine eigentliche Laufbahn als Germanistikprofessor in Amerika habe erst mit den seit 1944 in Fachzeitschriften veröffentlichten Aufsätzen über Thomas Mann und Goethe begonnen. Nicht nur Blumes Goethe-Aufsätze der vierziger Jahre waren als Kapitel einer umfassenden Wirkungsgeschichte Goethes gedacht 56 , auch seine Lehrer-, Erzieher- und Mittlerrolle intendierte solche Wirkung. Er wollte die Traditionslinie des »anderen Deutschland« sichtbar machen; die Emigration begriff er mehr und mehr als »Chance, an einer großen geistigen Tradition weiterzuarbeiten, die die Nazis abgerissen hatten.« 57 Was er in seinem Essay Thomas Manns Goethebild58 als Interesse Thomas Manns darstellte, war Ziel der eigenen Lehre: »die bürgerlich-humane, pädagogisch-individualistische Haltung der Goethezeit für Deutschland zu retten.« 59 Diese Zielsetzung bestimmte seine Themenwahl, ihr wurde aber auch die kritische Forschung weitgehend untergeordnet. Das eigene Goethe-Erlebnis wurde zur Legende stilisiert. Blume fand zu Goethe, als er kurz nach seiner Ankunft in New York in der Bibliothek Eugen Rosenstocks in Goethes Werken blätterte. »Es war an dem Tag, an dem mir Goethe anfing, aufzugehen«, schrieb er noch zehn Jahre später an den Freund. (3.9.1945) Im Tagebuch berichtet er: »Ich las in den nächsten Jahren sehr viel Goethe, unterrichtete sehr viel Goethe, und dies alles nicht, weil ich auf einmal den Dichter Goethe entdeckt, sondern weil ich einen Kompaß gefunden hatte, nach dem ich, wie ich hoffte, mein Leben ausrichten konnte. Es waren weder der >Werther< noch die >IphigenieEgmont< und nicht der >Wilhelm Meisten, auch der >Faust< nicht, was mich wirklich bewegte, sondern die Gespräche, die Briefe, ( . . . ) Äußerungen eines Mannes, der sich gefragt und entschieden hatte, was in seinem Leben gelten sollte.« 60 Blumes Goetherezeption beginnt mit seiner Absage an Nietzsches Ästhetizismus; sein Goethebild definiert sich ganz aus diesem Gegensatz. Mit der Konzentration auf die Briefe und Gespräche tritt das Alterswerk Goethes in den Vordergrund, doch Blume interessiert vor allem Goethe als biographische Einzelfigur, als moralische Instanz, ja, als charismatischer »Führer«. Im Aufsatz Thomas Manns Goethebild von 1944 wird Goethe »als Führer zur ethischen Bewältigung des Lebens« 61 dargestellt. Wie im Thomas MannVortrag von 1937 wird auch hier der Weg Thomas Manns unter dem Aspekt der Wende, vom Ästhetizismus Nietzsches im Frühwerk zur Goethe-Nachfolge im Spätwerk, gesehen. Blume erklärt, daß »Goethe für Thomas Mann einen Weg bedeutete, den Weg zur wahren Uberwindung des Nihilismus.« 62 Blumes These, Thomas Mann habe erst spät zu Goethe gefunden, blieb nicht unwidersprochen. Dieser Aufsatz, der ihn in Fachkreisen zugleich als Goetheund als Thomas Mann-Forscher bekannt machte, rief neben viel Lob auch manche kritische Bemerkung von Seiten der Kollegen hervor. 63 Wolfgang Paulsen, der Blume in einem Brief vom Januar 1945 zu seinem Aufsatz

Das Beispiel des e m i g r i e r t e n G e r m a n i s t e n B e r n h a r d B l u m e

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beglückwünschte, ließ sich dennoch kritisch vernehmen: »das Verhältnis von M a n n zu Goethe ist ja nicht >irgendein< Verhältnis, u n d obgleich man sich natürlich längst daran gewöhnt hatte (vor allem seit der >LotteFaustMann's development does not begin under the influence of Goethe.. .Es ist sehr wohl möglich, unabhängig zu produzieren (...) Wenn man richtig kalkuliert. Natürlich darf so ein Film, der auf sechzig Millionen eventuelle Kinobesucher verzichtet, nicht mehr als 600.000 Schilling kosten!< Das sind 300.000 Mark, also eine Summe, mit der durchschnittlich auch in Deutschland Filme hergestellt werden.« 6 Allerdings wollte Pasternak seine Produktion von Unterhaltungsfilmen vor allem mit Franziska Gaal als Star nicht als »Demonstration gegen das Dritte Reich« werten und sich politisch nicht äußern, wie in dem Interview betont wird, er wollte lediglich frei arbeiten »ohne Rücksicht auf die erniedrigenden Diktate der Berliner Reichsfilmkammer.« Eine ganz andere Vision vom deutschen Exilfilm hatte Richard BermannHöllriegel, der in seiner Denkschrift Deutsche Freistatt Prinz Hubertus zu Löwenstein vorschlug, eine Exilfilmproduktionsstätte zu schaffen: »Nächst dem deutschen Buch bedarf der deutsche Film am meisten einer Freistatt.« 7 Höllriegel wies in seinem 1934 verfaßten Memorandum daraufhin, daß in Wien bereits »nichtarische« Schauspieler und Autoren nicht mehr beschäftigt werden durften und das »Thema des Films (...) der Berliner Zensur genehm sein« müsse. Höllriegel, der dem deutschen Film vor 1933 und insbesondere der Ufa sehr kritisch gegenüberstand, dachte nicht an die Produktion »gefälliger Konsumware«: »Sie würde, wenn sie nicht in den Kinos des Reichs verschleißt werden kann, zu wenig Konsumenten finden; der Geschäftsfilm würde ein mäßiges Geschäft. Was ich möchte, das ist: ein großes Filmatelier der >Deutschen FreistattFreistatt< sich von selbst finanzieren würde« und wollte das Unternehmen absichern »mit einer neuen Organisation des Filmpublikums (...), mit einer Art Film-Volksbühne in den großen Städten.« Bermann-Höllriegels einzigartiger Plan ist meines Wissens nicht weiter verfolgt worden; die Universal schloß 1936 ihre deutsche Produktion, Pasternak ging zurück in die USA; mit der deutsch-österreichischen Filmkonvention von 1936, die ein Arbeitsverbot

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H e l m u t G. Asper

für Juden im österreichischen Film festschrieb, war der Versuch, eine deutschsprachige Exilfilmproduktion aufzubauen, endgültig gescheitert. Da zudem das »Dritte Reich« sich stabilisierte und die Hoffnung auf ein rasches Ende der Nazi-Diktatur sich nicht erfüllte, waren die Filmemigranten gezwungen, sich radikal neu zu orientieren. Sie mußten Sprachen lernen, die Kultur ihrer Exilländer und die Mentalität ihres neuen Publikums kennen und verstehen lernen und sich in die fremden Filmindustrien integrieren. Nur wenn ihnen dies gelang, konnten sie hoffen, ihren Beruf und ihre Kunst weiter auszuüben. Denn ihre künstlerische Arbeit war nun einmal gebunden an die Filmindustrie und den massenmedialen Charakter des Films, das unterschied sie fundamental von den Schriftstellern. Sie konnten ihre künstlerische Arbeit nicht abtrennen von ihrem Broterwerb und für die Schublade arbeiten, wie das Schriftstellern immerhin möglich war. W e m es nicht gelang, sich erfolgreich in die Filmproduktion seines Exillandes zu integrieren, der verlor seinen Beruf - dies mußten viele andere Emigranten auch erleiden - und seine Kunst und damit einen wesentlichen Teil seiner Identität. Der oft verzweifelt geführte Kampf um eine Regie oder eine Rolle war eben mehr als nur die Suche nach dem Job; es war der Kampf um die Behauptung des eigenen künstlerischen Ichs. Dabei mußten sie sich in mehrfacher Hinsicht an ihre Exilländer anpassen: Sie m u ß t e n in der fremden Sprache Filme drehen, daraus folgte, daß sie in aller Regel auch mit fremdsprachigen Autoren und Schauspielern arbeiten m u ß t e n . Weiter mußten sie die unterschiedlichen Strukturen und Methoden der Filmproduktion adaptieren und den Geschmack eines ihnen fremden Publikums bedienen. Der Zwang zur Anpassung an kulturelle Normen anderer Länder und neue Produktionsverhältnisse war deshalb für die Filmemigranten von existentieller Bedeutung, und diejenigen, die anders als der Regisseur M a n d o in Hollaenders R o m a n dies begriffen hatten, entwickelten frühzeitig individuelle Integrationsstrategien. Die erste H ü r d e war, sieht m a n ab von den Problemen mit Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis, die Arbeit in der fremden Sprache: »Die andere Sprache — ich kannte sie zwar und sprach sie, aber d a ß m a n mit ihr arbeiten sollte, das kam mir doch sehr fremd vor« 8 , schrieb 1945 M a x Ophüls in seinen Erinnerungen an die erste Zeit seines Exils in Frankreich. Die Arbeit des Filmregisseurs ist stark an die Sprache gebunden. Er m u ß mit seinen M i t a r beitern, den Schauspielern, den Autoren, den Technikern kommunizieren, u m ihnen seine Ideen über eine Szene oder einen Charakter zu erklären, ihnen seine Vision des Films zu vermitteln. Er m u ß ihnen schmeicheln, sie korrigieren, sie antreiben, überreden und verführen, und dazu m u ß er die Sprache beherrschen, und zwar nicht ein (zumeist ohnehin kümmerliches) Schulfranzösisch oder -englisch, nicht die Sprache der Literatur, sondern die Umgangssprache, die idiomatischen Vokabeln und Redewendungen. Er m u ß

Integrationsbemühungen und - p r o b l e m e der Filmemigranten

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den vielen unterschiedlichen Sprechsituationen während der Dreharbeiten gerecht werden und in jeder Situation den richtigen Ton treffen. Dazu benötigt der Regisseur ein großes und differenziertes sprachliches Repertoire, das es nun in der fremden Sprache sich neu zu schaffen galt. Das erkannten die meisten Regisseure, und viele dachten sich eigene Methoden aus, die fremde Sprache zu erlernen, die oft auch eine Exploration von Land und Leuten einschloß: Henry Koster (Hermann Kosterlitz) lernte Englisch bei der Filmschauspielerin Jill Martin, die ihn Songs aus Musical-Filmen lernen ließ, außerdem übersetzte er englische Zeitungsartikel ins Deutsche, die er dann wieder ins Englische rückübersetzte und mit dem Original verglich. Fritz Lang las Comics, um in den Sprechblasen die dort konzentrierte idiomatische Ausdrucksweise zu studieren und gleichzeitig der Mentalität der Amerikaner näherzukommen, und reiste, so viel ihm seine Zeit erlaubte, im Land umher, besonders im Westen. Er unterhielt sich mit jedem Amerikaner, den er traf, »taxi drivers, van drivers, garage hands, shop assistants, bar-tenders and their customers.«y Beide hatten Erfolg mit ihren Methoden, Henry Koster wurde der kommerziell wohl erfolgreichste emigrierte Filmregisseur, der vor allem die Genres Musical und Komödien entscheidend mitgeprägt hat, und Lang reüssierte sogar im Western, dem amerikanischen Film-Genre par excellence. Die Energie ihrer Bemühungen rührt auch daher, daß sie immer wieder bei ihrer Arbeit darauf gestoßen wurden, wie wichtig für sie die Beherrschung der Sprache war. Bei Kosters erstem Film in Hollywood, Three Smart Girls, verweigerte ein Drehbuchautor nach wenigen Tagen die Mitarbeit, weil er meinte, daß jemand mit so schlechten Englischkenntnissen nie ein ordentliches Filmskript zustande bringen werde, und Robert Siodmak wurde bei seinem ersten Film bei Paramount von seinem Regieassistenten vor allen Leuten aufgefordert, doch erst mal Englisch zu lernen, »bevor du hier Filme machst.« 10 Nur im nachhinein ist die Geschichte des exilierten österreichischen Regisseurs Arthur Gottlein komisch, der im Filmstudio in Manila seine Mitarbeiter stets mit seinem wienerischen »Ja, so« antrieb und der zu seinem Entsetzen dann daraufhingewiesen wurde, daß dies in den Ohren der Tagallo sprechenden Einheimischen sich anhörte wie >Hund