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German Pages 780 Year 2002
Raum und Recht Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät
Raum und Recht Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät
Herausgegeben von Horst Dreier Hans Forkel Klaus Laubenthal
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Raum und Recht : Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät / Hrsg.: Horst Dreier... - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 ISBN 3-428-10943-0
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-10943-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort I m Jahre 2002 jährt sich zum sechshundertsten Male die Erstgründung der Würzburger Universität. Zwar war ihr seitdem keine ununterbrochene Existenz vergönnt. Doch finden wir sowohl i m Ursprungsjahr 1402 wie bei der Wiedergründung i m Jahre 1582 die Juristen mit mehreren Lehrstühlen prominent vertreten. Sinnfälligerweise ist heute allein noch die rechtswissenschaftliche Fakultät i m Renaissancegeviert der sogenannten Alten Universität beheimatet. Zum Jubiläumsjahr der Erstgründung möchte die Würzburger Juristenfakultät, einem verbreiteten akademischen Brauch namentlich i m Bereich der Rechtswissenschaften folgend, in Gestalt einer Festschrift beitragen, die bekanntlich außer Personen auch Institutionen zugedacht werden kann. Ihr Ziel besteht darin, nicht bloß eine schlichte Addition innerlich zusammenhangloser individueller Beiträge zu bieten oder lediglich die Geschichte der Fakultät und ihrer Mitglieder zu schildern; vielmehr kam es darauf an, in substantieller Weise ein gemeinsames Rahmenthema auszufüllen und daran die Vertreter der verschiedenen juristischen Teildisziplinen in angemessener Weise mitwirken zu lassen. Das gewählte Thema „Raum und Recht" hat anders als die wesensverwandte Materie „Zeit und Recht" bislang kaum die ihm gebührende Aufmerksamkeit in der Jurisprudenz gefunden. Dabei liegen die vielfältigen Berührungspunkte zu den epochalen Prozessen der Supra- und Internationalisierung der Rechtsordnung auf der Hand. Nicht von ungefähr bilden völker- und europarechtliche Themen einen gewichtigen Schwerpunkt in den knapp 30 Beiträgen dieser Festschrift. Von keineswegs geringerer Bedeutung sind aber neue und alte Probleme, die durch zumeist bilaterale Grenzüberschreitungen aufgeworfen werden. Der Raumbezug erschließt zudem und nicht zuletzt Fragestellungen rechtsdogmatischer Art und regt zum Nachdenken über historische Prozesse wie zur Deutung überlieferter Strukturen und gegenwärtiger Entwicklungen an. Die zeitgeschichtliche Perspektive rückt zugleich ins Bewußtsein, daß „Raum" zumindestens in Deutschland keine unbelastete und gleichsam neutrale Vokabel ist. Da sich insoweit unvermeidlich und vermutlich unauslöschlich Konnotationen wie „Volk ohne Raum" oder „ K a m p f um Lebensraum" einstellen, durfte diese dunkle Seite des Themas nicht ausgeklammert bleiben. Die vorliegende Festschrift versteht sich als Gemeinschaftswerk der Juristischen Fakultät, ihrer hauptamtlichen Professoren wie auch ihrer Privatdozenten, Emeriti und Honorarprofessoren. Sie alle rufen ihrer Alma Julia zu: „vivat, crescat, floreat"! Würzburg, i m August 2002 Horst Dreier Dekan
Inhaltsverzeichnis I. Historische Dimensionen und Belastungen Dietmar Willoweit,
Historische Prozesse staatenübergreifender Rechtsbildung
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Jürgen Weitzel, Die transalpine Provinz des ungeschriebenen Rechts Horst Dreier, Begriffs
23
Wirtschaftsraum - Großraum - Lebensraum. Facetten eines belasteten 47
II. Der europäische Rechtsraum Franz-Ludwig Knemeyer, Die Region - Europa-Raum des Rechts Dieter H. Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union
87 103
Eckhard Pache, Die räumlichen Grenzen der Binnenmarktharmonisierung - Anmerkungen zur Tabakproduktrichtlinie der EG 143 Klaus Laubenthal, Schutz der Gefangenenrechte auf europäischer Ebene
169
Christoph Weber, Arbeitnehmermitbestimmung im Europäischen Sozialraum
189
Oliver Remien, Vertragsrecht im europäischen Rechtsraum. Eine Stellungnahme mit Schlußfolgerungen zur „Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum europäischen Vertragsrecht" vom 11. 7. 2001, KOM(2001)398endg. . 219 Ferenc Majoros, Zur „Europäisierung" des Internationalen Privatrechts. Ein Dolchstoß aus Brüssel gegen das Kollisionsrecht? 229
III. Der globale Rechtsraum Karl Kreuzer, Entnationalisierung des Privatrechts durch globale Rechtsintegration? ... 247 Eva-Maria Kieninger, Vereinheitlichung des Rechts der Forderungsabtretung - Zur United Nations Convention on the Assignment of Receivables in International Trade 297 Inge Schere r, Internationale Kindesentführungen und Kindeswohl
319
Eric Hilgendorf, Nationales oder transnationales Strafrecht? Europäisches Strafrecht, Völkerstrafrecht und Weltrechtsgrundsatz im Zeitalter der Globalisierung 333
Vili
Inhaltsverzeichnis
Bertram Schmitt, Zur räumlichen Geltung des deutschen Strafrechts bei Straftaten im Internet 357 Dieter Blumenwitz, Uti possidetis iuris - uti possidetis de facto. Die Grenze im modernen Volkerrecht 377 Hugo J. Hahn, Gebietsbezogene öffentliche Auslandsschulden
391
Burkhard Schöbener, Verfassungsstaatliche Verantwortung für eine internationale Friedensordnung 407
IV. Grenzüberschreitungen Klaus Tiedtke,
Die Besteuerung von Grenzpendlern
463
Günter Christian Schwarz, International-zivilverfahrensrechtliche Probleme grenzüberschreitender Eigenkapitalersatzklagen 503 Michael Wollenschläger, Rüdiger Philipowski,
Die Grenzarbeitnehmer - arbeits- und sozialrechtliche Fragen
Ein Kampf um Steuerquellen
527 551
Hans Forkel, Immaterielle Gegenstände - Herausforderung für Rechtsschutz und Gestaltung des Rechtsverkehrs 579
V. Der Raum als Kategorie in der nationalen Rechtsordnung Claus Ahrens, Zum räumlichen Aspekt der Privatsphäre
599
Dieter Salch, Die mehrgemeindliche Betriebsstätte - eine gewerbesteuerrechtliche Raumbeziehung 623 Eckhard Kreßel, Betriebsverfassung - Raum für kollektive Mitwirkung der Arbeitnehmer 649 Frank Zieschang, Die Entscheidungsbefugnisse des Richters des nächsten Amtsgerichts gemäß § 115a StPO 665 Rainer Paulus, Materielles Strafrecht im „prozessualen Raum" Helmuth Schulze-Fielitz,
Der Raum als Determinante im Immissionsschutzrecht
683 711
Autorenverzeichnis
737
Sachverzeichnis
741
I. Historische Dimensionen und Belastungen
1 FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät
Historische Prozesse staatenübergreifender Rechtsbildung Dietmar Willoweit
I. Perspektiven rechtsgeschichtlicher Beobachtung Die Einheit von Recht und Staat erweist sich als eine außerordentlich stabile hermeneutische Bedingung gerade auch rechtshistorischer Wahrnehmung und Forschung 1 . Wer in die Geschichte zurückblickt, sieht in erster Linie die politischen Akteure und die von ihnen beherrschten Staaten oder Einflusszonen, innerhalb deren die Rechtsordnung in jeweils spezifischer, oft krass voneinander abweichender Art gestaltet und durchgesetzt wird. Wenn daher in der rechtshistorischen Literatur einmal die Frage nach „Recht und Raum" gestellt wurde, dann muss es nicht überraschen, dass eine solche Überlegung ihre Aufmerksamkeit sehr bald wieder der engen Beziehung von Recht und Territorium zuwendete, die sich schon in der mittelalterlichen Jurisprudenz feststellen lässt. Heinz Mohnhaupt bestand darauf, dass „juristisch-politische Elemente der Raumbildung . . . immer auch Raumbeherrschung" nach sich zögen und „die Beherrschung des Raumes . . . untrennbar mit der Staatswerdung und Staatlichkeit schlechthin verbunden" sei 2 . Gegenüber dieser Sicht der Dinge ist denn doch daran zu erinnern, dass die Wissenschaft schon bisher ganz selbstverständlich gewisse Räume des Rechts festgestellt hat, die sich durch politische Grenzen nicht oder nur sehr bedingt definieren lassen: den Raum des droit écrit und den des droit coutumier in Frankreich, den Raum des gemeinen und den des sächsischen Rechts i m Heiligen Römischen 1 Was man den „Staatsbezug" des Rechts nennen könnte, wird in der Rechtsphilosophie kaum thematisiert, sondern stillschweigend vorausgesetzt. Wenn auch die Ablehnung des Gesetzespositivismus im Wortsinne allgemein ist, so zweifelt heute doch kaum jemand daran, dass es sich bei „Recht" um „anerkannte" Regeln oder Aussagen handelt und - so ist hinzuzufügen - dass diese Anerkennung durch die staatliche Verfassungsordnung erfolgt, vgl. H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 5 ff., 53 ff., 69 ff.; N. Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Heft 11), 1989, S. 11. Oft wird der Staatsbezug des Rechts in folgender Weise umformuliert: W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Aufl. 1994, S. 248 ff.; K. Seelmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2001, S. 102 ff. 2
H. Mohnhaupt, Rechtliche Instrumente der Raumbeherrschung, in: lus Commune 14 (1987), S. 159 ff. (160). ι
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Dietmar Willoweit
Reich, den Raum des kodifizierten Rechts und den des common law in Europa. Darüber hinaus hat es in der europäischen Geschichte über Staatsgrenzen hinweg gleichsam Bewegungen des Rechts gegeben, die in der Tat Kulturräume i m weitesten Sinn des Wortes geprägt und damit zugleich von anders gearteten historischen Räumen unterschieden haben: die Ausbreitung des kanonischen und des römischen Rechts i m okzidentalen Europa etwa mit der Folge kultureller, nicht zuletzt auch rechtskultureller Grenzen gegenüber der orthodoxen Welt des Ostens und erst recht der des Islam oder die alle Herrschaftsgrenzen überspringende Wanderung des Magdeburger Rechts in Ostmitteleuropa. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich indessen, dass „die" Rezeption oder auch Rezeptionen überhaupt 3 , nicht als singuläre Erscheinungen begriffen werden können, die gelegentlich aufgrund übermächtiger geschichtlicher Wirkungsmechanismen die „Normalität" der Einheit von Staat und Recht durchbrochen hätten. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, es könnte die selbstverständliche Annahme, Recht sei das Produkt eines Staates oder doch eines Volkes und seiner Geschichte, auf einer modernen Selbsttäuschung beruhen. Denn zweifellos gibt es viele Rechtsgedanken und Rechtsgewohnheiten, aber auch staatlicher Ordnung bedürftige Rechtsinstitute, deren Existenz, Anerkennung und Verbreitung nicht lediglich auf staatlichem Befehl beruhen, andererseits aber auch mit dem Schlagwort „Rezeption" allein nicht erklärt werden können. M i t der Kategorie des „Raumes" öffnet sich insofern eine andere rechtsgeschichtliche Perspektive, als vom Staat und seinem Gesetzesrecht zunächst gänzlich abzusehen und der Blick auf das Recht als einen ursprünglich oder vorrangig innergesellschaftlichen Ordnungsfaktor zu richten ist. Dieser Zugang zur Rechtsgeschichte älterer wie moderner Zeiten aber trifft sich mit aktuellen wissenschaftlichen Anliegen, deren Bewältigung ohnehin ins Haus steht. Recht als ein Erzeugnis gesellschaftlicher Bedürfnisse, beginnend beim Vertrag als Instrument der Bedarfsdeckung, weiterentwickelt in Gestalt von Gesellschaftsbildungen und in den Formen des viel erörterten Genossenschaftswesens, differenzierter entfaltet dann in einem Spektrum subjektiver Rechte zum Schutz individueller Interessen - für dieses Panorama der europäischen Rechtsgeschichte sind die einzelnen Staatsgewalten und ihre Rechtssetzungsmacht offenbar in weit geringerem Maße kausal geworden, als die bewegenden Kräfte der Gesellschaftsentwicklung. Deren Dynamik aber beruht sowohl auf ökonomischen Zwängen wie auf sozialethischen Zielvorstellungen, die sich unter vergleichbaren sozialen Bedingungen staatenunabhängig, eben in geographischen und kulturellen Räumen realisieren.
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Vgl. statt aller mit umfassenden Literaturnachweisen W. Sellert, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Uberblick, Diskussionsstand und Ergebnisse, in: H. Boockmann u. a. (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Teil I (Abh. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Philolog.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 228), 1998, S. 115 ff.; D. Willoweit, Rezeptionen, in: K. Lüderssen (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs. Systematisierung der Fragestellung (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen, Band 6) (i. E. 2002).
Historische Prozesse staatenbergreifender Rechtsbildung
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Die Sichtweise der Historischen Schule, wie sie die rechtsgeschichtliche Forschung noch des 20. Jahrhunderts bestimmt hat 4 , zog nicht nur eine Konzentration auf die nationale Rechtsüberlieferung nach sich mit der Tendenz, für diese möglichst viel zu vereinnahmen, sondern hatte auch zur Folge, dass der Versuch, Recht staatenübergreifend, wenigstens europaweit, zu verstehen, notwendigerweise in den Vergleich der jeweiligen ethnischen, nationalen, staatlichen Rechte einmündete. Rechtsvergleichung begreift sich bis heute allerdings nicht nur als Vergleich von Institutionen und deren normativer Regelung, sondern stets auch als Systemrechtsvergleich 5 . Damit hatte sich die Möglichkeit eröffnet, Recht doch nicht nur positivistisch als Zufallsprodukt staatlicher Rechtssetzung zu deuten, sondern als Ausdruck von „Kultur", die sich über Gruppen von Staaten erstrecken kann. So leuchtet es bis heute ein, dass die englisch-amerikanische Rechtskultur von der romanischen des Code civil und seiner Derivate, beide wiederum von dem überwiegend durch die Pandektenwissenschaft gestalteten deutschen, bzw. mitteleuropäischen Recht zu unterscheiden sind. Gewöhnlich spricht man auch von „Rechtskreisen", eine Metapher, die sich auch räumlich deuten lässt. Aber mit dieser wird die grundsätzlich territoriale - sprich: staatliche - Verankerung des Rechts nicht in Frage gestellt. Methodischer Einstieg aller Rechtsvergleichung kann allenfalls, wenn nicht Volk oder Staat, ein Rechtssystem sein, dessen Geltung von politischen Autoritäten gewährleistet wird. A u f diese Weise lassen sich die Wurzeln der Rechtsvergleichung bis in die frühe Neuzeit zurückverfolgen 6 . Allen solchen Konzepten ist indessen gemeinsam, dass sie die Ausbreitung von grenzüberschreitenden und staatenübergreifenden Rechtsgedanken und Rechtsinstituten nicht erfassen und erklären können. Sie wollen es nicht einmal und brauchen es nicht, weil ihre Interessen anders gelagert und eher pragmatischer Natur sind. Nur: man muss sich darüber i m Klaren sein, dass Rechtsvergleichung auch in kulturgeschichtlichem Gewände nur eine spezifische Perspektive universal angelegter historischer 4
Vgl. zunächst die klassischen Texte von F. C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), in: J. Stern (Hrsg.), Thibaut und Savigny, 1914, S. 69 ff. und seinen Einleitungsaufsatz zur „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" 1815; aus der neueren Zeit vgl. insbes. J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, S. 304 ff. und H. Kiefner, Savigny, Friedrich Carl von, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band 4, 1990, Sp. 1313 ff. m. w. Nachw. Aus späterer Zeit vgl. ζ . B. die Einleitung bei O. Gierke , Deutsches Privatrecht, Band 1, 1895, S. 3 ff.; H. Planitz, Deutsches Privatrecht, 3. Aufl. 1948, S. 1 ff.; H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1, 1954, S. X V I I ff. - Distanzierter aber schon H. Mitteis, Deutsches Privatrecht, 1. Aufl. 1950, S. 1 f. (9. Aufl. 1981). 5 K. Neumayer, Grundriß der Rechtsvergleichung, in: G. Grasmann (Hrsg.), Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 2. dt. Aufl. 1988, S. 1 ff., 31 ff.; K. Zweigert/ K. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, S. 31 ff. 6 Vgl. dazu insbesondere die Untersuchungen von H. Mohnhaupt, Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: A. Mazzacane/R. Schulze (Hrsg.), Die deutsche und die italienische Rechtskultur im „Zeitalter der Vergleichung", 1995, S. 31 ff.
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Rechtsforschung bietet - eine Perspektive zudem, die offensichtlich auf dem Vorverständnis der historischen Rechtsschule beruht, das heute als erkenntnisfördernd nicht mehr akzeptiert werden kann. Nahe liegt die Erwartung, es könnten von vorneherein universalgeschichtlich angelegte Forschungsansätze und Darstellungen der Rechtsgeschichte in der Lage sein, Recht als primär gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben und dabei wie selbstverständlich die räumliche Dimension aller Rechtsbildung und Rechtsausbreitung berücksichtigen. Werke, die etwa einer „Universalgeschichte des Handelsrechts" gewidmet sind 7 , gar einer „Weltgeschichte des Rechts" 8 oder auch nur der „Geschichte des Rechts" schlechthin 9 , haben offenbar zum Ziel, Recht erstens als eine eigenständige Entität und zweitens diese in ihrer Totalität zu begreifen. Doch dieser Zugang zur Rechtsgeschichte, so unvermeidlich und notwendig er ist, lässt sich durchgängig von einem evolutionsgeschichtlichen Erkenntnisinteresse leiten, das seine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes richtet, nämlich den Wandel der Rechtsordnung i m historischen Längsschnitt. Wie die Menschheit überhaupt, so scheinen auch ihre Rechtsvorstellungen und Rechtseinrichtungen eine Entwicklung zu durchlaufen, die vom „primitiven Recht" über das „archaische Recht" und die „Reife des Rechts" zum „Horizont der Jurisprudenz" führen s o l l 1 0 . Was sich dagegen historisch synchron in den einzelnen Zeitaltern abspielt, wo was zu derselben Zeit zu beobachten ist und wie etwas von hier nach dort gelangt, bleibt weitgehend unbeachtet. Über die räumliche Bewegung der Rechtsfiguren - wenn wir unsere Fragestellung vorläufig einmal so charakterisieren wollen - erfährt man aus den Universalrechtsgeschichten des Rechts wenig oder nichts. Allenfalls dann, wenn der Untersuchungsbereich ohnehin schon auf eine bestimmte Materie von spezifischer sozialer Bedeutung, wie das Handelsrecht, beschränkt ist, geraten wie von selbst raumbezogene Aspekte der Geschichte einschlägiger Rechtsinstitute und Rechtsbeziehungen ins Blickfeld, und zwar i m Falle des Handelsrechts gleich massenhaft: von Märkten und Messen ist da die Rede, vom Transportwesen und vom Seehandel, vom Gast- und Fremdenrecht, von Handelsniederlassungen, von den verschiedenen Strukturen gesellschaftlicher Unternehmungen, die zum Teil wiederum mit den Risiken des Fernhandels zu tun haben, über Versicherungswesen, Geldverkehr und manches andere wäre zu reden 1 1 . Die soziale Eigendynamik des Handelsrechts liegt ebenso auf der Hand wie die Bedeutung des Raumes für die Strukturen hier zu gebrauchender Rechtsinstitute. Aber der wissenschaftliche Ansatz, von dem aus all dieses betrachtet und beschrieben wird, ist in erster Linie doch dem evolutionsgeschichtlichen Denken verhaftet. Nur
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L. Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts, 1891. 8 W. Seagle, Weltgeschichte des Rechts. Eine Einführung in die Probleme und Erscheinungsformen des Rechts (1941), 1958. 9 U. Wesel, Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 2001. 10 Seagle, Weltgeschichte (Fn. 8), S. VII f. 11 Goldschmidt, Universalgeschichte (Fn. 7), S. X I ff.
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gleichsam nebenbei wird die Aufmerksamkeit auf das Faktum gelenkt, dass i m Umfeld des Handels Recht entsteht und Räume überspannt werden und dass besonders diesen Vorgängen gesellschaftliche Gründe kaum abzusprechen sind, während die staatliche Rechtspolitik eine sekundäre Rolle spielt. Es lohnt sich daher, der - soweit ersichtlich, noch niemals vergleichend untersuchten 12 - Frage nachzugehen, wann, wo und in welchem Maße Erscheinungen des Rechts kraft der ihnen innewohnenden sozialen Dynamik Verbreitung gefunden haben, ohne Rücksicht auf Herrschaft und Staat, allenfalls mit deren Duldung oder Förderung. Ein solches Forschungsinteresse kann i m Rahmen eines begrenzten Beitrages nur exemplarisch getestet werden. Und es mag nach diesen einführenden Überlegungen auch deutlich geworden sein, dass es primär natürlich um ein möglicherweise innovatives Verständnis des Rechts geht, während dem „Raum" nur akzidentielle Bedeutung zukommen würde. Aber ohne diesen Hintergrund, ohne die Geographie und die sie strukturierenden Kräfte lässt sich Recht als gesellschaftliches Phänomen eben auch nicht analysieren. Dabei müsste dann zugleich klarer hervortreten, wie „Raum" in Hinblick auf das Recht genauer umschrieben werden sollte, welche Faktoren also für einen rechtswissenschaftlich relevanten Raumbegriff Interesse beanspruchen können. Das Begriffspaar „Raum und Recht" bezeichnet ein Forschungsdesiderat, das erst noch aufzufüllen ist. Beispiele für staatenübergreifende Rechtsbildung liegen teils nahe, teils erschließen sie sich erst, wenn man den Versuch unternimmt, Rechtsgeschichte einmal unabhängig von den staatlichen Rahmenbedingungen zu denken. Das Ergebnis einer solchen Bemühung ist eine notwendigerweise vorläufige und heterogene Beispielsammlung, die für unseren Zweck aber genügen darf. Doch erlaubt der gesammelte Stoff einen ersten Schritt des Vorsortierens und Differenzierens und damit die Formulierung einer Arbeitshypothese. Es lassen sich Fälle, in denen die Ursache der Rechtsbildung in wirtschaftlichen Gegebenheiten zu suchen sein dürfte was sicher nicht überrascht - , von solchen Beispielen unterscheiden, in denen die maßgeblichen Motive eines Rechtsbildungsprozesses in dem Bedürfnis zu suchen sind, das Zusammenleben der Menschen nach richtigen oder besseren Grundsätzen zu ordnen. Dass es überhaupt leicht fällt, solche Gründe dingfest zu machen, darf als Indiz für die Richtigkeit der Annahme gewertet werden, dass Recht primär aus gesellschaftlichen Wurzeln entspringt. Dabei überrascht nicht, dass sozialethisch begründete Rechtsbildung überwiegend dem Bereich des „Öffentlichen", Rechtsbildung aus ökonomischen Ursachen aber eher „privatrechtlichen" Verhältnissen zuzuordnen ist. Bedeutung für unsere Fragestellung hat diese Beobachtung, die sich bei Vergrößerung unserer Beispielsammlung wohl bestätigen würde, insofern, 12 Der im vorliegenden Beitrag ins Auge gefassten Fragestellung nähert sich der soeben erschienene Band von J. Eckert/K. A. Modéer (Hrsg.), Geschichte und Perspektiven des Rechts im Ostseeraum, 2002 (Rechtshistorische Reihe, Band 251), dessen Untertitel „Erster Rechtshistorikertag im Ostseeraum 8.-12. März 2000" zwar keinen neuen Zugriff in methodischer Hinsicht erwarten lässt, der aber in der Tat Ansätze zur Rechtsgeschichte eines Raumes, nicht nur einzelner politischer Einheiten, enthält.
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als in Angelegenheiten der öffentlichen Ordnung und Moral die Obrigkeiten stärker an der Rechtsbildung beteiligt zu sein scheinen als dort, wo es nur um die Schaffung angemessener Rechtsverhältnisse für ökonomische Aktivitäten geht. Beginnen wir daher mit den letzteren.
II. Exemplarische Beobachtungen staatenübergreifender Rechtsbildung 1. Ökonomisch begründete Rechtsbildung Schon einleitend war daran zu erinnern, dass Handelsbeziehungen, um sich überhaupt zu entwickeln, Rechtsformen herausbilden müssen, die nicht nur Verlässlichkeit und Berechenbarkeit über große Entfernungen hinweg, sondern auch adäquate Arbeitsbedingungen an den Handelsplätzen gewährleisten. Von der ersten Notwendigkeit, die zur Herausbildung eines mittelalterlichen Handelsrechts mit der bona fides als wesentlichem Element geführt h a t 1 3 , soll hier nicht weiter die Rede sein. Das Recht der Handelsgeschäfte ist sicher ein Paradebeispiel für den bestimmenden Einfluss gesellschaftsimmanenter Kräfte auf die Entstehung normativer Regelungen. Und die Maßgeblichkeit des Raumes für diese Rechtsmaterie ist insofern ganz unleugbar gegeben, als Rechtssicherheit so weit erwartet wird, wie der Handel reicht. Aber dieser Raumbezug ist unspezifischer Art, da er durch nichts anderes als das Faktum des Handels hergestellt wird und sich in beliebige Richtungen, auch weltumspannend, erstrecken kann. Damit liegt eine erste Schlussfolgerung nahe: Erkenntnis wert kommt der Kategorie des Raumes nur dann zu, wenn sie mit weiteren Merkmalen verbunden werden kann, weil „Raum" nur dann spezifische Bedeutung und Qualität annimmt. Diese Voraussetzung ist für die in der Wissenschaft viel erörterten Rechtsverhältnisse frühmittelalterlicher Handelsplätze sicher gegeben. Kaufleute schufen sich in Gestalt der Gilden eine genossenschaftliche Form der Ordnung ihrer Rechtsverhältnisse, die sich in Nordwesteuropa, i m fränkischen, norddeutschen, englischen und skandinavischen „Bereich", wie dies Gerhard Dilcher ausdrückt 14 , ohne Rücksicht auf politische Herrschaftsgrenzen ausbreitete. Hans Planitz, der das Gildewesen in neuerer Zeit intensiver erforschte 15 , versuchte, auf diesem Wege die Entstehung der Stadtgemeinde aus der Schwurgenossenschaft der Bürger zu erklären 1 6 . Diese These ist heute überholt. Denn es zeigte sich, dass die Gilden Er-
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R. Meyer, Bona fides und lex mercatoria in der europäischen Rechtstradition, o. J. (1994, Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte, Band V). 14 G. Dilcher, Personale und lokale Strukturen kaufmännischen Rechts als Vorformen genossenschaftlichen Stadtrechts, in: Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte n.F. 29 (1984), S. 65 ff. (68). 15 H. Planitz, Kaufmannsgilde und städtische Eidgenossenschaft in niederfränkischen Städten im 11. und 12. Jahrhundert, in: ZRG (GA) 60 (1940), S. 1 ff. 16 H. Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter, 1965, S. 85 ff., 98 ff.
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scheinungen des Rechtslebens waren, die eben nur in einem bestimmten „Bereich 4 ' auftraten, der sich als Raum dieser bestimmten Rechtsfiguren auch genauer charakterisieren lässt. Negativ zunächst durch die Tatsache, dass der Status von Kaufleuten im handelsfreundlichen, von römischen Rechtstraditionen lebenden Mittelmeerraum, also in Italien oder Südfrankreich, nicht mit Hilfe genossenschaftlicher Einungsformen besonders geschützt werden musste. Schon in den rheinischen Bischofsstädten herrschen mit der dort dominierenden Ministerialität und der geistlichen familia ganz andere Verhältnisse als weiter im Norden 1 7 . Positiv können für den Raum der Kaufmannsgilden Besonderheiten benannt werden, die ausgeprägt wohl vor allem hier anzutreffen waren: eine i m allgemeinen noch eher handelsfeindliche Umwelt von Kriegern, Fischern und Bauern 1 8 , in der große und gefährliche Distanzen zu überwinden waren, so dass der Selbstorganisation der Kaufleute, auch der Vernetzung ihrer Niederlassungen - später entsteht hier die Hanse 1 9 , größeres Gewicht zukam. Für die Rechtsbildung sind also bestimmte sozialgeschichtliche Bedingungen verantwortlich, die nur innerhalb eines geographischen Raumes auftreten. Die herrschaftlichen Gewalten spielen bei diesem Vorgang zwar mit Privilegierungen und sicher auch militärischem Schutz eine unverzichtbare Rolle, doch nur im Sinne einer conditio sine qua non. Sie haben die Rechtsfigur der Kaufmannsgilden nicht erfunden. Ähnliches gilt für unser zweites Beispiel, die eingangs erwähnte Ausbreitung des Magdeburger Rechts in Polen und Pommern, im Preußenland und im Baltikum, in Böhmen, Mähren, Nordungarn und jenseits der Karpaten bis in die Ukraine hinein. Das Magdeburger Recht umfasste die damals modernste Stadtund Sozialverfassung mit dem Rat als einem weitgehend autonomen Rechtsprechungs- und Gesetzgebungsorgan und einer günstigen Erbleihe 2 0 . Dieses Modell des Stadtrechts, dessen Wurzeln in Oberitalien zu suchen sind 2 1 , hatte sich nach anfänglichen Widerständen führender adeliger Dynastien, dann aber von diesen gefördert, in West- und Mitteleuropa durchgesetzt und entfaltete sich seit dem 13. Jahrhundert mit einer geradezu atemberaubenden Dynamik in Hunderten von Städtegründungen und Stadtrechtsverleihungen auch i m östlichen Europa. Zunächst und lange Zeit überwiegend war diese Expansion des Magdeburger Rechts mit der deutschen Ostsiedlung verbunden. Später finden die neuen Rechtsformen 17 Vgl. dazu insbes. die Forschungen von K. Schulz, ζ . B.: Die Ministerialität in rheinischen Bischofsstädten, in: E. Maschke/J. Sydow (Hrsg.), Stadt und Ministerialität, 1973, S. 16 ff. 18 Meyer, Bona fides (Fn. 13), S. 56 ff. 19 H. Stoob, Die Hanse, 1995, m. w. Nachw. 20 J. Weitzel, Zum Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen, in: D. Willoweit/W. Schich (Hrsg.), Studien zur Geschichte des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Deutschland und Polen (Rechtshistorische Reihe, Band 10), 1980, S. 62 ff.; C. Higounet, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, 1990, S. 306 ff. 21 H. Keller, Der Übergang zur Kommune: Zur Entwicklung der italienischen Stadtverfassung im 11. Jahrhundert, in: B. Diestelkamp (Hrsg.), Beiträge zum hochmittelalterlichen Städtewesen (Städteforschung A/M), 1982, S. 55 ff.
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in Polen und Litauen auch Eingang in Orte ohne nennenswerten deutschen Bevölkerungsanteil 22 . Es ist immer wieder ganz richtig darauf hingewiesen worden, dass deutsche Siedler nur zu attraktiven Bedingungen, d. h. zu solchen gewonnen werden konnten, die ihnen schon bekannte, als optimal eingeschätzte rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten garantierten - was wiederum nur mit Hilfe der örtlichen Herrschaftsträger möglich war. Aber die nachhaltige und weit verbreitete Motivation für die Bereitschaft zur Auswanderung und Neusiedlung beruhte ebenso auf einem sozialen Faktum - der demographischen Entwicklung i m Altsiedelland wie die Tatsache, dass sowohl die Siedler wie auch ihre neuen Herren eine Rechtsordnung zu realisieren in Angriff nahmen, die den damaligen Modernitätsansprüchen genügte. Dazu gehörten die Gewährleistung bürgerlicher Selbständigkeit durch Fernhaltung des lokalen Adels von der Stadt; das Erbrecht der Töchter und damit die Schwächung der Sippenstrukturen; die Errichtung eines dichten Netzes von städtischen Märkten, die den Warenaustausch zwischen Stadt und Land dauerhaft organisierten; schließlich die Schaffung eines Systems weitgehend herrschaftsfreier Rechtssicherheit durch Gestattung von Oberhofzügen, die von mehreren Unterzentren und letztlich von Magdeburg und Lübeck aus für ein notwendiges Maß an Rechtseinheit sorgen konnten 2 3 . In dem Maße, in dem sich diese neue Stadt- und bürgerliche Sozialverfassung in den weiten Landschaften Osteuropas ausbreitete, drückte sie nicht nur staatenübergreifend ganzen Landschaften ihren Stempel auf - sie schuf selbst neue Räume, die durch das gemeinsame Recht geprägt wurden. Dem politischen Gestaltungswillen der dabei engagierten Fürsten kommt wiederum nur eine dienende Funktion zu. Kann es staatenübergreifende Rechtsbildung auch unter den Bedingungen moderner Staatlichkeit, also seit dem 19. Jahrhundert, geben? Da die Rechtsordnung jetzt endgültig und insgesamt dem Rechtssetzungsmonopol des Staates unterworfen wurde, konnte im Rechtswesen nichts mehr ohne dessen dezidierten politischen Willen geschehen. Aber die Veränderung der ökonomischen Verhältnisse hat gerade i m 19. Jahrhundert rechtliche Gestaltungen hervorgebracht, die zuvor kaum denkbar waren. So ist die Erwerbsgesellschaft als juristische Person eine Erfindung des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die sich bald in West-, Mittelund Südeuropa ausbreitete. Nach ersten tastenden Versuchen in der Spätzeit des Ancien régime, durch Gesellschaftsvertrag eine Haftungsbeschränkung einzufüh22
R. Lieberwirth, Das sächsisch-magdeburgische Recht als Quelle osteuropäischer Rechtsordnungen (SB. d. Sächs. Akad. d. Wiss., Philolog.-hist. Kl., Band 127, Heft 1), 1986; H. Lück, Die Verbreitung des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts in Osteuropa, in: E. Koolmann u. a. (Hrsg.), Der sassen speyghel. Sachsenspiegel - Recht - Alltag, Band 1, 1995, S. 37 ff.; D. Willoweit, Das deutsche Recht im Osten. Vom Kulturvergleich zur Rezeptionsgeschichte, in: H. Rothe (Hrsg.), Die historische Wirkung der östlichen Regionen des Reiches, 1992, S. 61 ff.; J. J. Menzel, Der Aufbruch Europas nach Osten im Mittelalter (Abschiedsvorlesung am 7. Juli 1998), 1998. π J. Weitzel, Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug, 1981; D. Werkmüller, Oberhof, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band 3, 1984, Sp. 1134 ff. m. w. Nachw.
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ren, traf erstmals der französische Code de Commerce i m Jahre 1806 Regelungen für Kapitalgesellschaften privaten Rechts, die nicht nur das Haftungsrisiko der Gesellschafter begrenzten, sondern auch die Übertragbarkeit der Mitgliedschaftsrechte und die Vertretung durch Verwalter vorsahen - die Aktiengesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit war geboren 2 4 . Welch spektakuläre Bedeutung dieser Schritt des französischen Gesetzgebers gehabt hat, ist nur vor dem Hintergrund der bis dahin in Europa bestehenden Rechtslage zu verstehen. Das gemeine Recht hat getreu den Vorgaben der römischen Rechtsquellen nur Korporationen mit politischen Funktionen als handlungsfähige Rechtssubjekte anerkannt. Faktisch bildeten in der altständischen Gesellschaft eine solche persona moralis, die auch Autoren und Gesetzbücher des Naturrechts akzeptierten, nur die Kommunen 2 5 . Die privatrechtliche societas war stets eine vertragrechtlich begründete Vereinigung natürlicher Personen geblieben. Juristische Personen privaten Rechts gab es nicht. M i t der Einführung der Aktiengesellschaft wurde also ein neues Rechtsinstitut geschaffen, und zwar ein solches, das völlig neuartige Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung und ausgreifender wirtschaftlicher Aktivitäten eröffnete. Ein regelrechter Boom aktienrechtlicher Gesetzgebung begann i m zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Gesetzen der Niederlande, Preußens und Englands, denen Gesetzgebungsakte wiederum Frankreichs, dann des Norddeutschen Bundes, der Schweiz, Italiens, Spaniens und Portugals folgten 2 6 . Und natürlich kam der Anstoß zu dieser partiellen Revolutionierung des Privatrechts ursprünglich aus der Gesellschaft selbst, als der Kapitalbedarf stieg und die unternehmerischen Risiken zunahmen 2 7 . Gewöhnlich wird diese Entwicklung zutreffend mit der Industrialisierung und der Geschichte des Kapitalismus i m 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Sie spiegelt aber ebenso die Entstehung eines neuartig geprägten Rechtsraumes wider, der sich vorerst von den Reichen der Zaren und der Osmanen deutlich unterschied, bald aber mit den meisten Staaten beider Amerika den Atlantik überbrückte und so die Voraussetzungen einer wirtschaftlich zusammengehörigen Hemisphäre schuf 2 8 . 24 H. Coing, Europäisches Privatrecht, Band II: 19. Jahrhundert, 1989, S. 96 ff. 25 W. Brauneder, Von der moralischen Person des ABGB zur Juristischen Person der Privatrechtswissenschaft, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero guiridico moderno 11/12 (1982/83), S. 263 ff. (269 u. passim); H. Coing, Europäisches Privatrecht, Band I: Älteres Gemeines Recht, 1985, S. 261 ff., 464 ff. 26 Coing, Europäisches Privatrecht II (Fn. 24), S. 101. Zur Rechtspraxis exemplarisch G. Landwehr, Die Organisationsstrukturen der Aktienunternehmen. Statutenpraxis in Preußen bis zur Aktienrechtsnovelle von 1870, in: K. O. Scherner/D. Willoweit (Hrsg.), Vom Gewerbe zum Unternehmen, 1982, S. 251 ff. - Nicht zufällig ist es im 19. Jahrhundert daher auch zu einer intensiven Diskussion um die Rechtsnatur der Körperschaft gekommen, vgl. dazu F. Schikorski, Die Auseinandersetzung um den Körperschaftsbegriff in der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts, 1978; J. Schröder, Zur älteren Genossenschaftstheorie. Die Begründung des modernen Körperschaftsbegriffs durch Georg Beseler, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 11/12 (1982/83), S. 399 ff. 27 Κ . Rauch, Die Aktienvereine in der geschichtlichen Entwicklung des Aktienrechts, in: ZRG (GA) 69 (1952), S. 239 ff. 28 H. Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 1991, S. 49 ff.
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Es wäre reizvoll zu verfolgen, wie der Ausbau dieses gewaltigen Wirtschaftsrau mes von parallelen oder doch zeitnah aufeinander folgenden rechtspolitischen Aktivitäten begleitet wurde 2 9 . Wenigstens ein weiteres Beispiel mag das Gesagte illustrieren und zugleich zeigen, dass die Geschichte des modernen Wirtschaftsrechts bis heute keineswegs nur einer sachimmanenten Logik folgt, sondern an gewisse kulturräumliche Bedingungen gebunden ist. Die Entwicklung des gewerblichen Rechtsschutzes i m Laufe des 19. Jahrhunderts kann nicht lediglich als Spiegelbild der ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus verstanden werden. Ökonomischer Wettbewerb tendiert eher dazu, sich ohne Rücksichtnahme auf Mitbewerber durchzusetzen. Doch schon den fähigeren politischen Köpfen der altständischen Gesellschaft Europas war i m Zuge merkantilistischer Wirtschaftsförderung klar geworden, dass technische Innovationen und die Sicherung der Qualität gewerblicher Tätigkeit obrigkeitlichen Schutzes bedürfen. Diese auf der Grundlage des damaligen Privilegienwesens entstandene Schutzpraxis erfuhr nach dem Zusammenbruch des Ancien régime alsbald einen tiefgreifenden Wandel, indem nunmehr die neue Idee als Gegenstand eines Rechts ihres Urhebers oder Erfinders angesehen wurde 3 0 . Nicht zufällig ist es daher die nachrevolutionäre französische Gesetzgebung gewesen, die sich schon 1791 die naturrechtliche Lehre vom geistigen Eigentum zu Gunsten des Erfinders zu Eigen machte und 1801 auch die Marken der Fabrikanten unter den Schutz des Eigentumsgedankens stellt 3 1 . Diese bahnbrechenden Neuerungen, die dem gewerblichen Rechtsschutz ein Fundament von beinahe menschenrechtlicher Qualität gaben, wurden nicht nur in Rheinbundstaaten übernommen. Die i m naturrechtlichen Denken geborene Idee des geistigen Eigentums erwies sich als so überzeugend und ordnungspolitisch für die sich freier entfaltende bürgerliche Gesellschaft so wichtig, dass sie sich i m Laufe des 19. Jahrhunderts in allen fortgeschritteneren Staaten Europas und Amerikas auch gegen Widerstände durchsetzte. Der Welle der Patentgesetze stellte sich seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine liberale Antipatentbewegung entgegen, die sich kämpferisch für den internationalen Freihandel einsetzte und in Deutschland 1863 die Aufhebung des Patentschut-
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Vgl. z. B. zur Geschichte der GmbH Coing, Europäisches Privatrecht II (Fn. 24), S. 127 ff. 30 D. Klippel, Die Idee des geistigen Eigentums in Naturrecht und Rechtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, in: E. Wadle (Hrsg.), Historische Studien zum Urheberrecht in Europa, 1993, S. 121 ff.; B. Dölemeyer/D. Klippel, Der Beitrag der deutschen Rechtswissenschaft zur Theorie des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht und ihrer Zeitschrift, hrsg. von der Vereinigung durch F.-K. Beier u. a., 1991, S. 185 ff.; zusammenfassend H. Forkel, in: H. Hubmann/ H. P. Gotting, Gewerblicher Rechtsschutz, 6. Aufl. 1998, S. 11 ff., 20 ff. 31 E. Wadle, Fabrikzeichenschutz und Markenrecht. Geschichte und Gestalt des deutschen Markenschutzes im 19. Jahrhundert, Teil 1, 1977, S. 48 ff.; ders., Patent (gewerblich), in: Erler/Kaufmann, HRG III (Fn. 23), Sp. 1533 ff. m. w. Nachw.
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zes forderte 32 . Das Patentwesen schien manchem Zeitgenossen mit dem Geruch eines zünftlerischen Protektionismus behaftet, der sich mit modernem ökonomischen Denken nicht vertrug. Wenn sich in diesen entscheidenden Jahren seit dem Wiener Patentkongress von 1873 die europäische Staatenwelt einem hemmungslosen Freibeutertum in der Wirtschaft verweigert und der internationalen Respektierung des jeweils national gewährten Rechtsschutzes den Weg bereitet hat, so ist diese Entwicklung nicht nur Konsequenz eines rationalen Interessenausgleichs gewesen, sondern zugleich die Bekräftigung der Rechtssubjektivität der Person als eines sowohl körperlich wie geistig aktiven Wesens, die sich nicht nur in Sachgütern, sondern auch in unkörperlichen Produkten vergegenständlicht. Dieser Hintergrund verdeutlicht, wie sehr die Idee des Patentschutzes an kulturelle, historisch gewachsene Rahmenbedingungen gebunden ist. Und es wird verständlich, warum die Respektierung der Patente an den Rändern der europäisch-amerikanischen Kultur- und Wirtschaftswelt, erst recht in weit außerhalb liegenden „exotischen" Ländern so schwer f ä l l t 3 3 . Eine ähnliche Geschichte und vergleichbare Probleme begegnen uns auf dem weiten Feld des gewerblichen Markenschutzes. Auch hier kommt dem nachrevolutionären Frankreich eine Vorreiterrolle zu, wenn die rechtspolitischen Motive für den Schutz von Fabrik- und sonstigen Warenzeichen auch zunächst eher in den Bedürfnissen des Gewerbewesens als im naturrechtlichen Denken zu suchen sind. Insgesamt verlief die Entwicklung hier etwas langsamer als i m Bereich des Patentrechts, aber schließlich doch parallel. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten die meisten Staaten der westlichen Hemisphäre den Gedanken des Markenschutzes in ihrer Gesetzgebung oder Rechtsprechung - in England - rezipiert, wenn für diese Rechtsmaterie die Absicherung durch internationale Vertragswerke auch langsamer vonstatten g i n g 3 4 . Die Beachtung dieser Gesetze freilich bereitet außerhalb des von der europäischen Kultur geprägten Raumes nicht selten bis heute Schwierigkeiten. Wo die Welt niemals - wie in Europa - so eindeutig und zugleich immer einseitiger vom Individuum her interpretiert worden ist, sondern der Mensch in erster Linie als Teil einer kosmischen Ordnung begriffen wurde, konnte seinem Willen und seinen subjektiven Rechten auch nicht ein derartiger Rang eingeräumt werden, wie dies in der europäischen Rechtsgeschichte geschehen ist. Denn letztlich musste nach den dogmatischen Grundlagen des gewerblichen Rechtsschutzes auch der Markenschutz auf die Idee des geistigen Eigentums zu32 E. Wadle, Der Weg zum gesetzlichen Schutz des geistigen und gewerblichen Schaffens. Die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland (Fn. 30), S. 93 ff. (131 f.); ders., Patent (Fn. 31), Sp. 1536 f. 33 Entspannung scheint das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums" gebracht zu haben, BGBl. 1994 II S. 1730 ff.; H. Forkel, Das Erfinder- und Urheberrecht in der Entwicklung - vom nationalen zum internationalen Schutz des „geistigen Eigentums", in: NJW 1997, S. 1672 ff. 3 * J. Kohler, Warenzeichenrecht, 1910 (1. Aufl. 1884 u. d. T. Das Recht des Markenschutzes mit Berücksichtigung ausländischer Gesetzgebungen), S. 38 ff.; Wadle, Fabrikzeichenschutz (Fn. 31), S. 65 ff.
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rückgeführt werden, um unter den Bedingungen einer liberalen Konkurrenzwirtschaft überzeugen zu können 3 5 . Die Ängste und Widerstände, welche heute das viel erörterte Thema der „Globalisierung" in der Dritten Welt hervorruft, dürften ihren Grund nicht zuletzt in der Abwehr eines vom Individuum her gedachten Weltbildes haben. Über das Verhältnis der einen Welt zu den verschiedenen Kulturräumen nachzudenken, hilft möglicherweise auch, diese aktuelle Problematik besser zu begreifen.
2. Sozialethisch begründete Rechtsbildung Die hier anzusprechenden Rechtsgrundsätze und Rechtsgebilde lassen sich gewiss nur zum Teil als Raumphänomene definieren. Denn sie entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Konkretisierungen der von den großen Religionen - in ihrer jeweiligen geschichtlichen Gestalt - vermittelten Weltbilder oder - in jüngerer Zeit - als Postulate eines sich säkular verstehenden Humanismus. Aber keinem dieser sozialethischen Systeme ist es gelungen, den eigenen umfassenden Geltungsanspruch durchzusetzen. Das Faktum der großen Kulturräume der Welt beruht in erster Linie darauf, dass die Kraft der großen Religionen niemals ausreichte, weltumspannend wirksam zu werden. Selbst dort, wo sie jeweils eindeutig dominierten oder noch heute vorherrschen, entstanden Regionen mit verschiedenen Konfessionen, Mentalitäten und nicht zuletzt auch Rechtskulturen. Man denke nur an die Bedeutung des kanonischen Rechts für das okzidentale Europa, an das unterschiedliche Verhältnis von Kirche und Staat in den Ländern der westlichen und der orthodoxen Kirchen, an die unterschiedlichen Loyalitäten, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein in den reformatorischen Kirchen und i m Katholizismus kultiviert wurden: Einheit von Thron und Altar für die einen, Treue zum Papsttum für die anderen. Von den Religionen geprägte Großräume sind also in sich hoch differenzierte Gebilde, für deren Topographie Staatsgrenzen die geringste Rolle spielen. Wie das kanonische Recht in die Gesellschaft hineingewirkt hat und welche Folgen dieser Einfluss nach sich zog, lässt sich exemplarisch am Eherecht zeigen. Seit langem hat die Forschung herausgearbeitet, wie die katholische Kirche i m Frühmittelalter allmählich das bis dahin von den Familienverbänden allein gestaltete Heiratswesen ihrer Kompetenz unterwarf. Noch in frühmittelalterlichen Rechtsquellen und chronikalischen Nachrichten ist klar erkennbar, in welchen Formen ursprünglich Ehen geschlossen wurden. Danach ist als alltägliche Normalität die Sippenvertragsehe anzunehmen, deren Partner nicht etwa die Eheleute, sondern Brautvater und Bräutigam gewesen sind, die sich über zu erbringende Leistungen - Morgengabe, Aussteuer u. ä. - einigten und die Übergabe der Braut vollzogen 3 6 . 35
Dölemeyer/Klippel, Beitrag der deutschen Rechtswissenschaft (Fn. 30), S. 206 ff. Umfassend zum Stand der Forschung informierend P. Mikat, Ehe, in: A. Erler/ E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band 1, 36
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Letztere war also Objekt dieses Geschäfts, das die sozialen Verhältnisse der patriarchalischen Bauern- und Kriegergesellschaft exakt widerspiegelte. Wie in den noch ganz oder überwiegend oralen Gesellschaften stets, sind die rechtlichen Formen und Verbindlichkeiten weitgehend identisch mit den realen sozialen Strukturen. Selbständig aktiv wurden nach dieser Logik Frauen in Heiratsangelegenheiten nur, dann aber aus guten Gründen, wenn sie als Erbtöchter, begüterte Witwen oder in ähnlich gesichertem Status unabhängig von ihrer Familie handeln konnten. In solchen Fällen waren auch in alter Zeit Konsensehen der Brautleute möglich, die in der Wissenschaft als Friedelehen bezeichnet werden 3 7 . Die Kirche kannte ein eigenes Eheschließungsritual ursprünglich nicht. Aber sie begann frühzeitig, besorgt um die Sexualmoral der Gläubigen, Ehesachen auch als ihre Aufgabe anzusehen, indem sie die Einehe zu sichern und den Inzest - oder was sie dafür ansah möglichst umfassend zu verhindern suchte 38 . Damit war der Weg zu einer kirchlichen Ehelehre vorgezeichnet. Diese aber gelangte mit der Blüte des kanonischen Rechts seit dem 12. Jahrhundert zu der eindeutigen, niemals mehr revidierten Überzeugung, dass die Ehe auf dem Konsens der Ehegatten beruhe 3 9 . Zwar galt unter Berufung auf die Heilige Schrift der Mann als das Haupt des Ehebundes, weshalb aus den traditionellen eherechtlichen Vorstellungen gerne übernommen wurde, dass sie Frau unter der Munt des Mannes stehe. Aber die Eheschließung selbst war nun ohne Einverständnis der Braut nicht mehr möglich und mit dieser stets wirksam, wenn nur die i m Mittelalter noch recht flexiblen Formerfordernisse gewahrt wurden. Daraus erwuchsen i m Spätmittelalter erhebliche Spannungen und Unsicherheiten, die sich einerseits in der verbreiteten Erscheinung der heimlichen Ehen, andererseits in gesetzlichen Androhungen der Enterbung bei Nichteinholung der elterlichen Zustimmung niederschlugen. Der ganze Prozess ist deshalb für unsere Fragestellung von Interesse, weil er ohne Zweifel eine rechtshistorische Bedingung für den Prozess der Emanzipation der Frau in Europa gewesen ist. Was sich i m Mittelalter anbahnte und seit dem Naturrecht der Aufklärung trotz aller Widerstände allmählich durchgesetzt hat - die Gleichberechtigung der Frau - , ist nicht eine denknotwendige Selbstverständlichkeit, wie man heute meinen möchte, sondern Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung unserer Rechtskultur, die sich insofern von der benachbarten Staatenwelt des Islam scharf unterscheidet. Dass die Konsequenzen dieser Differenz in viele einzelne Rechtsmaterien hineinreichen, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführung. 1971, Sp. 809 ff. m. w. Nachw. und ders., Dotierte Ehe - rechte Ehe. Zur Entwicklung des Eheschließungsrechts in fränkischer Zeit, 1978 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften, Vorträge G 227). Aus der älteren Literatur ist hervorzuheben E. Friedberg, Das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung, 1865 (Neudr. 1965). 37 Mikat, Ehe (Fn. 36), Sp. 816 f. 38 P. Mikat, Die Inzestgesetzgebung der merowingisch-fränkischen Konzilien (511-626/ 27), 1994 (Rechts- u. Staatswiss. Veröff. d. Görres-Gesellschaft, n. F. Band 74). 39 J. Freisen, Geschichte des kanonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur, 2. Aufl. 1893 (Neudr. 1963).
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Ist die Aufmerksamkeit erst einmal geweckt und der Blick für das Phänomen staatenübergreifender Rechtsbildung geschärft, dann finden sich leicht weitere Beispiele im europäischen Mittelalter und dabei gerade auch solche mit einem religiös motivierten sozialethischen Hintergrund. Erinnert sei vor allem an die mittelalterliche Friedensbewegung, deren erster Grund in der Diskrepanz zwischen den Forderungen der Religion und der tatsächlichen, gewaltbereiten Herrschaftspraxis zu suchen sein dürfte. Diesen Zwiespalt versuchte man durch die pax als gleichsam objektives, allen zugängliches Rechtsgut zu überbrücken 40 . Die Wege der Friedensidee von den Gottesfrieden des Westfrankenreiches 41 , über die Landfrieden i m regnum teutonicum 4 2 bis zu Volksbewegungen für den Frieden in Italien 4 3 waren, mehr oder weniger, von religiösen Emotionen und Manifestationen begleitet. Die Effizienz dieser Versuche, neue rechtliche Verhältnisse zu schaffen, mag man angesichts des Umstandes bezweifeln, dass der „ewige" Landfriede am Ende des Mittelalters erst gesichert werden konnte, als der Staat legitime Gewalt in seinen Händen monopolisierte 44 . Aber die immer wieder neuen Anläufe, den Landfrieden zu sichern, hatten einen verfassungsgeschichtlichen Nebeneffekt von bleibender Bedeutung: ganz überwiegend mussten in die Friedensbemühungen die potentiellen Friedensbrecher, also die großen und kleinen adeligen Herren, als mithandelnde Subjekte einbezogen werden. Das hatte unterschiedliche Konsequenzen durchaus ambivalenter Art. Besonders in der älteren Literatur ist die Klage über die Schwäche der zentralen Gewalt jedenfalls in Deutschland weit verbreitet. Heute richtet sich die Aufmerksamkeit eher auf die von den intermediären Gewalten ausgehende Begrenzung staatlicher Macht. Der Adel - und bald auch das Bürgertum der größeren Städte - konnte seine Interessen als den einzelnen Subjekten zustehende Rechte definieren. Die Entstehung von Reichsständen, erst recht von Landständen ist i m Mittelalter nicht geradlinig und nicht allein auf die Landfriedenspo-
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Vgl. dazu die Forschungen von E. Wadle, Landfriede, Strafe, Recht. Zwölf Studien zum Mittelalter, 2001. 41 H. Hoffmann, Gottesfriede und Treuga Dei (Schriften der Monumenta Germaniae historica, Band 20), 1964; R. Kaiser, Gottesfrieden, in: Lexikon des Mittelalters, Band 4, 1989, Sp. 1587 ff. m. w. Nachw. 42 Aus der umfangreichen Literatur seien hier nur einige neuere Sammelbände hervorgehoben: J. Fried (Hrsg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, 1996 (Vorträge und Forschungen, Band 43); A. Buschmann/E. Wadle (Hrsg.), Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit, 2002. 43 K. Arnold, Mittelalterliche Volksbewegungen für den Frieden, 1996 (Beiträge zur Friedensethik, Band 23). 44 Zum staatlichen Gewaltmonopol vgl. die Klassiker G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (6. Neudr. 1959), S. 429, 431 und M. Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, 2. Aufl. 1958, S. 494; zusammenfassend D. Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, in: A. Randelzhofer / W. Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt. 35 Jahre Grundgesetz, 1986, S. 313 ff. Umfassend jetzt W Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1999, S. 125 ff., 282 ff., 351 ff.
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litik zurückzuführen. Aber diese ist doch eine maßgebliche Bedingung dafür gewesen, dass sich in Europa zwischen Portugal und Polen i m Rahmen der Staatlichkeit jene Strukturen entwickelten, die sich grob, aber im Prinzip richtig, i m Begriff der Partizipation zusammenfassen lassen 45 . Wie wenig selbstverständlich diese Verfassungsverhältnisse zwischen West- und Ostmitteleuropa sind, zeigt der Vergleich mit den Reichsbildungen in Asien und lässt sich auch an der Geschichte des Zarenreiches ablesen 46 . Das sind gewiss ungewohnte, weil wissenschaftlich exakt schwer verantwortbare Perspektiven. Sie sind jedoch unvermeidbar, wenn die europäische Geschichte reflektiert werden soll, was nur durch Vergleich mit anderen Kulturen geschehen kann. Die westliche Wissenschaft möchte die Geschichte Westeuropas als Menschheitsgeschichte schlechthin deklarieren. In dieser Sicht verschwimmen die Grenzen zwischen den historisch gewachsenen Kulturräumen, an deren Stelle die Annahme der einen, aber mehr oder weniger weit „entwickelten" Welt tritt. Dann hat die Kategorie des Raumes keinerlei Erkenntnis wert mehr. Dieselbe Problematik begegnet uns bei der wichtigsten sozialethisch begründeten Innovation europäischer Provenienz, den Menschenrechten. Sie werden in der Öffentlichkeit angesprochen und in der Politik gehandhabt wie unangreifbare Erkenntnisse der Vernunft, obwohl niemand bezweifeln kann, dass sie das Ergebnis einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung i m antik-christlichen Kulturkreis sind und ebenso auch die realgeschichtlichen Bedingungen Europas zur Idee der Menschenrechte beigetragen haben. A u f diesen letzteren Zusammenhang hat die neuere historische Forschung mit Nachdruck hingewiesen. Nicht nur in England, auch i m Heiligen Römischen Reich und selbst in Frankreich wurden die absolutistischen Tendenzen der Epoche konterkariert durch einen parallel verlaufenden Prozess, der etwas unglücklich, aber auch nicht falsch als „Verrechtlichung" bezeichnet worden i s t 4 7 . A u f eine kurze Formel gebracht, kann man diesen Vorgang etwa so charakterisieren: Das Bedürfnis und die Gewährung von Rechtsschutz gegenüber Gefährdungen durch die Staatsgewalt und andere Herrschaftsträger nahm zu. Der Gedanke individueller Abwehrrechte war also nicht unbekannt, als die Idee
45 Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 44), S. 211 ff.; P. Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation and Community, 1997; W. Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in Ostmitteleuropäischen Regionen, 1995; H. Timmermann (Hrsg.), Die Bildung des frühmodernen Staates - Stände und Konfessionen, 1989. 46 S. R. Schräm (Hrsg.), The Scope of State Power in China, 1985; ders. (Hrsg.), Foundations and Limits of State Power in China, 1987; G. Helmert, Der Staatsbegriff im petrinischen Rußland, 1996. Zu „Scheitern oder Transformation des Staates in der außereuropäischen Welt" Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 44), S. 480 ff. 47 W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, 1980, S. 76 ff.; G. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981; W. Schmale, Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich, 1986; P. Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800, 1988 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 1), S. 78 ff. 2 FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät
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der unveräußerlichen Menschenrechte geboren wurde 4 8 . Diese lässt sich aber ohne Rückgriff auf eine Metaphysik historisch begründen als Antwort aufgeklärten Rechtsdenkens auf den Untergang der altständischen Gesellschaft. Seitdem diese nicht mehr den Rechtsstatus des Menschen - wenn er nur irgendeinem Stande angehörte - definierte, musste eine Antwort auf die Frage nach den Rechten des Menschen überhaupt, kraft seiner Natur, gefunden werden 4 9 . Dass es dazu bis zur Gegenwart keine Alternative gibt, macht die Menschenrechtsidee so überzeugend. Sie „passt" überall dort, wo auch in unseren Tagen traditionale Gesellschaftsstrukturen durch Einflüsse moderner Zivilisation oder den Druck totalitärer Diktaturen zerstört werden. Auch diese Aktualität der Menschenrechte kann aber nicht ihre spezifisch europäischen Komponenten vergessen machen. Als einfachstes Beispiel ist an die Freiheit der Religionsausübung zu erinnern, die in Europa nach heftigen Konflikten und i m Rahmen einer umfassenden Säkularisierung fast aller Lebensbereiche Anerkennung fand. Sie kollidiert in Ländern anderer Kulturzugehörigkeit mit dem Wahrheitsanspruch der Religion, die weithin noch immer gesellschaftliche Strukturen prägt und Orientierung zu geben vermag. Aber auch an der Geschichte des Rechts auf Meinungsfreiheit lässt sich die spezifisch europäische Ausformulierung eines zentralen Menschenrechts beobachten. Entstanden aus dem Recht auf freie Rede i m englischen Parlament, behielt das Recht auf Meinungsfreiheit lange Zeit eine politische Orientierung, die mit der konstitutionellen Bewegung West- und Mitteleuropas eng verbunden w a r 5 0 . Meinungsfreiheit ist also, wie das Bundesverfassungsgericht einmal sagte, „schlechthin konstituierend" für den demokratischen Verfassungsstaat 51 , damit aber auch an dessen Verbreitungsgebiet gebunden. Andere politische Systeme, so tadelnswert sie sein mögen, zeigen häufig wenig oder kein Verständnis für politische Meinungsvielfalt. Faktisch ergibt sich so eine unübersichtliche Topographie dieses Menschenrechts, das zwar nicht unbedingt mit bestimmten geographischen Räumen zu verbinden ist, wohl aber mit der politischen Kultur des westlichen Verfassungsstaates.
48 D. Willoweit, Die Veräußerung der Freiheit. Über den Unterschied von Rechtsdenken und Menschenrechtsdenken, in: H. Bielefeldt/W. Brugger/K. Dicke (Hrsg.), Würde und Recht des Menschen. Festschrift für Johannes Schwartländer zum 70. Geburtstag, 1992, S. 255 ff. 49 J. Schwartländer, Einleitung, in: ders., Menschenrechte. Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, 1978, S. 9 ff. (15); H. Ryffel, Zur Begründung der Menschenrechte, ebenda., S. 55 ff. 50 J. Schwartländer/D. Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit - Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, 1986, insbes. G. Stourzh, Die Entwicklung der Rede- und Meinungsfreiheit im englischen und amerikanischen Rechtsraum, ebenda., S. 121 ff., Wiederabdruck in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989, S. 175 ff. 51 BVerfGE 7, 198 ff.
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I I I . Bedingungen staatenübergreifender Rechtsbildung Die Beobachtung, dass die Geschichte des Rechts nicht nur als Selbstverwirklichung ethnisch-nationalen Rechtsdenkens und als Differenzierungsprozess unterschiedlicher Rechtskreise verstanden werden darf, sondern staatenübergreifend von sozialethischen Bestrebungen und ökonomischen Kräften vorangetrieben wird, wäre vielleicht nicht weiter bemerkenswert, wenn sich die einzelnen Fakten in eine lineare Evolutionsgeschichte des Rechts einordnen ließen. Das ist aber schwerlich der Fall. Es gab und gibt zweifellos regionale Verwerfungen, deren Ursache in den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Rechtsbildung zu suchen sein dürfte. Zu berücksichtigen ist insofern die Möglichkeit und das Maß der rechtspolitischen Kommunikation über Herrschafts- und Staatsgrenzen hinweg, der Einfluss der von Sprache, Religion und Sozialstruktur geprägten Kulturen, schließlich natürlich auch die jeweiligen VerfassungsVerhältnisse und die Aktivitäten der politischen Machthaber. Es lohnt, sich diese Bedingungen für die Entstehung von Rechtsräumen kurz zu vergegenwärtigen. Von ihnen hängen Unterschiede ab, die sich anders als durch den Begriff des Raumes kaum beschreiben lassen. Was ich als rechtspolitische Kommunikation bezeichnen möchte, ist die für alle vormodernen Gesellschaften charakteristische Tatsache, dass die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Übernahme fremder, neuer, vielleicht hilfreicher Rechtsgedanken begrenzt ist, zum einen durch das schlichte Faktum schwer zu überwindender geographischer Distanzen, zum anderen wegen der traditionalen Struktur des eigenen Rechts, die Änderungen nur allmählich und schrittweise zulässt. Daher ist die Geschichte Europas, wie Peter Moraw in jüngerer Zeit richtig betont hat, durch unterschiedliche Entwicklungstempi i m Süden und Westen, in seiner Mitte und im Osten geprägt 5 2 . Dass die Westgoten eine hoch entwickelte Gesetzgebung besaßen, hat den Ostfranken wenig genützt - sie kehrten nach einer Phase intensiver Experimente mit der Schriftlichkeit lieber zu mündlichen Rechtsverfahren zurück. Die relative Modernität des sizilianischen Königreichs unter Kaiser Friedrich II. hat das unter demselben Herrscher lebende regnum teutonicum nicht nachhaltig beeinflussen können. Die Reichweite von Rechtsgedanken war i m Mittelalter ebenso begrenzt wie die Kenntnis ferner geographischer Räume. I m 19. Jahrhundert erfasst der rechtspolitische Diskurs und damit auch das Kommunikationsnetz nicht nur problemlos ganz Europa, sondern bald auch den atlantischen Raum. Der nächste Schritt zur weltumspannenden Kommunikation wurde i m 20. Jahrhundert getan. Das Spektrum der davon betroffenen Rechtsinstitute scheint unübersehbar. Und doch finden sich in vielen Staaten der so genannten Dritten Welt Völker mit Stam-
52 P. Moraw; Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter, in: U. Bestmann/F Irsigler/J. Schneider (Hrsg.), Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, Bd. 2, 1987, S. 583 ff.; ders., Neue Ergebnisse der deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, in: Lectiones eruditorum extraneorum in facultate philosophica universitatis Carolinae Pragensis factae, Fasciculus 2 (1993), S. 29 ff. 2*
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messtrukturen, deren Rechtsdenken sich gegenüber dem vom Staat ausgehenden Modernisierungsdruck widersetzt 5 3 . Erfolgreiche rechtspolitische Kommunikation setzt offenbar ein Mindestmaß gemeinsamen Gesellschaftsverständnisses voraus, zu dem mehr als die Anerkennung einer Staatsgewalt gehört. Ernster als noch vor zehn Jahren werden heute selbst für die Gegenwart die Grenzen zwischen den Kulturen eingeschätzt. Die These des amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington, nicht eine universale Kultur sei i m Entstehen begriffen, vielmehr habe sich heute ein Nebeneinander von etwa acht Kulturräumen etabliert, setzt voraus, dass technologische Modernisierung und selbst die zunehmende Intensivierung von Handelsbeziehungen nicht in der Lage sind, eine Angleichung der Kulturen herbeizuführen 54 . Wenn Huntington vom westlichen Kulturkreis schon den lateinamerikanischen und den russischen unterscheidet, erst recht den japanischen, chinesischen, hinduistischen, islamischen und afrikanischen, dann wird man nur über die Zuordnung einiger weniger Länder wirklich streiten und i m übrigen höchstens einwenden können, dass Kulturzugehörigkeit immer auch eine Sache des sozialen Status ist. Das Gewicht der Kulturen in den einzelnen Gesellschaften lässt sich nicht leugnen und eine Aussicht, dass Technologie und Ökonomie ein höheres Maß an Einheit stiften, mit guten Gründen nicht behaupten. Wenn dies aber der Stand der Dinge ist, dann spricht auch nichts für das unaufhaltsame Fortschreiten einer globalen Rechtsvereinheitlichung. Recht bleibt an die bestehenden Kulturräume gebunden und ist allenfalls in der Lage, sie durch das notwendige Maß vertragsrechtlicher Regelungen miteinander zu verbinden. Verschmelzen könnten Kulturräume nur, wenn ihnen ein vergleichbares Wertesystem und kompatible Sozialstrukturen zugrunde lägen, was i m Verhältnis zum Westen sicher nicht der Fall ist, wenn die Frauenemanzipation prinzipiell abgelehnt oder ein Kastensystem religiös begründet wird. Auch Huntingtons weitere Beobachtung, dass in der Gegenwart internationale Konflikte vor allem an den Bruchlinien zwischen den Kulturräumen entstehen 55 , ist von beklemmender Richtigkeit. Sie kann aus der Sicht der Kriegsforschung nur bestätigt werden: Obwohl Kriege in der Geschichte überwiegend um das bessere Recht oder um die richtige religiöse, politische, weltanschauliche oder soziale Ordnung geführt wurden, waren sie jederzeit aus beliebigem Anlass möglich zwischen Mächten ohne gemeinsame Kultur und Rechtsordnung 56 . Die fortdauernde Eigenständigkeit und
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Vgl. dazu mehrere Beiträge bei W. Fikentscher (Hrsg.), Begegnung und Konflikt - eine kulturanthropologische Bestandsaufnahme - (Bayer. Ak. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Abh. n. F., Heft 120), 2001, insbesondere M. O. Hinz, Gerechtigkeit und Rechtssystem. Konflikt und Konfliktlösung in der Begegnung von Tradition und Moderne - eine Interpretation zweier höchstrichterlicher Urteile, S. 158 ff. und B. Turner, Die Persistenz traditioneller Konfliktregelungsverfahren im Souss (Marokko), S. 187 ff. Beispiele dieser Art ließen sich bei konsequenter Sichtung der rechtsethnologischen Literatur ganz erheblich vermehren. 54 S. P. Huntington, Der Kampf der Kulturen, 1996 (engl. The Clash of Civilizations), S. 49 ff., 76 ff. u. passim. 55 Huntington, Kampf (Fn. 54), S. 291 ff.
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Bestandskraft der Kulturen aber beschränkt Tendenzen der Rechtsangleichung oder Rechtsvereinheitlichung von vorneherein auf bestimmte Räume. Zu den Bedingungen staatenübergreifender Rechtsbildung gehören nicht zuletzt auch ähnliche Verfassungsverhältnisse oder - in älterer Zeit - vergleichbare Herrschaftsstrukturen. Solange Staatlichkeit erst i m Entstehen ist, setzt sie gesellschaftlicher Rechtsbildung und Rechtsausbreitung keinen oder nur wenig Widerstand entgegen, gehen die Träger der politischen Macht doch selbst noch davon aus, dass Recht etwas ist, was von Generation zu Generation übernommen und fortgebildet wird. Als Kaiser Friedrich II. 1226 dem Deutschen Orden gestattete, im zu erobernden Preußen gute Gewohnheiten einzuführen und „statuta facere", da setzten die Ordensritter diese Ermächtigung 1233 in der Kulmer Handfeste um, indem sie die Bürger auf das allein Schöffen anvertraute Magdeburger Recht verwiesen 5 7 . M i t der Durchsetzung des Gesetzgebungsstaates als Herrn der Rechtsordnung haben sich die Vorbedingungen staatenübergreifender Rechtsbildung insofern grundlegend gewandelt, als nunmehr ein konstitutioneller Verfassungstyp gegeben sein muss, wenn gesellschaftlich nützliche rechtspolitische Innovationen Verbreitung finden sollen. Denn nur dann kann sich das gesellschaftliche Bedürfnis in parlamentarischen Verhandlungen und Entscheidungen Gehör verschaffen. Dies ist j a i m 19. und 20. Jahrhundert in der Tat die Situation in Europa und in beiden Amerika gewesen, auch in Japan und gelegentlich anderswo: Es gab unterschiedliche Formen politischer Partizipation, also Mechanismen der Transformation gesellschaftlicher Bedürfnisse in den Regierungs- und Entscheidungsapparat und damit Einflussnahme auf die Gesetzgebung. In den Diktaturen des 20. Jahrhunderts fehlte es an dieser Voraussetzung, so dass die Rechtsordnung - soweit sie nicht überhaupt öffentlich-rechtlich organisiert wurde - gesellschaftlich begründeten Rechtswandel über die Grenzen hinweg so gut wie überhaupt nicht zuließ. I m günstigsten Falle konnte die Diktatur die schon zuvor erreichte Modernität der Rechtsordnung nicht nachhaltig schädigen, weil sie bald wieder verschwand. Solange aber das Recht der jederzeitigen Disposition eines unbeschränkt regierenden Machthabers unterworfen ist, wird es innerhalb der staatlichen Grenzen wie in einem Käfig abgeschüttet. Erst wenn eine solche Situation eintritt, kann sich auch unter den Bedingungen des staatlichen Rechtssetzungsmonopols staatenübergreifende Rechtsbildung nicht mehr entwickeln.
56 D. Willoweit, Über die Unvermeidlichkeit des Krieges, in: W. Böhm/M. Lindauer (Hrsg.), Welt ohne Krieg?, 11. Würzburger Symposium der Universität Würzburg, 2002. 57 L. Weinrich, Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, 1977 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Fr.-v.-Stein-Gedächtnisausgabe, Band 32), Nr. 104 u. 115.
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I. Räume Europa war geteilt. Selbstverständlich, wird der Leser denken. Und warum war? Es soll doch erst zusammenwachsen. Die Trennungslinie von der hier die Rede sein soll, ist jedoch bereits überwunden. A m bekanntesten ist sie als eine Grenze, die das mittelalterliche und frühneuzeitliche Frankreich in die Gebiete des droit écrit einerseits, die der coutume(s) andererseits teilte. Ehedem näher an der Loire liegend, folgte sie schließlich einer gedachten Linie von der Ile d'Oléron quer durch die Auvergne und setzte sich, auch Burgund teilend, bis zum Genfer See fort. In dieser Führung entspricht sie „ i n etwa der Sprachgrenze zwischen dem Französischen und dem Occitanischen" 1 . Die occitanische oder provencalische Sprache ist das dem Katalanischen nahe verwandte Südfranzösisch. Seine Blütezeit hatte es i m 12. und 13. Jahrhundert als europaweit strahlende Sprache der Troubadoure. Seit dem 14. Jahrhundert wurde das Occitanische als Schriftsprache allmählich durch das Nordfranzösisch verdrängt 2 . Die Verschiebung von Sprachgrenzen sowie Aufstieg und Niedergang des Minnesangs legen die Annahme nahe, dass es sich auch bei der Grenze zwischen geschriebenem Recht und i m Prinzip schriftlosen Rechtsgewohnheiten um eine Kulturerscheinung handelt. Was als selbstverständlich erscheinen könnte, wird hier ausformuliert, um nicht irgendwann einer platten Unterscheidung nach Ethnien aufzusitzen - hier Germanen, dort Romanen. Sprache, Kunst und auch Recht sind in erster Linie Kulturerscheinungen, hinter denen dann auch, in unterschiedlichen Mischungen, Brechungen und Formungen ethnische Faktoren Einfluss nehmen mögen. Die Frankreich in ein nördliches und ein südliches Rechtsgebiet teilende Linie hat am Genfer See zwar Frankreich verlassen, sie ist deshalb aber nicht beendet. Sie springt vielmehr über die Alpengipfel, jetzt wohl weniger geradlinig als zuvor, man denke nur an Churrätien und Südtirol, über Trient hin nach Kärnten und in die südliche Steiermark 3 . Die Grenze zwischen Schriftrecht und ungeschriebenen 1 D. Anex-Cabanis, Französisches Recht, in: Lexikon des Mittelalters (LexMA), Band IV, 1989, Sp. 847 ff.; ferner / Gilissen, Indroduction historique au droit, 1979, S. 165, 241. 2 Meyers Konversationslexikon, 5. Aufl. 1897, Band 14 s.v. Provenzalische Sprache und Litteratur.
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Rechtsgewohnheiten, zwischen droit écrit und coutume, um bei den französischen Wörtern zu bleiben, erweist sich damit als eine Grenzlinie in Europa 4 . Geschieden sind aber nicht einfach römisch und germanisch, sondern auch römisch und slawisch, römisch und ungarisch, römisch und finnisch. Die „Provinz des schriftlosen Rechts" ist also das Land der Barbaren, der „geschichtslosen Völker" 5 , der transalpine Raum i m Gegensatz zum mediterranen. Transalpin jedenfalls dann, wenn wir uns - wie es hier geschehen soll - auf das westliche Mittelalter beschränken, also die länger staatlich organisiert fortbestehende, doch den Westen nur noch punktuell erreichende oströmisch-byzantinische Tradition außen vor lassen. Diesseits und jenseits der Linie bildeten sich i m Prinzip geschlossene, einheitlich gestaltete Rechtsräume aus. Exklaven und Enklaven sind allenfalls zeitweilig auszumachen. Gebiete mit überdurchschnittlich ausgeprägter Schriftlichkeit waren nördlich der Alpen - auch i m Recht - Irland, Wales und die Königreiche der Angelsachsen 6 . Doch bleibt auch hier die Frage nach der Qualität des Schriftrechts: Aufzeichnung des Rechts 7 oder Gesetz? I m Süden erweist sich die fortwirkende Gestaltungskraft des römischen Kulturbodens. Germanische Völker, bei ihrem Eintritt in die römische Welt sicherlich nicht ausgeprägt schriftkundig, also vornehmlich Ost- und Westgoten, Burgunder und schließlich die Langobarden, wurden zwar nicht Romanen, aber sie anverwandelten sich die Grundlagen der in den von ihnen besiedelten Gebieten stabilen Schriftkultur auch i m Recht. Von den wichtigsten Merkmalen dieser Anverwandlung wird sogleich die Rede sein. Zuvor aber muss auf die aus Völkerwanderung und Niedergang des weströmischen Reiches resultierende Abflachung des Niveaus der Schriftlichkeit auch in Südeuropa hinge3 K. G. Hugelmann, Die Rechtsstellung der Slowenen in Kärnten im deutschen Mittelalter, in: Abhandlungen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Adolf Zycha zum 70. Geburtstag, 1941, S. 233 ff. (235). 4 J. Weitzel, Die Konstituierung der Gemeinde aus der Rechtstheorie, in: P. Blickle (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa, 1996, S. 163 ff. (168, 172 ff., 176 ff.); ders., Versuch über Normstrukturen und Rechtsbewusstsein im mittelalterlichen Okzident (450-1100), in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewusstsein, 1997, S. 371 ff. (376 f.). 5 Vgl. K. Zach, Uberlieferung, Quellen und Historiographie. Zur Geschichte der Deutschen Ostmittel- und Südosteuropas bis zur Frühneuzeit, in: G. Grimm/K. Zach (Hrsg.), Die Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa, Band 2, 1996, S. 45 ff. (47 f.) zur Bedeutung der Schriftlichkeit für das Selbstverständnis der Nachfahren in der mediterranen Tradition. 6 P. Wormald, The Making of English Law: King Alfred to the Twelfth Century, Vol. I: Legislation and its Limits, 1999; ders., „Inter cetera bona ... genti suae": Law-making and Peace-keeping in the earliest English Kingdoms, in: La giustizia nell' alto Medioevo (= Settimane di studio de Centro Italiano di studi sull' alto Medioevo, Band XLII, tomo secondo), 1995, S. 963 ff.; A. Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100-1500, 2. Aufl. 1996, S. 337 ff.; E. Kaufmann, Angelsächsisches Recht, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band I, 1971, Sp. 168 ff. 7 Zur Problemstellung: H. Krause, Aufzeichnung des Rechts, in: HRG I (Fn. 6), Sp. 256 ff.; ferner H. Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: HZ 233 (1981), S. 571 ff.; dies., Gesetzgebung und Schriftlichkeit. Das Beispiel der angelsächsischen Gesetze, in: Hist. Jahrbuch 99 (1979), S. 28 ff.; M. Prosser, Spätmittelalterliche ländliche Rechtsaufzeichnungen am Oberrhein zwischen Gedächtniskultur und Schriftlichkeit, 1991.
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wiesen werden. Das Eindringen germanischer Volker, der Verlust stabiler staatlicher Ordnung, der Niedergang der professionellen Juristenausbildung und das generelle Absinken des Bildungsniveaus ließen das Recht in einer weniger wissenschaftlichen, weniger begrifflich präzisen, weniger gut verwalteten und schließlich auch in einer weniger autoritativen, in seiner Geltungskraft als Rechtsbefehl geschwächten Form zurück. Man hat das Recht dieses spätantik-frühmittelalterlichen Ubergangs seit Ernst Levy s Osloer Vortrag von 1928 als weströmisches „Vulgarrecht" bezeichnet 8 . Wenn man inzwischen diese Charakterisierung in Frage stellt, so bleibt dies doch hinsichtlich der gerade aufgeführten wesentlichen Merkmale der Verflachung ohne Bedeutung. Als wirkungsmächtiger Stabilisierungsfaktor der Schriftkultur überhaupt und damit auch des Schriftrechts erwies sich im Laufe des Mittelalters die christliche Kirche. Als eine der großen Buchreligionen war sie dem Gebrauch und der Pflege der Schrift existenziell verbunden 9 . Sie war zugleich Rechtskirche, hatte wesentliche Elemente ihrer Organisation und ihres Rechtsverständnisses aus dem spätantiken Staatswesen übernommen. Als europaweit wirkende Kirche verklammerte sie den Süden und den Norden des Kontinents. Für den transalpinen Raum war sie über mehrere Jahrhunderte hin nahezu die einzige Trägerin von Schriftlichkeit. Nur noch Kleriker waren Schreiber (clercs). Was die Schriftform des Rechts angeht, sind allerdings auch innerhalb der Kirche Bedeutungsverluste nicht ausgeblieben 10 . U m 1140 konnte der in Bologna wirkende Mönch Gratian, der Verfasser des Dekrets, die lex nur noch als consuetudo in scriptis redacta verstehen. Allerdings gewann die Kirche danach binnen weniger Generationen, nämlich i m ersten Drittel des folgenden Jahrhunderts, das Verständnis des Gesetzes als eines allgemeine Geltung beanspruchenden Rechtsbefehls zurück 1 1 .
8 G. Sandvik, Eine Fernwirkung von Ernst Levys Osloer Vortrag 1928?, in: Deutsch-norwegisches Stipendienprogramm für Geschichtswissenschaften. Bericht über das 8. dt.-norw. Historikertreffen in München, Mai 1995. Rechtsgeschichte, 1997, S. 24 ff.; K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 1: bis 1250, 11. Aufl. 1999, S. 50 ff. 9 Vgl. etwa J. Eckert/H. Hattenhauer (Hrsg.), Bibel und Recht, 1994; H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1994, S. 105 ff. (Die Christianisierung des Rechts). 10
M.-J. Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Gebiet, 1957; J. Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, 1985, S. 1086 ff.; ders., Versuch (Fn. 4), S. 378 f.; G. Dolezalek, Scriptura non est de essentia legis, in: Diritto commune e diritti locali nella storia dell' Europa. Atti del convegno di Varenna (12.-15. 6. 1979), 1980, S. 49 ff. 11 P. Landau, Die Durchsetzung neuen Rechts im Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts, in: G. Melville (Hrsg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, 1992, S. 137 ff.; S. Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, 1960; H. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1995.
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II. Abgrenzungen Das Medium, in dem Recht in die Erscheinung tritt, hier also das gesprochene Wort oder aber die Schrift, prägt das Recht in grundlegender und vielgestaltiger Weise 1 2 . Die Schriftform leistet die Verstetigung und Bewahrung von Regeln und Absprachen durch deren Vergegenständlichung. Indem das Recht als Text von den es tragenden Personen ablösbar und der massenhaften Verbreitung zugänglich wird, dient es der Darstellung und Intensivierung von Herrschaft. Schriftlichkeit ermöglicht Gesetzgebung und Rechtsvereinheitlichung. Die Schriftform führt verbesserte Beweis- und Publizitätsfunktionen herauf. Sie erweitert das menschliche Gestaltungspotential auch in außerherrschaftlichen Lebensbereichen. Ohne die Schrift als einem Außenspeicher für Gedächtnisinhalte gibt es keine Wissenschaft vom Recht. Gesetztes, wissenschaftlich vermitteltes und bearbeitetes Recht führt zu spezifischen Formen der Rechtsprechung. Die hiermit aufgeführten Ausprägungen der Schriftlichkeit im Recht sind weder abschließend gemeint, noch ist mit der Aufzählung die große Vielfalt der Wechselbezüglichkeiten der genannten Funktionen und ihrer Verschränkungen mit anderen Kulturelementen auch nur ansatzweise bezeichnet. Im Süden Europas bestand zwischen Antike und Mittelalter nicht nur allgemein ein höherer Grad der Verschriftlichung fort. Die Antike wirkte auch hinsichtlich des Verständnisses von Schriftrecht als Gesetz oder zumindest als autoritativer, textgebundener Handlungsanweisung lange Zeit fort. Der im Schrifttext eingefangenen Autorität des Rechts entsprach ein Gerichtsverfahren, das römischen Traditionen folgend vor einem urteilenden Richter und ihn beratenden Beisitzern stattfand. Daneben existierten das Notariat, ein entfaltetes Urkundenwesen und bescheidene Formen des Rechtsunterrichts sowie der Bearbeitung von Rechtstexten fort 1 3 . Gerade die Langobarden erwiesen sich insoweit als gelehrige Schüler der Antike. Im ansonsten so dunklen 10. Jahrhundert lassen sich die Anfänge der Rechtsschule von Pavia ausmachen 14 . So nimmt es nicht wunder, dass gerade von Italien aus im 12. Jahrhundert die Renaissance auch der Rechtswissenschaft ihren Anfang nahm 1 5 . Der Charakter der „transalpinen Provinz des schriftlosen Rechts" soll anhand der Entwicklungen von Gesetzgebung und Rechtsprechung noch etwas stärker ausgeleuchtet werden. Das Bild wird um so mehr beeindrucken, als nunmehr südlich >2 J. Weitzel, Schriftlichkeit und Recht, in: H. Günther/O. Ludwig, Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, 1. Halbband, 1994, S. 610 ff.; ders., Versuch (Fn. 4), S. 378 f. 13 Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 53, 140 ff., 152; Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 268, 331 ff., 1118 ff., 1129. 14 C. Radding, The Origins of Medieval Jurisprudence: Pavia and Bologna 850-1150, 1988; G. Dilcher, Langobardisches Recht, in: A. Erler /E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band II, 1978, Sp. 1607 ff. is Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 237-240.
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wie nördlich der gedachten Linie die Verhältnisse germanischer Völkerschaften in Rede stehen. Es geht also um die höchst unterschiedliche Fähigkeit germanischer Ethnien, sich die Traditionen des römischen Staats- und Rechtswesens anzueignen. I m Süden entwickelten vornehmlich die Westgoten und die Langobarden die Fähigkeit zur Gesetzgebung. Sie zeichneten nicht nur ihr überkommenes Stammesrecht auf, ließen nicht nur Auszüge und Erläuterungen zum umlaufenden römischen Recht herstellen, sondern es erließen ihre Könige auch Gesetze 16 . Der autoritative Charakter ihrer Rechtssatzungen erweist sich darin, dass sie das Recht in befehlender und methodisch sinnvoller Weise fortbildeten, dass sie für die Authentizität dieser Neuerungen und des Schriftrechts überhaupt Sorge trugen, dass ζ . B. älteres Recht für unwirksam erklärt, ältere Gesetzbücher eingezogen wurden. Nicht zuletzt kennen Urteile der mediterranen Gebiete nachvollziehbare Zitate und Verweisungen auf Rechtstexte. Für Italien bestand auf dieser Grundlage die Fähigkeit der römischen Kaiser zur Gesetzgebung und zum unter Beirat selbsturteilenden Richtertum während des Mittelalters prinzipiell fort. Nördlich der Alpen lagen bei den Franken, Alemannen, Bayern, Sachsen und vielen anderen Stämmen mehr die Dinge anders 17 . Zwar schrieb man auch dort das Recht nach römischem Vorbild seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert in den Leges, den Stammesrechten, auf, doch konnten Belege für die praktische Anwendung dieser Texte, insbesondere i m gerichtlichen Verfahren, bislang nicht beigebracht werden. Hinweise auf die Lex Salica oder die Lex Alamannorum in Urkunden waren zu den einschlägigen Normtexten nicht sinnvoll in Beziehung zu setzen, meinten also die ungeschriebenen Rechtsgewohnheiten. Die Merowingerkönige statuierten in Dekreten und Edikten, die sich mit den Leges-Texten verbanden, doch fehlt auch für sie der Nachweis der Effektivität der Regelungen. Etwas besser steht es insoweit mit den Kapitularien der Karolinger 1 8 , die aber zum größeren Teil des abstrakt-allgemeinen Regelungsgehalts entbehren, insoweit also nicht Gesetz, sondern konkrete Handlungsanweisungen für die Königsboten sein wollen. In den 16 Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 29 f., 35 f., 38; H. Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter, 1972; ders., Zur Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen Rechtsaufzeichnungen, in: P. Classen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter (=VuFXXIII), 1977, S. 449 ff.; C Schott, Traditionelle Formen der Konfliktlösung in der Lex Burgundionum, in: La giustizia nell' alto Medioevo (Fn. 6), S. 933 ff., 941 ff., 959 ff.; H. Nehlsen, Lex Visigothorum, in: HRG II (Fn. 14), Sp. 1966 ff. 17 Nehlsen, Aktualität (Fn. 16); C. Schott, Zur Geltung der Lex Alamannorum, in: P. Fried/W.-D. Sick (Hrsg.), Die historische Landschaft zwischen Lech und Vogesen, 1988, S. 75 ff. (89 ff.); ders., Der Stand der leges-Forschung, in: Frühmittelalterliche Studien 13 (1979), S. 29 ff.; G. Dilcher, Gesetzgebung als Rechtserneuerung. Eine Studie zum Selbstverständnis der mittelalterlichen Leges, in: H. Becker u .a. (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, 1976, S. 13 ff. !8 Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 81 f. ; F. L. Ganshof, Contribution à l'étude de l'application du droit romain et des capitulaires dans la monarchie franque sous les Carolingiens, in: Studi di onore di E. Volterra, Band 3, 1971, S. 583 ff.; O. Guillot, Le duel judiciaire: du champ légal (sous Louis le Pieux) au champ de la pratique en France (Xle siècle), in: La giustizia (Fn. 6), Band XLIV, 1997, S. 715 ff.
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transalpinen Räumen wurden die Gesetzes- und Rechtstexte nicht hinreichend gesichert und verwaltet. Die Kanzleien am fränkischen Königshof und Königsgericht verfügten offensichtlich nicht über authentische Textzeugen. Die Karolinger und die weltlichen Großen ihres Reiches konnten weder lesen noch schreiben. Selbst die Kapitularien des 9. Jahrhunderts waren, als man ihrer am Hofe einmal in größerer Zahl bedurfte, nur in privaten Sammlungen, die ebenfalls nicht als vollständig erachtet werden können, greifbar. Auch von der Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens her wurden grundsätzlich berechtigte Einwände gegen einen Geltungsanspruch von Rechtstexten vorgetragen. Angesichts der Mündlichkeit des Prozesses und der Urteilsfindung durch kriegstüchtige, aber schriftunkundige Großbauern, fehle die Fähigkeit der Beteiligten zur „Anwendung einer Norm auf einen Sachverhalt", also zur Subsumtion, und damit mache das Nachschlagen i m Rechtsbuch keinen Sinn 1 9 . Konsequent hat denn kürzlich Karl Kroeschell den Rechtsquellencharakter der transalpinen Leges und den Gesetzescharakter der Kapitularien in Frage gestellt 2 0 . Angesichts solcher Einschätzungen bleibt freilich die Frage, warum überhaupt die Könige nördlich der Alpen und der Loire das Recht gelegentlich und teilweise aufzeichnen ließen. Sicher ist jedenfalls, dass schon der Aufzeichnungsvorgang als solcher unter dem Einfluss der römischen Schrift- und Rechtskultur steht. I m Übrigen dürfte es sich bei den einschlägigen Rechtstexten zu einem kleineren Teil um erfolglose Gesetzgebungsbemühungen, zum größeren Teil um eine Verschriftlichung von Recht mit symbolischer Bedeutung handeln. „ A l s Gesetzgeber stellte sich der germanische Herrscher sichtbar in die Tradition der römischen Kaiser oder gar des biblischen Moses". Der Herrscher wurde so zum „Rechtskönig", sein Volk zu einem „Rechtsvolk", wie es die bewunderten Römer waren. Auch ein allgemeines Informations- und Bildungsinteresse hinreichend schriftkundiger oder über Vorleser verfügender Kreise an Welterklärung und Recht wird ins Feld geführt 2 1 . In diesem Sinne einer allgemeinen, eher gutachtenden als forensisch-konkreten Argumentationskultur wurden im 9. Jahrhundert von Klerikern, die kundige Kanonisten waren, Rechtstexte unterschiedlicher Provenienz gesammelt, durch einfache Hilfsmittel inhaltlich erschlossen und dergestalt mit ihnen gearbeitet. „Dabei stand man aber erst am Anfang des Weges zu einem geschulten, professionellen Umgang mit dem Schriftrecht" 2 2 .
19 Schott, Geltung (Fn. 17); Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 38. 20
K. Kroeschell, Recht. A. Allgemeine Darstellung, Westlicher Bereich, in: Lexikon des Mittelalters (LexMA), Band VII, 1995, Sp. 510 ff.; ders., Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 72 f. 21 C. Schott, Lex Alamannorum. Text - Übersetzung - Kommentar, 1993, S. 1 ff., 22 ff.; Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 38 (Zitat). 22 H. Siems, Textbearbeitung und Umgang mit Rechtstexten im Frühmittelalter. Zur Umgestaltung der Leges im Liber legum des Lupus, in: ders. u. a. (Hrsg.), Recht im frühmittelalterlichen Gallien. Spätantike Tradition und germanische Wertvorstellungen, 1995, S. 29 ff. (77).
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Die Auffassung von der normativen Bedeutungslosigkeit der transalpinen leges scriptae ist, auch dies muss gesagt werden, nicht gänzlich unbestritten. Es gibt einige Forscher, Historiker wie Rechtshistoriker, die von der Vorstellung, dass ein sich als Gesetz gebender Rechtstext auch ein Gesetz sein müsse, nicht lassen mögen. Auch dann nicht, wenn es in der Lebenswelt dieser Texte materiell und ideell an allen Voraussetzungen fehlt, die einen sich normativ gebenden Text oder geschriebenes Recht zum Gesetz werden lassen. Teilweise spielen hier Erfahrungen aus anderen als dem fränkisch-deutschen Rechtsbereich eine Rolle, die derzeit aus deutscher Sicht noch nicht eindeutig beurteilt werden können. Dies meint vornehmlich die Leges der Angelsachsen mit denkbaren Ausstrahlungen in das dänische Reich und die Einschätzung des fränkischen Schriftrechts durch einige britische Forscher 23 . Teilweise haben wir es aber auch mit fehlendem Problembewusstsein und mangelnder Kenntnis des europäischen Forschungsstandes zu tun. Dies ist ζ . B. der Fall, wenn noch in einem französischen Lehrbuch des Jahres 1994 zu lesen steht, es sei den Rachinburgen zugekommen, für jeden zu entscheidenden Fall das zur Anwendung kommende Gesetz zu lesen und das Urteil entsprechend dem Gesetz zu geben 2 4 . Ein weites Forschungsfeld also schon i m Frühmittelalter und eine erst ansatzweise europäisch gestimmte Frühmittelalterforschung zum Recht dieser Epoche! Nach alledem spricht einiges für die Richtigkeit der Auffassung, dass in Deutschland und prinzipiell im gesamten transalpinen Europa vor dem Ende des 12. Jahrhunderts das Gesetz völlig fehlte 2 5 . Ja, es fehlte in den nördlichen und östlichen Teilen dieses Raumes vor der Mitte des 12. Jahrhunderts an geschriebenem weltlichen Recht schlechthin. Denn bekanntlich sind für Skandinavien, die baltischen Gebiete, Polen, Böhmen, Mähren, Ungarn und Altrussland umfangreichere Schriftzeugnisse des Rechts überhaupt erst seit dieser Zeit überliefert 2 6 . Rechtssammlungen und Rechtsbücher gehören in manchen Gebieten sogar erst dem 14. und 15. Jahrhundert a n 2 7 . Zuvor aber lebten die Völker all dieser Räume nach ungeschriebenen Rechtsgewohnheiten.
23 R. McKitterick, Some Carolingian Law Books and their Function, in: B. Tiernay/ P. Linehan (Hrsg.), Authority and Power. Festschrift für Walter Ullmann, 1980, S. 13 ff.; dies., The Carolingians and the written Word, 1989; dies. (Hrsg.), The Uses of Literacy in Early Medieval Europe, 1990; W. Sellert, Aufzeichnung des Rechts und Gesetz, in: Das Gesetz in Spätantike und frühem Mittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften, Göttingen, 3. Folge Nr. 96), 1992, S. 67 ff. 24 O. Guillot, I: Des origines à l'époque féodale, in: ders./A. Rigaudière/Y. Sassier, Pouvoirs et institutions dans la France médiévale, 1994, S. 79 f. - Rachinburgen heißen die Urteiler im sogenannten merowingischen Volksgericht. 2 5 Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 151 f. 26
Mit Ausnahme der vorerwähnten angelsächsisch-dänischen Tradition. Die Russkaja Pravda stammt zu Teilen aus dem 11. und 12. Jahrhundert, die überkommenen Handschriften setzen jedoch erst Ende des 13. Jahrhunderts ein. Vgl. H. Poppe, Russkaja Pravda, in: LexMA VII (Fn. 20), Sp. 1121 f. 27 L. Burgmann, Recht. B. Rechte der Länder Ost- und Südosteuropas, in: LexMA VII (Fn. 20), Sp. 513 ff.
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Wenn dann seit der Mitte des 12. Jahrhunderts i m Gefolge der wieder entdeckten Digesten und des Dekrets Gratians in Form der Rechtsbücher 28 und früher lokaler wie königlicher Gesetzgebungen eine zweite Welle der Verschriftlichung von Recht Europa erfasst, so zeigt dies zunächst einmal, dass die Stammesrechte außer Übung gekommen waren und ungeschriebene Rechtsgewohnheiten auch in Süd-, West- und Mitteleuropa sowie in der Kirche zwischenzeitlich an Bedeutung gewonnen hatten. I m Hinblick auf alle diese neuen Normtexte stellt sich nun erneut diesmal i m gesamten europäischen Raum - die bereits für die Stammesrechte und Kapitularien erörterte Frage nach Umfang und Grund ihrer autoritativen Geltung. Wo haben wir es mit gesammelten Einzelentscheidungen, also mit einer Art case law, wo mit der Aufzeichnung von Recht, also vornehmlich sogenannten Rechtsbüchern, wo mit Gesetzgebung zu tun? Und unter welchen Bedingungen konnte aufgezeichnete, zuvor mündlich geübte Gewohnheit die Geltung als Gesetz gewinnen 2 9 ? Ich denke, dass diese Fragen, angesichts der Vielzahl der i m Europa des 13. und 14. Jahrhunderts produzierten normativen Texte noch lange nicht geklärt sind. Dies trotz mancher Arbeiten zur Geschichte der Gesetzgebung 30 . Denn der Begriff des Gesetzes wirft schwierige Probleme auf, wobei es entscheidend darauf ankommt, welche Kriterien man hinsichtlich der Abgrenzung zum ungesetzten Recht für aussagekräftig und unterscheidungsrelevant erachtet. Es stimmt zwar, dass „die Aufzeichnung des Rechts jedenfalls nicht mit Rechtssetzung zu verwechseln" i s t 3 1 . Doch hat dies auch für die „amtliche" Aufzeichnung von Recht zu gelten soweit diese eben nur Aufzeichnung und nicht Setzung von Recht ist. Hinreichende Kriterien für Rechtssetzung/Gesetzgebung müssen also - möglichst einvernehmlich - erst einmal benannt werden. A n diesem Einvernehmen fehlt es bislang. Dem heutigen Gesetzesbegriff genügt jedenfalls erst die Unterscheidung zwischen Anwendungs- und Inhaltsbefehl sowie das Fehlen der Vorstellung, dass das inhaltlich
28 Definiert als „private", jedenfalls nicht königlich-amtliche Aufzeichnungen der Rechtsgewohnheiten. Vgl. P. Johanek, Rechtsbücher, in: LexMA VII (Fn. 20), Sp. 519 ff.; D. Munzel, Rechtsbücher, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band IV, 1990, Sp. 277 ff.; F. Merzbacher, Nordisches Recht, in: A. Erler/E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band III, 1984, Sp. 1032 ff.; Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 245 ff. Die Zuordnung einzelner konkreter Texte ist, das sei schon hier gesagt, nicht einheitlich. 29 Zu dieser Problematik vgl. K. Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit. Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Classen, Recht und Schrift (Fn. 16), S. 349 ff.; ders., Von der Gewohnheit zum Recht. Der Sachsenspiegel im späten Mittelalter, in: H. Boockmann u. a. (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil, 1998, S. 68 ff. (88); W. Wagner, Jütlands Verfassung im Mittelalter und die Entwicklung des Jütschen Rechts. Ein Beitrag zum 750jährigen Jubiläum des Jydske Lov, 1992, S. 37 f.; ferner die Fn. 28 zitierte Literatur. 30 Insbesondere Gagnér, Gesetzgebung (Fn. 11) und Wolf, Gesetzgebung (Fn. 6), dazu die 1. Aufl. im Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band 1, 1973, S. 517 ff. Zur 2. Aufl. vgl. die Besprechung durch F. Ranieri, in: ZRG GA 116 (1999), S. 537 ff. 3 1 Kroeschell, Recht (Fn. 20), Sp. 511.
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allein auf einem Gebotsakt beruhende und dergestalt neu geschaffene oder doch autonom begründete Recht etwas von einem Vertrag zwischen König und Ständen an sich trage 3 2 . Viele der einschlägigen Rechtstexte dürften noch nicht hinreichend erforscht und die Übergangsformen zwischen Aufzeichnung und Setzung des Rechts dürften höchst variantenreich sein. Diese Vorbehalte gegen allzu glatte Lösungen sollen an einem engeren Problemfeld knapp veranschaulicht werden. Erstens: Peter Landau hat 1992 den definitiven Durchbruch der Kurie zur Gesetzesvorstellung auf die Jahre um 1210 datiert 3 3 . Andere hatten dieses Ereignis schon früher ansetzen wollen, wobei aber teilweise case law als Gesetzgebung ausgegeben wurde. Sten Gagnér hat voluntaristische Elemente der Gesetzgebung sogar erst in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ausgemacht, im Streit zwischen Papst und Kaiser 3 4 . Und schließlich: Das Papsttum bestritt doch sogar dem staufischen Kaiser und nach ihm bis 1303 i m Prinzip allen europäischen Königen ein von ihm unabhängiges, unkontrolliertes Gesetzgebungsrecht 35 . Zweitens: Dass die römischen Kaiser und deutschen Könige seit Friedrich I. die Dienste gelehrter Juristen in Anspruch nahmen, ist allgemein bekannt. A n den Höfen der geistlichen und weltlichen Reichsfürsten lassen sich die ersten gelehrten Juristen zwischen 1250 und 1290 nachweisen. Für Trier datiert der Erstbeleg aus dem Jahre 1273, für das Erzbistum Bremen aus 1328 und für den erzbischöflichen Hof in Riga erst aus dem Jahre 1360. Das Offizialat als die gelehrte Form der kirchlichen Gerichtsbarkeit und Hauptarbeitsgebiet der studierten Juristen in den geistlichen Territorien findet in Deutschland während des gesamten 13. Jahrhunderts und auch noch im frühen 32
Zu dieser Konzeption der Bestimmung von „Gesetz" vgl. J. Weitzel, Merkantilismus und zeitgenössische Rechtswissenschaft, in: V. Press (Hrsg.), Städtewesen und Merkantilismus in Mitteleuropa, 1983, S. 45 ff., wo S. 68-71 auch die Unterscheidung zwischen Anwendungs- und Inhaltsbefehl des Rechts näher erläutert ist. - Vgl. auch H. Krause, Gesetzgebung, in: HRG I (Fn. 6), Sp. 1606 ff. (1607): „Setzung von Recht ist mehr als Aufzeichnung von Recht... Rechtssetzung ... enthält das Element des Willens zur verbindlichen Geltung von Regeln, die bisher nicht galten oder dunkel oder strittig waren" (Sperrung im Original). - D. Willoweit, Vom alten guten Recht. Normensuche zwischen Erfahrungswissen und Ursprungslegenden, in: Jb. des Historischen Kollegs 1997, S. 23 ff., trägt S. 43 f. eine zeitlich früher zu verortende, doch in der Sache weithin übereinstimmende Unterscheidung zwischen dem Gesetz als „Feststellungsakt" und als „Willensakt" vor. Auf gewisse Schwierigkeiten seiner Konzeption mit dem normsetzenden Gebot weist er S. 46 ebenso hin, wie auf die problematische Weite der als grundlegendes Erklärungsmuster herausgearbeiteten Konsensvorstellung. Zudem scheint mir weder die eine noch die andere Unterscheidung das zentrale, künftig zu bewältigende Problem der Beschreibung von Rechtsgeltung im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit wesentlich zu verringern (S. 29, 43). Schade auch, dass Willoweit die gerade herausgearbeitete Unterscheidung von Feststellungs- und Willensakt durch eine Mittelalter wie Neuzeit übergreifende Redeweise vom „Gesetz" überdeckt. Mir scheint der zu gewinnende Einblick in die Unterscheidung von Rechtsaufzeichnung einerseits, Rechtssetzung andererseits so bedeutsam, dass ich den Begriff „Gesetz" für das Mittelalter aus heuristischen Gründen bis zum Beweis des Gegenteils in einem konkreten Falle zu (ver-) meiden suche. 33
Landau, Durchsetzung (Fn. 11 ). Gagnér, Gesetzgebung (Fn. 11), S. 121 ff. 3 5 Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I (Fn. 8), S. 306, 315 f. 34
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14. Jahrhundert Eingang. Dabei gehen die Diözesen i m Westen und Süden denen des Nordens und Ostens voran. „Zwischen dem Auftreten des ersten Offizials in den Diözesen Trier und Riga liegt beispielsweise eine zeitliche Differenz von 130 Jahren" 3 6 . Wenn dann - drittens - ein norwegischer Kollege, Gudmund Sandvik aus O s l o 3 7 , vor diesem Hintergrund in der Gesetzgebungsgeschichte ab 1241 (Jydske L o v 3 8 ) einen „nordischen Sonderweg" postuliert, der ähnlich, „aber nicht so deutlich . . . während des Mittelalters nur in Sizilien 1231 und in Kastilien 1260" beschritten worden sei, „anderswo nicht", dann stellen sich doch berechtigte Fragen ein. Auch die Aussage, „ i m Norden haben königliche Richter seit dem 13. und 14. Jahrhundert den hochmittelalterlichen königlichen Gesetzbüchern gemäß Urteile ausgesprochen", müsste auf ihren Gehalt überprüft werden. Nur und immer nur den Gesetzbüchern gemäß? Und wo überall amtierten königliche Richter? Die Zweifel werden verstärkt, wenn Sandvig den zweiten Meilenstein auf diesem Weg, das Landrecht des Königs Magnus Hâkonarson von 1274, zugleich als „reichumfassendes Gesetzeswerk" und „unter sämtlichen alten Gesetzen . . . wohl am geringsten erforscht" bezeichnet. König Magnus (1261-1280) trug den Beinamen „Lagab0ter", das ist nach gängiger Ubersetzung „Gesetzesbesserer", aber zutreffender doch „Rechtsbesserer", denn altn. lagh, logh meint zunächst einmal
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J. Männl, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Territorialherren am Beispiel von Kurmainz (1250-1440), in: Boockmann, Recht und Verfassung (Fn. 29), S. 185 ff. (196 f.). 37 Sandvik, Fernwirkung (Fn. 8), S. 52 f. Seine Vorstellung hat bereits eine gewisse Tradition, vgl. D. Tamm, ΜνΈΤΗ LOGH SCAL LAND BYGG^ES. Betrachtungen zur Rechtsauffassung des Mittelalters mit besonderem Hinblick auf nordische und spanische Rechtsquellen, in: K. Kroeschell (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, 1986, S. 127 ff. mit weiteren Hinweisen, ζ. B. auf Gagnér, Gesetzgebung (Fn. 11), S. 321-323. 38 Zum dänischen Jydske Lov von 1241 vgl. Wagner, Jütland (Fn. 29) passim; Ο. Fenger/ C. R. Jansen (Hrsg.), Jyske Lov 750 âr, 1991; E. Kroman, Dänemarks alte Rechte, in: ZRG GA 94 (1977), S. 1 ff.; Wolf, Gesetzgebung (Fn. 6), S. 320 f.; F. Merzbacher, Jütisches Recht, in: HRG II (Fn. 14), Sp. 507 ff. Der Charakter dieses Normtextes wurde von mir nicht näher untersucht. Der Prolog kennzeichnet ihn als einen vom König auf einem Reichstag mit Rat und Zustimmung der Söhne des Königs, etlicher Bischöfe und der besten Männer des Reiches gegebenen Rechtstext (immerhin: gaff thennae logh). Doch logh kann Recht wie Gesetz meinen. Merzbacher spricht von einem (autorisierten) Rechtsbuch. Wagner, S. 38, 48 schreibt: „teilweise Nähe zu den Rechtsbüchern", „Verstaatlichung der Rechtspflege wie sie von den Konstitutionen Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen in Sizilien allgemein durchgesetzt wird, i s t . . . kaum in den Anfängen zu erkennen". Auch die massive Wiedergabe von Fragmenten aus dem Decretum Gratiani spricht eher gegen den Gesetzescharakter. Zur Geschichte der Gesetzgebung in Dänemark vgl. ferner Τ Riis, Les institutions politiques centrales du Danmark 1100-1332, 1977, S. 270 ff.; O. Fenger, Gammeldansk Ret. Dansk retshistorie i oldtid og middelalder, 1983, S. 56, 85, 138, der vor einer Einschätzung der Waldemarenzeit als quasi absolutistisch warnt; D. Tamm, Retshistorie. Band 1 : Dansk retshistorie, 2. Aufl. 1996. - Allzu vordergründig ist demnach die Propagierung eines unvordenklichen Rechts der dänischen Könige zu Gesetzgebung und höchstem Richtertum durch H. Stevensborg, Besaßen die dänischen Könige der vorchristlichen Zeit Gesetzgebungsgewalt?, in: ZRG GA 112 (1995), S. 423 ff. und ders., Der König und das Volk in der dänischen Rechtsgeschichte, in: J. Eckert/K. A. Modéer (Hrsg.), Geschichte und Perspektiven des Rechts im Ostseeraum, 2002, S. 23 ff.
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„Recht", erst in zweiter Linie „Gesetz" 3 9 , um dessen Entstehung i m Hochmittelalter es doch gerade geht. Welches Gesetz hätte er bessern können, wenn seines als das erste Norwegens gilt? Friedrich Merzbacher hat die nordischen Gesetzbücher des Mittelalters als „ i n der Regel durch den Monarchen zum Gesetz erhobene, ausgearbeitete Rechtsbücher mit gemeinrechtlicher Ausrichtung" bezeichnet 40 . Für das Landrecht von 1274 gilt jedoch gerade die Ausnahme. Seine definitive Entstehung verdankt sich nämlich ausweislich des Prologs und der Schlussformel der Beschlussfassung der Thingmänner. Auch die am Ende einbezogenen Rechtsbesserungen von 1260 und 1271 sind durch Thingbeschluss angenommen worden (logtekin). In einer ausführlicheren Abhandlung zum Landrecht des Königs Magnus Hâkonarson schreibt dies Merzbacher selbst 41 . So sah es auch Rudolf Meißner, der das Rechtsbuch 1941 edierte und ins Deutsche übersetzte 42 . Ob man Vorgänge wie die zur Entstehung von Magnus Lagaboetirs Landslög (gleich Landrecht, aber nicht „Landgesetz") führenden sinnvollerweise einer königlichen Gesetzgebung zurechnen sollte, ist also sehr fraglich. A m besten man vergliche sie einmal sorgfältig mit den zeitgenössischen Gesetzgebungsvorgängen an der Kurie und auf Sizilien 4 3 . Weder im Prolog des Landrechts, noch gar in der in dritter Person berich-
39 Κ. v. See, Altnordische Rechtswörter. Philologische Studien zur Rechtsauffassung und Rechtsgesinnung der Germanen, 1964, S. 188 ff.; ferner Wagner, Jütland (Fn. 29), S. 8 ff., der den „Begriff des Lov... eher... mit dem der ,Consuetudo'" übereinstimmen sieht, gleichwohl aber zu oft Lov mit „Gesetz" wiedergibt. Warum etwa soll in der berühmten Eingangsformel des Jydske Lov das „Gesetz" vorkommen? Nicht durch das „Gesetz", sondern durch das Recht konstituiert sich 1241 die Landschaft. Und dies schon lange bevor an königliche Gesetzgebung zu denken ist. Vgl. auch Merzbacher, Nordisches Recht (Fn. 28), Sp. 1033 zur Abgrenzung von logh und rettr. - Das Dilemma von logh, lagh als „Recht" und „Gesetz" durchzieht soweit ersichtlich die gesamte einschlägige Literatur. Man übersetzt und deutet, wie es einem gerade passt. Ein treffendes Beispiel ist der Rechtskundige im Thing, der einmal als „Rechtssprecher" (so etwa K. Haff, Der germanische Rechtssprecher als Träger der Kontinuität, in: ZRG GA 66 [1948], S. 364 ff., so H Ehrhardt, Rechtssprecher, in: LexMA VII [Fn. 20], Sp. 522 f.), aber auch als „Gesetzessprecher" (so die beiden Auflagen des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde) bezeichnet wird. Da ist es fast konsequent, wenn das HRG beides bietet. 40 Merzbacher, Nordisches Recht (Fn. 28), Sp. 1034. Gemeinrechtlich meint für das Königreich rechtsvereinheitlichend. 4 1 F. Merzbacher, Das Landrecht des Königs Magnus Hâkonarson lagaboetir von 1274 und seine Bedeutung für die norwegische Rechtsgeschichte, in: ZRG GA 99 (1982), S. 252 ff. (257, 260, 264 f.). Im Stadtrecht des Königs, das Bergen 1276, danach Nidaros-Drontheim, Oslo und Tönsberg erhielten, sagt der Prolog, Magnus habe es unternommen, die meisten Rechtsbücher im Lande mit dem Rat der besten Männer zu verbessern, vgl. Stadtrecht des Königs Magnus Hâkonarson für Bergen, Bruchstücke des Birkinselrechts . . . , bearbeitet von R. Meißner (altnordischer Text und deutsche Übersetzung), 1950, S. 2. 42 Landrecht des Königs Magnus Hâkonarson, bearbeitet von R. Meißner (altnordischer Text und deutsche Übersetzung), 1941, S. XVII f. 43 Ansätze hierzu in A. Romano (Hrsg.), „colendo iustitiam et iura condendo". Federico II legislatore del Regno di Sicilia nell' Europa del Duecento per una storia comparata delle codificazioni europee, 1997. Darin Beiträge u. a. von G. Sandvik, Les codes de Magnus Hâkonarson (lagab0te) le législateur 1274-1281, S. 427 ff.
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tenden, möglicherweise vom Leiter des Things stammenden Schlussformel gebietet König Magnus. Ein Recht auf Rechtsbesserung ist ihm eingeräumt. Das nimmt er in Anspruch. Doch ist die legitimierende Kraft des Thingbeschlusses nicht auf den König übergegangen. Die Überlegungen führen an die Grenzen der Brauchbarkeit von begrifflichen Vorprägungen wie „Rechtsbuch" hier, „Gesetz(-buch)" da. Was hier vorliegt, ist ein i m Sinne überkommener Möglichkeiten zur Rechtsbesserung, diesmal vom König und seinen Beratern, bearbeitetes, vom Thing ,amtlich' in Kraft gesetztes Rechtsbuch 44 .
III. Forschungsperspektiven Provinz ist das ungeschriebene Recht auch forschungsgeschichtlich. Das gilt jedenfalls für die rechtsgeschichtliche Forschung. Obwohl doch historisch gesehen ungeschriebenes Recht älter ist, auch Räume und Zeiten zumindest gleichgewichtig abdecken dürfte, ist es den Rechtshistorikern weit weniger als das geschriebene Recht zum Gegenstand ihrer Überlegungen geworden. Dies ist weithin verständlich, befasst sich Wissenschaft doch lieber mit entwickelten Stufen ihres Gegenstandes als mit den weniger entwickelten. Zudem ist das Recht heute schon lange Schriftrecht, die Rechtswissenschaft eine Textwissenschaft und folglich auch die rechtsgeschichtliche Forschung ganz überwiegend mit dem Verständnis von Texten befasst. Das Problem liegt aber nicht in der geringeren Zuwendung. Und vielleicht sollte ich auch nicht einfach von einem Problem, sondern von einer elementaren Lähmung der wissenschaftlichen Erkenntniskräfte durch „Betriebsblindheit" sprechen. Sie tritt darin zutage, dass die (deutsche) rechtsgeschichtliche Forschung das ungeschriebenen Recht bis vor wenigen Jahrzehnten unter der überwältigenden Prägung ihres Rechtsverständnisses durch die Schriftlichkeit überhaupt nicht richtig wahrgenommen, es in seinen Strukturen grundlegend verkannt und verzeichnet hat. Die Lücke, deren wir damit ansichtig wurden, zu verzäunen, wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich w i l l die Fehlvorstellung nachfolgend kurz beschreiben und von einigen Bemühungen berichten, dem ungeschriebenen Recht, insbesondere dem des okzidentalen, transalpinen Mittelalters, das zu geben, was ihm zusteht: sein eigenes, durch die Vorverständnisse der Schriftlichkeit unverfälschtes Profil. Die Redeweise, die in versteckter Art ein die strukturellen Eigenheiten des schriftlosen Rechts auslöschendes Rechtskonzept enthielt, war die vom „Gewohnheitsrecht" 4 5 . Dieses wurde in Deutschland zu Zeiten der Historischen Rechtsschu44 Der König gibt das Recht/Gesetz und das Land nimmt es an. Was „geben" und „annehmen" je konkret bedeuten, ergibt sich nicht nur aus der Rechtsgewohnheit, sondern auch aus den politischen Machtverhältnissen. Vgl. auch O. Fenger, Laws, in: P. Pulsiano (Hrsg.), Medieval Scandinavia. An Encyclopedia, 1993, S. 383 f. und Fn. 67. D. Strauch, Magnus Häkoharsons (lagabœtir) Landrecht und Stadtrecht, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Band 19, 2001, S. 153 ff. hat sich jüngst der Ansicht vom Gesetzescharakter der Normtexte von 1274/1276 ohne neue Argumente angeschlossen.
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le Erbe der römisch-kanonischen consuetudo-Lehre, die von der zur Gesetzgebung übergegangenen kirchlichen Rechtslehre mit dem Ziele fortentwickelt wurde, in der Kirche die unkontrollierte, nicht dem päpstlichen Gesetzgebungsrecht entwachsende Rechtsbildung durch gewohnheitliche Übung hintan zu halten 4 6 Die Historische Rechtsschule hat also spätestens Ende der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts dem schriftlosen Recht aller Völker und Zeiten, insbesondere aber dem Recht der germanischen Vorzeit und des okzidentalen Mittelalters, eine vom Gesetz in seiner Schriftform geprägte Rechtskonzeption (Rechtsquellen- und Rechtsgeltungstheorie) übergestülpt. Dies sollte sich umso verhängnisvoller erweisen, als das deutsche Wort „Gewohnheit" - anders als lat. consuetudo, franz. coutume und engl, custom - keine ausgeprägte rechtliche Konnotation gewonnen hatte. Das „Gewohnheitsrecht" beherrschte folglich alsbald das Feld. Die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts punktuell zu findende rechtliche „Gewohnheit" und die „Rechtsgewohnheit" verschwanden für mehr als hundert Jahre aus dem deutschen Sprachgebrauch. Man dachte das schriftlose Recht nun nach dem Muster des Gesetzesrechts. Das Rechtsleben und die Urteilspraxis sollten „auf ungeschriebenen Normen von gesetzesgleicher Geltung, also gleichsam auf einer auswendig gewussten Rechtsordnung" beruhen. Die Strukturen des schriftlosen Rechts waren, von frühen großflächigen Rechtsbildungstheorien („Volksgeist", Volksrecht und Juristenrecht) abgesehen, kein Thema. Eine besondere Variante dieser Fehl Vorstellungen führte i m Jahre 1919 der Historiker Fritz Kern herauf 4 7 . Seine Lehre vom „guten alten Recht" des Mittelalters überakzentuierte die Elemente Dauer, Güte, Vorgegebenheit und Unwandelbarkeit des Rechts. Sie zielte wohl nur auf die Anschauung der Menschen vom Recht, doch gingen die faktische Wandlungsfähigkeit des Rechts und das rechtliche Gestaltungspotential konkreter Menschen angesichts konkreter Herausforderungen i m Bild eines immer schon vorhandenen, nur zu „findenden", nicht aber zu schaffenden Rechts unter. Die Anfänge der Kritik an dem von Kern geprägten B i l d des schriftlosen-ungelehrten Rechts des Mittelalters liegen i m Jahre 1964. Inzwischen kann man die Auseinandersetzung mit den von ihm und der Historischen Rechtsschule hervorgebrachten Fehlvorstellungen in fünf Entwicklungsabschnitte gliedern. Schon der zweite führte über die reine Kritik an Fritz Kern hinaus. 1. In Untersuchungen zur altnordischen Rechtssprache belegte Klaus von See 1964 die folgende Aussage: „Das, was man gern dem germanischen Recht zu45 Zum Nachfolgenden vgl. K. Kroeschell, Besprechung zu G. Dilcher, H. Lück, R. Schulze, E. Wadle, J. Weitzel und U. Wolter, Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, 1992, in: Quaderni Fiorentini 23 (1994), S. 428 ff. (430 [Zitat]); ders., Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte. Das Beispiel des Mittelalters, in: ZRG GA 111 (1994), S. 310 ff. 46 U. Wolter, Die „consuetudo" im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Gewohnheitsrecht (Fn. 45), S. 87 ff. 4 ? F. Kern, Über die mittelalterliche Anschauung vom Recht, in: HZ 115 (1916), S. 496 ff.; in erweiterter Fassung als Recht und Verfassung im Mittelalter, in: HZ 120 (1919), S. 1 ff.
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schreibt - bewusste Rechtssetzung sei ebenso ausgeschlossen wie die Außerkraftsetzung ,überholten 4 Rechts - gilt für den Norden jedenfalls n i c h t " 4 8 . Arbeiten von Karl Kroeschell 4 9 und Gerhard K ö b l e r 5 0 haben dann etwa bis 1977 die sprachgeschichtliche Methode in ausgeprägter Frontstellung gegen die Lehren Fritz Kerns eingesetzt. Sie konnten überzeugend das Eindringen römisch-kanonischer erst „spätantik-christlicher, dann gelehrt-juristischer Denkweisen" in den mittelalterlichen transalpinen Raum dartun, die als consuetudo-Lehren „zu Reflexionen über das Alter und die Güte des Rechts" überhaupt erst Anstoß gaben. I m Jahre 1972 problematisierte Kroeschell erstmals die Vorstellung von der „Rechtsfindung" 5 1 und 1977 erschien der Sammelband „Recht und Schrift i m Mittelalter" mit Beiträgen auch von Kroeschell und Hermann Nehlsen 5 2 . In seiner vielgestaltigen Thematik blieb er jedoch überwiegend einer traditionellen Betrachtungsweise verhaftet. Als ich den Band i m Rahmen der Arbeit an meiner Habilitationsschrift erstmals in der Hand hielt, hatte ich nicht den Eindruck, dass der Strukturunterschied zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Recht auf den Tagungen 1975 und 1976 erfasst worden wäre. Inzwischen hatte aber Karl Kroeschell i m zweiten Band der Erstauflage seiner „Deutschen Rechtsgeschichte" 1973 die Passagen zur Rechtsbildung und Rechtsfindung i m Mittelalter formuliert 5 3 , die der Diskussion um das „Gewohnheitsrecht" hinfort den Weg weisen sollten. Der Kernsatz lautete: „eine ungeschriebene Legalordnung gibt es nicht. Das mittelalterliche deutsche Recht kennt also Rechtsgewohnheiten, aber kein Gewohnheitsrecht." 2. A b dem Ende der 1970er Jahre erweiterten Arbeiten von John Gilissen 5 4 , Uwe Wesel 5 5 und schließlich Hanna Vollrath 5 6 das methodische Instrumentarium um aus Rechtsethnologie und Rechtsanthropologie entnommene Überlegungen. 48 v. See, Altnordische Rechtswörter (Fn. 39), S. 251. 49 K. Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts (= VuF XII), 1968, S. 309 ff.; ders., Rechtsaufzeichnung (Fn. 29). Die meisten seiner Beiträge sind nun leichter zugänglich in K. Kroeschell, Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, 1995. 50 G. Köbler, Die Frührezeption der consuetudo in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 89 (1969), S. 337 ff.; ders., Das Recht im frühen Mittelalter. Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet, 1971; ders., Land und Landrecht im Frühmittelalter, in: ZRG GA 86 (1969), S. 1 ff. 51 K. Kroeschell, „Rechtsfindung". Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Band 3, 1972, S. 498 ff. 52 Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (Fn. 29); Nehlsen, Aktualität (Fn. 16). 53 S. 84-86 (Rechtsbildung), S. 122-125 (Rechtsfindung); Zitat S. 86. 54 Gilissen, Introduction (Fn. 1); ders., La coutume, 1982. Auf das Wirken Gilissens im Rahmen der Société Jean Bodin gehen auch deren Recueils zu La Coutume zurück. Vgl. insbesondere Ree. LI: Antiquité, Afrique Noire précoloniale, Amérique, Australie, 1990; Ree. L II: Europe occidentale médiévale et moderne, 1990, mit Beiträgen u. a. von G. Köbler, D. Werkmüller und J. Weitzel. 55 U. Wesel, Das Matriarchat, 1976; ders., Zur Entstehung von Recht in frühen Gesellschaften, in: Kritische Justiz 12 (1979), S. 233 ff.; ders., Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1985.
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Sie fanden zunächst vergleichsweise wenig Beachtung. I m Jahre 1981 diskutierte die Vereinigung für Verfassungsgeschichte „Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung". Karl Kroeschell erregte Aufsehen mit seinem Diktum vom „nicht normativen Recht" des Mittelalters - „zugespitzt gesagt" 5 7 . A u f dem Historikertag in Berlin 1984 erörterte man die „Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters". Das ergab einen informationsreichen, anregenden Sammelband, der allerdings mit den grundlegenden Vorstellungen von Normativität, Rechtsgeltung und Effektivität seine Schwierigkeiten hatte 5 8 . 3. Die frühen Arbeiten Kroeschells und Köblers enthalten auch knappe, in die sprachgeschichtliche Argumentation eingebettete Überlegungen zum Verhältnis von Rechtsbegriff und gerichtlichem Verfahren. Eigenes Gewicht gewann das aber nicht. Das Erscheinen meiner „Dinggenossenschaft und Recht" 1985 bedeutete deshalb eine inhaltliche Erweiterung der Diskussion. Das Buch enthält aufgrund verfahrensrechtlicher Forschungen einen Abschnitt „Gegen die Lehre vom Gewohnheitsrecht - schriftloses Recht (Rechtsgewohnheiten), Rechtskonkretisierung und Verfahrensaspekt des Rechts als eigenständige Konzeption des Rechts" 5 9 . Seine Aussagen zum Charakter des ungeschriebenen Rechts werden inzwischen als „konkret-konsensuale Rechtsgeltung" zusammengefasst 60 . Die methodische Stärke des Buches sehe ich - wenn ich dies ausnahmsweise einmal selbst formulieren darf - in der Bündelung von herkömmlicher Quellenexegese, insbesondere zu den Urkunden des fränkischen Königsgerichts, und ethnologischen wie auch sprachgeschichtlichen Ansätzen. „Dinggenossenschaftliche Rechtsfindung" meint den Zustand der organisatorisch-funktionalen Trennung von Rechtsfindung (inhaltliche Entscheidung, Urteilsspruch) und Rechtszwang (Gebot und Vollstreckung des Spruchs durch den Richter) unter maßgeblicher Beteiligung der Genossen der Parteien an der Rechtsprechung 6 1 . Die Trennung von Urteil und Gebot des Urteils wird als Ausdruck eines qualitativen Unterschiedes zwischen mittelalterlich schriftlosem Recht und neuzeitlich-staatlichem Gesetzesrecht verstanden. Die dinggenossenschaftliche Ver56 Vollrath, Typik oraler Gesellschaften (Fn. 7). - Ethnologisch argumentierte früh schon O. Fenger, Fejde og mandebod. Studier over slaegtsansvaret i germansk og gammeldansk ret, 1971. 57 Κ Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Der Staat, Beiheft 6, 1983, S. 47 ff. 58 H. Mordek (Hrsg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, 1986. Die Stellungnahme folgt der Besprechung durch Κ Kroeschell, in: ZRG KA 107 (1990), S. 335 ff. 59 Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 1344 ff. 60 So von Kroeschell in seiner Besprechung von „Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten" (Fn. 45), S. 433 Anm. 21. Zur „konkret-konsensualen" Geltung ungeschriebenen Rechts kompakter J. Weitzel, Deutsches Recht, in: Lexikon des Mittelalters (LexMA), Band III, 1986, Sp. I I I ff. sowie in dem von Kroeschell besprochenen Band. 61 Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 89 ff.
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fahrensweise ist also in typischer Weise mit der Schriftlosigkeit des Rechts verkoppelt. I m Süden, in Italien und Spanien, wohl auch im Süden Frankreichs, blieb es nämlich grundsätzlich beim römischen Modell des selbsturteilenden, durch Beisitzer beratenen, prinzipiell durch autoritativ verstandenes Schriftrecht gebundenen Richters. Das Erfordernis des genossenschaftlichen Konsenses sichert also nördlich der Alpen zusammen mit dem Ausschluss des Richters von der Urteilsfindung in besonderer Weise gegen Willkür, Kadijustiz und Einwirkungen der (Landes-) Herrschaft auf gerichtliche Entscheidungen, die ansonsten mangels Bindung an Schriftrecht drohen. Die dinggenossenschaftliche Rechtsprechung und ihre Bedeutung für das rechtliche und politische Selbstverständnis mittelalterlicher Gemeinwesen ist bislang nur für die fränkisch-deutsche Traditionslinie untersucht worden. Es wäre nun i m Rahmen des transalpin-gesamteuropäisch bestimmten Themas eigentlich darzulegen, ob sich die dinggenossenschaftliche Funktions- und Gewaltenteilung oder vergleichbare Regulative 6 2 auch bei anderen Völkerschaften i m untersuchten Raum finden. Aussagen hierzu sind jedoch teils mangels einschlägiger Voruntersuchungen, teils aus Mangel an Quellen, teils mangels eigener Einarbeitung, nur teilweise und mit aller gebotenen Vorsicht möglich. Auch insoweit also wissenschaftliche Provinz. Die Dinggenossenschaft existierte zunächst jedenfalls in den sogenannten fränkischen Nachfolgestaaten fort. In Frankreich wurde allerdings die Urteilerfunktion in der „Krise der Jahrtausendwende" von Lehnsleuten übernommen. Die Lehngerichtsbarkeit selbst war offenbar allenthalben i m europäischen Lehnswesen eine dinggenossenschaftlich organisierte. Selbst in Italien, wo dies spätestens durch Kaiser Konrads II. Lehngesetz von 1024 in Übung k a m 6 3 . Über die Rechtsprechung der Angelsachsen ist sehr wenig bekannt 6 4 . Doch sind auch hier wie bei den Normannen 6 5 genossenschaftliche Formen der gerichtlichen Entscheidungsfindung sehr wahrscheinlich. Für ganz Skandinavien ist die genossenschaftliche Urteilsfindung mit der Maßgabe zu bejahen, dass dem Thing bis zum 12. Jahrhundert nicht einmal zwingend ein Herr als verfahrensleitender Richter vorsaß 66 . Wie die seit dem 13. Jahrhundert einsetzenden Veränderungen aussa-
62 D. Willoweit, Das deutsche Recht im Osten - vom Kulturvergleich zur Rezeptionsgeschichte, in: H. Rothe (Hrsg.), Die historische Wirkung der östlichen Regionen des Reiches, 1992, S. 61 ff. (77), denkt beispielsweise an das Charisma eines Richters oder an dessen besondere Vertrautheit mit den Rechtsgewohnheiten seines Volkes. 63 Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 989 ff. 64 Weitzel, Versuch (Fn. 4), S. 387; Wormald, Law-making (Fn. 6); ders., Charters, law and the settlement of disputes in Anglo-Saxon England, in: W. Davies/P. Fouracre (Hrsg.), The settlement of conflicts in early medieval Europe, 1986, S. 149 ff.; B. Lyon, Gerichtsverfahren, englisches Recht, in: LexMA IV (Fn. 1), Sp. 1135 f.; M. Rintelen, Die Rechtsfindung im angelsächsischen Recht, in: M. Krammer (Hrsg.), Historische Aufsätze. Festgabe für Karl Zeumer, 1910, S. 557 ff. 65 H. Brunner, Die Entstehung des Schwurgerichts, 1872, leitete bekanntlich die englische Jury aus dem fränkischen Verfahren her. 66 Das gilt jedenfalls für Island in der Zeit des Freistaates. Aber auch im festländischen Skandinavien werden die (Landschafts-)Thinge lange Zeit einen Vorsitzenden aus dem Kreis
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hen, ist mir aufgrund der mir zugänglichen Literatur nicht recht deutlich geworden 6 7 . Offenbar bildete sich zunächst eine landfriedensrechtlich gestimmte Königsgerichtsbarkeit heraus, in deren Rahmen die früheren Rechtsprecher allmählich zu königlichen Sachwaltern im Gericht wurden. Jedenfalls waren die Könige nicht von Anfang an und nicht persönlich die i m Gericht entscheidenden Personen. Dies übrigens in Übereinstimmung mit der Entwicklung i m frühmittelalterlichen Reich der Franken 6 8 . A u f der mittleren und der unteren Ebene der Gerichtsbarkeit trat der königliche Einfluss offenbar jeweils mit einer Verzögerung von je 100 Jahren in Erscheinung. Wie aber im Zuge dieser Entwicklungen hinsichtlich der Entscheidungsfindung die Gewichte zwischen der Thingversammlung und den königlichen Amtswaltern verteilt waren, wurde nicht deutlich. Da jedoch zumindest in Schweden-Finnland die Entscheidung auf der unteren Gerichtsebene bis zumindest 1600 in den Händen der zwölf nämnd-Männer unter Ausschluss des Vorsitzenden Richters lag und Rechtslaien auch danach in ununterbrochener Tradition bis heute am gerichtlichen Verfahren teilhaben, ist in Schweden und Finnland die genossenschaftliche Form des Urteilens erst sehr spät vom modernen Prozessrecht verdrängt worden 6 9 . Selbst i m seit 1665 absolutistisch regierten Dänemark bestanden auf der unteren Ebene, vornehmlich in Schleswig und Holstein 7 0 , genossenschaftlich organisierte Gerichte fort. der Bauern (Bonden) gehabt haben. Vgl. H. Ehrhardt, Rechtssprecher, in: HRG IV (Fn. 28), Sp. 360 ff.; E. Ebel Gesetzessprecher, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Band XI, 1998, S. 540 ff.; F. Merzbacher, Gesetzessprecher, in: HRG I (Fn. 6), Sp. 1604 ff.; Ehrhardt, Rechtssprecher (Fn. 39); Fenger, Gammeldansk Ret (Fn. 33); P. O. Ekelöf, Das schwedische Untergerichtsverfahren in Zivil- und in Strafsachen, 1968. 67 Recht klar ist hingegen dank der sorgfältigen und ausgewogen urteilenden Studie von D. Strauch, Zur Rechtsfortbildung im mittelalterlichen Schweden, in: G. Köbler (Hrsg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte. Festschrift für Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag, 1987, S. 504 ff. die schwedische Gesetzgebungsgeschichte vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Initiierender kirchlicher Einfluss und Landfriedensbemühungen, das Rechtsfortbildungsrecht der Landschaftsthinge (von Strauch wie meist in der Literatur als „Gesetzgebung" bezeichnet), die Rolle der Rechtsprecher, die Ambitionen und der Machtzuwachs der Könige sowie schließlich der Kompromiss zwischen Königtum und Volksversammlung werden überzeugend dargelegt. Dieses Ringen um die Gesetzgebungsmacht ist aber im wesentlichen eine Erscheinung der Jahre nach 1275. - Vgl. ferner D. Strauch, Weltliche und geistliche Gewalt im schwedischen Mittelalter, in: P. Landau u. a. (Hrsg.), Karl von Amira zum Gedächtnis, 1999, S. 143 ff. 68 J. Weitzel, Gerichtsverfahren, german. und dt. Recht, in: LexMA IV (Fn. 1), Sp. 1333 ff.; ders., Gerichtsverfahren, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde X I (Fn. 66), S. 153 ff.; ders., Königsgericht, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Band 17, 2000, S. 116 ff. 69 R Letto-Vanamo, Vom archaischen Gerichtsverfahren zum staatlichen Prozeß. Bericht über zwei finnische Forschungsprojekte, in: H. Mohnhaupt/D. Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Band 2, 1993, S. 97 ff., insb. S. 113 ff.; dies., Tingsgemenskapens rätt. Ett perspektiv pâ rättsuppfattningens historia, in: Historisk Tidskrift för Finland 2 (1997), ârg 82, S. 153 ff.; Ekelöf, Untergerichtsverfahren (Fn. 66); K. À. Modéer, Strindberg und seine Anwälte. Eine rechtskulturelle und rechtsgeschichtliche Skizze, in: J. Hausmann / T. Krause (Hrsg.), „Zur Erhaltung guter Ordnung". Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschrift für Wolfgang Sellert, 2000, S. 563 ff.
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Bei den Slawen ist der selbsturteilende Einzelrichter (Starost, auf dem Dorf möglicherweise der Supan) bezeugt 7 1 . Entgegen älteren Lehren sind selbst bei den Russen genossenschaftliche Formen des Gemeindelebens in vorpetrinischer Zeit keineswegs unbekannt 7 2 . Die Ungarn praktizierten die Kollegialgerichtsbarkeit, d. h. es entschied ein Vorsitzender Richter zusammen mit Miturteilern adlig-richterlichen Standes 73 . In Bezug auf diese und andere ostmitteleuropäische Völker mehr stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung 7 4 auf deren Gerichtsverfassung und Verfahren. Neben einem günstigen Erbzinsrecht gilt die dinggenossenschaftliche Gerichtsverfassung als das wesentliche Element der den siedelnden Deutschen, dann auch anderen Siedlern sowie schließlich Verbänden jedweder Nationalität von den Siedlungsträgern zuerkannten (Sonder-)Stellung als Dorf oder Stadt „deutschen Rechts" 7 5 . Die allenthalben in Deutschland geübte Dinggenossenschaft erscheint i m östlichen und nordöstlichen Siedlungsgebiet in erster Linie als die Funktionsteilung zwischen Vogt (Schultheiss) und Schöffen, wie sie dem sächsisch-magdeburgischen Recht be70 Vgl. W. Prange (Hrsg.), Herzog Adolfs Urteilsbuch 1544-1570. Schleswigsches Rechtsleben um die Mitte des 16. Jahrhunderts, 1985; Wagner, Jütland (Fn. 29), S. 59-61. Willoweit, Deutsches Recht (Fn. 62), S. 68, 77; M. Hardt, Supan, in: A. Erler/ E. Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band V, 1998, Sp. 84 ff.; H. Lück, Supan - Senior - Ältester. Kontinuität und Wandel in der Gerichtsverfassung des mitteldeutschen Kolonisationsgebiets, in: E. Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Band 1, 1997, S. 83 ff. (95-97); S. Russocki, Starosta, in: Lexikon des Mittelalters (LexMA), Band VIII, 1997, Sp. 63 f. 72 Vortrag von H.-H. Nolte, Universität Hannover, zu „Autonomien im vorpretinischen Russland" auf der Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte „Zusammengesetzte Staatlichkeit in der europäischen Verfassungsgeschichte" am 20. März 2001. 73 Vgl. B. Szabò, Development of law in Hungary: the first eight centuries, in: A. Gergely / G. Mâthé (Hrsg.), The Hungarian State. Thousand years in Europe, 2000, S. 130 ff., vornehmlich S. 149- 151; Β. Mezey, Laienrichter in der ungarischen Rechtsgeschichte, in: Hausmann/ Krause, Festschrift für W. Sellert (Fn. 69), S. 633 ff. In den ungarischen Städten des Mittelalters kann, soweit diese ihre Gerichtsbarkeit nach süddeutschem oder sächsischem Vorbild organisierten, eine dinggenossenschaftliche Funktionsteilung Platz gegriffen haben. Die Frage ist noch nicht geklärt. Vgl. K. Gönczi, Ungarisches Stadtrecht aus europäischer Sicht. Die Stadtrechtsentwicklung im spätmittelalterlichen Ungarn am Beispiel Ofen, 1997; H. Lück, Zur Rezeption des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Osteuropa. Das Beispiel Ungarn, in: T. Bremer (Hrsg.), Grenzen überschreiten. Beiträge zur deutsch-ungarischen Kulturwissenschaft, 2000, S. 9 ff. mit vielen Literaturhinweisen zum deutschen Recht in Ostmitteleuropa. 74 Die Literatur zur deutschen Ostsiedlung ist unüberschaubar. Genannt seien G. Grimm / K. Zach (Hrsg.), Die Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa, 2 Bände, 1995 und 1996; G. Schubart-Fikentscher, Die Verbreitung der deutschen Stadtrechte in Osteuropa, 1942; D. Willoweit/W. Schich (Hrsg.), Studien zur Geschichte des sächsich-magdeburgischen Rechts in Deutschland und Polen, 1980; R. Lieberwirth, Das sächsisch-magdeburgische Recht als Quelle osteuropäischer Rechtsordnungen (SB. d. Sächs. Ak. d. Wiss. zu Leipzig, Philolog.-hist. Klasse, Band 127, Heft 1), 1986; H. Lück, Über den Sachsenspiegel. Entstehung, Inhalt und Wirkung eines Rechtsbuches, 1999; C. Higounet, Die deutsche Ostsiedlung, 1986; W Schlesinger, Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte (= VuF XVIII), 1975. 75 Willoweit, Deutsches Recht (Fn. 62), S. 68 ff.
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kannt ist. Diese Aufgabenteilung war primär eine Erscheinung des überkommenen Landrechts, nicht aber der sich seit dem 13. Jahrhundert neu ausbildenden Rats Verfassung der Städte. Nur soweit sich der landrechtliche Typus des deutschen Gerichts in der Stadt behaupten konnte, kannte auch die Stadt dinggenossenschaftliche Verfahren. Ansonsten entschieden der Rat oder von ihm eingesetzte Deputationen als Kollegialgerichte 7 6 . In der Verfassung Lübecks und ihr folgend in den die Ostseeküste säumenden Tochterstädten lübischen Rechts spielten landrechtliche Rudimente seit dem 13. Jahrhundert kaum noch eine Rolle. Diese Städte kennen die Dinggenossenschaft folglich nicht. Da das lübische Recht i m Gegensatz zum sächsisch-magdeburgischen jedoch ein reines Stadtrecht w a r 7 7 , kann es i m Umland der Städte lübischen Rechts in Mecklenburg, Pommern, West- und Ostpreußen und schließlich i m alten Livland anders aussehen. In den Städten des Magdeburger oder - je mehr ostwärts und je später desto mehr - des sächsisch-mageburgischen Rechts oder eben des „ius teutonicum" behauptete sich zwar grundsätzlich, doch angesichts der je unterschiedlichen politisch-verfassungsrechtlichen Verhältnisse der slawischen Herzogtümer und Königreiche keineswegs immer, die dinggenossenschaftliche Aufgabenteilung. Wie das ius teutonicum überhaupt, konnte sich auch das dinggenossenschaftliche Urteilen gänzlich vom deutschen Ethnikum und dem Rechtszug nach Magdeburg, damit aber auch vom lebenden Zusammenhang des sächsisch-magdeburgischen Rechts, ablösen 78 . Letzteres wird ζ . B. von den deutschrechtlich organisierten Gerichten Podoliens und Wolhyniens berichtet. Aber auch für Kleinpolen verbot i m Jahre 1356 König Kasimir der Große den Rechtszug über das dinggenossenschaftlich organisierte Gericht deutschen Rechts auf der Krakauer Burg hinaus. Der aus einer oralen Rechtskultur erwachsene Rechtszug sollte, konnte aber noch nicht definitiv durch Verweisung der Urteiler an das in der Schatzkammer des Schlosses niedergelegte „Buch des deutschen Rechts" abgelöst werden 7 9 . Generalisierende Aussagen zur Durchsetzung der dinggenossenschaftlichen Form der Rechtsprechung lassen sich also nur für die dem regnum teutonicum anwachsenden oder ihm eng verbundenen, von einer deutschen Oberschicht bestimmten Gebiete machen: der Raum zwischen Elbe und Oder, Schlesien, Meck76 Weitzel, Dinggenossenschaft (Fn. 10), S. 1314 ff.; ders., Konstituierung (Fn. 4), S. 167 ff. 77 Vgl. J. Weitzel, Zum Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen, in: Willoweit/Schich, Studien (Fn. 74), S. 62 ff.; ders., Gewohnheiten im lübischen und im sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis, in: La Coutume, Ree. LH (Fn. 54), S. 325 ff. (325 f., 353-356). 7 8 Vgl. die von Willoweit, Deutsches Recht (Fn. 62), S. 68, 78 f. gegebenen Beispiele. Beeindruckend ist die Regelung in der Urkunde, die 1356 der Stadt Lemberg das Mageburger Recht verlieh: es soll dieses auch für dortige Armenier, Ruthenen, Sarazenen und Juden gelten, sofern sie nicht ihr eigenes Recht bevorzugen. 79 Vgl. J. Weitzel, Wege zu einer hierarchisch organisierten Gerichtsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert, in: D. Simon (Hrsg.), Akten des 26. Dt. Rechtshistorikertages in Frankfurt a. M. 1986, 1987, S. 333 ff.; ders., Recht und Spruch der Laienurteiler - zumindest eine Epoche der europäischen Rechtsgeschichte, in: H. Lück/B. Schildt (Hrsg.), Recht - Idee - Geschichte. Festschrift für Rolf Lieberwirth, 2000, S. 53 ff. (61).
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lenburg, Pommern, das Ordensland 80 und L i v l a n d 8 1 wurde davon geprägt. In Pol e n 8 2 , Böhmen, der Slowakei 8 3 und Ungarn konnte sich die ursprünglich deutsche Organisationsform in deutschen Siedlungsgebieten durchsetzen, nicht aber im ungarischen oder polnischen Adelsrecht, auch nicht in den Höchstgerichten der jeweiligen Reiche. Darüber hinaus, im Raum des abgelöst rezipierten sächsischmagdeburgischen Rechts, das bis in die Ukraine 8 4 hinein Verbreitung fand, ist vieles, fast alles offen. Allzu oft hat man die Verbreitung des ius teutonicum anhand seiner - seit dem Sachsenspiegel und dem Magdeburger Weichbild aufgezeichneten - Rechtsquellen, nicht aber anhand des deutschrechtlichen Verfahrenstyps untersucht 85 . Diese Vorgehensweise ist akzeptabel, da wesentlich einfacher. Das Vorkommen „deutschen Rechts" erweist aber nicht zwingend die Existenz auch der deutschrechtlichen Dinggenossenschaft. Freilich ist die Frage nach der Durchsetzung des dinggenossenschaftlichen Urteilens im Laufe des Spätmittelalters von abnehmendem Gewicht. Es entsprang die dinggenossenschaftliche Gewaltenteilung einem Zeitalter der Mündlichkeit des Rechts. Im späten Mittelalter orientierte man sich hingegen auch in Ostmitteleuropa zunehmend an Schriftrecht. Die Rezeption deutschrechtlicher Institute konkurrierte alsbald mit der Rezeption der gelehrten Rechte. Das deutschrechtliche Modell genossenschaftlicher, nicht herrschaftlicher Entscheidungsfindung wurde, wie es schon durch die (lübische) Ratsverfassung geschehen war, erneut geschwächt. 80 Vgl. F. Ebel, Kulmer Recht - Probleme und Erkenntnisse, in: B. Jähnig/P. Letkemann (Hrsg.), 750 Jahre Kulm und Marienwerder, 1983, S. 9 ff.; D. Willoweit, Die Kulmer Handfeste und das Herrschaftsverständnis der Stauferzeit, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 9 (1985), S. 5 ff.; ders., Deutsches Recht (Fn. 62), S. 75, 78; B. Koehler, Kulmer Handfeste, in: HRG II (Fn. 14), Sp. 1244 ff. 81 S. Osipova, Die historische Herkunft der juristischen und wirtschaftlichen Einigkeit der Baltischen Staaten, in: H. Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, 2001, S. 223 ff.; J. Lazdins, Die Privatrechtsquellen Lettlands bis zum Zweiten Weltkrieg, ebda., S. 229 ff.; R. Weber, Eine kleine Rechtsgeschichte Estlands vom 12. bis 18. Jahrhundert, in: Eckert /Modeer, Ostseeraum (Fn. 38), S. 349 ff. 82 Vgl. die Literatur in Fn. 62, 74, ferner E. Wisniowski, Auf den Spuren deutscher Kolonisation im mittelalterlichen Polen, in: U. John/J. Matzerath (Hrsg.), Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, 1999, S. 167 ff. 83 J. T. Piirainen, Deutsche Siedler und deutschsprachige Gesetze in der wirtschaftlichen Entwicklung der Slowakei, in: Grimm/Zach, Die Deutschen II (Fn. 5), S. 133 ff.; M. Papsonovd, Deutsches Recht in der mittelalterlichen Slowakei. Dreizehn Handschriften der Zipser Willkür aus dem 15. bis 18. Jahrhundert, in: Grimm/Zach, Die Deutschen II (Fn. 5), S. 153 ff. 84 H. Lück, Das Denkmal des Magdeburger Rechts in Kiew, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 12 (1990), S. 109 ff. 85 Neben das viele Auflisten von Rechtsquellen und Verbreitungsnachweisen muss vermehrt die Durchdringung des Stoffes unter inhaltlich-systematischen Gesichtspunkten treten. Diese können auch europaweit gespannt sein. Gute Vorbilder sind die in dieser und in der nächsten Fußnote genannten Sammelbände: F. Ebel, Aufzeichnung von Ratsurteilen und Schöffensprüchen im Lübecker und Magdeburger Rechtkreis, in: J. H. Baker (Hrsg.), Judicial Records, Law Reports, and the Growth of Case Law, 1989, S. 123 ff.
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Den Rest gab ihm dann - auf dem Lande - die „zweite Leibeigenschaft", der endgültige Sieg des Adels über Städte - und Bauern - in Ostmitteleuropa 86 . Allerdings blieb in diesem Raum manches deutschrechtliche Institut länger erhalten als in Deutschland selbst. 4. Den Durchbruch des neuen Verständnisses, den man getrost als einen kleinen Paradigmenwechsel bezeichnen kann, brachten die Referate der Sektion „Mittelalterliches Gewohnheitsrecht" auf dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag in Nijmwegen 1990 und ihre Veröffentlichung als „Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter" 1992 8 7 . Ihnen folgten auf dem 29. Deutschen Rechtshistorikertag in Köln 1992 Vorträge von Karl Kroeschell 8 8 und Joachim Rückert 8 9 . Kroeschell vertiefte die Frage nach den Vorstellungen von Rechtsbildung jenseits des Gesetzesrechts anhand eindrucksvoller Beispiele quellentheoretischen Denkens aus der Zeit um 1800. Zugleich formulierte er, die Konsequenz aus der Uberwindung der von Kern und dem „Gewohnheitsrecht" der Historischen Rechtsschule verursachten Probleme ziehend , die eigentliche Aufgabe: „Die Binnenstruktur dieses Rechts" der Rechtsgewohnheiten, „seine spezifische Rechtsqualität also", ist mit der sich vom Gewohnheitsrecht abwendenden Bezeichnung als Rechtsgewohnheit „noch nicht erfasst" 90 . Die Perspektive der Beschreibung der Geltungsweisen des ungeschriebenen Rechts war bis zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht gänzlich unbelichtet geblieben. Doch standen 1992/94 und stehen bis heute in diesem entscheidenden Punkt verschiedene Entwürfe nebeneinander. Dies gilt entsprechend von den Vorstellungen darüber, was die Kennzeichen der (erstmaligen) Entstehung von Rechtsgewohnheiten, also auch die Kriterien ihrer Abgrenzung von Gewohnheit schlechthin, Brauch und - ethnologisch gesprochen - „Ordnung" seien 9 1 . Ob sie teilweise auch gegeneinander stehen oder aber nur Missverständnisse terminologischer Art vorliegen, ist angesichts der Schwierigkeit des Gegenstandes nicht leicht zu sagen. Zunächst jedenfalls kam es in den Jahren zwischen 1992 und 1999 eher zu Zusammenfassungen und Zwischensummen sowie zu Verbindungen der behandelten 86
Überlegungen zum Ende der dinggenossenschaftlichen Funktions- und Gewaltenteilung auch bei F. Ebel, Juge, juridiction et procedure dans l'Allemagne médiévale. Quelques observations sur la distinction des fonctions déjugé et d'échevins et sur sa régression dans l'Allemagne du bas Moyen Age, in: R. Jacob (Hrsg.), Le juge et le jugement dans les traditions juridiques européennes, tudes d'histoire comparée, 1996, S. 117 if. 87 Mit Beiträgen von G. Dilcher, H. Liick, R. Schulze , E. Wadle, J. Weitzel und U. Wolter. Vgl. die Besprechung durch Kroeschell (Fn. 45). 88 Kroeschell, Rechtsbegriff (Fn. 45). 89 J. Rückert, Die Rechts werte der germanistischen Rechtsgeschichte im Wandel der Forschung, in: ZRG GA 111 (1994), S. 275 ff. 90 Kroeschell, Rechtsbegriff (Fn. 45), S. 315. 91 Es geht vornehmlich um Überlegungen von K. Kroeschell, G. Dilcher und J. Weitzel. Vgl. etwa G. Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: ders. u. a., Gewohnheitsrecht (Fn. 45), S. 21 ff.; Kroeschell, Besprechung (Fn. 45), S. 433; Weitzel, Versuch (Fn. 4), S. 372 ff. und Deutsches Recht (Fn. 60).
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Problematik mit anderen, teilweise noch weiteren Diskussionsfeldern, vornehmlich mit der europäischen Perspektive und mit dem Rechtskulturvergleich 92 . Der Ausgangspunkt der Diskussion, die gelegentlich noch aufflammenden Unterschiede in der Einschätzung dessen, was Fritz Kern 1919 über das „gute alte Recht" sagte oder auch nur sagen wollte, konnte i m Sinne einer Unterscheidung zwischen der Rezeption antiker consuetudo-Lehren einerseits, einem unabhängig davon bestehenden, ethnologisch breit zu beobachtenden, in der traditionalen Mentalität fortwirkenden Hang der Menschen zur Bevorzugung des Altüberkommenen beigelegt oder doch weitgehend geglättet werden 9 3 . 5. Aufgegeben bleibt die Erforschung der Rechtsbildungskriterien und der Strukturen der Geltung ungeschriebenen Rechts in dem bereits kurz angesprochenen Sinne. Die Frage nach der Geltungsweise schriftlosen Rechts zeigt freilich schon heute derart viele Facetten, dass zu ihr inhaltlich etwas zu sagen den hier vorgegebenen Rahmen völlig sprengen würde. Einige wenige Bemerkungen müssen genügen. Ein grundlegender Unterschied in der Einordnung des Problems und in der Herangehensweise zeichnet sich dahingehend ab, dass manche sich (fast) alles von einer Hinwendung zur empirischen Rechtssoziologie versprechen, während andere die historisch-soziologisch gewonnenen Befunde letztlich doch in eine juristische Geltungstheorie einbringen, sie dergestalt rechtlich greifbar und für eine auch historische Phänomene verarbeitende Rechtstheorie nutzbar machen wollen. Dabei lässt sich dieser Eindruck derzeit noch nicht abschließend personalisieren. Meine Richtung dürfte allerdings eher die letztgenannte sein, weshalb ich es gerne gesehen hätte, wenn wir anlässlich einer Tagung des Frankfurter Graduiertenkollegs für Rechtsgeschichte i m Dezember 2000 auch mit einem historisch interessierten Vertreter der Rechtstheorie ins Gespräch gekommen wären. Die Tagung stand unter dem Titel „Rechtsbegriffe des Mittelalters" 9 4 . Ich verstand sie als Versuch, in die etwa seit 1992 stagnierenden Kernfragen wieder Bewegung zu bringen. Beim Zustandekommen der Tagung spielten auch von mir vorgetragene Abgrenzungen der rechtshistorischen Problematik gegenüber benachbarten Arbeiten von Historikerkollegen, insbesondere zu Aspekten der historischen Kommunikationsforschung, eine R o l l e 9 5 . Die bereits bekannten Merkmale der konkret-konsensualen 92
K. Kroeschell/A. Cordes (Hrsg.), Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, 1996; dazu die Besprechung durch J. Weitzel, in: ZRG GA 116 (1999), S. 532 ff.; D. Willoweit (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2000; Weitzel, Versuch (Fn. 4); ders., Laienurteiler (Fn. 79). 93 J. Weitzel, Der Grund des Rechts in Gewohnheit und Herkommen, in: Willoweit, Begründung (Fn. 92), S. 137 ff.; Willoweit, Vom alten guten Recht (Fn. 32); Kroeschell, Gewohnheit (Fn. 29), S. 78. 94 Referenten waren G. Althoff, G. Dilcher, Y. Nishikawa, K. Kroeschell, H. Siems und J. Weitzel. Der Band soll noch in diesem Jahr von A. Cordes und B. Kannowski, der einen Forschungsbericht beisteuert, herausgegeben werden. 95 Weitzel, Besprechung (Fn. 92); ders., Besprechung zu G. Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, 1997, sowie G. Althoff/ H. W. Goetz/ E. Schubert (Hrsg.), Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter,
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Geltung von ungeschriebenem Recht 9 6 wurden ergänzt durch Überlegungen zu „relativem Recht" und „unvollkommener Rechtsgeltung" i m westlichen Mittelalter 9 7 . Die jüngste Frucht der einschlägigen Bemühungen, etwa gleichzeitig verfasst, doch bereit in der Festschrift für Clausdieter Schott 2001 publiziert, ist das Plädoyer von Wolfgang Schild für „das konkrete Ordnungsdenken als Methode der Rechtsgeschichte" 98 . Und wer legt endlich 9 9 eine gründliche Arbeit zu der Frage vor, welche Vorstellungen die Zeitgenossen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert mit ihrer in Hunderten von Quellenbelegen zu findenden Redeweise vom „beschriebenen" oder „geschriebenen Recht" verbanden?
1998, in: ZRG GA 117 (2000), S. 689 ff. - Als wichtige rechtshistorische Studie im Umfeld des ehemaligen Münsterschen Sonderforschungsbereichs „Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter" darf G. Dilcher, Oralität, Verschriftlichung und Wandlungen der Normstruktur in den Stadtrechten des 12. und 13. Jahrhunderts, in: H. Keller u. a. (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, 1992, S. 10 ff. nicht ungenannt bleiben. 96 Vgl. Fn. 60. 97 J. Weitzel, „Relatives Recht" und „unvollkommene Rechtsgeltung" im westlichen Mittelalter. Versuch einer vergleichenden Synthese zum „mittelalterlichen Rechtsbegriff', in: Cordes / Kannowski, Rechtsbegriffe (Fn. 94). 98 W. Schild, Das konkrete Ordnungsdenken als Methode der Rechtshistorie, in: M. Senn/ C. Soliva (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Interdisziplinarität. Festschrift für Clausdieter Schott, 2001, S. 143 ff. 99 Vgl. Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (Fn. 29), S. 379 f., von 1977, und ders., Gewohnheit (Fn. 29), S. 88 f., von 1998, zum Fehlen einer solchen Untersuchung.
Wirtschaftsraum - Großraum - Lebensraum. Facetten eines belasteten Begriffs Horst Dreier
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I. Belastungen des Raumbegriffs Raum ist ein belasteter Begriff 1 , zumindest im Kontext rechtsgeschichtlicher oder staatsrechtlicher Erörterungen eine nur mit großer Vorsicht und Sensibilität zu handhabende Vokabel. Noch immer wird Raum jedenfalls in Deutschland zumeist unwillkürlich mit Formeln wie „Volk ohne Raum", der „Großraumordnung" i m Sinne Carl Schmitts oder dem „Lebensraum im Osten" verknüpft und steht insofern in unlösbarer Verbindung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Das nährt verständliche Abwehrreflexe und Ausweichstrategien, schafft Verlegenheiten und weckt nervöse Erinnerungen. Doch so sehr man sich der unausweichlichen Befangenheit im Umgang mit dem Raumbegriff auch bewußt sein sollte 2 , so wenig ist Meinen wissenschaftlichen Assistenten, Herrn Dr. Axel Tschentscher, LL.M. (Cornell), und Herrn Dr. Fabian Wittreck, danke ich herzlichst für die unentbehrliche Hilfe bei der Beschaffung, Sichtung und Auswertung des ungewöhnlich heterogenen Materials und der Fertigstellung des Manuskripts. ι Vgl. P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 43: „Bislang fehlt eine Verfassungstheorie des Raumes. ,Raum' ist als Begriff besetzt und belastet durch die Raumideologie des Faschismus, durch ,Landnahmen' im Osten Deutschlands, aber auch im Westen der USA"; eine regelrechte Tabuisierung des Raumbegriffs in der Nachkriegszeit diagnostiziert M. Low, Raumsoziologie, 2001, S. 11; ähnlich Κ Schlögel, Kartenlesen, Raumdenken, in: Merkur 56 (2002), S. 308 ff. (309 f.). - Für ,Geopolitik' gilt ähnliches, allerdings in noch stärkerem Grade; vgl. J. Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: NPL 43 (1998), S. 374 ff., der als „Grund für die Raumabstinenz, die sich mitunter zum Raumtabu" steigere, die „kompromittierte Geopolitik aus der Zeit von Weimarer Republik und Nationalsozialismus" nennt (S. 373). Näher dazu unter V I (S. 56 ff.) sowie im Uberblick W Köster, Art. Raum, politischer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 (1992), Sp. 122 ff. (125 f.). 2
Bemerkenswerterweise fehlt jeglicher Hinweis auf die Vorbelastung in der umfangreichen Schrift von G. Winkler, Raum und Recht. Dogmatische und theoretische Perspektiven eines empirisch-rationalen Rechtsdenkens, Wien - New York 1999 (dazu die kritische Rezension von H. Schulze-Fielitz, DÖV 2001, S. 304 f.). - Fehlanzeige ebenso in den Beiträgen der Festschrift für Martin Lendi: Das Recht in Raum und Zeit, hrsgg. von Alexander Ruch, Zürich 1998; vgl. auch M. Lendi, Das Recht des Lebensraums, in: W. R. Schluep u. a. (Hrsg.), Recht, Staat und Politik am Ende des zweiten Jahrtausends. Festschrift für Arnold Koller, Bern 1993, S. 107 ff. Anders aber Häberle, Kulturpolitik (Fn. 1), S. 43 f., 48 m. Fn. 115. Felix Austria, felix Helvetia!
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doch gerade angesichts der fundamentalen Prozesse der Supra- und Internationalisierung des Rechts zu übersehen, daß ,Raum' nicht sogleich und zwingend ein mit ausschließlich nationalsozialistischen Konnotationen verbundener Terminus sein muß. Schon deshalb scheint es geboten, das analytische Potential und die kategoriale Bedeutung des Raumes für das Recht näher und bereichsspezifisch zu untersuchen, wie das in den Beiträgen dieser Festschrift auf unterschiedliche Weise und für unterschiedliche Themenfelder unternommen wird. Indes geht es im vorliegenden Beitrag um mehr und anderes. Denn man muß sich, so schwer dies auch fallen mag, bewußt der zeitlichen Phase zuwenden, der die Belastungen des Raumbegriffs historisch geschuldet sind - dies allein deswegen, weil raumabstinente Thementabuisierung per se unwissenschaftlich wäre. Eine nähere begriffliche und sachliche Analyse von Rolle und Funktion des Raumbegriffs in seinen belasteten Konnotationen ist schon deswegen geboten, weil in Publikationen der Gegenwart nicht selten eine umstandslose Ineinssetzung von wirtschaftlichen Großräumen, völkerrechtlicher Großraumordnung und expansiven Lebensraumideologien anzutreffen ist 3 . Demgegenüber bemühen sich die folgenden, schon angesichts der defizitären Forschungslage unausweichlich skizzenhaften Zeilen um eine etwas detailliertere und differenziertere Darstellung. Wenn diese um die heuristischen Leit- oder besser Suchbegriffe von (Groß-)Wirtschaftsraum, Großraumordnung und Lebensraum zentriert ist, so sind damit auch die unterschiedlichen Kontaminierungsgrade des Raumbegriffs mit nationalsozialistischer Ideologie angedeutet.
II. Ein Gedankenexperiment Sebastian Haffner stellt in seinen brillanten „Anmerkungen zu Hitler' 4 ein interessantes Gedankenexperiment an 4 . Was wäre gewesen, wenn sich Deutschland auf dem Höhepunkt der überwältigenden militärischen Erfolge vor allem gegen Polen und Frankreich i m Sommer 1940 ohne Fortsetzung des Krieges i m Osten und ohne Konfrontation mit Großbritannien und den USA auf diese Rolle als Führungsmacht i m seinerzeit teils eingegliederten, teils angegliederten, teils okkupierten, teils auf 3 Negativbeispiel: D. Majer, Der Wahn von „Reich" und „Großraum", in: Der deutsche Beamte 1983, S. 177 f., 187, 198 ff., 202, 208 (187, 208); unverändert wiederabgedruckt in: dies., Nationalsozialismus im Lichte der juristischen Zeitgeschichte: Ideologie - Staat - Besatzungsregime in Europa 1939-1945, 2002, S. 147 ff. - Bezeichnend (und möglicherweise ursächlich) für diese Wahrnehmungsengführung ist die Behauptung Majers, der „neue Grundbegriff 4 des Großraums sei „von Carl Schmitt zum ersten Male der Öffentlichkeit vorgestellt" worden (187). - Eine gerade Linie vom „Lebensraum" über den „Ostraum" bis zum „Großwirtschaftsraum" ziehen auch M. Rössler/S. Schleiermacher, Der „Generalplan Ost" und die „Modernität" der Großraumordnung. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Der „Generalplan Ost", 1993, S. 7 ff. (7). 4 Zum folgenden S. Haffner, S. 120 ff.
Anmerkungen zu Hitler (1978), Sonderausgabe 1997,
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andere Weise beherrschten europäischen Territorium beschränkt und gleichsam die hegemonial verzerrte Frühform eines Vereinigten Europas geschaffen hätte? Haffner schreibt: „Wenn Hitler nur gewollt hätte, hätte er i m Sommer 1940 einen Frieden mit Frankreich jederzeit haben können, und wenn dieser Frieden einigermaßen generös ausgefallen wäre, hätte er ohne Zweifel alle die kleineren westeuropäischen Länder, die Hitler mit Krieg überzogen hatte, ebenfalls friedenshungrig gemacht. Ein Friedensschluß mit Frankreich, und danach ein möglichst gemeinsam mit Frankreich einberufener europäischer Friedenskongreß, aus dem eine Art europäischer Staatenbund, mindestens eine Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft hätte hervorgehen können: das alles lag i m Sommer 1940 für einen deutschen Staatsmann in Hitlers Position in Reichweite." 5 Wir wissen - nicht anders als Haffner - , daß es dazu nicht gekommen ist. Und wir dürfen mit guten Gründen annehmen, daß es wegen der dem nationalsozialistischen Regime immanenten Selbstdestruktivität und Hitlers Lebensraumvisionen im Osten zu einer solchen friedlichen, eher wirtschaftlich als militärisch fundierten, wenn auch hegemonial geprägten Einigung Europas nicht kommen konnte. Aber es erscheint doch von Interesse, daß und warum gerade die Herstellung eines größeren einheitlichen europäischen Wirtschaftsraumes auf breite Resonanz stieß und wohl unter anderen Vorzeichen einer Realisierung sehr viel näher gekommen wäre. Die Antwort liegt in der überragenden und zunächst ganz unideologischen Evidenz 6 , die die Idee der Schaffung eines derartigen Wirtschaftsraumes in Europa seit Beginn des Industriezeitalters entfaltete. Wir wenden uns also zuerst diesem Wirtschaftsraum und entsprechenden, weit zurückreichenden Projekten und Entwürfen zu (dazu III.). Das Augenmerk gilt sodann der stärker politisch ausgerichteten Vorstellung einer mit dem Namen von Carl Schmitt verbundenen (völkerrechtlichen) Großraumordnung - einer Konzeption, bei der zu fragen ist, ob und inwieweit sie über ihren konkreten Genesekontext hinausweist bzw. Erklärungskraft auch für andere Phänomene und Entwicklungen bereithält, wenngleich sich der Inhalt von geläufigen völkerrechtlichen Vorstellungen souveräner Gleichheit aller Staaten entfernt hat und sein Rechtsgehalt fraglich sein mag (dazu IV.). Den abschließenden Gegenstand der Erörterung bildet der nicht von ungefähr am stärksten belastete und mit innerer Notwendigkeit normativ leere Begriff des Lebensraums: die schreckliche und in Hitlers Gedankenwelt zentrale Idee der gewaltsa5
Haffner, Anmerkungen (Fn. 4), S. 127. Und er fährt fort: „Es wäre im übrigen auch das aussichtsreichste Mittel gewesen, England psychologisch zu entwaffnen und den Krieg mit England zum Absterben zu bringen. Denn wofür hätte England noch kämpfen sollen, wenn die Länder, um derentwillen es Hitler den Krieg erklärt hatte, ihren eigenen Frieden mit Hitler machten? Und was hätte es gegen ein vereintes und vereint um Deutschland geschartes Europa ausrichten können?" 6 Unideologisch heißt vor allem: nicht von vornherein totalitär infiziert. Im Gegenzug ist daher die heutige, in einem intensiven Integrationsprozeß befindliche Europäische Union nicht als bloßer „offshot" des Nationalsozialismus zu diskreditieren. In diese Richtung aber J. Laughland, The Tainted Source. The Undemocratic Origins of the European Idea, London 1997 (dazu die Rezension von A. Tschentscher, Der Staat 40 [2001], S. 655 ff.). 4 FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät
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men Eroberung riesiger Territorien im Osten war es vor allem, die einem unter deutscher Vorherrschaft geeinten Europa im Sinne des Haffnerschen Gedankenexperiments entgegenstand (V.).
III. Großwirtschaftsraum: Von der Zollunion über Mittel- und Pan-Europa zur Großraumwirtschaft 7. Zollvereine und Zollunionen als Präludium einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Pläne für eine wirtschaftliche Einigung oder doch zumindest eine stärkere wirtschaftliche Kooperation europäischer Staaten (mit notgedrungen unbestimmtem oder doch variierendem Mitgliederbestand) reichen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück 7 . Sie trugen zumeist das Gewand einer Zollunion 8 - was umso weniger befremden kann, als im nämlichen Gewand die heutige Europäische Union in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Bühne betrat 9 . Einhundert Jahre zuvor war der österreichische Handelsminister Bruck mit dem besonders weitreichenden Vorschlag der Gründung eines deutschen Zollvereins, dem auch Österreich-Ungarn und (später) Holland, Belgien, Dänemark und Italien angehören sollten, hervorgetreten 1 0 . Der seinerzeitige Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss umschrieb Brucks politisch gescheiterten Vorschlag später einmal als Versuch, „den mitteleuropäischen einheitlichen Wirtschaftsraum" zu schaffen 11 . Ende des 19. Jahrhunderts kam es unter dem Druck weltwirtschaftlicher Entwicklungen, namentlich auf 7 Wir gehen im folgenden nicht auf Europa-Ideen der frühen Neuzeit oder gar des Mittelalters zurück, sondern beschränken uns auf die Phase des industriellen Zeitalters; denn erst ab hier bildete sich das ökonomische Rückgrat für Einigungsbestrebungen aus; bei R. H. Foerster, Europa. Geschichte einer politischen Idee, 1967, findet sich eine Bibliograhie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945; vgl. dazu auch jüngst W. Schmale, Geschichte Europas, 2001, S. 83 ff. 8 Hinweise zur noch weiter zurückreichenden Geschichte aus der älteren Literatur bei L. Bosc, Zollalliancen und Zollunionen in ihrer Bedeutung für die Handelspolitik der Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1907, S. 96 ff.; C. v. Kresz, Die Bestrebungen nach einer Mitteleuropäischen Zollunion, Diss. phil. Heidelberg 1907, S. 13 ff.; J. Wolf, Vorläufer und Parallelen einer europäischen Zollunion, in: H. Heiman (Hrsg.), Europäische Zollunion. Beiträge zu Problem und Lösung, 1926, S. 9 ff.; F. K. Liebich, Die europäische Zollunion. Ihre Möglichkeiten und Grenzen, 1951, S. 15 ff.; H. Voss, Die Bestrebungen zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes in Mitteleuropa vor 1892, das mitteleuropäische Handelsvertragssystem von 1892 und die Weiterentwicklung der Wirtschaftsvereinigungsbestrebungen bis zum 1. Weltkrieg, Diss. iur. et rer. pol. Graz 1958. 9 Siehe nur R. Streinz, Europarecht, 5. Aufl. 2001, Rn. 18; eingehend Liebich, Zollunion (Fn. 8), S. 32 ff. 10 Vgl. Bosc, Zollalliancen (Fn. 8), S. 118 ff., 268 f.; Wolf, Vorläufer (Fn. 8), S. 13; Vfos, Bestrebungen (Fn. 8), S. 4 f.
n T. Heuss, Der Einfluß von Krieg und Frieden auf das europäische Problem, in: Heiman, Zollunion (Fn. 8), S. 23 ff. (32).
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dem Agrarsektor, erneut zu verschiedenartigen Plänen einer mitteleuropäischen Zollunion, und zwar dezidiert mit dem Ziel der Schaffung „eines internationalen Staatenkartells zur Regulierung von Märkten, deren Gefüge durch Konjunkturfluktuationen und Weltmarkteinwirkungen heftig erschüttert wurde" 1 2 . Man kann hier eine eindrucksvolle Liste klangvoller Namen und weitreichender Projekte vorlegen. So hatte bereits Treitschke im Jahre 1886 vermerkt, daß ein mitteleuropäischer Zollverein heute „nicht mehr in das Reich der Träume" gehöre 1 3 . Der französische Ökonom De Molinari schlug 1878/79 und nochmals 1896 die Gründung eines westeuropäischen Zollvereins v o r 1 4 . Der bedeutende deutsche Sozialökonom Gustav Schmoller mahnte „angesichts der neuartigen amerikanischen Getreidekonkurrenz 1882 die mitteleuropäische Zollsolidarität'" 1 5 an; um die Jahrhundertwende forderte er als unumgängliches Gegengewicht zu den „drei riesenhaftein) Eroberungsreiche(n)" England, Rußland und USA im neuen Weltstaatensystem einen auch Frankreich einschließenden „mitteleuropäische(n) Staatenbund oder Zollverein" 1 6 . Capri vis Handelsverträge mit zahlreichen europäischen Staaten zu Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts betrachteten die Parteien i m Reichstag durchgängig als einen „Kryptozollverein" 1 7 . Weitere Projekte betrafen vor allem Österreich-Ungarn und Deutschland 18 . 1904 kam es dann zur Gründung des ersten (deutschen) mitteleuropäischen Wirtschaftsvereines, dem solche in Ungarn, Österreich und Belgien folgten. Nachdem während des Ersten Weltkrieges Naumanns Mitteleuropa-Buch ein großer Erfolg geworden war, blieb das Thema einer Zollunion auch in den Weimarer Jahren auf der politischen Agenda. So bezeichnete Stresemann wiederholt die wirtschaftliche Zersplitterung Europas als „pervers" und forderte eine Z o l l u n i o n 1 9 . Parallele Überlegungen gab es in einer Denkschrift des Reichsverbandes der deutschen Industrie mit dem Titel „Deutsch-
12 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, 1995, S. 656. 13 Η. v. Treitschke, Unser Reich (1886), in: ders., Historische und politische Aufsätze, Zweiter Band, 6. Aufl. 1903, S. 545 ff. (569). 14 Vgl. Wolf, Vorläufer (Fn. 8), S. 15, 18, der ihn als einen „westlicheren mitteleuropäischen Zollverein" (15) charakterisiert. •5 Wehler, Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 12), S. 657. 16 Siehe G. Schmoller, Die Wandlungen in der europäischen Handelspolitik des 19. Jahrhunderts. Eine Säkularbetrachtung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 24 (1900), S. 373 ff. (380, 382); dazu Bosc, Zollalliancen (Fn. 8), S. 264 ff. 17 Wolf, Vorläufer (Fn. 8), S. 17; dort heißt es auch: „Der Redner der sozialdemokratischen Partei sprach gelassen schon damals das große Wort von den bereinigten Staaten von Europa"'. Das „Vertragssystem von 1892" ( Wolf S. 18) rühmte auch Schmoller. 18 Wolf Vorläufer (Fn. 8), S. 16 f., 19. - Vgl. ferner W Abelshauser, „Mitteleuropa" und die deutsche Außenwirtschaftspolitik, in: C. Buchheim/M. Hutter/H. James (Hrsg.), Zerrissene Zwischenkriegszeit. Festschrift für Knut Borchardt, 1994, S. 263 ff. (268 f.). ,9 So bei seiner Rede im Überseeclub Hamburg am 16. 4. 1925; siehe G. Stresemann, Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, Bd. 2, 1932, S. 284 ff. (287, 292 f.). 4*
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lands Wirtschafts- und Finanzpolitik" von 1925, in der ebenfalls auf die Notwendigkeit einer Zollunion hingewiesen wurde 2 0 . Insgesamt läßt sich festhalten, daß es bereits vor dem Ersten Weltkrieg, nicht minder aber danach zum gedanklichen Gemeingut weiter Kreise zählte, daß allein „ i m sicheren Gehäuse einer solchen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft... das Deutsche Reich nicht nur seine Position weiter behaupten, sondern sie erst von dieser breiteren Basis aus auch weiter ausbauen (könne), um i m künftigen Wettbewerb mit den globalen Imperien nicht hoffnungslos zurückzufallen." 2 1 Wenn letztlich alle derartigen Zollunionsprojekte am nationalstaatlichen Egoismus der Einzelstaaten und widerstreitenden Partikularinteressen scheiterten, so galt dies nicht minder für die zum Teil erheblich weiterreichenden Pläne für Mitteleuropa und Pan-Europa.
2. Mitteleuropa
und Pan-Europa
a) Mitteleuropa Das Stich- und Schlagwort „Mitteleuropa" gelangte zu Verbreitung und Popularität durch das gleichnamige Buch von Friedrich Naumann aus dem Jahre 1915 2 2 . Hier wurde das Projekt einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie entworfen, das nicht nur hinsichtlich der Bezeichnung als „Oberstaat" 2 3 , sondern auch durch seine sektorale Zentralisierung (etwa gemeinsame Zollpolitik durch mitteleuropäische Kommissionen) 2 4 und die gemeinsame Außenpolitik 2 5 wie ein früher Vorläufer der Europäischen Union anmutet. Der feste Kern eines dergestalt konzipierten „Mitteleuropa" konnte nach Naumanns Vorstellung noch um Skandinavien, Holland, die Schweiz sowie die Balkanstaaten ergänzt werden 2 6 . Dabei waren die führende, 20
Abdruck im Vorwort des von H. Heiman hrsgg. Sammelbandes zur „Europäischen Zollunion" (Fn. 8), S. 6. - Siehe noch W. Grotkopp, Europäische Zollunion als Weg aus deutscher Wirtschaftsnot, 1931, S. 8 ff. 2 1 So Wehler, Gesellschaftsgeschichte III (Fn. 12), S. 657. 22 Vgl. F. Naumann, Mitteleuropa, 1915; das Buch wurde Heuss, Einfluß (Fn. 11), S. 24 zufolge in den Jahre 1914/15 konzipiert, im Herbst 1915 dann publiziert. Heuss sieht in dem Buch „die einzige große und fruchtbare, weil in sachliche Möglichkeiten deutende politische und wirtschaftliche Konzeption der Kriegszeit" (ebd.). - Zu Vorläufern und Nachfolgern des Mitteleuropagedankens siehe W. Mommsen, Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des Ersten Weltkrieges, in: R. G. Plaschka u. a. (Hrsg.), Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1995, S. 3 ff. 23 Naumann, Mitteleuropa (Fn. 22), S. 92 u. ö. 24
Naumann spricht von „Mitteleuropäische(n) Zentralverwaltungen für abgegrenzte Tätigkeiten": ders., Mitteleuropa (Fn. 22), S. VII; zur Zollpolitik ebd., S. 199 ff., 249. 2